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Der
Ursprung der Syphilis
Eine medizinische und kuHurgeschichtliche
Untersuchung
Von
Dr. med. IWAN BLOCH
in Berlin
Zweite Abteilung
Hier ist kein luftiges Reich vergäng-
licher Vermutungen, die Thatsachen
reden selbst in tausend Erinnerungen.
J. F. C. Hecker.
JENA
Verlag von Gustav Fischer
1911
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
Dem Andenken
seines Verlegers
des Herrn Dr. Gustav Fischer sen,
in Verehrung und Dankbarkeit
der Verfasser.
Inhaltsverzeichnis zur zweiten Abteilung.
Vorwort
Seite
VII
Zweites Buch.
Kritik der Lehre von der Altertumssyphilis.
Fünftes Kapitel. Die Knochenfunde aus prähistorischer und präcolumbischer Zeit 317-
§ 21. Allgemeine Vorbemerkungen
§ 22. Zur Geschichte der Funde prähistorischer Knochen mit krankhaften
Veränderungen
§ 23. Postmortale Veränderungen der Knochen
§ 24. Ueber die Aehnlichkeit der krankhaften Veränderungen bei nicht-
syphilitischen Knochenleiden mit denen bei Knochensyphilis .
§ 25. Die wichtigsten Kennzeichen der Syphilis am isolierten Knochen .
§ 26. Die angeblichen Funde prähistorischer syphilitischer Knochen
Sechstes Kapitel. Die pseudosyphilitischen Hautkrankheiten 3C'5-
§ 27. Allgemeine Bedeutung der pseudosyphilitischen Affektionen der Haut
§ 28. Die pseudosyphilitischen Affektionen der männlichen und weiblichen
Geschlechtsteile
§ 29. Die pseudosyphilitischen Affektionen des Afters
§ 30. Die pseudosyphilitischen Affektionen der Mundhöhle, des Rachens
und der Nase
§ 31. Pseudosyphilitische Affektionen, die zugleich an den Genitalien, am
Anus, in der Mundhöhle und an anderen Körperteilen auftreten
§ 32. Pseudosyphilitische Hautaffektionen der Neugeborenen
Siebentes Kapitel. Die ,, Altertumssyphilis" im Orient 475"
§ 33. Charakter der altorientalischen Medizin
§ 34. Die Krankheit des Gilgamis und die Uchedu des Papyrus Ebers .
J64
3iy
323
326
332
339
-474
3Ö5
372
41(1
434
454
472
-507
475
479
VI Inhaltsverzeichnis.
Seite
§ 35. Kritische Analyse der „Syphilis"fäile in Bibel und Talmud . . . 483
§ 36. Die indischen „Giftmädchen" 498
Achtes Kapitel Die Nichtexistenz der Syphilis im klassischen Altertum . 508 — 765
§ 37' Wesen der antiken Liebe 508
§ 38. Die sexuellen Phänomene im öffentlichen Leben der Alten . . . 513
§ 39. Prostitution und Psychopathia sexualis 545
§ 40. Begünstigende und hemmende Faktoren für die Veibreitung der
venerischen Krankheiten im Altertum 624
§ 41. Allgemeine medizinische Anschauungen der Alten über die venerischen
Krankheiten 665
§ 42. Die antike Venereologie 708
Vorwort zur zweiten Abteilung.
Das Erscheinen der zweiten Abteilung dieses Werkes, die an
Umfang- die erste noch bedeutend übertrifft, hat sich zu meinem
eignen grössten Bedauern über Gebühr verzögert. Wenn sogar das
„nonum prematur in annum" dabei überschritten worden ist, so muss
ich als Entschuldigung teils äussere Verhältnisse anführen, teils die
Notwendigkeit, all den neuen Problemen und Fragestellungen nach-
zugehen, die sich während der Ausarbeitung des bereits bei Erscheinen
der ersten Abteilung von mir zum grössten Teile zasammengetragenen
Materials^) aufdrängten und besonders im achten Kapitel zahlreiche
Excurse und Nebenuntersuchungen erforderten, die zur endgültigen
Klärung der Frage nach der Existenz der Syphilis im Altertum un-
erlässlich erschienen. Denn es handelt sich dabei nicht nur um eine
kritische Prüfung der angeblichen Syphilisschilderungen in der antiken
Literatur, sondern um eine Durchdringung des ganzen Geistes der
antiken Medizin und ihres Zusammenhanges mit der Kultur, aus dem
allein das Problem der „Altertumssyphilis" richtig begriffen und gelöst
werden kann. Vorbedingung für eine solche Lösung ist die Lektüre
der klassischen Autoren im ganzen und die ständige Berücksichtigung
der neueren philologischen und archäologischen Forschung.
Ferner sah ich mich genötigt, den anfänglich nur kurz gedachten
Abschnitt über die pseudosyphilitischen Hautkrankheiten zu
einer umfassenden Darstellung von 7 Bogen zu erweitern, weil eine
solche Arbeit noch niemals geleistet worden ist und ihre ganz enorme
Bedeutung für die Frage der Altertumssyphilis mir von Tag zu
Tag mehr einleuchtete. Ich stehe nicht an, dieses sechste
Kapitel für das allerwichtigste, für den Kern und den Mittel-
punkt der ganzen Kritik der Lehre von der Altertums-
syphilis zu erklären, weil es der erste systematische Versuch
einer Verwertung aller Fortschritte der modernen Dermatologie
i) Vgl. die Vorrede zu Teil I, S. X.
VIII Vorwort.
für die Lösung dieses alten Problems ist und weil die Kenntnis der
zahlreichen und zum Teil häufigen, in ihrem Ensemble imponierenden
syphilisähnlichen Krankheiten erst die wahre und exakte Grund-
lage für die Beurteilung der „Syphilis"-Fälle des Altertums liefert,
die bisher völlig gefehlt hat. Denn es gab keine solche ein-
gehende, kritische und zusammenhängende Darstellung der pseudo-
syphilitischen Hautkrankheiten, die auch, wie ich glaube, für die
praktische Dermatologie einigen Wert besitzt.
Durch die umfassende Darstellung der Kapitel VI und VIII ist
nicht nur die Herausgabe dieser zweiten Abteilung zum Teil verzögert,
sondern auch ihr Umfang derart vergrössert worden, dass ich mich
entschlossen habe, noch eine dritte Abteilung hinzuzufügen, welche das
Mittelalter, die dringend notwendigen Nachträge, einen Index
graeco-latinus sowie das ausführliche Namen- und Sachregister
enthalten wird. Da nämlich die vorliegende Abteilung bogenweise
und successive in den Jahren 1902 — 191 1 gedruckt worden ist, so
dass vor allem im fünften Kapitel (,,Die Knochenfunde aus prä-
historischer und präcolumbischer Zeit") die Forschung nur bis zum
Jahre 1902 berücksichtigt werden, und die wichtigen Untersuchungen
aus den letzten Jahren (Elliot Smith, Tello u.a.) dort noch keinen
Platz finden konnten, ebenso auch für den 1901 erschienenen ersten
Teil inzwischen manches wertvolle neue Material beigebracht worden
ist — ich erinnere nur an Franz Bolls ebenso einfache wie ingeniöse
Aufklärung über die Bedeutung des Wortes „Syphilis" — so werden
alle diese und viele andere Arbeiten in den Nachträgen eingehende
Erörterung finden, wobei auch noch viele eigene Funde zu Teil I
und II mitgeteilt werden sollen. Auch ist es meine Absicht, dann
auf alle Kritiken und Anregungen zu antworten, die sich hoffentlich
in reicher Zahl an das Erscheinen des nunmehr vorliegenden zweiten
Teiles anknüpfen werden, der ja bereits die wesentlichsten Punkte
der Kritik der Lehre von der Altertumssyphilis enthält. Ich vertraue
dabei auf eine objektive Kritik und auf ein aus der zusammen-
hängenden Lektüre des Ganzen geschöpftes Urteil, wie sie erfreu-
licherweise dem ersten Teile in der überwiegenden Zahl der Fälle
zu Teil geworden sind. Es ist mir eine besondere Genugtuung, an
dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Beweisführung des ersten
Bandes fast überall und von den hervorragendsten Medizinern und
massgebenden Autoritäten auf dem Gebiete der Syphilisforschung
anerkannt worden ist. Ich nenne nur A. Bayet, A. Blaschko,
Alfred Fournier, Edmund Lesser, F. von Luschan, Albert
Neisser, d'Arcy Power, P. G. Unna, Rudolf Virchow,
Vorwort. IX
W. Waldeyer, die mir brieflich oder mündlich oder in der Litteratur
ihre volle Zustimmung ausgesprochen haben. Leider hat Virchow,
dem der erste Teil gewidmet war, das Erscheinen des zweiten nicht
mehr erlebt.
Am meisten erfreute mich die Thatsache, dass mein Buch die
Anregung zu anderen wissenschaftlichen Arbeiten gegeben hat, von
denen folgende namhaft gemacht seien: die vorzügliche Rostocker
Dissertation (unter der Aegide von Wolters) „Ueber Syphilis im Alter-
tum, speziell in China und Japan" (1903) von Tokujiro vSuzuki,
jetzigem Generalarzt der japanischen Marine, ferner das Büchlein von
Joseph Pellier (Oberarzt der medizinischen Klinik in Toulouse)
„Les origines de la S3'philis" (Toulouse-Paris igo8), endlich die grössere
Abhandlung von A. von Notthafft (Privatdozent an der Universität
München) „Die Legende von der Altertumssyphilis" (Leipzig 1907).
Da ich bereits im Jahre 1896 gleichzeitig mit den Untersuchungen
über den amerikanischen Ursprung der S3"philis und die mittelalter-
lichen Chroniken auch diejenigen über die „Altertumssyphilis" be-
gonnen und bei Erscheinen des ersten Bandes im Jahre 1901 zum
grössten Teil abgeschlossen hatte, wie dies aus meiner Erklärung in
der Vorrede Seite X deutlich hervorgeht und sich bei dem einheit-
lichen Aufbau des ganzen Werkes von selbst versteht, für das schon
1901 als Grundlage 28, den Inhalt von Teil I, II und dem noch in
Aussicht stehenden Teil III in buntem Durcheinander enthaltende
Manuskripthefte vorlagen, so habe ich in demjenigen Teile des
sechsten Kapitels, wo es sich um die auch von v. Notthafft vorge-
nommene Nachprüfung der angeblichen Fälle von Altertumss^^philis
handelt, absichtlich nur meine Ansichten und Ergebnisse mit-
geteilt, die ich längst vor von Notthafft gewonnen hatte, der ja
überhaupt nur einen kleinen Bruchteil des von mir in Teil II vor-
gelegten Materials bearbeitet hat. Da ausserdem meine Forschungs-
methode eine gänzlich andere ist (vgl. oben), so wird der Leser sich
sogleich überzeugen können, dass meine Darstellung etwas ganz Neues
und Unabhängiges bietet. Es ist aber erfreulich, dass ein zweiter
Dermatologe bei Nachprüfung der „AltertumssN'philis" ebenfalls ihre
Nichtexistenz erwiesen hat und nach Erscheinen von Teil II wird
ja in den im dritten Teile zu erwartenden Nachträgen Gelegenheit
gegeben sein, auf von Notthaffts Abhandlung näher einzugehen. Die
Philologen und die für das klassische Altertum interessierten Aerzte
erlaube ich mir auf die folgenden neuen Ergebnisse in Kapitel VIII
hinzuweisen: Erklärung des Terminus technicus :rTove7i' (S. 574), Er-
klärung von „ficus" (S. 576 ff.), Entwickelung der Terminologie der
X Vorwort.
Lepra (592 — 595), die neue Erklärung der 'ßijXeia vovaog (601 — 610),
die Bedeutung- der Legionsversetzungen für die Verbreitung an-
steckender Krankheiten, insbesondere des Aussatzes (633 — 635), die
Abhandlung über das Mentagra (639 — 646), der Zusammenhang
zwischen sexuellen Excessen und Krankheiten (675 — 679), die antike
Lehre von den ansteckenden Krankheiten (684 — 688), die Erklärung
des Begriffes dia&eoig (691- — 692), die Entdeckung der Prostatafunktion
durch Rufus von Ephesus (S. 738 — 739).
Indem ich mich der Hoffnung auf eine recht fruchtbare und
die Wissenschaft fördernde Kritik von selten der Aerzte, Philologen
und Kulturforscher hingebe und das Erscheinen der dritten, der
Schlussabteilung-, für Mitte nächsten Jahres in Aussicht stelle, möchte
ich zum Schlüsse allen denjenigen meinen herzlichsten Dank sagen,
die das Zustandekommen dieses Werkes mit Rat und That, direkt
und indirekt gefördert haben. Li erster Linie ist hier der Verleger
des Buches, Herr Dr. Gustav Eischer jun. zu nennen. Ihm und
seinem zu früh dahingeschiedenen Herrn Vater, dem um das medi-
zinische und naturwissenschaftliche Schrifttum so hochverdienten
Dr. Gustav Eischer sen. sei inniger Dank g"esagt für ihr immer
wieder bewiesenes Wohlwollen und Entgegenkommen, die ich bei
der langen Verzögerung der Herausgabe doppelt angenehm empfunden
habe. Eerner habe ich der Königl. Gesellschaft der Wissen-
schaften zu Göttingen und dem Curatorium der Puschmann-
stiftung an der Universität Leipzig an dieser Stelle aufrichtigen
Dank abzustatten für die Bewilligung namhafter Unterstützungen zur
Vollendung dieses Werkes, das ja nicht bloss eine rein geschichtliche
Untersuchung darstellt, sondern auch der Förderung der Krankheits-
und Seuchenlehre dienen will, wie das am Schlüsse der Vorrede zur
ersten Abteilung ausgesprochen wairde. Endlich ist es mir eine an-
genehme Pflicht, allen denjenigen Forschern und Freunden hier öffent-
lich zu danken, die durch lehrreiche Demonstrationen von pathologisch
veränderten Knochen, durch Hinweisungen und Mitteilungen medi-
zinischer, litterarischer und philologisch-kritischer Natur dieses Werk
gefördert haben. Es sind das die Herren Dr. A. S. Ashmead in New
York, Prof, A. Bayet in Brüssel, Prof. Gustav Behrcnd in Berlin,
Prof. C. Binz in Bonn, Prof. A. Blaschko in Berlin, Prof. Franz
Boas in New York, Prof. Franz Boll in Heidelberg, Prof. H. Cursch-
mann (f) in Leipzig, Dr. Erich Ebstein in Leipzig, Prof. W. Ebstein
in Göttingen, Dr. E. Fonahn in Kristiania, Prof. Alfred Fournier
und Dr. Edmond Fournier in Paris, Prof. W. His sen. (f) in Leipzig,
Prof. Edwin Klebs in Berlin, Dr. Gerhard Kropatscheck in
Vorwort. XI
Frankfurt a. Main, Prof. Robert Lehmann-Nitsche in I.,a Plata,
Dr. Nicolas Leon in Mexico, Prof. Lortet in Lyon, Prof. Felix
von Luschan in Berlin (Museum für Völkerkunde), Prof. A. Maca-
1 ister in Cambridge, Prof. E. Manouvrier in Paris, Prof. Felix
Marchand in Leipzig-, Dr. Ciaren ce B. Moore in Philadelphia,
Prof. Albert Neisser in Breslau, Prof. Hermann Oncken in
Heidelberg, Dr. H. T. Orton in Philadelphia, A. Otten in Lima,
Prof. Julius Pagel in Berlin, Dr. Ricardo Palma jun. in Lima,
Dr. M. Eden Paul in Parkestone (Dorset), Prof. Edmond Perrier
in Paris (Jardin des Plantes), Dr. W. Pflug" in Berlin, Dr. d'Arcy
Power in London, Dr. Julius Preuss in Berlin, Dr. Charles
FL Reade in London (British Museum), Dr. Paul Richter in Berlin,
Prof. W. H. Röscher in Dresden, Dr. Ernst Rothschuh in Aachen,
Dr. M. A. R uff er in Alexandria, Prof. B. Scheube in Grei;^,
Dr. W. Schonack in Berlin, Prof. Eduard Seier in Berlin (Museum
für Völkerkunde), Prof. Georg Sticker in Bonn, Prof. Otto Stoll
in Zürich, Prof. Karl Sudhoff in Leipzig, Dr. Julio C. Tello in
Lima, Dr. Armin Tille in Leipzig, Prof. P. G. Unna in Hamburg,
Prof. M. Verworn in Bonn. Dankbar gedenke ich auch der viel-
fachen Anregungen, die mir aus den Diskussionen über lueine beiden
Vorträge ,,Der Ursprung der S3'philis" (auf dem 14. Liternationalen
Amerikanisten - Kongress in Stuttgart, 4. August 1904) und „La
pretendue syphilis prehistorique" (in der Societe d' Anthropologie de
Paris, 19. April 190Ö) zu Teil geworden sind.
Berlin-Charlottenburg, den 24. März 191 i.
Der Verfasser.
Zw^eites Buch.
Kritik der Lehre von der
Altertumssyphilis.
Bloch, Per T^i-sprung der Syphilis. 21
FÜNFTES KAPITEL.
Die Knochenfunde aus prähistorischer und präcolum-
bischer') Zeit.
§ 2 1. Allgemeine Vorbemerkungen.
Die zuerst vor 25 Jahren (1877) von dem französischen Arzte
Parrot angeregte Idee, die prähistorischen und präcohmibischen
Funde krankhaft veränderter Knochen für die Frage nach dem Alter
der Syphihs zu verwerten , war an sich eine sehr glückhche. Wir
wissen, dass die Syphihs besonders im tertiären Stadium, und vor
allem bei ungenügender oder gar keiner Behandlung, das Knochen-
system in Mitleidenschaft zieht und verschiedenartig"e patholo-
gische Veränderungen an demselben hervorbringt. Da nun die
Knochen die einzigen Teile des menschlichen Körpers sind, welche
nach dem Tode unter günstigen Umständen, die Unbilden der Zeit \-/CTyut^
überdauernd, in ihrer ursprünglichen Gestalt sich erhalten können —
weshalb ihnen auch von jeher primitive Völker eine Art von gött-
licher Verehrung zollten 2) — so lag es nahe, diese stummen, aber
unter Umständen untrüglichen Zeugen für den Nachweis der Existenz
der Syphilis in prähistorischen und präcolumbischen Zeiten zu ver-
werten.
In der That würde ein einziges im Bereiche der alten Welt ge-
fundenes Skelett, das mit Bestimmtheit der Zeit vor 1493 zuge-
i) Unter präcolumbischcr Zeit ist hier die Zeit vor der Entdeckung Amerikas durch
Cokimbus ganz allgemein verstanden. Der Ausdruck bezieht sich daher als reines Zeitmass
auch auf die alte Welt.
2) „Die Verbindung des Lebens mit den Knochen", sagt Bastian, „ist eine viel-
fach wiederkehrende, imd zeigt sich als natürliche Folge der mechanischen Anschauung, die
beim Tode die Seele gespenstisch fortleben lässt und in ihrer Verknüpfung mit dem am
längsten der Zerstörung widerstehenden Teil des Körpers die weit verbreitete Verehrung
der Reliquien im Ahnenkultus hervorgerufen hat." Verhandlungen der Berliner Anthropo-
ogischen Gesellschaft 18; i, Bd. III, S. 59.
21*
— 3 T '"^ —
wiesen werden könnte und unzweifelhafte Spuren syphilitischer
Erkrankung an sich trüge, mit einem Schlage der ganzen Diskussion
über Alter und Ursprung der Lustseuche ein Ende machen. Und
es war nach den Behauptungen der Anhänger der Theorie der
Existenz der Syphilis im Altertum zu erwarten , dass nicht nur
wenige, sondern zahlreiche mit S3'phili tischen Veränderungen behaftete
Knochen in der alten Welt gefunden werden würden. Welch eine
Menge solchen Beweismateriales müssten nicht die kolossale Unzucht
des kaiserlichen Rom, die Ausschweifungen des Mittelalters geliefert
haben , da die nach der Meinung jener Forscher damals existierende
Syphilis in ihrem Wesen nicht erkannt und vor allem nicht rationell
behandelt wurde, und da ja auch die schwersten Knochenaffek-
tionen an Xase und Gaumen infolgedessen von den Vertretern dieser
Theorie angenommen und g'eschildert wurden!
Wie steht es in Wirklichkeit? Die seit hundert Jahren eifrig be-
triebenen Ausgrabungen haben Tausende von menschlichen Skeletten
aus den verschiedensten Gegenden der alten Welt und aus allen
Epochen vor 1493 zu Tage gefördert, das antike Pompeji, das mittel-
alterliche Paris, also Stätten, an denen die Syphilis sicher enorm ver-
breitet gewesen sein musste, falls sie dagewesen wäre, haben zahl-
reiche Knochen ihrer menschlichen Bewohner g'eliefert. In den
Museen, anatomischen Sammlungen, Naturalienkabinetten sind ganze
Geschlechter der Urzeit, des Altertums und Mittelalters versammelt,
ja man darf sagen wieder auferstanden. Und unter diesen Tausenden
und Abertausenden von Ueberresten des menschlichen Skeletts sind
es nur einige wenige, die einigen Forschern den Verdacht auf
S3'philis erweckt haben. Ganz abgesehen davon , dass auch dieser
Verdacht bei der weiter unten erfolgenden näheren Prüfung sich
nicht aufrecht erhalten lässt , ist es doch gewiss sehr auffällig, dass
ein derartiges Missverhältnis besteht, das dadurch noch drastischer zu
Tage tritt, wenn wir sehen, dass die meisten angeblich syphilitischen
Knochen aus der sogenannten „prähistorischen" Zeit stammen, während
Altertum und Mittelalter so gut wie gar nicht vertreten sind.
Virchow hat wiederholt erklärt, dass ihm niemals ein präcolum-
bischer bezw. prähistorischer Knochen aus der alten Welt bekannt
geworden sei, und es ist ganz sicher, dass weder die englischen noch
die deutschen Sammlungen und Museen solche Knochen enthalten.
Dies wirft schon ein bezeichnendes Licht auf die angeblichen Funde
syphilitischer Knochen in Frankreich.
Es ist daher begreiflich , dass mehrere Forscher , wie z. B.
Isidor Xeumann, auf die Heranziehung dieses Argumentes für
— 319 —
den Beweis der Existenz der Syphilis im Altertum gänzlich ver-
zichtet haben. Selbst Proksch hat wenig Gewicht auf dasselbe ge-
legt, da er den Knochenfunden nur eine ganz kurze Besprechung^),
wesentlich in Anlehnung an die Schrift von Buret, widmet. Da
aber eine eigentliche kritische Untersuchung der ganzen Frage von
anderer Seite bisher nicht vorgenommen wurde, so halte ich eine
ausführlichere Erörterung aller hier in Betracht kommenden Punkte
für erforderlich und beginne mit einem historischen Ueberblick über
die ersten Bestrebungen , die Funde prähistorischer pathologischer
Knochen für die Geschichte der Krankheiten der Vorzeit zu ver-
werten.
'^ 2 2. Zur Gescliielite der Funde prähistorischer Knochen mit
krankhaften Veränderungen.
Schon die Alten richteten ihr Augenmerk auf fossile Knochen,
wie aus einer Bemerkung des Theophrast bei Plinius (Xat. hist.
XXXVI c. i8) hervorgeht-). Im Talmud findet sich sogar die über-
raschende Angabe, dass man an den Knochen die Lebensweise ihres
Trägers erkennen könne. ^) Das Mittelalter scheint keinerlei Inte-
resse an den in der P>de gefundenen Knochenresten von Menschen
und Tieren gehabt zu haben. Erst im i6. Jahrhundert regte sich
dasselbe wieder.
Felix Plater beschäftigte sich mit den Gebeinen eines ig jährigen'
„Riesen", die aber nichts weiter als Knochen eines fossilen — Elephanten
waren ^). Auch J. J. Scheuchzer's (1672 — 1733) berühmter „Homo
diluvii testis" war leider ein Riesensalamanderskelett ^), so dass noch
1788 Petrus Camper an dem wirklichen Vorhandensein fossiler
Menschenknochen zweifelte '').
i) J. K. Pioksch, „Geschichte der venerischen Krankheiten", Bonn 1895, Bd. I,
S. 1-7.
2) Vergl. G. R. Treviranus, „Biologie oder Philosophie der lebenden Xatur'',
Göttingen 1805, Bd. III, S. 12t.
3) Der Totengräber Abba Saul behauptet: ,,Wer bei Lebzeiten ungemischten AVein
getrunken hatte, dessen Gebeine sehen verbrannt aus, hatte er den Wein zu staik ge-
wässert, so waren sie schwarz (oder fettlos, trocken), bei richtiger Mischung von Wein und
AVasser waren sie fettig. Bei jedem, der mehr trinkt, als er isst, sind die Gebeine ver-
brannt, beim Ueberwiegen des Essens fettlos, bei richtigem Verhältnis fettig (Xidd. 24 a)."
Vergl. J. Preuss, „Materialien zur Geschichte der talmudischen Medizin. Der Tote und
seine Bestattung." S.-A. aus ,.Allg. Med. Central-Zeitung" 1902, Nr. 25 ff., S. 14.
4) Vergl. Treviranus a. a. O., III, S. 166.
5) J. Ranke, ,, Diluvium und Urmensch", Leipzig o. J., S. 5.
6) ,,Numquam enim hucusque, nee in ullo museo, videre mihi contigit verum os hu-
manum petrefactum aut fossile." Nov. Act. Petropol. 1788, T. II, p. 251.
— 320 —
Der Erste, welcher einen krankhaft veränderten Knochen aus
prähistorischer Zeit erwähnt, ist wohl E. J. C. Esper (1742—1810),
Professor in Erlangen, der 1774 die traumatischen Veränderungen
des Femur eines diluvialen Säugetieres beschrieb, die nach seiner
Ansicht durch eine P'raktur hervorgerufen waren ^), während S. Th.
V. Soemmering das Trauma einem Bisse zuschrieb'-).
Soemmering beschäftigte sich in einer längeren Abhandlung
mit der g"eheilten A^erletzung eines fossilen Hvänenschädels'^), des-
selben, den schon vorher Cuvier erwähnt hatte ^).
Als der eigentliche Entdecker der prähistorischen Knochen-
krankheiten, als der Erste, welcher auf die eminente Bedeutung der-
selben für eine Urgeschichte der Krankheiten hingewiesen hat, ist
der berühmte Chirurg Ph. Er. v. Walther zu nennen.
Der Naturforscher Sack hatte im Jahre 1824 in den Sund-
wichs-Höhlen bei Iserlohn zahlreiche Knochen des Höhlenbären (Ursus
spelaeus) gefunden, unter denen sich auch solche mit krankhaften
Veränderungen befanden. Letztere, auf die auch Xöggerath auf-
merksam machte^), wurden dann v. Walther zur genaueren Unter-
suchung übergeben. Die Resultate derselben hat v. Walther
in einer klassischen, form\-ollendeten, noch heute bemerkenswerten
Abhandlung veröffentlicht''). Die pathologischen Veränderung'en der
einzelnen Knochen waren sehr verschiedenartige. U. a. konstatierte
V. Walther: Nekrose eines Oberschenkels, Ankylose der Rücken-
wirbel, Caries eines Unterkiefers, Verdickung des Processus alveo-
laris des Unterkiefers mit rauher cariöser Oberfläche und mit
stacheligem Ansatz von neugebildeter Knochenmasse, Caries eines
Lendenwirbels, einer Rippe. An einem Unterkiefer war die Spitze
des Kinns sehr verdickt, mit schwammiger, schuppiger Knochen-
masse äusserlich besetzt, in welche zahllose kleine Kanäle eindrangen;
i) E. J. C. Esper, ,, Ausführliche Schriften von neuen tdecklen Zoolithen unbekannter
vierfüssiger Tiere", Nürnberg 1774, S. 74.
2) S. Th. V. So m nie ring, ,,Ueber die geheilte Verletzung eines fossilen Hyänen-
schädels", in : Verhandlungen iler Kais. Leopold. -Carolin. Akademie der Naturforscher,
Bonn 1828, Bd. VI, Abteil, i, S. 9.
3) Ibidem, S. 3—44.
4) G. Cuvier, „Recherches sur les ossemens fossiles", Paris 1823, Bd. IV, S. 39(1.
5) Nüggerath in: Kastner's „Archiv für die gesamte Naturlehre", Bd. II,
Heft 3, Nürnberg 1824, S. 323: ,, Meines Wissens ist man bis jetzt noch nie auf der-
gleichen krankhafte Zustände der urweltlichen Knochen aufmerksam gewesen."
6) Ph. Fr. von Walther, ,,Ueber das Altertum der Knochen-Krankheiten" in:
,, Journal der Chirurgie und Augenheilkunde" von C. F. Gräfe und Ph. v. Walther»
Berlin 1825, Bd. VIII, S. i — 16.
ein Radius war mit einem g'aiizen Riffe von Exostosen und stache-
ligen Prominenzen besetzt, seine Rindensubstanz war sehr dünn und
die spongiöse Substanz von derselben Beschaffenheit, wie man sie an
arthritischen Knochen antrifft. Aehnliche Veränderungen wies ein
Halswirbel auf. v. Walther verglich diese beiden Knochen mit
sogenannten arthritischen ]\[enschenknochen sehr sorgfältig und fand
eine auffallende Uebereinstimmung'.
„Also schon die Höhlenbären", sagt er, „litten an Knochen-
krankheiten, sie litten am Beinfrass, am Knochenbrand, an Zahn-
krankheiten, welche mit Caries des Processus alveolaris endeten, an
Gelenkübeln, welche Ankylose etc. zur P'olge hatten" ^). Er führt die
meisten Befunde auf äussere g'ewaltsame Verletzungen und die kon-
sekutiven „höchst langwierigen organisch-vitalen Reaktionen" zurück.
Diese mechanischen Verletzungen können zur Entstehung der Nekrose,
der Caries, der Exostosen etc. Veranlassung geben. „Auch heute zu
Tag'e sehen wir nicht selten bei Menschen, welche übrigens gesund sind
und an keiner konstitutionellen Krankheit leiden, Xekrose der lang-en
Röhrenknochen von ganz übereinstimmender Form aus dergleichen
Ursachen entstehen" -). Die Caries der AVirbelsäule kann nach
V. Walther auch durch mechanische Ursachen entstehen, ist aber
meist das Produkt innerer konstitutioneller Krankheitsursachen^).
Sehr wichtig ist auch v. Walther 's Hinweis auf die
Arthritis der Höhlenbären, die nach ihm mit Sicherheit aus der
„äusserst dünnen Rinde, der porösen, spongiösen Substanz und der
ungemein grossen Fragilität" der Knochen zu erschliessen ist^). Die
Richtigkeit dieser Beobachtungen hat später \^irchow durch seine
Aufstellung des Krankheitst3^pus der „Höhlen gi cht" bestätigt.
v. Walther zog' aus seinen scharfsinnigen Untersuchungen
bereits beachtenswerfe Schlussfolgerungen für die Beurteilung patho-
logischer Knochen der \"orzeit. Er betrachtet es als sicher, dass die
Nekrose, Caries, Exostose, Arthritis jener prähistorischen Knochen
in Beziehung auf Pathogenese und Symptomatologie völlig den
durch dieselben Ursachen hervorgerufenen krankhaften Prozessen
an den Knochen unserer Zeit entsprechen und gleichen. Diese Ueber-
einstimmung der Form gewährt, abgesehen \'on ihrer Ueberzeugungs-
kraft, dem „unterrichteten Schauer sogar ein gewisses ästhetisches
Vergnügen", welches er in die schönen Worte kleidet: „Nicht nur
i) A. a. O., S. 6.
2) A. a. O., S. 9.
3) A. a. O., S. II.
4) A. a. O., S. II.
— 322 —
die Individuen vergehen und unterliegen dem allgewaltigen Wechsel
der Dinge; ganze Tiergeschlechter sterben aus: — aber die Form
ihrer Krankheiten ist ewig, so wie jene ihrer äusseren Gestalt" ^).
Da Knochenkrankheiten fast immer mit Krankheiten der Weich-
teile verbunden sind, so lassen sich nach v. Walther aus jenen
Schlüsse auf diese ziehen und es ergiebt sich von diesem Stand-
punkte aus eine „grauenerregende Ansicht auf das hohe Altertum
der Krankheit selbst". Diese sei wohl ebenso alt, oder nicht viel
jünger als das Menschengeschlecht-).
Nach V. Walther beschrieben H. v. Meyer (1826), S. Nilsson
(1848), Figuier (1870), Prunieres (1876) krankhafte Veränderungen
an vorgeschichtlichen Knochen, die meist traumatischen Ursprungs
waren, durch Fraktur oder Pfeilschuss oder Biss hervorgerufen. In
einem Grabe aus der Steinzeit bei L'Aumede fand Prunieres ein
ankylotisches Talo-Cruralgelenk mit ausgeheilter chronisch-eitriger
Entzündung und Nekrose am unteren Ende der Tibia ; offenbar handelt
es sich um einen Fall von Gelenktuberkulose ^).
1) A. a. o., S. 16.
2) A. a. O., S. 8. — Sehr bemerkenswert ist der Skeptizismus, mit welchem ein
so geistreicher Autor wie Quitzmann die Ideen v. Walther 's betrachtete. Zunächst
zwar meint er auch, dass die ^Menschen der Vorzeit dieselben gewesen seien wie heute (was
nach den neuesten Ergebnissen der Forschung über die sogenannte ,,Neanderthalrasse"
sicher unrichtig ist). Er sagt: ,, Wollte man selbst ein Gewicht auf die Belehrung legen,
welche die Universal-Anthropologie zu ziehen vermöchte aus den Katakomben von Rom
und Paris, aus dem nächtlichen Aufenthalte jahrtausendalter Mumien, aus den Eingeweiden
der mütlerlichen Erde, wo am Granikus und Indus, in den katalaunischen Gefilden und an
der unteren Donau ganze Generationen vermodert sind ; welche Schlusssätze könnte der Em-
piriker daraus ibigern, dass er den einen Schädel dicker als den andern, die eine Zahnkrone
breiter als die andere, eine Knochenröhre länger, die andere kantiger vorfindet ?" Mit Be-
ziehung auf V. Walther 's Untersuchungen bemerkt er aber: „Dass man auch aus den
stummen Ueberresten des Todes redende Zeugen für die Verhältnisse früherer Jahrtausende
machen könne, haben geistreiche Forscher bewiesen; doch werden all' diese Ueberbleibsel
aus den Saikophagen, wie die Ueberliefenmgen aus dem Leben, die Zustände der Vorzeit
nur ahnen lassen." Deshalb kann nach ihm die wahre Empirie auf diese Dinge verzichten.
,,Sie forscht nicht mehr nach antediluvianischen Menschenknochen, um sie mit den Gerippen
späterer Jahrhunderte zu vergleichen, oder stört die Grabesrulie untergegangener Länder, um
die Zeugen des Todes reden zu machen, wie es am Ende ihr beliebt. Nein ! sie geht hin-
weg über diesen Schutt der Verwesung und greift grossartig mitten ins Leben selbst hinein,
um über das Leben Aufschluss zu erhalten." E. A. Quitzmann, „Die Geschichte der
Medizin in ihrem gegenwärtigen Zustande", Karlsruhe 1843, Abteil. 2, S. 5 — 6 und S. 16.
3) Vergl. Xehring, ,,Ueber die letzten Aasgrabungen bei Thiede, namentlich über
einen verwundeten und verheilten Knochen vom Riesenhirsch", Verband!, der Berl. Anthro-
pologischen Gesellsch. 1882, Bd. XIV, S. 177 — 180 und Diskussion, S. 416 — 419; Pru-
nieres im „Bulletin de la Societe d'Anthropologie de Paris 1876, S, 155.
— 323 —
Endlich hat Virchow den pathologischen Knochen der Vorzeit
zahlreiche wertvolle Untersuchungen gewidmet, in denen er das A^or-
kommen von Caries, Nekrose, Arthritis deformans (entsprechend der
„Arthritis cavernarum" des Höhlenbären), Exostosen, H_yperostosen
u. s. w. an denselben nachwies, ohne jemals bei seinen un-
zähligen Untersuchungen bisher auf einen syphilitischen
Knochen aus präcolumbischer Zeit zu stossen. Virchow,
der die meisten Museen der alten Welt durchforscht hat, dem wohl
kein Eund dieser Art in Deutschland und den angrenzenden Ländern
unbekannt geblieben ist, hat noch bis heute keine krankhafte Ver-
änderung an einem Knochen aus der Vorzeit, dem Altertum und
Mittelalter wahrgenommen, die er als syphilitisch hätte deuten können.
Weiter unten werden seine Untersuchungsbefunde und Urteile über
angeblich syphilitische Knochen ausführlich mitgeteilt werden ^}.
Auch Tillmanns-) und Lehmann-Xitsche''), welche ebenfalls
dieses (jebiet bearbeiteten, haben keinerlei Spuren von Syphilis an den
von ihnen beschriebenen krankhaften Knochen gefunden.
Im Gegensatze zu den genannten angesehenen Anthropologen
und Pathologen haben einige französische Forscher syphilitische Ver-
änderungen an prähistorischen Knochen feststellen zu können geglaubt.
Sie waren dabei, besonders in differential-diagnostischer Beziehung,
mit wenig Kritik zu Werke gegangen. Klarheit und Gewissheit kann
auf diesem Gebiete nur gewonnen werden, wenn man stets alle Eehler-
quellen vor Aug'en hat, die hier in Betracht kommen können. Wir
müssen also, um über jene Funde richtig urteilen zu können, diese
Fehlerquellen genau untersuchen.
Sehr bedeutungsvoll sind zunächst gewisse
§ 23. Postmortale Veränderungeii der Knochen.
Die Frage, welche Veränderungen die Knochen bei langer
Lagerung im Erdboden erleiden, ist auch für unser Thema nicht un-
wichtig, wobei die rein mechanischen Alterationen von grösserer
Bedeutung sind als die chemischen.
i) Bezüglich der zahlreichen Arbeiten Virchow's über prähistorische pathologische
Knochen sei auf J. Schwalbe's „Virchow-Bibliographie", Berlin 1901, verwiesen, welche
die gesamte Litteratur bis 1901 enthält, ferner auf R. Lehmann-Nitsche, „Beiträge zur
prähistorischen Chirurgie nach Funden aus deutscher Vorzeit", Buenos Aires 1898.
2) H. Till man ns, „Ueber prähistorische Chirurgie" in: v. La n gen b eck 's Archiv,
Bd. XXVIII, S, 775 — 800.
3) A. a. O. und „Ein Beitrag zur prähistorischen Chirurgie" in: Archiv für klin.
Chirurgie, Bd. LI, Heft 4.
— 324 —
Nur kurz sei in Beziehung auf die letzteren^) bemerkt, dass durch
den Einfluss der Atmosphärilien alhnählich die org-anische Substanz
des Knochens zerstört wird, was eine starke Zunahme der Porosität
des Knochens zur Folge hat. Von den anorganischen Substanzen
wird besonders der kohlensaure Kalk durch die kohlensäurehaltige
Bodenflüssigkeit zersetzt und aufgelöst. Auch der phosphorsaure
Kalk unterliegt gewissen Veränderungen, welche bisweilen bei Gehalt
des Erdbodens an Schwefelsäure durch Umsetzung von Thonerde-
sulfaten mit dem phosphorsauren Kalk zu wahren Versteinerungspro-
zessen führen, wie diese besonders oft bei fossilen Knochen beobachtet
werden -). Bisweilen wird auch die Bildung von Vivianitkrystallen
in menschlichen Knochen beobachtet. Die in Pfahlbauten gefundenen
Zähne sind oft durch Vivianit blau gefärbt-^).
Da diese chemischen Einwirkungen auf die Knochen die
äussere Form derselben kaum beeinträchtigen und höchstens durch
Konsistenzveränderungen einen indirekten Eintluss ausüben, so kommen
sie für die Vortäuschung krankhafter Zustände kaum in Betracht.
Dagegen vermögen gewisse Alterationen mechanischer Natur letzteres
zu bewirken. In den Pfahlbauten und Höhlen finden wir ausserordent-
lich häufig gespaltene, benagte, zerklopfte Knochen''). Liebe bezog zu-
erst einzelne geglättete Stellen, Gruben und scharf randige Löcher an
Knochen auf die Einwirkung von Schneckenzungen (Zonites) und auf
das Einbohren von Larven einer Annobium-Art^). In einem Bericht über
die Bärenhöhle von Aggletek in Oberungarn erwähnt Virchowan der
1 ) Für das nähere Studium der postmortalen Einwirkungen chcnn'scher Natur sei
auf folgende Schriften verwiesen: E. v. Bibra, ,, Chemische Untersuchungen über die
Knochen und Zähne des Menschen und der Wirbeltiere mit Rücksichtnahme auf ihre phy-
siologischen und pathologischen Verhältnisse", Schweinfurt 1844, S. 333 — 385; E. Wibel,
„Die Veränderungen der Knochen bei langer Lagerung im Erdboden u. s. w.", Wissensch.
Abhandl. zum Osterprogramm des Akadem. und Real-Gymnasiums, Hamburg 1869, 4",
45 S.; C. A. Aeby , „Ueber die unorganische Metamorphose der Knochensubstanz", Bern 1870.
2) Vergl. O. Olshausen, ,, Chemische Beobachtungen an vorgeschichtlichen Gegen-
ständen, 1. Ersatz von Kalk in Knochen durch Thonerde" in: Verband!, der Berliner Ges.
für Anthropologie 1884, S. 516 — 518.
3) Correspondenzblatt der deutschen anthiopolog. Gesellsch. 1872, Nr. 7, S. 56.
4) Vergl. R. Virchow, ,, Pfahlbauten im nördlichen Deutschland", Zeitschrift für
Ethnologie 1869, Bd. I, S. 414. Vgl. ferner Lehmann-Nitsche, „Altpatagonische Schädel
mit eigenthümlichen Verletzungen, wahrscheinlich Nage-Spuren" in: Vcrh. der Bcrl. Anthrop.
Gesellsch. 1900, S. 547 — 552; F. v. Luschan, ,, Schädel mit Narben in der Bregma-Gegend;
ibidem 1896, S. 65 — 69; R. Virchow, ,,Osteol<3gische Funde aus der Bilsteiner Höhle",
ibidem 1895, S. 682.
5) Virchow und Liebe, ,,Die Lindenthaler Hyänenhöhle'', Verhandl. d. Berliner
Gesellsch. f. Anthropologie 1875, S. 127.
Oberfläche benagte Knochen, worin Baron Nyary die Einwirkung-
anderer Tiere erbhckte. „In der That erkennt man nicht selten
längere, breite Furchen, die von der nag'enden oder schabenden Ein-
wirkung der Zähne eines Raubtieres, oder rundliche Eindrücke, wie
sie durch das Beissen einer starken Bestie hervorgerufen werden.
Ein nicht geringer Teil der Gruben und Furchen der Oberfläche
erinnert mich jedoch an Erscheinungen, auf welche zuerst Herr Liebe
an Knochen der Lindenthaler Höhle bei Gera anfmerksam gemacht
und welche er auf das Aushöhlen der Schnecken und das Einbohren
gewisser Larven bezogen hat. Nachdem ich im vorigen Jahre in der
schönen Geraer Sammlung diese Erscheinungen studiert habe, glaube
ich mit vieler Wahrscheinlichkeit auch an Knochen von Aggletek
ähnliche Veränderungen in grosser Zahl aufgefunden zu habend."
Dass unter LTmständen derartige rein mechanische Veränderungen
der Knochen Syphilis vortäuschen können, beweist ein in einer Höhle
auf Portorico gefundenes menschliches Schädeldach, das jetzt im ana-
tomischen ]\Iuseum zu Stockholm aufbewahrt wird. Virchow unter-
zog dasselbe einer eing'ehenden Untersuchung, die Folgendes ergab.
„Es zeigt sowohl an seiner äusseren als an seiner inneren Ober-
fläche eine Masse von Löchern und grösseren Erosionen, die in un-
regelmässig verästelte, weite Kanäle mit zerfressenen Rändern führen,
von denen das ganze Stück, auch in der Tiefe, durchzogen ist.
Dieser „wurmstichige" Zustand ist innen stärker als aussen." Er
glich auffallend einer syphilitischen Nekrose des Schädels.
Trotzdem blieb Virchow ein Bedenken, zumal da die den Zer-
störungen benachbarten Oberflächen keine Erscheinungen von Ver-
dickung oder Eburnation zeigten. Bei genauerer Untersuchung fand
er nun, dass ,,in verschiedenen Erosionen, die in die Knochen hinein-
reichen, bald in Form von Gängen, bald von Buchten und Höhlen,
eine schwärzliche, erdige Masse steckte, an der hier und da Pflanzen-
wurzeln und kleine Schnecken klebten. Als ich ein Stück davon
herausnahm und es mikroskopierte, fand ich in der Erde kleine Eier,
die zum Teil schon cmbryoniert waren und die den Eiern gewisser
die Erde bewohnender Würmer, die wir auch bei uns treffen, glichen,
und die zur Zeit, als die Trichinen die allgemeine Aufmerksamkeit
erregten, von manchen Sonntagsforschern für Trichinen gehalten
wurden. Sowohl Pflanzen wurzeln wie kleine Tiere erzeugen
in Knochen allerlei Löcher und Gänge, besitzen also ge-
wissermassen fressende Eigenschaften." So ist nach Virchow
i) R. Virchow, „Die Bärenhöhle von Aggletek in Obeiungarn" in: Verhandl. d.
Berl. GescUsch. f. Anthropologie 1877, S. 312.
— 326 —
die Veränderung des Schädeldaches von Portorico nicht als eine
SA'philitische, sondern als eine postmortale, durch Pflanzen unter
Mitwirkung von Schnecken und Würmern hervorgebrachte anzusehen ^).
Hiernach müssen prähistorische Knochen mit angeblichen syphilitischen
Veränderungen stets auf diese Möglichkeit hin untersucht werden,
und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass bisweilen auch jene
von Virchow noch nachgewiesenen tierischen Reste in den Knochen-
löchern im Laufe der Zeit verschwunden sein können, so dass der
Untersucher leicht geneigt sein wird , die Veränderungen als syphi-
litische zu betrachten. Jedenfalls belehren uns die interessanten Be-
funde Virchow's bereits über dieSchwierigkeit einer sicheren Diagnose
der Natur krankhafter Veränderungen von Knochen, die lange Zeit
im Erdboden oder in Höhlen gelagert haben.
§ 24. lieber die Aehiilichkeit der krankhaften Veränderungen
bei nichtsyphilitischen Knochenleiden mit denen bei
Knochensyphilis.
Mehr als jedes andere Organ des menschlichen Körpers neigt
das Knochensystem dazu, auf verschiedene krankhafte Zustände in
derselben Weise zu reagieren. Periostitische Prozesse, Exostosen,
Hyperostosen, Caries, Nekrose können bei der denkbar verschieden-
artigsten Aetiologie doch dieselbe Form darbieten, so dass unter
Umständen schon in vivo die aetiologische Diagnose eine unsichere
sein kann. Gerade am meisten beim Knochen ist es „nicht zulässig,
aus der Natur der einzelnen Produkte einen Rückschluss zu machen
auf die besondere Qualität der Dyskrasie 2)." Bei Lebzeiten des
Kranken wird es fast immer möglich sein, aus zahlreichen Symptomen
in anderen Organen, aus der Anamnese, dem Krankheitsverlauf u.a.m.
die richtige Diagnose der Natur des betreffenden Knochenleidens zu
stellen. Wenn aber nur noch die Knochen selbst übrig sind, dann
wird die DifFerentialdiagnose äusserst schwierig, ja, sie ist wohl das
Schwierigste überhaupt in der Wissenschaft der Diagnostik. Das
kann nicht deutlich genug betont werden im Hinblick auf die
Schnelligkeit, mit welcher manche Autoren mit der Diagnose „Syphilis"
bei einem prähistorischen Knochen bei der Hand sind.
i) Vergl. R. Virchow, ,, Beitrag zur Geschichte der Lues" in: Dermatologische
Zeitschrift, Berlin 1896, Bd. III, S. 5 — 6. Auch "\yasserthiere vermögen Löcher und Furchen
im Knochen hervorzubringen, vgl. R. Virchow, ,, Pfahlbauschädel des Museums in Bern" in:
Verh. der Berliner Anthropol. Gesellsch. 1885 S. 286.
2) R. Virchow, „Die krankhaften Geschwülste", Berlin 1863, Bd. I, S. 77.
— 327 —
Zur Illustration dieser These wird es genüg-en, bei der Durch-
musterung der einzelnen Knochenaffektionen auf gewisse Ueberein-
stimmungen mit syphilitischen Prozessen hinzuweisen.
Da die Phosphornekrose eine verhältnismässig neuere
Knochenkrankheit ist, so kommt sie für unseren Zweck nicht in Be-
tracht. Immerhin ist es von Interesse zu erfahren, dass Virchow
die Phosphorerkrankung der Knochen sowohl in ihrer periostealen als
in ihrer medullären Form als die der Knochensyphilis am meisten
ähnliche Affektion bezeichnet i).
Sehr gross ist das Gebiet der nichtsyphilitischen Knochen-
auswüchse und Knochenneubildungen, die sehr häufig weder
durch ihren Sitz noch durch ihr Aussehen von den syphilitischen zu
unterscheiden sind. Die Vorgäng^e der Osteosklerose, Hyper-
ostose und Exostose können die verschiedenartigste Aetiologie
haben.
Als Ursachen der Craniosklerose führt Virchow nicht bloss
die Syphilis, sondern auch die Rachitis und Traumen an, ja Huschke
wollte nur die Rachitis als aetiologisches Moment bei Craniosklerose
gelten lassen -).
Noch mannigfaltiger ist die Aetiologie der Hyperostosen und
Exostosen. Marchand ^) bemerkt: Bei der Bildung vieler periostealen
und parostealen Knochen Wucherungen spielen chronisch-entzünd-
liche Prozesse eine grosse Rolle. Die übermässige Knochen-
produktion ist bekanntlich eine gewöhnliche Erscheinung bei chronisch-
entzündlichen Prozessen, welche den Knochen im ganzen oder das
Periost betreffen. In der Regel führt diese zu einer mehr oder
weniger diffusen Verdickung (Periostose, Hyperostose) des Knochens
in der Umgebung des Entzündungsherdes, z. B. eines cariösen Ge-
lenkes oder eines osteomyelitischen Abscesses. Mit dem Ablauf der
Entzündung fällt die Verdickung nicht selten der Resorption anheim,
sie kann jedoch auch persistieren und also eine bleibende
Ex- oder Hyperostose liefern. Eines der deuthchsten Beispiele
dieser Art ist die schildförmige Hyperostose oder Exostose der Tibia
i) R. Virchow, ,, Beitrag zur Geschichte der Lues", a. a. O., S. 8.
2) J. Neumann, „Syphilis", Wien 1896, S. 750. Hierher gehört auch die von
Le Den tu beschriebene „Peiiostite diffuse non syphilitique des os de la face et du crane"
in: Revue niensuelle de medecine et de Chirurgie 1879, Nr. 11. Nach Billrolh, ,,Allg.
Chirurg. Pathol. u. Therapie", 4. Aufl., BerHn 1889, S. 608 sind sogar die meisten Osteo-
sklerosen nichtsyphilitischer Natur.
3) F. Marchand, Artikel ,,Exostosis" in: Real-Encyklopädie der gesamten Heil-
kunde'' von Alb. Eulenburg, 3. Aufl., Bd. VII, Wien 1895, S. 409 — 410.
— 32Ö --
und Fibula bei chronischem Unterschenkelg'eschwür und mehr noch
die diffuse, mit zahlreichen spitzen Stacheln besetzte Hyperostose der
Unterschenkelknochen bei Elephantiasis ^). Aus demselben Grunde
haben für die Entstehung dieser Exostosen traumatische Ursachen
eine grosse Bedeutung-, und zwar können deiraus sowohl die rein
periostealen als die parostealen Formen hervorgehen (Reitknochen,
Exerzierknochen). Das beste Beispiel dieser Art liefert der Callus
luxurians bei Frakturen, namentlich den komplizierten, wobei es sich
zunächst um die Bildung eines anfangs weichen, teils knorpeligen,
teils osteoiden Gewebes aus dem Periost handelt, durch dessen Xcr-
knöcherung nach allen Seiten hin starrende Knochenvorsprünge sich
bilden, welche in der Regel mit der Zeit resorbiert werden, häufig
genug aber als wahre Exostosen zurückbleiben"-). Aber auch
anderweitige Traumen, Quetschungen u. dergi. können Anlass zur
Bildung von Exostosen geben".
Auch die sogenannten , .multiplen Exostosen" werden viel häufiger
durch andere Ursachen (Heredität, Gicht, rheumatische und neuro-
tische Einflüsse) hervorgerufen. Für die meisten Fälle wird der Ein-
fluss der Lues zurückgewiesen ^).
Sehr bemerkenswert sind die Aeusserungen Alfred Fournier's,
des hervorragenden französischen Syphilidologen und eines der besten
Kenner syphilitischer Knochenaffektionen, über die grosse Aehnlich-
keit, ja Identität nichtsyphilitischer Hyper- und Exostosen mit den
durch das syphilitische Virus hervorgebrachten Knochenauswüchsen.
Gegenüber Zambaco Pascha, der geneigt war, gewisse Exostosen
an Knochen aus dem alten Aegypten als syphilitische zu deuten,
betont Fournier die Möghchkeit und grössere Wahrscheinlichkeit
einer anderen Aetiologie:
i) Hieraus ersieht nican schon, wie irrig die Ansicht derjenigen Autoren ist, nach wclclien
alle Knochenauswüchse der Tibia als sj-philitische zu betrachten sind. Auch an die Exostosen
des Oberschenkelknochens als Folge von Senkungsabscessen sei erinnert. Vgl. R. Virchow,
„Pilhecanthropus erectus" in: Veih. der Berliner Gesellsch. f. Anthropologie, 1895 .S. 439.
2) Nach E. Lesser, „Lehrbuch der Geschlechtskrankheiten", 10. Aufl., Leipzig
1901, S. 204 gleichen die syphilitischen Knochenauftreibungen an der Clavicula und den
Vorderarmknochen ,,äusserlich oft völlig der Callusbildung nach einer Fraktur".
3) Birch-Hirschfeld, Artikel ,, Osteom" in F-ulenburg's Real-Encyklopädie,
3. Aufl., 1898, Bd. XVIII, S. 102; Marchan.d, a. a. O., S. 410; Pcrls-Neelsen,
,, Lehrbuch der allgemeinen Pathologie", Stuttgart 1894, .S. 295. — Multiple Exostosen-
bildung hat man z. B. an den Knochen alter Peruaner gefunden. Vergl. R. Virchow,
,,Ueber krankhaft veränderte Knochen alter Peruaner", Sitzungsbcr. der Kgl. Preuss. Akad.
der Wissenschaften 1885, S. 1135 — 1139.
— 329 —
„D'autant que l'experience nous a appris ceci; que nombre de
maladies peuvent determiner sur les os des lesions tres voisines
comme aspect macroscopique de Celles qui derivent de la syphilis.
Ainsi, un simple traumatisme suffit parfois ä produire des
exostoses tont ä fait comparables aux exostoses speci-
fiques. De meine la fievre typhoide realise des intumescences
ossenses, circonscrites ou diffuses, qu'il est souvent bien difficile,
pour ne pas dire impossible, de differencier, cliniquement
au moins, des exostoses issues de la verde. De meme, au
voisinage des ulceres variqueux, il se constitue frequemment des
hyperostoses tibiales que je ne me chargerais certes pas de
distinguer d'hyperostoses de meme siege, mais d'origine
specifique. Souvent encore des lesions diverses du Systeme nerveux
determinent des osteopathies des plus variees, dont plusieurs ne sont
pas Sans analogie avec les osteopathies specifiques. J'ai vu par
exemple (et j'en conserve plusieurs exemples photographies)
des exostoses tabetiques simuler absolument des exostoses
specifiques. Et ainsi de suite" i).
Nicht anders steht es um die car lösen Prozesse an den
Knochen. Auch diese können durch zahlreiche nichtsyphilitische
Affektionen hervorgerufen werden und sind sogar in den meisten
Fällen tuberkulöser Natur. E. Kirchhoff bemerkt über die Aetio-
logie der Knochencaries: „In der That können ausser der Tuber-
kulose und Syphilis fast sämtliche andere Infektionskrankheiten , wie
Typhus, Scharlach, Masern, Pocken, ja selbst Diphtherie. Malaria und
Erysipelas gelegenthch zu Affektionen der Knochen führen, welche
nach ihrem Verlauf, sowie nach dem anatomischen Befund als cariöse
bezeichnet werden müssen. Ja selbst Knochen wunden können infolge
chronischer Sepsis zu unzweifelhaften cariösen Prozessen Veranlassung
geben. Jedoch ist die Caries oder chronische Ostitis aus den eben
angegebenen Ursachen an und für sich seltener als die tuberkulöse
Caries . . . Die tuberkulöse Caries ist die weitaus häufigste
Form der Caries""-) xVuch Rotz, Noma und Aktinomykose ver-
mögen Caries der Knochen zu erzeugen. Die aktinomykotische
Caries des Unterkiefers, der Wirbelsäule, Rippen, Beckenknochen,
der Oberkiefer und anderer Skelettteile kann nach Kirchhoff am
i) A. Fournier in der Diskussion über Zambaco's Vortrag „De quelques lesions
palhologiques datant des temps des Pharaons" in: Bulletin de l'Academie de Medecine,
1900, 3? Serie, tome XLIV, S. 65.
2) E. Kirchhoff, Artikel „Ostitis" in Eulenburg's Real-Encyklopädie 1898,
Bd. XVIII, S. 135 — 136.
— 330 —
ehesten mit syphilitischen Erkrankungen verwechselt werden ! ') Auch
das phagedänische Geschwür der Tropen greift auf die Knochen
über ').
Auch die atrophischen und osteoporotischen Processe im
Knochen sind keineswegs etwas der Syphilis allein Eigentümliches.
Sie sind sogar nach Kirchhoff für die Syphilis nicht einmal so
charakteristisch wie die Hyperostose und Osteosklerose •^). Bei allen
chronischen Knochenentzündungen kommt es schliesslich teils zu Osteo-
porose, teils zu Hyperostose des Knochens^), und besonders kommt
hier die sogenannte „senile Osteoporose" in Betracht, welche am
Schädel und anderen Skelettteilen der syphilitischen Osteoporose
sehr ähnliche Zustände erzeugt. Da hier, wie bei der Syphilis,
gleichzeitig neben den rareficierenden auch sklerosierende Vorgänge
in den Knochen sich abspielen, so kann unter Umständen die Unter-
scheidung sehr schwierig oder unmöglich werden. Wenn Virchow
bemerkt: „Der senilen Atrophie fehlt jener aktive, entzündliche
Charakter, \velcher die syphilitische Atrophie regelmässig begleitet;
die Hyperostose, die Sklerose und Gefässneubildung, wenn sie wirk-
lich vorhanden sind, finden sich doch nicht im nächsten Umfange
der atrophisierenden Stelle, sondern in grosser Entfernung^. So kann
z. B, bei der Atrophie der Tubera ossis bregmatis gleichzeitig Hyper-
ostose, Sklerose und Gefässneubildung am Stirnbeine bestehen, aber
an dem Orte der Atrophie selbst ist der Prozess so wenig aktiv, dass
häufig sogar die Markhöhlen der Diploe offen bleiben" 5), so lässt
Ziegler gerade in der Diploe neben der Osteoporose auch eine Ver-
dickung des Knochens durch Apposition neuer Knochenanlagen an
die alten vor sich gehen '"'). In Wirklichkeit dürfte es schwierig sein,
an dem blossen Knochen stets mit Sicherheit die syphilitische Osteo-
porose von der senilen zu unterscheiden.
Wir sehen also, dass die wichtigsten durch die Syphilis am
Knochen hervorgerufenen Veränderungen unter Umständen auch durch
andere Leiden und Dyskrasieen erzeugt werden können. Verdickung,
i) Ibidem, S. 145.
2) J. Brault in: IMonatshefte für prakt. Dermatologie von Unna und Tänzer 1897,
Bd. XXIV, S. 637.
3) Kirchhoff, a. a. O., S. 132.
4) E. Ziegler, „Lehrbuch der spezieller; pathologischen Anatomie", 8. Aufl., Jena
1895, S. 144.
5) R. Virchow, „Uebcr die Natur der konstitutionell -syphilitischen Affektioiien"
in seinem Archiv 1858, Bd. XV, S. 247.
6) E. Zieglcr, a. a. O., S. 115.
— 331 —
Eburnation, Anschwellungen und Höcker, Erosionen und Caries
charakterisieren keineswegs die Knochensyphilis. Virchow kon-
statierte an den Knochen der mit „Höhlengicht" behaftet gewesenen
Höhlenbären Hyper- und Exostosen der verschiedensten Form und
sogar traumatische Knöchengeschwüre mit „tiefer Zerstörung und
grossen Knochenwucherungen im Umfange", welch letzterer
Umstand immer als für die syphilitische Caries charakteristisch her-
vorgehoben wird. So kommt der grosse Kenner der prähistorischen
Knochen zu dem Schlüsse: „Wenn man als sicher voraussetzen darf,
dass die Bären der Vorzeit keine specifische Infektion gehabt und
doch solche Krankheiten erduldet haben, so wird man auch die Alög-
lichkeit zugestehen müssen, dass vielleicht beim Menschen der A^or-
zeit gelegentlich etwas Aehnliches wie beim Bären eingetreten ist
und dass nicht jede derartig'e Anschwellung und Zerstörung, nicht
jede Form von Caries und Wucherung den Verdacht der Syphilis
erregen muss" ^).
Bevor wir daher uns zu der Besprechung der wichtigsten Kenn-
zeichen der Knochensyphilis wenden, betonen wir nochmals, dass
selbst diese an fossilen und prähistorischen sowie überhaupt sehr
alten Knochen wohl kaum jemals mit absoluter Sicherheit festzu-
stellen sind, wenn auch aus gewissen näher zu erörternden Merk-
malen die Diagnose der syphilitischen Xatur der betreffenden Knochen
mehr Wahrscheinlichkeit hat als die eines anderen Leidens. Ich bin
mir wohl bewusst, dass hieraus die Anhänger der Lehre von der
Altertumssyphilis den Schluss ziehen könnten, dass dann auch bei
den in Frage kommenden Knochen der alten Welt die Syphilis nicht
ohne weiteres ausgeschlossen werden könnte, (iewiss nicht. So lange
wir aber die bisher gefundenen krankhaften Veränderungen ebenso
einleuchtend durch eine nichtsyphilitische Aetiologie erklären können
wie dies Virchow, Fournier, Bayet u. A. thun, ist also für die
Lehre von der Altertumssyphilis mit der blossen Möglichkeit nichts
gewonnen. Wir wollen Gewissheit. Und die ist bisher auf diesem
Gebiete noch nicht erreicht worden. Wird sie jemals erreicht werden?
Kaum, wenn man v. Zeissl glaubt, dessen „unmassgebliche Meinung
dahin geht, dass es dem geübtesten Anatomen nach dem heutigen
Standpunkte des Wissens sehr oft schwer fallen dürfte, mit positiver
Gewissheit die Natur der Knochenerkrankung an einem ihm isoliert
dargebotenen Knochen zu diagnostizieren; der Anatom v.'ird
sich höchstens zu einem Wahrscheinlichkeitsschlusse herbeilassen
i) Virchow, „Beilrag zur Geschichte der Lues", a. a. O., S. 5.
Bloch, Der Ursprung di-r Syphilis. -'-•
— 33-^ —
können; der Kliniker iedoch wird bei der Diagnose des Knochen-
leidens ebensogut an eine gewisse Mehrheit von Symptomen appel-
lieren müssen, so wie er dies bei den syphilitischen Erkrankungen
der allgemeinen Bedeckung und der Schleimhaut zu thun bemüssigt
ist. So wie der Dermatolog ausser stände wäre aus einem mit syphi-
litischen Papeln oder Pusteln besetzten aus der Haut herausge-
schnittenen Lappen die Qualität der Erkrankung zu erkennen ^) , so
wird auch der Anatom nicht immer in der Lage sein, gewisse Ver-
änderungen eines Knochens -) gewissen Dyscrasieen zuzuschreiben.
Am Krankenbette aber wird die Diagnose durch den Verlauf, durch
die Antecedentien, Concomitantien . ja sogar aus den Adjuvanten
und endlich per exclusionem ermöglicht" ^).
Wie gross aber auch immer Zweifel und Unsicherheit sein mögen,
so müssen wir jedenfalls die wichtigsten Charakteristica der Knochen-
syphilis untersuchen und an dieser Stelle verzeichnen, schon um eine
weitere Grundlage für die Beurteilung der angeblichen Funde prä-
historischer syphilitischer Knochen zu gewinnen.
§ 25. Die wichtigsten Keniizeicheii der Syphilis am isolierten
Knochen.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, an diesem Orte die g'anze
Symptomatologie und Pathogenese der Knochensyphilis wiederzu-
geben, wie dies in den Lehrbüchern der vSyphilidologie und der patho-
logischen Anatomie ausgiebig geschieht. Hier können nur jene Ver-
änderungen ins Auge gefasst werden, welche sich an dem isolierten
Knochen zeigen müssen , die also ganz allein für das Studium der
prähistorischen Skelettteile in Betracht kommen. Nur die End-
resultate, die nach Ablauf der syphilitischen Knochenaffektionen am
Knochen zurückbleibenden, krankhaften Veränderungen interessieren
uns. Und auch diese reduzieren sich auf sehr wenige, wenn man be-
rücksichtigt, dass es sich bei den prähistorischen Funden um den
macerierten oder sonstwie entblössten trockenen Knochen
handelt,
Virchow bezeichnet als „einzig sichere und pathogno-
monische Erscheinung" der Knochensyphilis, welcher er persönlich
einen ganz besonderen diagnostischen Wert beilege, die nach einer
i) Dies wäre sogar durch die histologische Untersuchung unter Umständen möglich.
2) Die gummösen Erkrankungen ninunt v. Zeissl dabei aus, unseres Erachtens mit
Unrecht.
3) H. Zeissl, „Lehrbuch der konstitutionellen Syphilis", Erlangen 1864, S. 263.
gummösen peripherischen Ostitis, der sogenannten „Caries sicca"
zurückbleibende Knochennarbe ^).
In seiner berühmten Abhandkmg „lieber die Natur der kon-
stitutionell-syphilitischen Affektionen" charakterisiert er die syphili-
tische Knochennarbe durch den folgenden kurzen Satz: „Jede syphi-
litische Narbe im Knochen zeichnet sich durch Mangel an
Produktivität im Mittelpunkte, durch Uebermass derselben
im Umfange aus"-). Bezüglich der Pathogenese dieses Zustandes
sei auf die lichtvollen Ausführungen an jener Stelle verwiesen. Eine
ausführlichere Schilderung der syphilitischen Narben des Knochens
giebt er dann an der ersterwähnten Stelle: „Wenn man diese Form
zurück verfolgt zu den kleinsten Narben, so zeigen sie stets die
gleichen Eigenschaften. Ich weiss keine andere Krankheit, welche
solche Veränderungen macht, und ich möchte das recht stark hervor-
heben. Es ist leicht, solche Stellen, so leicht sie auch sein mögen,
zu erkennen; aber wenn man sagen soll, worin gerade ihre Ver-
schiedenheit von anderen Knochendefekten liegt, so ist das ziemlich
schwer. Am häufigsten erregt die Aufmerksamkeit eine eigentüm-
lich zackige, nicht selten sternförmige Vertiefung, deren Mittelpunkt
den stärksten Defekt bildet und deren Ränder verhältnismässig glatt,
gerundet, nirg'ends höckerig oder zerfressen aussehen. Es ist also
das Ensemble der Erscheinungen, welches die Diagnose ergiebt. Man
muss wahrnehmen können, wie die Veränderungen sich um einen
Mittelpunkt gruppieren, von da ausstrahlen, unter einander zusammen-
treten und doch den Gesamteffekt eines einheitlichen Herdes machen.
Das ist das Entscheidende. Gleichgiltig- ist, ob der Defekt ein wenig
mehr in die Tiefe geht oder sich flach ausbreitet. Immer sind das
Formen, die durch keine Art von wirklicher Caries (Eiterung-), von
Lupus oder von Lepra hervorgerufen werden" ^).
Auch A. P'oerster unterscheidet die Veränderungen nach syphi-
litischer Caries von den durch einfache Caries bedingten. „Ein
syphilitisches Knochengeschwür heilt meist so, dass im Knochen eine
tiefe Depression zurückbleibt, welche mit einer glatten Rinde über-
zogen und von einem über das Niveau des normalen Knochens her-
vorragenden Knochenwulst umgeben ist. Ausgebreitete cariöse Zer-
störung der äusseren Rinde hinterlässt eine tiefe Lücke im Knochen,
in deren Umgebung dieselbe hyperostotisch und sclerotisch bleibt;
i) Virchow, „Beitrag zur Geschichte der Lues", a. a. O., S. 7.
2) Virchow 's Archiv 1858, Bd. XV, S. 257.
3) Virchow, „Beitrag u. s. w.", a. a. O., S. 7.
22^
— 334 —
waren zwischen cariösen Stellen Brücken und Inseln des Knochens
frei geblieben, so erscheint nach der Heilung der Knochen sehr
höckerig, indem jene Inseln hyperostotisch weit über die tiefen De-
pressionen vorragen, in welche sie mit flach abfallenden Rändern
übergehen ^)."
Nach E. Kirchhoff haben die syphilitischen Knochennarben
eine „rein weisse Farbe und ein strahliges Gefüge und führen in der
Mitte zu einer vertieften Knochenstelle, während die Umgebung in
der Form eines dunklen Knochenwalles erhoben ist" -). Diese Er-
scheinungen genügen, um eine „syphilitische Knochennarbe auf den
ersten Blick mit voller Deutlichkeit zu erkennen"^).
Bei meiner Untersuchung der reichhaltigen Sammlung syphili-
tischer Knochen des Royal College of vSurgeons zu London habe ich
nur in wenigen Fällen diese Narben finden können, dagegen war bei
den meisten syphilitischen Geschwüren und Zerstörungen die Hype-
rostose und Sklerose der Umgebung, die sogenannte „lesion de
voisinage" sehr deutlich ausgesprochen. Auch ein neuerer hervor-
ragender Pathologe, E. Ziegler, übergeht in seinem Lehrbuch der
speciellen pathologischen Anatomie^) die syphilitische Knochennarbe
mit Stillschweigen. Nach Michaelis glätten sich sogar die Narben
bald ab, so dass sie in späterer Zeit schwer zu entdecken sind^).
Endlich muss man bedenken, dass es in vielen Fällen von starker
Zerstörung der Knochen überhaupt nicht zur Narbenbildung kommt.
Dann dürfte sich die Hyperostose und Osteosclerose der Umgebung
der zerstörten Partien nicht immer von der durch tuberculöse Caries
hervorgerufenen unterscheiden lassen, da auch diese Reaktion Osteo-
sclerosen in der Nachbarschaft hervorruft '0. Alles dies wäre aber
nicht ausschlaggebend, wenn man jemals an einem krankhaft verän-
derten bezw. für syphilitisch erklärten Knochen der prähistorischen
oder präcolumbischen Zeit eine solche charakteristische Narbe ge-
funden hätte, die von Virchow für das einzige wahre Merkmal
abgelaufener Syphilis erklärt wird. Bisher ist dieselbe an keinem in
der alten Welt aufgefundenen Knochen konstatiert worden.
i) A. P'oerster, „Handbuch der speziellen jialhologischen Anatomie", 2. Aufl.,
Leipzig 1863, S. 956—957-
2) E. Kirchhoff, a. a. O., S. 131.
3) Ibidem,
4) 8, Aufl., Jena 1895, S. 156—158.
5) A. C. J. Michaelis, ,,Compendiuni der Lehre von der Syphilis", Wien 1859,
S. 299.
6) E. Ziegler, a. a. O., S. 151.
— 335 —
Dass die Osteoporose, die „wurmstichige" Beschaffenheit des
Knochens nicht nur durch S}'philis bedingt zu sein braucht, haben
wir oben gesehen. Doch sei erwähnt, dass nach H. Oeffinger die
Ostopeorose bei Syphihs sieh meist durch eine ganz eigentümhche,
braune, dunklere Färbung der vielfach und oft äusserst fein siebförmig
durchlöcherten Knochensubstanz markiert, sodass letztere an manchen
Stellen geradezu dem Querschnitt eines Meerrohrs oder einer Wasser-
binse gleicht^).
Was die syphilitischen Hyperostosen betrifft, so genügt der
Hinweis auf das Urteil Virchow's, dass sie „nicht so patho-
gnomonisch sind, dass sie ohne Anamnese an einem einzelnen oder
auch an mehreren macerierten trockenen Knochen die Diagnose
sichern können. Wir kennen kein Merkmal, um die periosteale
Hyperostose traumatischen Ursprungs oder die medullären Herde mit
allgemeiner Hyperostose tuberculösen Ursprungs von der S3^philitischen
bestimmt unterscheiden zu können" -). Es ist deshalb belanglos, auf
gewisse Praedilectionsstellen der syphilitischen Hyperostosen (Crista tibiae,
Clavicula, Ulna, Aussenfläche des Schädels) hinzuweisen, da gerade
diese oberflächlich gelegenen Knochen auch am ehesten traumatischen
Einflüssen unterliegen. Ob die von Broca für pathognomonisch
erklärten isolierten und jäh absetzenden Hyperostosen bezw.Osteosklerosen
des Stirnbeines bezw. der Nasenbeine und der Stirnfortsätze des
Unterkiefers mit Ergriffensein von Teilen der Wand des Antrum
Highmori mit Sicherheit auf Syphilis deuten, vermag ich nicht zu
entscheiden. Herr Professor v. Luschan zeigte mir einen japanischen
Schädel (Nr. S. 478 des Museums für Völkerkunde in Berhn) mit
einer über i Centimeter (statt normal y.,— i Millimeter) dicken
Hyperostose des Nasenbeins, die er als für Syphilis pathognomonisch
ansah. Trotz des Schweigens der Lehrbücher der pathologischen
Anatomie, Syphilidologie und Chirurgie über diese isolierten Hyperos-
tosen^) muss diese Anschauungder beiden hervorragenden x\nthropologen
i) H. Oeffinger, „Beschreibung zweier Fälle von Knochensyphilis" in Virchow's
Archiv, Berlin 1868, Bd, 43, S. 473.
2) R. Virchow, , .Beitrag u. s. w.'", a. a. O., S. 6. Dagegen möchte Virchow
die medullären osteomyelitischen Herde der platten Knochen mit tiefen Zerstörungen ohne
Hyperostose als für Syphilis pathognomonisch ansehen.
3) Virchow spricht von der Hyperostose der Nasenbeine bei Ozaena syphilitica
mit bleibenden Zerstörungen. ,,Die eingesunkene Nase wird durch dicke, oft elfenbeinerne,
an ihrem unteren Ende wie abgescliliffene Nasenbeine gestützt, ja nicht selten bildet sich
eine liefe Rinne über dem Nasenrücken, gegen welche die Nasenbeine umgekehrt dach-
förmig zusammengehen und deren Fläche mit zahlreichen, radial gestellten Gefässfurchen be-
setzt ist. — Zuweilen setzt sich dieser Process der Sklerose und Hyperostose
- 336 -
bei künftigen Untersuchungen und Funden beachtet werden, wobei
allerdings die Frage beantwortet werden muss, ob es sich nicht
eventuell um eine Teilerscheinung- der sogenannten „Leontiasis ossea
faeiei" handelt.
Die rein cariösen Zerstörungen der Nase und des Gaumens
können am macerierten Knochen in Beziehung auf ihre Aetiologie
kaum voneinander unterschieden werden. Insbesondere kommen hier
Rotz und Tuberkulose in Betracht, welche zu schweren Zerstörungen
der Knochen in der Nasenhöhle und im harten Gaumen führen, die
am macerierten Knochen einander sehr ähnlich sind ^).
Bezüglich der syphilitischen Spina ventosa bemerkt E. v.
Düring: „Diese Atfektionen sehen, besonders an den Knochen des
Hand- und Fussskelettes, tuberkulösen, cariösen Knochenentzündungen
sehr ähnlich, und hinterlassen nach der Ausheilung Verkürzungen
des Skelettes ganz wie die tuberkulösen Prozesse" 2).
Die bekannten Veränderungen der Zähne, welche J. Hut-
chinson als sichere Zeichen der hereditären Syphilis betrachtet^),
nämlich die rundlichen Erosionen und Strichelungen der Zahnfläche
und vor allem die halbmondförmigen Defekte der unteren Kante der
mittleren oberen Schneidezähne, sind nach den Erfahrungen der her-
vorragendsten Kinder- und Zahnärzte durchaus nicht für Syphilis
pathognomonisch.
So sprachen sich der Zahnarzt Busch und der Syphilidologe
G. Lewin ganz entschieden gegen eine solche Bedeutung dieser
Zahndefekte aus*), ebenso der Syphilodologe Isidor Neumann^).
Unter den Pädiatern erhoben sich die gewichtigen Stimmen von
E. Henoch und H. Neu mann dagegen. Ersterer bemerkt: „Den
von Hutchinson stark betonten Symptomenkomplex, eigentümliche
Beschaffenheit der Zähne (kurze, schmale, auseinanderstehende und
gekerbte obere Incisoren), Keratitis und Taubheit, möchte ich um so
auf die ganze Umgebung weithin fort, z. B. auf die Knochen des Schädelgrundes."
So beobachtete er eine Sklerose des Keilbeines bei einem 66jährigen Individuum. Virchow,
„Ueber die Natur der konstitutionell-syphilitischen Affektionen", a. a. O., S. 259.
i) Vergl. E. Kirchhoff, a. a. O., S. 144; E. Ziegler, a. a. O., S. 624; A.
Focrster, a. a. O., S. 335 — 336.
2) E. V. Düring, „Klinische Vorlesungen über Syphilis", Hamburg und Leipzig
i8c)5, S. 140.
3) Brit. med. Journal vom 2. Oktober 1858.
4) Monatshefte für prakt. Dermatologie von Unna und Tänzer, 1896, Bd. XXIII,
Nr. 8, S. 450—451.
5) J. Neumann, ,, Ueber einige Erscheinungen der hereditären Syphilis", Wiener
klinische Rundschau 1900, Nr. 15.
— 337 —
weniger als sicheres Zeichen einer tardiven Syphilis betrachten, als
gerade solche Schneidezähne sich auch bei Kindern finden»
welche von Lues absolut frei sind"^).
H. Neumann kommt in seinem auf der Frankfurter Natur-
forscherversammlung (1896) gehaltenen Vortrage über die „Beziehungen
von Krankheiten des Kindesalters zu Erkrankungen der Zähne" zu
dem Schlüsse, dass der Hutchinson 'sehe Defekt durchaus nicht
immer auf Syphilis beruht, sondern bei allen pathologischen
Zuständen vorkommen kann, in welchen die Gesamtent-
wickelung des Körpers eine mangelhafte ist, wobei vor allem
die Rachitis in Betracht kommt -).
Aehnliche Anschauungen vertreten die Pädiater Hochsinger^),
A. Baginsky und L. Bernhard^), ferner die Syphilidologen M. v.
ZeissP), E. Lang und E. Welander^), die Odontologen Baume,
P. Ritter^) und Quinet^).
Interessante Diskussionen über die Bedeutung dieser Zahnver-
änderungen fanden in den Sitzungen der Pariser Anthropologischen
Gesellschaft vom 21. Juni 1881, 19. April 1883 und 18. Januar
1894 statt.
M. J, Parrot, der im Jahre 1881 sehr energisch für die Be-
rechtigung der Hutchinson'schen Behauptungen eingetreten war^),
hatte auch gewisse, transversale Strichelungen an Zähnen prähisto-
rischer Skelette, die von Le Baron ausgegraben worden waren, als
solche syphilitischer Natur bezeichnet. Der berühmte Odontologe
Magitot widersprach dem ganz entschieden, und Le Baron selbst
schloss sich Magitot's Anschauung an, indem er miteilte, dass er
an den Zähnen eines Ochsen dieselben Erosionen gesehen habe ^^).
i) E. Henoch, ,, Vorlesungen über Kinderkrankheiten", 7. Aufl., Berlin 1893, S. 114.
2) Referat in: Deutsche Medizinal-Zeitung 1896, Nr. 84, S. 892.
3) Hochsinger, „Beiträge zur Kinderheilkunde", Wien 1890, S. 157.
4) A. Baginsky und L. Bernhard, Artikel ,, Rachitis" in: Eulenburg's
Realencyklopädie, 3. Aufl., 1899, Bd. XX, S. 158.
5) M. V. Zeissl, Artikel „Syphilis", ibidem 1900, Bd. XXIII, S. 672.
6) E. Lang, „Vorlesungen über Pathologie und Therapie der Syphilis", 2. Aufl.,
Wiesbaden 1896, S. 696.
7) P. Ritter, ,,Zahn- und Mundleiden mit Bezug auf Allgemeinerkrankungen",
Berlin 1897, S. 201 — 202.
8) Quinet im Bulletin de l'Acad. Royale de medecine de Belgique 1879, Nr. i.
9) M. J. Parrot in: Gazette des höpitaux 1881, Nr. 74, 78, 80.
10) Diskussion über den Vortrag von Le Baron, ,,Sur les lesions osseuses prehisto-
riques" in: Bulletin de la Societe d'Anthropologie de Paris", 36 serie, 1881, Bd. IV,
s. 597—598-
- 338 -
Auch Capitan beschrieb später ganz ähnhche Erosionen an Hunde-
zähnen, die nach Pietrement durchaus nicht selten seien i). Im
Anschkiss an den Vortrag Capitan's bemerkte Magitot ganz
richtig, dass Hunde und Ochsen nicht syphilitisch werden können.
„On voit quelles conscquences nous sommes force de tirer de ce fait
au point de vue de la doctrine de M. Parrot". Er hat diese Zahn-
defekte besonders bei Kindern beobachtet, die an Konvulsionen
litten, womit übereinstimmt, dass auch Hunde und Herbivoren in den
ersten Lebensjahren oft von Konvulsionen heimgesucht werden 2).
Parrot glaubte sich dadurch aus der Affäre zu ziehen, dass er sich
für inkompetent in Beziehung auf seine Kenntnisse der Zahnver-
änderungen beim Hunde erklärte-^), worauf ihm Magitot ironisch
erwiderte: „Maintenant M. Parrot nous dit qu'il ne connait pas l'evo-
lution des dents chez le chien: je lui en demande pardon; il la
connait tres bien, car eile ne differe en rien chez tous les mammi-
feres en general. Ce sont les memes tissus constituants et le meme
mecanisme de developpement, d'oü il suit que les memes perturba-
tions d'evolution , l'erosion entre autres, y doivent reconnaitre, la
meme origine. On peut des lors conclure d'un mammifere ä
l'homme. II faut donc prendre parti entre les deux hypotheses:
Celle de M. Parrot, qui rattache l'erosion ä la syphilis hereditaire,
et Celle que je soutiens et ä laquelle s'etait rallie Broca, ä
savoir que l'erosion est la consequence de l'eclampsie infantile"*).
Adolphe Bloch veröffentlichte 1892 eine Abhandlung „Patho-
genie des erosions et autres anomalies dentaires", in welcher er die
ganze Geschichte der Zahnerosionen behandelt und nachweist, dass
die Syphilis durchaus nicht die häufigste Ursache derselben sei, son-
dern dass man diese Zahndefekte am häufigsten bei Kindern neuro-
pathischer, tuberkulöser und alkoholistischer Eltern antreffe^).
Henoch erklärt die von Parrot als syphilitisch angesehenen
Zahnveränderungen für solche rachitischer Natur*').
Das Hauptergebnis der Betrachtung der Kennzeichen der
Syphilis am isolierten Knochen ist die Erkenntnis der grossen
Schwierigkeiten, welche sich einer sicheren Feststellung der syphi-
i) M, Capitan, „Erosions dentaires chez le chien", ibidem, 3c serie, 1883, Bd. VI,
S. 342—348.
2) Magitot, ibidem, S. 346.
3) Parrot, ibidem, S. 346. '
4) Magitot, ibidem, S. 347.
5) A. Bloch, ibidem, 4« serie, 1894, Bd. V, S. 70.
6) E. Henoch, a. a. O, S. 114,
— 339 —
litischen Natur einer x\ffektion der Knochen aus prähistorischer bezw.
präcolumbischer Zeit entgegenstellen. Wir sind über die durch
Parrot inaugurierte Epoche einer vorschnellen, allzu enthusiastischen
Diagnostik der Knochensyphilis längst hinaus. Männer wie Virchow,
Fournier, Hunt, Blake, Bayet haben ihre warnenden Stimmen
gegen solche Deutungen erhoben, und wir werden jetzt und künftig
gut thun, auf sie zu hören.
§ 26. Die angeblichen Funde i)rähistoi'isclier syphilitischer
Knochen.
Wenn auch die eigentlichen Bestrebungen und Anregungen,
syphilitische Veränderungen an prähistorischen Knochen aufzufinden,
mit dem Namen von Parrot verknüpft sind, der seit 1877 bis zu
seinem Tode unermüdlich auf diesem Gebiete thätig war, so ist doch
schon vor ihm diese Frage in einer gelehrten Gesellschaft diskutiert
und bezeichnenderweise verneint worden.
Es dürfte wenig bekannt sein, dass bereits im Jahre 186.4, »^^so
13 Jahre vor Parrot, eine Diskussion über angebliche syphilitische
Affektionen prähistorischer Knochen in der Londoner Anthropo-
logischen Gesellschaft stattfand. Es geschah dies im Anschlüsse
an einen Vortrag von Bollaert^).
Hier machte der Präsident James Hunt die sehr wichtige Be-
merkung, dass er niemals an einem alten Schädel Spuren von
Syphilis getroffen habe, während er solche bei modernen Schädeln
aus der Zeit nach der Entdeckung Amerikas sehr häufig gefunden
habe!-) Auf seine Anfrage, ob noch andere Mitglieder der Gesell-
schaft Kenntnis von präcolumbischen Schädeln mit syphilitischen Ver-
1) William BoUaert, „On the alleged introduction of syphilis from the new
World. Also some notes on the Local and iinported diseases into America" in: Journal of
the Anthropological Society of London 1864, S. CCLVI — CCLXVIII und Diskussion
S. CCLVIII— CCLIX.
2) „In no ancient skull that he was aware of had there been found any trace of
Syphilis, but it was easily discoverable in many modern skulls, the bone of the skull or
the teeth being more or less affected by the disease . . . They might, perhaps, arrive at
some satisfactory result by the examination of ancient skulls, for if marks of the disease
could be found on skulls of persons who died before the discovery of America, such evi-
dence would be conclusive. In the examination of most modern skulls of soldiers it had
been ascertained that ihere was scarcely one skull of men who died in the army that was
not affected by syphilis, and some were in a frightful State. Even some of the beauti-
fuUy white prepared skulls on the table, which had been presented to the Society by Pro-
essor Hyrtl, showed marks of the disease." A. a. O., S. CCLXVII.
— 340 —
änderungen hätten, berichtete Carter Blake über einen angeblich
aus der Zeit Richard's III. oder noch früherer stammenden Schädel,
an dem er Spuren von Syphilis gefunden haben wollte. Doch war
es sehr zweifelhaft, ob der Schädel wirklich jenes Alter besass ^).
Eine ähnliche Diskussion fand am i6. März 1876 in der Pariser
Anthropologischen Gesellschaft statt. Hier demonstrierte Broca
Schädel aus den Dolmen von L'Aumede mit Exostosen am Occi-
pitale, die er aber für „loin d'etre caracteristiques" für die wSyphilis
erklärt. „La premiere presente toutefois quelque ressemblance avec
certaines exostoses syphilitiques ; si cet os etait moderne, on con-
sidererait la lesion dont il est le siege comme un indice probable de
la Syphilis tertiaire. Une pareille conclusion serait ici peu
justifiee". Trotz dieser sehr berechtigten Zweifel über die syphili-
tische Natur der Exostosen sprach sich Broca doch im Hinblick
auf die litterarischen Nachrichten (Morbus Campanus, Annalen des
Petrus Olaus u. s. w.) für die Annahme einer Existenz der Syphilis
im Altertum aus. Er erwähnte dann noch, dass er eine grosse Zahl
syphilitischer Veränderungen an den Knochen eines zu einer alten
Eeproserie gehörigen Kirchhofs gefunden habe, der vor ungefähr
1 5 Jahren in der Rue Bruxelles zu Paris aufgegraben worden sei 2).
Gegenüber Broca trat de Quatrefages sehr energisch für den
amerikanischen Ursprung" der Syphilis ein , die in den Traditionen
der präcolumbischen Indianer klar und deutlich beschrieben werde.
Andererseits plädierte Hure au de Villeneuve für die Ricord'sche
Hypothese vom Ursprünge der Syphilis aus dem Coitus von Menschen
mit rotzkranken Pferden und verstieg sich zu der ungeheuerlichen
Behauptung, dass Amerika 1495, bei der Belagerung von Neapel,
noch nicht entdeckt gewesen sei! Topinard, offenbar ein Anhänger
der Lehre vom neuzeitlichen Ursprung der Lustseuche, glaubte doch
bei dieser Gelegenheit daran erinnern zu müssen, dass es drei ver-
i) „Mr. Carter Blake stated that about two years ago a skull was submilted to
liim , which was absurdly alleged to be the skull of Richard III., but it proved to be the
skull of a female, and exhibited Symptoms of having been affected with Syphilis. The
skull was Said to have been associated with bones of the extinct Bos priniigenius, but
that sort of evidence was of a very doubtful kind. That was the only skull of reputed
antiquity in which he had observed traces ot Syphilis." Ibidem.
2) Sollten diese Knochen wirklich syphilitische Veränderungen aufgewiesen haben,
so würden sie nicht das Geringste für die Altertumssyphilis beweisen, da es feststeht, dass
die Friedhöfe der Aussätzigen in späterer Zeit auch zur Beerdigung von Armen gedient
haben, weil die meisten „Siechenhäuser" nach Verschwinden des Aussatzes in Armenhäuser
umgewandelt wurden.
— 341 —
schiedene venerische Krankheiten gebe, nämhch den Tripper, den
weichen Schanker und die Syphilis ^).
Der Erste, der den Versuch machte, die Existenz der Syphihs
in 23rähistorischer Zeit durch S3'stematische Untersuchungen von
Skelettfunden zu erhärten, war Parrot, der hervorragende fran-
zösische Pädiater. Er hielt seine ersten Vorlesungen über prähisto-
rische Syphilis im Jahre 1877 im „Hopital des Enfants-Assistcs" und
wiederholte dieselben im Laufe des Jahres in der Pariser Anthro-
dologischen Gesellschaft und auf dem Kongresse zu Havre'^). Ein
im Jahre 1882 in der „Revue scientifique" erschienener Aufsatz fasst
alle Ergebnisse der Parrot'schen Untersuchungen zusammen^).
Parrot beschäftigt sich zunächst darin mit den Ansichten des
Lyoner Syphilidologcn Rollet, der die Existenz der Syphilis in
Europa vor dem Ende des 15. Jahrhunderts leugnete und das damit
begründet: „que les fouilles faites dans les terrains d'alluvions et
dans les anciens cimetieres, bien qu'ayant mis ä jour un graad
nombre de cränes, qui remontent soit aux epoques prehistoriques,
soit aux temps les plus recules de notre histoire, n'ont fait de-
couvrir sur aucun d'eux des lesions caracteristiques de la
Syphilis." Rollet erwähnt dann das 1872 von dem Abbe Ducrost
bei Solutre im Departement Saone et Loire ausgegrabene, an-
scheinend der merowingischen Epoche angehörige Skelett einer
Frau , deren Tibien mit Exostosen besetzt waren, die angeblich von
Broca, Ollier, Parrot und Virchow (??) für sichere syphilitische
Veränderungen erklärt worden seien. Aber der Abbe Ducrost
hege selbst starke Zweifel über das wirkliche Alter dieses Grabes.
Rollet, der geneigt ist, diese Exostosen als syphilitische zu betrachten,
legt mit Recht auf Ducrost's Zweifel an der merowingischen Her-
kunft des Skelettes von Solutre so viel Gewicht, um die Annahme
einer prähistorischen Syphilis zu verwerfen. Aber auch die Knochen-
veränderungen an sich, lediglich Exostosen der Tibia, während
das übrige Skelett weiter keine Veränderung'en zeigt, sind für die
Diagnose der Syphilis absolut unzureichend , und ganz gewiss ist
Virchow, der wiederholt gegen Parrot's und Broca's Befunde
Stellung g'enommen hat, nicht unter denjenigen gewesen, die die
„syphilitische" Natur dieser Exostosen bestätigt haben.
i) Vergl. Bulletin de la Societe d'Anthropologie de Paris 1876, Bd. XI, S. 154
bis 159.
2) F. Buret, „La Syphilis aujourd'hui et chez les Anciens", Paris 1890, S. 44.
3) J. Parrot, „Une maladie prehistorique" in: La Revue Scientifique, Paris 1882,
S. HO — 113.
— 342 —
Parrot stellt dann die nach seiner Ansicht massgebenden dia-
gnostischen Merkmale der hereditären Syphilis am Schädel zusammen.
Vor allem kommt hier zunächst nach ihm die 1843 von Elsässer
beschriebene Craniotabes in Betracht. Parrot unterscheidet zwei
Arten von Craniotabes. Die eine findet sich symmetrisch auf den
Frontalia und Parietalia längst der Sagittalnaht und soll intrauterin
entstehen. Es ist die „Craniotabes con genital peribregmatique". Die
andere nimmt die hintere Gegend der Scheitelbeine und des Occiput»
entsprechend den Fossae cerebrales, ein und tritt erst nach der Geburt
auf. Parrot sieht die erste Art für rein syphilitisch an, während
die zweite durch komplizierende Rachitis verursacht werden soll.
Lang hält die Craniotabes der hereditär-syphilitischen Kinder über-
haupt für eine solche rachitischen Ursprungs i). Auch Lesser,
der die Craniotabes gar nicht erwähnt, konstatiert das häufige
Auftreten rachitischer Prozesse bei Heredosyphilitikern 2). Ebenso
bemerkt Henoch, dem ebenfalls jene von Parrot beschriebene Form
einer syphilitischen Craniotabes unbekannt ist, dass die Craniotabes
sogar innerhalb der Grenzen der physiologischen Entwickelung ohne
eine krankhafte Aetiologie vorkommen könne •'^). Dasselbe gilt von
den übrigen deutschen Autoren, wie denn auch Heubner in seiner
erschöpfenden Bearbeitung der Syphilis im Kindesalter*) dieser Art
der Craniotabes nicht gedenkt.
Weiter bezeichnet Parrot Hyperostosen und Osteophyten auf
den Stirn- und Scheitelbeinen (bosses parietales), besonders die so-
genannte „deformation natiforme" (Knochenbuckel, die um die
grosse P'ontanelle angeordnet sind), als charakteristisch für hereditäre
Syphilis. Das ist durchaus unzutreffend.
Diese „Vierhügelform" des Schädels an der grossen Fontanelle
ist nach A. Baginsky gerade typisch für Rachitis^), und Couth
bemerkt, dass die Knochenbuckel der Rachitis leicht mit jenen der
hereditären Syphilis zusammengeworfen w^erden. Die Gegend der
Stirn- und Scheitelbeine, welche Parrot als den typischen Sitz der
i) E. Lang, „Vorlesungen über Pathologie und Therapie der Syphilis", Wiesbaden
1896, S. 628.
2) E. Lesser, ,, Lehrbuch der Geschlechtskrankheilen", lo. Aufl., Leipzig 1901,
S. 276.
3) E. Henoch, a. a. O., S. 871—872.
4) O. Heubner, ,, Syphilis (Hereditaria acquisita, tarda) im Kindcsalter", Tübingen
1896, 8», 135 S.
5) A. Baginsky, Artikel „Rachitis" in: Eulenburg's Encyklopädie 1899,
Bd. XX, S. 157.
— 343 —
syphilitischen Knochenbuckel bezeichnet, ist nach IMacnamara
gerade immer bei syphilitischer Schädelerkrankung frei. Dadurch
lässt sich die Schädelsyphilis von der Schädelrachitis unterscheiden.
Auch dauern syphilitische Knochenbuckel selten über das erste Lebens-
jahr hinaus und hinterlassen keine Spur ihrer früheren Anwesenheit,
während rachitische Buckel persistenter sind ^).
Die von Parrot neben dem Hutchinson 'sehen Zahndefekte
beschriebenen Deformitäten der Zähne, welche angeblich nur bei
hereditärer vS3"philis vorkommen sollen, die sogenannte „Atrophie
cupuliforme" (napfförmig'e Erosionen, die kreisförmig um die Krone
angeordnet sind, in einer oder zwei Etagen), die „Atrophie sulciforme"
(durch Verschmelzung der „cupules" zu Furchen), die „Atrophie cus-
pidienne" (Zweiteilung der Krone an den Canini und ersten Alolaren)
und die , .Atrophie en hache" (konsekutive Caries der vier oberen
Incisivi bei der ersten Dentition) sind von keinem anderen Autor
als Folgen der SN'philis beobachtet worden. Lang beobachtete
einen Fall von „Atrophie cupuliforme" der Zähne bei einem 20jährigen
Burschen-), der aber an frisch acquirierter Syphilis litt, während die
Zahnveränderungen schon viel älter waren. Er bemerkt darüber :
„Ueber die Ursachen dieser Alteration sind wir nicht genügend
orientiert. Alanchmal fanden sie sich bei Individuen vor, die voll-
kommen gesund und bei denen auch nicht die Spur eines Anhalts-
punktes für Vererbung irgend einer Krankheit vorliegt; so war auch
der Bursche, dessen Zähne in Figur 96 photographiert erscheinen,
sehr gut konstituiert; in der Kindheit soll er an Rachitis gelitten
haben, doch fehlte bei ihm jedes Indicium für hereditäre
Syphilis. Indessen mag in vielen Fällen mangelhafte Ernährung
im allgemeinen auch an der fehlerhaften Entwickelung der Zahn-
keime die Schuld tragen; diese Annahme gewinnt einige Berech-
tigimg', wenn wir bedenken, dass genau die gleichen Verände-
rungen oft genug neben Skrofulöse oder anderen depravie-
renden Konstitutionsbedingungen einhergehen. Demgemäss
lässt sich also nur behaupten, dass die Lues durch Herabsetzung der
Ernährungsbedingungen auf die Entwickelung der Zahnkeime wohl
einen verschlechternden Einfluss zu nehmen vermag, dass aber andere
Dyskrasien in gleich ungünstiger Weise einwirken können".
i) J. A. Couth, „The Hunterian Lechires on infantile Syphilis" in: The Lancet
vom II., 18. und 25. April 1896 (Referat in: Archiv für Dermatologie und Syphilis,
herausgegeben von F. J. Pick, 1898, Bd. XLII, S. 307).
2) E. Lang, a. a. O., S. 695 — 696 und Fig. 96.
— 344 —
Wir werden also die von Parrot als syphilitische Erkrankung
gedeutete „atrophie sulciforme" der Unterkieferzähne eines Franken-
schädels der merowingischen Zeit aus dem Friedhof von Breny durch-
aus nicht als erstere anerkennen können. Ebenso zweifelhaft sind
seine übrigen Deutungen. An dem Occipitale dieses menschlichen
vSchädels, den mit anderen Knochen Dr. Prunieres in den Höhlen
der Lozere (Dolme von Cauquenos) gefunden hatte, konstatierte Parrot
zwei Perforationen „identiques ä Celles que produit le craniotabes
syphilitiquc", fügt aber hinzu: „Autour d'elles, la table interne est
un peu poreuse, comme il est habituel de la trouver chez les
rachitiques." An dem Rest der hinteren Hälfte dieses kindlichen
Parietale (Dolme von Boujassac) fluid er an der Aussenfläche eine
unregelmässig begrenzte krankhafte Stelle (couche pathologique) mit
sehr zahlreichen Oeffnungen und Kanälchen. Er steht nicht an,
diesen Osteophyten für syphilitisch zu erklären. Aehnlich waren die
Veränderungen an einem anderen Stücke, die er folgendermassen be-
schreibt: „Un autre fragment, plus curieux que les precedents, ä cause
de la nettete de ses caracteres, est encore celui d'un parietal d'enfant,
trouvc, comme ceux dont je viens de parier, dans un dolmen de la
Lozere. Haut de 55 millimetres et large de 44, de forme irregu-
lierement triangulaire, sa face interne est normale; sur presque toute
l'etendue de la table externe existe une couche morbide dure, poreuse,
identique aux osteoph3^tes, que Ton rencontre generalement sur les
cränes des enfants atteints de syphilis hereditaire. Dans les points
oü il es conserve, son bord est arrondi et tranche nettement sur les
parties saines. Son epaisseur varie de 2 ä 3 millimetres. Les petits
orifices qui couvrent sa surface sont assez reguherement distribues.
11 est forme de trabecules perpendiculaires ou legerement obliques
ä la surface du parietal."
Auch aus diesem Befunde ergiebt sich nicht der geringste An-
haltspunkt dafür, dass es sich um Syphilis handelt. Dieselben Ver-
änderungen können durch Rachitis und Tuberkulose hervorgebracht
werden. Dieser ganz isolierte Osteophyt besagt gar nichts, zumal da
wir leider den Zustand der übrigen Skelettteile nicht kennen.
Es ist daher sehr bemerkenswert, dass Parrot am Ende seiner
Abhandlung zugiebt, dass die prähistorische .Syphilis in Europa an-
gesichts dieser unbedeutenden Knochenbefunde einen sehr milden
Verlauf gehabt haben müsse, und dass es wahrscheinlich sei,
dass die Gefährten des Columbus ein „exotisches Gift mit
mehr toxischen Eigenschaften" eingeschleppt hätten. Wie
stimmen aber dazu die Hinweisungen der Verfechter der Altertums-
— 345 —
Syphilis auf so schwere Knochenzerstörungen wie die der Nase und
des Gaumens, die angeblich durch Syphilis hervorgerufen sein sollen?
Selbst Ruret, der sonst die Deutungen Parrot's anerkennt,
macht am Schlüsse des betreffenden xVbschnittes seines Buches dem-
selben den Vorwurf, dass er überall Syphilis wittere, wo ganz andere
Ursachen, z. ß. die Rachitis, im Spiele seien. „D'apres lui, toutes les
deformations osseuses que nous connaissons comme rachitiques, ont
pour origine la Syphilis hereditaire; et, chose plus grave, il va jus-
qu'ä ecrire que le rachitisme, chez les enfants, est uniquement du a
la Syphilis de leurs parents" ^).
Der „crane nati forme par hypertrophie des bosses parietales",
wjrde noch einmal Gegenstand der Diskussion in der Sitzung der
Pariser Anthropologischen Gesellschaft vom ig. März 1885. Parrots
Hypothese einer syphilitischen Aetiologie des Knochenbuckels wurde
nicht anerkannt. Xach Manouvrier ist die Aetiologie ganz dunkel;
Topinard schloss sich dem an, wies aber auf die Möglichkeit der
Entstehung' einer derartigen Veränderung durch Hydrocephalus hin-).
Eingehende Studien über krankhafte Veränderungen an vor-
geschichtlichen Knochen stellte J. Le Baron in seiner Pariser Dok-
tordissertation vom Jahre 1881 an^), über deren Ergebnisse er auch
der dortigen Anthropologischen Gesellschaft Mittheilung machte-*).
Le Barons Ausführungen zeichnen sich durch eine gesunde Kritik
aus, welche Buret ganz mit Unrecht auf die Aengstlichkeit des
Doktoranden und seine Furcht, bei seinen Lehrern durch Mitteilung
seiner wahren Anschauungen Anstoss zu erregten, zurückführt^). Im
Gegenteil sind die Gründe, mit welchen er Parrots Hypothesen
über die Xatur gewisser Knochenveränderungen widerlegt, durchaus
stichhaltig und schlagend.
Es ist nun sehr bemerkenswert, dass Le Baron unter 121 pa-
thologischen Knochen der Vorzeit nur einen einzigen fand, an dem
er syphilitische Veränderungen wahrzunehmen glaubte! Die übrigen
120 Knochen boten nur Hyperostosen, Exostosen, atrophische, ent-
zündliche, cariöse, arthritische Veränderungen dar, die Parrot z. T.
mit Unrecht als syphilitische gedeutet hatte. Xur an dem Fragment
i) Buret, a. a. O., S. 64.
2) Bull, de la Soc. d'Anthrop. de Paris 1885, 3t' serie, Bd. VIII, S. 223 — 226.
3) J. Le Baron, ,, Lesions osseuses de l'homme prehistorique en France et en
Algerie", These de Paris, 1881, 8", 118 Seiten.
4) „Sur les lesions osseuses prehistoriques" in der Sitzung vom 21. Juli 1881,
Bulletin etc. 1881, Bd. IV, S. 596—598. Vergl. auch Buret, S. 51 — 55.
5) Vergl. Buret, a. a. O., S. 55.
— 346 —
einer Tibia aus dem Dolmen von Lery (Eure) glaubte Le Baron Sy-
philis konstatieren zu können. Seine Beschreibung des Knochens
lautet: „Vers le milieu de la crete de ce tibia, il existe une hyper-
trophie considerable de la moitie anterieure de la diaphyse. II en
resulte que le bord anterieur presente une courbure tres marquee
ä convexite anterieure. Cette hypertrophie a la forme d'un ovoide
tres allonge et sa surface est aussi lisse que le reste de l'os. Elle
s'ctend sur une hauteur de 85 millimetres. En cet endroit, le tibia
est de 24 millimetres. Une section longitudinale, pratiquee sur une
tumeur, montre qu'elle est entierement formee de tissu compact.
Le canal medullaire a conserve ses dimensions normales.
Faut-il attribuer cette hypertrophie ä un ulcere variqueux ou
autre? Je ne le crois pas, ä cause de la surface polie de la tumeur.
J'aime mieux y voir une alteration syphilitique de l'os. C'est
d'ailleurs un des points oü la syphilis porte de preference ses ravages."
Diese, übrigens sehr schüchtern vorgebrachte Annahme von
dem syphilitischen Charakter der Hyperostose der Tibia von Lery ist
durchaus zweifelhaft. Die „glatte Obertläche" der Hyperostose genügt
wahrlich nicht, um andere Ursachen als Syphilis auszuschliessen, da
auch rein traumatische Hyperostosen dasselbe zeigen und postmortale
Einflüsse eine solche Glättung hervorbringen können. Es handelt
sich eben um weiter nichts als eine einfache Hyperostose, deren
Aetiologie die allerverschiedenartigste sein kann ^).
Nur beiläufig sei eines Schädels der Merowingerzeit von dem
Kirchhofe von Breny (Aisne) gedacht, den de Mortillet in der
Sitzung der Pariser Antropologischen Gesellschaft vom 18. November
1880 demonstrierte-), an dessen Zähnen sich die bereits oben er-
wähnten horizontalen Furchen fanden, die nach Parrot für Syphilis
charakteristisch sein sollen, in Wirklichkeit aber es durchaus nicht
sind, worüber die obigen Ausführungen zu vergleichen sind.
Ich vermute, dass A. F. Le Double in seiner Schrift „La
medecine et la Chirurgie dans les temps prehistoriques" (Tours 1889,
8^, 24 S.) auch über angebliche syphilitische Veränderungen an prä-
historischen Knochen sich äusserte, konnte aber leider dieser Abhand-
lung nicht habhaft werden.
Nach längerem Intervall ist die Frage der Syphilis prähisto-
rischer Knochen wieder aktuell geworden durch die Funde von
1) Charakteristisch ist die Erklärung Le Baron 's, dass die Syphilis, „relative-
ment rare dans les temps anciens", erst mit dem 15. Jahrhundert eine so grosse Ver-
breitung erlangte.
2) Buret, a. a. O., S. 55 — 56.
— 347 —
Fouquet und Zambaco. Wieder waren es zwei französische
Forscher, welche die prähistorische Syphihs mit Hilfe der Knochen
erweisen zu können glaubten.
Zuerst hat Dr. Fouquet, Arzt in Kairo, seine darauf sich be-
ziehenden Beobachtungen veröffentlicht '). Er wollte an mehreren
Schädeln der altägyptischen Xekropolen von Negadah, Karwamil, El-
Amrah u. a. krankhafte Veränderungen entdeckt haben, welche auf
die Existenz der S3^philis und Tuberkulose zu jener, 8000 Jahre zu-
rückliegenden Epoche hinwiesen. Ueber Fouquet's Funde und Deu-
tungen hat dann der bekannte Dermatologe Zambaco am 3- Juli igoo
in der Pariser „Academie de Medecine" einen Vortrag mit Demon-
stration von Photographien der betreffenden Knochen gehalten -), in
welchem er die Deutung'cn des Dr. Fouquet acceptiert.
Die von Zambaco an einem vSkelette aus der Nekropole von
Karwamil festgestellten krankhaften \'eränderungen werden von ihm
folgendcrmassen geschildert :
„Le ciiine presente, sur ie c6te gauche <Ui front, einpie tant sur la siUiire intcr-
ftoiitale pcrsistantc, et la depassaiU quelque pcu ä droitc, une siuface inöqalc rugueiise, en
ecumoire, dcgarnie de la couche siiperficielle de l'os, vennoulue. Cette lesion est plus
sii]>erficiellc que celle du cntne prccedont. Elle n'atteint pas la table vitree. Les bords qui
ciiconscrivent ce placard sont arrondis. Ils lemoignent d'un travail reparateur, ce qui eloigne
lout soupcou de degäts artificieis occasionncs par le fouilleur. II s'agit donc, encore, d'une
osteite suppuree, destruclive.
Les deux feniurs sont re]ii"esentes par leurs faces anterieures et posterieures. Ils sont
absoiumcnt normaux ii leurs diaphyses et atteints ä leurs extremites. Ainsi, le femur gauche
[iresente im cnl gonfle, niameloiine: son exliemiie infericure est aussi trcs volumineuse,
liy|>erlrophique, cnuvertc de bossehires exostosiques dont plusieurs sont deteriorees. Au-
dcssus de celte extreniite, si deformec, se voit une epine osseuse saillante de 25 miilimelrcs
i-nviron, que nous croyons physiologique. On rencontre, cn effel, sur plusieurs os anüques
egyptiens, de cos saillies, et surtout des crelcs tres accentuees qui ont dii donner allache ä
de puissanls muscles.
II s'agit donc d'une osteite localisee dans la region diaphyso-epiphysaire, laissant in-
lacte la diaphyse. Cette lesion est caracterisee par l'epaississcinent des diaphyses presentant,
par endroits, des bosselures, des deprcssions de surface rarefiee, a cöte de portions exube-
rantes. Les extremites articuiaires conservcnl leur forme et leurs caracteres normaux. Les
libias et les perones de cc nit-mc squelette sont, egalement, normaux ä leurs diaphyses;
1) In der Schrift von Morgan, ,,Recherches sur les origines de l'Egypte. Ethno-
graphie prehistorique et tombeaii roj'al de Negadah", Paris 1896, S. 377 — 379- Abdruck
der betreifenden Stelle in: Jean Capart, ,, Notes sur les origines de l'Egypte d'apres les
fouilles recentes", Brüssel 189S, S. 24.
2) Zambaco, a. a. O., S. 58 — 65. Vergl. auch P. Schober in: Die Heilkunde
1900, S. 784.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. '^o
- 348 -
mais leurs extremites superieures et inferieures sont, comme celle des femurs, deformees,
gonflees, hypertrophiques. De plus, elles sont sondties en haut et en bas, conime on peut
le voir, tres nettement, sur les photographies. L'extiemite supericure du perone droit est
unie ä ia tete du tibia correspondant, demcsurernent gonflee et tres bosselee, par un pont
osseux volumineux, faisant tumeur saillante, posterieurement surtout comme une forte amande
verte. La couche superficielle couvrant ce tison, de nouvelle formation, est detruite, et
laisse voir une substance spongieuse qui s'emiette facilement.
Les extremites inferieures de ces niemes Os, volumineuses, gonflces, hj-pertrophiees,
sont completement soudees ensemble et se confondent. Un coup d'oeil jete sur les photo-
graphies feia bien mieux saisir cette disposition que les descriptions les plus detaillees.
Les os de la jambe gauche se sont detaches par ies manipulations. Mais on peut
voir, sur les jihotographies, que cette Separation lineaire a ete accidentelle, et que leur sou-
dure (itait complete avant la violence extericure qui l'a detruite.
Les dcux humerus de ce meme squelctte sont symmetriqucment atteints ; ils sout
hypertroph iques, irregulierement tumefies, deformes ä leur tiers superieur, bosseles au voi-
sinage des tetes des os, dont les surfaces articulaires restent normales, ainsi que les dia-
physes et les extremites inferieures.
Le cubitus gauche de ce sujet presentc, ä son tiers inferieur, plusieurs petites exosl-
oses, plus dures, plus resistantes que Celles des femurs, dejä menfionnees. Son extremite
caipienne est, aussi, gonflee, mamelonnee. Tous les autres os du squelette sont absolument
normaux" ').
Wie Zambaco diesen geradezu klassischen Fall von Arthritis
deform ans für S3^philis erklären kann, ist unbegreiflich. Das charak-
teristische Befallensein der Gelenkenden der Extremitätenknochen
mit Freibleiben der Diaph3^sen spricht mit absoluter Sicherheit gegen
die S3'philitische Natur der krankhaften Veränderungen dieses Ske-
lettes. Daher hat bereits M. Gangolphe, einer der anerkanntesten
Forscher auf dem Gebiete der s\^philitischen Knochenkrankheiten -),
sich auf den ersten Blick geg^en die Annahme syphilitischer Ver-
änderungen an diesem altägyptischen Skelett ausgesprochen ^).
Dann hat der bekannte Brüsseler Dermatologe Dr. Bayet auf die
Bitte seines Freundes, des Aegyptologen C apart, die Befunde
Zambaco's einer Nachprüfung unterzogen und ist ebenfalls zu dem
Ergebnis gekommen , dass es sich hier keineswegs um S^'philis
handeln könne.
Er sagt: ,,Si c'etait de la Syphilis, ce ne pourrait etre qu'une
Syphilis tertiaire. Or, celle-ci n'a jamais la Symmetrie observee sur
les ossements dont nous nous occupons; il ne saurait non plus etre
i) Zambaco, a. a. O., S. 59 — 61.
2) Vergl. saine Schrift ,,Contribution ä l'etude des localisations osseuses de la Syphilis
tertiaire." Paris 1885.
3) J. Capart, a. a. O.. S. 24 Anmerkung.
— 349 —
question d'osteomyelite gommcnse; enfin, clernier argument, les
Sieges de predilection de la syphilis osseuse tertiaire sont epargnes.
En eifet, ni la diaphyse des os longs, ni la crete anterieure du tibia,
ni les cotes, ni le sternum , ni la clavicule, ne presentent de lesions
hyperostosiqucs. Contrairement a l'opinion de Zambaco et con-
formement ä celle de Gangolphe, je me prononce contre l'hypo-
these de lesions syphilitiques" ^).
Was die Affektion des Schädels betrifft, so erklärt Bavet,
dass sie den von Virchow am Schädel von Portorico beschriebenen
postmortalen Veränderungen auffallend gleichen. Zambaco hatte
offenbar auch zuerst an die Möglichkeit postmortaler Einwirkung'en
gedacht, da er sie ausdrücklich zurückweist. Nach ßayet kommen
hier nur postmortale Veränderung"en, wahrscheinlich durch die Thätig'-
keit gewisser Tiere, in Betracht -).
An zwei anderen Schädeln fand Zambaco noch cariöse Stellen,
eine am rechten Parietale, die andere am vStirnbein, die er für solche
syphilitischer Natur erklärte. Bayet, der in seinen Bemerkungen bei
Capart noch die Möglichkeit, dass es sich bei der Affektion des
Stirnbeins um Syphilis handeln könne, zulässt, hat neuerdings mir
g'egenüber brieflich seine Ueberzeugung ausgesprochen, dass in keinem
der von Zambaco angeführten Befunde Syphilis mit Sicherheit anzu-
nehmen sei. Jedenfalls ist es sehr charakteristisch, dass auch die
Extremitätenknochen anderer Skelette nur am epiphysären Teile Yer-
ändervmgen darboten, während durchweg die Diaphysen frei
w a r e u .
In der betreffenden Sitzung der „Academie de Medecine" erhob
denn auch alsbald Eournier seine g'ewichtige Stimme gegen die
Deutungen Zambaco's. Seine Erklärung ist sehr geeignet, den
Enthusiasmus in der Diagnostik syphilitischer Veränderungen an prä-
historischen Knochen zu dämpfen und kann in dieser Hinsicht nicht
genug beherzigt werden.
„Je viens d'admirer comme vous tous, Messieurs", sagt er, ,,les tres
belles photographies que nous presente notre savant collegue. M.
Zambaco. Mais, apres avoir reconnu comme vous l'interet qu'elles
comportent, je ne puis partager l'opinion de M. Zambaco sur la signi-
fication qu'il accorde ä certaines d'entre elles comme demonstratives de
la qualite syphilitique des lesions qu'elles representent.
ij Bayet bei Capart, S. 24.
2) Bayet, a. a. O., S. 25.
23^
— 350 —
Aucune de ces photographies , mc semble-t-il (tout au moins a
nn premier examen) ne reproduit im 13^30 bien authentique, irrecu-
sable, de lesions sürement imputables a la Syphilis.
On sait d'ailleurs combien est difticile d'une fagon generale le
diagnostic de la S3''philis osseuse, alors surtout qu'on ne dispose pour
l'instituer que de pieces seches, et plus encore d'os anciens tres
anciens, recueillis dans les cimetieres, les tumuli, etc. II convient
donc d'apporter dans un tel diagnostic les plus expresses reservcs" ').
Fournier machte dann den Vorschlag, die Frage einer wissen-
schaftlichen Kommission zu unterbreiten, worauf die Academie de
medecine die Herren Fournier, Perrier, Filhol, Cornil und
Lannelongue damit beauftragte, die angeblichen syphilitischen
Knochen aus präcolumbischcr Zeit g'enauer zu untersuchen. Bis-
her ist das Erg'ebnis dieser Untersuchungen noch nicht bekannt ge-
worden.
Es ist aber sehr bemerkenswert, dass Eve an alten ägyptischen
Knochen ähnliche, an den Gelenkenden lokalisierte Prozesse mit Ex-
und Hyperostosen fand, wie sie an den von Zambaco untersuchten
Skeletten anzutreffen waren. Auch Eve spricht sich für die arthritische
und gegen die syphilitische Natur dieser krankhaften Verände-
runo-en aus'-').
i) P'ournier boi Zambaco a. a. O., S. 65. — Achnlich urteilt Herr Dr. Bayet
in einem Briefe an den Verfasser vom 12. Oictober 1901: ,,Sur les pieces fraiclies, le dia-
gnostic anatomique est souvent tres difficile. Qne dire, des lors, de pieces remontant ä
une antiqiiitc aiissi rcculee, iine antitjuiLe dont la patliolo^ie nous est presqiie entierement
inconnue, qui, pciu-elre, a connu des maiadics aujourd'hui disparucs et dont l'action jiou-
vait, conune la tubcrculose et la syphilis ä nolre epnjnic, amencr des lesions des os."
2) ,,The cliicf point for consideration in regard to tbese specimeiis is thc cause of
the Periostitis. The co - existence of osteo - artbritis of the articular ends with Perio-
stitis suggests at once that the two processes have a cansal relationship; a process of e.\-
clusion favoiirs tliis view.
The formation of new bone in ils Situation and distribution diffcrs from that occur-
ring in syphilis. It is situated chiefly along the outcr surfacc of the tibia and around the
articular ends, the crest and inner surface where syphilitic nodes are observed being free.
Again, it takcs the form of a gcnrral ,,frosting", and no circumscribed patches or nodes
exist. Nor is there any evldence of the other causes of periostitis as injury, chronic Ostitis
and ulcers of the integuments , . . Apart from their interest in confirming the antiqiiily of
osteo-arthritis these boncs appear to me of great palhological importance as furnishing strong
grounds for believing that an osteo-plastic periostitis may occur as a manifestation of the
same morbid condition producing the typicai articular changcs of osteo-arthritis." Frederic
S. Eve, ,,Bones of ancient Egyptians showing periostitis associated wilh osteo-arthrilis and
symmetrical atrophy of the skull" in: Transactions of the Pathological Society of London
1890, Bd. XLT, S, 243 — 244.
— 3.51 --
Nach alledem bleibt das Urteil Virchow's zu Recht bestehen,
dass bisher kein einziger unzweifelhaft syphilitischer Knochen aus der
Zeit vor der Entdeckung- Amerikas in dem Bereiche der alten Welt
gefunden worden ist. „Und doch", sagt ebenderselbe Virchow,
„sehen wir häufig Knochen von wilden Stämmen aus den verschie-
densten Teilen der Welt, welche unzweifelhaft Zeugnis dafür ablegen,
dass nach dem Kontakt mit den Europäern Syphilis unter
ihnen verbreitet worden ist. Ich erinnere nur an Knochen von den
Philippinen, von Neu-Caledonien, von Australien" M.
Eragen wir nun, wann der erste Kontakt mit den oben er-
wähnten Völkern geschah, so ergiebt sich die überraschende That-
sache, dass dies erst nach der Entdeckung Amerikas und vor
allem erst nach dem Ausbruche der g-rossen S3'philisepi-
demic am Ende des 15. Jahrhunderts der Eall war. Für
die Bewohner der Philippinen hat dies Virchow in einer bekannten
Abhandlung nachgewiesen '-).
Es ist mir nicht g^elungen, in England einen einzigen syphili-
tischen Knochen aus präcolumbischer und prähistorischer Zeit aufzu-
treiben. Dies hatte schon die oben erwähnte Diskussion in der Lon-
doner Anthropologischen Gesellschaft ergeben. ]\Ieine Nachforschungen
haben das bestätigt. Herr Dr. Charles H. Reade, Vorsteher der
Ethnologischen Abteilung des British Museum, hatte die Güte, mich
auf die zahlreichen Skelette der Römer-, Sachsen- und mittelalter-
lichen Zeit hinzuweisen, welche bei den Ausgrabungen nahe Steaford
und Boston in Lincolnshire gefunden wurden und jetzt im Ro^'al
College of Surg'eons aufbewahrt werden. jMan hätte annehmen sollen,
dass unter einer so grossen Zahl von Schädeln und Skelettrestcn aus
so verschiedenen Epochen wenigstens einige mit S3'philitischen Ver-
änderungen sich befinden müssten, falls die Syphilis zu jenen Zeiten
existiert hätte. Besonders sollte man dies von den mittelalterlichen
Schädeln erwarten, welche dem Friedhofe eines Mönchsklosters ent-
stammen, im Hinblick auf die weiter unten noch eingehender zu er-
wähnende kolossale Unzucht der inittelalterlichen Mönche. Allein
nicht ein einziger Knochen mit derartigen Vcnlnderungen ist hier
anzutreffen, ebensowenig' findet man einen solchen unter den übrigen
i) R. Virchow in: Verhandlungen der Berliner Anthropologischeil Gesellschaft
r895, S. 306.
2) R. Virchow, „Ueber die Schädel der cältcren Bevölkeiiing der Philippinen, ins-
besondere über künstlich verunstaltete Schädel derselben" in: Zeitschrift für Ethnologie 1870,
Bd. II, S. 151 — 158.
präcolumbischen Knochen des Hunterian Museum (aus Aegypten u. s. w.).
Das Gleiche gilt \'om South Kensington Museum und nach freund-
licher Mitteilung des Herrn Professor A. Macalister auch von den
Sammlungen des Naturhistorischen Museums in Cambridge. Letzterer
hat alle prähistorischen und präcolumbischen Knochen des Museums,
wie er mir in einem Briefe vom 5. August 1901 mitteilt, auf etwaige
S3^philitische Veränderungen hin untersucht, ohne solche zu finden.
Auch einige altägyptische Knochen der Sammlung, welche von
anderer Seite für syphilitisch erklärt worden waren, erwiesen sich bei
näherer Untersuchung als nicht syphilitisch. Ebenso hat der Cam-
bridger Chirurg Dr. Griffiths die ganze Sammlung untersucht und
keine Spur einer syphilitischen Affektion an einem prähistorischen
Knochen gefunden (Mitteilung von Professor Macalister).
Somit dürfte Virchow's in den letzten Jahren mehrmals wieder-
holte I3ehauptung, dass im Bereiche der alten Welt bisher kein ein-
ziger SN'philitischer Knochen aus der Zeit vorder Entdeckung Amerikas
gefunden worden sei, zu Recht bestehen. Wir dürfen es im Hin-
blick auf die Thatsache der absolut negativen Befunde in Deutsch-
land und England als sicher hinstellen, dass es solche Knochen über-
haupt nicht giebt, womit der unumstösslichste Beweis für die Nicht-
existenz der Syphilis in Europa vor dem Zeitalter der Entdeckungen
geliefert ist.
Wenn aber, wie ich im ersten Teile nachgewiesen habe, die
S3'philis als ein Urleiden der Neuen Welt, speciell von Centralamerika
betrachtet werden muss, so müsste man auch dort syphilitische Knochen
finden.
Aber auch hier verbinden sich mit den ausserordentlichen Schwie-
rigkeiten der Diagnose noch andere Fehlerquellen, die uns bisher die
sichere Feststellung von syphilitischen Knochen der präcolumbischen
Zeit erschwert haben. Immerhin ist bemerkenswert, dass Virchow,
einer der entschiedensten Verfechter des neuzeitlichen Ursprungs der
Syphilis, die Berichte über P\mde syphilitischer Knochen in Amerika
nicht mit demjenigen Misstrauen betrachtet, wie diejenigen in der
Alten Welt.
Welches sind nun die hauptsächlichen Umstände, welche der
näheren Feststellung der präcolumbischen Syphilis der Knochen in
Amerika vSchwierigkeiten bereiten ?
I. Gewisse Gebiete, die gerade besonders in dieser Hinsicht in
Betracht kommen, weisen aus klimatischen und anderen Gründen
kaum irgend welche Skelettreste auf. So erklärt Herr Professor
Franz Boas, der berühmte amerikanische Ethnologe, den ich am
i8. Juli igoi persönlich darüber befragte, dass in dem Gebiet von
Mexiko nur sehr spärliche menschliche Skelettreste gefunden seien,
mit Ausnahme des ausserhalb -der Kulturcentren gelegenen Nord-
westens. In den zahlreichen Gräbern der Provinz Chirique in Columbia
fehlten ,.fast ausnahmlos menschliche Ueberreste" ^). Das hängt nicht
bloss mit dem weit verbreiteten Brauche des V erbrenne ns der
Leichen zusammen, sondern erklärt sich auch aus klimatischen Gründen
(grosse Feuchtigkeit), wie in Mexiko.
2. Ist es nach den Berichten von Diaz de Isla, Oviedo, Las
Casas u. A. sicher, dass wenigstens in einigen Gebieten (Antillen)
die Syphilis einen sehr milden Verlauf nahm, so dass Knochen-
krankheiten sehr selten waren.
Unna"-) und Scheube^), die neuerdings energisch für den neu-
zeitlichen, amerikanischen Ursprung der Syphilis eingetreten sind, be-
tonen besonders diesen milden \"erlauf der Syphilis. Freilich muss man
nach den mexikanischen Schilderungen annehmen, dass auch schwere
Fälle von Syphilis, wenigstens in Alexiko, vorkamen.
3. Ist es fast immer sehr schwierig, die präcolumbische Natur der
Gräber und Alounds in Nord-, jMittel- und Südamerika mit Sicherheit
festzustellen, wie auch Autoritäten, wie Professor Franz Boas und
Professor E. Sei er wiederholt, versichert haben. Dieselben Bestat-
tungsarten und Grabformen erhielten sich noch Jahrhunderte nach
der Entdeckung Amerikas, und so ist es fast immer unmöglich, mit
Bestimmtheit ein Urteil darüber abzugeben, ob ein solches Grab prä-
columbisch ist oder nicht. Virchow bemerkt: „Die Frage, ob dieses
oder jenes Grab, das man eröffnet, schon vor Columbus existiert
habe oder ob es vielleicht erst vor 200 oder g'ar erst vor 100 Jahren
1) W. H. Holmes, ,,Ancient Art of thc Province of Chirique", Washington 1888.
Referat in der Zeitschrift ,,Am Urquell" 1890, Ed. I, S. 93.
2) In der Besprechung von Teil I des vorliegenden Werkes in : Monatshefte für
praktische Dermatologie 1902, Bd. XXXIV, S. 27.
3) B. Scheube, ,,Ueber den Urspnmg der Syphilis" in: Janus, Archives inter-
nationales pour l'Histoire de la Medecine 1902, Bd. VII, S. 39.
— 354 —
errichtet worden ist. lässt sich ausserordenthch schwer beantworten
und kann immer wieder bestritten werden" ').
4. Kommen auch hier alle jene Punkte in Betracht, welche die
Diagnostik s}-philitisclicr Affektionen an Jahrhunderte alten Knochen
überhaupt erschweren und die wir oben näher gewürdigt haben.
Wir dürfen uns daher nicht wundern, dass über die amerika-
nischen P'unde ebenfalls im allgemeinen ein „Noii liquet" ausge-
sprochen werden muss, woraus aber nun jene Verfechter der Lehre
von der Altertumss}-philis nicht etwa den Schluss ziehen mögen, dass
es also auch mit dem neuzeitlichen, d. h. amerikanischen Ursprünge
der Syphilis nichts sei. Nicht wir waren es, die zuerst aus den
Gräbern die Beweise für die prähistorische Syphilis hervorholen wollten,
sondern jene. Männer wie Unna und Scheu be, der geniale Der-
matologe und der ausgezeichnete Kenner der Tropenpathologie, wie
Fournier, der erfahrene S3'phihdologe, Lieber meister, der scharf
beobachtende Kliniker, Binz, der ingeniöse Pharmakologe und auf
dem Gebiete der Renaissance erfahrene medizinische Geschichtsforscher
haben richtig erkaimt und deutlich ausgesprochen, dass die wahren,
unumstösslichen Beweise für den neuzeitlichen Ursprung der vS3^philis
auf nosologisch-epidemiologischem Gebiete liegen, wozu die plötzliche
LTmwandlung der gesamten medizinischen Litteratur am Ende des
15. Jahrhunderts die ausführlichste Erläuterung liefert.
Kehren wir zu den Gräbern zurück. Parrot war der Erste,
welcher an peruanischen Schädeln im IMusee Broca .Syphilis zu kon-
statieren glaubte. Zunächst untersuchte er vier Kinderschädel aus
Arica in Peru, angeblich ,,d'une anciennete non douteuse", was aber
gerade bei peruanischen Gräbern eine sehr unbestimmte Bedeutung
hat, indem man nur ganz ausnahmsweise entscheiden kann, ob diese
prä- oder postcolumbisch sind. Parrot fand an den Kindcrschädeln
weiter nichts als Osteophyten an den Orbitalrändern und an einem
die bekannte Veränderung des ,,cräne natiforme", ferner zeigte die
Innenseite der Parietalia ,,une couchc mince d'un tissu morbide tres
poreux et plein de sillons vasculaires". Aus diesen Befunden folgerte
er, dass „die Syphilis in Peru vor der Entdeckung Amerikas durch
die Spanier existierte" und „dass diese Krankheit dort häufig war,
da die meisten dorther stammenden Kinderschädel Spuren davon auf-
weisen" -).
i) R. Viichow, „lieiliag u. s. w.", n. a. O., S. 3.
2) Buret, a. a. O., S. 46.
.10 >1
Tn einem Briefe an den Amerikanisten Wiener vom 7. Dezember
1878 berichtet der Anthropologe de Quatrefages, Ijekannth'ch ein
Verteidiger des neuzeithchen, amerikanischen Ursprungs der SyphiHs
über 316 peruanische Schädel und schreibt u. a.: „T.cs cränes ont ete
pris dans vingt-trois localites differentes; 239 ont appartenu ä des in-
dividus sains, 14 ä des individus atteints de diverses affections. Ces
derniers ont, ä divers points de vue, un interet tout particulier.
L'etude de quelques- uns d'entre eux a permis de constater definiti-
vement l'existence de la syphilis au Perou avant la venue des
Europees" ^).
Worauf sich dieser „definitive Nachweis" der Syphilis an prä-
columbischen Menschenknochen Perus gründet, wissen wir nicht genau,
da die oben erwähnten Schiklerungen Parrot's durchaus nicht etwas
für Syphilis Charakteristisches darbieten. Vielleicht bezieht sich die
Bemerkung^ Quatrefag^e's auf zwei andere von Parrot beschriebene
und als syphilitisch gedeutete Schädel des Musee Broca. Der eine
aus Arica in Peru stammende Schädel eines Ewachsenen wies eine
längs der Sagittalnaht sich erstreckende poröse Stelle der beiden
Parietalia auf, die mit zahlreichen und tiefen vaskularisierten Furchen
verschen war (couche poreuse av'ec des sillons vasculaires nombreux
et profonds). Das Stirnbein zeigte in der Nähe des Bregma eine
ähnliche \^erändcrung. Ferner war eine vSynostose der rechten Fronto-
Parietalnaht vorhanden.
Es ist klar, dass diese Veränderungen nichts für Syphilis Cha-
rakteristisches darstellen. Es fehlen alle Symptome eines destruk-
ti\-cn Prozesses und der mit ihm fast immer verbundenen hyper-
plastischen Vorgänge. Caries sicca, Ex- und Hyperostosen sowie die
Osteosklerose der Umgebung der cariösen Stelle fehlen gänzlich. Die
blosse „Porosität" und „Vaskularisation" oder g^ar die S3mostose liefern
nicht den geringsten Beweis für die syphilitische Natur des sie be-
ding'enden Krankheitsprozesses.
An einem zweiten peruanischen Schädel konstatierte Parrot
zwei Knochenbuckel am Frontale und Exostosen der Scheitelbeine,
die porös und von Furchen durchzogen waren. Ausserdem war eine
deutliche Osteosklerose des Knochens im Bereiche der affizierten
Stellen wahrzunehmen, die an einzelnen Stellen sich durch eine drei-
fache Dicke des Knochens aussprach. Es muss zugegeben werden,
dass diese Befunde mit grösserer Wahrscheinlichkeit fiir die Diagnose
der Syphilis zu verwerten sind als die anderen. Da aber über die
I) Charles Wiener, „Perou et Bolivie", Paris 1880, S. 646.
- 356 -
Zeit der Schädel absolut wSicheres nicht feststeht, miiss auch hier die
„präcolumbische" Syphilis in dubio gelassen werden.
Am 5. Juli 1877 sprach Thulie in der Pariser Anthropolo-
gischen Gesellschaft über die syphilitischen Affektionen des vSchädels
und legte dabei einen Indianerschädel aus Pernambuco (aus nach-
columbischer Zeit) vor. Bei dieser Gelegenheit betonten Parrot und
Broca nochmals ihre Ueberzeugung von der präcolumbischen Existenz
der Syphilis in Peru ^).
Im Jahre 1880 demonstrierte Moreno der Pariser Anthropo-
logischen Gesellschaft prähistorische Schädel aus Patagonien, die nach
Moreno der glacialen Epoche angehörten, also sicher präcolumbisch
waren. Der Bericht verzeichnet dann die folgenden Aeusserungen
über den einen dieser Schädel:
„M. Bordier fait remarquer la lesion evidemment syphilitique
de Tun des cränes rapportes par M. Moreno . . .
M. Berti Hon fait observer que ce second cräne presente les
traces profondes d'une osteite de tres longue duree „et ajoute-t-il, je
ne vois que la Syphilis qui ait pu la causer."
M. Broca partage cet avis. „L'osteite, dit-il, ne parait ni tuber-
culeuse ni traumatique; la syphilis tertiaire peut seule l'avoir produite.
Cette piece est encore plus demonstrative que les cränes d'enfants
rapportes du Perou et sur lesquels se constataient des lesions attri-
buees ä la meme cause" -).
Leider fehlt eine genauere Beschreibung dieser syphiHtischen
Ostitis, so dass auch in diesem Falle die Zweifel nicht beseitigt
werden.
In einem Aufsatze über „autochthone Syphilis in Bolivia und
Peru" erwähnt A. S. Ashmead uralte ausgegrabene Schädel der
Aymaras in Peru mit narbigen Vertiefungen und Usuren , die auf
Syphilis hindeuten^).
Die eigentliche Diskussion über die präcolumbische
Syphilis an Knochen von Urbewohnern Amerikas knüpft
an die in der That sehr bemerkenswerten Funde von Joseph
Jones in den Mounds und Gräbern von Tennessee an. Sie
sind in der That von allen bisher besprochenen Knochenfunden die
einzigen, die am meisten auf Syphilis hindeuten.
1) Thulie, ,,Sur la deformation syphilitique du cräne" in: Bulletin de la Societe
d'Anthrop. de Paris, 2e serie, Paris 1877, T. XII, p. 459 — 460.
2) Buret, a. a. O., S. 50 — 51.
3) Referat in Monatshefte für praktische Dermatologie 1895, Bd. XXI, S. 650.
Der Bericht von Dr. Joseph Jones erschien im Jahre 1876 i).
Es seien aus demselben die die Funde syphihtischer Knochen be-
treffenden Stellen wörtlich angeführt.
Bezüglich einiger Knochen aus den Mounds am Cumbcrland
River bemerkt Jones:
„Several of the skeletons in tliesc mounds bore unmistakable marks of the lavages
of Syphilis. In one skeleton, which appearcd lo manifest in the greatest degree the ravages
of ihis fearful disease, the bones of the cranium, the long bones of the arm (the humerus,
iilna, and radius), and the long bones of the thigh and leg (the femur, tibia and fibula) bore
deep erosions, nodcs, and marks of severe inflammatory action. Many of the
long bones were greatly thickened, presenting a nodulated, eroded and cnlarged appcarance.
When sections were made, they presented a spongy appearance, with an almost complete
obliteration of the mcdullary cavities. The specific gravity of the bones was diminished,
and the microscopical characters were in all respects similar to those of undoubled cases of
constitutional Syphilis, which I have observed in my hospital and civil medical practice.
Every competent medical observer to whom these bones have lieen sub-
mittcd, has concurred in the vicw that Syphilis is the only disease which
Cüuld have produccd such profound and universal structural alterations.
. . . The grave by the side of the one last mentioned was about six feet in length,
and contained the skeleton of an adult male, the bones of which were extensively diseased
as if by Syphilis. The long bones of the arms, ihighs and legs were disfigured by n o d e s
and erosions. . . .
Towards the northern boundary of the mound, in a stone grave immediately at the
foot of the two principal graves, and at right angles with them, a skeleton was found with
the head towards the setting sun, The long bones are strongly niarked by syphilitic
nodes. The skull is in good State of preservation. This cranium had several Indu-
ration s and nodes on the bones, as if they had been acted on during life by the
syphilitic virus. The external table of the frontal bone appears to have been especially af-
fected. The superciliary ridge is very rough and nodulated, and the nasal bones are
thickened, roughened and rounded. The occipital bone shows the effccts of pressure,
M-hich is much more marked in the right parietal protuberance, it being much fuller and
thrown further back than the lelt. The upper extremities of the occipital bone are separated
by a transverse suture about one inch in length.
I have shown by careful observalions that bones taken from stone coffins and burial
mounds at Nashville, Franklin, Old Town in Tennessee, and at Hickman in Kentucky
bcar unmistakable marks of the ravages of Syphilis . . . The bones are in many instances
thoroughly diseased, enlarged and thickened, with the medullary cavity completely obliterated
by die effects of inflammatory action and with the surface eroded in many places. These
erosions resemble, in all respects, those caused by syphilis, and attended with ulceration of
the skin and soft parts during life . . . The bones of the cranium, the fibula, the ulna,
the radius , the clavicle, the sternum, and the bones of the face exhibited immistakable
traces of periostitis, osiitis, endostitis, caries, necrosis and exostosis.
The medullary membrane was evidenlly involved in many cases to an equal degree witli the
i) J. Jones, „Explorations of the Aboriginal remains of Tennessee" in: Smiht-
äonian Contributions to Knowledge, Washington 1876, S. 49, 61, 65^ — 73, 85.
— >-)0O —
periosteuni ; the differcnce in ihe appearance of thc inoducls of tbe syphilic tlisease being
due most probably to the great quantity of fat and other loosc tissues, among which the
vessels of the medullary mcmbrane run. Wlien thin scctions df these bones were caiefully
examined with the naked eye, and by the aid of niagnifying glasses, portions were found
rcsembling cancellous tissue fiom the enlargement and irregulär erosions of the Haversian
canals, and increase in the number and size of the iacunae ; whiist other portions prcsentcd
tlie hardened condition known as sclerosis. I observed in these bones, and espc-
cially in those of the cranium, the various forms of osseous ulcera-
t i o n s which h a v e li e e n d e s c r i b e d b y p a t h o 1 o g i s t s a s c h a r a c t e r i s t i c o f
the action of Syphilis, viz., rounded ulcerations with glazed surfaces,
and with m a r k e d h a r d e n i n g o r e b u r n i f i c a t i o n o f the b o n e b e n e a t h ;
tuberculated ulcerations, dependent not only on periosteal deposit but upon chronic inflain-
niation of the compact tissue itself; reticulated ulcerations, in which a network of periosteal
deposit bad been fornied, and which had been perforated by ulcers, subsequcntly forming
and assuming the annular type. . . .
The bones of another cranium, froni a slone grave on the banks of the river pre-
sented nodular swellings, and the long bones of the skeleton to which it belonged
gave unmistakable evidences of the ravages of Syphilis in the numerous nodcs, and in the
almost complete obl Iteration of the medullary cavity in the tibia."
Auf Grund dieser Befunde, die allerdings, wie jeder l.eser zu-
geben wird, sehr starken Verdacht auf die syphilitische Natur der
konstatierten Veränderungen erwecken, kommt Jon eszu dem Schlüsse,
dass die „diseased bones which I coUected from the stone graves of
Tennessee are probably the most ancient syphilitic bones in the
World". Dies sei von grösster Bedeutung für die Geschichte der
Syphilis und für den Nachweis ihrer Herkunft aus der westlichen
Hemisphäre.
Da Jones besonders von den krankhaften Veränderungen am
letztgenannten Schädel ausdrücklich hervorhebt, dass alle für die sy-
philitische Caries charakteristischen Befunde, insbesondere die Ebur-
nation des umgebenden Knochens vorhanden waren, auch die an
einem anderen Schädel beschriebene Verdickung der Nasenbeine für
Syphilis spricht, während allerdings die übrigen Befunde auch bei
anderen Krankheiten vorkommen könnten (Periostitis, Ostitis, Caries,
Nekrose, Exostose), so verdienen seine Mitteilungen allerdings die
grösste Beachtung.
Wie schw^ierig es aber trotz alledem ist, zu einem absolut sicheren
Urteile über die Erdige: Knochcns3'philis oder nicht? zu kommen,
und wie berechtigt daher der oben begründete Skepticismus in dieser
Beziehung ist, das geht mit aller Deutlichkeit aus dem Umstände
hervor, dass selbst diese scheinbar so undeutlichen Befunde von Jones
die verschiedenartigste Beurteilung von Seiten angesehener Patho-
logen gefunden haben.
— 359 —
Virchow, der die betreffenden Knochen nur nach der Be-
schreibung- kennt, äussert sich folgendermassen darüber:
„Während man früher sehr achtlos an den alten Knochen vorüber-
ging-, ist seit ung-efähr lo Jahren auch in Amerika das Interesse an
den prähistorischen Knochen allmählich gewachsen, und es sind immer
mehr Beispiele angeführt worden, dass man auch Knochen mit syphili-
tischen Veränderungen gefunden habe. Es ist das um so merk-
würdiger, als bei uns in der alten Welt meines Wissens aus alten
Gräbern keine derartig'en Knochen notiert worden sind; so ist meiner
Erinnerung nach nicht berichtet worden, dass z. B. dieser oder jener
einen syphilitischen Knochen in einem Hünengrabe gefunden habe.
Aber in Amerika ist es nicht g'anz selten, dass man einen sogenannten
Mound anschneidet und nach einiger Zeit einen syphilitischen Knochen
daraus produziert. Am meisten sind bis jetzt in den A'^ordergrund
getreten die alten IMounds von Tennessee, zum Teil auch die von
Kentucky, namentlich ist über erstere eine Reihe von Angaben vor-
handen, die alle darin übereinstimmen, dass sie auf Knochensyphilis
bezogen worden sind. Wir besitzen solche Berichte von Aerzten,
die als glaubwürdig und sachverständig gelten, z. B. von Joseph
Jones. • — Ich muss nun leider sagen, dass eines noch immer fehlt,
nämlich eine wirklich exakte Beschreibung. Es wird gesagt, dass die
Knochen verdickt seien, die Markhöhle mit Knochensubstanz gefüllt,
dass Eburnation , Anschwellungen und Höcker, gelegentlich auch
„Erosionen" und geschwürige Stellen (Caries) daran vorkämen. Aber
keine von diesen Veränderung-en ist so deutlich charakterisiert, dass
ich sagten könnte: sie muss syphilitisch sein"').
Noch wichtiger ist das skeptische Urteil von Putnam, der die
von Jones ausg-egrabenen Skelette selbst gesehen hat und auch
das gleiche auf Autopsie beruhende Gutachten anderer Pathologen
mitteilt:
„Several bones collected in this mound show the effect of di-
sease of some kind, and are such aswould be generally called syphi-
liti(^; but several pathologists who have examined them unite in sta-
ting that they do not prove the existence of syphilis, as other diseases
than Syphilis might leavc such effects. — I am forced to differ from
liim in some of his conclusions. particulary so in regard to the evi-
dence of syphilis prevailing in this old nation of Tennessee. Undoub-
I R. Virchow, ,, Beitrag zur Geschichte der Lues", a. a. O., S. 4.
— 36o —
tedly very man}^ of the human bones show the results of diseasc.
but it may be that the disease was not syphihs, and that other di-
seases affect the bones in a similar manner" ^).
Demgegenüber betont auf der anderen Seite ein hervorragender
deutscher Pathologe, Prof. Edwin Klebs, der im Jahre 1896 die
Sammlung von Jones selbst besichtigt hatte, die syphilitische
Natur der betreffenden Knochenaffektionen. „Indem ich", schreibt er
in einer Korrespondenz der „Medizinischen Woche", ,,die bemerkens-
werte Auseinandersetzung" von Scheu be in Ihrer letzten Nummer
lese, welcher sich so überzeugend für den amerikanischen Ursprung
der Syphilis ausspricht, erinnere ich mich eines oder mehrerer alter
Gräberschädel aus der Sammlung des Dr. Jones in New Orleans
(Corner of Washington Camp), w'elche der Vater des jetzigen Besitzers
aus Steingräbern der sogen. Mound-Builders im Mississippithal ge-
sammelt hatte und die unverkennbare syphilitische Knochen-
erkrankungen aufwiesen. Es ist möglich, dass Virchow von
diesen Funden keine Kenntnis hatte"-). Nach Klebs deutete die
Schädelbildung auf eine dem heutigen Indianertypus zeitlich voraus-
gehende Race ^^).
PVeilich ist der springende Punkt dieser ganzen Diskussion die
Frage des Alters jener Gräber in Tennesse. Ihr präcolumbischer
Charakter ist keineswegs sicher ermittelt. Darüber bemerkt L. Wolff :
„Wenn auch die Steinsärg"e und die „Mounds" der Indianer Skelette
lieferten, die gewiss verdächtige Merkmale der Syphilis zeigten, und
diese Begräbnisorte und Behälter als sehr altertümlich geschildert
wurden, so ist nicht ausser Acht zu lassen, dass solche .Sarkophage
und Begräbnisplätze selbst bis auf neuere Zeiten für die Beisetzung
der toten Indianer gebraucht wurden, und Dr. Brinton sowie auch
andere haben denselben Ornamente und Artikel entnommen, die ent-
schieden europäischen Ursprungs waren" ■*).
i) F. W. Putnam, ,,Arcliaeological Explorations in Tennessee" in: Reports of ihe
Peabody Museum of American Archaeology and Ethnology, Cambridge 1880, Vol. II,
p. 316 u. p. 305.
2) Dies ist nicht zutreffend, wie aus der obigen, sclion Ende 1895 i" ^^^ Berliner
Dermatologischen Gesellscdaft vorgetragenen Mitteilung Virchow's über die Jones'schen
Befunde hervorgeht.
3) Die Medizinische Woche 1902, Nr. 3, S. 28.
4) L. Wolff, ,,Die Syphilis unter den Unvölkern Amerikas mit besonderer Bezug-
nahme auf ihr Bestehen daselbst vor der Entdeckung Amerikas durch Columbus" in: Der-
matologische Zeitschrift 1894, herausgegeben von O. Lassar, Bd. I, S. 230.
— 36i —
Damit entfällt also jeder Grund, noch weitere Untersuchung'en
über den syphilitischen oder nichtsyphilitischen Charakter der Jon es-
schen Skelette anzustellen.
Negativ in Beziehung auf die sichere Feststellung von Syphilis
fielen auch die Untersuchungen aus, die Whitney an alten Skeletten
anstellte ^}.
Laut pers(")nlicher JVIitteilung von Professor Franz Boas (vom
i8. Juli igoi) hat Dr. Weir Mitchell Prudden eine grosse Zahl
von präcolumbischcn Knochen aus Kentucky' , die im Museum of
Natural History in Xew York sich befinden, durchforscht, aber
nichts mit Sicherheit als Syphilis zu Deutendes gefunden, ob-
gleich eine sehr grosse Zahl (2o"/o) von Knochen die merkwürdigsten
pathologischen A'eränderungen (Wucherungen , Erosionen u. s. w.)
zeigten.
Derselbe Dr. Prudden konstatierte nach IMitteilung von Dr.
Hyde an zwei Tibien aus einem altertümlichen „Indian Mound" in
Colorado eine „chronische, rareficierende und formative Ostitis mit
Osteomyelitis und chronisch formativer Periostitis", konnte aber die
Frage der Syphilis weder bejahen noch verneinen -).
Nach Putnam und J. P. ]\Iac Lean befanden sich in der
grossen Sammlung von Indianerschädeln in dem Museum der „Aca-
demy of Natural Science of Philadelphia", wo auch die berühmte
,,Morton-Collection" aufbewahrt wird, einige Specimina mit krank-
haften Veränderungen , die auf SyphiHs hindeuten. Jedoch ist auch
in diesem Fall das Alter fraglich ^).
Von grossem Interesse sind die im Jahre igoi von Dr. Thomas
Gann, Districts-Chirurg" in Corozal (Britisch Honduras) in einem
Mound der dortigen Gegend gemachten Funde ■*). In einem nahe
dem Städtchen San Andres im nördlichen Britisch Honduras g'e-
legenen Indianermound fand Gann ein irdenes (jefäss, in welchem
neben anderen Geg-enständen drei Thonfiguren sich befanden, von
i) W. F. Whitney, „On ihe existence of syphilis. in America before the discovery
by Columbus" in: Boston Medical and Surgicai Journal vom 19. April 1883.
2) J. N. Hyde, ,,A contribulion to the study of Pre-Columbian Syphilis in America"
in Journal of the Medical Sciences, Philadelphia 1891, S. 117 — 131.
3) L. Wolff, a. a. O., S. 232.
4) Thomas Gann, ,,Recent discoveries in Central-America proving the precolani-
bian existence of Syphilis in the new world" in: The Lancet vom 12. Oktober 1901,
S. 968 — 970.
— 302 —
denen die eine in den Besitz des British Museum übergeg-angen ist.
Jede dieser Figuren ist 4Y2 '^^^^ hoch und stellt eine Person dar, die
nach der Kopfbedeckung wahrscheinlich ein Maya-Priester ist. Der-
selbe sitzt auf einem niedrigen vierbeinigen Stuhle. Die Figuren
sind bemalt. Das AuffälHgste waren eigentümliche Veränderungen
der Genitalien. Die Geschlechtsteile sind in allen drei Fällen unver-
hältnismässig gross dargestellt. Der Penis hat den Umfang eines
Unterschenkels; er wird an der Eichel von der einen Hand umfasst,
während die andere Hand ein spitzes Instrument hält, mit welchem
eine Operation am Gliede gemacht werden soll oder gemacht worden
ist, wahrscheinlich das Letztere. Denn man sieht an der oberen
Fläche der enorm vcrgrösserten Eichel mehrere Incisionen.
Neben diesen bemalten Figuren fand Ga nn noch das imbe-
malte Modell eines menschlichen Penis in natürlicher Grösse und im
Zustande der halben Erektion und mit drei länglichen Incisionen an
der Oberseite der Glans, die offenbar mit einem scharfen Messer auf
den noch weichen Thon eingeritzt waren.
Was aber das Merkwürdigste war, in einer Steinkammer des-
selben Mound entdeckte Gann die Knochenreste eines männlichen
Individuums von mittlerer Grösse. vSie waren sehr fragil, einige
Knochen waren ganz verschwunden. Die übriggebliebenen zeigten
keine Spuren teilweiser Verbrennung- und mit Ausnahme der Tibien
keinerlei Abnormitäten.
Die Veränderungen der Tibien beschreibt (iann folgcnder-
massen : „The upper articular surfacc of the right tibia had dis-
appeared. The shaft instead of being triangulär was rounded in
section , the proeminent angles at the fronts and sides being obli-
terated; it was slightly bowed, with the convexity anteriorly, and
was a g-ood deal enlarged, especially in its upper two-thirds, wdiich
were composed chiefly of friable spongy, cancellous tissue, which
rendered the böne much lighter than it appeared. The surface was
exceedingl}^ rough, especially in the upper part of the bone, being
covered with a number of small nodular outgrowths, between which
were .small pits or depressions. The bone was not examined micro-
scopically. Of the left tibia only small fragments remained, but as
far as could be judged from these a change somewhat similar to
that undergone b}^ the right bone had also taken place here, though
not to such a marked extcnt".
Die Fibulae waren nicht mehr vorhanden. Gann bemerkt weiter,
dass er gegen 100 alte Mounds in Central-Amerika geöffnet habe.
Aber nur in diesem einzigen Falle hätten die Knochen keinerlei
- 363 -
Spuren von vorhergegangener Verbrennung dargeboten. Nach den
Berichten von Sahagun, Torquemada u. A. sei diese nur bei
Leuten unterlassen worden, die an Syphilis verstorben waren. Daher
schliesst Gann auch hier auf das Vorhandensein derselben, obgleich
er zugiebt, dass auch Caries oder andere nichtsyphilitische Prozesse
die Veränderungen verursacht haben könnten. Hierzu komme nun
aber noch die bildliche Darstellung einer Affektion des Penis an
demselben Individuum, sowie der Umstand, dass beide Tibien
afficiert waren. Daraus könne man mit Sicherheit auf Syphilis
schliessen.
Da mir dieser Bericht auf den ersten Blick etwas abenteuerlich
erschien, so bat ich den auf dem Gebiete der centralamerikanischen
Kultur am meisten erfahrenen deutschen Gelehrten, Herrn Professor
Eduard Seier, um Nachprüfung der Angaben von Gann. Der-
selbe hatte die Güte, in einem Briefe vom 26. April 1902 sich
folgendermassen darüber zu äussern:
,,Ich muss, nachdem ich den Artikel genau gelesen, doch sag'en,
dass mir der ganze Bericht einen vertrauenerweckenden Eindruck
macht und ich zunächst keine Veranlassung habe, an der Richtigi-ceit
des P\mdes und den Einzelheiten zu zweifeln. Die Thonfigürchen
scheinen allerdings furchtbar roh zu sein. Auch scheint mir, wenn
man erwägt, dass bis in das 18. Jahrhundert hinein in dem benach-
barten Peten ununterworfene heidnische Ma3^a-Reiche bestanden, der
präcolumbische Charakter des Grabes nicht ausser Zweifel zu
stehen. Die an den Figuren und an dem Penismodell zur An-
schauung gebriichte Handlung scheint mir weniger eine Operation
als eine religiöse Handlung, Blutentziehung am Penis, wie sie in
der That wiederholt berichtet wird, darstellen zu sollen".
Dieses massgebende kritische Urteil lässt die Bedeutung des
Gann 'sehen Fundes für unsere Frage ids sehr gering erscheinen,
wenn er auch ein erhebliches kulturg-eschichtliches Interesse darbietet.
Da sich in ganz Amerika nach den Urteilen eines Sei er,
Brinton, Boas, v. Euschan u. A. eine Kontinuität zwischen prä-
und postcolumbischer Indianerkultur nachweisen lässt, so dürften auch
spätere ähnliche Funde wie die von Jones, bei denen man mit
grosser Wahrscheinlichkeit auf Syphilis schliessen darf, dieselben
Schwierigkeiten der chronologischen Beurteilung- mit sich bringen wie
alle bisherigen.
Anders steht es mit der alten Welt. Hier kennen wir ganz
genau das hohe Altertum der Hünengräber, der Pfahlbauten, der
Sieinkammern, der altg'ermanischen, altslavischen Grabhügel, ja sogar
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 24
— 364 —
der Begräbnisstätten aus dem Mittelalter, und in allen diesen
wurde bisher niemals ein einziger syphilitischer Knochen
gefunden.
Wenn man also auch in Beziehung auf Amerika zu einem „non
liquet" kommt, so scheint mir doch dieser Unterschied zwischen der
neuen und der alten Welt gebührend herv^orgehoben werden zu
müssen, und die unerbittliche Forderung an die Gegner des neuzeit-
lichen Ursprunges der Syphilis bleibt bestehen, dass, wenn sie nun
einmal auf die präcolumbischen Knochenfunde einen so grossen
Werth legen, sie zunächst für die alte Welt solche beibringen
müssten , was ihnen bisher noch nicht gelungen ist und niemals ge-
lingen wird.
SECHSTES KAPITEL.
Die pseudosyphilitischen Hautkranl<heiten.
§27. Allgemeine Bedeutung' der pseudosypliilitisclien Affektionen
der Haut.
Die erstaunliche Entwickelung" der Dermatolog"ie in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hat besonders die klinische Dia-
gnostik der Hautkrankheiten in reichstem Masse gefördert. Indem
einerseits eine Meng"e von reinen Sammelbegriffen der älteren Derma-
tologen, wie „Ekzema", „Krätze", „Impetigo", „Porrigo", ,, Liehen" u. s. w.
in viele einzelne, klinisch und pathogenetisch scharf von einander ge-
trennte Krankheitsformen aufgelöst wurden, andererseits eine schärfere,
nach wissenschaftlichen (jrundsätzen verfahrende Beobachtung eine
grosse Zahl neuer Hautkrankheiten zu Tage förderte, erfuhr die
dermatologische Diagnostik eine ausserordentliche Bereicherung ihres
Inhaltes^) und eine immer mehr sich verfeinernde Ausbildung" ihrer
Methode. Hieraus ergaben sich zwei Notwendigkeiten in Beziehung
auf die Stellung der Dermatologie innerhalb der klinischen Medizin.
Erstens musste dieselbe als eine eigene Disciplin, welche sowohl in
wissenschaftlicher als praktischer Hinsicht die Lebensarbeit des ein-
zelnen Forschers vollkommen in Anspruch nimmt, von der inneren
Medizin bezw. Chirurgie abgetrennt werden -), so dass auch die Der-
1) Sehr fein bemerUt Rille im Vorwort zu seinem Irefflichen „Lehrbuch der Haut-
und Geschlechtskrankheiten" (Jena 1902, S. 3): „Bekanntlich ist das Material an Haut-
krankheiten gerade dort am grössten, wo es am besten diagnostiziert wird." •
2) Deshalb hat W. v. Leube mit Recht die Maut- und Geschlechtskrankheiten in
sein klassisches Werk über die spezielle Diagnose der inneren Krankheiten nicht mit auf-
genommen, hat aber Unrecht mit der Begründung dieses Verfahrens. Denn nach ihm
kommen bei den Hautkrankheiten, die er fälschlich immer noch als ,, integrierende Bestand-
teile der inneren Medizin'- auffasst, der ,, diagnostische Calcül, die Zusammenfassung von
Symptomenkomplexen, die Abwägung, welche von den gefundenen Erscheinungen aus der
diagnostischen Verarbeitung des einzelnen Krankheitsbildes auszuschalten sind, nur in unter-
geordnetem Maasse in Betracht", während die Kenntnis der äusseren Form das allein Maass-
gebende sein soll. {W. von Leube, „Spezielle Diagnose der inneren Krankheiten",
24*
- 366 -
matolog-ie, trotz ihrer vielfachen Beziehungen zur inneren ]\Iedizin
und Chirurgie, als ein selbständiger Zweig der Medizin mit
eigenen wissenschaftlichen Aufgaben betrachtet werden
muss. Zweitens aber musste im Gegensatze zu dieser 'JVennung die
innige Verknüpfung der Dermatologie mit den venerischen Leiden,
insbesondere der Syphilidologie, immer deutlicher zu Tag'e treten.
Hebra's bekanntes Wort, dass nur der ein guter Syphilidolog-e sei,
der zugleich als guter Dermatologe sich erweise, drückt die Un-
möglichkeit einer Trennung' der Dermatologie von der
S3"philidologie deutlich aus.
Nichts aber illustriert dies letztere besser als die Thatsache,
dass die neuere Dermatologie eine grosse Zahl von sogenannten
pseudosyphilitischen Krankheiten der äusseren Decke zu Tage ge-
fördert hat, d. h. solche Teiden, die mit S}'philis zu verwechseln sind
und gewiss nicht nur in der früheren Zeit fast immer für syphilitisch
gehalten wurden, sondern auch heute noch oft g'enug mit
Syphilis verwechselt werden, sogar von specialistisch ausge-
bildeten Dermatologen.
Es betrifft dies einerseits Affektionen der männlichen und weib-
lichen Geschlechtsteile, der Regio analis, der Alund- und Rachenhöhle,
der Nase u. s. w. , andererseits aber jene wichtige Kombination, bei
welcher krankhafte nichts\philitische Veränderungen zugleich an
Genitalien und After, an Genitalien und Mundschleimhaut, an Anus
und Mundschleimhaut, am übrigen Körper und den Genitalien , end-
lich am ganzen Körper, den Genitalien, der Regio analis und den
oberen Luftwegen vorkonunen. Schliesslich kommen noch jene Krank-
heiten in Betracht, die, ohne syphilitisch oder venerisch zu sein oder
sich durch jene Lokalisation auszuzeichnen, doch nach einem Bei-
schlaf bezw. durch geschlechtlichen Verkehr auftreten und so als
scheinbar venerische Leiden imponieren können.
Die Litteratur über die syphilisähnlichen Hautkrankheiten ist
eine verhältnismässig spärliche. Da erst die neueren Fortschritte in
der Dermatologie eine schärfere Differenlialdiagnose ermöglichten und
die Erkenntnis, dass z. B. ein Symptomenkomplex von „breiten Con-
dylomen" am Anus, Geschwüren und Plaques im Munde oder von
5. Aufl., Leipzig 1898, Bd. 11, S. 544.) Dies ist meines Erachtens völlig unzutreffend, da
der „diagnostische Calcül" , die klinische Kombination in der heutigen Dermatologie
mindestens eine ebenso grosse Rolle spielen wie m der Diagnose der inneren und chirur-
gischen Krankheiten. Man denke z. B. an ein so vielgestaltiges und doch in klinischer
Hinsicht so scharf umgrenztes Krankheitsbild wie das des von Unna entdeckten sebor-
hoischen Ekzems, welches dem diagnostischen Calcül reichste Gelegenheit bietet, sich zu belhätigen.
- 367 -
Papeln am Penis, am Körper und im ^Munde durchaus nicht S3'phili-
tischer Natur zu sein braucht , so werden wir begreifen , dass in
früherer Zeit diese und viele andere pseudosyphilitische Hautaffek-
tionen der Syphilis zug'erechnet wurden. Indessen fehlt es, obgleich
eine eigentliche grössere Monographie über die pseudosyphilitischen
Hautkrankheiten bis heute noch nicht \-erfasst worden ist, nicht an
einzelnen PTinweisungen auf das ^"orkommen und die Wichtigkeit
derselben.
Schon 1685 bemerkte der Züricher xVrzt Johannes Aluralt, dass
sehr oft den venerischen ähnliche Geschwüre, ohne venerische An-
steckung-, am männlichen Gliede entstehen können ^). Aehnlich heisst
es in einem alten gerichtlich -medicinischen Gutachten vom Jahre
17 12: „Warum kan denn in pcne nicht so wohl, als in andern
Corporis partibus ohne V^enere impura ein Geschwüre und
Xarben werden? Man findet ohnzehliche Casus, da einer Cicatrices
in hac vel ista parte Corporis bekoemt und hat, da die Ursachen
verborgen seyn. Und kan denn nicht auch ex ruptura praeputii etiam
in congressu cum uxore dergleichen erfolgen ? Sequitur ergo , dass
Gegentheils ex Cicatrice genommene Argumentum g^ar weit herge-
hohlet sey" 2). Von besonderem Intel esse ist diese Stelle, weil sie
beweist, dass bereits in alter Zeit die grosse forensische Bedeutung
der pseudosyphilitischen und pseudovenerischen Hautaffektionen er-
kannt wurde, auf welche ich noch öfter zurückzukommen Gelegenheit
haben werde.
Im Jahre 174g beobachtete Dr. Xicolau in Sempe (Bigorre)
in Frankreich eine eigentümliche in epidemischer Weise auftretende
Krankheit, deren hauptsächliche Symptome Geschwürsbildungen im
Munde und an den Genitalien, verbunden mit Dysurie, waren. Die
Pariser Aerzte, welche sich eingehend mit dieser merkwürdigen
Krankheit beschäftigten, kamen zu dem Ergebnis, dass dieselbe nicht
syphilitischer Natur sei, obgleich in so verdächtiger Weise Alund-
höhle und Geschlechtsteile gleichzeitig befallen seien ^). Dieses Urteil
macht ihnen alle Ehre, und wir werden in der That zahlreiche
1) J. M uralt, „Observ. Cancer penis.'' In: MisccU. medico-phys., Nürnberg 1685,
S. 259, citiert nach C. Gir tanner, „Abhandlung über die Venerische Kränkelt", Göttingen
1789, Bd. II, S. 336.
2) Älartin Schurig, ,,Gynaecologia historico-inedica", Dresden 1730, S.. 263.
3) ,,Sur une maladie epidemique caracterisee par des uiceres ä la bouche, et aux parties
genitales, avec ardeur d'urines, douleurs de reins, et autres symptomes veneriens" in: Con-
sultations choisies de plusieurs medecins celebres de l'universite de Montpellier sur des
maladies aigues et chroniques", Paris 1755, -ß*^- -^i S- ^'° — -'5-
- 368 -
Krankheitsbilder kennen lernen, die sich durch eine gleichzeitige
Lokalisation an jenen Körperteilen auszeichnen.
Am Anfange des ig. Jahrhunderts waren es vorzüglich eng-
lische Aerzte, welche auf das häufige Vorkommen pseudosyphilitischer
Hautleiden hinwiesen, so John Abernethy^), Richard Car-
michael-') und William Judd^). Teils beschäftigten sich diese
Autoren, wie Carmichael mit den nichtsyphilitischen, aber syphilis-
ähnlichen Geschwüren der Geschlechtsteile — wie denn Carmichael
vier infektiöse Genitalulcerationen unterschied — teils richten sie ihr
Augenmerk auf die mehr allgemeinen Erscheinungen solcher syphilis-
ähnlichen Krankheiten, wie dies Abernethy und Judd thun.
Ersterer konstatierte z. B. in einem Falle die Coincidenz von Gaumen-
geschwüren und einer Corona Veneris-ähnlichen Affektion der Stirn-
haut bei einem nichtsyphilitischen Individuum.
Recht bemerkenswert ist auch die Arbeit des Hamburger Arztes
V. Embden (eines Verwandten des Dichters Heinrich Heine) aus
dem Jahre 1819 ■*), eine Abhandlung, die uns durch die darin sich
offenbarende scharfe Beobachtung und kritischen Geist als ganz
modern anmutet, v. Embden handelt darin u. a. bereits von dem
oft so trügerischen Symptome der Induration venerischer Geschwüre,
von den traumatischen Ulcera der Genitalien, von denen bei Herpes,
bei Gravidität, von den leukorrhoischen und aphthösen Affektionen
der weiblichen Genitalien , von den ziihlreichen nichtsyphilitischen
Affektionen des Afters, von den nichtvenerischen Bubonen, den ver-
schiedenartigen nichsyphilitischen Geschwüren der Mundhöhle, den
nichtsyphilitischen Knochenschmerzen u. s. w.
Mit Beziehung auf die Frage der Existenz der Syphilis im
Altertume äusserte sich der berühmte Kliniker Carl Canstatt-^)
über die Bedeutung der pseudosyphilitischen Affektionen der Geni-
talien :
1) J. Abernethy, „Von den Krankheilen, die dem venerischen Uebel ähnHch sind",
in: Sanimhmg auserlesener Abhandhingen zum (iehrauche praktischer Aerzte, Leipzig 1806,
S. 524—589.
2) R. Carmichael, „An essay on the venereal diseases which havc been con-
founded with Syphilis etc.", Dublin 18 14.
3) Friedrich J. Behrend, ,,Syphilidologie", Leipzig 1839, Bd. I, S. 288.
4) V. Embden, „Versuch über die der. Lustseuche gleichenden Krankheiten",
in: Magazin für die gcsammlc Heilkunde von J. N. K u s t , Berlin 18 19, Bd. V, S. 368
bis 467.
5) C. Canstatt, „Handbuch der medizinischen Klinik", Erlangen 1841, Bd. I,
S. 830-837.
— 369 —
„Leiden der Geschlechtsteile haben ohne Zweifel von jeher existiert, und will man
jedes Leiden dieser Organe, sofern es infolge von Beischlaf entstanden, für venerisch be-
trachten, so hat man allerdings auch im frühesten Altertiimc die verschiedenartigsten Affek-
tionen beobachtet, die eine gewandte Darstellung teils mit der Tripper-, teils mit der
Schankergruppe der Syphilis analog erscheinen wird lassen können. Hensler, Weather-
liead, Rosenbaum haben für die Verteidigung dieser Ansicht mit bewimdernswertem
Sammlerfleisse die Beweisstellen zusammengetragen. Von der Richtigkeit derselben bin ich
aber ebensowenig als Astruc, Gibert, Gauthier u. A. überzeugt worden. Dass
Leiden der Geschlechtsorgane von uralten Zeiten her beobachtet wurden, ist sehr natürlich ;
ebenso begreiflich ist, dass diese Genitalaffeklionen in ihren örtlich-formellen Charakteren
mit den heutzutage herrschenden aufifallende Aehnlichkeit darbieten. "Wir wissen ja, dass
die lokalen Elementarformen der Krankheit überhaupt sich in ihrer Erscheinungsweise gleich
oder <ähnlich sein können, wie verschieden auch das sie bedingende Moment sei. Und sehen
wir nicht heute noch, ebenso wie im Altertume, Ausfluss aus den Geschlechtsteilen, Exco-
riationen, Geschwüre an denselben unter Umständen entstehen, wo ein spezifisches Virus
nicht miigewirkt hat ? Will man aber den Begriff der Syphilis nicht so weit ausdehnen,
dass man ohne Unterschied alle nach geschlechtlichem Umgange entstandenen Affektionen
der Genitalien darunter zusammenfasst, wie einige generalisierende französische Aerzte ohne
grossen Gewinn für die Wissenschaft geihan haben, — beschrankt man vielmehr den Begriff
der Syphilis auf jene Krankheiten, welche ihren Ursprung aus einem spezifischen, durch
Uebertragung von Generation auf Generation fortpflanzbaren Virus nehmen, so wird der Be-
weis unmöglich, dass wahre Syphilis bereits im Altertume geherrscht habe. Nirgends
ist klar dargethan, dass jene damals beobachteten Affektionen der Sexualorgane sich ähnlich wie
heutzutage durch ein sich immer wiederzeugendes Contagium fortgepflanzt haben, — überall
sind jene antiken pseudovenerischen Krankheiten denen ähnlich, wie man sie auch in unseren
Tagen, z. B. nach Coitus mit menstruierenden oder mit dem Lochicnflusse, einfacher Leu-
korrhoe, aber nicht syphilitisch affizierten Frauen entstehen sieht, — nirgends ist davon die
Rede, dass auf diese Lokalaffcktionen so konstant jene konsekutiven allgemeinen Zufälle
folgten, welche einen integrierenden Bestandteil der wahren Syphilis ausmachen. Würde
man wohl am Ende des 15. Jahrhunderts so über die plötzlich auftauchende, über alle
Länder rasch sich verbreitende Lues so verwundert gewesen sein und sie als neue Krankheit
bezeichnet haben, wenn man von Alters her mit ihren Erscheinungen vertraut gewesen wäre?
Aehnlichkeit stellt noch keine Gleichheit her."
Auf das häufige Vorkommen von pseudosyphilitischen Affek-
tionen bei Prostituierten lenkte, nachdem schon H. Lippert der-
selben gedacht hatte i), besonders J. B. Venot, Chefarzt des Hospitals
Saint -Jean in Bordeaux, in einer kleinen diesem Gegenstande ge-
widmeten Schrift die Aufmerksamkeit der Aerzte-). Ueber den Zweck
dieser Schrift äussert er sich in dem \^orworte u. a. folgender-
massen :
,,I1 existe, chez les fciumes inscrilcs au cadic de la prnstilulion, une notable Serie de
lesions des organes genitaux (jui n'ont aucun caractere special, et dont le siege, la forme et
l'aspect peuvent devenir d'incessantes causes d'errcnr. — De prinie-abord, ces alterations de
tissu survenues apres des fatigues, des efforts fonclionnels, des couches laborieuses etc..
1) H. Lippert, ,,Die Prostitution in Hamburg", Hamburg 1847, S. 100 — loi.
2) J. B. Venot, ,,De la pseudo-syphilis chez les jirostiiuees", Bordeaux 1859.
occupant divers points d'un appareil expose ä toutes les vicissiludes de la contagion, se prc-
sentent au diagnostic avec la prevention de l'origine syphilitique. II faut, en effet, connaitre
de longue main la physionomie de ccs accidents, pour en dislinguer de piano la nature et
le degre d'innocuite.
Mais si l'assiietude et l'analyse experimentaie de ces faits manqiient au praticien, son
jugemenl fera inevitablement fausse route, et ses appieciations seront entachees d'inexactitude
et d'hesitation" ').
In der allerneuesten Zeit waren es vor allen zwei hervorragende,
durch die Schärfe und Subtilität ihrer klinischen Beobachtung" sich
auszeichnende Dermatologen , welche die Wichtigkeit der pseudo-
S3'philitischen Hautleiden erkannt und ausgesprochen haben. Es sind
dies Rudolph Bergh in Kopenhagen und Heinrich Köbner
in Berlin.
Wer einen Blick in die in ihrer Art klassischen, bei aller Präg-
nanz des Stiles eine Fülle von interessanten Beobachtungen und Er-
fahrungen darbietenden Jahresberichte von Bergh über die vene-
rische Abteilung des Allgemeinen Hospitals in Kopenhagen (von
1866 — 1884) und in die Berichte über das unter seiner Leitung stehende
Vestre Hospital (von 1885 — 1900) geworfen hat, dem wird sogleich
der umfangreiche Abschnitt mit dem Titel „Pseudo venerische
Affektionen" auffallen, auf dessen reichen Inh^dt im Folgenden
oft Bezug genommen werden wird -).
Einen Ueberblick über eine Reihe der wichtigsten syphilisähn-
lichen Hautkrankheiten gab H. Köbner, veranlasst durch die ,, all-
täglich e Verwechselung der blasenbildenden Prozesse auf den
vSchleimhäuten und der äusseren Haut mit s}'philitischen Affektionen".
Diese Abhandlung-') stellt einen höchst gedieg'enen Beitrag zur Lehre
von den pseudosyphilitischen Krankheiten dar. Wir entnehmen daraus,
wie häufig, selbst von Spezialisten, jene Leiden fälschlich der Syphilis
zugerechnet werden.
Diese häufige Aehnlichkeit der syphilitischen Hautaffektionen
mit anderen Hautkrankheiten , welche im stände i.st „to perplex the
inexperienced", hebt auch Malcolm Morris hervor-*), und bringt
Chotzen im Titel und Inhalt seines Atlas zum Ausdruck^).
i) Venot, a. a. O. S. 3 — 4.
2) Leider standen mir nur die Jahresberichte über das Vestre- Hospital 7Air Verfügung,
von denen ich die Jahrgänge 1886 bis 1900 einsehen konnte.
3) H. Köbner, ,,Ueber Pemphigus vegetans, nebst diagnostischen Bemerkungen über
die anderen mit Syphilis verwechselten, blasenbildenden Krankheiten der Schleimhäute und
der äusseren Haut," in: Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. LHI, Leipzig 1894, S. 61 — 89.
4) Malcolm Morris, „Diseases of the Skin," London 1899, S. 37.
5) M. Chotzen, „Atlas der Syphilis und der syphilisähnlichen Hautkrankheiten,"
Hamburg 1898.
— 371 —
Hiernach erschien es mir an der Zeit, eine möghchst vollständige
Uebersicht über die Quellen der auf diesem Gebiete möglichen
Täuschungen und diagnostischen Irrtümer zu g'eben, zumal da meines
Wissens noch keine derartige monographische Bearbeitung der pseudo-
syphilitischen Hautkrankheiten existiert.
Ich betrachte dieselben:
1. mit Rücksicht auf ihre praktische Bedeutung.
Hierher gehören vorzüglich jene Affektionen , die auch heute
noch mit syphilitischen verwechselt werden, wie an zahlreichen Bei-
spielen gezeigt werden wird.
2. mit Rücksicht auf die litterarische Ueberlieferung
der älteren Zeit.
Unter diesem Gesichtspunkte müssen im folgenden auch zahl-
reiche Hautleiden als „pseudosyphilitische" herangezogen werden, die
heute gar nicht mehr oder doch nur unter ganz besonderen Um-
ständen zu Verwechselungen mit syphilitischen Affektionen Anlass
geben. Da indessen , wie in einem späteren Abschnitt eingehender
dargelegt werden wird, die dermatologische Diagnostik und Klassi-
fikation der Alten an der blossen Form der krankhaften Verände-
rungen der Haut haften blieb, während Aetiologie und Pathogenese
fast ganz ausser Spiel blieben , mithin die Beschreibung der Haut-
leiden eine rein formalistische war, so mussten dieselben in Be-
ziehung auf die Form übereinstimmenden Produkte verschiedener
Dermatosen als der gleichen Krankheit angehörige aufgefasst werden,
so dass es z. B. unmöglich wäre, aus der rein formalistischen Be-
schreibung einer Acne des Penis zu erkennen , dass es sich um
diese Affektion und nicht etwa um eine P'orm des Primäraffekts
handle.
Von ungeheurer Wichtigkeit ist diese Seite der Betrachtung
der pseudosyphilitischen Hautkrankheiten für die Frage nach der
Existenz der Syphilis im Altertum. Nachdem wir nämlich alle jene
Affektionen kennen gelernt haben, kann, wenn wir die Beschrei-
bungen der antiken Aerzte prüfen, mit Evidenz gezeigt werden,
dass die meisten (von den dermatologisch nicht vorge-
bildeten Syphilishistorikern) als „S3'philis" gedeuteten Haut-
affektionen sich als solche „pseudosyphilitische" Haut-
krankheiten entpuppen.
Dies wird noch dadurch bekräftigt, dass die Zahl dieser pseudo-
syphilitischen Dermatosen eine sehr grosse ist, sowohl mit Rück-
sicht auf Punkt i wie auf Punkt 2. Gewiss kommen einzelne Leiden
nur selten vor, aber das Ensemble dieser verschiedenen, seltenen
— 372 —
pseudosyphilitischen Affektionen ist ein sehr statthches, und ihm ge-
sellen sich mehrere sehr h ä u f i g e syphilisähnliche Hautleiden zu.
Man denke nur an das ausserordentlich häufige Vorkommen der eine
Sklerose vortäuschenden Veränderungen der Geschlechtsteile!
Im Hinblick auf die hier in Frage kommenden mannigfaltigen
Schwierigkeiten urteilt der hervorragende Syphilidologe H. Zeissl:
„Der syphilitische Krankheitsprozess in seiner Totalität bietet von
seinem Beginne bis zu seiner Kulmination und vollendeten Invo-
lution solche diagnostische Schwierigkeiten , welche dem minder ge-
übten Praktiker unglaublich erscheinen" '). Dass dieser Ausspruch
sehr wahr ist, wird aus der nunmehr folgenden Betrachtung der ein-
zelnen pseudos3'philitischen Affektionen hervorgehen.
§28. Die pseiidosyphilitischeii Affektioneii der iiiäiinlirheii uiid
weibliclieii Geschlechtsteile.
Die zahlreichen, syphilisähnlichen, krankhaften Veränderungen
an den Geschlechtsteilen des Mannes und des Weibes können in
Beziehung auf ihre Aetiologie in folgende Gruppen geschieden
werden.
Sie treten sehr häufig als direkte oder indirekte Folgen
eines Beischlafes oder sonstigen geschlechtlichen Verkehrs auf,
wobei ihre Entstehung auf Ansteckung oder auch auf rein
mechanische Einflüsse (mit eventueller sekundärer Infektion) zu-
rückzuführen ist.
Zweitens können sie ohne geschlechtlichen Verkehr absichtlich
oder unabsichtlich durch mechanische und chemische Einflüsse
hervorgerufen werden.
Drittens giebt es lokale pseudosyphilitische Affektionen der
Genitahen, die ohne die Mitwirkung der eben erwähnten Ursachen
rein spontan entstehen.
Viertens treten solche lokalen Veränderungen infolge anderer
nichtsyphilitischer Allgemeinleiden auf.
Mit stetiger Beziehung auf diese ätiologischen Momente be-
trachten wir zunächst
a. Die mit Induration einhergehenden, eine Initialsklerose vortäuschen-
den pseudosyphilitischen Affektionen der Genitalien.
Jeder Arzt weiss, dass gleich das erste Symptom der begitmen-
den Syphilis, der sogenannte ,, Primäraffekt", die „Initialsklerose", der
i) H. Zeissl, „Ueber die Schwierigkeiten, welche sich der Diagnostik luetischer
Affektionen entgegenstellen," in: AUgem. Wiener med. Zeitung 1878, No. 19, S. 177.
— 373 —
harte Schanker in zahlreichen Fällen kaum mit Sicherheit zu dia-
gnostizieren ist und den Arzt in die Notwendigkeit versetzt, den
nach Gewissheit drängenden Patienten auf später zu vertrösten. Es
passiert das nicht nur dem allgemeinen Praktiker, sondern auch dem
spezialistisch ausgebildeten Dermatologen, der ehrlich genug ist, es
zu gestehen. Geistreich sagt der erfahrene Zeissl: „Die Syphilis
ist nämlich schon in ihrem Beginne so hinterlistig, dass sie gleich an
ihrer Schw'elle, das heisst an der Eintrittsstelle des syphilitischen
Giftes, eine oft schwer zu erkennende krankhafte Veränderung er-
zeugt, welche A^eränderung ich als einen wahren Druidenfuss
bezeichnen möchte. Diese Veränderung wird heutzutage von den
Pathologen mit dem Namen der syphilitischen Initialsklerose be-
zeichnet" ^).
In der That kann das hauptsächliche pathognomonische Merk-
mal des syphilitischen Primäraffektes, die Verhärtung, Sklerose,
Induration, seines Grundes und seiner Ränder von anderen, nicht-
syphilitischen Lokalaffektionen der Geschlechtsteile täuschend nach-
geahmt werden. Schon v. Embden hat auf das häufige Trügerische
des Symptomes der Induration hingewiesen und betont, dass nicht-
syphilitische Geschwüre sehr leicht nach „reizenden Applikationen" eine
Härte und Verdickung erlangen können-). Aber erst E. Finger
hat in einer sehr gediegenen Arbeit ^'') den Nachweis erbracht, dass
die Induration ein sehr unsicheres Merkmal des S3'philitischen Schankers
sei, da sie in genau derselben Weise bei anderen Geschwüren der
Genitalien vorkommt^).
Zunächst giebt es gewisse Stellen an den Genitalien (und am
übrigen Körper), an welchen geschwürsartige Prozesse stets mit In-
duration einhergehen und auch einfach entzündliche Affektionen eine
auffallende Derbheit zeigen. Solche Stellen sind nach Finger der
Rand des Präputiums, der Sulcus coronarius, besonders die Umgebung
1) H. Zeissl, a. a. O. S. 177.
2) V. Embden, a. a. O. S. 378.
3) E. Finger, „Die Diagnose der syphilitischen Initialsklerose und der lokalen con-
tagiösen Helkose," in: Vierteljahrsschrift für Dermatologie und Syphilis 1885, Bd. XVII,
S. 261 — 273.
4) ,,Es ist uns eine Reihe verschiedener, von der Initialsklerose differenter Prozesse
bekannt, die eine Induration darbieten können, die auch der geübteste Finger von der des
syphilitischen Initialaffektes nicht zu unterscheiden vermag . . . Nichtsyphilitische
Affektionen gesunder, nichtsyphilitischer Individuen können oft eine auf-
fallende Derbheit annehmen, die, wenn noch Ulceration und der Sitz am Genitale
hinzukommen, die Differentialdiagnose vom syphilitischen Initialaffekt wesentlich erschweren
oder unmöglich machen." E. P'inger, a. a. O. S. 261 u. 263.
— 374 —
des Frenulums, das Orificium urethrae; bei Weibern der Rand der
grossen und kleinen Labien; bei beiden Geschlechtern die Mundlippen
und die Interdigitalfalten ^).
Da nun an den erwähnten Stellen der Geschlechtsteile sehr
häufig nichtsyphilitische Geschwürsformen, insbesondere weiche Schanker
und herpetische bezw. balanitische Ulcerationen vorkommen, so ist
denn die Verhärtung derselben ebenfalls ein sehr häufiges Ereignis,
welches nur allzuleicht zur Diagnose eines syphilitischen Primär-
affektes verleitet.
Darüber giebt Finger bemerkenswerte Aufschlüsse: „Auch
anderweitige Ulcerationen , Erosionen und entzündliche Infiltrate
können an diesen Stellen auffallend derbe Basis besitzen. Herpes
progenitalis und Erosionen bei Balanitis im sulcus coronarius sitzen
oft derber Basis auf; wir beobachteten im Laufe der letzten zwei
Jahre einen Patienten, der, ein ziemlich vernachlässigtes Lidividuum,
dreimal mit Balanitis und consekutiver Phimose aufgenommen wurde.
Alle drei Mal war der Margo des Präputiums so derb infiltrirt, dass
man leicht hätte an Indurationen denken können, welche Dia-
gnose übrigens bei dem Patienten von einigen unsere
Klinik besuchenden Fachkollegen in der That gestellt
wurde. Die irrtümliche Diagnose ,, Sklerose" bei weichem .Schanker
im Sulcus coronarius habe ich unzählige Male von sehr tüch-
tigen Spezialisten stellen sehen. Ebenso bietet bei recenter
acuter Urethritis das orificium urethrae oft eine Derbheit dar, die
zur Diagnose „Sclerosis in orificio urethrae" verleitet. Geschwüre
und furunculöse Infiltrate der Mundlippen sind oft so derb, dass sie
insbesondere bei konsekutiver Drüsenschwellung Sklerosen der Mund-
lippen auf das täuschendste simulieren, wie mir einige Fälle aus
meiner Erfahrung bewiesen haben" -).
Das Auftreten der Induration an diesen Prädilektionsstellen er-
klärt sich aus der reichlicheren Vaskularisation derselben und aus
dem Umstände, dass es sich meist um doppelte Infiltrate zweier
Randflächen und Ecken handelt.
Neben der Lokalisation kommen in zweiter Linie traumatische
und chemische Läsionen für die Ausbildung einer Induration in Betracht.
Dass äussere Verletzungen der Genitalien mitunter eine s}'phili-
tische Induration vortäuschen können, lehrt die folgende von Dr.
Alquie erzählte Geschichte^):
1) Ibidem S. 268.
2) Ibidem S. 269 u. 270.
3) Alquie, ,,Ueber die Experimentalinokulation der venerischen Krankheiten," in:
F. J. Behrend, „Syphihdologie," Leipzig 1839, Bd. I, S. 209 u. 210,
— 375 —
j.Bei einem Mittagsmahle fiel die Unterhaltung auf venerisclie Krankheiten und auf
die Ideen der Neueren über diesen Gegenstand. Als wir die Behauptung aussprachen, dass
man sich über die eigentliche Natur der an den Geschlechtsorganen befindlichen Ulcerationen
sehr wohl täuschen könne , und dass eine grosse Anzahl unter ihnen nicht syphilitischer
Natur wäre, erhob sich ein fast allgemeines Geschrei gegen uns, und einer der Gäste,
M. B , meinte sogar, dass man mit etwas Uebung nie irre gehen könne. Vierzehn
Tage waren verflossen, als ein Militär, 38 Jahre alt, der an Krätze und an einer Ver-
wachsung der Vorhaut mit der Eichcikrone, infolge von vor 5 Jahren gehabtem Schanker,
litt, ims bat, die Verwachsung zu lösen, was wir mit einem scharfen Bisturi alsbald ihaten.
Die daiaus entstehende Wunde war sehr einfach, aber die Basis derselben ward drei Tage
nachher der Sitz einer sehr merklichen Verhärtung. Wir gingen deshalb sogleich zu
M. B . . . ., dessen Meinung der unsrigen so sehr entgegengesetzt war, und baten ihn, seinen
Ausspruch über eine zweifelhafte Ulceration abzugeben. ,,Es ist ganz klar," antwortete er,
nachdem er die Teile untersucht hatte, „es ist ein Schanker, der durch Merkurialmittel be-
handelt werden muss''. — ,,Wir müssen Ihnen nur gestehen," sagten wir darauf zu
M. B , ,,dass diese Ulceration nur das Resultat einer kleinen Operation ist, welche
wir vor ungefähr vier Tagen gemacht, inn eine Verwachsung der Vorhaut mit der Eichel
zu lösen." — Nachdem B von seinem Erstaunen zu sich gekommen war, sagte er:
„Da diese Verwachsungen aber die Folge von Schau kergeschwüren waren, so habe ich
mich doch nicht geirrt." — „Diese Schanker," erwiderten wir, „sind schon seit fünf Jahren
geheilt." — ,,Das diut nichts," fügte er hinzu, „ich behaupte dennoch, dass dieser Kranke
am Schanker leidet und einer merkuriellen Behandlung unterworfen werden muss." — Um
zu einer sicheren Ueberzeugung zu gelangen, machten wir darauf die Inokulation der von
diesen Wunden abgesonderten kleinen Quantität Eiter, und weder Schanker noch die ge-
ringste Ulceration war die Folge davon. Natürlich vernarbten die Wunden an der Rute
ebenso rasch wie ganz gewöhnliche "Wunden."
Nicht selten sieht man auch infolge der rituellen Beschnei-
dung- solche pseudosyphilitischen A^erhärtungen am Glied auftreten.
H. und ]\I. V. Zeissl bemerken darüber: „Zu wiederholten Malen
haben wir an Kindern, welche nach orthodox jüdischem Ritus cir-
cumcidiert wurden, in dem zurückg-ebliebenen Teile der Vorhaut und
in der Glans selbst deutlich in ZerfiiU begriffene Indurationen be-
obachten können, wobei die benachbarten Lymphdrüsen hochgradig
hyperplastisch vergrössert und zuweilen in Vereiterung begriffen
waren, ohne dass aber selbst nach längerer Beobchtung der betreffen-
den Kinder konsekutive Syphilis ausgebrochen war. Es scheint uns
somit, dass derartige Indurationen dem rohen Operationsv^ erfahren,
namentlich dem Einreissen des inneren Blattes des Präputiums zuge-
schrieben werden müssen" ^).
Sehr auffallend ist die grosse Aehnlichkeit von Brandwunden
an den Geschlechtsteilen mit indurierten Geschwüren. Diese That-
sache ist selbst den Laien so bekannt, dass sie oft dieselbe benutzen,
um syphilitische Schanker zu simulieren, wie dies besonders von Ge-
l) Prof. Dr. Herrn, v. Zeissl, Grundriss der Pathologie und Therapie der Syphilis.
Zweite Auflage, bearbeitet von Dr. Maximilian v. Zeissl, Stuttgart 1884, S. 140.
— 376 —
fangenen und Militärpflichtigen berichtet wird. Brocq erzählt, dass
einige Rekruten, um v^om Militärdienste befreit zu werden, sich
mittelst heisser Cigarren- und Pfeifenasche Verbrennungen an der
Glans beibrachten. Es bildeten sich danach elevierte, äusserst
derbe Geschwüre, die ganz harten Schankern glichen und auch für
solche so lange gehalten wurden, bis man die wahre Ursache
entdeckte. Manchmal schwoll nun die eine oder die andere Drüse
in der Seite schmerzhaft an ^). Aehnliche Erfahrungen machte
O. V. Petersen 2).
Nicht selten beobachtet man Cig'arrenbrandwunden an den
Genitalien von Prostituierten, die teils durch Fahrlässigkeit entstanden
sind, teils ihnen von sadistischen Liebhabern beigebracht werden und
als typische Primäraffekte imponieren ^).
Auch chemische Aetzungen \'on Excoriationen und Ge-
schwüren der Geschlechtsteile bewirken oft eine typische Induration
solcher Ulcerationen. Oesterlen weist darauf hin, dass gewisse
Caustica und Escharotica auch auf ganz einfachen oberflächlichen
Geschwüren und Excoriationen die Charaktere syphilitischer
Geschwüre erzeugen können ^). Besonders gilt das von den
früher ja fast ausschliesslich bei Genitalgeschwüren angewandten
Quecksilberverbindungen. vSchon Bonorden hob die auffallende Aehn-
lichkeit von Sublimatätzgeschwüren mit dem Hunter'schen Schanker
hervor^). William Acton bemerkt: „Wetui nun aber auch ein pri-
märes syphilitisches Geschwür allerdings eine eigentümliche Physio-
nomie darbietet, so ist doch nicht zu leugnen, dass auch andere Ge-
schwüre, die nicht syphilitisch sind, ganz wie wirkliche Schanker aus-
sehen; man darf nur z. B. etwas »Sublimat zwischen Vorhaut
und Eichel bringen, so wird ein Geschwür entstehen, wel-
ches dem Ansehen nach vom Schanker gar nicht zu unter-
scheiden ist*')". Aehnliche Beobachtungen machten Carmichael,
Desruelles, Robert, Ricord, Bumstead und Bäumler, welche
i) Brocq in: „Annales de Dermatologie et de Sypliiligraphie," 1880, citiert nach
Finger, a. a. O. S. 267.
2) O. V. Petersen, ,, Ulcus molle" in: Archiv für Dermatologie und Syphilis 1895,
Bd. XXX, S. 393 u. 394.
3) Vergl. A. Dron, „Pseudovenerische Läsionen" in: Lyon medical 1900, Nr. 44
(Referat in Monatshefte für prakt. Dermatologie 1901, Bd. XXXIII, S. 241.)
4) Finger, a. a. O. S. 264. •
5) Ibidem S. 263.
6) W. Acton, ,,Ueber die venerischen Krankheiten u. s. w." bei: Behrend,
,,Syphilidologie," Leipzig 1841, Bd. III, S. 520.
— 377 —
alle konstatierten, dass Caustica wie vSublimat, Chromkali, Plumbum
aceticum, Tannin, Alaun, Alkohol Indurationen und indurierte Ge-
schwüre an den Geschlechtsteilen hervorbringen können , die von
syphilitischen nicht zu unterscheiden sind^).
Endlich können einzelne nicht syphilitische Affektionen der
Genitalien das Symptom der Induration darbieten.
Bei Carcinomen- und Epitheliomen hat schon oft das
Eintreten einer Verhärtung zur falschen Diag'nose des harten
vSchankers geführt. Geber berichtet über zwei sehr interessante Fälle,
in denen Epitheliome Initialaffekte vortäuschten -). Noch bemerkens-
werter ist ein von Ihle mitgeteilter Fall, in welchem sog-ar ein Uni-
versitätsprofessor die richtige Diagnose „Carcinom" verwarf,
nachdem dieselbe bereits von Ihle gestellt worden war und den
Krebs für einen harten Schanker erklärte-^)!
Weiche Schankergeschwüre zeigen bei der oben erwähnten
Lokalisation, nach Aetzung, Irritation u. s. w. sehr gewöhnlich eine
typische Induration, so dass sie von Initialsklerosen kaum zu unter-
scheiden sind'').
Am meisten aber wird eine besondere Form des weichen
.Schankers mit dem syphilitischen Primäraffekt verwechselt. Das ist
das sogenannte Ulcus molle folliculare. „(Gelangt nämlich", sagt
Petersen, „das Virus in einen Follikel und bewirkt nicht raschen
Zerfall desselben , so entsteht eine Perifolliculitis und infolgedessen
erhält man das Bild eines kleinen, tiefen Geschwürs, welches von einem
geröteten, härtlichen Ringe umgeben ist, der etwas hervorragt. Der-
artige Fälle bieten leicht die Möglichkeit der Verwechselung mit
Sklerosen, umsomehr, da sie sehr hartnäckig sind und sich lange der
Therapie widersetzen" ^).
Erosionen bei Flerpes und Balanitis können bei Vernach-
lässigung- oft eine knorpelig-e, der syphilitischen täuschend ähnliche
Derbheit aufweisen ^).
i) Finger, a. a. O.. S. 265 u. 266.
2) Geber, ,, Differentialdiagnose zwischen Syphilis und Epitheliom'' in: W"iener med.
Presse, 1871, bei tinger, a. a. O. S. 261.
3) AI. Ihle, ,,Z\vei operativ behandelte Fälle von Carcinom des Penis" in: Monats-
hefte für praktische Dermatologie 1890, Bd. XI, S. 384 — 388.
4) Vergl. die Litteratur über solche Beobachtungen und Täuschungen bei Finger,
a. a. O. .S. 267.
5) O. Petersen, „Ulcus molle" in: Archiv für Dermatologie 1894, Bd. XXIX,
S. 431.
6) P'inger, a. a. O. S. 267.
- 37» -
Auch Akne und T.upus des Penis täuschen unter Umständen
eine Sklerose vor. Ebenso können abscedierende Infarkte der Talg-
drüsen für Primäraffekte gehalten werden.
Periurethrale Infiltrate bei Gonorrhoe, die „Plaque indurative"
des Penis'), l3a-nphang-oitische Prozesse, insbesondere die sog-enannten
„Bubonuli" oder „Nisbeth'schen Schanker", Cavornitis gehen eben-
falls mit Induration einher-).
Nach alledem kr)nnen wir nur dem Resume Finger 's bei-
stimmen, welches das Ergebnis seiner eingehenden Untersuchungen
darstellt :
„Die Induration ist kein absolut pathognomonisches Zeichen des
syphiHtischen Initialaffektes, ihr Vorhandensein ist ebensow^enig ein
sicheres positives, als ihr Fehlen ein sicheres negatives Symptom
ist, d. h. die Induration ist ein unzuverlässiges Symptom"^).
b. Nichtsyphilitische Geschwüre, Abscesse und entzündliche Affektionen
der männlichen und weiblichen Geschlechtsteile.
Erst in neuerer Zeit ist man auf das häufige Vorkommen ein-
facher nichts^'philitischer Geschwüre an den Geschlechtsteilen aufmerk-
sam geworden, die sogar nichts mit den gewöhnlichen weichen
Schankern zu thun haben, trotzdem aber offenbar venerischen Ur-
sprungs sind, d. h. nach einem unreinen Beischlaf aufzutreten pfleg'en.
Diese Geschwüre haben eine sehr mannigfaltige Aetiologie, sind
früher oft mit ähnlichen Affektionen syphilitischer Natur verwechselt
worden und werden gewiss auch heute noch häufig genug damit
verwechselt. Die P'requenz aller dieser leichteren oder
schwereren ulcerativen Prozesse an den (xen Italien ist
eine sehr grosse.
Betrachten wir zunächst jene Geschwüre, Abscesse oder ent-
zündlichen Veränderungen, die infolge oder nach einem Bei-
schlaf bezw. sonstigen geschlechtlichen Manipulationen
auftreten, also im eigentlichen Sinne „venerischer" Natur sind.
Auf rein mechanischem Wege kommen gewisse Kontinuitäts-
trennungen und geschwürige Affektionen der Genitalien beim Ge-
schlechtsverkehr zustande. Ein stürmischer gewaltsamer Coitus, be-
sonders wenn ein membrum permagnum mit Gew^alt in eine enge
i) Vergl. Posner in Monatshefte für prakt. Dermatologie 189g, Bd. XXVIII,
S. 198. Vergl. auch andere Fälle ibid. XXVIII, S. 470—71 u. Bd. XXIII, 1896, S. 83.
2) Vergl. M. Horowitz, ,,Ueber Cavernitis und Lymphangioitis Penis" in: Wiener
medizinische Presse 1900, No. 10, Spalte 438 — 443.
3) Finger, a. a. O. S. 273.
— 379 —
Vagina introduziert wird, führt häufig' zu Abschilferungen, Einrissen,
ja Rupturen der männlichen und weiblichen Geschlechtsteile. Sie
finden sich bei Männern meist am Praeputium und Frenulum ^), bei
Weibern am häufigsten in der Fossa navicularis, dann im Vestibulum,
um die Mündung der Urethra, an den Nymphen und grossen
Labien -). Sie werden fast immer durch sekundäre Infektion ge-
schwürig, nicht selten gangränös und diphtherisch, häufig Sitz von
weichen Schankern. Bei Prostituierten sind diese rein mechanischen
Verletzungen durch den Coitus ausserordentlich häufig. 1887 beob-
achtete Bergh sie bei 135 Individuen.
Seit alten Zeiten bedienen sich bei wilden und civilisierten
Völkern raffinierte Wüstlinge zu eigener und ihrer Partnerinnen Er-
götzung gewisser künstlicher Apparate, welche am männlichen Gliede
befestigt werden und meist mit scharfen Spitzen, rauhen Oberflächen
u. s. w. versehen sind, um in coitu eine stärkere und wollustreichere
Friktion der weiblichen Geschlechtsteile herbeizuführen. Besonderer
Beliebtheit und Verbreitung erfreut sich der sogenannte „Reiz-
condom" (Stachelcondom), ein mit Gummistacheln besetzter gewöhn-
licher Condom, oder ein einfacher, im Sulcus coronarius angelegter
,,R e i z r i n g" von ähnlicher Konstruktion ^).
Einmalige oder wiederholte Anwendung dieser Reizcondome
und Reizringe ruft Exkoriationen in der Vagina hervor^), die durch
immer wiederholte Irritation sich vergrössern , geschwürig werden
und so als venerische Ulcera imponieren können. Dass sie dann
auch leicht die Prädilektionsstelle für das Eindringen des syphili-
tischen Giftes abgeben können, ist klar, wie dies auch eine inter-
essante Beobachtung von Bockhart ^) bezeugt, der eine solche
Infektion nach Benutzung eines Stachelcondoms beschreibt.
Andere Verletzungen und Veränderungen der Genitalien (Ero-
sionen, Wunden, Hypertrophien etc.) entstehen bei Gelegenheit ver-
schiedener perverser Bethätigungen der Libido sexualis, wie z. B.
bei Ausführung der Kohabitation im Stehen*^), durch Cunnilingus
(Saugen, Beissen und Kratzen an den Genitalien '), durch Flagellation
i) E. Lang, „Das venerische Geschwür," Wiesbaden 1887, S. 39.
2) R. Bergh, „Vestre-Hospital i 1887," Kopenhagen 1888, S. 9.
3) Nach Bergh, ,,Veslre-Hospilal i 1897," Kopenliagen 1898, S. 8 erwähnen die
Goncourt in ihren Tagebüchern diese Reizringe als ,,Anneaux de Venus."
4) Ibidem S. 8.
5) M. Bockhart, ,,Ein Fall von hartem Schanker der Vagina/' in: Monatshefte
für praktische Dermatologie 1885, Bd. IV, S. 419.
6) Bergh, „Vestre-Hospital i 1887, S. 12.
7) Bergh, „Vestre-Höspital i 1892," S. 12.
Bloch, ])ei' Ursprung clor Syphilis. 25
— 38o —
und andere sadistische Manipulationen ^), ja sogar bei zoophilen Weibern
durch Hundebiss ! -)
Meist schhessen sich an diese Verletzungen und Erosionen
sekundäre Infektionen mit Eitererregern an. Am häufigsten ge-
schieht dies bei Prostituierten, deren Geschlechtsteile durch den täg-
lichen Verkehr mit zahlreichen Individuen ständig gereizt werden,
so dass etwaige Verletzungen nicht zur Heilung kommen. Die so-
g-enannte „chronische Ulceration der Prostituierten" ist fast
immer nichtsyphilitischer Natur. Es sind dies jene Geschwürs-
bildungen an der Vulva, von denen Fournier, ihren syphilitischen
Charakter bestimmt leugnend, kurz, aber treffend gesagt hat: „Ce
sont des ulcerations et voila tout" ^).
Eingehende Untersuchungen über das chronische Geschwür der
Prostituierten hat Jacobi angestellt*). Der Lieblingssitz der Ulcera-
tion ist die Gegend des Orificium urethrae und die Commissura
posterior. Das Geschwür hat eine grosse Aehnlichkeit mit dem ty-
pischen Ulcus molle, unterscheidet sich aber von demselben durch
den harten , oft elephantiastischen Untergrund , weniger scharf ge-
schnittene Ränder und die Unmöglichkeit der Verimpfung. Die
Grösse der Ulcera ist verschieden; in manchen Fällen sind „das
Orificium urethrae, der Introitus vaginae und die kleinen Scham-
lippen , zuweilen auch der Anus durch polypöse , elephantiastische
Wucherungen, zwischen denen Pissuren, Erosionen und tiefe, schmierig
belegte Geschwüre sich finden, zerklüftet und zerrissen. Die wulstigen,
sehr derben Partien füllen bisweilen die ganze Vulva aus, so dass es
fast unmöglich ist, sich in diesem Chaos zu orientieren."
Für die Aetiologie der hier geschilderten chronischen Verände-
rungen kommen hauptsächlich die oben erwähnten mechanischen
Momente in Betracht. Nach Jacobi liefert für die Geschwürsbildung
meist das Ulcus molle (sehr selten der Primäraffekt), dessen Narbe
durch den häufigen Coitus immer wieder aufgerissen wird, den Aus-
gangspunkt, wozu sich durch Behinderung des Lymph- und Venen-
i) Derselbe S. 12 und in den anderen Jahresberichten.
2) Vestre-Hospital i 1900, S. 11.
3) Vergl. Tb. Landau, ,,Zur Kasuistik der chronischen Ulcerationen an der
Vulva,'' in: Archiv für Gynäkologie, Bd. XXXIII, H. i (nach Monatshefte für praktische
Dermatologie 1888, Bd. VII, S. 1270).
4) E. Jacobi, ,,Ueber die sogenannte gonorrhoische Vulvitis imd über chronische
Ulcerationen an den Genitalien Prostituierter," in: Verhandlungen der Dermatolog. Gesell-
schaft, Wien 1889, S. 193 — 199. — Auch die ,,kraterförmigen, erosiven Geschwüre der
Vulva und Vagina von unerklärlicher Aetiologie", die F'ritsch (,, Krankheiten der
Frauen", 10. Aufl., Leipzig 1901, S. 55) beobachtete, gehören wohl hierher.
- 38i -
blutstromes infolge von Bubonennarben , der bei Prostituierten so
häufigen habituellen Verstopfung und der ständigen mechanischen
Insulte elephantiastische A^eränderungen gesellen. Jacobi schliesst
bei der absoluten Erfolglosigkeit der antiluetischen The-
rapie eine Beteiligung der Syphilis aus^).
Ebenso konnte Landau in der oben erwähnten Abhandlung
Syphilis als ätiologisches Moment der „chronischen Ulceration" der
Vulva ausschliessen '-).
Den erwähnten Zustand der Genitalien der mit chronischen
Ulcerationen behafteten Prostituierten hat bereits Venot in der folgen-
den klassischen Weise geschildert:
,,11 est donc une categorie nombreuse de femmes publiques portant aux parties geni-
tales l'indelebile stigmate de leur ignoble existence, restes impuissants d'un mal incurable, ou
resultats d'efforts, de labeurs inherents ä leur perilleuse Industrie. Vieilles ou jeunes, mais
egalemeut decrepites, ces malheureuses s'offrent ä la visite avec des lesions qu'au premier
coup d'oeil on est tente de regarder corame dangereuses. Les unes sont affectees d'ulce-
rations vastes, sinueuses, frangees, veritables esthiomenes aux anfractuosites sans fond, sans
issue. — D'autres, ä ces incroyables Solutions de continuite, joignent d'anorniales hyper-
trophies des grandes et des pelits levres; des caroncules myrtiformes dilacerees ou grossies
hors mesure; des boursoufflures du meat urinaire; des decoupures en gouttiere de la four-
chette, sortes de rail-way du plancher vaginal, qu'aucun inodule ne parvient jamais ä cica-
triser. — II en est encore dont l'epaisseur de la vulve contient d'antiques clapiers, absces
eternels et rebelles ä toutes les combinaisons de l'arl; sources purulentes, lubrefiant depuis
plusieurs annees les surfaces oü s'ouvrent leur pertuis fistuleux. — Chez certaines, la resi-
stance du tissu a limite les desordres; aussi n'ont-elles que des rougeurs insolites, des
eraillures de l'epithelium, des excroissances charnues. — Mais quand la friabiüte des parties
tient aux fatigues d'un coit exagere, aux manoeu\Tes imprudentes de la parturition, aux
mille excentricites de la debauche, alors, et les circonstances du lymphatisme aidant, il se
produit des monstruosites semblables ä celles reiatees plus haut, voire meme des fistules
•recto-vaginales , infirmites repoussantes dont le cadre de la prostitution bordelaise possede
deux ou trois specimens." ^)
i) Jacobi, a. a. O. S. 198.
2) Wenn daher Bandler neuerdings, sich stützend auf die Häufigkeit der Syphilis
bei Prostituierten, dieselbe als hauptsächliche Ursache der geschilderten Veränderungen an-
spricht (V. Bandler, ,,Zur Kenntnis der elephantiastischen und ulcerativen Veränderungen
des äusseren Genitales und Rectunis bei Prostituierten," in: Archiv für Dermatologie und
Syphilis 1899, Bd. XLVIII, S. 337—348), so ist diese Schlussfolgerung des „post hoc
ergo propter hoc" ungerechtfertigt, da man dieselben Veränderungen bei Prostituierten
beobachtet, die der Lues entgangen sind und die letztere doch höchstens eine besonders
prädisponierende Rolle spielen könnte, indem jene elephantiastisch -ulcerativen Veränderungen
mit den häufigen Insulten der Geschlechtsteile in Zusammenhang stehen. Auch Herr Professor
G. Behrend, der neben Bergh über diesen Punkt gegenwärtig wohl die grösste Erfahrung
besitzt, hat mir das häufige Vorkommen nichtsyphilitischer elephantiaslischer und
ulcerativer Veränderungen bei Prostituierten bestätigt.
3) J. B. Venot, ,,De la pseudo-syphilis chez les prostituees," Bordeaux 1859,
S. 14-15.
9*
- 382 -
Alle diese auffälligen Veränderung-en entstehen durch eine Kom-
bination von mechanischen Insulten, Verletzungen, Einrissen mit nach-
folgender sekundärer nichtsyphilitischer Infektion (Streptokokken,
Staphylokokken, Streptobacillus ulceris mollis Unna, Gonococcus,
Tuberkelbacillus u. a.;, wozu dann als drittes ätiologisches Moment,
die eine Hypertrophie der Geschlechtsteile begünstigenden, Störungen
der Lymph- und Blutcirkulation der Beckenregion sich gesellen.
Es ist ja in letzterer Hinsicht bekannt, dass schon allein perverse
Praktiken, wie z. B. das Saugen und Lecken der weiblichen Genitalien
(Cunnilingus, Sapphismus) eine Hypertrophie der betreffen-den Partien
herbeiführen ( M a r t i n e a u ) ^).
Wichtiger als die aus ursprünglich mechanischen Einwirkungen
beim sexuellen Verkehr hervorgehenden Affektionen der Geschlechts-
teile sind die ohne solche vorherige Verletzungen auftretenden krank-
haften Veränderungen der Genitalien infolg'e oder nach einem Bei-
schlafe bezw. sonstiger geschlechtlichen Berührung.
Dabei müssen wir auch in dieser Rubrik jene Genitalleiien auf-
führen, welche sich häufig nach dem Coitus zeigen, ohne bisher in
einen direkten ätiologischen Zusammenhang mit demselben gebracht
werden zu können, wie z. B. den Genitalherpes, der sehr häufig im
Anschlüsse an einen Coitus erscheint bezw. recidiviert. Ueberhaupt
sind von jeher manche Genitalaffektionen auf einen unreinen Bei-
schlaf zurückgeführt worden, ohne dass sie mit diesem etwas zu thun
hatten, w^ährend andererseits die Venus impura in Gestalt verschiedener
nichtsyphilitischer Infektionserreger an den Genitalien krankhafte Ver-
änderungen hervorruft.
Unter diesen seien zunächst die sogenannten einfachen
Genitalgesch würe (Ulcus genitale simplex) erwähnt.
Jedem Dermatologen und allgemeinen Praktiker in der Gross-
stadt wird es aufgefallen sein, dass neben den „syphilitischen" und
„venerischen" Geschwüren (Ulcus durum et Ulcus molle) relativ häufig
kleine, oberflächliche Geschwüre an den Geschlechtsteilen nach einem
unreinen Coitus auftreten, die weder durch die ebenerwähnten Er-
reger der Syphilis und des weichen Schankers hervorgerufen werden,
noch auch mit einem Herpes oder einer Balanitis zusammenhängen,
indem sie die gruppenförmige Anordnung und polycyklische Form
der herpetischen Geschwüre vermissen lassen und eine Balanitis in
l) Vergl. auch G. B. Moraglia, „Neue Forschungen auf dem Gebiete der Krimi
nalistik, Prostitution und Psychopathie." Berlin 1897, S. 41.
— 3«3 -
den meisten Fällen fehlt. Vielmehr scheinen diese „einfachen Genital-
g'eschwüre" durch beim Coitus übertragene p}'ogene Mikroorganismen
hervorgerufen zu werden und stellen demgemäss eine eigenartige
Form der venerischen Ansteckung dar.
Es sind kleine, oberflächliche, scharf abgegrenzte Geschwüre,
mit nicht unbedeutender eitriger Absonderung, die auffallend schnell
unter der Anwendung indifferenter Streupulver heilen und seltener
als die Ulcera mollia von Komplikationen (fkibo) begleitet werden.
Buschke, der mit zuerst auf diese häufigen emfachen Genital-
geschwüre hinwies 1), bemerkt: „Wir müssen die Bezeichnung Ulcus
molle reservieren für ein Geschwür, dass dem Ducrey' sehen Bacillus
seine Entstehung verdankt und ihm gegenüberstellen ein Ulcus
simplex, unter welcher Bezeichnung die vielen einfachen geschwürigen
Prozesse an den Genitalien zusammengefasst werden, die unter
anderem auch beim Coitus entstehen und gewöhnlichen pyogenen
Mikroben ihre Entstehung verdanken."
Buschke zählt zu den Ursachen dieser einfachen Geschwüre
ausser Coitus auch Traumen , Balanitis u. s. w. , worin ich von ihm
abweiche, indem, wie ich schon früher berichtete 2), diese einfachen
Genitalgeschwüre ihre direkte Ursache in einem unreinen Coitus haben,
während ausgedehntere balanitische oder herpetische Prozesse an den
Genitalien fehlen , also das Geschwür auf scheinbar ganz intakter
Haut sich entwickelt, wie beim harten und weichen Schanker, von
welchen es aber toto coelo verschieden ist.
Diese Beobachtung von dem Ulcus molle ähnlichen, aber in
ihrem Verlaufe von demselben verschiedenen Geschwürsbildungen
an den Genitalien mag wohl Finger 's bekannte Theorie veranlasst
haben, dass überhaupt die verschiedenen Eitererreger einen
„weichen Schanker" erzeugen könnten. Die Ursache dieses Irr-
tums ist die fälschliche Identifizierung des Ulcus simplex mit dem
Ulcus molle.
Unzweifelhaft die wichtigste aller pseudosyphilitischen Geschwürs-
formen an den Genitalien ist das sogenannte venerische Ge-
schwür, der weiche Schanker (Ulcus molle), welche Affektion
wohl am häufigsten mit einem syphilitischen Primäraffekt verwechselt
wird. Denn die Multiplicität des venerischen Geschwüres ist durch-
aus nicht immer vorhanden, dagegen eine „Induration" oft deutlich
ausgeprägt, wie bereits oben auseinandergesetzt wurde. Besonders
1) A. Buschke, „Ueber die Pathogenese des weichen Schankers und der venerisclien
Bubonen" in: Verhandlungen des V. Deutschen Dermatologenkongresses 1896.
2) J. Bloch, „Einige Mitteilungen aus der dermatologischen Praxis" in: Allgemeine
medizin. Centralzeitung, 1898, No. 99.
- 384 -
chronisch verlaufende venerische Helkosen können oft g'anz den
Charakter eines harten Schankergeschwüres annehmen , so dass man
in solchen Fällen aus der blossen klinischen Beobachtung keine ent-
scheidende Diagnose stellen kann, sondern die Autoinokulation und
die bakteriologische Untersuchung zu Hülfe nehmen muss.
Unter unseren modernen antiseptischen Behandlungsmethoden
des weichen Schankers sind die phagedänischen Formen desselben
sehr viel seltener geworden, die, wie auch O. Petersen in seiner
klassischen Monographie über das Ulcus molle betont, in früheren
Zeiten viel häufiger vorkamen ^).
Zwei besondere Formen des Ulcus molle sind am leichtesten
mit syphilitischen Affektionen zu verwechseln, nämlich der sogenannte
FoUikularschanker, dessen bereits oben gedacht wurde, und das
Ulcus molle elevatum oder der einfache papulöse Schanker.
Letzterer entsteht durch das Emporschiessen üppiger Granulations-
wucherungen vom Grunde des Geschwürs, so dass ein Gebilde ent-
steht, welches, wie Lebert mit Recht hervorhebt, „eine solche Aehn-
lichkeit mit den Condylomen annehmen kann, dass sie miteinander
leicht verwechselt werden" ^). Sitzt der papulöse Schanker in der
Regio analis, so sehen jene breiten, erhabenen Wucherungen dem
breiten Condylom täuschend ähnlich.
Die Balanitis (Balano-Posthitis) entsteht zwar in vielen
Fällen ohne direkten Zusammenhang mit einem Beischlaf, es giebt
aber eine bestimmte Form der Balanitis, welche häufig post coitum
auftritt und daher wohl auf eine Infektion zurückzuführen ist. Das
ist die Balanitis follicularis. Sie besteht „in dem Erscheinen röt-
licher Knoten, seltener weisslicher Bläschen, nach deren Platzen ein
scharf randiger Substanz verlust des Epitheliums übrig bleibt" ^). Diese
follikulären balanitischen Abscesse im unmittelbaren Anschlüsse an
einen Coitus, meist cum puella publica, beruhen höchstwahrscheinlich
auf einer Infektion mit pyogenen Mikroorganismen. ■^)
i) O. Petersen, ,, Ulcus molle" in: Archiv für Dennatologie und Syphilis 1895,
Bd. XXX, S. 395.
2) H. Lebert, „Handbuch der praktischen Medizin," 3. Aufl. Tübingen 1863,
Bd. I, S. 374. Vergl. auch O. Baude, ,, Beitrag zum Studium des einfachen Schankers.
Einfacher papulöser Schanker.'' These de Lille 1887.
3) Englisch, Artikel ,, Penis" in Eulenburg's ,,Real-Encyclopädie der gesamten
Heilkunde," 3. Auflage, Berlin-Wien 1898, Bd. XVIII, S. 382.
4) Auf eine solche Infektion, freilich nicht durch Coitus, deutet auch folgende
Beobachtung G e i g e 1 s : „Eine sehr merkAvürdige Form von Balanitis, nämlich die
folliculär abscedierende, habe ich nur ein einziges Mal nach artificieller Durch-
schneidung des von Natur kurzen Frenulums bei einem jungen, gesunden Manne beob-
- 385 -
Aehnlich wie die Balanitis follicularis tritt auch der Herpes
genitalis, vorzüglich der Männer, fast ausschliesslich nach einem
Beischlafe auf. Alle Fälle von Herpes genitalis des männlichen
Gliedes, die ich beobachtet habe, wurden von den betreffenden
Patienten direkt auf einen Coitus zurückgeführt.
Auch G ei gel nennt den Herpes praeputialis et glandis eine
„bei vielen Männern häufig und vorzüglich nach dem Coitus auf-
tretende" Affektion ^); ebenso nimmt Michaelis den Coitus als
hauptsächliche Ursache des Herpes genitalis an, welcher als „Folge
der Reibung- bei Missverhältnis der Geschlechtsteile" aufzufassen sei -).
Handelt es sich dabei um eine Infektion ?
Die Anschauungen über die Aetiologie des Herpes genitalis
sind sehr verschieden und noch keineswegs geklärt.
Nach Diday und Doyon geht dem Genitalherpes stets eine
venerische Erkrankung voraus und zwar meist ein Ulcus moUe.
Unna hat diesen Zusammenhüng bestritten , da verheiratete
Frauen trotz Lues oder Ulcus molle selten an Herpes genitalis er-
kranken , welcher vielmehr mit Vorliebe die öffentlichen Mädchen
heimsucht. Bei den Frauen scheinen Menstruation, Gravidität, Puer-
perium mehr in Betracht zu kommen ^^). Neisser beobachtete einen
Fall von Herpes am Finger an einer Stelle, wo eine syphilitische
Initialsklerose bestanden hatte ^). Danach scheint es, als ob die vene-
rischen Geschwüre eine Prädisposition für Herpes schaffen. Epstein
fasst daher den Herpes genitalis als eine traumatische Herpes-
form auf, wofür auch die häufige Doppelseitigkeit der Affektion bei
Männern spreche, die sich nur durch eine traumatische Ursache er-
klären lässt°).
achtet, wo unter heftigen Fiebererscheinungen und sympathischer Anschwellung der Leisten-
drüsen auf der geschwollenen, hochrotglänzenden Eichel 20 — 30 kleinerbsengrosse, hellgelbe,
prominierende Follicularabscesse in disseminierter Anordnung erschienen, welche zum Teil so
tief in das Parenchym reichten, dass nach ihrer Entleerung drei oder vier Perforationen der
Urethra entstanden, so dass beim Urinieren der Harn radiär in feinen Strahlen wie aus einer
Giesskanne ausströmte. Doch schlössen sich diese Urinfisteln und alles kehrte zum nor-
malen Zustande zurück." A. Geigel, ,, Geschichte, Pathologie und Therapie der Syphi-
lis," Würzburg 1867, S. 97.
i) Geigel, a. a. O. S. 137.
2) A. C.J. Michaiis, „Kompendium der Lehre von der Syphilis,'' Wien 1859, S. 141.
3) Unna, ,,0n Herpes progenitalis, especially in woman" im Journal of cutaneous
and venereal diseases, 1883, Bd. I, S. 321 — 335, citiert nach Ernst Epstein, ,,Ueber
Zoster und Herpes facialis und genitalis" in : Vierteljahrsschrift für Dermatologie und Syphilis
1886, Bd. XVHL S. 796 — 797.
4) Ibidem S. 799.
5) „Wenn von einer Wunde der Genitalien aus eine Entzündung oder wenigstens
- 386 -
Von grossem Interesse sind die Aeusserungen des erfahrenen
Bergh über die Aetiologie des Herpes genitalis bei Männern. Wie
Fournier und Hallopeau beobachtete auch er einige Male die
Affektion bei „sexuell oder wenigstens venerisch intakten'' Knaben
und ganz jungen Individuen ohne venerische Antecedentien. Ferner
sah er, wie Schwimmer, den Ausbruch von Herpes progenitalis, bei
jugendlichen Onanisten kurz nach schnell wiederholten Masturbationen.
Nach Bergh ist der genitale Herpes bei Ehemännern selten, so lange
sie „auf eigenem Gebiete treu verharren", dagegen kommt er häufiger
vor bei Männern, die ihre „losen Verbindungen häufig variieren" und
dadurch eine gewisse „sexuelle nervöse Irritabilität" fortdauernd unter-
halten, weshalb bei dem „grossen und mächtigen Refrigerans, dem
Alter, der Herpes vollständig verschwindet". Bergh fasst seine
Beobachtungen dahin zusammen, dass in der Aetiologie des genitalen
Herpes Neurasthenie und Sensualität eine grössere Rolle spielen
als vorausgegangene venerische Ansteckung und „Herpetismus" ^).
Auch Jaquet erblickt die Ursache des Herpes in der „heftigen
Erregung nervenreicher Körperenden, die eine vielseitige dynamische
Erschütterung hervorruft" ^).
Demgegenüber muss hervorgehoben werden, dass blosse Neu-
rasthenie und Variation der geschlechtlichen Beziehungen nicht aus-
reichen , um das Zustandekommen des genitalen Herpes zu erklären,
worauf schon Bergh's Beobachtung von dem häufigeren Vor-
kommen der Affektion bei mit puellis publicis verkehrenden Männern
hindeutet, sowie die ebenso unzweifelhafte traumatische Entstehung
des Herpes.
Es scheint, dass bei vorhandener nervöser Erregbarkeit doch
noch gewisse direkte Schädlichkeiten hinzukommen müssen, um
Herpes hervorzurufen. Welcher Natur diese Noxe sei, lässt sich
ein länger anhaltender Reizzustand der in derselben mitgetroffenen Nervenästchen angefacht
wird, so wird es selbstverständlich nur von der Lage der Wunde abhängen, ob die Nerven
nur auf einer oder auf beiden Seiten hineingezogen werden in jenen Reizzusland, ob also
auch der Herpes ein- oder doppelseitig auftreten wird. Beim Manne, wo für die Hautdecke
der äusseren Genitalien die Mittellinie nur mehr geometrische Bedeutimg hat, wird also
ebenso wenig wie das Ulcus molle auch der Herpes die Medianlinie zu respektieren brauchen.
Anders beim Weibe; hier stellt die Mittellinie noch eine wirkliche Grenze dar, die nur an
einigen Punkten, wie Praeputium clitoridis, Damm, überschritten werden kann." Epstein,
a. a. O. S. 800, nach Unna, der zuerst auf diese Verhältnisse hingewiesen hat.
1) R. Bergh, ,,Ueber Herpes menstrualis'". in: „Monatshefte für prakt. Dermatologie
1890, Bd. X, S. 10 — II.
2) L. Jacquet, ,, Beitrag zur Pathogenese des Herpes vulgaris'' in: Festschrift für
Kaposi, Wien 1901 (Referat in Monatshefte für prakt. Dermatologie 1902, Bd. XXXIV,
No. 9, S. 467).
- 387 -
nicht mit Bestimmtheit eruieren, aber es ist zweifellos, dass thatsäch-
lich der geschlechtliche Verkehr als eine weitere Ursache des
genitalen Herpes angesprochen werden muss.
Gau eher betrachtet als Ursachen des Herpes progenitalis des
Mannes den Coitus, besonders mit einer bereits an Herpes der Ge-
schlechtsteile leidenden Frau, ferner Excesse beim Coitus, Absonde-
rungen blennorrhoischer und schankröser Natur der weiblichen Geni-
talien, Leukorrhoe. Oft kommt er in den Flitterwochen vor i).
Ebenso beobachtete Basedow das häufige Auftreten des
Herpes nach einem Coitus, besonders mit einer an Fluor albus
leidenden Frau ^).
In einem Falle von Le Für trat Herpes genitalis fast unmittel-
bar nach dem Beischlafe mit einer an Herpes menstrualis leidenden
Frau auf, dazu gesellte sich noch eine Urethritis herpetica ■'').
Es scheint also, dass während des Coitus ein infektiöses Agens
eindringt und die betreffenden Xerven reizt. Für solche direkten
toxischen Einflüsse spricht auch das Vorkommen von Herpes geni-
talis bei Infektionskrankheiten, wie z. B. bei lyphus^j. Nach
Fuchs wird die Affektion häufig durch alimentäre Schädhchkeiten
erzeugt. Er sah sie oft bei jungen Leuten, die an Verdauungsstörungen
litten '">). Auch dies deutet auf einen direkten toxischen Einfluss auf
das Nervengebiet hin, innerhalb dessen der genitale Herpes auftritt.
In ähnlicher Weise müssen wir uns das Zustandekommen des Herpes
nach einem Beischlafe denken, durch welchen das Eindringen einer
infektiösen Noxe vermittelt wird.
Jedenfalls ist der zeitliche Zusammenhang des Herpes pro-
genitalis mit dem geschlechthchen Verkehr so oft und von so vielen
zuverlässigen Beobachtern konstatiert vrorden, dass er in diesem
Sinne zu den „venerischen" Krankheiten gezählt werden muss. Es
ist ferner unzweifelhaft, dass die Aerzte des Altertums und Mittel-
alters die herpetischen Geschwüre der Genitahen mit einem unreinen
Beischlaf in Zusammenhang brachten.
1) M. Gaucher, ,,Ueber Herpes genitalis" in: Independance medicale 1899, p. 281
(Referat in Monatshefte für prakt. Dermatologie 1900, Bd. XXX, S. 184 — 185).
2) Basedow, ,,Ueber den Vorhaut-Herpes" in: Journal der Chirurgie und Augen-
heilkunde von V. Gräfe und v. Walther 1825, Bd. VIII, S. 612.
3) R. Le Für in: Annales des maladies des organes genito-urinaires 1897, No. 9
(Referat in Monatshefte für prakt. Dermatologie 1898, Bd. XXVI, S. 43).
4) H. W. Webber, ..Herpes der glans penis bei Typhus" in: British medical
Journal vom 18. Mai 1895 (Referat in Älonatshefte für praktische Dermatologie 1896,
Bd. XXII, S. 381).
5) C. H. Fuchs, „Die krankhaften Veränderungen der Haut," Göttingen 1840,
S. 154.
- 388 -
Eine Verwechselung des Herpes genitalis mit syphilitischen
Affektionen ist durchaus nicht selten. Die typischen Herpesbläschen
in gruppenförmiger Anordnung machen zwar die Diagnose unzweifel-
haft, sind indessen durchaus nicht immer vorhanden, da sie rasch zu
relativ tiefen Excoriationen ^) verschmelzen können. Die nicht seltene
Komplikation mit einer eitrigen Balanitis steigert noch die Schwierig-
keit der Diagnose 2)..
Nach Köbner wird der Herpes genitalis der Weiber noch
häufiger mit syphilitischen Affektionen verwechselt als derjenige
der Männer. Bei beiden Geschlechtern wird er sehr oft mit weichen
Schankern verwechselt; der Herpes des Collum uteri imponiert sehr
leicht als Plaque muqueuse ^).
Basedow berichtet die traurig-ergötzliche Geschichte eines an
einem recidivierenden Herpesgeschwüre des Präputiums leidenden
Patienten, der ihm in betreff der Diagnose „Herpes" nicht Glauben
schenken wollte und von anderen Aerzten, darunter sogar einem Pro-
fessor in Halle, auf Lues kuriert wurde. „In einzelnen Fällen", be-
merkt Basedow weiter, „bekommen die Herpesgeschwüre auch Ge-
schwulst unter sich, sie ahmen dann der venerischen Pustel um so
mehr nach, indem sie mehr in die Tiefe gegangen zu sein scheinen.
Es tritt dieselbe durch Reibung beim Gehen, durch zu grosse Em-
pfindlichkeit der Teile ein, ist aber häufig das Produkt einer falschen
Behandlung" "*).
In unzweifelhaftem direkten Zusammenhange mit dem Geschlechts-
verkehr entwickeln sich pseudosyphilitische Affektionen gonorrhoi-
scher Natur an den Geschlechtsteilen des Mannes und Weibes.
Beim Mann können besonders die peri- und paraurethralen
gonorrhoischen Affektionen zur Bildung von Abscessen und Ge-
schwüren des Gliedes führen. Noch häufiger werden bartholini-
tische Abscesse beim Weibe mit s)'philitischen Affektionen ver-
wechselt, indem sich infolge von Bartholinitis oft Geschwüre mit
völlig schankrösem Aussehen entwickeln^).
i) Das Vorkommen sehr tiefer Excorationen beim Herpes der weibliclien Genitalien
betont besonders Paul Zweifel, „Die Krankheiten der äusseren weiblichen Genitalien,"
Stuttgart 1885, S. 53—54-
2) Vergl. O. Petersen, a. a, O. S. 390.
3) H. Köbner, „Ueber Pemphigus vegetans, nebst diagnostischen Bemerkungen
über die anderen mit Syphilis verwechselten blasenbildenden Krankheiten der Schleimhäute
und der äusseren Haut" in: Deutsches Archiv für klinische Medizin, Leipzig 1894,
Bd. LIII, S. 62.
4) Basedow, ., Etwas über den Vorhaut-Herpes," a. a. O. S. 610, 612 — 13.
5) Vergl. R, Bergh, ,, Beitrag zur Kenntnis der Entzündung der Glandula vesti-
bularis major" in: Monatshefte für praktische Dermatologie, Bd. XXI, 1895, S. 378 und
Nicht selten schliesst sich an einen Tripper eine Lymphangitis
suppurativa an ^).
Durch den Beischlaf wird auch häufig' die Scabies auf die
Geschlechtsteile übertragen. „An der Penishaut lokalisierte Scabies-
eruptionen werden nicht selten , namentlich von den Kranken selbst,
für venerische Affektionen gehalten und können in der That syphi-
litischen Papeln oder, wenn es unter den Borken zu Ver-
schwärung gekommen ist, weichen Schankergeschvvüren ähnlich
sehen" ").
Chr. F. Paulini's Beobachtung 2), dass „einem avisschweifenden
Manne das männliche Glied von Filzläusen zernagt und zerfressen
wurde", dürfte mit Recht in Zweifel gezogen werden, w^enngleich
nicht bestritten werden soll, dass, besonders bei Weibern, an den
Genitalien bei Pediculosis sekundär durch Kratzen Excoriationen
und Geschwüre entstehen können.
Höchst bemerkenswert ist Audry's Beobachtung einer Impe-
tigo herpetiformis der Eichel unmittelbar nach einem Coitus.
Der Patient bemerkte bald nach dem Beischlafe, dass sich auf dem
inneren Vorhautblatte zwei bis drei Vesicopusteln gebildet hatten.
Bald bedeckte sich die Eichel mit Pusteln, die zusammenflössen und
eine grosse eitrige Fläche bildeten , in ihrer Anordnung aber das
typische Bild der Impetigo herpetiformis erkennen Hessen ^).
Mit der Aufzählung dieser im Anschluss an einen Beischlaf
auftretenden Affektionen der Geschlechtsteile ist die Zahl derselben
gewiss nicht erschöpft. Jeder Arzt, der hierauf seine Aufmerksam-
keit gerichtet hat, dürfte sich solcher Fälle erinnern, wo für gewöhn-
lich nicht als „venerisch" betrachtete krankhafte Veränderungen der
Genitalien im Zusammenhange mit dem Geschlechtsverkehre auftraten.
Ich erinnere z. B. nur an die unzweifelhafte Beobachtung eines
Carcinoma penis bei Männern , die mit ihrer an Krebs der Portio
leidenden Frau fortdauernd in geschlechtlichem Verkehr gestanden
hatten, so dass es hier in der That nahe liegt, an eine direkte In-
fektion und Uebertragung des Leidens durch den Beischlaf zu
denken.
Nivet, ,,Ulceration consecutive ä un absces de la glande de Bartholin simulant un chancre
simple" in: Annales de Dermatologie 1886, 2e serie, T. VIII, p. 423 — 424.
i) Vergl. Billard in: Monatshefte für prakt. Dermatologie 1897, Bd. XXV, S. 4.
2) J. H. Rille, „Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten," Jena 1902,
S. 168.
3) Bei Chr. Gir tanner, „Abhandlung über die venerische Krankheit", Göttingen
1789, Bd. II, S. 340.
4) Vgl. Monatshefte für prakt. Dermatologie 1898, Bd. XXVII, S. 410.
— 39f> —
Wenn wir uns nun zu der Gruppe der mit Geschwürsbildung
und Entzündung einhergehenden Genitalaffektionen wenden, die nicht
in einem direkten Zusammenhange mit dem Geschlechtsverkehr stehen,
so können wir die dahingehörenden pseudosyphilitischen Affektionen
unterscheiden in solche, die auf mechanischem Wege Zustandekommen,
die spontan auftreten bezw. auf Infektion ausserhalb des Coitus be-
ruhen, und die im Gefolge von Allgemeinleiden erscheinen.
Was die durch mechanische Insulte entstandenen Genitalaffek-
tionen betrifft, kommen hier besonders die Excoriationen und
Erosionen nach Kratzen bei juckenden Affektionen, insbesondere
Pruritus vulvae, in Betracht. Aus den von Bergh in seinen ver-
schiedenen Jahresberichten (vergl. insbesondere Jahrgang 1887 S. 8
und 1S88 S. 7) aufgestellten Tabellen erhellt das überaus häufige
Vorkommen der verschiedensten Excoriationen rein mechanischen
Ursprungs an allen Teilen der weiblichen Genitalien, meist an mehreren
Stellen zugleich. Anhaltendes Reiben und Kratzen infolge von Pru-
ritus pudendorum ^) oder als onanistische Procedur ^) vermag sogar
Geschwüre der Genitalien zu erzeugen.
Unter den spontan bezw. durch Infektion ausserhalb des Coitus
auftretenden entzündlichen und geschwürigen Affektionen der Geni-
talien seien zunächst die aphthösen Geschwüre der weiblichen
Geschlechtsteile erwähnt, über w'elche neuerdings Isidor Neu-
mann eingehender berichtet hat^).
Neumann betont die grosse Wichtigkeit dieser Affektion im
Hinblick auf ihre Verwechselung mit venerischen und syphilitischen
Geschwüren. Er beobachtete in den letzten Jahren neun Fälle, in
denen es zu tiefgreifenden und ausgedehnten Ulcerationen kam.
Meist erstrecken sich die Aphthen von der Vulva bis zum After.
Am häufigsten sah Neumann das Auftreten der Affektion intra
partum. Schon v. Embden^) hatte auf die prädisponierende Rolle
der Gravidität hinge.wiesen. Nach Neu mann ist die Differential-
diagnose zwischen aphthösen und syphilitischen Geschwüren oft
schwierig.
In gerichtsärztlicher Beziehung ist es von Wichtigkeit, dass bei
IG bis 12 jährigen Mädchen nach allgemeinen Infektionskrankheiten
1) V. Embden, a. a. O. S. 382.
2) Beobachtung Sollier's bei v. Schrenpk- Notzing, „Die Suggestionstherapie bei
krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinns," Stuttgart 1892, S. 7.
3) J. Xeumann, „Die Aphthen am weibHchen Genitale" in: "Wiener klinische
Rundschau 1895, ^'o- ^9-
4j V. Embden, a. a. O. S. 382.
— 391 —
(Keuchhusten, Scharlach, Diphtheritis) aphthöse Auflagerung"en auf
der Vulva sich einstellen, die rundliche Geschwüre bilden, welche mit
einem grauen , pulpösen Eiter bedeckt sind. Diese Ulcerationen
können sich durch die ganze Vulva, auf das Perineum und den Anus
ausbreiten und sogar Kontinuitätstrennungen des Hymen zur
P'olge haben ^).
Auch Soor des weiblichen Genitale ist beobachtet worden -) ;
ebenso verdient die Leukoplakia oder Leukokeratosis vulvo-
vaginalis nur eine beiläufige Erwähnung^).
Hieran schliessen sich zweckmässig die mannigfaltigen gan-
gränösen Prozesse an den männlichen und weiblichen Genitalien
(Gangraena, Xoma, Diphtherie, Erysipelas), die durchaus nicht zu den
seltenen Vorkommnissen gehören und, wie wir aus einem weiter
unten erwähnten von Wilde mitgeteilten Falle ersehen werden, eben-
falls ein erhebliches forensisches Interesse darbieten.
Ueber eine eigentümliche Epidemie von akuter infektiöser
Gangrän der weiblichen Geschlechtsteile berichtete der dä-
nische Arzt Otto^): „Das Uebel besteht in einer Anschwellung der
weiblichen Geschlechtsteile, die aber bisweilen mit Geschwüren
eigentümlicher Xatur verbunden ist. Diese Geschwüre, die einen
speckartigen Boden und erhabene Ränder haben , fangen mit einer
Excoriation an und besitzen dann ein syphilitisches Aus-
sehen; sie breiten sich mit einer ausserordentlichen Schnelligkeit
nach den benachbarten Teilen aus und können schon binnen 24 Stun-
den in einen tötlichen kalten Brand übergehen". Es hing diese con-
tagiöse Affektion nicht mit Puerperalfieber zusammen, da Otto
sie bei durchaus gesunden , nicht graviden oder geboren habenden
Frauen beobachtete.
Sehr wichtig in differentialdiagnostischer Beziehung ist die
„Aidoiotitis (sie) gangraenosa puellarum Richter und Wie-
gan d" ^) oder die Xoma pudendorum, welche nicht selten mit
i) Kurzes Repetitorium der gerichtlichen Medizin, Leipzig u. Wien o. J. S. 55.
2) J. Fischer, ,,Soor des weiblichen Genitale" in: Wiener med. W^ochenschrift
1897, Xo. 15.
3) Carruccio in: Giornale italiano delle malattie veneree e della pelle 1898, H. 3,
nach Monatshefte für prakt. Dermatologie 1899, Bd. XXVIII. S. 144, und Pniffe de
Magondeau, These de Paiis 1899.
4) Otto, „Ueber die Krankheiten in Kopenhagen und ihre Behandlungsart" in:
J. N. Rust's Magazin für die gesamte Heilkunde, Berlin 1839, Bd. lÄV, S. 253.
5) C. H. Fuchs, ..Die krankhaften Veränderungen der Haut," Göttingen
1840, S. 309.
— 392 —
harten Schankergeschwüren verwechselt wird, da die stark ödema-
tösen Ränder des Noma-Ulcus eine ausgeprägte Induration darbieten
können. Casper erörtert diese „gefährhche Verwechselung des
Schankergeschwürs bei kleinen Mädchen mit dem wirklichen Noma
pudendorum" ausführlich in Band I § 17 seines „Handbuches der ge-
richtlichen Medizin" und teilt in den „klinischen Novellen" den folgen-
den bemerkenswerten Fall des Dubliner Arztes Wilde mit.
,,Ein lojähriges Mädchen hatte am 22. Oktober 1857 mit einem Knecht in der
Stube ihrer Eltern in einem Bett geschlafen , die in der Nacht nichts Auffallendes gehört
hatten. Drei Tage später erkranlite das Kind. Es bildeten sich rasch verbreitende brandige
Geschwüre an den Genitalien und 13 Tage nach jener Nacht starb das Kind. Man fand
brandige Zerstörung bis zum Uterus und zur Harnblase, das Perinaeum zerstört u. s. w.
Der der Notzucht angeschuldigte Knecht wurde zu lebenslänglicher Strafarbeit verurteilt,
während es nach Wilde's genauer Darstellung unzweifelhaft ist, dass hier gar keine Not-
züchtigung stattgefunden hatte, sondern dass ein Noma pudendi vorlag.
Vergebens petitionierte Wilde bis in die höchste Instanz, um den unglücklichen Knecht zu
retten, und citiert A. Cooper, welcher schon behauptet hat, dass gewiss viele Ange-
schuldigte aus einem ähnlichen Irrtum gehängt worden seien (die frühere Strafe in England
bei Notzucht)!" ').
Auch Rille weist auf die Häufigkeit, Bedeutung und ver-
schiedenartigen Ursachen der gangränösen Prozesse an den männ-
lichen und weiblichen Genitalien hin. Der Eintritt der Gangrän
macht die ursprüngliche Erkrankung unerkennbar.
Von Fournier wurde zuerst eine mit dem Erysipelas gan-
graenosum penis nicht identische spontane akute Gangrän des
Penis beschrieben, von welcher Sorgo kürzlich einen Fall beob-
achtete 2),
Auch das primäre gangränöse Erysipel der Genitalien ist
durchaus nicht selten und bildete sicherlich einen Teil der im Mittel-
alter so häufigen „St. Antoniusfeuer-Epidemien" der Genitalien. Be-
sonders Penis und Scrotum sind Prädilektionsstellen für die erysi-
pelatöse Gangrän ^).
i) J. L. Casper, „Klinische Novellen zur gerichtlichen Medizin," Berlin 1863,
S. II, — Einen ähnlichen Fall beschrieb Dr. Maximilian Heine, der Bruder des
Dichters, in der Prager Vierteljahrsschrift 1859, Bd. IV, S. 108.
2) Josef Sorgo, „Ueber spontane akute Gangrän der Haut des Penis u. s. w."
in: Wiener klin. Wochenschrift 1898, No. 49.
3) M. Kaposi, „Pathologie und Therapie der Hautkrankheiten," 4. Aufl., Wien
und Leipzig 1893, S. 401; S. Röna, „Ein Fall von primärem gangränc'isem Erysipel des
Penis" in: Archiv für Dermatologie und Syphilis 1896, Bd. XXXIV, .S. 397 — 400;
Hoff mann, ,, Demonstration von Erj'sipelas gangraenosum penis et scroti" im Verein der
Charite-Aerzte in Berlin am 7. März 1901, vergl. Monatshefte für praktische Dermatologie
1892, Bd. XXXIV, S. 302,
— 393 —
Der Hospitalbrand befiel, als er noch häutiger war, oft auch
die Regio genito-analis und seine scharfrandigen, runden, infiltrierten
Geschwüre konnten sehr leicht mit syphilitischen Geschwüren ver-
wechselt werden.
Nach Rille kommt bei Frauen ein gangränöser Krank-
heitsprozess unter dem Bilde des feuchten Brandes an der
Vulva, den Genitocruralfurchen und der Analgegend vor. „Bei ver-
wahrlosten, gewöhnlich jugendlichen und kräftigen Individuen finden
sich ausgedehnte, mit schmutziggTauem diphtheroiden, übelriechendem
Belage und infiltriertem geröteten Rande versehene schmerzhafte
Geschwürsflächen. Dieselben sind rasch progredient und können zur
Freilegung des Kreuzbeines oder der Oberschenkeladduktoren, gleich-
wie Zerstörung des Sphincter ani führen" ^).
Es Hessen sich verschiedene andere gangränöse Prozesse an
den Geschlechtsteilen hier anführen, und es sei besonders darauf hin-
g'ewiesen , dass alle diese verschiedenartigen phag"edänischen und
brandigen Affektionen in der vorantiseptischen Zeit unendlich viel
häufiger waren als sie jetzt beobachtet werden und demgemäss auch
oft zu Verwechselungen mit syphilitischen Affektionen Veranlassung
gaben.
Sehr schwer von syphilitischen Ulcerationen zu unterscheiden
ist der im ganzen seltene L u p u s der Genitalien -), der an den weib-
lichen Genitalien häufiger vorkommt als an den männlichen ^), in der
Form des „Lupus hypertrophicus" dessen Wucherungen sich über
Vulva und Perineum bis zum After erstrecken , die sehr leicht mit
syphilitischen Schleimpapeln verwechselt werden können, oder als so-
genannter „Esthiomene" der Vulva, der auch wchl als eine Art
des Lupus zu betrachten ist. Beim „Esthiomene" können „vom Anus
bis zum Mons Veneris die ganzen Weichteile in eine unförmige,
feuchte, festödematöse, brüchige, zum Teil ulcerierte, eiternde, zer-
klüftete, fistulöse Geschwulstmasse verwandelt sein, ohne dass über
Schmerzen und Beschwerden geklagt wird" ^).
1) Rille, a. a. O. S. 52.
2) Petersen, ,, Ulcus molle", a.a.O., 1895, S. 391 ; über Lupus des Scrotums vergl.
E. Tauffer, ,, Beitrag zur Pathogenese und Histologie des Lupus vulgaris" in Monatshefte
für praktische Dermatologie, 1898, Bd. XXVII, S. T57 ff.
3) Vergl. Paul Zweifel, ,,Die Krankheiten der äusseren weiblichen Genitalien'',
Stuttgart 1885, S. 58 — 62.
4) H. Fritsch, „Die Krankheiteu der Frauen'', 10. Aufl., Leipzig 1901, S. 68.
Vergl. auch Mazarakis, „Contribution ä l'etude du traitement et de l'etiologie de l'esthio-
niene de la region vulvo-anale'', These de Paris 1894.
— 394 —
Einen eigenartigen Fall von circinärer pustulöser Derma-
titis der männlichen Genitalien beschrieb Morelle. Bei einem
13 jährigen Knaben entwickelte sich im Verlaufe von sechs Jahren
in der Gegend der Genitalien eine über das Hautniveau erhabene
Plaque von rotbrauner Färbung mit scharfen Rändern und höckriger,
eine serös-eitrige Flüssigkeit secernierender Oberfläche. Dabei bestand
heftiges Jucken. Allmählich wurde die ganze Haut des Penis er-
griffen. In der Umgebung der Plaque zeigten sich einzelne Pusteln.
Die Plaque selbst war aus einem Konglomerat solcher Pusteln ent-
standen. Morelle bezeichnet diese Affektion als eine „Dermatite
pustuleuse en foyers a progression excentrique" ^).
Auch der Herpes zoster der Genitalien ist nach Köbner
öfter mit syphilitischen Affektionen verwechselt worden -).
In der .Sitzung der französischen Gesellschaft für Dermatologie
vom 12. November 1896 stellte Darier einen Fall von Ekthyma
terebrans des Penis vor. Man beobachtet bei dieser Affektion am
Penis und auf der Glans eitrige Erosionen , die ganz wie Schanker
aussehen können, sich aber nicht übertragen lassen und leicht nach
einfachen Verbänden heilen. Es sind dies durch Eitercoccen herv^or-
gebrachte Läsionen, d. h. Fälle von Impetigo und Ekthyma terebrans
mit ungewöhnlicher Lokalisation ^).
Wichtig für die Aetiologie von pseudosyphilitischen Genital-
geschwüren ist auch die Seborrhoe der männlichen und weiblichen
Geschlechtsteile, die zu einer vermehrten Absonderung des Smegma
führt, welches sich besonders bei Männern mit verengter Vorhaut
und bei Frauen während der Menses und bei Unsauberkeit jener
Teile leicht zersetzt und als ein intensives Irritament auf die zarte
Schleimhaut wirkt, so dass es bald zur Eiterung und Ausbildung
von scharf umschriebenen Geschwüren kommt M- Dieselben
1) Morelle in: Presse niedicale beige 1898, Nr. 44 (Referat in: Monatshefte für
prakt. Dermatologie 1894, Bd. XXVIII, S. 649).
2) H. Köbner, a. a. O., S. 63 — 64.
3) Monatshefte für prakt. Dermatologie 1897, Bd. XXIV, S. 28. — Wohl identisch
mit dem oben beschriebenen „Ulcus genitale simplex".
4) Besonders in tropischen Ländern und bei den oft erstaunlich unreinlichen Einge-
borenen treten diese seborrhoischen Geschwüre der Genitalien sehr häufig auf. Dr. Virey
bemerkt: ,,iMan denke sich einmal die schmutzigen, unsauberen Neger in ihrem wilden Zu-
stand, wie sie mit den Negerinnen der AVoUust pflegen, die noch viel ekelhafter sind als
sie, wenn sie eben ihren Monatsfluss gehabt haben, und sich dabei nicht waschen. Ausser-
dem sondern die Schleimbälge der Eichel unter der Vorhaut eine talgartige Feuchtigkeit ab,
deren Menge und Schärfe die Beschneidung nötig machte; ebenso sammelt sich ähnliche
Masse unter den grossen äusseren Schamlefzen der Negerinnen, und haucht faule Dünste
aus; zudem kommt noch der Schmutz von dem Monatsblut oder vom weissen Fluss oder
— 395 —
führen häufig die Patienten zum Arzt, weil sie glauben, an einer
syphilitischen Krankheit zu leiden.
Der folgende Fall von Steinbacher ^) ist dafür charakter-
istisch.
Ein junger Mann von ca. i6 Jahren kam zu mir mit einer engen Vorhaut und klagte
bitterlich, versicherte mir aufs Gewissen, nie bei einem Mädchen gewesen zu sein, — und
doch habe er 20 — 30 Schankergeschwürchen bemerkt.
Mir ward sogleich klar, wie seine Leiden, seine viertelhundert ihn betrübenden kleinen
Schankerchen nichts weiter waren als ebenso viele durch Smegma in Reizzusland versetzte
und eiternde Drüschen, deren krankhafter Zustand und Schmerzhaftigkeit durch fleissige
Waschungen und Zurückziehen der Vorhaut in einigen Tagen zur grösslen Freude des
betreffenden Patienten vollkommen gehoben wurden.
Bei Frauen führt die genitale Seborrhoe oft zu Excoriationen
und Geschwüren der kleinen und grossen Labien, der Femoro-Labial-
turchen und der Gegend unterhalb des Praeputium clitoridis -).
Eine kontagiöse Balanoposthitis circinata beschrieben 1891
Berdall und Bataille. Es handelte sich um scharfrandige, kreis-
runde Erosionen der Glans, des Präputiums, der \'ulva und Clitoris,
die einen reichlichen stinkenden Eiter secernierten , der als äusserst
infektiös sich erwies. Auch bestand Komplikation mit Lymphangitis
und Lymphadenitis. Csillag beobachtete nicht weniger als sieben
Fälle dieser Art ^).
Hieran reiht sich die sehr wichtige und häufige Folliculitis
der Genitalien, welche Neu mann in seinem grossen Werke über
Syphilis im Anschluss an die Besprechung des Primäraffektes an-
führt, weil sie leicht zu Verwechselungen mit syphilitischen
Primäraffekten führen könne^).
,,Die Folliculitis am Genitale ist fast ausschliesslich eine Erkrankung des weiblichen
Geschlechtes und erscheint vorwiegend an den grossen Labien, an deren Rändern und
Aussenfläche, sowie an der Innenfläche der Oberschenkel, den Contaktstellen mit dem Genitale
entsprechend. Es sind dies kirschkern- bis erbsengrosse, rot gefärbte, im Centrum nicht
vertiefte , nicht selten eitrig belegte Efflorescenzen , meist von Haaren durchbohrt und
schmerzhaft. Diese Erkrankung betrifft demnach die Ausmündungsstellen der Haare und
ihre Follikel, schwindet, sich selbst überlassen, in einem Zeitravune von zwei Wochen ohne
Hinterlassung von Narben. Prädisponiert sind hierzu meist fettleibige Individuen, ferner
solche, welche an stärkerer Sekretion der Genitalschleimhaut leiden, bei denen Sekrete und
Ausflüssen aus der Scheide, auch wurde das Weib in den heissen Ländern während ihrer
Monatszeit stets für unrein gehalten, weil dort schneller als anderswo die Fäulnis um sich
greift." J. J. Virey, ,.Die Ausschweifung in der Liebe und ihre Folgen für Geist und
Körper". A. d. Französ. von L. Hermann, Leipzig 1829, S. 64.
1) J. Steinbacher, ,,Die männliche Impotenz", 5. Auflage, Berlin 1892, S. 17.
2) Bergh, .,Vestre-Hospital i 1897", S. 8; Rille, a. a. O., S. 6.
3) Monatshefte für prakt. Dermatologie 1898, Bd. XXVII, S. 180.
4) Isidor Neumann, ,, Syphilis", Wien 1896, S. 79.
Bloch, Der Urspnuig der Syphilis. 26
— 396 —
Exkrete auf die Mündungen der Haarfollikel irritierend einwirken , weiters Individuen , die
früher an Syphilis gelitten haben und noch Erscheinungen derselben darbieten. Haben diese
Efflorescenzen oft mit syphilitischen Primäraffekten und mit venerischen Geschwüren morpho-
logisch eine gewisse Aehnlichkeit, so können dieselben andererseits, zumal bei syphilitischen
Individuen, den Herd der Infektion für andere abgeben".
Die Häufigkeit dieser genitalen Follikulitiden wird z. B. durch
die Zahlen Bergh's illustriert, der 1887 bei 144 Frauen im Vestre
Hospital solche beobachtete ^).
Baudouin und Gaston 2) machen neuerdings auf die Bedeu-
tung der Folliculitis der Umgebung der Genitalien bei beiden
Geschlechtern aufmerksam , da von hier aus ständig den Genitalien
die Gefahr einer Infektion droht. Als Beispiel hierfür kann wohl ein
von F o u r n i e r beobachteter Fall mitgeteilt werden , der dadurch
noch besonders interessant ist, dass die offenbar von vereiterten
Follikeln am Oberschenkel ausgehende Infektion des Penis zu
einer Ulceration führte, die grosse Aehnlichkeit mit einem syphili-
tischen oder auch gewöhnlichen Schanker zeigte. Syphilis Hess sich
aber nicht eruieren. Impfversuche waren negativ. Eine parasitäre
Ursache der Geschwürsbildung war aber unverkennbar.-^)
Baumgarten beschreibt einen sehr merkwürdigen Fall von
Talgdrüsenblennorrhoe und Narbenkeloid des Penis^). Das
Keloid gehört zu jenen knotigen Gebilden an den Genitalien, bezüg-
lich deren Hebra-Kaposi bemerken:
„An den Genitalien, am Schamberge, auf der Mund-
lippe kommen knotige Bildungen nicht syphilitischer Natur
vor, die mit der Sklerose des harten Schankers sehr grosse
Aehnlichkeit haben können. Als die häufigsten wären zu
erwähnen Furunkel, Carcinom, Keloid, Knoten der Milben-
gänge bei Scabies"^)
Furunkel sind namentlich an den weiblichen Geschlechtsteilen
eine sehr häufige Erscheinung. Kleine oder grosse, viele oder wenige
Furunkel an den Schamlippen und der Innenfläche der Oberschenkel
können nach Fritsch*^) die Folge der Hautreizung bei Vulvitis
bezw. der Infektion der Talgdrüsen sein. Hebra-Kaposi weisen
1) Bergh, „ Vestre-Hospital i 1887", S. 11.
2) Demonstration in der französischen Gesellschaft für Dermatologie und Syphili-
graphie am 7. März iqoi. Referat in: Monatshefte u. s. w. 1901, Bd. XXII, S. 521.
3) Monatshefte u. s. w. 1897, Bd. XXIV, S. 27 — 28.
4) S. Baumgarten, ,,Ein Fall von Talgdrüsenblennorrhoe und Narbenkeloid des
Penis" in: Wiener med. Wochenschrift 1895, No. 24.
5) F. Hebra und M. Kaposi, „Lehrbuch der Hautkrankheiten", Stuttgart 1876,
Bd. II, S. 523.
6) H. Fritsch, a. a. O. S. 54.
— 397 —
auf die täuschende Aehnlichkeit dieser Furunkel mit dem Primär-
affekte hin, da beide Affektionen einen circumscripten Knoten inner-
halb einer ödematösen Geschwulst aufweisen^), ßergh hat diese
Furunkel der Anogenitalregion (Perifolliculitis) in jedem Jahresbe-
richte verzeichnet.
Zu den recht häufigen Affektionen der Genitalien gehören
Akne und Comedonen. Die Akne vulgaris des Penis ist besonders
an der Pars pendula nicht selten 2) ; ich selbst habe auffallend häufig
einfache Akneknoten am Penis beobachtet, wegen welcher die
Patienten ärztlichen Rat erbaten, da sie die Affektion, welche
übrigens öfter, vielleicht infolge eines infektiösen Reizes, in relativ
kurzer Zeit sich entwickelt, von einer venerischen Infektion ableiteten.
Die knotige Infiltration, welche man oft dabei beobachtet, macht die
Unterscheidung von der syphilitischen Sklerose durchaus nicht
immer so leicht. Rille macht besonders auf die Theer-x\kne
(Akne picea) aufmerksam, die häufig an der inneren Schenkel-
fläche, den Nates, am Scrotum und Penis Knoten erzeugt, welche
grosse Aehnlichkeit mit syphilitischen Papeln haben 3).
Eine ebenfalls gar nicht seltene Erscheinung ist das Ekzem
der männHchen und weiblichen Genitalien. Acton unterscheidet ein
besonderes „Eczema praeputiale", einen „Bläschenausschlag auf ent-
zündetem Grunde". Aber die Bläschen sind kleiner als die des Herpes
praeputialis, so gross wie Hirse- oder Mohnkörner und stehen nicht
wie die Herpesbläschen in Gruppen neben einander, sondern unregel-
mässig. Jucken, Hitze und Röte ist stärker; die Stellen sind ge-
schwollen. Wird das Jucken lebhaft und der Kranke kratzt die
Bläschen auf, so fliesst eine dünne seröse Flüssigkeit aus, die zu
kleinen Schuppen vertrocknet und die Reizung noch vermehrt. —
Bisweilen nimmt dieses Ekzem der Vorhaut eine chronische Form
an; dann ist die Vorhaut rot, geschwollen, mit Borken bedeckt und
mit nässenden Stellen besetzt, zwischen denen sich Risse durchziehen,
während das Sekret eine mehr purulente Form bekommt"'*). Einen
solchen charakteristischen Fall von Ekzema chronicum crustosum des
Präputiums habe ich kürzlich bei einem Patienten im Anschluss an
einfache Genitalgeschwüre beobachtet.
Rille äussert sich über die Genitalekzeme folgendermassen :
„Zu den häufigsten Ekzemen gehören die an den männlichen
1) Hebra-Kaposi, a. a. O. S. 523.
2) Petersen, ,, Ulcus molle", a. a. O. S. 390.
3) Rille, a. a. O. S. 105.
4) W. Acton, ,,Ueber die venerischen Krankheiten u. s. w." bei Behrend, „Sy-
philidologie", Bd. III, Leipzig 1841, S. 500.
26*
- 398 -
Genitalien. Die Penishaut ist verdickt, die Berührungsfläche mit
dem Scrotum nässend, gegen das Präputium hin finden sich cirkuläre
Einrisse. Bei längerer Dauer wird die Penishaut verdickt und in-
filtriert. Die Glans M und die innere Präputiallamelle sind fast stets
frei von Ekzem; nicht selten ist Phimose und Paraphimose als Folge-
zustand vorhanden. Sehr häufig sind die Ekzeme am Scrotum, die-
selben sind entweder trocken oder, namentlich wenn stark gekratzt
wurde, heftig nässend, und ist der grösste Teil der Epidermis abge-
stcssen. Bei jahrelangem Bestände ist die Scrotalhaut infiltriert, ver-
dickt, die normalen Furchen und Linien sind mächtig vertieft und
die Raphe ist geschwellt. Dabei ist das Jucken von höchster Inten-
sität, geradezu qualvoll und anfallsweise auftretend" -).
Die Ekzeme der weiblichen Genitalien kommen nach
Fritsch^) besonders oft in der klimakterischen Periode vor und be-
fallen vornehmlich die grossen und kleinen Labien und den Introitus
vaginae *).
Auch Favus ist an den Genitalien beobachtet worden. White
und Hardy sahen denselben an der Glans penis, ebenso berichtete
Glück über Favus des Penis ^), Leitz beobachtete einen Fall von
Favus scrotalis**).
Sehr bekannt ist die Lokalisation des parasitären Ekzema
margin atum und der Sycosis in der Genitalregion und am Mons
Veneris.
Nach Rille ist die Psoriasis sehr häufig am männlichen
Genitale, an Scrotum, Penis und Glans lokalisiert ').
Als vierte Gruppe betrachten wir die lokalen pseudosyphili-
tischen Geschwüre, Abscesse und entzündlichen Affektionen der
männlichen und weiblichen Geschlechtsteile, welche als Folgen
nichtsyphilitischer Allgemeinleiden auftreten.
Rokitansky und A. Förster haben ein meist an den Geni-
talien alter Frauen vorkommendes Ulcus phagedaenicum corro-
dens (Clarke) be.schrieben , das nach E. K'lebs auf eine lokale
Cirkulationsstörung zurückzuführen ist. Zahn constatierte in einem
1) Doch beobachtete Gottheil ein nässendes Ekzem der Glans penis. Vergl.
Monatshefte f. prakt. Dermatologie 1899, Bd. XXVIII, S. 49.
2) Rille, a. a. S. 78.
3) Fritsch, a. a. O. S. 55.
4) Rille, a. a. O. und Behrend, a. a. O., Bd. III, S. 501.
5) Monatshefte u. s. \v. 1895, Bd. XX, S. 115.
6) Deutsche med. Wochenschr. 1897, No. 31.
7) Rille, a. a. O. S. 55.
- 399 —
solchen Falle eine allgemeine Arteriosklerose \). Das so häufige
Ulcus rotundum simplex vaginae gehört wohl hierher.
Ein weiteres konstitutionelles Leiden, bei dem Genitalaffektionen
sehr häufig sind, ist der Diabetes 2). Man hat die Frequenz dieser
diabetischen Dermatosen nicht besser auszudrücken gewusst, als durch
Beilegung eines eigenen Namens, der sogenannten „Diabetiden".
Die meistbekannten Formen der Diabetiden der Genitalien sind
Furunkel und Balanitis. Bei der diabetischen Balanitis ist das
„Präputium ziemlich gleichmässig verdichtet, nicht besonders gerötet,
der \'orhautrand fissuriert und der Präputialsack mit weisshchen.
blätterigen Partikeln erfüllt, welche charakteristische Fadenpilze
enthalten. In der Folge kann es zu sehr schmerzhafter Geschwürs-
bildung und selbst zu Gangrän kommen" 3).
Barthelemy hat diese Geschwürsbildungen sehr häufig be-
obachtet. Er bezeichnete auf dem Moskauer Kongress (1897) als
..Diabetiden der Genitalien": ausgedehnte, tiefe, ulcerierte konfluierende
Flächen, deren Aussehen durch Eindringen von allerlei Parasiten
dem der syphilitischen Geschwüre, Epitheliome, phagedänischen
Ulcera gleicht^).
Die Tuberkulose tritt nicht selten primär oder sekundär an
den Geschlechtsteilen auf. aber viel häufiger bei Weibern als bei
Männern.
Nach Fritsch rühren „eigentümliche, schlaffe Geschwüre an der
Vulva" oft von Tuberkulose her^). Genauer beschreibt J. Müller
die tuberkulösen Geschwüre der Vulva ^). Havas beobachtete bei
einer jungen Prostituierten kleine, massig vertiefte, mit gelbem
Detritus bedeckte, mit unterminirtem Rande versehene Geschwüre
am Scheideneingange, in deren Eiter Tuberkelbacillen nachweisbar
waren. Später gesellte sich Phthisis pulmonum hinzu ').
Wickham berichtet über einen sehr eigenartigen Fall von
pseudosyphilitischem Geschwür des Penis von tuberkulöser Natur.
Es handelte sich um ein eirundes Geschwür auf dem Rücken des
i) E. Lang, „Das venerische Geschwür", Wiesbaden 1887, S. 42.
2) Vergl. O. Lassar, „Die dermatologischen Komplikationen des Diabetes", in:
Dermatolog. Zeitschrift 1899, Bd. VI, Heft i,
3) Rille, a. a, O. S. 6.
4) Monatshefte u. s. w. 1898, Bd. XXVI, S. 648.
5) Fritsch, a. a. O. S. 55.
6) Julius Müller, „Zur Kasuistik der Hauttuberkulose". Vergl. Monatshefte u. s. w.
1895, Bd. XXI, S. 320.
7) A. Havas, „Ulcera tuberculotica introitus vaginae", in: Centralblatt für die
Krankheiten der Harn- und Sexualorgane, Bd. VIII, Heft 12.
— 400 —
Penis mit verhärtetem Grunde. Die Geschwürsfläche war ziemlich
glatt, oberflächlich, mit scharfen Rändern versehen. Da ausserdem
die Leistendrüsen geschwollen, hart und unter dem Finger
verschiebbar waren, so lag nichts näher, als an einen harten
Schanker zu denken. Der Patient, ein 17 jähriger Mann, hatte
das Geschwür aber schon seit 10 Jahren! Es hatte sich aus einem
weichen, schmerzlosen Knoten entwickelt^). Im Museum des
St. Bartholomew's Hospital in London, unter No. 2887, befindet sich
ein Präparat von Penistuberkulose nach primärer Nierentuberkulose.
Bisweilen tritt die Tuberkulose des Penis in Form von grossen
Geschwüren rings um das Orificium urethrae auf^); auch können
die Geschwüre in der Harnröhre sitzen und Urethralschanker vor-
täuschen ^).
Durch die Untersuchungen von Glück sind wir über die Häufig-
keit der krankhaften Veränderungen der männlichen Geschlechtsteile
bei Lepra unterrichtet worden. In über gs^/o finden sich solche,
und zwar in Form von Knoten, Infiltraten und Geschwüren an der
Eichel, dem äusseren Vorhautblatte, am Saume des Präputiums und
der Haut des Penis, auch am Scrotum. Sie können schon im ersten
Krankheitsjahre auftreten und lange persistieren ^).
Bei akuten Infektionskrankheiten ist eine Lokalisation des
Krankheitsprozesses an den Genitalien, besonders der Weiber, nicht
selten. Lartigan beobachtete bei zwei an Typhus erkrankten jungen
Mädchen Geschwüre an der Vulva, in denen sich Typhusbacillen
nachweisen Hessen ^).
Gangrän der Vulva ist nach Fritsch bei Typhus, Scharlach
und Masern beobachtet worden '5). Rille demonstrierte in der Inns-
brucker Aerztegesellschaft 1901 einen Fall von Stenose der Vagina
durch Narbenbildung nach einem gangränösen Prozesse bei Masern ^).
Auch am männlichen Genitale kommen gangränöse Prozesse bei
i) Wickham, ,,Ein Fall von tuberkulösem Geschwür des Penis", in: Monats-
hefte u. s. w. 1895, Bd. XX. S. 609.
2) Malecot, „Tuberkulose des Penis", in: Annales des maladies des organes genito-
urinaires 1893, November, nach: Monatshefte 1895, Bd. XX, S. 583.
3) E. Soloweitschik, „Tuberkulose der Harn- und Geschlechtsorgane, Urethral-
Schanker simulierend", in: Archiv für Dermatologie und Syphilis, 1870, Bd. II. S. i — 10.
4) Leopold Glück, „Zur Klinik der Lepra des männlichen Geschlechtsapparates",
in: Archiv für Dermatologie 1900, Bd. LVII, Heft 2 (nach Monatshefte 1900, Bd. XXXI,
S. 102 — 103).
5) Lartigan, in British medical Journal vom 14. Oktober 1899.
6) Fritsch, a. a. O. S. 55.
7) Monatshefte 1902, Bd. XXXIV, S. loi — 102.
— 40I —
Typhus und Variola vor^). Rona sah Cowperitis im Verlaufe von
]\Iasern auftreten -).
c. Neoplasmen der Geschlechtsteile.
Unter den Neubildungen der männlichen und weiblichen Ge-
schlechtsteile, welche besonders im Hinblick auf die litterarische
Ueberlieferung der älteren Zeiten als pseudosyphilitische Affektionen
in Betracht kommen, steht das sogenannte spitze Condylom, die
spitze P'eigwarze, (Condyloma acuminatum) oder Vegetation
an erster Stelle. Die Wichtigkeit und Häufigkeit dieser Neubildung,
ihre so verschiedenartige Aetiologie, die mannig-faltigen Formen
ihrer Erscheinungsweise rechtfertigen eine ausführlichere Betrachtung.
Schon die Aetiologie der spitzen Cond3"lome ist insofern von
grossem Interesse, als dadurch die Schwierigkeit einer genauen ur-
sächlichen Diagnostik dargethan wird. Nach meinen Beobachtungen
ist der Tripper durchaus nicht die häufigste Ursache der Bildung
von \"egetationen an den Geschlechtsteilen, sondern participiert etwa
nur zur Hälfte an der Zahl der Fälle, die übrige Hälfte wird durch
andere ursächliche Momente geliefert, die man am besten unter dem
allgemeinen Ausdrucke eines auf die Haut und Schleimhaut der
Genitalien wirkenden Irritamentes von verschiedenartiger Pro-
venienz zusammenfassen kann.
Ich will an dieser Stelle die Erfahrungen einiger vorzüglicher
klinischen Beobachter vom Anfang bis zum Ende des i g. Jahrhunderts
anführen, welche sich über die so mannigfaltigen Ursachen der so
häufig vorkommenden, sogenannten „spitzen" Feigwarzen geäussert
haben.
Der ältere Cullerier sagt: „Es entstehen Gewächse an der
Eichel und auf der inneren Fläche der Vorhaut, sie verschwinden
auf blosses Waschen, zeigen sich aber zum zweiten und dritten IVIale
wieder, und weichen abermals demselben IMittel, endlich erscheinen
sie nicht mehr . . . Eine junge Person war noch niemals der Gefahr
einer Ansteckung ausgesetzt, sie ist sogar noch Jungfrau; allein sie
weiss sich für die Genüsse, welche ihr untersagt sind, durch andere
sie ersetzende Reizungen zu entschädigen. Das zu starke und oft
wiederholte Kitzeln der Teile macht, dass sie sich übermässig ent-
wickeln, indem das Gefässsystem die Oberhand gewinnt. In einem
1) Englisch, Artikel „Penis" in Eulenburg's Real-Encyclopädie, 3. Auflage,
1898, Bd. XVIII, S. 383.
2) S. Rona, „Cowperitis im Verlaufe von Masern", in: Archiv für Dermatologie
und Syphilis 1890, Bd. XXII, S. 375—377.
— 402 —
anderen Falle bemerkt eine junge kräftige, in der Fülle des Lebens
üppig entwickelte Frau, deren Mann gesund ist, nach den ersten
Monaten ihrer Schwangerschaft Gewächse in der Gestalt von Blumen-
kohl und Erdbeeren an ihren Geschlechtsteilen; sie wird darüber un-
ruhig und zieht einen Arzt zu Rat; glücklich ist sie, wenn sie einen
findet, der durch seine und anderer Erfahrung belehrt ist, dass der
Druck, den der Kopf des Kindes auf die Gefässstämme im Unter-
leibe ausübt, ebensogut, wie er zu Krampfadern Veranlassung giebt,
auch das Gefässsystem zu allerlei anderen Afterbildungen bestimmen
kann, besonders da diese Teile so blutreich sind und in ihnen eine
starke Schleimabsonderung statt hat. In einem solchen Falle muss
der Arzt oft bei zweifelhaften Verhältnissen die Klugheit besitzen,
die Sache abzuwarten. Wie häufig habe ich bei dergleichen Ge-
legenheiten den Weibern ihre Ruhe wieder gegeben, und die finsteren
Gedanken, den Argwohn und die Unruhe der Männer verscheucht!
Meine Kollegen Ane, Baudelocque, (xilbert und andere waren
oft Zeugen davon. Welche Unannehmlichkeiten, welche Gefahren
kann es nicht bringen, wenn man eine schwangere Frau durch eine
unnütze Behandlung belästigt und einen Mann mit leeren Besorg-
nissen quält! Denn in der That, einige Tage nach der Niederkunft
sucht man vergebens sogar die Spuren solcher Gewächse, sie haben
mit der veranlassenden Ursache aufgehört, und erscheinen sehr selten
bei einer zweiten Schwangerschaft wieder". ^)
Cullerier unterscheidet hier also eine scheinbar spontane, eine
durch mechanische Reizungen und eine durch Reizung infolge von
lokalen Stauungserscheinungen bei Gravidität hervorgerufene
Entstehung der Vegetationen.
Acton erblickt die Ursachen der spitzen Condylome haupt-
sächlich in Reizung und schliesst sich in Beziehung auf die Natur
der einzelnen Irritamente der Ansicht von Ricord an, der alle
Sekrete, welche in der Regio genito-analis sich bilden und auf die
Haut einwirken, für fähig erklärt, die Vegetationen zu erzeugen.
Daher sieht man diese nicht nur bei Tripper, sondern auch bei Bala-
nitis, Phimose, Leukorrhoe, bei stark secernierenden Schankern, bei
Skrophulose ^).
1) Cullerier, ,,Ueber die Lustseuche, ihre Zufälle und Heilmittel", herausgegeben
von J. Kl. Renard, Mainz 1822, S. 96 — 98.
2) W. Acton, „Ueber die venerischen Krankheiten", in: Behrend's Syphilidologie,
Leipzig 1841, Bd. III, S. 497.
— 403 —
Eine sehr gründliche Untersuchung über die Ursachen der Con-
dylome in einer speciell diesem Gegenstande gewidmeten Mono-
graphie stellte A. Krämer an^).
Gonorrhoe und Balanitis bilden nach diesem Autor die
häufigsten Ursachen der Bildung von Feigwarzen. Oft entstehen
aber Condylome ohne vorhergegangenen oder nachfolgen-
den Tripper und ohne nachfolgende Syphilis nach einem
einfachen Coitus-). Schhesslich können sie auch ohne jeden ge-
schlechtlichen Verkehr ganz von selbst sich entwickeln. Krämer
teilt solche Fälle mit, u. a. den folgenden, der wegen des von
Krämer supponierten ätiologischen Momentes von Interesse ist:
„Mein zweiter Fall betraf einen Stud. med., bei dem sich auf der Eichel, im Um-
kreise der ^lündung der Urethra, Papillarkondylome entwickelten, ohne dass er bislang
jemals sich fleischlich vermischt hatte. Der junge Mann litt gleichzeitig an erblichen
Hämorrhoiden und zeigte auch an der Unterlippe, entsprechend der Stelle, wo er (ein
starker Raucher) die Pfeife zu halten pflegte, einen kleinen Varix. Ich glaube nun die
Beobachtung gemacht zu haben, dass in der That Individuen mit Hämorrhoiden oder
Hämorrhoidalanlagen zur Produzierung von Papillarcondylomen vorzüglich geneigt sind, sowie
^ie auch bei ihnen hartnäckiger zu sein pflegen''^).
Wie man sieht, nimmt auch Krämer eine gewisse Plethora
der Beckenregion als prädisponierend für die Entstehung von Vege-
tationen an. Uebrigens ist dieses Zusammentreffen von Feig-
warzen mit Hämorrhoiden sehr wichtig für die Beurteilung der
ähnlichen Angaben in der älteren Litteratur, worüber Näheres noch
bei der Besprechung der pseudosyphilitischen Affektionen des Afters
mitgeteilt wird.
Venot bemerkt über die Aetiologie der spitzen Condylome:
,,Etiologiquement lies ä la vaginite, et lubrefies par l'arrosement muco-purulent de la
blennorrhagie, les vegetaux immondes qui ont nom porreaux, choux-fleurs, etc., les cretes de
cocq et autres excroissances du canal vulvo-uterin sont inattaquables par le traitement mer-
curiel; souvent rebelies ä toutes les medications locales, capricieux dans leur marche, leur
evolution, leiu- recrudescence ; mais ne sont jamais, quoiqu'on dise et qu'on pense, les moni-
teurs de l'infection constitutionelle. — Ils sont eux et rien de plus.'"*)
Nach Michaelis ist die Bildung der Vegetationen von einem
beliebigen äusseren Reiz, wenn er anhaltend und intensiv genug
wirkt, abhängig, daher man sie schon bei ganz unschuldigen, aber
unreinlichen Kindern antrifft. Ferner erzeugt Balanitis, besonders
bei ihrem Verschwinden , häufig ausserordentlich stark entwickelte
i) A. Krämer, .,Ueber Condylome und Warzen", in: Göttinger Studien, Göttingen
1847, Bd. I, S. 85 — 147.
2) Krämer, a. a. O. S. 98.
3) Ibidem S. 99.
4) Venot a. a. O., b. 'i.
— 404 —
Vegetationen. Auch Gonorrhoe, Ulcus molle, ja selbst Syphilis
können durch ihre Sekrete Ursachen der Bildung von spitzen Con-
dylomen sein 1).
Ricord sah die Vegetationen im Anschlüsse an Herpes auf-
treten-). Geigel nimmt neben dem Irritament durch krankhafte
Sekrete noch fortgesetzte ätzende Medikamente und vor
allem die multitudo et variatio coitus als Ursachen der Feig-
warzen an ^).
Eine eigenartige Auffassung bezüglich der Aetiologie der spitzen
Condylome vertritt Petters, indem er annimmt, dass sehr ver-
schiedene Reizzustände solche erzeugen können, vornehmlich dies aber
dann thun, wenn die sie hervorrufenden krankhaften Sekrete nicht
vom eigenen, sondern von einem fremden Körper stammen. Ins-
besondere kommt nach Petters das sich zersetzende Smegma
genitalium in Betracht, dessen Quantität und verschieden scharfe
Qualität, besonders die Vermengung des von den beiderseitigen, mit-
einander geschlechtlichen Umgang pflegenden Individuen abstammen-
den Smegma-*).
Diese Anschauung läuft also wieder auf die Theorie einer In-
fektion hinaus. Demgegenüber betont G. B ehrend wieder die blosse
„Irritation durch krankhafte oder physiologische Sekrete",
als Ursachen der Bildung von Vegetationen, als welche Reize er
Trippersekret, Eiter exulcerierter Bubonen, Absonderung bei
virulenten und nicht virulenten Katarrhen der weiblichen Genitalien
und Seh weiss anführt^).
Durch eine eingehende Untersuchung*^) hat E. Bumm die
wichtige Frage zu klären und zu beantworten versucht. Er sah
sowohl bei schwangeren als auch bei nichtschwangeren Frauen spitze
A^egetationen an den Genitalien entstehen, ohne dass ein virulenter
Fluss vorhanden war. Bumm verfügt über drei Beobachtungen, in
welchen er bei „sicher konstatierter Abwesenheit eines virulenten Fluor
i) Michaelis a. a, O., S. 254.
2) ,,Die Pathologie und Therapie der venerischen Krankheiten". Nach Philippe
Ricord's System entworfen von H. Lippert, Hamburg 1852, S. 263.
3) A. Geigel, „Geschichte, Pathologie und Therapie der Syphilis", Würzburg 1867.
S. 185 — 186.
4) Wilhelm Petters, „Zur Frage der Ansteckungsfähigkeit der Vegetationen oder
der spitzen Condylome" in: Vierteljahrsschrift für Dermatologie 1875, Bd. VII, S. 274.
5) G. Behrend, „Lehrbuch der Hautkrankheiten", Berlin 1883, S. 334.
6) E. Bumm, ,,Zur Aetiologie und diagnostischen Bedeutung der Papillome der
weiblichen Genitalien" in: Münchener med. Wochenschrift 1886, Nr. 27, S. 473 — 474 und
Nr. 28, S. 494 — 496.
— 405 —
spitze Condylome sozusagen unter den Augen hervorsprossen sah.
Alle drei Patientinnen waren schwanger; die eine bekam durch eine
Durchnässung in der Waschküche einen profusen milchigen Vaginal-
fluor und gleichzeitig damit ein Ekzem der Vulva und der Labien,
welches von massenhaften papillären Wucherungen gefolgt war. Die
beiden anderen litten, ohne dass eine besondere Ursache nachweisbar
gewesen wäre, bereits seit Mitte der Gravidität an milchig eitrigem
Fluor."
Als Resultat der Bu mm 'sehen Untersuchungen über die Aetio-
logie der spitzen Condylome ergab sich, dass jeder länger
dauernde Reiz, sei er chemischer oder mechanischer Natur
Papillome an den Genitalien erzeugen kann.
Diese Ansicht wird von den meisten Gynäkologen, wie z. B.
von Tarnier\), Fritsch u. x\. geteilt. Decoster freihch macht die
Schwangerschaft an sich für die Genesis der Vegetationen ver-
antwortlich, da er sie auch auf den äusseren Bedeckungen und auf
der Wangenschleimhaut auftreten sah^).
Die neueren Dermatologen huldigen wohl durchgängig der An-
sicht von der rein irritativen Aetiologie der spitzen Condylome 3).
Erwähnensw^ert ist noch die Ansicht Unna's, der Durchfeuch-
tung. Seborrhoe und Ekzem als die prädisponierenden Momente
für die Bildung der Condylomata acuminata anspricht-*).
Nach alledem muss heute der Satz als feststehend betrachtet
werden, dass das sogenannte spitze Condylom die Folge eines be-
liebigen Irritamentes auf die zarte Haut und Schleimhaut der Geni-
talien ist. Hierfür spricht auch das schon von Ricord^) betonte
entschieden seltenere Vorkommen der Vegetationen bei Juden, ob-
gleich dieselben doch gew^iss nicht seltener an Tripper, der gewöhn-
lich als Hauptursache der Condylome supponierten Affektion, er-
kranken als andere IMänner. Aber die nach der Circumsion ein-
tretende stärkere Verhornung der Eicheloberfläche zusammen mit
dem Fortfall der so überaus zarten Präputialschleimhaut gew^ährt
einen entschieden besseren Schutz gegen irritative Einflüsse jeder Art.
1) Tarnier, „Vulvo-vaginale Vegetationen in der Schwangerschaft" in: Semaine
medicale vom 3. Febr. 1892 und Deutsche Medizinal-Zeitung vom 22. Jan. 1894, S. 77.
2) Decoster, ,,Zur Behandlung der Vegetationen bei schwangeren Frauen'- (These
de Paris 1887), nach Monatshefte u. s. w. 1888, Bd. VII, S. 1096 — 1097.
3) Vgl. z. B. E. Finger, „Die Sj^shilis und die venerischen Krankheiten", Wien
1896, S. 300.
4) Unna, „Histopathologie der Hautkrankheiten", Berlin 1894, S. 791.
5) Ricord a. a. O., ed. Lippert, S. 262.
— 4o6 —
Sehr wichtig im Hinblick auf die Beschreibungen in der älteren
Litteratur ist die Betrachtung der verschiedenen Formen der Vege-
tationen der Regio genito-analis, welche man, wie auch ZeissP)
hervorhebt, sehr unzweckmässig, als „spitze" Condylome be-
zeichnet hat, indem sie vielfach durchaus nicht als solche spitze Ge-
bilde imponieren, ja sogar oft als „breite" Feigwarzen auftreten.
Auch das Wort „Cond3'loma" bezeichnet nur einen Teil, nur
eine bestimmte Form der Vegetationen ; ein anderer Teil wird durch
das Wort „Ficus", „Feigwarze" bezeichnet; eine dritte Form geht
auch unter dem Namen „Crista". Weitere Formen der Vegetationen
empfingen in früherer Zeit ihre Namen nach der Aehnlichkeit mit
Früchten und vegetativen Bildungen. Es ist aber doch nur eine einzige
Gruppe, welche diesen ganzen Formenreichtum erzeugt, welche man
am besten unter dem Namen „Vegetationen" zusammenfasst.
Indem wir bezüglich der antiken Nomenklatur der Vegetationen
auf den betreffenden Abschnitt verweisen, sollen an dieser Stelle nur
einige Schilderungen neuerer Autoren angeführt w^erden, als Beleg
für die Richtigkeit und Notwendigkeit der Beseitigung des gänzlich
irreführenden Namens: „spitze" Condylome, der bei w^eitem nicht
dem Formenreichtum der Vegetationen gerecht wird.
Der ältere Cullerier äussert sich über die von ihm beobachteten
verschiedenen Arten der Vegetationen folgendermassen : „Die Aus-
wüchse erhalten verschiedene Namen nach der Gestalt, welche sie
besitzen. Sind sie gross, fest, mit einem runden Kopfe und Stiele
versehen, so heissen sie Condylomata, von der Vergleichung, die
man zwischen ihnen und den Gelenkköpfen des Knochens angestellt
hat. Zeigen sie im Gegenteile eine Art von geschwürigem Aufblühen,
so nennt man sie Feigwarzen (Fici). Haben sie eine längliche,
breite Basis und ist ihr oberer Rand gezähnt und scharf, so erhalten
sie den Namen Hahnenkämme. — Die krumm gefurchten, ästigen
und mit einer dünnen Basis versehenen Gewächse heissen Blumen-
kohl; sind sie dick, rund und höckerig, Himbeeren oder Maul-
beeren, je nachdem die Farbe dunkler ist; mit weniger bemerk-
baren Unebenheiten auf ihrer Oberfläche heissen sie Erdbeeren;
und sind sie kleiner und auf der Oberfläche glatt, so nennt man sie
Stachelbeeren. Diese verschiedenen Arten von Afterbildungen
finden sich oft zusammen oder teilweise bei einem und demselben
Subjekte; seltener ist nur eine einzige Art vorhanden.
i) M. V. Zeissl, Artikel „Condylom" in: Eulenburg's Real-Encyklopädie, 3. Aufl.,
1895, Bd. V, S. 98.
— 407 —
Der Sitz der Auswüchse ist mannigfaltig; beim Manne sind die
Eichel und Vorhaut, beim Weibe die grossen und kleinen Scham-
lippen , die myrtenförmigen Wärzchen am Eingange der Mutter-
scheide, das Schambändchen, die Clitoris und ihre Vorhaut, und bei
beiden Geschlechtern der After und das Mittelfleisch derjenigen Teile,
wo sie am häufigsten beobachtet werden; dann kommen die ver-
schiedenen Organe des Mundes, der Eingang der Nasenlöcher, die
Augenlider, die Ohren, die Brüste, der Nabel und die Weichen;
seltener sitzen dieselben an den übrigen äusseren Teilen des Körpers
und auf den inneren Membranen" ^).
Der Leser möge beachten, dass diese Einteilung der „spitzen"
Condylome nur auf der Beobachtung der äusseren Form beruht,
welche bekanntlich gerade bei den Vegetationen ausserordentlich
variabel ist. Cullerier's Schema ist nicht etwa aus der älteren Litte-
ratur ohne weiteres übernommen, sondern es entspricht auch den
thatsächlichen Verhältnissen. Denn Kraemer, der wirklich in der
sorgfältigsten Weise diese Bildungen untersucht hat, gelangt sogar
zu einer Aufstellung von noch mehr Formen. Er unterscheidet
folgende Arten :
Papilloma Condyloma seu mucosum. Papillom der Schleim-
haut und deren Uebergangsstellen zur äusseren Haut.
1. Papilloma Condyloma simplex seu solitare. Einzeln
stehende hervorgewucherte Papille.
a. Papilloma Condyloma simplex filiforme. Zugespitzte
einzeln stehende Papille.
b. Papilloma Condyloma simplex globatum. An der
Spitze kolbenförmig angeschwollene Papille (ficus).
2. Papilloma Condyloma compositum seu vulgare. Aus
dicht beisammenstehenden Papillen zusammengesetztes Schleim-
hau tpapillom (gewöhnliche Feigwarze).
a. Papilloma Condyloma compositum acuminatum. Die
Papillen sind zugespitzt (spitzes, pfriemenförmiges Con-
dylom, fraise).
b. Papilloma Condyloma compositum granulatum. Die
Papillen sind abgerundet (framboise, morum, chou-fleur).
c. Papilloma Condyloma compositum cristatum. Die
Feigwarze erscheint durch Druck umgelegt und hahnen-
kammförmig abgeplattet (crista, crete de coq).
i) Cullerier a. a. O., S. 90 — 91.
— 4o8 —
3. Papilloma Condyloma subcutaneum (syphilitischer Por-
zellantuberkel, Fritze). Dasselbe kann als acuminatum oder
granulatum erscheinen ^).
Ebenso viele Arten von Warzen der äusseren Haut werden
von Kraemer unterschieden und, was sehr bedeutsam ist, er trennt
von allen diesen Vegetationen aufs strengste die sogenannten
„platten Condylome", d. h. unsere heutigen syphilitischen Condy-
lomata lata^).
Xach Esterle wird die Form der Vegetationen durch ihren
Sitz bestimmt. Die am After, am Scrotum, an der Haut des Penis
vorkommenden sind die breitaufsitzenden, die am inneren Blatte
der Vorhaut vorkommenden die gestielten, die häufig sich zu
ganzen Bündeln entwickeln; am Rande der Eichel sitzen die steck-
nadelkopfförmigen 3).
Sehr anschaulich hat A. Geigel den Formenreichtum der Vege-
tationen geschildert"^), dem er ebenfalls für die historische Unter-
suchung über das Alter der Syphilis die grösste Bedeutung beimisst.
Daher mögen seine genauen Beobachtungen zur weiteren Erläuterung
hier Platz finden:
„Hingegen bieten die Vegetationen oder eigentlichen Feigwarzen eine wahre Aus-
wahl der mannigfaltigsten Formen dar, deren gemeinsamer Charakter in dem warzenartigen,
in die Länge wachsenden, gelappten, papillären oder dendritischen Baue besteht. Meistens,
auch an den Orten, wo sie beständig in Sekreten gebadet sind, von einer dickeren Epidermis
bedeckt, mehr hart als weich, bieten sie von den kleinsten stecknadelkopfgrossen Wärzchen
bis zu den grössten, oft mehrere Zoll langen, gelappten und verzweigten Excrescenzen alle
möglichen Uebergänge dar. Bald stehen sie über grössere Flächen verbreitet einzeln, gleich
Pallisaden oder Krautköpfen da, bald sind sie auf einen Haufen agglomeriert, hier bilden
sie durch ihre Anhäufung und Wucherung ein beerenartiges Gewächs von papillärem Bau,
dort selbst vermöge der örtlichen Verhältnisse breite, platte, auf den ersten Blick an echte,
syphilitische Kondylome erinnernde Erhöhungen, von denen sie sich aber bei näherer Unter-
suchung leicht durch ihren gelappten Bau und durch das Vorhandensein eines Stiels unter
der platt gedrückten -Wucherung unterscheiden. In andern Fällen, besonders an den weib-
lichen Genitalien, an der Raphe und um den After haben sie bei längerem Bestehen und
grösserem Wachstum ihren Stiel eingebüsst, sind zu emzelnen, mit breiterer Basis auf-
sitzenden, grossen, harten, pyramidenförmigen Tumoren herangewachsen, die wieder gar keine
Aehnlichkeit mit den breiten Kondylomen besitzen. Denn wenn diese sich nur einige
Linien über die Haut erheben, an ihrer Oberfläche glatt, weich und stark secernierend sind,
so erreichen diese Warzen eine bedeutende Höhe, mit einem scharfen, meistens eingekerbten
oder noch gelappten Rande, sind oft knorpelhart und trocken, von rötlichem oder lividem
i) Hierher gehört ein Teil unseres heutigen „Molluscum contagiosum".
2) Krämer a. a. O., S. 147.
3) Karl Esterle, „Ueber die Behandlung der primären Syphilis'' in: Behrend's
Syphilidologie, Leipzig 1840, Bd. II, S. 79 — 80.
4) A. Geigel a. a. 0., S. 184—185.
— 409 —
Aussehen, kurz wahre Hahnenkämme. Oder endlich sie entwickeln sich bei der übelsteii
Behandlung zu wahrhaft kolossalen, rissigen, von Geschwüren unterminierten, mit hässlicher
Sekretion bedeckten Geschwülsten, die sich dem äusseren Aussehen nach fast gar nicht von
Epidermoidalkrebsen und Blumenkohlgewächsen unterscheiden lassen."
Eine ähnliche, die ausserordentlich grosse Mannigfaltigkeit der
Form der Vegetationen zum Ausdruck bringende Schilderung giebt
E. Lang^).
Von besonderer Bedeutung sind die Vegetationsformen beim
weiblichen Geschlecht. Hier kommen überhaupt die Feigwarzen
entschieden häufiger vor als beim Manne 2) und erreichen eine be-
deutendere Ausdehnung und einen grösseren Umfang. Nach Fritsch
bilden die spitzen Condylome beim Weibe mitunter eine bis apfel-
grosse, weisse, warzigknollige, runde Geschwulst, welche, wenn auch
nicht gestielt, doch deutlich abgrenzbar pilzförmig an den kleinen
oder grossen Labien sitzt und dünnflüssige, übelriechende Sekrete
abscheidet. In anderen häufigeren Fällen spriessen mehr oder weniger
zahlreiche ca. 2 bis 3 mm dicke und ca. i cm lange, kleine Zotten
überall zerstreut aus der Haut empor. In der Rima ani, auf den
Analbacken, ja herab bis auf die Oberschenkel, findet man Excre-
scenzen. Auch sieht man wenige Condylome gerade über dem
Frenulum, in der Fossa navicularis oder vorn an der Urethral-
mündung. Der Ausführgang der Bartholin 'sehen Drüse kann so-
wohl an einem Ende von Condylomen, als auch innerhalb seines
Lumens mit einigen Excrescenzen besetzt sein. Ebenso wie die
Condylome nach abwärts, namentlich nach hinten gehen, findet man
sie auch oberhalb in der Scheide, selbst auf der Portio. Ich habe
mehrere derartige apfelgrosse Geschwülste aus der Scheide Schwangerer
heraus — , auch von det Portio abgeschnitten" ^).
Auch Lang schildert anschaulich diese roten, saftigen, bis
kindesfaustgrossen Papillome, welche die ganze weibliche Regio genito-
analis überziehen, ein unangenehm riechendes, reichliches Sekret ab-
sondern und zu schmerzhaften Rhagaden und Erosionen Veranlassung
geben. An der Vaginalportion des Uterus sah Lang sie in der
niederen Pallisadenform, öfter jedoch als dendritische Bildungen bis
zur Grösse einer Bohne, Kirsche oder Pflaume^).
1) E. Lang, ,,Der venerische Katarrh", Wiesbaden 1893, S. 116 — 118.
2) G. Behrend, „Studien über das breite Kondylom", Leipzig 1871, S. 27;
Lang a. a. O., S. 119.
3) Fritsch a. a. O., S. 63.
4) Lang a. a. O., S. 120 und 121.
— 4i<^ —
F r i t s c h konstatiert bei 7 5 ^j^ der von ihm untersuchten
Puellae publicae die Anwesenheit dieser nichtsyphilitischen Vege-
tationen ^).
Von grösster Wichtigkeit ist nun der Umstand, dass diese
Vegetationen, wie wir ja schon aus den bisher mitgeteilten Schilde-
rungen entnehmen können, häufig eine ausserordentlich grosse
Aehnlichkeit mit den sogenannten „breiten Condylomen" syphi-
litischen Ursprungs aufweisen können.
Um die Aftermündung und an den Labien blennorrhoischer
und schwangerer Frauen kommen Vegetationen vor, die durchaus
breiten Condylomen in ihrer äusseren Form ähnlich sind, übrigens
auch bei Kindern beobachtet worden sind 2). G. Behrend kommt
in seiner interessanten Doktordissertation über das breite Condylom
ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es diesem ähnliche Vegetationen
nichtsyphilitischer Natur giebt und bringt wichtige Belege
dafür bei.
So berichtet Heller den Fall eines 43jährigen verheirateten
Mannes, bei dem sich unter der Vorhaut überaus grosse „breite Con-
dylome" entwickelt hatten, die man trotz der Versicherung des
Patienten, „sich in seinem Leben nie einer Ansteckung ausgesetzt zu
haben", durch eine Dzondi'sche Sublimatkur zu bekämpfen suchte,
jedoch vergeblich; erst als man nach Spaltung des Präputiums den
alsdann zu Tage gekommenen wallnussgrossen Auswüchsen durch
Argentum nitricum teils in Substanz, teils in Lösung zu Leibe ging,
verschwanden sie gänzlich nach einem viermonatlichen Bestehen.
Heller hielt „Arthritis" für das aetiologische Moment, und nannte
diese eigentümliche Form der Vegetationen „arthritische wasch-
schwammförmige Condylome" ■''),
Wenn man sich daran erinnert, dass gerade die syphilitischen
breiten Condylome zu denjenigen Erscheinungen der konstitutionellen
Syphilis gehören, welche am -promptesten und sichersten auf eine
Quecksilberhandlung zurückgehen, so kann über die nichtsyphilitische
Natur dieser von Heller beobachteten breiten Abart der gewöhn-
lichen Vegetationen kein Zweifel bestehen.
Behrend zieht aus seinen Beobachtungen den Schluss, dass es
bei Erwachsenen eine Klasse von breiten Condylomen in der Genito-
Analsphäre gebe, die mit Syphilis nichts zu schaffen haben "^j.
i) Fritsch a. a. O., S. 64. '
2) W. Petters, ,,Das breite Kondylom" in: Archiv für Dermatologie, Prag 1872,
Bd. IV, S. 363.
3) G. Behrend, ,, Studien über das breite Kondylom", S. 24.
4) Behrend a. a. O., S. 27.
— 4H —
Petters beobachtete breite Vegetationen bei an Diarrhöe leiden-
den, herabgekommenen, unrein gehaltenen Säuglingen. Einige solche
Kinder geben zu der irrigen Annahme der Uebertragung der Syphilis
durch die .Schutzpockenimpfung Veranlassung^).
Ich selbst sah kürzlich einen Fall von Ekzema papulosum
der Beine, der inneren Fläche des Oberschenkels und der Perineal-
gegend, die ich auf den erst-en Blick für typische breite Condylome
hielt, indem gerade an der Innenfläche der Oberschenkel und am
Perineum das Ekzem sich in Gestalt von grossen isolierten Plaques
zeigte, die sich auch um den Anus gruppiert hatten, und zum Teil
durch den Prozess der „Lichenifikation" eine täuschende Aehn-
lichkeit mit syphilitischen Condylomata lata aufwiesen. Die Ana-
mnese ergab aber nicht den geringsten Anhaltspunkt für S3^philis,
ebensowenig die Untersuchung des übrigen Körpers. Dag-egen liess
sich der Zusammenhang jener isolierten Ekzempapeln mit einem all-
gemeinen Ekzem nachweisen.
Insbesondere dänische Aerzte haben zuerst auf die nicht-
syphilitischen breiten Papeln der Prostituierten aufmerksam
gemacht, die eine weitere wichtige Kategorie der pseudosyphilitischen
Affektionen der Genitalregion bilden. Zuerst berichtete darüber
Engelsted:
„Es kommen bei öffentlichen Frauenzimmern, seltener bei anderen Frauen, einzelne
Erhöhungen an oder in der Nähe der äusseren Geschlechtsteile vor, die bisweilen in einem
gewissen Verhältnis zur Menstruation zu stehen scheinen, indem sie sich ungefähr um diese
Zeit einfinden, nach einigen Tagen von selbst oder durch einfache Behandlung, z. B. durch
Waschungen von Bleiwasser, leichte Aetzung von Lapis infern, schwinden können.
Da diese Papeln bei öffentlichen Frauenzimmern vorkommen, so kann man die
Möglichkeit dessen, dass sie in einem Verhältnis zur Syphilis oder Gonorrhoe stehen, nicht
läugnen, aber schwierig bleibt es, ihnen in der Reihe der syphilitischen Affektionen ihren
Platz näher anzuweisen; als primäre Affektionen, durch Ansteckung übertragen, lassen sie
sich ihrer periodischen Wiederkunft wegen nicht gut auffassen, ihr akuter Verlauf und der
Umstand, dass sie auch bei Frauen vorkommen können, die nie an Symptomen der
konstitutionellen Syphilis gelitten haben, macht die Ansicht, dass sie Symptome
der konstitutionellen .Syphilis oder Recidive sind, auch nicht sehr wahrscheinlich; am rich-
tigsten scheint es unter diesen Verhältnissen, sie als nichtsyphilitische Gebilde aufzufassen,
die in einem gewissen Verhältnisse zur Menstruation zu stehen scheinen und wahrschein-
licherweise auch mit der stetigen Irritation der Geschlechtsteile und der dadurch veranlassten
Veränderung der Sekrete, die ihren Grund in der Lebensweise der öffentlichen PVauen-
zimmer hat, zusammenhängen. Unter allen Umständen ist es von Wichtigkeit, das Vor-
kommen dieser Papeln und ihre Verschiedenheit von den gewöhnlichen durch konstitutionelle
Syphilis bedingten Schleimpapeln erkannt zu haben, da eine Diagnose nach dem Aussehen
dieser Gebilde allein nicht gestellt werden kann, indem selbst geübte Beobachter
keine Verschiedenheit auffinden können. Man muss sich durch den Umstand
I) Petters a. a. O., S. 365.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 27
— 412 —
leiten lassen, ob sich gleichzeitig andere Symptome der konstitutionellen Syphilis auffinden
lassen oder nicht." \)
Genau dieselben Beobachtungen verzeichnet Rudolf
Bergh in den einzelnen Jahresberichten über das Vestre Hospital.
Auch nach ihm giebt es verschiedene Papelformen bei Prosti-
tuierten, die man zu den pseudovenerischen und pseudosyphi-
litischen Affektionen der Genitalien rechnen muss und zu denen
auch die als ,,Induratio", „Ulceratio redux". „.Syphilome chancri-
forme I.eloir", „recidivierende Pseudoschanker Fournier - Hut-
chinson" von anderen Autoren bezeichneten Affektionen gehören.
Auch Bergh sah das häufige Auftreten dieser pseudosyphilitischen
Papeln in Verbindung mit den Katamen ien und das ebenso un-
zweifelhafte Vorkommen derselben bei Individuen, die niemals
Syphilis gehabt hatten. Derartige Pralle werden in jedem Jahres-
bericht in grosser Zahl verzeichnet ^).
Man g-eht nicht fehl, wenn man einen grossen Teil dieser
Affektion den gewöhnlichen Vegetationen zurechnet, wofür die Ab-
hängigkeit ihrer Bildung von der Einwirkung gewisser Irritamente,
wie sie z. B. zur Zeit der Menstruation in reichlicherem Masse
vorhanden sind, spricht. Möglich, dass auch der von Unna be-
schriebene recidivierende Herpes genitalis der öffentlichen Frauen-
zimmer sowie der Herpes menstrualis mit diesen Papelbildungen in
einem ätiologischen Zusammenhange steht.
Jedenfalls werden wir nach Feststellung dieser Thatsachen die
Schlussfolgerungen, zu denen C. v. Hübbenet in seinem merk-
würdigen Buche „Die Beobachtung und das Experiment in der
Syphilis" (Leipzig 1859) gekommen ist, mit ganz anderen Augen be-
trachten können und ihnen einen unzweifelhaft richtigen Kern
einräumen. Diese Schlussfolgerungen lauten:
1. Die Schleimpapeln treten als konsekutive Erscheinung der
Syphilis auf und das vielleicht am häufigsten.
2. Sie treten auch unstreitig als primitive Erscheinung der
Syphilis auf.
3. Sie erscheinen als hereditäre Form der Syphilis.
4. Sie entwickeln sich aber auch unabhängig von der Syphilis,
entweder rein lokal bei vollkommener Gesundheit, oder bei anderer
Ernährungsstörung, aber fern von anderen syphiHtischen Erscheinungen
und stellen höchstens hier eine endemische degenerierte Syphilis dar,
das „Kleinrussische oder polnische Syphiloid."
1) S. Engelsted, „Die konstitutionelle Syphilis nach klinischen Untersuchungen".
Aus dem Dänischen übersetzt von C. Uterhart, Würzburg 1861, S. 20 — 21.
2) R. Bergh, Yeslre Hospitel i 188;, S. 1 1 ; 1891, S. 10.
— 4U —
Wenn auch diese Sätze in ihrer damaligen Formulierung sich
nicht mehr aufrecht erhalten lassen, so wird man die ihnen zu Grunde
liegende Beobachtung von breiten Cond3domen ähnlichen, aber
nicht syphilitischen Gebilden durchaus als thatsächliche annehmen
können. Das ist aber wiederum von grösster Bedeutung für die
kritische Beurteilung der Angaben in der älteren Litteratur vor dem
Auftreten der Syphilis.
Endlich verdienen auch einige Beziehungen der „spitzen" Con-
dylome zu venerischen Leiden Erwähnung. Petersen hat sehr
häufig Ulcera mollia gerade an den Stellen beobachtet, wo Condy-
lomata acuminata sitzen und beim Coitus verletzt worden sind^).
Ferner täuschen nicht selten im Vorhautsack sitzende und durch eine
Phimose dem Auge verborgene, entzündlich gereizte Vegetationen,
einen Primäraffekt und andere syphilitische Krankheitserscheinungen vor.
Ueber einen sehr instruktiven Fall dieser Art berichtet Gaither-).
Ein 3ojähriger Mann kam wegen Anschwellung des Penis und Aus-
fluss aus dem Vorhautraum zur Aufnahme. Der Zustand hatte
seit fünf Monaten bereits bestanden und hatte sich stetig ver-
schlimmert. Das Glied war um das Dreifache geschwollen, und auf
dem Dorsum fand sich ein kleinbohnengrosses Geschwür, welches
mit dem Sulcus retroglandularis kommunizierte. Die Diagnose
schwankte wegen der Infiltration des Gewebes zwischen Gumma und
Carcinom. Die Spaltung der Vorhaut ergab den überraschenden Be-
fund einer zahllosen Aussaat von Condylomata acuminata auf der
Glans und dem inneren Blatte des Präputiums^).
Die Hartnäckigkeit der Vegetationen gegenüber jeder Therapie
verdient auch noch im Gegensatze zu dem leichten Verschwinden
der breiten Condylome hervorgehoben zu werden, da wir jene Eigen-
schaft in der antiken Litteratur oft erwähnt finden. Trotz alles Ab-
schneidens, Abbindens und Aetzens schiessen aus dem Halse der Hydra,
wie Geigel sagt, immer wieder neue Köpfe hervor, bis es endlich
einer ebenso hartnäckigen Therapie gelingt, diese Gebilde auszurotten.
1) O. Petersen, ,, Ulcus niolle", Archiv für Dermatologie 1894, Bd. XXIX, S. 433.
2) A. B. Gaitber, „Eine durch das unvennutete Vorhandensein von Kondylomen
bedingte Phimose, welche Gumma d-s Penis vortäuschte" in: Medical News vom 3. August
1895-
3) M. V. Zeissl beobachtete Gangrän der Vorbaut durch massenhafte Entwickelung
venerischer Vegetationen an der Eichel. Artikel ,, Kondylom'' in: Eulen bürg 's Eiicyklo-
pädie, 3. Aufl., Bd. V, S. 99.
27*
— 414 —
In Vergleichung mit den Vegetationen sind die übrigen nicht-
s)^philitischen Neoplasmen der männlichen und weiblichen Geschlechts-
teile relativ seltener, ergeben aber zusammengenommen doch immer
noch eine recht stattliche Frequenz dieser Aftergebilde.
Zunächst kommen hier jene Neubildungen in Betracht, die nach
ihrer histologischen Struktur sowie ihrem äusseren Aussehen den Vege-
tationen nahestehen, die Warzen, Hauthörner, Fibrome, Hyper-
trophien u. a. m.
Die wirkliche Verruca vulgaris kommt an den Genitalien
nur selten vor. Ein Fall, den Renault beobachtete, ist wegen der
Aetiologie sehr interessant. Er konnte nämlich eine direkte Ueber-
tragung von Warzen des Fingers auf das Präputium feststellen^).
Unna beschreibt ein „plattenförmiges Akanthom" des Penis-). Das
Cornu cutaneum kommt häufiger am männlichen Gliede vor.
Leber t verzeichnet acht solche Fälle ^). Nach ßergh (a. a. O.) und
Englisch kommen sie besonders am Rande der Eichel vor, seltener
an anderen .Stellen und häufiger bei Erwachsenen als bei jungen
Leuten. Sie recidivieren äusserst leicht^). Pick sah ein weiches
Cornu cutaneum des Penis aus einem spitzen Condylom hervorgehen.
Dabei bestand gleichzeitig eine Hautaffektion des Körpers, nämlich
Psoriasis^). Uebrigens mag auch an das Vorkommen syphilitischer
Hauthörner erinnert werden.
Gelegentlich werden auch Fibrome an den Genitalien beobachtet,
über ein solches an der Clitoris berichtet Bourrier*^); Haslam sah
ein Fibromyom des Penis ^).
Auch gewisse Excrescenzen und Hypertrophieen gehören
hierher. Die sogenannten „Carunkeln" der weiblichen Harnröhre ge-
hören zu den häufigsten Tumoren der Urethra. IManchmal kann ein
Prolaps der Urethralschleimhaut solche vortäuschen'^). Ferner ist
zu erinnern an die „Genitalexcrescenz der äg3^ptischen Mädchen". Nach
1) Monatshefte u, s. w. 1897, Bd. XXIV, S. 623.
2) Unna, „Histopathologie der Hautkrankheiten", S. 805.
3) R. Bergh, ,, Fälle von Haulhörnern", Archiv für Dermatologie 1873, Bd. V,
S. 195.
4) Englisch, Artikel ,, Penis" in: Eulenburg's ,,Encyklopädie", Bd. XVIII,
S. 388.
5) F. J. Pick, ,,Zur Kenntnis der Keratosen" in: Archiv für Dermatologie 1875,
Bd. VII, S. 315-323-
6) British Medical Journal vom 16. Septeniber 1899.
7) Ibidem vom 19. Nov. 1898.
8) J. Neuberger, ,,Ueber die sogenannten Karunkeln der weiblichen Harnröhre"
in: BerHncr klinische Wochenschrift 1894, Nr. 20.
— 415 —
Sonnini („Yoyage dans la haute et basse Egypte" Paris An 7,
Tome II, p. 32) sollen die Mädchen ägyptischer Rasse eine mit zu-
nehmendem Alter sich vergrössernde Excrescenz an den Genitalien
haben, welche bei der Beschneidung verkürzt wird. Bei einem acht-
jährigen Mädchen, das dieser Operation in seiner Gegenwart von einer
Frau unterzogen wurde, „cette excroissance prenoit naissance au-dessous
de la commissure des grandes levres et eile pendoit d'un demi-pouce
le long de cette meme commissure"^). Andere Condylom ähnlichen
Hypertrophien der Vulva beschreibt Fritsch: „Es kommt sowohl
vor, dass die ganze Geschwulst papillomatös, blumenkohlartig, einem
Klumpen spitzer Condylome ähnelt (vergl. Fig. 34, S. 52), als dass
nur an einzelnen Teilen die Geschwulst warzig, höckerig ist". Ge-
wöhnlich sondern diese condylomartigen Gebilde ein Secret ab und
ulcerieren nach traumatischen Einflüssen. Die wichtigste Ursache der-
selben ist Onanie -).
Auch eine bestimmte Form der Elephantiasis, nämlich die
Elephantiasis verrucosa, die besonders an den grossen und kleinen
Labien und am Anus, namentlich nach Entbindungen, auftritt, hat
grosse Aehnlichkeit mit den Vegetationen^).
Die männlichen und weiblichen Genitalien bilden eine Prädi-
lektionsstelle für das Vorkommen des sogenannten Molluscum
contagiosum (Epithelioma moUuscum , Condyloma subcutaneum,
Epithelioma contagiosum). Dieses contagiöse Gebilde kommt sehr
häufig vor, am häufigsten bei Prostitutierten^), wie das besonders
aus den in dieser Beziehung sehr instruktiven Jahresberichten von
Bergh hervorgeht. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass auch das
Molluscum contagiosum in einem gewissen Zusammenhange mit dem
geschlechtlichen Verkehr steht, jedenfalls sich sehr häufig an denselben
anschliesst. Die oft sehr grosse Aehnlichkeit der Mollusca conta-
giosa mit Formen der Vegetationen ergiebt sich schon aus der
früher üblichen Bezeichnung „Condyloma subcutaneum".
Eine Affektion, die namentlich bei Männern sehr häufig nach
dem Coitus (besonders cum femina angusta) auftritt, ist die Lymph-
geschwulst (Lymphangiectasie) des Penis (Präputium), auf die neuer-
1) Vergl. E. Guilt, ,, Geschichte der Chirurgie", Berlin 1898, Bd. I, S. 19.
2) Fritsch a. a. O., S. 51.
3) Vergl. Antal in: Orvosi Helilap 1883, Nr. 8; Woravesik in: Monatshefte
u. s. \v. 1889, Bd. VIII, S. 40.
4) Vergl. Unna, Artikel „Molluscum" in: Eulenburg's Encyklopädie, 3. Aufl.,
Bd. XVI, S. 9.
— ^\6 —
dings Nobl in vortrefflichen Arbeiten die Aufmerksamkeit gelenkt
hati).
Ferner hat man auch das Carcinom und Epitheliom der
Geschlechtsteile, auf dessen häufige grosse Aehnlichkeit mit dem
S3^philitischen Primäraffekte schon oben hingewiesen wurde 2) und
dessen contagiöse Natur neuerdings wieder Gegenstand einer leb-
haften Diskussion geworden ist, im Anschlüsse an den geschlecht-
lichen Verkehr auftreten sehen. Einen dahingehörigen Fall berichtet
L. Marciere. Ein 48jähriger Patient, der vor 10 Jahren einen glatt
geheilten Tripper acquiriert hatte, vollzog vor 2 Jahren den Coitus mit
einem jungen Mädchen. 8 Tage später gewahrte er an der linken
Seite der Eichel ein kleines Geschwür und an der rechten ein Condy-
lom. An diesen Stellen entwickelte sich dann allmählich ein Epitheliom 3).
Natürlich ist es sehr zweifelhaft, ob beim Coitus ein Krebskeim direkt
übertragen wurde, dagegen hat der Geschlechtsverkehr mit seinen
Folgen offenbar die Prädisposition für die Entwickelung des Epithe-
lioms geschaffen. Jedenfalls mussten den Alten solche Fälle als in
gewisser Beziehung zum Coitus stehend erscheinen.
Von anderen Geschwülsten sind, namenlich an den weiblichen
Genitahen, noch Sarkome^), Lipome^), Angiokeratome*^) und das
sogenannte Granuloma fungoides') beobachtet worden.
§ 29. Die pseudosyphilitischeii Affektioneii des Afters.
Die dermatologischen Affektionen des Afters und die mit ihnen
im Zusammenhange stehenden Erkrankungen des Mastdarmes sind
erst in der neuesten Zeit Gegenstand einer eingehenderen Aufmerk-
samkeit von Seiten der Kliniker und Dermatologen geworden. Die
Regio anahs ist aus demselben Grunde eine terra incognita ge-
blieben, aus welchem auch die Lehre von den Faeces bisher arg ver-
i) G. Nobl, „Zur Kenntnis der erworbenen genitalen Lymphangiectasie" in: Wiener
med. Wochenschr. 1901, Nr. 47, S. 2194— 2196 und Nr. 48, S. 2253 — 2259; vergl. auch
dessen ,, Pathologie der blennorrhoischen, syphilitischen und venerischen Lymphgefäss-
erkrankungen", Wien und Leipzig 1901.
2) Vergl. darüber auch G. Behrend, „Lehrbuch der Hautkrankheiten", 2. Aufl.,
Berlin 1883, S. 470.
3) Monatshefte für Dermatologie 1897, Bd. XXV, S. 465.
4) Savage in: British Medical Journal vom 27. Mai 1899.
5) Graefe, „Ein Fall von Lipoma labii majoris" in: Zeitschrift f. Geburtsh. 1887,
Bd. XIV, Heft I.
6) Fordyce in: Monatshefte u. s. w. 1896, Bd. XXHI, S. 34.
7) Hutchinson, ibidem 1899, B^. XXVIH, S. 462.
— 417 —
nachlässigt wurde, um erst jetzt durch die Arbeiten von Schmidt
(Bonn) u. a. energisch in Angriff genommen zu werden. Die
Aesthetik hat hier der Medizin einen bösen Streich gespielt, weshalb
auch noch heute sogar erfahrenen Praktikern, die jene ästhetische
Scheu von der genauen Betrachtung und Untersuchung dieser Gegend
abhält, nicht selten recht verhängnisvolle Irrtümer begegnen und
harmlose hypertrophische Analfalten oder verödete Hämorrhoidal-
knoten für syphilitische Condylome gehalten werden. Seit ich meine
Aufmerksamkeit auf eine genaue Untersuchung der Regio analis auch
bei nichtsyphilitischen Individuen gerichtet habe, konnte ich zu meinem
Erstaunen recht oft erhebliche abnorme Veränderungen in der Um-
gebung des Anus feststellen, die sichthch einem Teile der Schilderungen
der alten und mittelalterlichen Aerzte zu Grunde liegen. Das wird
in der Darstellung dieser einzelnen Affektionen offenbar werden.
Jedenfalls sollte jeder Arzt die Mahnung des grossen Ricord
in Beziehung auf die Diagnostik der Analaffektionen beherzigen. Er
sagt: „Die krankhaften Affectionen des Anus geben zu vielen
und häufigen Irrtümern Veranlassung. Ein Hauptgrund ist,
dass viele Aerzte nicht gern gar zu nah zusehen mögen. Aber hier
muss man den Grundsatz des Mascagni festhalten: es giebt nichts
Schmutziges in der ]\Iedizin! Man kann recht wohl als Arzt gegen
die Aesthetik sündigen, und doch dabei ausserhalb des Berufes ein
PYeund von Blumen und Parfüm sein"^).
Im Folgenden sollen nur die Krankheiten des Afters betrachtet
werden, so weit sie nicht mit Hautleiden kombiniert sind. Die so
bedeutungsvolle Komplikation von Genital- und Analleiden mit einer
Erkrankung der übrigen Haut wird in einem besonderen Abschnitte
besprochen werden.
Auch die pseudosyphilitischen Affektionen des Afters sind wie
diejenigen der Genitalien entweder venerischen oder nichtvene-
rischen Ursprungs.
Die venerischen Erkrankungen der Regio analis treten als
direkte oder indirekte Folgen eines Beischlafs oder einer geschlecht-
Hchen Berührung auf und entstehen durch Ansteckung oder auf
mechanischem Wege.
Bezüglich des Beischlafs muss dann noch wieder der Unterschied
gemacht werden, ob derselbe ein natürlicher oder ein unnatür-
licher war. Denn leider muss an dieser Stelle von vornherein fest-
i) Ph. Ricord, ..Pathologie und Therapie der venerischen Krankheiten", bearbeitet
von H. Lippert, Hamburg 1852, S. 133.
— 4iö —
gestellt werden, dass der letztere Modus der Entstehung einer vene-
rischen Affektion des Afters auch heute noch durchaus nicht selten
ist, in früheren Zeiten entschieden häufiger war und sogar gegen-
wärtig in bestimmten Gegenden sich in erschreckendem Umfange
nachweisen lässt.
Leider kommt in der Beurteilung der Aetiologie der venerischen
und pseudosyphilitischen Affektionen den sogenannten „Figurae
Veneris" eine sehr grosse Bedeutung zu, wie wir insbesondere bei
der Erörterung der bezüglichen Verhältnisse im klassischen Altertum
darlegen werden, ein Punkt, auf den Rosenbaum trotz seiner aus-
führlichen Citate viel zu wenig Gewicht gelegt hat. In verstärktem
j\Iasse gilt von der antiken Welt und deijenigen des islamitischen
Orients, was ganz allgemein Michaelis von den geschlechtlichen
Aberrationen der Gegenwart sagt:
„Die Ausschweifungen in Venere beschränken sich nicht auf
die Kommunikation der Genitalien, da ein ekelhafter Missbrauch die
Wollüstlinge zur Päderastie, zur Benutzung- der zusammengehaltenen
weiblichen Brüste, des Mundes und anderer sonderbarer Mittel be-
wegt. Am Munde verworfener Dirnen, an der Conjunktiva, am
After, an den Brustwarzen kommen daher primäre Geschwüre vor,
die nicht immer zufällige xVnsteckungen sind. Zuweilen geben un-
reinliche Menschen wohl Anlass, dass ein Genitalgeschwür den be-
nachbarten After in Mitleidenschaft versetzen kann, zumal beim Weibe,
wo die mechanischen Verhältnisse förderlich sind, oder sie beschmutzen
in unachtsamer Weise mit besudelten Fingern das Auge, die Lippe,
Nase, Ohr etc. Jedoch kann man mit grosser Sicherheit auf Abusus
schliessen, wenn die Genitalien des Individuums gesund sind, und das
Geschwür sich an einer Stelle befindet, in deren Nähe der Wollüstling
einen brauchbaien Ort für die gesuchte Erregung findet"').
Als ein solch „brauchbarer Ort" für die Befriedigung perverser
geschlechtlicher Gelüste muss neben dem Munde vor allem der After
bezeichnet werden, so dass man sogar in Frankreich dafür den un-
geheuerlichen Ausdruck der „Defloration anale" (Lacassagne) er-
funden hat-). Diese widernatürliche Art des geschlechtlichen Verkehrs
ist nicht nur bei den homosexuellen Männern (Paederasten) ein sehr
gewöhnliches Vorkommnis, sondern wird auch von Männern an
Weibern vollzogen (sogenannte „Paedicatio mulieris"). NachBergh^),
1) A. C. J. Michaelis a. a. O., S. 23.
2) E. Hofmann und Dittrich, Artilcel ,,Paederastie" in: Eulenburg' s Ency-
klopädie, Bd. XVIII, S. 205.
3) R. Bergh, ,, Bemerkungen über venerische Katarrhe bei Frauenzimmern" in
Monatshefte f. prakt. Dermatologie 1898, Bd. XXVII, S. 395.
— 419 —
Venot') und IMartineau^) ist dieser Missbrauch des Weibes bei den
romanischen Völkern häufiger als bei den germanischen. Indessen
höre ich von Herrn Prof. Behrend, dass die Berliner Prostituierten
sich ebenfalls relativ häufig dem Akte der Paedikation unterwerfen
müssen und nicht selten Veränderungen der Regio analis aufweisen,
die hiermit im Zusammenhange stehen. In erschreckender Ausdehnung
huldigt, wie allbekannt, der gesamte islamitische Orient diesen per-
versen Praktikenn.
Es ist hier nicht der Ort, ausführlich auf die sogenannten
„Kennzeichen" der vollzogenen Paederastie einzugehen, die in den
Werken über gerichtliche Medizin einen immer noch strittigen Gegen-
stand der Diskussion bilden. Es kann jedoch m. E. keinerlei Zweifel
darüber bestehen, dass der Coitus per anum noch mehr die Ent-
stehung venerischer und pseudosyphilitischer Affektionen begünstigen
muss, als dies der per vias naturales ausgeübte Beischlaf thut, indem
im ersteren Falle das grosse Missverhältniss rein mechanischer
Natur zwischen dem ]\Iembrum virile und dem Orificium ani viel
stärkere Frictionen und häufigere Verletzungen dieser Gegend ver-
anlasst. In der That sind letztere viel sicherere Kennzeichen der
Päderastie, als die bekannte, besonders durch Tardieu zu dem
wichtigsten diagnostischen Symptom erhobene „trichterförmige Ein-
ziehung" des Afters , welche übrigens schon von dem älteren
Cullerier^) als ein untrügliches Merkmal des Coitus analis angesprochen
wurde, während bereits Ricord dies ganz entschieden bestritt^). Die
genaue Diagnose der Paederastie wird sich besser auf den Befund von
Affektionen des Afters gründen können, welche erfahrungsgemäss
hauptsächlich durch diesen Modus des Geschlechtsverkehrs zustande
kommen, obgleich auch dieser nicht ein ausschliessliches ätiologisches
Moment für jene darstellt, wie bei den nunmehr zu erwähnenden
einzelnenen Affektionen zu Tag'e treten wird.
Nach Martin eau's Erfahrungen^) kommt der weiche Schanker
als Folge der Paedikation viel häufiger am After vor, als der syphili-
tische Primäraffekt, nach v. Petersen findet sich das Ulcus moUe des
i) Venot a. a. O., „Ce goüt anti-pliysique se propage d'iine fac^on deplorable".
2) C. Martineau, „Lecoiis sur les deformations vulvaires et anales", Paris (1885),
S. 121 — 187. — Martineau verweist auf die Häufigkeit der Paedicatio mulieris in der
Ehe, wo nicht bloss Lüsternheit des Mannes, sondern auch vulvovaginale Affektionen der
Frau die Ursache sind. Auch ist die Paedication in gewissen Gegenden Volkssitte.
3) Cullerier a. a. O., S. 93.
4) Ricord, ,, Pathologie und Therapie der venerischen Krankheiten", S. 20.
5) Martineau a. a. O , S. 158 und S. 173.
— 4-0 —
Anus öfter bei Weibern als bei Alännern und fast ausschliesslich
durch Coitus analis bedingt'). Neumann bemerkt: , .(Venerische)
Geschwüre am After, die zumeist bei Weibern vorkommen, sind ent-
weder an den Afterfalten selbst gelegen und erstrecken sich bis auf
die Rectalschleimhaut, oder sie liegen vor oder hinter der Anal-
öffnung. Im ersteren Falle erscheinen sie spaltförmig dreieckig, die
betreffende Afterfalte ist im Beginne gerötet, geschwellt, die Ränder
unterminiert, der (ürund speckig belegt, Die Infektion erfolgt bei
mangelhafter Reinigung vom Genitale her, häufiger durch Coitus per
anum. Sie lassen sich nicht leicht von Sklerose und schwerer
noch von der zerfallenden Papel unterscheiden" 2). Bemerkenswert ist
die starke Hypertrophie der Analfalten im Bereiche des venerischen
Geschwürs, welche nicht selten das letztere überdauert und einen Teil
wenigstens jener antiken „Kondylome" und „IMariscae" gebildet haben
dürfte, welche als Folgen von Entzündungen und Geschwüren in
jener Gegend auftreten.
Durch neuere Forschungen ist festgestellt worden, dass auch
der Anal- und Rectaltripper in grösserer Häufigkeit vorkommt,
als man bisher angenommen hat. Besonders die x\rbeit von Neu-
berger und v. Borzecki hat darüber wichtige Aufschlüsse gegeben^).
Nach diesen Autoren kommt die gonorrhoische Infektion des Anus
relativ häufig vor, am mei-sten bei Weibern, wo sie auf dreierlei Art
zustande kommt, nämlich erstens durch einen Durchbruch eines
Bartholin'schen Drüsenabscesses ins Rectum, zweitens durch Herab-
flicssen des Trippersecretes aus Urethra und Vagina gegen die Anal-
öffnung und drittens durch Coitus analis. Bezüglich des letzteren
Modus bemerken die Verfasser: „Es ergab sich auch in unseren
Fällen, dass gewiss vorzugsweise durch den Coitus analis das gonor-
rhoische Virus auf die Analschleimhaut übertrag-en wird. Sicherlich
ist diese geschlechtliche Verirrung bei den Prostituierten sehr
gebräuchlich oder wenigstens gebräuchlicher, als allgemein
selbst in medizinischen Kreisen angenommen wird. In
unseren Fällen hat allerdings nur eine einzige Patientin diesen Akt
zugestanden, alle anderen haben mit mehr oder weniger grosser Ent-
schiedenheit einen derartigen Vorgang in Abrede gestellt, worauf
jedoch naturgemäss kein grosses Gewicht zu legen ist".
1) O. V. Petersen, , .Ulcus niolle", a. a.- O., S. 434.
2) J. Neumann, ,, Syphilis", S. 16.
3) J. Neuberger und E. v. Borzecki, ,,Ueber Analgonorrlioe" in: Archiv für
Dermatologie 1894, Bd. XXIX, S. 355 — 368.
— 421 —
Auf die häufigere Entstehung des Analtrippers durch Pädikation
weist auch dieThatsache hin, dass derselbe viel öfters bei Prostituierten
angetroffen wird^), als bei anderen mit Tripper der Genitalien be-
hafteten Weibern. Deshalb verlangt Horand mit Recht, dass bei
der ärztlichen Untersuchung der Prostituierten jedes Mal auch der
Anus sorgfältig inspiciert werde. Er fand bei 23 analen Ausflüssen
in 1 1 Fällen Gonococcen -).
Rollet berichtet über einen Fall von Analtripper bei einem
Mann, der an einem Harnröhrentripper litt und sich den Finger in
der ]\Iastdarm eingeführt hatte ^).
Als Folgezustände der Analgonorrhoe nennt Jullien hauptsäch-
lich Fissuren, Condylome und schankröse Geschwüre^). Bezüglich
der ersteren sei auf die weiter unten erfolgende Erwähnung- verwiesen.
Die schankrösen Geschwüre theilt Jullien in zwei Formen ein: i. das
„Ulcere mixte blenno-chancrelleux" und 2. das „Ulcere mixte
blenno-syphilitique". Ersteres, die häufigere Form, verdient als eine
pseudo- syphilitische Affektion des Anus Beachtung; es ist nach
Jullien ein durch den Gonococcus und den Streptobacillus ulceris
mollis (Unna) gemeinschaftlich hervorg-erufenes Schankergeschwür.
Jullien hat zahlreiche Fälle dieses gemischten Schankers beobachtet.
*
Die Fissuren und Rhagaden des Anus müssen auch an dieser
Stelle erwähnt werden, weil sie in der älteren Litteratur eine grosse
Rolle spielen und in der That von vielen Syphilishistorikern als Be-
weise für die Existenz der Syphilis im Altertum mit herangezogen
werden. Nun soll keineswegs geleugnet werden, dass auch die
Fissuren des Afters eine Folge der syphilitischen Infektion sein
können, was besonders der Fall ist, wenn lange bestehende breite
Condylome allmählich an der Oberfläche maceriert werden und die
Haut an jenen Stellen Einrisse bekommt. Aber weitaus die
meisten Rhagaden sind nichtsyphilitischen Ursprungs.
Nach Kelsey entstehen die Analfissuren nach Verletzungen
der Schleimhaut durch harte Kotmassen, ferner bei angeborener Enge
i) Vergl. A. Hub er, ,,Ueber Blennorrhoea recti" in: Wiener med. Wochenschr.
1898, Nr. 25—28.
2) Horand, ,,Ueber Blennorrhoe beim Weibe und beim weiblichen Kinde", nach
Monatshafte 1889, Bd. VIH, S. 193.
3) Charles B. Kelsey, ,, Diseases of the Rectum and Anus", London 1883, S. 6g.
4) L. Jullien, ,,Considerations ä propos de la blennorrhagie anorectale chez la
femme" in: Beiträge zur Dermatologie und Syphilis. Festschrift für G. Lewin, Berlin
1896, s. 73—76.
— 42- —
des Orificium ani bei starker Entvvickeking des Sphincter ani. Bei
Frauen hat sehr häufig Leukorrhoe (durch die macerierende Wirkung
des herabfliessenden ^Sekretes) Einrisse des Afters zur Folge. Endlich
kommen Herpes und vor allem der weiche, nichtsyphilitische Schanker
nach Kelsey für die Aetiologie der Fissuren in der Regio analis in
Betracht, i)
Cullerier beobachtete nicht selten Rhagaden des Afters, welche
„durch gewaltsame Erweiterung infolge von Vermischungen, w^elche
die Natur, die Vernunft und Moral verdammen", hervorgebracht
worden waren.-)
Da die chronische Obstipation eine typische Krankheit der
Prostituierten ist und ferner die Pädikation am häufigsten bei den
öffentlichen Frauenzimmern ausgeführt wird, so dürfen wir erwarten,
Analfissuren infolge dieser beiden Ursachen häufiger bei dieser Klasse
zu finden als bei den übrigen Frauen. In der That v^erzeichnet
R. Bergh in jedem Jahresberichte über das Vestre-Hospital zahl-
reiche Fälle von Rhagaden des Afters bei Puellae publicae, die fast
stets auf habituelle Obstipation oder auf den Coitus analis zurück-
zuführen waren. ^)
Eine sehr häufig beobachtete Ursache der Fissura ani, besonders
bei Kindern, ist das Ekzem der Regio analis, das bei Kindern be-
sonders nach langandauernden Diarrhoeen auftritt.^)
Die sekundäre Infektion der Analfissuren bedingt häufig die
Entstehung von Geschwüren und Absc essen in der Analgegend,
welche durch die verschiedensten Infektionserreger hervorgerufen
werden können. Besonders kommen hier gonorrhoische Prozesse in
Betracht. Neuberger^) bemerkt über die Aetiologie der Analulce-
rationen: „Im allgemeinen neigte man mehr der Ansicht zu, dass die
Analgeschwüre syphilitische Prozesse darstellen. So meinte noch
Kopp u. a., dass ihm „eine luetische Aetiologie für die erwähnten
Vorg-änge (chronische ausgedehnte Ulcerationen mit konsekutiver Bil-
dung von Narbenstrikturen) plausibler erscheine." Andererseits hat
es aber auch nicht an Bestrebungen gefehlt, die luetische Natur der
Mastdarmgeschwäire etwas einzuschränken. So hat Ponfick (Bres-
lauer ärztliche Zeitschrift 1884) den Coitus praeternaturalis für die
Entstehung mancher Anal-Ulcerationen haftbar gemacht, der wegen
i) Ch. B. Kelsey, ,, Diseases of the Recfiuii and Anus", S. i6o.
2) Cullerier a. a. O., S. 64.
3) Vergl. z. B. „Vestre Hospital i 1887", S. 10 (55 Fälle).
4) Vergl. Brunn in: Hospitals Tidende 1892, Bd. VIH, Nr. 45.
5) Neub erger a. a. O., S. 365.
— 4^3 —
der gefässreichen und infolge der lockeren Befestig^ung an ihrer
Unterlage stark gefalteten Rektalschleimhaut leicht zu Rhagaden,
Fissuren u. s. w. führen könne. Vorzugsweise war es aber Poelchen
(Virchow's Archiv ßd. 127 S. 189), welcher in diesem Sinne wirkte
und den Beweis erbrachte, dass „Rektumverschwärung auch ohne
Syphilis vorkomme," und dass Mastdarmulcerationen durch Rekto-
vaginalfisteln und Bartholin 'sehe Drüsenabeesse vermittelst viru-
lenten Scheidensekrets entstehen können." Fink fand öfter Gono-
kokken in Analgeschwüren. Ebenso Neuberger, der aber annimmt,
dass es sich häufig dabei um sekundäre Infektionen nach Coitus
analis und nach Irritationen durch Kotstauungen u. s. w. handle und
die Rhagaden- und Fissurenbildung- stets das erste Stadium darstelle.
Jedoch giebt es auch primäre Fälle von Periproctitis gonorrhoica.
Der Analrand d. h. der Uebergang von äusserer Haut in die
Schleimhaut ist überhaupt eine bevorzugte Stelle für die Bildung
abscedierender und ulcerativer Prozesse. Dies gab Dan y au Ver-
anlassung zu einer eigenen Monographie über die Abscesse des
Analrandes. ')
Was die eigentümlichen Anschauung"en Bandlers über die
Aetiologie der meisten Ulcerationen der Analgegend bei Prostituierten
betrifft, so soll darauf weiter unten eingegangen werden.
Es ist bekannt, dass der Flospitalbrand vorzugsweise auch
die Regio analis befällt. Eine andere Art der Grangrän kommt
nach Rille-) bei Frauen in den Genitocruralfurchen und in der Anal-
region unter dem Bilde des feuchten Brandes vor. Hierbei entstehen
ausgedehnte schmerzhafte Geschwürsflächen um den Anus, die zur
Zerstörung des Sphincter führen können.
*
Von anderen entzündlichen Affektionen des Afters sei zunächst
des Herpes gedacht, der nicht selten in dieser Gegend beobachtet
wird^) und dann hier mitunter dieselben differentialdiagnostischen
Schwierigkeiten macht wie der Herpes der Genitalien, zumal wenn
er mit dem letzteren gleichzeitig auftritt.
Ebenso kommen, besonders bei weiblichen Individuen, die
Aphthen, oft gleichzeitig am Anus und an der Vulva vor.'*)
Zu den häufigsten Analaffektionen g'ehören kleinere oder
grössere Furunkel der Perinealgegend und des Analrandes. Sie
i) A. C. Danyau, „Des absces de La marge de l'anus", Paris 1832.
2) Rille a. a. O., .S. 52.
3) Kelsey a. a. O., S. 162.
4) Siehe oben S. 390-391.
entstehen durch Trauma oder eine andere Irritation (Gebrauch
unreinen und harten Papiers nach der Defäkation, langes Reiten,
Reiz durch Menstrualbkit oder diarrhoische und d)^senterische Stühle,
Diabetes) kommen öfter bei Männern als bei Frauen und sehr
selten bei Kindern vor. Sie schmelzen rasch eitrig ein und ver-
wandeln sich in kleine Geschwüre, i)
Auch Aknepusteln sind in der Regio analis öfter beobachtet
werden. G. Löwenbach sah die „Acne urticata" besonders um den
Anus herum lokalisiert. 2)
Wichtig als eine häufig vorkommende pseudosyphilitische
Affektion der Aftergegend ist das Ekzem, besonders in seinen
chronischen Formen, die auffallend breiten Kondylomen gleichen
können. Unna bemerkt darüber in seiner grossen Abhandlung
über das Ekzem : „Die Diagnose des nässenden Ekzems ist nicht
schwer. Doch kann immerhin zuweilen die Unterscheidung
von nässenden syphilitischen Efflorescenzen Schwierigkeiten
bereiten, besonders wenn die betreffenden Stellen an solchen Orten
vorkommen, die sowohl vom Ekzem wie von der Syphilis bevorzugt
werden, wie die Kontaktflächen z. B. der Achselhöhle und der After-
kerbe. Zumal wenn beim Ekzem die Akanthose stärker ausgebildet
ist, kann die Aehnlichkeit mit condylomatösen Papeln auf-
fallend gross werden".^)
Ebenso leicht kann eine andere erythematöse und papulosa
Affektion des Afters mit Syphilis verwechselt werden, die bei kleinen
Kindern vorkommt und auf welche zuerst französische Autoren
(Jaquet, Schwartz, Sevestre, Besnier) die Aufmerksamkeit ge-
lenkt haben: das sogenannte „Syphiloide post-erosi ve" oder
„Syphiloide infantile" oder „Erytheme papuleux fessier post - erosif '.
Jarisch giebt nach den Mitteilungen der französischen Autoren'^)
von dieser früher wohl sehr häufig als syphilitisch angesprochenen
Affektion folgende Schilderung:
1) Kelsey a. a. O., S. 71 — 72; Krüche, „Spezielle Chirurgie", 10. Aufl., Leipzig
1899, S. 233; R. W. Ramsey in: Monatshefte 1895, Bd. XXI, S. 99.
2) G. Löwenbach, ,,Ueber Akne u. s. w." in: Archiv für Dermatologie 1899,
Bd. XLIX, H. I.
3) P. G. Unna, ,, Ekzem" in: Mracek's Handhucli der Hautkrankheiten, Wien
1902, Bd. II, S. 281.
4) E. Besnier, , .Syphilis infantile (Syphilides et syphiloidesj" in: Annales de Der-
matologie 1887, p. 658 ff.; L. Jaquet, „De Tery-theme papuleux fessier post- erosif" in:
Revue mensuelles des maladies de l'enfance 1886; derselbe, „Des syphiloides erosives,
etude de pathologie cutanee infantile", These de Paris 1888; M. Schwartz, ,,Dermatoses
liees aux troublcs gastro-intestinaux chez les enfants", These de Paris 1892; Sevestre,
„Ueber das Erylhema papulosum des Gesässes" in Gazette hebdomad. 1887.
■ — 425 —
„Die Affektion entwickelt sich unter dem Einflüsse diarrhoischer
Stühle und des Urins in Form von Bläschen, welche sich successive
entwickeln und platzen. Ein Theil derselben überhäutet, ohne zu
weiteren Veränderungen zu führen, bei einem andern Teile verhärtet
die Basis und es bilden sich blau- bis braunrote, hanfkorn- bis bohnen-
grosse, harte, glänzende, in ihrer Mitte erodierte oder wieder über-
häutete und daselbst leicht deprimierte Knoten, deren Epidermis in
der Peripherie leicht gefältelt erscheint, und welche sich in der Anal-
gegend und an den Nates, dem Mittelfleische, Scrotum oder den
Schamlippen lokalisieren. — Ihr Sitz, ihre zentrale Depression, ihr
Glanz , ihre gelegentliche Härte imd der Umstand, dass sie nicht
selten zu kreisförmigen Linien aneinandergereiht sind, macht sie
syphilitischen Efflorescenzen ausserordentlich ähnlich, und
in einem Fall meiner Beobachtung war die Diagnose eines
Primäraffektes sehr nahegelegt. — Die Kenntnis dieser, übrigens
unter entsprechender Reinlichkeit und entsprechender Behandlung in
der Regel innerhalb ein bis zwei Wochen abheilenden Affektion er-
scheint demnach von einiger Wichtigkeit"^).
Von den bei Allgemeinleiden auftretenden Affektionen der
Aftergegend verdienen nur die tuberculösen Hautkrankheiten eine
Erwähnung, weil sie zu den häufigeren Hautaffektionen dieser Region
gehören.
Kelsey unterscheidet zwei Formen der tuberkulösen Anal-
geschwüre; die erste ist eine direkte Wirkung- des Tuberkelbacillus,
die zweite ist nur eine „Ulceration bei Tuberkulösen". Das echte
tuberkulöse Geschwür ist nach Kelse}^ selten. Es occupiert meist
den Analrand und bietet alle Charaktere eines chronischen Ulcus dar,
die andere, häufigere Form ist mehr entzündlicher Natur, welche
häufig durch traumatische Veranlassungen hervorgerufen wird, und
gewöhnlich sich durch starke purulente Sekretion auszeichnet. Als
eine dritte Art tuberkulöser Ulcerationen der Analgegend kann man
auch den sogenannten „Esthiomene" des Anus (Lupus exedens der
Regio analis) anführen, welcher meist mit Hypertrophieen kompli-
ziert ist und vom Perineum ausgeht, auch bei Weibern öfter be-
obachtet wird als bei Männern. Gerade diese letztere Art von Ge-
schwüren gleicht syphilitischen Schankern bisweilen in einer täuschenden
Weise 2).
1) A. Jarisch, ,, Hautkrankheiten", Wien 1900, S. 268 — 269.
2) Kelsey a. a. O., S. 162 — 165; Mazaiakis, „Contribution ä l'etude du traite-
ment et de l'etiologie de l'esthioniene de la region vulvo-anale", These de Paris 1894.
— 4^6 —
Die Tuberkulose der Regio analis führt nicht selten zu starken
Wucherungen, die kond3'lomartigen Charakter annehmen. Ueber
solche Fälle von tuberkulösen Papillomen der Aftergegend be-
richtete u. a. RiehP), ferner Csillag, der bei einem Patienten nach
tuberkulöser Periproctitis das Auftreten solcher Wucherungen in der
Perianalgegend beobachtete-).
Eine sehr grosse Bedeutung für die Lehre von den pseudo-
syphilitischen Affektionen besitzt die Thatsache, dass die Regio analis
in einem hohen Masse einen Prädilektionsort für die Entstehung v'on
hypertrophischen Bildungen der verschiedenartigsten Aetiologie
bildet.
Neuerdings hat Bandler in einer sehr wenig überzeugenden
Abhandlung zu erweisen versucht, dass alle diese Hypertrophieen der
Analgegend, die „Plicae anales hypertrophicae" mit ihren sekundären
Geschwüren und Rhagaden, wenigstens bei Prostituierten auf .S^^philis
zurückgeführt werden müssten''), wobei er aber auch die Blutstauung
durch habitulle Obstipation und sonstige Irritamente als mögliche
Ursachen dieser Hypertrophieen anspricht.
Man findet aber dieselben hypertrophischen Bildung-en
auch bei Individuen, die niemals Syphilis gehabt haben, und
nach den mir mitgeteilten Erfahrungen von G. Behrend haben diese
„Mariscae" und „Cristae" auch bei den Prostituierten nichts mit
S3'philis zu thun.
Schon Astruc^) bringt dieEntwickelung der analen Hypertrophieen,
die von den Alten unter dem Namen „cristae", „thymi", „fici",
„mariscae" etc. beschrieben w^urden, mit dem Vorgange der De-
fäkation und der passiven Pädikation in Verbindung.
„Prima cristarum rudimenta in ano apparent, quoties ultra tonum
an US vi saepius distrahitur vel a versa venere, vel violenta
duriorum faecum egestione; dum enim diducta cutis sibi denuo
i) G. Riehl, „Beiträge zur Kenntnis der Hauttuberkiilose", Wiener klinische
Wochenschrift 1894, Nr. 31.
2) Csillag, „Ein Fall von Tuberculosis perinei", Referat in: Monatshefte 1892,
Bd. XXIX, S. 122 — 123. Vergl. ferner Marianelli, „Tuberkulöse Hautulcerationen am
Perineum" in: Giornale italiana delle malattie veneree e della pelle 1888, Heft i (Referat
in: Monatshefte für Dermatologie 1888, Bd. VII, S. 933 — 934).
3) Victor Bandler, „Ueber die venerischen Affektionen der Analgcgend bei Pro-
stituierten" in: Archiv für Dermatologie 1898, Bd. XLIII u. XLIV (Festschrilt für F.
J. Pick), S. 19 — 30.
4) J. Astruc, ,,De morbis venereis libri novem", Paris 1740, Bd. I, S. 392.
permittitur, laxata in sese concidit atque in plicas pendulas corru-
gatur. Leviores illae plicae sese in dies paulatim promittunt in
cristas, quoniam stagnante lympha uberius nutriuntur. Stagnat
autem in iisdem Ivmpha causa gemina, i. Visciditate, quam habet
seu ab admixto contagio venereo, seu ab alia quacunque causa,
unde fit ut aegrius progrediatur , 2. Nimia partis ipsius mollitie,
unde fit ut debilius propellatur.
Hinc ergo liquet cristas legitimas luem veneream et muliebrem
patientiam frequenter quidem, sed non semper arguere."
Hierbei muss berücksichtigt werden, dass hier Astruc unter
„Lues venerea" wesenthch die „Gonorrhoea venerea" versteht, deren
infektiöses Sekret bei der Päderastie die Haut und Schleimhaut zu
diesen Bildungen, die er dann noch weiter in die obengenannten
Formen zergliedert, anregt.
Aehnlich urteilt Girtanner über die Aetiologie der gewöhn-
lichen Hypertrophien des Afters. Er sagt beim Abschnitte „Aus-
wüchse aller Art am After (fici, mariscae, thymi, mora, fraga, cristae^
rhagades)": „Fici und mariscae heissen grosse, runde, unebene, auf
einem Stiel aufsitzende Warzen, sind sie kleiner, so werden sie thymi,
mora, fraga u. s. w. genannt. Alle diese Warzen sehen bleich und
weiss aus, wie die Haut, auf welcher sie sitzen. Zuweilen gehen sie
in Entzündung und Eiterung über und verursachen eine Mastdarm-
tistel. Cristae werden runde, rauhe, herabhängende, lange Zapfen
genannt, welche weich sind und einige Aehnlichkeit mit einem
Hahnenkamme haben. Auch diese entzünden sich zuweilen und gehen
in Eiterung über. Diese Auswüchse entstehen zuweilen von dem aus
venerischen Schankern ausfliessendem Eiter, das, bei unreinlichen Per-
sonen, leicht durch Kleidungsstücke an den After gebracht werden
kann. Zuweilen entstehen die Schwielen, ohne alle vorhergegangene
Ansteckung, blos durch die Ausdehnung, welche harte Excremente
verursachen. Aber in den meisten Fällen sind diese Auswüchse und
Schwielen am After nur zu deutliche Beweise eines verabscheuungs-
würdigen Lasters, das ich nicht nennen mag"M.
Nach neueren sorgfältigen Beobachtungen ist die Päderastie nur
eine Ursache dieser „Mariscae" des Afters, welche schon an der be-
kannten, später zu erörternden Stelle des Juvenal als Zeichen der
erduldeten Pädikation gedeutet werden. So hatte der erfahrene
Tarnowsky allerdings Gelegenheit, „an habituellen Kyneden, be-
sonders an prostituierten, die zuweilen den Akt der Sodomie (Pä-
I) C. Girtanner, ,,Abliandluiig über die venerische Krankheit", Bd. I, S. 234 — 235.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 28
— 428 —
derastie) mehrmals an einem Tag begehen, die Bildung warzenförmiger
Auswüchse am Rand des Orificium ani, an den radiären Falten der
Haut und sogar an den Wänden des Rectums selbst zu beobachten.
Doch noch häufiger entstehen solche Gebilde unabhängig von der
Sodomie. Bei katarrhalischer Entzündung des Rectums, die bei
Kindern durch die Anwesenheit von Würmern bedingt wird, bei
hämorrhoidalen Leiden Erwachsener, bei Pruritus analis im Greisen-
alter bilden sich eben solche Papillome" i).
Dem entsprechend sind jene kondylomartigen Hypertrophien
des Anus Ijei den verschiedensten krankhaften Zuständen beobachtet
worden, unter denen natürlich auch solche durch Päderastie hervor-
gerufene eine Rolle spielen.
Fritsch beobachtete bei Hypertrophia vulvae lymphatischen
Ursprungs gleichzeitig einen „dicken Kranz rissiger Wulstungen um
den Anus", ohne dass die betreffenden weiblichen Personen syphili-
tisch waren oder gewesen waren '^).
Ferner bemerkt derselbe: „Bei Urinfisteln findet man oft die
Vulva bis zum After hin entzündet, geschwollen und ödematös.
Die Haare sind mit harnsauren Salzen incrustiert, und die Haut kann
so hypertrophieren, dass hahnenkam mähnliche Geschwülste
und Schwarten in den Falten sich bilden"^').
Was oben von den so sehr verschiedenen Ursachen der Bildung
der sogenannten „venerischen", nichtsyphilitischen Vegetationen („spitze
Condylome") an den Geschlechtsteilen gesagt wurde, gilt durchaus
auch von den analogen (jeschwülsten der Aftergegend. Auch hier
entstehen die Vegetationen und papillomatösen Bildungen nach Ein-
wirkung verschiedener Irritamente. Sehr gut hat Campana-*) in
seinen geistreichen, zahlreiche wertvolle Beobachtungen enthaltenden
„Frammenti di Dermatologia" diese so sehr differenten aetiologischen
Momente für die Genesis dieser Vegetationen des Afters zusammen-
gestellt:
„Neir ano si vcrificaiio spesso queste vegetazioni. Cola ha luogo soventi Stasi san-
"uigna, per uno stato meccanico, dipendente da feci dure neu' intestino, da vizi epatizi, da
elmintiasi, da alterata niitrizione dei vasi sanguigni iiella gotta od altro, che non (anno veri-
ficare facihnente la circolazione di rilorno peiianale; ciö avviene piu di tutto nei gottosi,
negli alcoolizzati, in (jiulli con distinbi nevropatici vasali.
1) P. Tarnowsky, „Die kiankhaflen Erscheinungen des Geschlechtssnines", Berhn
1886, S. 12;.
2) Fritsch a. a. O., S. 51.
3) Ibidem, S. 53.
4) R. Campana, ,, Frammenti di Dermatologia", Genua 1899, S. 116.
— 42Q —
Con la Stasi si ha l'esfoliazzione epiteliale perianale e della mucosa, e la lacerazione
deir epitelio, sotto forma di ragadi, formatesi pel distendimento dell' organo, per il pas-
saggio forzato delle fecce; da ciö iperplasia del tessuto connettivo e dello epitelio rettale ed
anale, ed essudazione. Soventi, qiiesti fenomeni anatomici, assumono il carat-
tere di una eruzione condilomatosa, a vegetazioni multiple villiformi. Si
hanno fatti identici nella iiretra, sul faringe, sulla congiuntiva, nella sclineideriana, negli inter-
femori, sul cuoio capelluto ecc.
Oueste vegetazioni, asportate, e curate le altre alterazioni, che le complicano, non
lasciano infezione, ne conseguenze di sorta. Nella donna si pun verificare
questa eruzione, accompagnata o non, da uretrite iperplastica diffusa, e, piü di frequente,
accompagnata da essudazione catarrale."
Auch aus diesen Beobachtungen ergiebt sich, was übrigens
auch Koch und Tschlenoff^) in neueren Arbeiten hervorgehoben
haben, dass Bandler's Ansicht von der ausschhesslich syphihtischen
Aetiologie der Analhypertrophieen unhaltbar ist.
Ferner wird diese Anschauung mit aller Sicherheit durch jene
Beobachtungen der Entstehung von Vegetationen und Hypertrophieen
bei gesunden Individuen und nach rein mechanischen und chemi-
schen Eingriffen widerlegt. Von Interesse in dieser Beziehung ist
eine Diskussion in der ungarischen dermatologischen Gesellschaft
vom 26. Januar 1899, im Anschlüsse an einen von A. Alpar vor-
gestellten Fall. Bei einem 42jährigen Manne war die Analöff-
nung durch ausgebreitete papillomatöse Wucherung'en verlegt. Vom
Sphincter bis zum Gesässrande sah man zahlreiche haselnussgrosse,
papillomatöse Geschwülste, welche stellenweise hahnenkammähnliche
Figuration zeigten. Das Leiden bestand seit drei IMonaten. Der
Patient bemerkte damals in der Analöffnung ein erbsengrosses Ge-
schwülstchen. Alpär konnte für die mächtige Wucherung dieser
Papillome in diesem Falle schwer eine Erklärung finden, da irgend-
welche irritierenden Produkte sowohl seitens des Darmes als auch
seitens der perianalen Haut nicht nachweisbar waren. Der Patient
hatte nie an irgendwelcher akuten oder chronischen Darmerkrankung
gelitten. Durch öfter vorgenommene mikroskopische Untersuchung
des rektalen »Sekrets konnte die Blennorrhoe ausg'eschlossen werden.
Auch irgend ein Macerationsprocess in der Perianalregion war nicht
vorhanden. In der Diskussion berichtete Weiss über einen ähnlichen
Fall von dunkler Aetiologie, wo bei einer 11 jährigen gesunden Virgo
intacta kopfgrosse Papillome des Afters ohne nachweisbare Reizung
entstanden. Demgegenüber hat Rona bei einem 16jährigen jungen
Mann derartige Wucherungen gesehen, der eingestand, dass er
i) M. Tschlenoff, ,, Syphilis und Elephantiasis vulvae" in: Med. Obosrenje 1902,
Nr. II.
28*
— 430 —
Päderast sei. Havas suclite die ersten Fälle durch die Annahme
zu erklären, dass die papilläre H3^pertrophie durch die Anhäufung-
des Schweisses und durch Maceration infolge von Intertrigo ent-
standen sei ^).
Oft können diese gänzlich unschuldigen Vegetationen völlig den
syphilitischen Condylomata lata gleichen. Einen merkwürdigen Fall
dieser Art beobachtete Brouardel^). Er sah in P'ournier's Ab-
teilung einen jungen Mann, der der passiven Päderastie ergeben war
und um den Anus herum aus einem Herpes hervorgegangene Herde
hatte, die durchaus wie „Plaques muqueuses" aussahen, obgleich der
Patient keine Syphilis hatte. Diese eigentümhchen Gebilde ver-
schwanden sehr schnell nach Applikation einer einfachen Zinkpaste.
Auch das sogenannte „Papilloma ani der Chirurgen" gehört
hierher. Albert, der eine Abbildung davon giebt"), bemerkt über
dasselbe: „Es tritt ohne jeden Zusammenhang mit einer vene-
rischen Infektion auf, und Esmarch sah eines, das in Erbsen-
grösse schon auf die Welt gebracht wurde. Ein bei Weibern noch
ausgebreiteteres als das hier abgebildete sah ich auf der v. Dumre ich er-
sehen Klinik; es war fast so gross, dass es auf einer Seite des Afters
die Fläche einer aufgedeckten Hand bedeckte, während es auf der
anderen Seite eine etwa halb so grosse Fläche einnahm. . . Häufig
folgt der Abtragung oder Wegätzung dieser Gebilde kein Recidiv;
ich sah aber auch schon hartnäckige Recidiven".
Ferner muss an dieser Stelle eine die Geschlechtsteile und die
Regio analis gleichmässig befallende Krankheit der Tropen erwähnt
werden, dass sogenannte „venerische Granulom" (groin ulceration,
ulcerating" granuloma of the pudenda, chronic venereal sores), welches
besonders in Ostindien, Fiji, Melanesien, Nordaustralien und Neu-
Guinea vorkommt.
„Das Leiden stellt sich dar als eine hellrote, glänzende, leicht
blutende Granulationsmasse von verschiedener Ausdehnung, welche
eine dünne, leicht blutig gefärbte Flüssigkeit absondert und einen
fötiden Geruch verbreitet""^).
i) Referat in: Monatshefte für Dermatologie 1899, Bd. XXVIII, S. 413.
2) G. Brouardcl, „Lesions lierpetiqiies simulant des plaqiies muqueuses" in:
Gazette hebdomadaire de medecine 1897, Nr. 8, S. 87.
3) E. Albert, ,, Lehrbuch der Chirurgie", Wien und Leipzig 1885, Bd. III, S. 547
(Fig. 109) und S. 545.
4) B. Schcube, ,,Die Krankheiten der warmen Länder", 2. Auflage, Jena 1900,
S. 605.
— 431 —
Der Sitz der Krankheit sind in der Regel die Genitalien und
ihre Umgebung, Pubes, Unterleib, Leistengegend, Oberschenkel,
Damm, Umgegend des Afters hinauf bis zum Steissbein und
Gesäss. Diese Granulationsgeschwulst ist k o n t a gi ö s und autoincolubabel,
tritt immer erst nach der Pubertät auf und wird demgemäss häufig
durch den Beischlaf übertragen i).
Von der Framboesia tropica, welche ja in der Aftergegend
typische „breite" Condylome erzeugt, wird weiter unten die Rede sein.
Dass Hämorrhoiden die Entstehung von Analhypertrophieen
begünstigen, wurde bereits oben (S. 403) hervorgehoben. Aber auch
der hämorrhoidale Zustand selbst bietet sehr häufig eine auffällige
Aehnlichkeit mit condylomatösen Bildungen dar.
Zunächst kann selbst ihre Aetiologie eine scheinbar venerische
sein. So pflegten sich bei einem meiner Patienten regelmässig nach
in kurzer Zeit öfter wiederholtem Beischlaf äussere Hämorrhoidal-
knoten einzustellen, die ebenso reg'elmässig bei einer darauf folgenden
geschlechtlichen Abstinenz von selbst wieder verschwanden. Eich-
horst hat ebenfalls diese Beobachtung gemacht und erklärt die Ent-
stehung von Hämorrhoiden durch geschlechtliche Excesse
daraus, dass dabei übermässige Blutwallungen zum Gebiete der Mast-
darmvenen zustande kommen-).
Besonders im Orient, wo ja Hämorrhoiden in ausserordentlicher
Frequenz als ein endemisches Leiden auftreten'^), wird ihr Auftreten
im Anschlüsse an geschlechtliche Excesse sehr häufig beobachtet,
wie schon aus den Schriften der arabischen Aerzte hervorgeht.
Wichtiger aber ist, dass viele Hämorrhoiden ein typisches
Warzen- und condylomartiges Aussehen darbieten.
Der ältere Cullerier bemerkt: ,.Es sitzen zum Beispiele Hahnen-
kämme und Condylomata am After, bestehen eine Zeit lang fort,
werden weich und verschwinden zum Teil auf den örtlichen Gebrauch
erweichender und öliger Mittel; früher waren Hämorrhoidalknoten
vorhanden, und man sieht keine Spur von Lustseuche mehr: in einem
solchen Falle darf man nicht mehr zweifeln, dass die Auswüchse
nichts weiter als Hämorrhoidalknoten sind"^).
i) Ibidem, S. 605 — 608.
2) H. Eichhorst, Artikel „Hämorrhoiden" in: Eulenl^urg's ,,Real-Encylclopädie",
3. Aufl., Bd. IX, S. 466.
3) A. Hirsch, „Handbuch der historisch-geographischen Pathologie", 2. Auflage,
Stuttgart 1886, Bd. III, S. 313.
4) Cullerier a. a. O., S. 96.
- 43 2 —
Kelsey unterscheidet direkt zwei Formen von Hämorrhoiden,
I. den venösen Tumor, 2. die daraus sich entwickelte Hauthyper-
trophie, welche man auch als „Cond^dom" bezeichnet^).
Sehr bedeutungsvoll sind die Beobachtungen des erfahrenen Eich-
horst über das Aussehen der Hämorrhoiden. Zunächt unterscheidet auch
er knotenartige, von normaler Haut bedeckte Anschwellungen von den
warzenartigen Hämorrhoiden, bei denen die Epidermis selbst ver-
dickt ist^). Dann aber schildert er die Umwandlung dieser Gebilde
in jene Form der Hypertrophie, welche, wie er ganz richtig erkannt
hat, die Alten unter dem Namen „Mariscae" beschrieben haben,
worunter sie ähnliche Hypertrophien verschiedener Provenienz ver-
standen. Eichhorst sagt: „In Fällen, in welchen sich eine bedeutende
Hyperplasie des den After umgebenden Bindegewebes ausgebildet
hat, kann es sich ereignen, dass die von ihnen umschlossenen Er-
weiterungen der hämorrhoidalen Venen von der allgemeinen Cirkulation
ausgeschlossen werden und teilweise nach vorausgegangener Throm-
bosenbildung obliterieren oder sich zum Teil in kystenartige und mit
blutigem oder mit mehr serösem Inhalte erfüllte Räume umwandeln.
Man findet alsdann denAfter von prom ini erenden Wucher-
ungen umgeben, welche ein condylomartiges Aussehen
darbieten und von den älteren Aerzten als Mariscae be-
nannt wurden. "2)
Dass diese , .Mariscae", diese ,, blinden Hämorrhoiden"^) sich be-
sonders häufig auch bei den der passiven Päderastie ergebenen Individuen
entwickeln, ist erklärlich, und dieser Umstand ist ebenfalls geeignet,
gewisse Stellen bei antiken Schriftstellern zu beleuchten. Mit Bezug
hierauf sagen die Gerichtsärzte Hof mann und Dittrich: „Die Ma-
riscae und Cristae der Alten sind Vorwölbungen der Afterschleimhaut,
welche entweder in Form von Knoten oder hahnenkammartigen Ge-
bilden auftreten oder einen prolapsartigen Saum (Casper) darstellen.
Eine genauere Untersuchung dieser Gebilde hat in der Regel nicht
stattgefunden, und es ist begreiflich, dass dieselben ebenso gut nur
Hämorrhoidalknoten als wirkliche Wucherungen der Schleimhaut oder
eine Vorstülpung der letzteren gewesen sein konnten. Hämorrhoidal-
knoten sind allerdings für sich allein nach keiner Richtung beweisend,
doch ist es begreiflich, wenn sie bei habituellen Päderasten sich ent-
i) Ktlsey a. a. O., S. 92.
2) Eichhorst a. a. O., S. 468.
3) Ibidem, S. 464 — 469.
4) Vergl. J. Hyrtl, , .Topographische Anatomie", "Wien 1882, S. 155 — 156.
433
wickeln, da durch jede Reizung des Sphincter ani die Venae haemor-
rhoidales coinprimiert werden. Ebenso muss man zugestehen, dass
der wiederholte mechanische Insult sowohl Wucherungen der Schleim-
haut als auch prolapsusartige Vorstülpungen derselben bewirken kann."^)
Bisweilen geben Hämorrhoiden Anlass zu Geschwürbildung am
After, wie dies schon v. Embden beobachtet hat. 2)
Von den eigentlichen Neoplasmen des Afters sind u. a. Fi-
brome beobachtet worden, die zur Ulceration neigen (Curling,
Hovel)-^). Franks constatierte bei einem 66jährigen Manne, der
lange Zeit an Obstipation gelitten hatte, grosse, mehr oder weniger
gestielte, den Anus vollständig umgebende Tumoren. Diese Anal-
fibroide wuchsen augenscheinlich vom Afterrande aus ^).
Nicht gar so selten sind Lipome der Regio perineo-analis.
Es liegen Beobachtungen darüber von Esmarch, Weiss, Böse,
Molliere, Spencer Wells, Molk u. a.^) vor. Eine besondere Ab-
handlung über die Lipome des Dammes schrieb Lejars, aus welcher
hervorgeht, dass sowohl die perinealen als die perianalen Lipome
manchmal an der Oberfläche verschwären '').
Ebenso werden öfter angeborene Cysten in der Perineal- und
Analgegend beobachtet (Kelsey, Lejars, Danzell, Perrin).
Endlich kommen Sarkome und Carcinome in der After-
gegend vor, die nicht selten eine syphilitische Geschwulst vortäuschen
können. Bezeichnend dafür ist ein von Du Castel beobachteter
Fall. Es handelte sich um eine junge Frau, die in der rechten Glu-
täalgegend, dicht bei der Rima ani ein grosses, an seiner Basis stark
verhärtetes Geschwür aufwies, welches man anfangs für ein
ulceriertes Syphilom hielt, bis die genauere Untersuchung die
sarkomatöse Natur desselben ergab ').
1) E. Hofmann und Dittrich, Anikel ,, Päderastie" in: Eulen buri^ 's ,,EncykIo-
pädie", Bd. XVIII, S. 206.
2) V. Embden a. a. O., S. 382.
3) Kelsey a. a. O., S. 149.
4) K, Franks, ,, Ungewöhnlich grosse Analfibroide" (British Medical Journal 1894,
3. Nov.), Referat in: Monatshefte 1895, Bd. XXI, S. 189.
5) Kelsey a. a. O., S. 150.
6) Lejars in: Annales des nialadies des organes genito-urinaires 1897, Nr. 4.
7) Du Castel, „Ueber ein Sarkom des Afters'' nach: Monatshefte für Derma-
tologie 1895, Bd. XX, S. 398—399.
— 434 —
§ 3o Die pseudosyphilitisehen Affektioneii der Mundhöhle,
des Rachens und der Xase.
Eine Prädilectionsstelle für das Auftreten der syphilitischen
Krankheitserscheinungen bildet die zarte, mannigfaltigen Reizungen
ausgesetzte Schleimhaut der Mundhöhle und des Rachens. „Nächst
der allgemeinen Decke," sagt Neumann i), „giebt es kein Organ oder
Organteil, welches von der Syphilis in allen ihren Stadien so häufig
ergriffen wird wie die Schleimhaut der Mundhöhle und des Rachens.
Die mechanischen, chemischen und thermischen Reize, denen die
Schleimhaut dieser Bezirke ausgesetzt sind, möglicherweise auch der
Einfluss der in grosser Menge in der Mundhöhle vorkommenden
Bakterien erklären zur Genüge die grosse Häufigkeit der syphili-
tischen Affektionen dieser Organe."
Aber ebendieselben Eigentümlichkeiten sind auch die
Ursache der nicht minder grossen Frequenz syphilisähnlicher
Erkrankungen der Mundhöhle, die hier um so grössere differential-
diagnostische Schwierigkeiten bereiten, als selbst die specifisch syphi-
litischen Affektionen der Mundhöhle hier in anderer Weise auttreten
als an den übrigen Stellen des Körpers. Die Blasen- und Pustel-
formen der Haut erfahren „durch die abweichende Beschaffenheit des
Grundgewebes, durch äussere Einwirkung wie erhöhte Temperatur,
permanente Befeuchtung, Druck und Reibung, chemische Wirkung
der Ingesta und der Secrete der Mundhöhlendrüsen sehr beträchtliche
Veränderungen," 2) durch welche ihr specifischer Charakter mehr oder
weniger verwischt wird. So kommt es, dass nirgends die Frage:
syphilitisch oder nichtsyphilitisch? schwieriger zu beantworten ist, als
bei den Affectionen der Mundschleimhaut, die bei verschiedenartiger
Aetiologie oft ein völlig gleiches Aussehen darbieten. Auch ist das
Vorkommen solcher pseudosyphiHtischen Affektionen in der Mund-
höhle ein sehr häufiges wegen der oben angeführten Schädigungen
und äusseren Einflüsse, deren Wirkung durch die „exponierte Lage"
(Lieven)'') der Organe des Mundes und Rachens begünstigt wird.
Da für die primären syphilitischen Affektionen der Mundhöhle
relativ häufig ein venerischer Ursprung durch widernatürlichen
Geschlechtsverkehr (Coitus in os, P'ellatio, Cunnilingus) in Betracht
i) J. Neumann, „Syphilis", S. 287.
2) Neumann a. a. O., S. 297.
3) A. Lieven, „Die Syphilis der oberen Luftwege u. s. w. Teil II. Die Syphilis
der Mund- und Rachenhöhle", Jena 1900, .S. 38.
— 435 —
kommt — Venot^) nennt nach seinen Erfahrungen bei den Prosti-
tuierten von Bordeaux den Mund geradezu „l'alter eg-o du canal vulvo-
uterin" — so dürfte anch bisweilen für die Aetiologie gewisser
pseudosyphilitischer Affektionen ein gleicher error loci anzunehmen
sein. Der weiche Schanker wird wohl fast ausschliesslich durch
solchen perversen Geschlechtsverkehr auf die Schleimhaut der Lippen
und der Mundhöhle übertragen-'), wenn auch diese Localisation nur
selten zu erfolgen scheint^).
Ebenso scheint unter Umständen der Coitus per os eine gonor-
rhoische Stomatitis mit Ulceration herbeiführen zu können. Von
Menard wurden mehrere derartige Fälle beobachtet. Cutler be-
richtet über einen Fall, wo bei einem 21jährigen Mädchen nach Coitus
per os schon am folgenden Tage eine Entzündung der Mundhöhlen-
schleimhaut mit eitriger Secretion sich einstellte, die zu Einrissen
und Geschwüren an Wangen, Lippen und Zunge führte, wobei im
Secrete dem Gonokokkus sehr ähnliche Mikroorganismen gefunden
wurden^). Nach Horand soll sogar ein Mann durch Coitus in os
bei einem Mädchen sich einen Tripper zugezogen haben ''). Jeden-
falls ist durch Rosinski, Dohrn u. a. die Existenz einer Stomatitis
gonorrhoica bei Neugeborenen sichergestellt, und so dürfte auch wohl
das Vorkommen derselben bei Erwachsenen w^ahrscheinlich sein.
Es ist möglich, dass auch noch andere Hautleiden in der Um-
gebung des Mundes durch widernatürlichen Geschlechtsverkehr und
durch Küssen übertragen werden können. Hieran muss man auch
bei Beurteilung des rätselhaften „Mentagra" der römischen Kaiserzeit
denken, dessen Natur später zu untersuchen sein wird. Auch jene
merkwürdigen Beobachtungen von Santlus'') vom Auftreten einer
Sycosis parasitaria nach Cunnilingus sollen in jenem Zusammen-
hange näher erörtert werden. Die Möglichkeit einer nichtsyphilitischen
Infection durch Cunnilingus ist also ebenfalls ins Auge zu fassen.
Immerhin stellen diese Fälle relativ seltene Erscheinungen dar
in Vergleichung mit der grossen Häufigkeit der entzündlichen
Veränderungen in der Mund- und Rachenhöhle, welche mit syphi-
litischen Affektionen verwechselt werden können.
i) Venot a. a. O., S. i6.
2) J. Neumann, ,, Syphilis", S. 17.
3) E. Lang, ,, Vorlesungen über Syphilis", S. 298.
4) J. Lang, „Der venerische Katarrh", Wiesbaden 1893, S. 107.
5) Ibidem, S. 107.
6) Santlus, „Eine Fiage über die Bartfinne (MentagraJ" in: Deutsche Klinik 1854,
s. 377.
— 436 —
Was zAinächst derartige pseudosyphilitische Affektionen der Lippen
betrifft, so giebt es auch hier solche, die offenbar auf einer Infek-
tion (durch Küssen u. a.) beruhen, also sehr leicht eine Verwechse-
lung mit syphilitischen Leiden veranlassen können.
Der Zahnarzt Paul Ritter beobachtete häufig akute Oedeme
der Lippen, besonders bei Näherinnen, die er als Folgen einer Lifek-
tion betrachtet, bei denen manchmal die L^nterscheidung von einem
syphilitischen Primäraffekt sehr schwer ist. Bisweilen entstehen diese
Lippenödeme auch im Verlaufe einer Zahn - Periostitis ').
Eine weitere contagiöse Erkrankung der Lippen ist die ulcerosa
Rhagade der Mundwinkel, die sogenannte „Faulecke", die, wie
Lang2) hervorhebt, ihrem Sitze und Aussehen nach sehr an eine
syphilitische Affektion erinnert. Er beschreibt dieselbe folgendermassen :
„Die Faul ecke repräsentiert sich als ein kleines Spaltgeschwür, als eine uiceröse
Rhagade an den Mundwinkeln. Man findet gewöhnlich eine mehrere Millimeter lange bis
in das Corium hineinreichende, empfindliche Dehiscenz, mit belegtem Grunde und weisslich
verfärbten, leicht aufgelockerten und etwas prominenten Rändern; bei verwahrlosten Indi-
viduen erreicht die Faulecke den Umfang eines Gerstenkorns. Dieses Spaltgeschwür wird
am gewöhnlichsten durch Trinkgeschirre, gelegentlich auch durch Küsse und andere Be-
rührungen übertragen ; gemeinsame Trinkbecher an öffentlichen Brunnen geben häufig ein
Infektionsmedium ab. Die Ansteckung macht sich sehr rasch, namentlich schon nach
Stunden, bemerkbar und betrifft bald nur einen, bald beide Mundwinkel. Uebertragungen
auf andere Regionen sind mir nicht vorgekommen ; nur einmal habe ich den Prozess von
den Mundwinkeln gegen die Wange hin, in einer Linie, die der Berührung beider Zahn-
reihen entspricht, sich foitsetzen sehen; möglich, dass in dem Falle Bissstellen an der
Wangenschleimhaut die Autoinoculation mit dem Sekrete der Mundwinkel begünstigt haben.
Die benachbarten Lymphdrüsen sind in der Regel in keine Mitleidenschaft gezogen. — Die
Faulecke heilt, wenn den gewöhnlichen Gesetzen der Reinlichkeit Rechnung getragen wird,
in wenigen Tagen; bei Vernachlässigung kann der Zustand eine unabsehbar lange Zeit
dauern."
Eine dritte infektiöse Erkrankung der Lippen stellt die eine
auffallende Aehnlichkeit mit serpiginösen syphilitischen Geschwüren
darbietende „ Katocheilitis der Schnitter" oder „serpiginöse
mykotische Ulceration der Unterlippe" dar, welche Moretti
in den italienischen Marken beobachtet hat. Nach Tommasoli
handelt es sich um eine parasitäre Form des Ekzems-')
i) P. Ritter, ,,Zahn- und Mundleidcn mit Bezug auf Allgemein-Erkrankung",
Berlin 1897, .S. 120; „Beitiag zur Diagnose und Therapie syphilitischer Affektionen der
Mundhöhle und der Kieferknochen" in: Zahnärztliche Rundschau 1899, Nr. 377, -S. A., S. 5.
2) E. Lang, ,,Das venerische Geschwür",' Wiesbaden 1887, S. 42 — 43.
3) Tommasoli in: Rivista Clinica di Bologna 1887, Nr. 3 (Referat in: Monats-
hefte für Dermatologie 1887, Bd. VI, S. 630 — 631).
— 437 —
Auch Lieven^) macht darauf aufmerksam, dass die krustösen
Ekzeme der Lippen sowohl einer syphilitischen Erosion als auch
einem krustösen Schanker sehr ähnlich sehen können. Besonders
durch häufiges Kratzen mit dem Fingernagel und Abreissen der
Kruste, auch durch Touchieren mit Höllenstein kann eine völlige In-
duration des Grundes hervorgerufen werden, so dass „ein der spe-
cifischen Induration täuschend ähnliches Bild entsteht."
In der „Clinical societ_y of London'" stellte 1901 Tarn er einen
58jährigen Mann mit einer eigentümlichen Affektion der Lippen vor,
die er als „intraktable LI Iceration"' bezeichnete. Anderthalb
Jahre vorher hatten sich bei dem Patienten ausgedehnte Ulcerationen
am Zahnfleisch des Oberkiefers gezeigt, die die Entfernung fast aller
oberen Zähne erforderlich machten. Nach Heilung dieser ülceration
zeigten sich vor 6 Monaten die gleichen auf den Innenflächen der
Ober- und L'nterlippe, die sich allmählich auch auf die Aussenflächen
ausdehnten nnd äusserst schmerzhaft waren. Syphilis konnte als Ur-
sache ausgeschlossen werden, da alle Arten der specifischen Therapie
sich als gänzlich wirkungslos erwiesen -).
Volkmann^) beschrieb als „Myxadenitis labialis"" eine Er-
krankung der Lippenschleimhaut, deren Wesen eine geschwulstartige
Hypertrophie der Lippenschleimdrüsen darstellt. Solche eigentüm-
lichen Krankheitsformen wurden auch von Eränkel und Wright
beobachtet. Nach Lieven^) unterscheiden dieselben sich so wenig
von der von Thimm und von v. Düring gegebenen Beschreibung
der specifischen Infiltration der Lippenschleimdrüsen, dass ohne x\na-
mnese und ohne specifische Therapie eine Entscheidung über den
Charakter der Affektion unmöglich ist.
*
Unter den entzündlichen pseudosyphilitischen Affektionen der
eigentlichen Mundhöhle sind zunächst die verschiedenartigen Formen
der Stomatitis zu erwähnen.
Nach Lang^) zeigt bei Frauen eine benigne Stomatitis,
die in Form seichter Geschwüre auftritt, einen gewissen Zusammen-
hang mit der Sexualität, indem dieselbe meist während der Laktation
i) Lieven a. a. O., S. 9.
2) Referat in: Deutsche Medizinal-Zeitung 1901, Nr. 23, S. 274.
3) R. Volkmann, ,, Cheilitis glandul. aposlematosa" in: Virchow's Archiv, Bd. L,
142.
4) Lieven a. a. O., S. 57.
5) E. Lang, ,, Vorlesungen über Sj'philis", 2. Aufl., S. 298.
— 438 -
(„Stomatitis materna" der Alten), der Gravidität oder der Menstruation
erscheint, auch öfter pathologische Zustände des Uterus begleitet.
Wichtiger ist die eigentliche Stomatitis ulcerosa, die ent-
weder als idiopathische contagiöse Infektionskrankheit auftritt oder
auch im Gefolge schwerer fieberhafter Allgemeinleiden erscheint >)
und sich durch schmerzhafte Schwellung und Bildung zahlreicher Ge-
schwüre auf der Lippen- und Wangenschleimhaut und auf der Zunge
auszeichnet'^).
Die Singhalesen Ceylons leiden besonders in den Kinderjahren
vielfach an einer Stomatitis (Stomacace simplex vesiculosa),
die man dem Essen unreifer Früchte (Ananas) zuschreibt ^j.
Die bedeutsamsten Formen der Stomatitis sind die durch Herpes
und durch Aphthen hervorgerufenen.
Die Unterscheidung eines Herpes der Lippen und einer Stoma-
titis herpetica von syphiHtischen Symptomen, insbesondere von Pla-
ques muqueusos ist oft sehr schwierig. Nach Lieven^) besteht ins-
besondere zwischen der einzelnen Herpeserosion, welche aus dem
geplatzten Bläschen resultiert und einer erosiven kleinen Plaque mu-
queuse oft eine „absolute Aehnlichkeit". Die meist als so charakte-
ristisch angegebene polycyklische Begrenzung der Herpeserosion en
ist in der Tiefe der Mundhöhle oft kaum oder gar nicht zu erkennen.
Eine weitere Schwierigkeit ist die, dass der Herpes mit Vorliebe
einen locus minoris resistentiae befällt, daher häufig auch nach einer
syphiHtischen Erkrankung der Mundhöhle in derselben auftritt und
ähnlich den Plaques muqueuses öfter recidi viert. Daraus erklärt
sich die überaus häufige Verwechslung der herpetischen Affektionen
der Lippen- und Mundhöhlenschleimhaut, die auch Köbner^) kon-
statiert. Auf die für die Diagnose noch fatalere Kombination einer
Stomatitis herpetica mit einem Genitalherpes wird im folgenden Para-
graphen hingewiesen werden. Erwähnt sei nur noch, dass auch der
Herpes zoster der Mund- und Rachenschleimhaut schon oft mit
syphilitischen Affektionen verwechselt wurde *^).
1) Vergl. darüber Schrakamp, „Zur Diffcrenlialdiagnose der Erkrankungen der
Mundhöhle" in: Deutsehe med. Wochenschrift 1887, Nr. 41, S. 892 — 894.
2) Lang a. a. O., S. 298; A. Hirsch, „Handbuch der historisch-geographischen
Pathologie", 2. Aufl., Stuttgart 1883, Bd. II, -S. 356.
3) A. AVernich, ,, Geographisch-medizinische Studien u. s. w.", Berlin 1878, S. 371.
4) Lieven a. a. O., .S. 42.
5) H. Köbner, ,,Uaber Pemphigus vegetans u. s. w.", a. a. O., S. 63.
6) Ibidem, S. 63 — 64.
— 439 —
Gewöhnlich findet man in den dermatologischen Lehrbüchern
angegeben, dass die vStomatitis aphthosa fast ausschliesslich bei
Kindern vorkomme. Nach den Erfahrungen vielbeschäftigter Zahn-
ärzte kommen die aphthösen Geschwüre aber auch sehr häufig bei
Erwachsenen vor. Ich hatte selbst Gelegenheit, kürzlich einen der-
artigen Fall zu beobachten, in welchem auch von Zahnarzt P. Ritter
die Diagnose „Aphthen" gestellt wurde. Die Unterscheidung von
syphilitischen Plaques und Erosionen der Mundhöhle ist um so
schwieriger, wenn das aphthöse Geschwür, eine seichte grauweise
oder gelbliche Ulceration darstellend, nur einzeln auftritt, was bei
Erwachsenen öfter vorkommt als eine Ausbreitung der Aphthen auf
die Schleimhaut der ganzen Mundhöhle, die bei Kindern die Regel
ist. Bei Erwachsenen haben die aphthösen Geschwüre, wie auch in
dem von mir beobachteten Falle, meist ihren Sitz am Zahnfleische,
wo sie bald durch Schmerzhaftigkeit, leichte Anschwellung der nächst-
gelegenen Lymphdrüsen sich bemerkbar machen. Sie pfleg-en auf
Pinselung mit Jodtinktur, Aetzung mit dem Höllensteinstift oder auch
blosse vSpülung mit antiseptischen Mundwässern schnell zurückzugehen ').
Auf die grossen diagnostischen Schwierigkeiten bei Aphthen hat auch
H. Isaac hingewiesen. In einem Falle, wo von einem Arzt Syphilis,
von einem anderen Tuberkulose diagnosticiert war, trat entsprechend
Isaacs Diagnose ,, Aphthen" bei Anwendung von Kali chloricum
Heilung ein-). Es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, dass
es sich hierbei fast immer um Individuen handelt, die niemals syphi-
litisch infiziert w^orden sind. Recht oft mögen dann solche aphthösen
Geschwüre und Erosionen, die bisher in der dermatologischen Litte-
ratur viel zu wenig gewürdigt wurden , fälschlich für syphilitische
Plaques gehalten worden sein. Unter Umständen können durch
Aphthen auch destruktive Prozesse hervorgerufen werden. So berichtet
v. Embden sogar über eine Zerstörung des Gaumenseg'els durch
Stomatitis aphthosa^). Zu den aphthösen Leiden der Mundhöhle ge-
hören auch die sogenannten „Bednar' sehen Aphthen" der Kinder,
die ihren Sitz gewöhnlich am harten Gaumen haben, wo sie rundHche,
wie mit dem Locheisen ausgeschlagene Geschwüre bilden, die oft
einen grossen Teil der Schleimhaut des harten Gaumens überziehen,
ferner die Stomatitis aphthosa epizootica, die Maul- und Klauenseuche,
1) Vergl. dazu P. Ritler, ,,Zahn- und INIundleiden", S. l8o, S. 190; ,, Beitrag
zur Diagnose u. s. \v.'', S. 7 u. 8.
2) Deutsche Medizinal-Zeitung 1893, Nr. 44. S. 495.
3) V. Embden a. a. O., S. 417.
— 440 —
die aber wohl wegen ihres stürmischen Verlaufes als pseudos3^phili-
tische Affektion nicht in Betracht kommt.
Eine Reihe von Mundentzündungen, die durch sekundäre Infektion
infolge vernachlässigter Mundpflege zustande kommen, wobei die
zahlreichen schädlichen Pilze der Mundhöhle eine ätiologische Rolle
spielen, fasst Ritter unter dem Namen der „Stomatitis sordida" zu-
sammen'). Sie dürfte wohl seltener Schwierigkeiten in der Diagnose
machen.
Dagegen muss die Stomatitis mercurialis als eine der wich-
tigsten pseudosyphilitischen Affektionen bezeichnet werden , da sie
„ausserordentlich häufig Bilder hervorbringt, die nur auf Grund reich-
licher Ueberlegung" und reicher Erfahrvmg" von der Papulose zu unter-
scheiden sind"-). Die merkuriellen Plaques und Geschwüre sind oft
durch nichts von den syphilitischen zu unterscheiden. Die oft betonte
Schmerzhaftig'keit kommt auch bei S3^philitischen Erosionen vor. Die
begleitenden entzündlichen Veränderungen sind nicht immer so stark
ausgeprägt, dass sie eine sofortige sichere Eeststellung der Natur des
Geschwüres ermöglichten. Erst längere Beobachtung und die Steige-
rung der Erscheinungen durch eine Quecksilberbehandlung können
dann die Diagnose klarstellen.
Als Folgen häufig^er Quecksilberkuren erwähnt Ritter „soor-
artige Infiltrationen" im Munde, an den Tonsillen und auch auf
dem Zäpfchen, die Aehnlichkeit mit den glänzenden roten Flecken
haben, die man h;iufig bei »Syphilitikern sieht •^). Der eigentliche
Soor der Kinder dürfte differentialdiagnostisch kaum in Betracht
kommen.
Auch ohne das Vorhandensein einer eigentlichen Stomatitis kommen
zahlreiche Geschwürsformen der verschiedenartigsten Aetiologie in
der Mundhöhle, vor, die sich mit Vorliebe auf der Zunge lokalisieren,
die ja auch für syphilitische Affektionen einen Prädilectionsort
darstellt.
Solche Geschwüre werden z. B. bei Glossitis superficialis be-
obachtet, deren Wesen in einer hochgradigen Verdüimung' und
Vulnerabilität der Schleimhaut besteht, welche auf Irritamente ver-
schiedener Art durch Bildung- einer oberflächlichen Ulceration reagiert.
Diese verbindet sich nach Lieven zuweilen mit einer reaktiven Indu-
1) Ritter, ,,Zahn- und Miindlciden", S. i66.
2) Lieven a. a. <)., S. 43.
3) Ritter a. a. O., S. 233.
— 441 —
ration des Geschwürsgrundes und Randes, die durchaus eine syphiH-
tische Sklerose vortäuschen kann i).
Eine ähnliche reaktive Härte bieten die traumatischen Zungen-
und Wangen geschwüre dar, die infolge der Irritation durch kariöse,
scharfkantige Zähne sich bilden und deren Frequenz eine ziemlich
grosse ist-). Förster^) beschreibt diese ,,Reizungsg-eschwüre" folg'ender-
massen :
„Diese Geschwüre sind ziemlich tief, kraterförmig, haben harte
Ränder und Basis, und nicht selten ist ring-sum durch eine partielle
chronische Glossitis das Zungenparenchym angeschwollen und hart".
Aehnliche Geschwüre entstehen auch durch die Einwirkung-
ätzender Stoffe z. B. Schwefelsäure und durch Verbrennung mit
heissen Speisen. So beobachtete Dron syphilisähnliche Plaques am
Gaumen als Folge einer Verbrennung' durch heisse Kartoffel n'*).
Fang hat in seinem Werke über Syphilis die Abbildung (Fig. 55
S. 308) eines eigentümlichen ringförmig'en Ulcus der Zunge, welches
er als „coccog'enes" bezeichnet, da sich bei dem betreffenden Patienten
weder für Tuberkulose noch für Syphilis irgendwelche Anhaltspunkte
gewinnen Hessen. Die annuläre P'orm macht diese Ulcera S3'phili-
tischen Geschwüren täuschend ähnlich.
Andere merkwürdig-e Geschwürsformen der Mundhöhle sind
nachweisbar neurotischen Ursprungs. Sibley, der drei solche
Fälle beobachtete, bezeichnet dieselben als „vStomatitis neurotica
chronica". Er sah diese Ulcerationen, welche den aphthösen Ge-
schwüren sehr ähnlich sind, bei hysterischen oder stark nervösen,
beinahe geistesgestörten Frauen^). Kirk, der ebenfalls solche neuro-
tischen Ulcerationen beobachtete, glaubt, dass sie mit Störungen der
Schilddrüsenfunktion zusammenhängen, da bei Myxödem oft Risse
auf der Zung-e vorkommen*^). A. Court berichtete über den Fall
einer 36jährigen, weder an Syphilis noch an Tuberkulose leidenden
Frau, die seit 10 Jahren mit chronischen Ulcerationen im Munde be-
1) Lieven a. a. O., S. 12.
2) Vergl. B. Collomb, „Medizinisch-chiiiirgisclie \Veike", deutsch von W. Harcke,
Braunschweig 1800, Bd. 11, S. 339 — 341; v. Em b den a. a. O., S. 456; Lieven a. a.
O., S. 12.
3) A. Fürster, ,,Handliuch der pathologischen Anatomie", 2. Aufl., Leipzig 1863,
Bd. II, S. 38.
4) Dron, ,, Lesions pseudoveneriques" in: Lyon medical 1900, Nr. 44.
5) W. K. Sibley in: British Medical Journal vom 15. April 1899 (Referat in:
Monatshefte für Dermatologie 1900, Bd. XXX, S. 445.
6) R. Kirk, ibidem 20. Mai 1899.
— 442 -
haftet war, welche sich besonders bei nervösen ErrecrunQSZuständen
verschlimmerten 1). Hudelo beschrieb Ulcera des Mundes tabischen
Ursprungs. Sie fanden sich an der Schleimhaut des Unter- und
Oberkiefers, zeigten einen grauen fungösen Grund, waren absolut
anästhetisch und nahmen die ganze Dicke der Schleimhaut ein, so
dass sie unverkennbare Analogien mit dem „Mal perforant" aufwiesen.
In der Diskussion erklärte der Syphilidologe A. Fournier dieses Ge-
schwür für ein veritables Mal perforant des IMundes-).
Einen eigentümlichen Fall von Geschwürsbildung am harten
Gaumen stellte v. Szontagh im ärztlichen Verein zu Budapest vor:
,,Karl T . . ., 6 Wochen alt, wurde am 9. Dezember 1887 im Ambulatorium des
Budapester Stefani-Kinderhospitals vorgestellt. Am harten Gaumen rechts, etwas nach vorn
von dem Ort, wo wir die Bednar 'sehen Aphthen anzutreffen pflegen, d. i. dem hamulus
pterj'goidevis, war ein ungefähr Fünfpfennigstück giosses, grünlichgelbes, weissfarhiges Ge-
schwür sichtbar, an dessen Peripherie die angrenzende Schleimhaut bedeutend geschwollen
war. Das Bild, das das Geschw'ür bot, entsprach keinem der ulcerativen Prozesse, die am
harten Gaumen im Jünglingsalter beobachtet werden. I^ues konnte mit Sicherheit ausge-
schlossen werden, auch war der Säugling gut genährt, d. h. nicht atrophiert, an ein Ge-
schwür decubitalen Ursprungs war auch nicht zu denken. In dem Geschwürsgrunde konnte
die Sonde nirgends auf entb!(")ssten Knochen stossen. Therapie machtlos. Am 13. April
— nach viermonatlicher Behandlung — - wurde mittelst Sonde in der Tiefe des Geschwürs
ein resistenter Körper entdeckt, der mit Leichtigkeit befreit werden konnte, und zum nicht
geringen Erstaunen als ein wurzelloser Molar zahn sich entpuppte. Jetzt erfolgte
spontane Heilung" '').
In g-anz hervorragendem Masse können insbesondere die syphili-
tischen Plaques muqueuses der Zunge und des Mundes von anderen
Affektionen nachgeahmt wereen. In Fournier's differentialdiagno-
stischer Zusammenstellung^) fig-urieren: der recidivierende Herpes, die
Aphthen, Hydroa des Alundes, Glossitis exfoliativa marginata,
die „Perleche (eine in Epidemieen auf den Lippen der Kinder auf-
tretende epitheliale Exfoliation der Schleimhaut mit einer ulcerösen
Furche), die Stomatitis mercurialis, die traumatischen Ulcerationen der
Mundschleimhaut durch kariöse Zähne, der weiche Schanker, ulce-
rierte Psoriasisplaques, Ulcerationen des Zungenbändchens
bei Keuchhusten.
ij Court, ibidem 20. Mai 1899.
2) Referat in: Deutsche Medizinal-Zeitung 1893, Nr. 57, S. 637.
3) F. V. Szonthag, ,,Ein interessanter Fall von Geschwürsbildung am harten
Gaumen bei einem fünfmonatlichen Kinde" in: Monatshefte für Dermalolugie 1889, Bd.
VIII, S. 188.
4) Foiirnier, , .Diagnostic diffeienlial des plaques muqueuses" in: La niedecine
moderne 1900, Nr. 47.
— 443 — .
Die sogenannte „Glossitis exfoliativa", die man früher zur
Syphilis rechnete, ist von Fournier davon abgetrennt worden, sie
hängt nach Besnier und Barthelemy mit Verdauungsstörungen zu-
sammen'). Mit ihr dürfte auch die Erscheinung der „wandernden
Hecken" und der ,, Plaques benignes" zusammenhängen. Ueber alle
diese Affektionen bemerkt Lang:
„Sehr oft mag folgende an der Zunge beobachtete Veränderung für Syphilis imponieren.
Am Zungenrande und an der Zungenspitze, weniger häufig am Rücken und an der unteren
Fläche dieses Organes, gewahrt man manchmal verschieden grosse, einzeln stehende oder in-
einander fliessende, rote, nur sehr wenig oder gar nicht infiltrierte Flecke, die von einem
scharf gezeichneten, schmalen, schmutzigweissen oder lehmgelben Epithelsaume lungeben sind.
Diese Plaques beobachten nach Einigen (Gubler, Wilhelm Hack) ein continuierliches
Fortschreiten, nach Anderen verharren sie selten längere Zeit im gleichen Zustande, sondern
wechseln sehr häufig Form und Sitz; oder sie verschwinden ganz, um, wie ich wiederholt
beobachtet habe, nach längerer oder kürzerer Zeit wieder sichtbar zu werden; Beschwerden
veranlassen sie nicht, ausgenommen sie führen zu Erosionen und UIcerationen. Ich habe
solche Flecke an der Zunge bei Kindern und Erwachsenen , einzelne Male neben Ver-
dauungsstörungen, gesehen. Alterationen des Intestinal tractes und herabgesetzte Ernährung
(Anämie) scheinen thatsächlich in den meisten Fällen zu diesen Plaques in Beziehung zu
stehen (Möller), J. Caspary, P. G. Unna, V. Gautier." ^)
Eine wichtige pseudosyphilitische, mit Plaques muqueuses sehr
leicht zu verwechselnde Affektion stellt auch die sogenannte Leuko-
plakia buccalis dar, die zwar noch von dem ersten Monographen
E. Schwimmer als selten hingestellt wurde 3), aber in der letzten
Zeit als eine ziemlich häufige Erscheinung erkannt worden ist.
Schwimmer hat als ätiologische Momente der nichtsyphili-
tischen Leukoplakie hauptsächlich die Einwirkung von Seite des
Verdauungstractes und den Einfluss des Tabaks bezeichnet^).
In Beziehung auf letztere Ursache sagt schon Ricord: „Auch die
bei Pfeiferauchern entstehenden „Aphthen" sind ins Auge zu
fassen. Die Schleimhaut zeigt sich hier an Wangen und Zunge ver-
dickt, vorspringend, hart, von grauem Aussehen, wodurch sie oft den
Schleimhautplaques ähnelt. Bisweilen findet man Kranke mitten
in voller Alercurialbehandlung', deren Mundschleimhaut
nichts zeigt als Pfeifensymptome!"^)
Eine von den französischen und englischen Aerzten längst fest-
gestellte Thatsache ist ferner, dass Gicht sehr häufig Ursache der
1) Monatshefte für Dermatologie 1898, Bd. XXVII, S. 142.
2) E. Lang a. a. O., S. 301.
3) E. Schwimmer, „Die idiopathischen Schleimhautplaques der Mundhöhle (Leuko-
plakia buccalis)", Wien 1878, S. 28.
4) Ididem S. 1 1 1 .
5) Ph. Ricord, „Pathologie und Therapie der venerischen Krankheiten", 2. Aufl.,
Hamburg 1852, S. 13 1.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. ^
— 444 —
Entwickelung der Leukoplakie darstellt. Hier kommt der „Artri-
tismus" wirklich zu Ehren. Dr. Bullin, eine anerkannte Autorität
auf dem Gebiete der Mundkrankheiten, versicherte Dr. Lieven
persönlich, dass die ätiologische Bedeutung- der Arthritis urica für
ihn unumstösslich feststehe. Sämtliche von G. Petit beobachteten
Fälle von Leukoplakie betrafen Gichtiker ^). Auch Diabetes soll
Ursache von Leuköplakia buccalis sein 2). Ueber das Vorkommen
dieser Affektion bei Hautleiden (Psoriasis u. a.) wird im nächsten
Paragraphen berichtet werden.
Das Aussehen dieser als Leuköplakia, „Lingua geographica",
„Papeln der Zunge" u. a. m. bezeichneten Affektion bietet eine sehr
grosse Aehnlichkeit mit syphilitischen Plaques muqueuses dar.
Schwimmer sagt: „Vermöge der Lokalität der Erkrankung und
ihres äusseren Bildes hat sie gerade mit den Syphiliden der Mund-
höhlenschleimhaut eine so frappante Aehnlichkeit, dass man häufig
in Versuchung kommt, diese Affektion immer nur als eine specifische
zu betrachten. Zahlreiche Aerzte begehen in solchen Fällen einen
beklagenswerten Irrthum, und da die Syphilis oft nur durch eine
einzelne Symptomengruppe diagnosticiert werden kann, so genügt
es, eine oder die andere von den zu beschreibenden Veränderungen
in der Mundhöhle wahrzunehmen, um, auf falscher Diagnose fussend,
auch eine nicht entsprechende Therapie einzuleiten" ^j. Wie die
syphilitischen Plaques muqueuses gehen auch die leukoplakischen
Flecken aus einem „erythematösen Vorstadium" hervor. Noch
schwieriger kann die Unterscheidung werden, wenn, was O. Rosen-
thal beobachtet hat*), die Lingua geographica zu papulären Er-
hebungen führt. Es nimmt daher nicht Wunder, dass sogar in derma-
tologischen Gesellschaften derartige Befunde zu lebhaften differential-
diagnostischen Debatten Veranlassung geben, wie eine solche z. B.
am 14. Januar 1896 in der Berliner dermatologischen Gesellschaft
stattfand, ohne dass eine Einigung über die Deutung erzielt werden
konnte^). Auch im Rachen hat man derartige Veränderungen be-
obachtet*^).
i) Lieven a. a. O., S. 40.
2) Seegeii bei Lang a. a. O., S. 300.
3) E. Schwimmer, Artikel ,,Leukoplalcia buccalis" in Eulenburg's Encyclopädie
1897, Bd. XIII, S. 483.
4) Lieven S. 46.
5) Vergl. Lieven a. a. O., S. 46.
6) Rosenberg, ,, Leuköplakia pharyngis non specifica" in: Berliner klinische Wochen-
schrift i8q8, No. 18.
— 445 —
Nach Lang ist sicher ein Teil der Fälle von sogenannter
„Glossitis cicatrisans" nichtsyphilitischer Natur, da er dieselbe
auch bei Individuen beobachtete, die nie eine syphilitische Infektion
erlitten hatten. Diese mit Erosionen und Verlust der Papillen ein-
hergehende Affektion führt allmählich zu tiefen narbigen Einziehungen,
wie diese auch in genau derselben Weise durch tertiärsyphilitische
Prozesse hervorgerufen werden ^).
Unter den chronischen Infektionskrankheiten der
Mundhöhle, die mit Syphilis verwechselt werden können, ist zunächst
die Aktino mykose zu erwähnen. Besonders scheint hier die
Aktinomykose der Zunge in Betracht zu kommen. „Die Diagnose
der Aktinomykose der Zunge ist nicht immer leicht: in manchen
Fällen kann man sie leicht mit einer anderen Affektion, besonders
mit Syphilis verwechseln, um so mehr, als die Behandlung der
Aktinomykose und der SyphiHs ein und dieselbe ist (Jodbehandlung),
so dass die aktinomykotische Affektion, wenn sie in Folge eines
diagnostischen Irrtums als Syphilis gedeutet und dementsprechend
mit Jod behandelt wird, unentdeckt bleiben und als Syphilis rubriziert
w^erden kann""-). Smirnow unterscheidet verschiedene Formen der
Zungenaktinomykose, nämlich i. Knoten in der Zungenspitze und
dem Zungenrücken, 2. Fissuren und danach Knotenbildung, 3. schmerz-
lose Zungenulcerationen. Gesichert wird die Diagnose nur durch die
mikroskopische Untersuchung, welche die Anwesenheit der charak-
teristischen Strahlenpilze ergiebt.
Noma dürfte wohl kaum zu Verwechselungen mit Syphilis
Anlass geben.
Nach Lang pflegt die Syphilis innerhalb der Alund- und
Rachenhöhle „am täuschendsten" durch Lupus nachgeahmt zu
werden 3). Es ist dies besonders dann der Fall, wenn es sich um
reinen „Schleimhautlupus" ohne Beteiligung der äusseren Haut handelt.
Die lupösen Geschwüre und Infiltrate können syphilitischen Prozessen
äusserst ähnhch sein. Sogar die narbigen Schrumpfungen in der
Lippe durch diffuse syphilitische Infiltration finden sich genau in der-
selben Weise auch bei Lupus ^). Auch Lupus der Zunge ist beob-
achtet worden ^).
i) Lang a. a. O., S. 307 — 308.
2) W. J. Smirnow, „Aktinomykose der Zunge beim Menschen" in: Medizinische
Woche 1902, Xo. 13, S. 133 — 136.
3) Lang a. a. O., S. 302.
4) Lieven a. a. O., S. 56.
5) Darier in: Monatshefte für Dermatolotjie 1895, Bd. XXI, S. 229.
29*
— 446 —
Ebenso schwierig wie beim Lupus ist die Differentialdiagnose
zwischen den acuten tuberkulösen Geschwüren der Mundhöhle
und den Erscheinungen der Syphilis, besonders dem Primäraffekte ').
Solche Geschwüre kommen auf der Wangen- und Lippenschleimhaut
und der Zunge-) und auf dem weichen^) und harten Gaumen*) vor.
Wie schwierig manchmal die Unterscheidung derartiger Geschwüre
von Syphilis werden kann, beleuchtet folgender am 2. Mai 1893 von
Heller in der Berliner dermatologischen Vereinigung vorgestellter Fall.
Die 28 jährige Patientin, die hereditär tuberkulös belastet ist, machte 1890 eine
Lungenerkrankung durch, die nicht recht einer typischen Pneumonie entsprach. Sie wurde
auch mit Tuberkulin behandelt, ohne auf die Einspritzungen zu reagieren. Schon vorher,
1886, war sie infolge des sexuellen Verlcehrs mit einem jungen Manne er-
krankt; es wurden ihr Vaginalausspülungen verordnet. Sie selbst hielt sich für syphilitisch
und wandte sich, nachdem im Jahre 1891 Halsschmerzen, die keiner Behandlung
wichen, aufgetreten waren, 1892 an einen Syphilidologen, der die Affektion mit Quecksilber-
pillen behandelte. Sie entzog sich sehr bald der Behandlung und suchte ^/^ Jahre später
Heller auf. Es wurde (April 1893) auf der Grenze zwischen hartem und weichem Gaumen
ein Kranz von oberflächlichen Geschwüren konstatiert. Auf der linken Tonsille befand sich
ein fünfpfennigstückgrosses missfarbiges Geschwür. Die Uvula, die beiden linken Gaumen-
bogen, die linke Tonsille waren von kleinen, gelben Knötchen völlig durchsetzt, die ohne
weiteres als miliare Tuberkel aufgefasst werden mussten. Ulcerationen der Epiglottis und
der Stimmbänder wurden nicht konstatiert. Obwohl die Kranke ziemlich viel hustete,
konnten an den Lungen nur geringe katarrhalische Erscheinungen konstatiert werden. Im
Sputum wurden sehr spärlich Tuberkelbacillen gefunden. Ein Zeichen bestehender oder ab-
gelaufener Syphilis (Leukoderma, Drüsenschwellung) wurde nicht eruiert. Zweifellos handelt
es sich um einen Fall von Tuberkulose der Mundschleimhaut, die in ihren ersten Anfängen
an Syphilis erinnerte und auch, zumal da die Anamnese für Syphilis sprach, eine antisyphi-
litische Behandlung indiciert erscheinen Hess. Die Wichtigkeit der exakten Diagnose ist
um so grösser, als die specifische Therapie, die für andere Kranke unschädlich ist, auf
Tuberkulöse depotenzierend wirkt.
In der Diskussion bemerkt G. Lew in, dass die primäre Tuberkulose der Mund-
schleimhaut häufiger ist als man gewöhnlich annimmt, und dass vielleicht in einzelnen Fällen
von der Erkrankung der Mundschleimhaut auch die Erkrankung der Lungen ausgeht, ebenso
wie die tuberkulösen Analgeschwüre der Kinder nicht selten die Veranlassung zur Darm-
tuberkulose geben ^).
Die Lepra ruft häufig auf den Schleimhäuten, besonders der
Mundhöhle, syphiHsähnliche Prozesse hervor*^), die besonders als Ulce-
rationen auftreten. Ein solches lepröses Geschwür, welches einem
i) Vergl. Lieven, a. a. O., S. 13; Lang a. a. O., S. 304.
2) Rille in: Monatshefte 1899, Bd. XXVIH, S. 140.
3) Schwimmer, ibidem 1898, Bd. XXyi, S. 405.
4) Crocker, ibidem 1900, Bd. XXXI, S. 100.
5) Referat in: Deutsche Medizinal-Ztg. 1893, No. 44, S. 494—495.
6) Vergl. Lang a. a. O., S. 305.
— 447 —
syphilitischen täuschend ähnlich sah, beobachtete Wagner an der
Schleimhaut der Unterlippe ^).
Das Rhinosklerom der Schleimhaut der Mundhöhle und des
Rachens ahmt mehr die Veränderungen der tertiären Syphilis nach,
wie dies vor allem bei der Infiltration und Verunstaltung des Gaumens
und Rachens hervortritt, welche nur sehr schwer von der gleichen
durch Syphilis hervorgerufenen Veränderung zu unterscheiden ist-).
Höchst bemerkenswert ist die Thatsache, dass an der Schleim-
haut der Mundhöhle, insbesondere am weichen Gaumen und den
Tonsillen Papillome und spitze Kondylome unter ähnlichen Um-
ständen vorkommen wie an den Genitalien, d. h. als Folgen eines
längere Zeit einwirkenden Irritamentes. Lang bezeichnet die Mehr-
zahl dieser Papillome der Mundhöhle als venerische, weil sie am
gewöhnlichsten neben venerischen Katarrhen zur Entwicke-
lung gelangen^). Sie sind gestielt oder breitbasig wie die ent-
sprechenden Vegetationen an den Genitalien und am Anus. Förster
beobachtete diese Papillome als locale Geschwülste in Form kleiner
rundlicher, platt aufsitzender oder gestielter, beerenartiger, körniger
Körper am Zahnfleisch, dem Boden der Mundhöhle, der Innenfläche
der Wangen und am Zäpfchen. Nach ihm gehören auch die von
Schuh (Pseudoplasmen 1854, S. 64) beschriebenen „weissen Aus-
wüchse" an der Schleimhaut der Backe, Lippe und des Gaumens
hierher^). Ein gutartiges Papillom der Unterlippe mit schankerähn-
licher Ulceration beobachteten Gaston und Henryk); Heidingsfeld
sah solche Cond34omata acuminata auf der Zunge einer 24jährigen
Puella publica*^); Albert beobachtete eine fast ausschliesslich bei
Frauen vorkommende eigentümliche Neurose der Zunge, welche sich
in Anfällen von Brennen, Prickeln und neuralgischen Schmerzen in
der einen Zungenhälfte äusserte. Bei allen Kranken fand sich am
Zungenrande, vor der Basis des Zungengaumenbogens eine kleine
Excrescenz, einem Tripperkondylom an Gestalt ähnlich, welche
auf Druck sehr schmerzhaft war und den Ausgangspunkt der Neu-
rose bildete. Sie entwickelte sich offenbar aus der Papilla foliata ').
1) H. L. Wagner in: New York medical Journal, 15. Oct. 1898, nach Monats-
hefte u. s. w. 1899, Bd. XXVIII, S. 586.
2) Rille a. a. O., S. 135.
3) Lang, „Vorlesungen über Syphilis", S. 306.
4) A. Förster a. a. O., S. 19 und Lang a. a. O., S. 305 — 306.
5) Monatshefte für prakt. Dermatologie 1898, Bd. XXVII, No. 3, S. 141 — 142.
6) M. L. Heidingsfeld, ,,Condylomata acuminata linguae oder venerische Warzen
der Zunge", ibidem 1901, Bd. XXXIII, S. 291.
7) Albert, Artikel ,, Zungenerkrankungen" in Eulenburg's Real-Encyclopädie der
Heilkunde, 3. Aufl., 1901, Bd. XXVI, S. 513.
- 448 —
Sehr häufig täuschen Carcinome im Bereiche der Mundhöhle
eine S3philitische Affektion vor. Hier bereitet die Differentialdiagnose
zwischen Krebs und einem tertiären syphilitischen Neoplasma selbst
erfahrenen Specialisten oft unüberwindliche Schwierigkeiten. Lieven
bemerkt: „Beide Affektionen haben die neoplastische Tendenz
und Neigung zum Zerfall der neugebildeten Gewebe gemeinsam.
Wenn auch das Carcinom durch Vorwiegen der ersteren Eigenschaft
charakterisiert ist, während beim ausgesprochenen Gumma die Er-
weichung eine viel rapidere und umfangreichere zu sein pflegt, so
kommen bei beiden Krankheiten dennoch derartige Modifikationen
des Verlaufs vor, wodurch sie einander klinisch sehr ähnlich
werden, sodass die Schwierigkeiten der Diagnose fast un-
überwindlich sein können"^).
Hauptsächlich kommt — neben den Lippen- und Wangenkrebsen
— hier das Carcinom der Zunge in Betracht, welches häufig eine
täuschende Aehnlichkeit mit einem Gumma zeigen kann. Langen-
beck, Hutchinson, Jesset, I^ang u. A. haben die grossen vSchwie-
rigkeiten der Differentialdiagnose zwischen beiden Affektionen hervor-
gehoben ~), und es ist ja allbekannt, wie häufig Chirurgen vor der
Operation eine antisyphilitische Therapie einleiten müssen, um selbst
über den Fall ins Klare zu kommen.
Unter den Rachenaffektionen stellen die verschiedenen Formen
der Anginen das grösste Kontingent zu den pseudosyphilitischen.
Trautmann hat neuerdings die einschlägigen Verhältnisse zusammen-
gestellt und auf die grossen differentialdiagnostischen Schwierigkeiten
auf diesem Gebiet hingewiesen^). Darnach treffen wir häufig das
wichtigste Allgemeinsymptom der nichtsyphilitischen Anginen, das
Fieber, auch bei den Anginen syphilitischen Ursprungs an. Was
insbesondere die so sehr häufige Angina catarrhalis betrifft, so
kann nach Trautmann eine Differentialdiagnose zwischen ihr
und der Angina syphilitica catarrhalis oder erythematosa in „das
Bereich der Unmöglichkeiten" gehören, da die subjektiven und ob-
jektiven Symptome völlig identisch sein können, wie dies Fälle von
Moritz Schmidt und Levinger beweisen.
1) Lieven a. a. O., S. 57.
2) Vergl. Lang a. a. O., S. 306 — 307.
3) G. Trautniann, ,,Zur Differentialdiagnose von Dermatosen imd Lues bei den
Schleimhauterkrankungen der Mundhöhle und oberen Luftwege", Wiesbaden 1903, S. 150
bis 161. — Diese interessante Monographie ging mir erst während der Drucklegung meines
Werkes zu und konnte nur für Bogen 29 und folgende benutzt werden.
— 449 —
Bei der Angina follicularis können die „kraterförmigen
Substanzverluste" specifische Ulcerationen vortäuschen ^), ebenso kann
die von C. König igoi beschriebene „Angina eroso-membranacea"
mit Syphilis verwechselt werden, und eine von Vincent 1898 be-
obachtete Anginaform erhielt von Raoul und Thiry den ihren
pseudos3'philitischen Charakter deutlich kennzeichnenden Namen :
Amygdalite ulcereuse chancriforme, da häufig durch dieselbe
ein syphilitischer Mandelschanker vorgetäuscht wird. Die Häufigkeit
dieser Form ist eine relativ grosse 2).
Endlich beschrieb Heryng 1890 eine Exulceration des Pharjmx
unter dem Namen des „benignen Pharynxgeschwüres"^), eine
fast immer einseitige und solitäre, seichte Ulceration am vorderen
Gaumenbogen über der Mandel mit scharfen Rändern und grau-
weissem Belag, die häufig grosse Aehnlichkeit mit syphilitischen
Geschwüren aufweist.
Unter den Erkrankungen der Nase und der sie umgebenden
Gesichtsteile machen die verschiedenen Formen der Acne häufig
Schwierigkeiten in Bezug auf eine difFerentialdiagnostische Abgrenzung
von syphilitischen Affektionen ähnlicher Art.
1) Schon Ricord hat über diese und andere pseudosyphilitische Anginen interessante
Beobachtungen mitgeteilt. In Lippert's Darstellung seiner Lehren (Hamburg 1852,
S. 131 — 132) heisst es: „Ebenso findet man oft Zufälle an den Mandeln, die venerische
oder merkuiielle Affektionen simulieren können. Die gewöhnliche febrile Angina bietet
keine Anhaltspunkte für eine etwaige Verwechslung; aber ausserdem giebt es chronische
fieberlose Zufälle der Mandeln and des Velum palatinum ohne allen spezifischen Cha-
rakter. Den gelehrten Theoretikern, die, wie zur Mehrzahl, Sypbilophoben sind, genügt es
freilich, wenn sie bei der Inspektion des Halses nur etwas Röte sehen, um sofort die Ueber-
zeugung zu gewinnen, dass die Syphilis bereits in der zweiten Etage des Organismus ange-
langt sei! Eine Affektion bedingt aber wirklich eine täuschende Aehnlichkeit — dies ist
die chronische follikuläre Amygdalitis, eine Acne sebacea der Mandeln. Man findet
hier an einem Punkte der Mandeln eine scharf abgeschnittene Ulceration mit grauem Grunde,
während die Nachbargegend sich ganz kalt verhält. — Bisweilen werden die Geschwüre
selbst gangränös, ohne starke Entzündung der benachbarten Gewebe; dann findet eine phage-
dänische Zerstörung der Mandeln statt, die ganz die syphihtische Geschwürsform simuliert.
Man muss diese Krankheitsform in ihrer Reinheit bei Individuen studieren, die frei sind
von jedem Verdacht sj^^hilitischer Infektion."
2) Vergl. Lieven a. a. O., S. 18; Trautmann a. a. O., S. 159 — 161. — Des
selteneren Vorkommens einer primären Gangrän des Rachens sei nur beiläufig gedacht.
Eine solche Beobachtung teilt Blume nau (Deutsche Med. AVochenschr. 1896, No. 26) mit.
3) Heryng, „Ueber benigne Pharynxgeschwüre" in: Internat, klin. Rundschau 1890,
Xo. 41 u. 42.
— 4.50 —
Die meisten Schwierigkeiten macht in dieser Hinsicht die Acne
varioliformis und die ihr verwandte Acne necrotica^). Diese
namentlich an der Stirn und den Schläfen, zuweilen auch im Gesicht,
am Nacken und an der Brust lokalisierte Acneform zeichnet sich
durch die Bildung von braunroten Knoten in gruppenförmiger
Anordnung aus, die zu Pusteln und Borken sich ausbilden und mit
Hinterlassung vertiefter Narben heilen. Diese Gruppenbildung macht
die Aehnlichkeit mit Syphiliden oft ausserordentlich gross, wozu auch
noch die specifische Wirkung der Quecksilbersalben auf diese
AfFektion nicht wenig beiträgt, sodass eine Differentialdiagnose selbst
für geübte Spezialisten manchmal Schwierigkeiten darbietet.
So führt Kaposi 2) einen Fall von ausgebreiteter Acne varioli-
formis des Gesichts an, bei „dem vor vielen Zeiten irrtümhch die
Erkrankung für Syphilis angesehen worden war. Ebenso wairde ein
Fall, den E. Schwimmer in der Sitzung der Ungarischen dermato-
logischen Gesellschaft vom 5. Dezember 1895 vorstellte, von mehreren
Anwesenden für Syphilis gehalten ^j, und in der Dermatologischen
Gesellschaft von Grossbritannien zeigte Dr. x\braham am 27. November
1895 einen Fall von Acne varioliformis der Wangen und der Stirn,
der ebenfalls eine lebhafte Diskussion, ob Syphilis oder Acne, her-
vorrief *).
Sogar darin kann die Acne varioliformis den syphilitischen
Exanthemen gleichen, dass sie eine universelle Ausbreitung unter
Fiebererscheinungen erlangt. Grunewald-^) beobachtete einen solchen
Fall mit tödtlichem Ausgange, wo lange die Diagnose zwischen
Syphilis und Acne geschwankt hatte. Ja, es scheint bei diesen Fällen
sogar, wie bei der Syphilis, eine Ansteckungsfähigkeit vorhanden
zu sein, wie die merkwürdige von Ibotoon*') beobachtete Epidemie
von Acne varioliformis bezeugt, die unter den Arbeitern einer Fabrik
plötzlich ausbrach.
i) C. Boeck, Ueber Acne frontalis und necrotica in: Archiv für Dermal, u. Syph.
1889, Bd. XXI. 37—39; F. J. Pick, Zur Kenntnis der Acne frontalis seu varioliformis
(Hebra), Acne front, necrotica (Boeck), ebendas. S. 551 — 560.
2) M. Kaposi, Ueber einige ungewöhnliche Formen von Acne (Folliculitis) in:
Archiv für Dermatologie 1894, Bd. XXVI, S. 87, vergl. auch Vorlesungen über die
spezielle Pathologie und Therapie der Hautkrankheiten, Wien 1893, 4. Aufl., S. 529 ff.
3) Unna's Monatshefte 1896, Bd. XXII, No. 10, S. 526.
4) Ibid. 1896, Bd. XXIII, No. i, S. 19..
5) Grunewald, Ein Fall von Acne varioliformis universalis mit tödtlichem Ausgange
in: Unna's Monatshefte 1885, Bd. IV, S. 81 — 91.
6) G. C. Ibotoon, Notizen über einige Hautaffektionen in: Lancet 14. Dec. 1901,
(Referat in: Unna's Monatshefte 1902, Bd. XXXIV, No. 8, S. 418).
— 451 —
Eine andere Form der Acne, die bei schwerer Allgemein-
erkrankung auftritt und dann oft Schwierigkeiten in Beziehung auf
die Unterscheidung von syphilitischer Acne darbietet, ist die sogenannte
Acne cachecticorum bei skrophulösen, tuberkulösen und diabetischen
Individuen. Zumal wenn die Pusteln und Ulcerationen dieser eigen-
tümlichen Affektion, wie gewöhnlich, an verschiedenen Teilen des
Körpers auftreten und wenn nicht selten eine Caries der Knochen
daneben zu Tage tritt, kann die Unterscheidung von Syphilis äusserst
schwierig sein. Besonders die Geschwüre bei Acne cachecticorum
gleichen oft täuschend den syphilitischen Geschwüren ^).
Eine dritte destruierende Form der Acne, die von Kaposi
zuerst beschriebene Acne exulcerans nasi führt ebenfalls zu
Geschwürsbildungen an der Nase und deren Umgebungen, die mit
syphilitischen Ulcerationen verwechselt werden können. In Kaposi 's
Fällen war die Aehnlichkeit mit Syphilis pustulosa sehr gross-).
Dass die Acne rosacea der Nase bisweilen syphilisähnliche
Formen annehmen kann, hat schon v. Embden hervorgehoben^).
In den späteren Stadien derselben kommen Knochen- und Geschwürs-
bildungen vor, sowie Narben, die grosse Aehnlichkeit mit syphili-
tischen Prozessen darbieten können, wie z. B. ein in der New Yorker
dermatologischen Gesellschaft am 26. Januar 1886 demonstrierter
Fall bewies^).
In eben derselben fachwissenschaftlichen Gesellschaft fand im
Jahre 1888 eine sehr interessante Debatte über einen Fall von Lupus
erythematosus nasi statt, den Bronson demonstrierte, und der von
einer grossen Zahl der Mitglieder für syphilitisch erklärt wurde,
während schliesslich die Majorität sich für die erwähnte Diagnose
entschied^). Auch Lesser konstatiert die Aehnlichkeit der allgemein
ausgebreiteten Fälle der diseminierten Form des Lupus erythematosus
mit papulösen Syphiliden ^). Namentlich wenn beim Lupus erythematosus
der Nase und des Gesichts die Submaxillardrüsen geschwollen sind,
was nicht selten vorkommt, liegt eine Verwechselung mit S3'philis
besonders nahe.
i) Vergl. Lang, a. a. O., S. 223.
2) M. Kaposi, Artikel „Acne'' in Eulenburg's Encyclopädie, 3. Aufl., Bd. I,
S. 204; vergl. auch E. Lang, Lehrbuch der Hautkrankheiten, Wiesbaden 1902, S. 257.
3) V. Embden, Versuch über die der Lustseuche gleichenden Krankheiten 1819,
a. a. O., S. 448.
4) Monatshefte für praktische Dermatologie 1887, Bd. VI, S. 228 — 229.
5) Ibidem 1888, Bd. VII, S. 395 — 396.
6) E. Lesser, Lehrbuch der Hautkrankheiten, 4. Aufl., Leipzig 1896, S. 79.
— 452 —
Bei weitem häufiger als der Lupus er3'thematosus wird der
Lupus vulgaris der Nase und der Mund- und Rachenhöhle mit
Syphilis verwechselt. Sagt doch Hutchinson von ihm, dass „er
in allen seinen Formen die Syphilis nachahme" i), so dass selbst ge-
wiegte Dermatologen nicht selten über die Diagnose „Lupus" oder
„Syphilis" im Unklaren sind. Massei in Neapel wurde ein Larynx-
lupus mit der Diagnose Lues zugesandt, die ein hervorragender
Dermatologe auf Grund der Hauterscheinungen gestellt hatte 2).
Lang bemerkt, dass die diagnostische Schwierigkeit sich in einzelnen
Fällen so steigert, „dass selbst gewiegte Praktiker zu einem Auskunfts-
mittel griffen, das immerhin nur als ein Zeichen ihrer Verlegenheit
angesehen werden musste und das zur genauen Distinction gewiss
nicht beitrug.
Dieses Auskunftsmittel beruhte darin, dass sie in zweifelhaften
Fällen sich der Bezeichnung ,, Lupus syphiliticus" bedienten und
sich dadurch nach beiden Seiten hin, sowohl gegen Lupus, als auch
gegen Syphilis, deckten''). Nur eine längere Beobachtung und die
Erfolglosigkeit einer antisyphilitischen Therapie kann hier die Ent-
scheidung bringen, für die Lang die besonderen dififerentialdiagnosti-
schen Anhaltspunkte im einzelnen angibt*).
Auch die mit Lupus einhergehenden zerstörenden Prozesse
in der Nasen- und Mundhöhle können den durch die Syphilis be-
wirkten destruktiven Veränderungen sehr ähnlich sein. Lang be-
richtet über solche lupösen Defekte der Nase und des harten Gaumens,
die eine ausserordentlich grosse Aehnlichkeit mit den syphilitischen
Perforationen aufwiesen ^).
Im Zusammenhang hiermit muss auch das sog. „Ulcus septum-
nasi perforans" erwähnt werden, eine Geschwürsform sui generis,
die weder mit Lupus noch mit Syphilis etwas zu thun hat, und analog
dem Ulcus ventriculi und dem „mal perforant du pied" als selbst-
ständige lokale Erkrankung am knorpeligen Septum der Nase, auf
der Schleimhaut der Cartilago quadrangularis auftritt und bisweilen
ähnliche Ulcerationen und Perforationen macht wie die Syphilis dies
thut^).
i) Trautmann, a. a. O., S. 137.
2) Ibidem.
3) Lang, Syphilis, S. 253.
4) Ibidem, S. 254—255.
5) Ibidem, S. 35°— 35i-
6) Vergl. Trautmann, S. 163 ff.; Rille, a. a. O., S. 123; Lang, a. a. O., S. 351
bis 352.
— 453 —
Aehnliche gutartige nichtsyphilitische „Geschwüre des Nasen-
randes" beschrieb SherwelP).
Auch die Kälte kann öfter durch Gangrän weitgreifende Zer-
störungen der Nase herbeiführen, wie dies nach v. Walther öfter
in Sibirien beobachtet worden ist 2).
Auf die Verw^echselung des chronischen Rotzes der Nase und
der übrigen Schleimhäute der oberen Luftwege machte schon Ricord
aufmerksam^). Neuerdings hat Buschke in einer gründlichen Unter-
suchung über die klinischen Erscheinungen des Rotzes auch diese
Frage gestreift. Er bemerkt u. a.: „Sowohl die visceralen Formen
(des chronischen Rotes) als auch die auf Schleimhäuten und Haut
lokalisierten Formen bereiten der Diagnose grosse Schwierigkeiten.
Zumal die ganz schleichenden, ganz chronisch entstehenden Rotz-
geschwüre an der Nasenschleimhaut und an der Haut haben so wenig
Charakteristisches, dass oft klinisch die Unterscheidung von syphi-
litischen, tuberkulösen Geschwüren eventuell Actinomykose der
Haut einfach nicht zu machen ist." Bei Rotzgeschwüren der Lippen,
des harten Gaumens, der Nase, Oberlippe, des weichen Gaumens und
Gaumensegels erschien zuerst die Diagnose „Lues" am wahrschein-
lichsten, bis eine längere Zeit erfolglos fortgesetzte antisyphilitische
Kur auf die richtige Diagnose hinleitete^). In einem von Neisser
beobachteten Falle von Rotz wies freihch Jodkalium eine erfolgreiche
Wirkung auf^).
Es ist ja bekannt, dass die gonorrhoische Affektion sich auch
auf der Schleimhaut der oberen Luftwege etablieren kann, so nament-
lich bei kleinen Kindern in der Mundhöhle (Rosinski). Der fol-
gendemerkwürdige, von Edwards in der „Lancet" vom 4. April 1857
mitgeteilte Fall*^) betrifft sogar einen Fall von primärer gonorrhoischer
Infektion der Nase bei einer Erwachsenen:
Eine Frau bekam den Besuch ihres Sohnes, welcher am Tripper litt und da-
bei sich eines Schnupftuches als eines Tragbeutels für den Hodensack be-
diente. Dieses Schnupftuch Hess er im Zimmer liegen; die Mutter nahm es
auf und bediente sich desselben einige Tage für ihre Nase. Am 5. Tage
wurde die linke Nasenhälfte heiss und trocken und juckte sehr stark, und bald stellte sich
i) Unna's Monatshefte 1899, Bd. XXIX, No. 4, S. 177.
2) Ph. Fr. V. Walther, Ueber das Alterthum der Knochen-Krankheilen, a. a. O., S. 12
3) Ricord, a. a. O. (Ausgabe von Lippert), S. 133.
4) A. Buschke, ,, Ueber chronischen Rotz der menschlichen Haut u. s. w. in:
Archiv für Dermatologie 1896, Bd. XXXVI, S. 324, 328—329.
5) A. Neisser, ,,Ein Fall von chronischem Rotz" in: Berliner klin. Wochenschr.
Bd. XXIV, No. 14.
6) Vergl. F. J. Behrend, Syphilidologie N. F., Bd. II, S. 143 — 144, Erlangen 1860.
— 454 —
ein gelber Ausfluss aus derselben ein; einige Zeit darauf wurde die rechte Nasenhälfte ganz
ebenso ergriffen und die Augen etwas entzündet. Diese Symptome waren mit Kopfschmerz,
Gliederreissen und Frösteln begleitet. Anfangs hielt sie es für einen Anfall von Grippe, die
Nase wurde immer schlimmer und sie wendete sich an mehrere Aerzte, die ihr verschiedene
Mittel verordneten. So dauerte die Krankheit an 6 Monate und, als sie endlich an Herrn
E. sich wendete, bot sich folgender Zustand dar: Das ganze Angesicht geschwollen, beson-
ders die Augenlider, die Nase und die Oberlippe. Etwas Kongestion in der Bindehaut
beider Augen, am linken Mundwinkel einige kleine Abscesse; die Nase sehr empfindlich
beim Drucke und die Haut darüber rot, gespannt, etwas glänzend, mit einigen entzündeten
Papeln. Die Haut auf der Oberlippe exkoriiert und zwar deutlich infolge des aus der Nase
ausfliessenden scharfen Schleimes. Dieser Ausfluss war sehr übelriechend und die Frau ab-
gemagert imd schwach. Herr E. öffnete zuerst die kleinen Abscesse, bestrich die Ober-
lippe und die Nasenränder mit Glycerin und verordnete häufig wiederholte Ausspritzungen
der Nase mit warmem Wasser. Innerlich gab er Fernim citratum und Chinin in Pillen und
später, als die Entzündung grösstenteils vorüber war, machte er verdünnte Einspritzungen
von Myrrhentinktur. Damit wurde die Kranke vollständig geheilt.
Auch spitze Kondylome werden bisweilen am Eingang der
Nase beobachtet, wie z. B. kürzlich Reale einen solchen Fall mit-
geteilt hat^).
Endlich muss noch die sog. „Nasen geschwulst der afrikanischen
Westküste" erwähnt werden, das Produkt einer osteoplastischen Perio-
titis, das wohl eine syphilitische Affektion vortäuschen könnte 2).
§ 31 Pseiulosyphilitische Af'fektioiien, die zugleich an den
Genitalien, am Anus, in der Mundhöhle und an anderen
Körperteilen auftreten.
Diese Gruppe umfasst diejenigen krankhaften Veränderungen
der Haut und der Schleimhäute, die sich durch ein gleichzeitiges
Auftreten an den Genitalien und am After, an jenen Teilen und in
der Mundhöhle oder an anderen Teilen des Körpers auszeichnen.
Der Kombinationen sind viele, und dieser eigenartige Symptomen-
komplex ist es vor allem, der für die Deutung älterer Texte die
grösste Beachtung verdient. Gar viele einfache nichtsyphilitische
Affektionen, denen die Eigentümlichkeit zukommt, zugleich an den
Genitalien und am Anus oder an den Genitalien und im Munde u.s. w.
Erscheinungen zu machen, galten entweder in früheren Zeiten als
solche syphilitischer Natur oder sie wurden bei undeutlicher Be-
schreibung, wie dies in älteren Werken die Regel ist, von den Medizin-
historikern und Aerzten als Syphilis gedeutet. Erst mit der fort-
schreitenden Entwickelung der modernen Dermatologie ist man sich
1) Monatshefte für prakt. Dermatologie 1901, No. 5, Bd. XXXH, S. 243.
2) B. Scheube, Die Krankheiten der warmen Länder, 2. Aufl., Jena 1900,
S. 616—617.
— 455 —
über die nichtsyphilitische Natur dieser Art von Leiden klar geworden.
Ich habe vor allem aus dem Studium dieser Gruppe von pseudo-
syphilitischen Affektionen die feste Überzeugung von der Haltlosig-
keit der Deutungen antiker oder mittelalterlicher Krankheitsschilde-
rungen als syphilitische Leiden gewonnen. Wer einfach, klar und
unbefangen sich die hier noch heute alltäglich beobachteten Kom-
binationsmöglichkeiten vergegenwärtigt, die die Lokalisation
nichtsyphilitischer Affektionen in täuschender AehnHchkeit mit solchen
syphilitischer Provenienz haben kann, der wird eine zuverlässige
Grundlage für die richtige Beurteilung jener älteren Krankheits-
schilderungen gewonnen haben.
Auch hier kommen zunächst solche Affektionen in Betracht, die
in einem näheren oder entfernteren Zusammenhang mit dem Bei-
schlaf oder anderen sexuellen Handlungen stehen, also eigentlich
„venerischen" Ursprungs sind, ohne doch syphilitischer Natur zu sein.
Gleichzeitig mit der Lokalisation am Genitale kann beim Bei-
schlafe der weiche Schanker durch Berührung auf andere Körper-
stellen übertragen werden. Häufig ist namentlich bei Frauen das
gleichzeitige Auftreten von Ulcus molle- Geschwüren an Vulva und
After. Bekanntlich hat man aber auch solche Schankergeschwüre
an anderen Körperteilen, wie z. B. am Sternum, auf der Hand, an
den Fingern, am Arm, im Gesicht, am Kopfe u. s. w. beobachtet ^).
Lifolge widernatürlicher Ausübung des Geschlechtsaktes können weiche
Schankergeschwüre auf der Schleimhaut des Anus, der Mundlippen,
der Zungenspitze und Tonsillen hervorgerufen werden -) und sich mit
den durch vorher ausgeübten regulären Geschlechtsverkehr entstan-
denen venerischen Geschwüren an den Genitalien kombinieren. Hoff-
mann demonstrierte auf dem Internationalen Dermatologenkongresse
in Berlin (September 1904) einen Mann, der sich durch Ausübung
des Cunnilingus Ulcera mollia gangraenosa der Lippe und Zunge zu-
gezogen hatte, zu denen erst einige Wochen später sich syphilitische
Primäraffekte gesellten ^), und es scheint keinem Zweifel zu unter-
liegen, dass Fälle vorkommen, in denen gleichzeitig an den Geni-
talien, den Lippen und auf der Mundschleimhaut schankerartige und
i) Vergl. Rudolf Krefting, ,, Extragenitale Ulcera mollia" in: Norsk Magazin for
Laegevidenskaben, Februar 1896 (Referat in: Unna's Monatsheften 1897, Bd. XXIV,
S. 46); J. Csyllag, „Vier Fälle von extragenitalem weichem Schanker"' in: Archiv für
Dermatologie 1899, Bd. XLVIII, Heft 3.
2) M. V. Zeissl, Artikel „Schanker" in: Eulenburg's Encyclopädie 1899, Bd.
XXI, S. 519.
3) Monatshefte für prakt. Dermatologie 1905, Bd. XL, S. 124.
— 456 —
echte venerische Geschwüre vorkommen, die durch Kombination per-
verser Praktiken (CunniHngus, Coitus in os) mit dem regelrechten
Coitus entstanden sind.
Hierher gehört auch das Auftreten von Aphthen der Vulva
und des Mundes nach Coitus. In einer Inauguraldissertation „Ueber
Stomatitis und Vulvitis aphthosa" (Würzburg 1895J berichtet Otto
Christlieb über das gleichzeitige Auftreten aphthöser Geschwüre
an der Vulva und der Mundschleimhaut bei einer 24jährigen Patientin,
im Anschluss an einen Coitus! Es fanden sich Geschwüre an den
äusseren Genitalien, rote Flecke am Unterschenkel von kreisförmiger
Anordnung. Auffällig war der knorpelharte Rand der Geschwüre.
An der Gingiva des Unterkiefers sass ein aphthöses Geschwür, ebenso
befanden sich an der Uvula kleine Geschwüre. „Die ausgedehnte
Geschwürsbildung an der Vulva, die geschwollenen Leistendrüsen,
das Exanthem und die Geschwüre in der Mundhöhle sprachen sehr
für Syphilis." Aber diese konnte mit Sicherheit ausgeschlossen werden.
Es handelte sich um das gleichzeitige Auftreten einer aphthösen
Vulvitis und Stomatitis.
Eingehend hat Isidor Neumann die Aphthen am weiblichen
Genitale studiert^) und auf ihre leichte Verwechselung mit venerischen
Geschwüren aufmerksam gemacht. Es kommt nämlich recht häufig
bei den aphthösen Affektionen der weiblichen Geschlechtsteile zu
tiefgreifenden und ausgedehnten Ulcerationen, und die Aphthen er-
strecken sich von der Vulva oft bis zum After, so dass die Diffe-
rentialdiagnose zwischen ihnen und den syphilitischen Ulcera recht
schwierig ist. Neu mann sah Auftreten der Aphthen jedesmal intra
partum. Das Interessanteste und in Bezug auf Deutung alter Schil-
derungen Bemerkenswerteste ist das gleichzeitige Auftreten von
Anomalien der Hautdecke neben der aphthösen Erkrankung der
Genitalien. So beobachtete Neumann zwei Mal ein Erythema multi-
forme, ebenso oft ein Erythema nodosum dabei; auch andere toxische
Exantheme (pustulöse Formen u. s. w.) können sich mit Aphthen der
Geschlechtsteile vergesellschaften und so Syphilis vortäuschen. Ferner
sah Neumann bei einer 26jährigen, früher gesunden Magd nicht
bloss auf der Mund- und Gaumenschleimhaut, sondern auch an der
Innenfläche der Labia minora, der Vulva, Vagina und Vaginalportion
des Uterus aphthöse Geschwüre. Diese vermehrten sich unter Stei-
gerung des Fiebers gleichzeitig mit „linsen- bis kreuzergrossen, derben,
l) J. Neumann, ,,Die Aphthen am weiblichen Genitale" in: Wiener klinische
Rundschau 1895, No. 19.
— 457 —
lividroten Knoten an den unteren Extremitäten, von welchen einzelne
im Centrum mit miliaren gelben Punkten besetzt waren" ^).
Seltener als Aphthen kommen kondylomatöse Wucherungen
gleichzeitig an den Genitalien und an anderen Körperstellen vor. So
beobachtete Thevenin solche Kondylome an der Vorhaut und am
behaarten Kopf '-).
Auch das venerische Granulom, bei dessen Entstehung geschlecht-
liche Beziehungen eine offenbar begünstigende Rolle spielen (s. S. 431),
etabliert sich bisweilen ausser an den Genitalien, dem After und Um-
gebung auch in der Mundhöhle, an der Innenfläche der Wangen,
Lippen, am Zahnfleische und der Zunge ^).
Von grösstem Interesse ist es, dass derselbe Coitus impurus, der
eine Gonorrhoe zur Folge hat, als weitere indirekte Folgen das
Auftreten von Exanthemen hervorruft, die neuerdings besonders von
Buschke^) studiert worden sind. Es handelt sich um einfache Ery-
theme, urticarielle und Erythema nodosum-ähnliche Affektionen, hämor-
rhagische und bullöse Hauteruptionen und Keratodermien als „Haut-
manifestation" der Gonorrhoe. Sie stehen in direkter ätiologischer
Beziehung zu dem durch den Beischlaf übertragenen gonorrhoischen
Virus. Ohne Zweifel hätte man einen neuerdings von Orlipki^)
mitgeteilten Fall, in dem ein Mann drei Mal hintereinander an einer
Quaddeleruption der Haut erkrankte, sobald er sich gonorrhoisch
inficierte, als „Syphilis" gedeutet, wenn er etwa in der primitiven
Beschreibung der alten Aerzte mitgeteilt worden wäre.
Einen höchst merkwürdigen pseudosyphilitischen S3'mptomen-
komplex boten vier Tripperpatienten, die Menard im Jahre 1889
beobachtete. Es handelte sich bei allen Patienten um Harnröhren-
gonorrhoe, die mit Orchitis, Arthritis und mit Auftreten von Ge-
schwüren im Munde kompliziert war*').
i)J. Neumann, „lieber die klinischen und histologischen Veränderungen der er-
krankten Vaginalschleimhaut" in: Archiv für Dermatologie 1899, S. 635.
2) Journal des maladies aitanees 1898, No. i, Referat in Monatshefte XXVII,
1898, S. 407.
3) B. Scheube a. a. O., S. 605—608.
4) A. Buschke, Ueber Exantheme bei Gonorrhoe (Verhandl. d. Berl. derm. Ge-
sellschaft vom 21. März 1899), Referat in Monatshefte f. pr. Derm. 1899, Bd. XXVIII,
S- 515 — 518, Archiv für Dermatologie 1899, Bd. XLVIII, S. 181—204; 385—398.
5) In Münchener med. Wochenschr. 1902, No. 40, citiert nach M. v. Zeissl,
Diagnose imd Behandlung der venerischen Krankheiten, Berlin und Wien 1905, S. 192.
6) L. Jullien, Seltene und weniger bekannte Tripperformen. Deutsch von G. Merz-
bach, Wien vuid Leipzig 1907, S. 22.
- 458 —
Baudoin und Gastou konstatierten bei einem mit Tripper
behafteten jungen Manne zugleich einen ganzen Kranz von Pyo-
dermatitiden auf der Innenfläche der Oberschenkel, in denen man
Gonokokken nachweisen konnte ^).
Dass natürlich auch ein zufälliges gleichzeitiges Zusammen-
treffen von Hauterkrankung und Gonorrhoe einen ursächlichen Zu-
sammenhang zwischen beiden vortäuschen kann, ist klar. So hat
man Coincidenz von Furunkulose und Gonorrhoe gesehen ^).
Auch die bei einem Beischlaf acquirierte Scabies kann zu
gleicher Zeit an den Genitalien und dem übrigeu Körper lokalisiert
sein und so den Verdacht einer syphilitischen Affektion erwecken.
Eduard Lang berichtet, dass er mehr als einmal in die Lage ge-
kommen sei, Patienten mit an den Genitalien sitzenden Scabiespusteln
und Borken zu untersuchen, die von Praktikern für venerisch ange-
sehen und behandelt worden waren und am übrigen Körper ähnliche
Efflorescenzen aufwiesen ^).
Auch das seborrhoische Ekzem kann durch den Beischlaf
übertragen werden. L. Perrin beobachtete das besonders bei Ehe-
leuten. In zwei Fällen trat einen Monat nach erfolgtem Coitus ein
typisches seborrhoisches Ekzem bei dem gesunden Teile auf, das von
der Leistengegend des kranken Teiles übertragen worden war^^).
*
Unter den Affektionen, welche unabhängig vom Beischlafe sich
am Körper, der Schleimhaut des Mundes und in der Genitalregion
zu gleicher Zeit etablieren können, erwähnen wir zunächst das Ery-
thema exsudativum multiforme. Namentlich die Kombination
der Schleimhauterytheme mit denjenigen der Körperfläche und speciell
der Genitalien kann zur Verwechselung mit syphilitischen Exanthemen
Veranlassung geben. Es seien nur einige besonders augenfällige
Beispiele genannt, die das Erythema multiforme zu einer pseudo-
syphilitischen Hautaffektion par excellence stempeln. So beobachtete
Rosenthal die gleichzeitige Lokalisation eines Erythema bullosum
im Munde und an den Genitalien^), und nach H. Köbner'') tritt
besonders die als „Herpes Iris" bekannte Form des Erythema ex-
i) L. Jullien, ibidem S. 65.
2) B. Tarnowsky, Vorträge über venerische Krankheiten, Berlin 1872, S. 104.
3) Eduard Lang, Das venerische „Geschwür", Wiesbaden 1887, S. 38 — 39.
4) L. Perrin, „Contagiosität und Uebertragbarkeit des Eczema seborrhoicum der
Leistengegend", Archiv f. Derm. 1899, Bd. LX, S. 459 — 460.
5) Verhandlungen der Deutschen dermatologischen Gesellschaft 1894, S. 564.
6) lieber Pemphigus vegetans etc., 1894 a. a. O., S. 65 — 66.
— 459 —
sudativum multiforme zugleich an den Lippen, in der Mund-
höhle, den Genitalien, dem Perineum, um den Anus und zer-
streut auch auf den Hinterbacken auf.
„Ich habe", sagt er, „einen solchen Fall 1887 demon-
striert, welcher 8 Jahre hindurch antisyphilitisch (notabene
von modernen Spezialisten!) behandelt worden war, am an-
greifendsten in Aachen und Wiesbaden, und der damals gerade
einen seiner heftigeren Ausbrüche an den Beugeseiten der Finger,
den Handtellern, auf dem Nagelbett einiger Fingernägel, dem Penis,
Scrotum, die Raphe entlang sich steigernd bis um die Analöffnung
herum und auf einer Hinterbacke, nur wenig an der einen Fusssohle,
dagegen höchst intensiv in der Mundhöhle darbot.
An der Vorderseite der Genitalien meistens schon in runde
Excoriationen verwandelt und nur an der Hinterseite des Scrotum
bis um den Anus gleichwie an den Handtellern noch als Bläschen-
ringe konserviert, erschien der massenhafte Ausbruch derselben im
Munde als zahllose, wie zum Teil mit einem dünnen, grauweißen oder
graugelblichen, nicht fest haftenden Belag bedeckte, von geschwellten,
lebhaft roten, schmerzhaften Höfen halbmondförmig umsäumte, con-
fluierte Erosionen der Lippen-, Wangenschleimhaut und des Mund-
bodens neben dem Frenulum linguae, welche weiter die Pallisaden
des Zahnfleisches sämtlicher Unter- und Oberkieferzähne als con-
tinuierliche, halbkreis- oder kranzförmige Bläschengrenze umsäumten
und sich am harten und etwas zerstreuter am weichen Gaumen und
dem Gaumenbogen bis zur Epiglottis und der hinteren Rachenwand
erstreckten."
Als eine Form des Erythema multiforme ist wohl auch die von
Eduard Lang^) als „lokal recidivierender Blasenausschlag" be-
zeichnete Affektion anzusehen, die „bald an der Zunge, bald an den
Lippen, Wangen und Gaumen linsengroße und noch größere
Erosionen hervorruft, welche auf schwach infiltrierter Basis ruhend,
lebhaft rot oder mit einem weißlichen Belage behaftet waren und um
so eher zur Annahme von erodierten Papeln verlockten, als die
ganz gleichen Veränderungen auch am Genitale (Glans, Prä-
putium, Scrotum) zu sehen waren; nur ließen sich am Rande einzelner
Erosionen (des Scrotum) nebenher Blasenreste konstatieren."
Auch Rille^) weist auf die „oftmals recht schwierige"
Unterscheidung des Erythema multiforme von .syphilitischen Papeln
i) E. Lang, Vorlesungen über Syphilis 1896, 2. Aufl., S. 297.
2) J. H. Rille, Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten, Jena 1902, S. 30.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. ^^
— 460 —
hin, da „insbesondere chronisch recidivierendes Erythema iris ausser
an der Mundschleimhaut auch noch atypisch an den Handtellern
(statt an den Handrücken) vorkommt und so wegen der naheliegenden
Verwechselung mit einem Palmarsyphilid die Schwierigkeit erhöht
wird". Besondere diagnostische Schwierigkeiten bietet nach Rille
eine „bei schlecht menstruierenden oder sterilen Frauen vorkommende,
sehr chronische, an den Händen und namentlich an der Stirn e
lokalisierte Form, die aus gruppierten braunroten, derben, etwa erbsen-
grossen Knoten besteht und kutane Gummen resp. Corona venerea
vortäuschen kann".
Endlich hat man noch eine merkwürdige Kombination von
Erythema multiforme mit Angina beobachtet^).
Gleich dem Erythema multiforme wird auch der chronische
recidivierende Herpes der Mundhöhle oft mit syphilitischen
Plaques muqueuses verwechselt, um so mehr, wenn er, wie sehr häufig,
abwechselnd oder gleichzeitig mit Herpes genitalis auftritt.
Besonders eklatante Beispiele hierfür beobachteten Sabrazes^),
Th. S. FlatauS) und Köbner*).
Der Herpes zoster (Zoster) der Genitalien und der Mund-
und Rachenschleimhaut ist ebenfalls schon sehr oft mit syphilitischen
Affektionen verwechselt worden.
Von großem Interesse sind auch die von Köbner (a. a. O.
S. 64 — 65) geschilderten akuten Ausbrüche grösserer zahlreicher
Blasen auf der Zunge und einzelner, meistens kleinerer auf
dem Penis, Scrotum oder auch in der Regio ani, denen
Pruritus vorauszugehen pflegt.
., Einmal habe ich eine gleichfalls noch nicht sicher zu systematisierende Phlyktänose
fast nur der Schleimhäute bei einem 40jährigen Manne beobachtet, deren kleine Blasen und
Bläschen auf der Conjunctiva oder wenigstens mit der Conjunctivitis begonnen haben und
sich zunächst auf die Nasen-, dann die Rachen- und Mundschleimhaut, gelegentlich auch
auf den Kehlkopfeingang, später auf die Glans penis und endlich auf die Haut von
Hämorrhoidalknoten verbreitet haben sollten, und deren oberflächliche, linsengroße, leicht
blutende und schmerzhafte Erosionen , welche während mehrerer Jahre am häufigsten nur
auf der Nasen- und Rachen-Mundschleimhaut wiederkehrten, für Syphilis gehalten
worden waren."
Eine wichtige Rolle unter den pseudosyphilitischen Blasen-
erkrankungen der Haut spielt der Pemphigus, an erster Stelle die
1) C. Boeck in Vierteljahrsschrift f. Derm. u. Syph. 1883, Bd. XV, S. 481—490.
2) Sabrazes, Herpes recidivant de la bouche et de la verge (seit 9 Jahren), in
Annales de la Policlin. de Bordeaux 1890, p. 1S8.
3) Th. S. Flatau, Deutsche med. Wochenschr. 1891, No. 22.
4) Köbner a. a. O., S. 63. Vergl. auch die Monographie von P. Diday und
A. Doyon, ,,L'herpes recidivant des parlies genitales."
— 4^1 — •
als „Pemphigus vegetans" 1886 von J. Neumann beschriebene Form
desselben, die früher nach seinem Zeugnis nicht bloss von Dermato-
logen ersten Ranges wie Hebra, Kaposi und J. Neumann
selbst stets als „Syphilis cutanea papillomiformis s. vegetans"
behandelt worden war, sondern nach Köbner auch heute noch „fast
überall" mit Syphilis verwechselt wird. Köbner (a. a. O.
71 — 89) teilt mehrere Beobachtungen dieser Pemphigusform mit.
In dem einen Falle handelte es sich um einen Epithelverlust der ganzen
Mundschleimhaut, flache Ulcerationen am Naseneingang, auf den Conjunctivae bulbi,
um Condylom ähnliche Bildungen am After und Hau tcondy lome und nässende
Wucherungen unter der Unterlippe und in der Achselhöhle, zwischen Scrotum und
Schenkel. Dabei bestand widerlicher Foetor ex ore.
Ein Patient war wegen ,, Halsbeschwerden und weisser Bläschen auf Zunge und
Wangenschleimhaut'' und ,,Condylomata intra nates" sogar antisyphilitisch behandelt worden.
Diese ,, Kondylome" widerstanden aber hartnäckig allen antisyphilitischen
Kuren. Später traten neue Ausbrüche im Munde auf, Erosionen der Schleimhaut, Blasen
zwischen den Schenkeln und am Perineum und Scrotum, die sich zum grossen Teil in rund-
liche, flache, breiten Condylomen ähnliche, nässende und sehr juckende Er-
hebungen umwandelten und trotz Calomel-Streupulver immer höher und dichter empor-
wucherten imd eine kolossale Ausdehnung am Scrotum und den inneren Oberschenkeiflächen
über die Inguinalgegenden hinweg bis auf den Mons pubis, sowie von der Wurzel des
Scrotum über das ganze Perineum bis nahe an den Anus erreichten.
In einem dritten Falle traten bei einer 45jährigen Frau zuerst Halsbeschwerden,
Erosionen der Mucosa buccalis sinistra, Blasen an der Zunge und in der ganzen Mundhöhle
und Rachen auf. Antisyphilitische Behandlung trotz jeden Fehlens eines Anhaltspunktes.
Schliesslich ergab sich folgendes Bild: Der Mund war voll von aus Blasen entstandenen
Excoriationen, der Naseneingang mit Borken besetzt, desgleichen fanden sich zwei thalergrosse
Stellen am Mittelkopf. Am Nabel und den Genitalien, der Clitoris und den Nymphen
zahlreiche teils mit graulich weissen Epithelien bedeckte oder imirandete, teils tiefrote, rund-
liche, isolierte und confluierende Excoriationen, stellenweise mit knopfförmigen Erhaben-
heiten besetzt. An der Innenseite der rechten grossen Scham lefze luid der
kleinen ein etwa erbsengrosses oberflächliches, gelb belegtes Geschwür. An der Innen-
seile des rechten Oberschenkels eine Gruppe von condylomartigen Wucherungen.
Auch Rille betont (a. a. O., S. 96) nachdrücklich die „größte
Aehnlichkeit" der Pemphigus vegetans- Wucherungen mit breiten
Condylomen. Hierfür spricht auch die interessante Thatsache, dass
der ältere Hebra die Krankheit noch als „Syphilis cutanea
papillomiformis" bezeichnet hat, während schon Sauvages diese
Fungi der Achselhöhle und der Genitahen als besondere Krankheit
beschrieben hat^).
Wenn also einem so hervorragenden Diagnostiker wie Hebra
dieser Irrtum am lebenden Menschen passiert ist, wie will man sich
da vermessen, aus den doch viel unklareren vSchilderungen dieser
i) Vgl. J. Neumann, „Ueber Pemphigus vegetans" in: Vierteljahrsschr. f. Dermat.
i886, Bd. XVIII, S. 157, 158.
30*
— 4^2 —
Art in der älteren Literatur mit Sicherheit auf Syphilis zu schliessen
und ähnhche nichtsyphilitische Leiden wie das eben geschilderte aus-
zuschliessen ?
An den Pemphigus vegetans reiht sich in Bezug auf ihre
Syphilisähnlichkeit die tropische Framboesie (Yaws, Plans, Bubas,
Patek etc.), an, eine in Afrika, Niederländisch-Indien, der Südsee und
den Antillen endemische Krankheit; die ihrem Wesen nach von der
Syphilis durchaus verschieden ist, wie schon die Beobachtungen*)
der älteren Autoren ergeben haben, die erwiesen, dass die Framboesie
auch ohne medikamentöse Therapie heilt, gegen Quecksilber sich
refraktär verhält und öfter neben der Syphilis an demselben Indi-
viduum beobachtet wird. Aus diesen Gründen sprechen sich auch
neuere Autoren, wie G. Lewin-) und B. Scheube'^) gegen die syphi-
litische Natur der Framboesie aus. Sehr wertvoll ist das Urteil
unseres bedeutendsten Venereologen, der beide Krankheiten an Ort
und vStelle genau studieren konnte. Herr Professor Albert Neisser
schrieb mir nach seiner Rückkehr von der ersten Tropenreise, auf
meine Anfrage, unter dem 23. Januar igo6:
„Meiner Ansicht nach kann nicht der geringste Zweifel
bestehen, daß die tropische Framboesie und die S3'philis zwei ganz
verschiedene Krankheiten sind. Es ist zwar ganz sicher, daß
sehr viele Fehldiagnosen nach beiden Richtungen hin gemacht
worden sind und auch zur Zeit noch gemacht werden — ich selbst
z. B. würde mich nicht getrauen, in allen Fällen eine sichere
Differentialdiagnose zu stellen — aber dadurch wird die Frage
nach der Aetiologie ebenso wenig berührt, wie etwa in früheren Zeiten
die ätiologische Beurteilung des sog. Lupus syphiliticus.
Dass die beiden Krankheiten absolut verschieden sind, geht hervor:
1. Aus den alten in den 8oer Jahren von Charlouis gemachten
Impf versuchen , veröffentlicht im Archiv für Dermatologie und
Syphilis und
2. aus meinen eigenen Affen- Versuchen.
Man kann sehr wohl mit Framboesie behaftete Menschen und
Tiere nachträglich mit S)'philis und zwar mit positivem Erfolge
impfen und ebenso umgekehrt."
") Vgl. August Hirsch, Handbuch der historisch -geographischen Pathologie,
2. Aufl., Stuttgart 1883, Bd. H, S. 71.
2) In der Diskussion zu einem von O. Lassar vorgestellten Falle von Framboesie.
Berliner khn. Wochenschr. 1887, Nr. 47.
3) B. Scheube, Die Krankheiten der warmen Länder. 2. Aufl., Jena 1900,
S. 325 — 333 und Eulenburg's Realencyclop., 3. Aufl., Bd. XXVI, 1901, S. 291.
— 4^3 —
Wie die S3^phiHs hat auch die Framboesie einen Primäraffekt an
der Stelle, wo das spezifische Framboesiegift i) eingedrungen ist, und
sekundäre, nach einigen Autoren sogar auch tertiäre Symptome. Das
Hauptcharakteristikum des Leidens sind himbeerartige, rote verrukös
zerklüftete Papeln im Gesicht, an den Lippen, Nacken, Extremitäten
und den Genitalien. Eine besondere Form der Framboesie stellen
die brasilianischen „Boubas" dar, die nicht bloss an Haut und den
schleimhautbedeckten Orificien lokalisiert sind, sondern auch andere
Partien der Lippe, des Gaumens, des Zungenrückens, des Pharynx,
ferner den Larynx und die Trachea ergreifen 2).
Vielleicht eine nur durch Komplikation mit Malaria und den
Einfluß der hohen Lage komplizierte Form der Framboesie ist die
sog. ,, Verruga peruviana", eine contagiöse chronische Infektions-
krankheit mit Fieber, Anämie und warzenartigen Hauttumoren'').
Nach Geber wird ferner die sog. „endemische Beulen-
krankheit" oft mit Syphilis verwechselt. Es handelt sich bei ihr um
Knötchen, die sich in Geschwüre umwandeln und beim Sitz an den
Genitalien einen Schanker vortäuschen. Das Leiden ist ansteckend*).
Auch die „Kro-Kro" genannte infektiöse Hautkrankheit der
Kamerunküste gehört hierher. Sie tritt teils in Form einer Derma-
litis nodosa der Oberschenkel, des Scrotum, der Glutäal- und Ingui-
nalgegend auf und repräsentiert sich dann in beetartigen, flachen,
harten Auflagerungen von höckeriger Oberfläche, teils zeigt sie sich
als ulceröse Dermatitis in Form von multiplen Geschwüren an den
unteren Extremitäten, dem Fußrücken, der Glutäalgegend, den Nates
und am Anus^).
Als eine pseudosyphilitische Affektion muß ferner die von Hallo-
peau*') beschriebene „Pyodermitis vegetans" erwähnt werden,
Eiterbläschen, die sich zu polycyklischen Herden vereinigen, im
Centrum abblassen, in der Peripherie sich stetig vergrößern und nach
i) A. Castellani fand als Erreger der Framboesie eine Spirochätenform (Sp. per-
tenuis seu pallidula), die sehr grosse Aehnlichkeit mit dem kürzlich entdeckten Erreger der
Syphilis, der Sp. pallida hat, aber auch verschiedene Unterscheidungsmerkmale aufweist.
Deutsche med. Wochenschr. 1906, Nr. 4.
2) A. Breda, Beitrag zum klinischen und bakteriologischen Studium der brasiliani-
schen Framboesie oder „Boubas". Archiv f. Dermat. 1895, Bd. XXXIII, S. 3 — 28.
3) Vgl. Scheube a. a. O., S. 334—343; Hirsch a. a. O., Bd. II, S. 78 — 83.
4) Scheube a. a. O., S. 597 — 604.
5) Scheube a. a. O., S. 585—587.
6) H. Hailopeau, ,,Pyodermite vegetante", ihre Beziehungen zur Dermatitis her-
petiformis und dem Pemphigus vegetans. In: Archiv f. Dermat., Bd. LXIII/LXIV, 1898,
S. 289 — 306 und ßd. LXV, S. 323 — 328.
— 464 —
ihrer Rückbildung keine anderen Spuren hinterlassen als stark pigmen-
tierte Flecke. Das Leiden zieht auch ganz regelmäßig die Schleim-
haut des Mundes in Mitleidenschaft.
So hatte eine Patientin derartige Krankheitsherde an den Händen, den behaarten
Hautstellen, dem Nacken, in den Achselhöhlen, an der Vulva und Umgebung, in inguine,
am Perineum, Nates, Rücken, Lippen-, Mund- und Gaumenschleimhaut.
Bei einem Manne fanden sich solche multiplen Herde pustulöser Dermatitis an der
Wange, den Lippen, der Zunge, der Wangenschleimhaut, den Tonsillen, dem Gaumensegel,
in den Achselhöhlen und am Penis.
Bei einem zweiten Patienten entwickelten sich schliesslich Protuberanzen mit roter,
drüsiger, wuchernder Oberfläche am Rücken, Arm, Kopfhaut, Mund- und Nasenschleimhaut,
Genitalien und Anus.
Lieblingsstellen der Pyodermitis vegetans sind die Geschlechts-
organe und ihre Umgebung, der Anus und seine Umgebung, die
Achselhöhlen, Lippen, die Mundschleimhaut, die Nasenhöhlen.
Die eigentümliche Neigung zur Wucherung läßt an Pemphigus
vegetans denken, von dem aber die AfFektion durch die günstigere
Prognose sich unterscheidet.
Als „Pustulosis acuta varioliformis" beschrieb Fritz Julius-
berg i) eine Affektion, bei der Pusteln am Kopf, Rücken und um
den Anus, sowie rote Flecke an den Beinen auftraten.
Unter Umständen sind auch gewisse Acne-Formen leicht mit
dem entsprechenden pustulösen Syphilide, der sog. „Acne syphilitica"
zu verwechseln. Besonders gilt das von der sog. Acne varioli-
formis seu necrotica-), weil sie gleich der syphilitischen Acne zu
ulzerativen, mit Narben endigenden Prozessen führt. Auch die Lokali-
sation an der Stirnhaargrenze kann zu Verwechselungen mit der
ebenso lokalisierten „Corona venerea" Veranlassung geben. Wenn
sich gar, wie in einem von F. J. Pick (a. a. O. S. 53) beobachteten
Falle, die Acne varioliformis mit Halsentzündungen kompliziert,
so ist die Gefahr einer Verwechselung mit Syphilis noch viel größer^).
Die bei marantischen Individuen vorkommende „Acne cach-
ecticorum" macht namentlich dann differentialdiagnostische Schwierig-
keiten, wenn gleichzeitig multiple Lymphdrüsenschwellungen und
Karies an Knochen und Gelenken vorhanden sind. Nicht selten ent-
i) Fritz Juliusberg, Ueber Pustulosis acuta varioliformis. In: Archiv f. Dermal.
1898, Bd. LXVl, S. 21 — 28.
2) Vgl. C. Boeck, Ueber Acne frontalis s. necrotica. Archiv f. Dermat. 1889,
Bd. XXI, -S. 37 — 49. F. J. Pick, Zur Kenntnis der Acne frontalis seu varioliformis.
Ibidem, S. 551 — 560.
3) Ein Fall von Acne necrotica, den Schwimmer in der .Sitzung der ungarischen
dennatologischen Gesellschaft vom 5. Dezember 1895 vorstellte, wurde von Anderen für
Syphilis gehalten! Monatsh. f. prakt. Dermat, 1896, Bd. XXII, S..526.
— 465 —
steht durch gleichzeitiges Auftreten von Angina cachectica und
Glossitis cachectica ein noch augenfälligeres, syphilisähnliches Krank-
heitsbild, Trautmann 1) vermutet sogar einen Kausalnexus zwischen
diesen drei Krankheitsformen. Der in Frage stehende Symptomen-
komplex bietet jedenfalls große differentialdiagnostische Schwierig-
keiten. Beiläufig sei hier überhaupt auf das gewiß nicht seltene rein
zufällige Zusammentreffen von Angina und Haut- bzw. Genital-
affektionen hingewiesen, das selbst heute noch gelegentlich den Ver-
dacht auf S3^philis erwecken kann, in den älteren literarischen Be-
richten aber wohl häufig als solche gegolten hat bzw. heute so ge-
deutet wird.
Doch gibt es auch gleichzeitige infektiöse Entzündungen der
Genitalien und anderer Teile, die in einem kausalen Zusammenhange
stehen und vom rein literarischen Gesichtspunkte unter den pseudo-
syphilitischen Affektionen kurz erwähnt werden müssen. Dahin ge-
hört die bekannte merkwürdige Komplikation der Parotitis mit
Orchitis und Urethritis (bzw. Vaginitis und Ödem der Labien), ferner
eine 1749 zuerst beobachtete, eigentümliche epidemische Erkrankung,
die sich durch Ulcerationen im Munde und an den Genitalien
sowie durch Dysurie und Nierenschmerzen charakterisierte und zuerst
für Syphilis gehalten wurde-), dann die gangränösen Affektionen
der Vulva bei Rachendiphtherie, Morbilli, Scarlatina, Typhus, die
Gangrän des Scrotums bei Pocken und Varicellen, die Ulcerationen
der äußeren Genitalien gleichzeitig mit der „Mundseuche" oder
Stomatitis epidemica durch Uebertragung der Maul- und Klauen-
seuche auf den Menschen (vgl. Köbner a. a. O. S. 62).
Eine pseudosyphilitische Affektion par excellence ist die Im-
petigo herpetiformis, die zuerst die Genitocruralgegend, dann
Rumpf, Extremitäten, Kopf ergreift, gelegentlich auch auf der Mund-
und Rachenschleimhaut und in der Vulva und Vagina sich zeigt.
„Der den Schleinihautpusteln folgende eitrige oder aus schmierigen grauen Massen
bestehende, fötide Belag dieser einzelnen linsen- bis bohnengrossen Plaques, z. B. der
Zungen-, Lippen- oder Wangenschleimhaut, hat namentlich dann zu Irrungen geführt, wenn,
wie bei einer von mir beobachteten Frau, enorm grosse, bogenförmig begrenzte
Flächen der Un terbauch- und der ganzen Genitocruralgegend mit zusammen-
i) G. Trautmann, Zur Differentialdiagnose von Dermatosen und Lues etc. Wies-
baden 1903, S. 157.
2) ,,Sur une maladie epidemique caracterisee par des ulceres ä la bouche, et aux
parties genitales, avec ardeur d'urines, douleurs de reins et autres symptomes veneriens."
In: Consultations choisies de plusieurs medecins celebres de l'universite de Montpellier sur
des maladies aigues et chroniques, Paris 1755, Bd. X, S. 210 — 219.
— 4^6 —
hängenden Beeten hoher, spitzen Condylomen völlig gleichender Wärzchen
mit schmierigem höchst fötiden Belag bedeckt sind."')
Nach Du Mesnil und Marx treten bei diesem Leiden ver-
einzelte kleine Wärzchengruppen sogar auf der Wangen- und Ton-
sillenschleimhaut auf').
Die Impetigo vulgaris kann ebenfalls außer der Haut auch die
Schleimhaut der Lippen, Zunge, des Rachens und (jaumens befallen.
Unna und Schwenter-Trachsler beobachteten 7 solche Fälle •*).
Manchmal kann die Differentialdiagnose zwischen Lnpetigo und
Syphilis recht schwierig sein, w'ie ein von H. Isaac^) beschriebener
Fall beweist in dem ein impetiginöses Ulcus an der Vulva neben der
Hauteruption vorhanden war. Als Teilerscheinung einer Impetigo cor-
poris kann ferner b'ei Kindern eine diphtheroide impetiginöse »Stomatitis
auftreten ^).
Verschiedene lokale entzündliche Hyperämieformen der Haut
können eine syphilitische Roseola vortäuschen. So gibt es eine
chronische Form des Erysipels, das ohne Fieber in bogenlinigen
Eruptionen auftritt und einer ringförmigen , syphilitischen Roseola
auffallend ähnlich ist*'). Nicht häufig wird die Pityriasis rosea
(Herpes maculosus) wegen der Aehnlichkeit der Efflorescenzen und
der Gleichheit der Lokalisation mit Roseola syphilitica verwechselt,
seltener mit dem circinären Syphilid. Ueber eine syphilisähnliche
,,papuloerythematöse Eruption" sui generis berichtete Eudlitz''),
und Gastou beschrieb sogar eine syphilisähnliche exfoliative
Erythrodermie mit doppelseitiger Iritis^).
In der Sitzung der Berliner Dermatologischen Gesellschaft vom
6. Februar 1900 stellte Heller'*) einen Fall von Lupus erythema-
todes acutus vor, der einem S3'philitischen Exanthem sehr ähnlich
war, weshalb auch zuerst eine antisyphilitische Therapie vorgeschlagen
wurde. Einen gleichen Fall teilt Kantorowicz mit^°). Genauer hat
1) Köbner a. a. O., S. 67—68.
2) Einen Fall von Impetigo herpeliformis mit Beteiligung der Zunge, Lippe und des
Zahnfleisches teilt auch Rille mit. Monatsh. f. prakt. Dermat. 1890, Bd. XXVIII, S. 141.
3) Vgl. Unna-Blnch, Die Praxis der Hautkrankheiten, Berlin-Wien 1908, S.
414—415-
4) H. Isaac, Impetigo oder Lues? Monatsh. f. Dermat. 1896, S. 243.
5) Deguy, Journal des Praticiens 1899, Nr. 31. Referat in INIonatsh. f. prakt.
Dermat. 1900, Bd. XXX, S. 554.
6) Rille a. a. O., S. 11.
7) Monatsh. f. Dermat. 1898, S. 399 — 400.
8) Monatsh. f. Dermat. 1896, Bd. XXII, S. O49.
9) Monatsh, f. Dermat. 1900, Bd. XXX, S. 324.
10) Ibidem 1898, S. 173.
— 467 —
Trautmanii ') die Verwechselungsniöglichkeiten zwischen Lupus
erythematosus und Syphilis erörtert. Seine interessanten und wichtigen
Ausführungen seien im Wortlaut wiedergegeben:
„I. Die Scheibenform (L. e. discoides) ist manchmal unregehnässig und kann die
Gestalt von Kreisbögen und eine serpiginöse Conf iguration annehmen. Bei Ge-
sichtslokalisalion kann es auch zu Anschwellung der .Submaxillardrüsen kommeH. Kaposi
spricht von der Verwechslungsmöglichkeit mit einem Syphilid. Die disseminierte Form
kann nach Kaposi und Joseph Knoten aufweisen, die den syphilitischen Papeln
täuschend ähnlich sein können. Dazu kommt noch, dass solche Efflorescenzen auf der
Palma manus (Kaposi) und Planta pedis (Du Castel) aultreten können und dass nach
Kaposi, allerdings nur zuweilen und dann unter einer acuten, fieberhaften Eraption, sich
nächtliche, bohrende Knochenschmerzen und Intumescenz der Lymphdrüsen
einstellen können. Hallopeau erwähnt auch das Vorkommen der Lokalisation am Penis
und Henri Piffard hat einen solitären Fall von Lupus erythematodes des Penis beschrieben,
der in Form mehrerer Kreisflecken, einem Herpes tonsurans circinatus sehr ähnelnd, auf
der Glans sich befand. Die Verwechslung mit einem annulären Syphilid dürfte in einem
solchen Falle nicht zu den Unmöglichkeiten gehören. . . .
Im obigen Falle Du Castel's (generalisierter L. e.) bestanden am Stamme teilweise
papulo-squamöse Eruptionen, ferner eine Cervicailymphdmsenanschwellung in Form einer
langen Kette, deren einzelne Drüsenglieder indolent waren und unter dem Finger rollten.
Eine spezifische Behandlung war ohne Nutzen.
2. Um so mehr Faktoren für die Annahme einer Lues können gegeben sein, wenn
die Schleimhäute der Mundhöhle und der oberen Luftwege in syphilisähnlichen Formen
ebenfalls befallen sind, ganz besonders aber bei primärem oder sogar solitärem Sitz
auf denselben.
Ueberblicken wir unsere Litteraturfälle, so sehen wir bei einer Reihe derselben, dass
die Diagnose Lues thatsächlich teils vermutet und gestellt, teils ex juvantibus
erwartet worden ist.
Im Falle Lassar' s legte die Affektion im Halse den Verdacht auf Lues nahe, in
demjenigen von Dubreuilh-Audry lässt die Zungen erkrankung an Syphilis denken
und man giebt der Patientin ein traitement mixte.
Im Falle von Gros war die Erkrankung des Gesichts zweifellos als Lupus erythe-
matodes zu bezeichnen, dagegen boten die ulcerierten Plaques auf der Zunge mit ihrem
weisslichen, pseudo-membianösen Ueberzug ganz das Bild von syphilitischen Plaques.
Dazu kamen noch die Anschwellungen der Submaxillar- und C€r\'icaldrüsen, in der Gegend
der Parotis, sowie der Halsdrüsen in der Tiefe dem Muse, sterno-kleido-mastoideus endang.
Dieselben rollten unter dem Finger, waren hart, nicht adhärent, ohne jegliche Fluktuation,
von der Grösse einer Haselnuss bis Taubenei. Eine antisyphilitische Behandlung war
erfolglos.
Im Falle Sherwel, in welchem Tonsillen, Pharynx und Larynx ergriffen waren,
wurde ebenfalls resultatlos eine spezifische Kur eingeleitet.
Im Falle Feulard wurde die Affektion an der Unterlippenschleimhaut von anderer
Seite für eine Plaque muqueuse angesehen und Feulard selbst sagt, dass man glauben
könnte, eine sekundäre syphilitische Affektion vor sich zu haben, welcher Meinung
sich auch Fournier anschliesst. Die betreffende Patientin war von einem Arzte dem
Krankenhaus mit der Diagnose Syphilis überwiesen worden. Capelle weist auf die
i) A. a. O., S. 124 — 125.
— 468 —
Moulage Nr. 1862 des Museums St. Louis, Paris, hin, welche einen Zungenschanker
darstellt und ein frappantes Beispiel für die Verwechslungsmöglichkeit darbietet.
Kurz, die diagnostischen Schwierigkeiten der Lues gegenüber sind beim Lupus ery-
thematodes der Schleimhäute bei der ersten Untersuchung grosse, manchmal unüberwindliche."
Eine exquisit pseudosyphilitische Affektion ist der Liehen ruber,
besonders der Liehen ruber planus, da er bereits bei blossem
Vorkommen am Stamme mit jener Form des kleinpapulösen Syphilids
verwechselt werden kann, die schon durch ihre Bezeichnung als „Liehen
syphiliticus" darauf hinweist. Noch schwieriger wird die Diagnose,
wenn, wie sehr häufig, sich Lichenpapeln und Erosionen auf der
Schleimhaut des Mundes oder an den Genitalien finden bzw.
an beiden Teilen zugleich. Auch Anus, Urethra, die Palmar-
bzw. Plantarfläche von Hand und Fuss können von der Lichen-
eruption ergriffen werden. Hieraus ergeben sich die merkwürdigsten
syphilisähnlichen Bilder. Nur einige besonders drastische Fälle seien
erwähnt.
So demonstrierte Jadas söhn ') einen Liehen ruber planus mit gleichzeitiger Lokali-
sation an Scrotum, Penis und Mundschleimhaut. Ebenso berichtet S. Röna^) über einen
Liehen der Wangenschleimhaut und am Penis bei demselben Individuum.
Lang^) stellte einen Fall vor, der infolge seines Sitzes und seiner Configuration
leicht ein serpiginöses Syphilid des Penis und der Scrotalhaut vortäuschen konnte. Am
übrigen Körper sehr wenige und undeutlich ausgeprägte Efflorescenzen. Das Ganze besteht
5 — 6 Monate. Vor dieser Zeit soll der Patient auch nach einem Coitus einen Urethral-
ausfluss bemerkt haben, den er, nachdem nach 14 Tagen keine Sistierung eintrat, eigen-
mächtig mit Injektionen behandelte, worauf Verschlimmerung eintrat. Die Urethra lieferte
ein eigenthümliches Sekret, in dem keine Gonococcen nachweisbar waren. Lang nahm
Liehen der Urethra an.
Wenn ausser den Genitalien auch noch die Mundschleimhaut in Fonn von Plaques,
Erosionen und sogar Ulcerationen ergriffen ist, so liegt die falsche Diagnose „Syphilis" erst
recht nahe. So berichtet Lang'') über einen 19jährigen Mann mit ausgedehntem Liehen
planus corporis, Liehen penis, L. der Wangenschleimhaut; Bender^) sah folgenden selt-
samen Fall: Beginn an den Händen, gleichzeitig weisse Plaques in der Mundhöhlen-
schleimhaut und auf der Zunge. Die Inguinaldrüsen und Auro-occipitaldrüsen
multipel geschwellt, nicht schmerzhaft, Exanthem am Penis! Welch eine
Kombination ! Würden wir das bei einem alten Schriftsteller lesen, dann würde das selbst
dem erfahrenen Kenner als Syphilis imponieren. Und doch ist es nur eines der vielen
Syphilis vortäuschenden Krankheitsbilder, deren wir schon so viele kennen gelernt haben.
In einem von Audry beobachteten Falle entstanden, während sich die primären
Plaques auf der Schleimhaut der Wange, der Lippen und auf dem Zungenrücken innerhalb
3 Wochen vergrösserten, kleine, rote, wachsartige, glänzende Knötchen auf der Glans, der
Penishaut und dem Handrücken.
i) Monalsh. f. prakt. Dermat. 1899, Bd. XXIX, S. 482.
2) Ibidem 1889, Bd. VIII, S. 255—256.
3) Archiv f. Dermat. 1893, S. 873, cit. nach Trautmann a. a. O., S. 33.
4) Trautmann 1. c.
5) Ibidem.
— 469 —
Page sah gleichzeitige Lokalisation in Mundhöhle, Anus und Urethra, Stobwasser
in der Mundhöhle und auf der Analschleimhaut.
Gleichzeitigen Eruptionen des Liehen auf der Haut, der Palma manus im Verein mit
Drüsenanschwellungen legen den Verdacht auf Syphilis sehr nahe.
In der Sitzung der Berliner Dermatologischen Gesellschaft vom
6. Juni 189g stellte Berger ') einen Fall von „Liehen ruber verru-
cosus" des behaarten Kopfes vor, der für ein tuberkulöses Syphilid
gehalten worden war.
In einem Falle von Liehen ruber acuminatus, in dem der ganze
Körper und auch Handfläche und P\isssohle betroffen waren, be-
obachtete Unna^) eine erosive Glossitis:
,,Ich fand die Oberfläche der Zunge dicht besetzt mit hirsekorn- bis erbsengrossen
Erosionen, die zum Teil wie mit dem Locheisen ausgeschlagen und sämtlich von einem
weisslichen Rande unregelmässig abschuppender Hornschicht umsäumt waren."
Auch andere lichenoide Eruptionen können mit S3'philis ver-
wechselt werden. So berichtet Brück may er ^j über einen Fall von
„Liehen scrophulosorum" bei einem 13jährigen Mädchen, der
anfangs als Liehen syphiliticus aufgefasst wurde. Körper, Mons Ve-
neris, und Labien waren mit Knötchen und conylomähnlichen Plaques
besetzt.
Als „lichenoides Vaccinalexanthem" beschreibt Rille (a. a. O.,
S. 25) einen nicht seltenen Impfausschlag, der aus über die ganze
Hautoberfläche disseminierten hirsekorn- und stecknadelkopfgrossen,
braunrot glänzenden, bisweilen an der Spitze eine kleine Vesikel
tragenden Knötchen von ziemlich derber Konsistenz besteht, die immer
erst nach voller Entwickelung der Impfpusteln entstehen und Aehn-
lichkeit mit dem kleinpapulösen Syphilid besitzen, jedoch nicht die
Neigung zur Gruppenbildung mit demselben teilen.
Auch der sog. „Liehen urticatus", eine Varietät der Urticaria,
ist bisweilen schwer von syphilitischen Papeln zu unterscheiden, zumal
wenn er auch die Handteller befällt.
Recht grosse Aehnlichkeit mit syphilitischen Plaques und Papeln
kann endlich die sog. „Lichenification" des Ekzems (L. chronicus
Simplex) aufweisen. Ein von mir beobachteter Fall zeigte das deut-
lich, in dem einige solche isolierte Plaques an den Oberschenkeln
und am Damme vorhanden waren, die man bei oberflächlicher Be-
trachtung für syphilitische Papeln hätte halten können, wenn sie nicht
1) Monatshefte 1899, Bd. XXIX, S. 171.
2) P. G. Unna, Ueber die Mundaffektion bei Liehen ruber. In: Monatshefte f.
Dermal. 1882, Bd. I, S. 257-261.
3) Ibidem 1899, Bd. XXIX, S. 122.
— 470 —
mit einem allgemeinen typischen Ekzeme des übrigen Körpers deut-
lich in Verbindung gestanden hätten.
Hier ist noch der „Morbus Jadassohni" zu erwähnen, ein
„psoriasiformes und lichenoides Exanthem", das vS. Rona^) in einem
Falle auf dem Penis, dem Gesäss, den Handtellern und Fusssohlen
beobachtete.
Weniger häufig als der Liehen ruber wird die Psoriasis mit
S3^philis verwechselt. Das gilt besonders von der sog. „Psoriasis
rupioides", von der Mackenzie-) und Wallsch^) Fälle mitteilten,
und von der Lokalisation der Psoriasis im Munde in Form der „Leuko-
plakia psoriatica"^), am Nacken in Form des „Leukoderma psoriaticum"^)
und am Genitale. Li der Sitzung' der Venerologisch-Dermatologischen
Gesellschaft zu Moskau vom 5. April igoi stellte Krasnoff einen
Fall von Psoriasis vulgaris vor mit Efflorescenzen an der Wangen-
schleimhaut und an Handteller und Fusssohlen*').
Sehr eigentümlich ist die multiple Warzenbildung, die Gass-
mann') nach vorangegangener Psoriasis am ganzen Körper und auch
auf den Nates und am Penis auftreten sah.
Auch seltenere Hautaffektionen, wie die von Mibelli ^) beschriebene
„Porokeratosis", wie die teils am Körper, teils an den Genitalien
lokalisierte, nicht selten in condylomartigen Vegetationen auftretende
Psorospermosis von Darier^), wie die von Pollitzer und Ja-
i) Monatshefte f. Dermal. 1898, Bd. XXVII, S. 180.
2) Ibidem 1897, Bd. XXV, S. 131.
3) Ibidem 1898, Bd. XXVII, S. 583.
4) J. Schütz, ,,Leukoplakia oris bei Psoriasis und anderen Dermatosen". Archiv
f. Dermal, u. Syphilis 1898, Bd. XLVI, S. 433 — 446. — Lang a. a. O., S. 302 — 303.
5) Rille a. a. O., S. 58.
6) Monatshefte f. Dermal. 1901, Bd. XXXIl, S. 524.
7) A. Gassmann, Casuislische Beiträge zur Psoriasis. Archiv f. Dermal. 1897,
Bd. XLI, S. 362—366.
8) Victor Mibelli, Ueber einen Fall von Porokeratosis mit Lokalisation im Munde
und an der Gians. In: Archiv f. Dermal, u. Syph. 1899, Bd. XL VII, S. 3 — 14 (Erup-
tionen an der Glans, dem Präputium, auf den Lippen, am harten Gaumen und Alveolar-
rande, an der ganzen Körperhaut). Ausserdem berichtete der 68 jährige Patient, dass Mutter,
Grossmuller, der Bruder und die drei Kinder des letzteren an derselben Hauterkrankung
litten. Also zugleich eine exquisit hereditäre Affektion! Welch ein Fund wäre das für
die Verfechter der Altertumssyphilis gewesen. Ein Leiden, das im Munde, an den Geni-
talien und am Körper lokalisiert und zugleich hereditär ist. Das kann doch nur Syphilis
sein! Fälle, wie der von Mibelli mitgeteillp, die übrigens auch bei anderen Haulleiden
vorkommen können, sind lehrreich hinsichtlich der Beleuchtung der zahlreichen Irrtümer, die
aus der rein literarischen Diagnose der „Altertumssyphilis" ervvachsen können.
9) Annales de dermalologie, Julihefl 1888; T. de Amicis, Klinische und patho-
logisch-anatomische Beiträge zur Psorospermosis cutanea vegetans. In: Bibliolheca medica.
— 471 —
novsky^) zuerst beschriebene am Halse, den Achselhöhlen, der Mam-
mar-, Anal- und Genitalregion lokalisierte „Akanthosis nigricans",
müssen unter den pseudosyphilitischen Hautleiden erwähnt werden.
Endlich können auch die verschiedenen Formen der Haut-
tuberkulose Syphilis vortäuschen. Die Miliartuberkulose kann
sowohl die Haut als die angrenzenden Schleimhäute in Mitleiden-
schaft ziehen und z. B. am Anus kondylomartige papilläre und
fungöse Wucherungen erzeugen. Kaposi-) berichtet über 22 Fälle
dieser Art. Besonders syphilisähnlich war die Erkrankung bei einem
53jährigen Mann, der nie an S3'philis gelitten hatte, bei dem ausser
der Haut auch die Schleimhaut der Wangen, des harten und weichen
Gaumens, des Larynx und die Umgebung des Anus von tuberku-
lösen Geschwüren ergriffen waren. Auch die Ohren, Nasenrücken,
Nasenflüg'el , Nasenspitze, das Septum narium cutaneum, Oberlippe,
Unterlippe, Mundwinkel, Kinn, Nates und Ellenbogen, Zunge, Nasen-
schleimhaut, Vulva und Vagina, Urethra und Blase können Sitz
miliartuberkulöser Geschwüre sein, die nach Kaposi viel häufiger
vorkommen als man bisher geglaubt hatte.
Dass auch die „Tuberculosis verrucosa" der Haut mit
Syphilis verwechselt werden kann, beweist ein von A. Blaschko in
der Sitzung der Berliner Dermatologischen Gesellschaft vom 7. Januar
1902 vorgestellter FalP).
Es bandelt sich um einen 6jährigen Knaben, der seit 2 Jahren an einer verrukösen
Affektion am Rücken, beider Handgelenke und am Knie leidet. Die Erkrankung scheint
auf den ersten Blick eine Tuberculosis verrucosa cutis vorzustellen. Mit Rücksicht auf die
kreisbogenförmige Anordnung, die Multiplizität der Herde, die stellenweise Abheilung mit
glatter Narbe ohne restierende Lupusknötchen, den Allgemeinstatus (schwächliches Kind mit
Zeichen von Hydrocephalus chronicus, Zahnanomalien) und die Ascendenz (Vater vor der
Verheiratung mit Syphilis infiziert und mehrfach behandelt, Grossmutter mit grossem serpi-
ginösem Syphilid am Kopf) diagnostiziert Blaschko „Syphilis verrucosa".
Jedoch ergab die spätere mikroskopische Untersuchung, dass es
sich trotz der syphilitischen Ascendenz um Tuberkulosis verrucosa
cutis handelt.
Abteilung für Dermatologie, Cassel 1894, Heft 3; vgl. ferner einen Fall von Psorospermosis
des Körpers und der Genitalien. In: Journal of cutaneous diseases 1896, S. 309.
i) Pollitzer und Janovsky, im: „Internationalen Atlas seltener Hautkrankheiten"
von P. G. Unna, Hamburg 1890, Heft 4.
2) M. Kaposi, Ueber Miliartuberkulose der Haut und der angrenzenden Schleim-
häute. In: Archiv f. Dermat. 1898, Bd. XLIII/XLIV, S. 384 ff. — Von grossem In-
teresse ist auch das relativ häufige Vorkommen ano-genitaler ^Miliartuberkulose bei jugend-
lichen Prostituierten (Jesionek). Vgl. Jadassohn in Mracek's Handbuch der Haut-
krankheiten, Wien 1907, Bd. IV, S. 241 — 242.
3) Monatshefte f. prakt. Dermat. 1902, Bd. XXXIV, S. 128 u. 579.
— 47 2 —
Wichtig sind ferner die sog. „chankriformen tuberkulösen
U Icerationen", die Schanker zum Verwechseln nachahmen können.
Nach J. Jadassohni) scheinen diese Formen besonders in der Mund-
höhle (speziell Lippen und Zunge) und an den Genitalien (speziell am
Penis) vorzukommen, und machen häufig ganz den Eindruck einer
erodirten syphilitischen Sklerose.
Der unkompHzierte Lupus vulgaris, besonders in der dissemi-
nierten Form, bei gleichzeitiger Lokalisation an den Schleimhäuten,
kann die tertiäre Syphilis nachahmen, und der sog. „Lupus syphiliti-
cus" ist oft genug ein echter tuberkulöser Lupus.
Zum Schlüsse sei erwähnt, dass auch die Arzneiexantheme
Syphilis vortäuschen können. Besonders gilt das von Antipyrin,
SaHpyrin und Migränin-), für die hauptsächlich gleichzeitige Eruptionen
in der Mundhöhle und an den Genitalien charakteristisch sind. Für
die Frage der „Altertumss3^philis" kommen wohl nur die vesikulösen
Eruptionen nach dem Genüsse von Morphium in Betracht.
§ 32. Pseiulosyphilitische Hautaffektioneii der Neugeborenen.
Die gleich oder kurze Zeit nach der Geburt bei Neugeborenen
auftretenden krankhaften, nicht syphilitischen Hautveränderungen, die
als „hereditär" imponieren können, falls sie auf Ansteckung von
Seiten der Mutter zurückzuführen sind, sind von grosser Bedeutung
für die Beurteilung ähnlicher Fälle in der antiken und mittelalterlichen
Literatur, die mit Vorliebe von den Verfechtern der „Altertumssyphilis"
herangezogen werden, um die Existenz der „Erbsyphilis" in jenen
Zeiten zu erweisen.
Demgegenüber kann nur nachdrücklich betont werden, dass noch
heute, wo die Differentialdiagnostik der einzelnen Hautleiden so ge-
waltige Fortschritte gemacht hat, nicht selten bei Neugeborenen
„Syphilis diagnosticiert wird, wo sie nicht vorhanden ist". ^)
In dieser Beziehung erwähnen wir zunächst die pemphi gus-
artigen Erkrankungen, die sowohl morphologisch genau den Pemphi-
gus syphiiticus neonatorum voi täuschen als auch scheinbar hereditär
sein können. So hat man nichtsyphilitischen Pemphigus wenige Tage
nach der Geburt in Fällen beobachtet, wo die Mütter selbst daran ge-
i) J. Jadassohn, Die Tuberkulose der Haut. In: Mracek's Handbuch der
Hautkrankheiten 1907, Bd. IV, S. 249 — 250.
2) Vgl. C. Berliner, Zur Differentialdiagnose der Syphilis und syphilisähnlicher
Arzneiausschläge. In: Monatshefte f. Dermat. 1902, Bd. XXXV, S. 137 — 147.
3) H. Finkelstein, Lehrbuch der Säuglingskrankheiten, Berlin 1905, Bd. V, S. 143.
— 473 —
litten hatten^). Es sind aber auch, z. B. von C. F. MarshalP), Fälle von
kongenitalem Pemphigus bei Neugeborenen beobachtet worden, ohne
dass dabei die Mutter erkrankt war. Hierher gehört auch die „Der-
matose bulleuse hereditaire et traumatique" von Hallopeau,
die auch Rona gleichzeitig bei Mutter und Kind beobachtete. 3)
Der sog. „Pemphigus neonatorum ist nach Unna mit der „Im-
petigo neonatorum" identisch^), einer contagiösen BlasenafFektion
der Haut, die natürlich auch von der Mutter auf das Neugeborene
übertragen werden kann. So beobachtete Matzenauer einen Fall,
wo eine an Impetigo contagiosa leidende Frau während der Erkran-
kung ein Kind gebar, das ebenfalls dieselbe Afifektion bekam. ^) Fälle
solcher Art in der alten Literatur, die bisher als „hereditäre Syphilis"
gedeutet wurden, erklären sich so zwanglos, z. B. jene später zu er-
örternde bei Oribasius.
Kurze Erwähnung verdienen auch, weniger wegen einer Mög-
lichkeit der Verwechselung mit Syphilis, als wegen unklarer Be-
schreibung in der älteren Literatur, die septischen Erkrankungen der
Neugeborenen, wie das Erysipelas neonatorum, die Dermatitis
exfoliativa neonatorum, die Dermatitis gangraenosa neona-
torum (sog. „Pemphigus gangraenosus").
Von höchstem Interesse ist eine Beobachtung von J. Grindon^).
Er sah ein voll ausgetragenes, gut gebautes, sonst gesundes Kind
mit Varicellen zur Welt kommen. Syphilis konnte ausgeschlossen
werden. Die Mutter aber hatte kurz vorher ebenfalls Varicellen durch-
gemacht! Es handelte sich also um t3'pische Ansteckung in utero,
um echte hereditäre Varicellen. Die Schilderung eines solchen
Falles in antiken oder mittelalterlichen Schriften würde sicher heute von
den Verfechtern der Altertumssyphilis gerade in ihrem Sinne gedeutet
werden, wenn man sie nicht sogleich durch den Hinweis auf die er-
wähnte moderne Beobachtung ad absurdum führen könnte.
Wie die Varicellen können natürlich auch die echten Pocken
schon in utero auf das Kind übertragen werden.
1) Monatsh. f. prakt. Dermal. 1899, Bd. XXVIII, S. 463. — Vgl. ferner Jarisch
O., S. 201.
2) Monalsh. f. prakt. Dermat. 1900, Bd. XXXI, S. 570.
3) Ibidem 1900, Bd. XXX, S. 244 u. 296.
4) Vgl. Unna-Bloch, Die Praxis der Hautkrankheiten, Berlin-Wien 1908, S. 401, 420.
5) Monatsh. f. Dermat. 1901, S. 85.
6) Monatsh. f. Dermat. 1901, Bd. XXXIII, S. 292.
— 474 —
Sehr bedeutsam ist das Vorkommen gonorrhoischer Ex-
antheme bei Neugeborenen'). Sie treten nicht blos als Metastasen
der Augenentzündung auf, sondern kommen auch als primäre Infek-
tionen nicht ganz selten vor, da Paulsen in einem halben Jahre
nicht weniger als 12 Fälle beobachtete. Es handelt sich meist um
gonokokkenhaltige Papeln und Bläschen am Körper der Neuge-
borenen, au('h an den Extremitäten und am Kopfe, während die
Mütter Symptome einer gonorrhoischen Peri- und Parametritis bzw.
eines Cervixkatarrhes aufweisen. Jedenfalls sind gonorrhoische Haut-
erkrankungen bei Neugeborenen weit häufiger als solche im An-
schlüsse an genitale Gonorrhoe Erwachsener. Sie kommen durch
direkte Infektion von selten der Mutter zustande.
Zu den hereditären Hautleiden gehören auch gewisse Fälle von
Psoriasis. Man hat dieses Leiden gleichzeitig bei Mutter und Kind
beobachtet. Rille sah Psoriasis schon am 6. Lebenstage bei Neu-
geborenen auftreten ^).
Ebenso kommt Herpes tonsurans bei Neugeborenen vor^).
Andere Hautleiden der Neugeborenen, wie Ichthyosis con-
genita, Fibrome, Naevi, Angiome etc. kommen wohl auch rein
literarisch nicht in Betracht, wo es sich um die Frage, ob Alter-
tumsyphilis oder nicht, handelt.
i) J. Paulsen, Über gonorrhoische Exantheme bei Neugeborenen. In: Münchener
mediz. Wochenscbr. 1901, Nr. 25, S. 10 11 — 1012.
2) Monatsh. f. Dermat. 1898, Bd. XXVI, S. 328.
3) S. Toch, Ueber Herpes tonsurans bei Neugeborenen. In: Archiv f. Dermat.
1895, Bd. XXXIl, S. 365—368.
SIEBENTES KAPITEL.
Die ,,Altertumssyphilis'^ im Orient.
§ 33. Charakter der altorieiitalischeu 3Iedizin.
Der Orient, dessen Geschichte dank den modernen Forschungen,
speziell den Ausgrabimgen in Mesopotamien und Aegypten, bis zum
Beginn des dritten Jahrtausends vor Christo verfolgt werden kann,
stellte damals, wie in g'ewissem, historisch allerdings ganz anders be-
dingtem Sinne noch heute, ein zusammenhängendes Kultur-
gebiet dar, das wesentlich unter babylonischem Einflüsse stand.
Die Kultureinheit des alten Orients auf babylonischer Grundlage,
die besonders Hugo Winckler^) ins rechte Licht gesetzt hat,
kommt hauptsächhch durch die Weltanschauung zum Ausdruck, die
sich im gesamten geistigen Leben wiederspiegelt und von derjenigen
des Occidents, speziell des sog. klassischen Altertums (Griechen-
land und Rom) grundsätzlich verschieden ist. Der orientalischen
Anschauung war die Quelle alles Wissens die Gottheit. Die Wissen-
schaft war Offenbarungskunde. Dieser theocentrischen Auf-
fassung stand die anthropocentrische der Griechen diametral gegen-
über. Das berühmte Wort „Der Mensch ist das Mass aller Dinge"
erleuchtet diesen Gegensatz vollkommen. Gegenüber der göttlichen
Offenbarung wurden die von Älenschen beobachteten Erfahrungs-
thatsachen in den Vordergrund gestellt und damit die empirische
Wissenschaft begründet, die, wie sich gerade bei den Anfängen der
griechischen ^Medizin sehr instruktiv verfolgen lässt, durch eine all-
mähliche Emancipation von theurgischen Einflüssen und OfFen-
barungsheilkunde sich entwickelte.
Wenn „alles, was dort oben geschieht, das wiederspiegelt, was
auf der Erde geschehen muss" (Win ekler), so musste bei den Alt-
orientalen die x\stronomie die wichtigste Wissenschaft werden. In
ihrer Anwendung auf das praktische Leben, also auch auf die Heil-
kunde, wurde sie zur „x\strologie", dieser Urform des ]\Iedizinal-
I) Hugo Winckler, Die Weltanschauung des alten Orients. Leipzig 1904.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. ^'-
- 476 -
abergiaubens. Ihren ausschliesslichen Einfluss auf das ganze Geistes-
leben schildert Winckler (a. a. O., S. 8) sehr anschaulich:
„Wie tief und gewaltig ihr Einiluss aber auf die Menschheit der vormodernen "Welt
gewesen ist, wie sie alles, was diese dachten, durchdrungen hat, in einer Weise, wie es
keine moderne Lehre bis jetzt auch nur vorübergehend vermocht hat, wie alles, was man
im Leben that, was man beobachtete, die Art, wie man das Beobachtete beurteilte und in
einer etwaigen Darstellung zum Ausdruck brachte, wie alles diesem System eingefügt wurde,
was überhaupt eine Aeusserung des geistigen Lebens des alten Orients ist, das vermag man
erst zu ermessen, wenn man an sich selbst erfährt, wie einem die Augen geöffnet werden,
wenn man das scheinbar ungereimte Zeug, von dem die Ueberlieferung des Altertums
strotzt, plötzlich seinen tiefen Sinn erhalten sieht. Freilich einen falschen Sinn für uns,
aber keinen abgeschmackten mehr, denn auch wir haben das Weltenrätsel noch nicht gelöst,
und über manches triumphierende Dogma der Gegenwart lächelt schon die nächste Generation."
Dass bei solcher Anschauung von einer medizinischen Wissen-
schaft in unserem Sinne nicht die Rede sein kann und eine Beur-
teilung der spärlichen und völlig fragmentarisch-incohärenten medi-
zinischen Ueberlieferungen von unserem modern-wissenschaftlichen
Standpunkte nicht nur lächerlich ist, sondern avich zu ganz falschen
Urteilen führen muss, liegt auf der Hand. Ich stehe allen Deutungs-
versuchen in Bezug auf bestimmte Krankheitsbilder der altorien-
taHschen Medizin ungläubig gegenüber. Der astrologische Aber-
glaube, der die Vorgänge im Makrokosmos und Mikrokosmos paralleH-
siert, konnte nur Unklarheit und Mystik hervorbringen, aber keine
Wissenschaft. Daher gab es nach v. Oefele keine strenge Scheidung
zwischen Arzt, Traumdeuter, Seher und Astrologe i).
Unter diesem Gesichtspunkte muss die altorientalische, speziell
semitische Medizin beurteilt werden, ebenso nach Albrecht (vgl.
V. Oefele a. a. O., S. 55) die altchinesische und ihr Ableger, die
altjapanische Medizin, während wir bei Aegyptern und den alten
Jndern bereits eine teilweise Emancipation von der Offenbarungsheil-
kunde antreffen.
Dass der Charakter der altorientalischen Medizin keinerlei Diagnostik im modernen
Sinne zuliess, hat neuerdings Hugo Magnus-) in geistvoller Weise ausgeführt.
„Solange", sagt er, „unter dem strengen Walten des Theismus in der Äledizin wie
in den Naturwissenschaften das Kausalitätsbedürfnis auf den erdenklich niedrigsten Grad
herabgedrückt wurde, hatte der Heilbeflissene kein Interesse daran, die Einzelwahrnehmung,
welche er an seinen Klranken machte, durch Zuordnimg anderer Wahrnehmungen zu einer
Diagnose auszugestalten. Denn mit dem Glauben , dass die Krankheit unmittelbar aus der
i) F. v. Oefele, Vorhippokratische Medizin Westasiens, Aegyptens und der medi-
terranen Vorasier. In: Neuburger-Pagel, Handb. der Geschichte der Medizin. Jena 1901,
Bd. I, S. 59.
2) Hugo Magnus, Kritik der medizinischen Erkenntnis. Breslau 1904, S. 8 — 11 ;
derselbe. Die Entwickelung der Heilkunde in ihren Hauptzügen. Breslau 1907, S. 58.
— 477 —
Hand der Götter hervorginge, musste ja doch der Arzt jedes Interesse an der Wesenheit
des krankhaften Prozesses verlieren. Ja in den Augen der Gläubigen mag sogar jede Be-
trachtung der pathologischen Natur der Krankheit als Ueberhebung, als unbefugte Kritik
der göttlichen EntSchliessungen übel genug vermerkt worden sein. Die ersten christlichen
Jahrhunderte liefern hierfür sogar noch ein schlagendes Beispiel. . . .
Auf diesem Standpunkt dürfte sich der Erkenntnisgang der Medizin lange genug be-
wegt haben, und wir besitzen einschlägige Quellen noch in genügender Anzahl. So bespricht
z. B. der neueste von Küchler') veröffenthchte assyrische Text verschiedene Krankheiten
in der Weise, dass irgend ein Hauptsymptom, etwa Leibschmerz, und das dagegen anzu-
wendende Mittel einfach nebeneinander gestellt werden. . . .
So war denn also die Medizin in dieser ihrer Entwickelungsperiode noch nicht im
Besitz dessen, was man später unter Diagnose verstanden hat, sondern sie kannte niir ein-
fache oder reichhaltigere Symptomgruppen, welchen man allenfalls, um ihnen eine charakte-
ristische Eigenartigkeit zu sichern, mit irgend welchen symbolischen Namen belegte; so
finden wir z. B. im Papyrus Ebers Krankheitsnaraen , wie aufsteigendes Wasser im Auge,
Krokodilskrankheit u. dgl. m. Verhältnismässig einfache Symptomgruppen treten uns in
der bisher erschlossenen Keilschrift-Literatur entgegen, während in der altägyptischen Medizin
bereits die Versuche zu einer Diagnosenstellung ganz klar hervortreten , denn hier sind die
Symptomengruppen nicht allein oft recht charakteristische und reichhaltige, sondern sie be-
ziehen sich auch auf ganz bestimmte Organe."
Auch letzteres ist natürlich noch lange keine Diagnose im
modernen Sinne oder auch nur eine solche im Sinne der späteren
wissenschaftlichen griechischenMedizin. Ausserdem waren jene Symptome
nicht Ausdruck einer Störung des Organismus, sondern das Werk von
bösen Geistern, die Krankheiten waren auch nach Ansicht der ägyp-
tischen Medizin rein dämonischer Natur-). Diese religiöse Auffassung,
die sogar bis zur Schöpfung von Specialdämonen für die einzelnen
Körperteile sich verstieg, hinderte durchaus eine genaue anatomische
Lokalisierung und die Zurückführung einfacher wie komplizierter
Symptomgruppen auf einzelne Körperorgane. Die überirdische Auf-
fassung der Krankheitserscheinungen bedurfte einer irdischen Er-
klärung nicht weiten Beschwörungen und Zauberformeln standen im
Vordergrunde des medizinischen Wissens. Heilanstalt war identisch
mit Heiligtum, Medizinschule mit Priestertempel.
Wenn wir mit dieser theurgischen Symptomatologie und Therapie
vom Standpunkte unseres ärztlichen Wissens so gut wie nichts an-
fangen können, so muss noch eine weitere Schwierigkeit erwähnt
w^erden, die selbst unter der, wie wir sahen, nicht zutreffenden Vor-
aussetzung umschriebener Krankheitsbilder in der mesopotamischen
und ägyptischen Medizin eine zuverlässige Deutung dieser Bilder
1) Friedrich Küchler, Beiträge zur assyrischen Medizin (Dissertation). Marburg
1902; derselbe, Beiträge zur Kenntnis der assyrisch-babylonischen Medizin. Leipzig 1904.
2) Vgl. Alfred Wiedemann, Magie und Zauberei im alten Aegypten. Leipzig
1905, S. 21 ff.
31*
- 478 -
unmöglich macht. Das ist die sprachliche Schwierigkeit. Ich
berufe mich hier auf die Erklärung eines ausgezeichneten Kenners
der Keil- und Hieroglyphenschrift, des geistvollen Felix v. Oefele^).
Er sagt:
„Unüberwindliche Schwierigkeiten tauchen auf, sobald wir zu einer Besprechung
der rein medizinischen Einzeldisciplinen übergehen. Es ist hier zu bedenken, dass wir eine
Sprache vor uns haben, die Jahrtausende tot und unverständlich war und deren Verständnis
aus sich selbst entwickelt werden muss. Zu der Menge von anatomischen Begriffen , die
erst bestimmt werden müssen, kommt die weitere Schwierigkeit einer grösseren Zahl ver-
schiedener Bezeichnungen für denselben Körperteil einerseits und anderseits der gleichlauten-
den Bezeichnung für verschiedene Körperteile. So wird mit gleichem Worte Magen und
Herz, lingua und uvula frons und umbilicus, os und vulva, Xasenmuschel und Ohrmuschel etc.
bezeichnet. . . . Einzelne Krankheiten sind schwer anzuführen, da auch die vielen
Krankheitsnamen noch nicht über philologische Vorarbeiten herausge-
kommen sind."
Dieses Urteil v. Oefele's über die ägyptische medizinische Ter-
minologie gilt beinahe in noch höherem Grade von der babylonischen.
Da ist wirklich der Versuch, irgend eine Symptombezeichnung mit
unseren medizinischen Termini wiederzugeben, lächerlich, wenn z. B.
selbst ein so hervorragender Ass3Tiologe wie Jensen nicht weiss, ob
an einer Stelle des Gilgamis-Epos die Bezeichnung „Häute" sich auf
Kleidung oder eine Hautkrankheit bezieht und ersteres für wahr-
scheinlicher hält. Und gerade aus dieser Stelle hat man Syphilis
herauslesen wollen!
v. Oefele, der doch gewiss vor kühnen Konjekturen nicht
zurückschreckt, warnt davor (a. a. O., S. 98), ,,in der Kultur des
Zweistromlandes in höherem Masse, als es Altgriechenland besass,
scharf umschriebene Krankheitstypen im Rahmen moderner Termi-
nologie finden zu wollen". Er meint, dass gerade die erhöhte Schwie-
rigkeit der Selbstlesung gegenüber griechischen, indischen, hebräischen
und selbst ägyptischen Texten Philologen und Medicohistoriker sich
dabei gegenseitig in Fehler hineintreiben lässt, deren Kor-
rektur nachträglich fast unmöglich wird.
Erst nach jahrzehntelanger Zusammenarbeit von Philologen und
Medizinern werde eine Klärung möglich sein.
Wenn also schon die einzelnen Symptome höchst unsicher sind,
ja in vielen Fällen es nicht einmal sicher ist, ob es sich überhaupt
um Krankheitserscheinungen handelt, so ist es völlig phantastisch,
auf solcher Basis die Diagnose eines_ Krankheitsbildes und Symp-
tomenkomplexes, wie desjenigen der Syphilis aufbauen zu wollen.
Leider hat man es doch versucht, und so sieht sich der Verfasser
i) F. V. Oefele, a. a. O. S. 84.
— 479 —
genötigt, auf die beiden berühmten Syphilisdiagnosen der altorien-
tahschen Medizin näher einzugehen.
§ 34. Die Krankheit des Gilgamis und die Uchedu des
Papyrus Ebers.
Das 1S54 entdeckte babylonische Gilgamis-Epos, dessen neueste
und zuverlässigste Ausgabe und deutsche Uebersetzung von
P. Jensen 1) stammt, soll im wesentlichen über Leben und Tod und
über das Jenseits belehren. Es erzählt die Geschichte des Helden
Gilgamis und seines Freundes Ja-bani, der jenem durch die Ver-
lockungen einer Buhldirne gewonnen wird und gleiche Schicksale
mit ihm teilt, als der Fluch der von Gilgamis verschmähten und von
Ja-bani durch Tötung des „Himmelsstiers" verhöhnten Liebesgöttin
Istar sie beide trifft. Ja-bani erkrankt und stirbt. Gilgamis wird von
demselben „Leiden" befallen, aber durch die Fahrt zum Herrn der
Unterwelt üt-napistim und Reinigung in den dortigen Gewässern
„geheilt".
Nach Jensen (a. a. O., S. 421 — 423) stellt „die Heimat des Gilgamis, die Königs-
stadt Erech, mit ihren " ,, Innenräumen" die 7 Innenräiime des Totenreiches dar, und der
König Gilgamis war Oberrichter im Tolenreiche. Mit dem Charakter des Werkes als
Schilderung von Leben, Tod und Jenseits hängt zusammen der darin berichtete Mauerbau
der Bau an der ^Nlauer von Erech, welche derjenigen der Unterwelt entspricht, die Schil-
derung der ausgelassenen Liebes- und Lebenslust Ja-banis (in dem sehr drastisch geschil-
derten, 6 Tage und 7 Nächte währenden Geschlechtsverkehr mit einer Hure), sein Traum
von dem Totenreiche und seinem Eintritt darin, die Vorbereitungen zum Zuge nach der
von Humbaba gehüteten hohen Ceder des Bei, gewiss dem Lebensbaume des [biblischen
Paradieses, und dieser Zug selbst, vermutlich eine P'olge jenes beängstigenden Traumes, die
Liebe der Istar zu dem wohl durch den Lebensbaum verjüngten und mit üppiger Lebens-
kraft erfüllten Gilgamis und die Sendung des gewiss Tod hauchenden himmlischen Sturm-
dämons (alii), die wohl damit zusammenhängende mysteriöse Erkrankung Ja-banis, die Reise
Gilgamis' zu seinem Ahn Ut-napistim, um durch ihn das Leben, d. h. die Unsterblichkeit
zu erlangen, die Geschichte seiner Errettung und Apotheose, die Auferstehung des Ja-bani
und Höllenfahrt Gilgamis' am Schlüsse des Epos.
Dieses scheint in grossen Zügen das ewig auf und nieder flutende Leben und Sterben
im Jahre wiederzuspiegeln, also dessen Geschichte, individuell zugespitzt, darzustellen. Ist
doch sein Held, der König Gilgamis, höchstwahrscheinhch zugleich ein Sonnengott und sein
Freund Ja-bani, der auf dem Felde geboren ist, der Schützer der Tiere, vermutlich ein Gott
der tierischen Fruchtbarkeit oder ein Feld- und Flurengott. Und nun bringt die Legende
gleich im Anfang die Erzählung von dessen Schöpfung und kraftvoller geschlechtlicher Be-
thätigung, dann seinen Bund mit Gilgamis — Sonne und Erdenkraft im Bunde erzeugen das
Leben auf der Erde — dann Ja-bani's Tod — Aufhören der tierischen Zeugungsfähigkeit
oder der Fruchtbarkeit überhaupt — , dann das Jagen des immer mehr verelendenden
i) P. Jensen, Assyrisch-Babylonische Mythen und Epen. Berlin 1900, S. 117 — 273
(Das Gilgamis [Nimrod]-Epos).
— 48o —
Gilgamis nach dem Leben , dessen Verlust er fürchtet — vergleichbar dem "Wandern der
immer schwächer werdenden Herbst- und Wintersonne — endlich sein Eingehen in die
Unterwelt und die Auferstehung Ja-bani's, gewiss entsprechend dem Sonnentode am Jahres-
ende und dem Wiedererwachen der tierischen Geschlechtslust oder Zeugimgs- imd Lebens-
kraft überhaupt."
Man ersieht aus dieser sehr ansprechenden und einleuchtenden
Erklärung des Gilgamis-Mythus, dass es sich hier um eine rein alle-
gorische Darstellung handelt, bei der von Krankheiten nur in einem
ganz allgemeinen Sinne die Rede ist, wenn — überhaupt von ihnen
die Rede ist.
Damit komme ich zu der Stelle, die von Proksch, Buretu. A.
allen Ernstes als Schilderung der Syphilis aufgefasst worden ist.
Es spricht der Herr der Unterwelt, Ut-napistim, zum Schiffer
Ur-nimin folgendermassen : ^)
„Der Mensch (Gilgamis), vor dem du hergingst,
von dessen Leibe eine . . . . t hat
dem Häute die Schönheit seines Fleisches vernichtet haben,
nimm ihn mit, Ur-nimin, und bring' ihn zum Waschort,
sein (en) . . . wasche er mit Wasser rein wie Schnee,
er werfe ab seine Häute und das Meer bringe sie fort!
(Als) gut werde sein Körper ge . . t
Erneuert werde die Binde seines Hauptes!
Er mög' bekleidet werden mit einem Gewände, seinem Schamtuch!
Bis dass er zu seiner Stadt hinkommt,
bis dass er zu seinem Wege gelangt,
soll das Gewand nicht ,, graues Haar abwerfen", sondern neu verbleiben.
Nehmen wir einmal an, diese Schilderung bezöge sich wirklich
auf eine Krankheit, also in diesem Falle eine Hautkrankheit, eine
universelle Dermatose, wie etwa Psoriasis, Lepra oder ähnliches, die
auch die Genitalien ergriffen hat, so ist damit noch lange nicht die
Diagnose „Syphilis" gegeben, selbst in dem doch bei Gilgamis nicht
erwiesenen Falle einer Infektion bei dem Freudenmädchen. Die ganz
allgemein gehaltene Schilderung lässt, falls sie sich auf ein Hautleiden
bezieht, alle möglichen Diagnosen nichtsyphilitischer Dermatosen
zu, die hier überhaupt in Betracht kommen können und die in dem
vorhergehenden Kapitel zur Genüge gekennzeichnet worden sind.
Wer kann z. B. die rein willkürliche Diagnose ,, Lepra'' oder „Pso-
riasis" oder „universelles Ekzem" u. dgl. m. widerlegen? Ebenso
schwebt die Diagnose ,, Syphilis" völlig in der Luft und ist offenbar
durch die Thatsache suggeriert worden, dass Ja-bani, nicht GilgamLs,
die Gunst einer Buhldirne in überreichlichem Masse genossen hat
i) Jensen, a. a. O. S. 249.
und später von Istar verflucht und mit tödlicher Krankheit heim-
gesucht wird 1).
Nach dem Kommentar Jensens zu der oben mitgeteilten Stelle
über die Reinigung- des Gilgamis ist es aber sehr wohl möglich, dass
es sich gar nicht um eine Krankheit, sondern bloss um die, bei
den die Vorschriften der Reinlichkeit und Körperh3^giene aufs ge-
naueste befolgenden Babyloniern als solche empfundene äusserliche
Verwahrlosung und Verschmutzung handelt.
Nach Jensen nämlich bedeutet in der zweiten Strophe („dessen
Leib eine (Hau)t hat") die „Haut" = malü so viel wie „vSchmutz,
schmutziges Kleid" (S. 515). Auch die „Häute" = masku in der
dritten Strophe übersetzt Jensen mit „Haut, Tierhaut, Fell", nicht
mit ,, Hautkrankheit (a. a. O., S. 401). Und sogar das „Schamtuch"
(subat bulti) der 9. Strophe bedeutet nach Jensen (S. 398) nicht
bloss Schamtuch, sondern wirkliches Kleid. Auch die Schlussstrophen
lassen darauf schliessen, dass es sich um die Anlegung neuer Kleider
handelt, die vor dem Schicksal der alten, „graues Haar abzuwerfen",
d, h. verschmutzt zu werden und so abzufasern, durch das Gebot des
Ut-napistim geschützt werden sollen.
Von Syphilis ist also in dem Gilgamis-Mythus nicht nur keine
Spur zu finden, sondern kann auch mit dem besten Willen nicht
hineinkonstruiert werden,
*
Ein klassisches Beispiel für die eigentümliche Methodik gewisser
Verfechter der Lehre von der Altertumssyphilis, aus einem einzelnen
Symptom gleich einen Symptomenkomplex zu machen und gar
einen so komplizierten wie den der Syphilis, liefert das berühmte „u;^d"
des Papyrus Ebers, das wirkHch und wahrhaftig Syphilis bedeuten
soll. So erklärt ein hervorragender SyphiHshistoriker -) , dessen un-
bestreitbaren Verdienste auf einem ganz anderen Gebiete liegen als
auf dem der philologisch-medizinischen Interpretation. Dagegen weist
der verdienstvolle Uebersetzer des Papyrus Ebers, H e i n r i c h Jo a c h i m 3),
1) „asakku", das Ja-bani trifft, bedeutet nach Jensen (S. 433) die verschiedensten
Arten von menschlichen Leiden oder ganz allgemein Unglück. — Uebrigens ist das Freuden-
mädchen eine sogen. ,,Tempeldime" (vgl. über deren bedeutsame Rolle in Babylon das
Gesetzbuch Hammurabis und die bekaimte Stelle bei Herodot), eine der Istar Geweihte,
durch deren Vermittelung die Göttin den Ja-bani dem Gilgamis zuführen will. Das geschieht
durch die sexuelle Lockspeise, die hier ganz ohne Zusammenhang mit irgend einer Erkran-
kung dargeboten und geschildert wird.
2) J. K. Proksch, Geschichte der venerischen Krankheiten. Bonn 1895, ^d. I,
S. 63—69.
3) H. Joachim, Die u;f;du im Papyrus Ebers. Virch. Arch. 1892, Bd. CXXVIII,
S. 140 — 160.
- 482 -
ein Arzt und Aegyptologe zugleich, in überzeugender Weise nach,
dass die ,,U;^du", die übrigens so ziemlich an allen Körperteilen vor-
kommen können (was gerade Proksch für besonders syphilisverdächtig
erklärt!) weiter nichts bedeutet hat als eine fieberhafte oder heisse
schmerzhafte Anschwellung.
Ebers selbst sagt über u;<du: „Das Wort bedeutet gewöhnlich
die Schmerzen, doch ist es auch als das Schmerzliche, Krankhafte im
allgemeinen zu fassen." ^)
Joachim führt verschiedene Stellen an, die eine Identificierung
der u;fdu mit Syphilis ganz unmöglich machen, z. B, die Empfehlung
von Mitteln, um das Wachsen der U;^du an den Zähnen zu vertreiben
(offenbar schmerzhafte Anschwellungen des Zahnfleisches), u;fdu im
Auge, im Herzen u. a. m. U;^^du in der Seite sind wohl Bubonen,
u;^du in allen Gliedern deutet Joachim als Gichtknoten.
Chabas definierte die U;^du als ,,inflammation intestinale" und
„engorgement des articulations", Loret als „une sorte d'absces" 2).
Die Deutung von Joachim dürfte die richtige sein, zumal da
in der That „schmerzhafte Anschwellung" an ganz verschiedenen
Körperstellen etwas ganz Verschiedenes bedeuten kann.
Wenn Proksch schliesshch das ägyptische „Uchet" mit dem
angeblichen Namen der oben erwähnten Hure im Gilgamis-Epos in
Beziehung bringt, so muss auch diese Kombination zurückgewiesen
werden, da der von Jeremias als ,,Uchat" übersetzte Name nach
Jensen keineswegs feststeht, sondern von ihm als sam-hat gelesen
werden muss.
Ich halte die rein symptomatologische Auffassung von u;^du,
wie sie von Joachim vertreten wird, für die einzig' richtige und aus
den Texten sich ganz natürlich ergebende. Deshalb kann ich auch
der uns hier weniger interessierenden Hypothese von Ebbeil ^), dass
das Wort die Pocken bezeichne und mit dem hebräischen „schechin"
identisch sei, nicht zustimmen. Es handelt sich nicht bloss um eine
akute, inflammatorische Hautkrankheit, wie Ebbeil annimmt, sondern
um ein auch die Zähne und innere Organe, wie Herz, Drüsen etc.,
betreffendes Symptom^).
1) Papynis Ebers. Die Masse und die Kapitel über die Augenkrankheiten. Ab-
handl. der philologisch-historischen Klasse der Kgl. Sachs. Gesellschaft der Wissenschaften,
Bd. XI, No. II u. III, S. 201; cit. nach Joachim, a. a. O., S. 150.
2) "Vgl. auch James Finlayson, Ancient Egyptian Medicine. A Bibliographical
Demonstration etc. Glasgow 1893, S. 47 — 48:'Clinical Sketch of Ouchet, Uh'tu or Uha.
3) B. Ebbeil, La variole dans l'ancien testament et dans le papyrus Ebers. In:
Nordisk Medicinskt Arkiv 1906, Afd. 11, Heft 4, No. 11, S. i — 58.
4) Vgl. auch Wilhelm Ebstein, Bemerkungen über den angeblichen Ursprung der
Variola. Janus, Dezember 1907.
- 483 —
§ 35- Kritische Analj^se der „Syphilis"fäUe in Bibel und Talmud.
Die altjüdische Medizin ist uns nicht in irgend welchen rein
ärztlichen Schriften erhalten, wie dies bei der ägyptischen Medizin
der Fall ist, sondern sie kann nur aus den Stellen rekonstruiert werden,
die sich in Bibel und Talmud darüber finden. Diese aber sind in
erster Linie Gesetzbücher, die im allgemeinen medizinische Dinge
nur von der legalen Seite behandeln. Ausserdem finden sich zahl-
reiche zerstreute Mitteilungen über medizinische Dinge, die von
Männern der Wissenschaft und von Laien stammen.
Es ist das grosse Verdienst von Julius Preuss, der in sich die
drei Eigenschaften eines tüchtigen ärztlichen Praktikers, gründlichen
Hebraisten und Talmudforschers und ausgezeichneten Kenners der
g-esamten älteren und neueren medizin- und kulturgeschichtlichen
Literatur vereinigt, zum ersten Male eine kritische Bearbeitung der
biblisch-talmudischen Medizin vom modernwissenschaftlichen Stand-
punkte unternommen zu haben, die sich über beinahe zwei Decennien
erstreckt und so reiche Ausbeute g-ehefert hat, dass die Zahl seiner
grösseren Monographien aus diesem Gebiet bereits zwei Dutzend
beträgt.
Preuss ist, da er ein genauer Kenner der hebräischen Original-
schriften und ein scharfsinniger und vorsichtiger Kritiker ist, gegenwärtig
der einzige wirklich zuverlässige Gewährsmann für die richtige
Deutung der einzelnen Termini technici, Schilderungen und Andeutungen
in den biblisch-talmudischen Schriften. Der nicht ärztliche Uebersetzer,
und sei er ein noch so ausgezeichneter Hebraist, kann niemals Sinn und
Bedeutung der medizinischen Ausdrücke und Schilderungen in dem
Masse ergründen, wie ein zugleich die hebräische Sprache und die
vergleichende medizingeschichtliche Methode beherrschender Arzt.
Die Arbeiten von Preuss haben uns in die glückliche Lage
versetzt, bei der Analyse gewisser als Syphilisschilderungen ange-
sehener Stellen der Bibel endlich auf sicherem Boden zu stehen. Die
zahllosen früheren Streitigkeiten über diese Stellen mussten unfruchtbar
und ergebnislos bleiben, weil jener sichere Boden durchaus fehlte.
Es ist zwecklos, alle Meinungen und Hypothesen noch einmal zu
beleuchten. Erst mit Preuss — ich wiederhole es nachdrücklich ^
beginnt die eigentliche wissenschaftliche Erforschung der
biblisch-talmudischen Medizin. Mag es auch interessant sein, die
Ansichten bedeutender, aber des Hebräischen nicht kundiger Kliniker,
wie z. B. Wilhelm Ebstein, zu hören — die eigentliche Grundlage
für die kritische Beurteilung ist uns jetzt einzig und allein durch die
Arbeiten von Preuss gegeben.
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Die altjüdische Medizin stand teils unter babylonischem Ein-
flüsse, wie der Glaube an Krankheitsdämonen, der Einfluss der Astro-
logie und sonstiger Aberglaube („böses Auge") beweisen, teils unter
dem Einflüsse der griechischen Heilkunde, aus der namentlich in
der talmudischen Zeit manche Anschauungen und auch Namen über-
nommen wurden.
Gehen wir nun zu einer Besprechung der angeblichen Erwäh-
nungen der ., Syphilis" in Bibel und Talmud über^).
I. Baal Peor. — J. Rosenbaum hat der „Plage des Baal
Peor" eine ausführliche Untersuchung gewidmet-), in der er den
Nachweis zu erbringen sucht, dass es sich um eine Epidemie von
Syphilis handle. Preuss hat diese Hypothese endgültig widerlegt.
Ich folge durchweg seinen scharfsinnigen Ausführungen ^).
Die betreffende Stelle findet sich Numeri 25, 3 ff. und besagt
nach Preuss folgendes:
Als Israel in Sittim lagerte, begann das Volk zu buhlen mit den Töchtern Moabs.
Diese luden das Volk zu den Opfern ihrer Götter. Und Israel hing dem Baal Peor an, so
dass der Zorn Gottes über Israel entbrannte. Die Anführer des Volkes werden standrecht-
lich gehängt, die Richter verurteilen (die übrigen), die den Baal Peor verehrt, zum Tode.
Es entsteht eine Pest, maggepha, die 24 000 Menschen wegrafft.
Nach Preuss giebt die Bibel keinerlei Auskunft über den
Kultus des Baal Peor. Rosen bau ms Behauptung^), dass ,,die Rab-
binen den Namen von pecor, aperire sc. hymenem virgineum herleiten",
ist nicht wahr. An der von ihm citierten Stelle des Targ. Jonathan,
einer aramäischen Bibelübersetzung aus der Zeit vor Chr. Geb., steht
nichts davon. Und selbst wenn hier derartiges stände, so würde
die Auffassung eines Uebersetzers für den Bibeltext nichts beweisen.
Nach der Ueberlieferung der Rabbinen handelt es sich vielmehr bei
diesem Kult um ein aperire anum, d. h. um eine Entblössung, viel-
leicht soofar um eine Defäkation vor dem Götzenbild. Trotzdem
es sich hier offenbar nach dem Empfinden Andersgläubiger eher
um eine Verhöhnung handelt, wird diese Thatsache von den Tal-
mudisten als ein Beispiel von „Götzendienst" angeführt, der auch in
dieser Form verwerflich sei.
1) Die Reihenfolge der aufgezählten Krankheiten ist, soweit das möglich ist, eine
chronologische.
2) Julius Rosenbaum, Geschichte der Lustseuche im Alterthume, 6. Aufl. Halle
1883, S. 76—87.
3) J. Preuss, Prostitution und sexuelle Perversitäten nach Bibel und Talmud. In:
Monatshefte f. prakt. Dermat. 1906, Bd. XLIII, S. 28 — 30.
4) Rosenbaum, a. a. O., S. 77.
— 485 —
Erst der Kirch vater Hieronymus identifizierte den Peor mit
dem Priapus; die Frauen hätten ihn verehrt, ob obscoeni magnitudinem.
„Peor" heisse er, weil er „idohim tentiginis (des Penis) haberet in ore,
ein Bild des Penis im geöffneten Mund habe (wie der indische
Schiwa).
Sickler^) und nach ihm Rosenbaum haben die Plage des Baal
Peor für eine venerische Krankheit, speziell für SyphiHs erklärt, weil
die Verführung zum Götzendienst von den Frauen ausgegangen sei
vnid weil, als die Israeliten im Kriege gegen Midian alle Männer
töteten, die Frauen aber am Leben Hessen. Moses ihnen zürnend
sagt: „Gerade die Frauen waren die Ursache euerer Sünde gegen
Gott (d. h. der syphilitischen Infektion) wegen des Peor, und so kam
die Pest in die Gemeinde Israel. Nun tötet alle Frauen, die beieits
den Beischlaf eines Mannes kennen" (weil sie syphilitisch infiziert
sind). ,,Nur die weiblichen Kinder dürft ihr für euch am Leben
lassen. Und nun lagert ausserhalb des Lagers sieben Tage (zur
Desinfektion, vielleicht zur klinischen Schmierkur, bemerkt Preuss
ironisch) jeder, der einen Menschen getötet oder einen Erschlagenen
berührt hat, und entsündigt auch am dritten und siebenten Tage ihr
und euere Gefangenen. Und jedes Kleid, alles was von Leder oder
Ziegenhaar gemacht ist, und alles Holzgerät müsst ihr entsündigen."
(Numeri 31, 16 ff.) Zur Zeit Josuas wirft ihnen Pinehas, der Augen-
zeuge jener Epidemie, vor: „Dass wir von der Misse that Peors uns
nicht gereinigt bis auf diesen Tag" (Jos. 22, 17). Das gilt als Be-
weis für die Fortdauer der Krankheit. Auch der Verfasser der Apo-
kalypse spricht von der damaligen Hurerei (noqvEvom, Apoc. 2, 14),
Zieht man nun doch die Thatsache in Betracht, dass das in der
Wüste geborene Geschlecht unbeschnitten, die Gefahr der venerischen
Infektion also besonders gross war, so ist die Diagnose „S3^philis" fertig.
Aber selbst Proksch^) hat diese verlockenden Stellen sehr
kritisch beurteilt, da sich „in der weitläufigen Beschreibung von Schuld
und Sühne nicht ein einziges Wort über die x\rt der »Plage« finde".
Preuss giebt folgende durchaus stichhaltige und einleuchtende Er-
klärung. Da die Verführung zum Götzendienste nach dem Sprich-
worte „cherchez la femme" von den Frauen ausging, wurden, um
weitere Anreizungen unmöglich zu machen, alle Verführerinnen aus-
gerottet (die Männer waren ja bereits getötet). Jeder aber, der
einen Leichnam berührt, ist nach mosaischem Gesetz unrein und
i) W. E. C. A. S ick 1er, Dissertatio inauguralis exhibens novum ad historiam luis
venereae additamentum. Jena 1797.
2) Proksch a. a. O., Bd. L S. 89.
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muss sich entsündigen. Die Verfehlung ist eine so schwere, dass
Pinehas, als man wieder anfängt, gegen das Gesetz Altäre zu bauen,
meint, sie sei moralisch noch nicht gesühnt. Der Krankheitsname
des Textes, maggepha, heisst weiter nichts als Epidemie (Pest,
Seuche), das /^taa/ia Phil os, der Aot/io? des Josephus(Ant. IV, c. 6, 12).
Die Epidemie entsteht durch den Zorn Gottes (Xum. 25, 3) und rafft
24000 Menschen dahin, was doch schon ohne weiteres S3^philis aus-
schliesst. Durch die Energie des Pinehas, der ein besonders freches
Buhlerpaar niedersticht, wird der Seuche endlich Einhalt gethan. Um
welche Seuche es sich hier handelt, bleibt ganz im Dunklen. Für
Syphilis spricht nicht das Geringste.
2. Die gara'"ath (Zaraath)-K rankheit. — Ueber die seltsame
Zaraath-Krankheit im 13. Kapitel des dritten Buches Moses sind un-
zählige Hypothesen aufgestellt worden , unter denen natürlich die
Syphilis nicht fehlt, die Final}^^) für erwiesen hält, Proksch-) „nicht
ausschliessen kann". Münch^) hat bekanntlich die Zaraath für Viti-
ligo, Kazenelson und Sack-*) haben sie für eine Art von Tricho-
ph3^tie erklärt, Ebstein'^) für einen Sammelnamen für verschiedene
nicht diagnostizierbare Hautleiden. Ohne Frage ist das Zaraath-Kapitel
das allerschwierigste bezüglich einer genaueren medizinischen
Interpretation. Preuss^') erklärt am Beginn seiner wertvollen Arbeit
über Zaraath, dass er sich von all seinen Vorgängern darin unter-
scheide, dass er zahlreiche Einzelheiten des Zaraath-Kapitels nicht ver-
stehe, dass er von manchen sogar glaube, dass sie uns unlösbare
Aufgaben stellen. Vor allem protestiert Preuss gegen die u. a. von
Münch vertretene Meinung, als sollte in der Bibel ein Krankheitsbild
in allen seinen Stadien gezeichnet werden. Die Bibel ist kein Lehr-
buch der Aledizin, sondern ein religiöses Gesetzbuch, das Normen
für die Bestimmung der Reinheit oder Unreinheit giebt, deren Beur-
teilung in der Hand sachv^erständiger Priester lag. Jeder zweifellos
mit der Zaraath Behaftete war unrein und wurde isoliert. Und zwar
1) S. Finaly, Ueber die wahre Bedeutung des Aussatzes in der Bibel. In: Archiv
f. Dermat. u. Syph., Bd. II, S. 125 — 132, Prag 1870.
2) Proksch a. a. O., Bd. I, S. 84.
3) G. N. Münch, Die Zaraath (Lepra) der hebräischen Bibel. Hamburg 1893.
4) Arnold Sack, Was ist die Zaraath (Lepra) der hebräischen Bibel? Virchow's
Archiv 1896, Bd. CXLIV, S. 202 — 223 (deutsche Bearbeitung einer russischen Schrift
Kazenelsons).
5) Wilhelm Ebstein, Die Medizin im Alten Testament, S. 89. Stuttgart 1901.
6) J. Preuss, Materialien zur Geschichte der biblisch-talmudischen Medizin. Die
Erkrankungen der Haut. Sep.-Abdr. aus Allg. med. Central-Zeit. 1903, Xr. 21 ff., S. i — 19.
— 487 —
ist sowohl von den ersten Anfängen wie von „veralteter garaath"
die Rede. Die Symptome betreffen in beiden Fällen die äussere
Haut.
Vor der IMitteilung der die Zaraath betreffenden Bibelstellen,
wie sie jetzt in der neuen kritischen Uebersetzung von Preuss vor-
liegen, müssen wir die Auffassung des letzteren über die wichtigsten
an diesen Stellen vorkommenden Termini technici kennen lernen.
1. Das Wort „garaath" (Zaraath) wurde früher von J. PageU)
mit dem Stammwort „Zar'a" = säen, kombiniert und als eine „Aus-
saat", eine Dissemination auf der Haut aufgefasst. Dagegen spricht
nach Preuss, dass in Vers 38 gerade diejenige Form, die durch das
Auftreten multipler Flecke charakterisiert ist, nicht ,,caraath", sondern
„Bohaq" heisst. Dass „Zaraath" sich auf eine bestimmte Krankheit
bezieht, hält Preuss für sicher und er stimmt der Meinung, die
bis vor einigen Jahrzehnten fast alle Forscher vertraten, zu, dass
darunter der Aussatz (Lepra) zu verstehen sei.
2. „Bahereth" von bahar, glänzen = ein glänzender, heller
Fleck; „seeth", ein Infinitum von nasa, erheben = eine Erhebung auf
der Haut; „sappachoth", eine Schuppenkrankheit, transponiert von
chasaph, abschälen, abschuppen (vgl. Exod. 16, 14).
Preuss glaubt, dass hiermit drei Formen der „Lepra" unter-
schieden würden, nämlich die Fleckenlepra (bahereth), der Knoten-
aussatz (seeth) und die einst von Willan als „Lepra vulgaris" be-
zeichnete Schuppenfiechte, die Psoriasis. Angesichts der Thatsache,
dass bei der echten Lepra Abschuppung selten ist, jedenfalls kein
charakteristisches Svmptom bildet, ist die letztere Deutung annehm-
bar, wenn auch nicht sicher.
3. j.neg'a" von „nag'a = berühren ist das lateinische contagium,
das griechische owacpeia und entstammt der alten Anschauung, nach
der ein Mensch von einem ausserhalb seines Körpers befindlichen
Agens „berührt" und dadurch krank wird. Den Gegensatz zu nega
bildet „machla", „die Krankheit nach dem Laufe der Welt". x\uch
„deber". das Wort für die Pest, die viele Menschen schnell weg-
raffende Seuche, ist von nega verschieden. Dieses ist ein allgemeiner
Begriff: Kontagium, der erst durch einen weiteren Zusatz näher be-
stimmt wird, z. B. nega garaath = das Kontagium des Aussatzes, der
ansteckende Aussatz, Den neuerdings von Sachs gemachten Ver-
such, einen Gegensatz zwischen nega und nega ^araath zu kon-
struieren, hat Preuss schlagend widerlegt.
i) Deutsche Medizinal-Zeitung 1893, S. 683.
— 488 —
Ob auch in der Bibel der nega als kontagiöse Krankheit in
unserem Sinne aufzufassen ist, wissen wir nicht. Die „mispachath"
ist ein nega, aber rein (3. Mose 13, 6).
Der Bibeltext (3. Mose 13 V. 2 ff.) lautet nach Preuss' Ueber-
setzung folgendermassen :
,,(2) Ein Mensch, auf dessen Leibeshaut seelh oder sappachath oder
bahereth entsteht, soll, wenn es (sc. eine dieser Erkrankungen nach Laienmeinung)
zur nega <;araath auf seiner Leibeshaut geworden ist, zum Priester gebracht
werden (da et freiwillig schwerhch kommen wird). (3) Der Priester soll den nega
auf der Leibeshaut betrachten: ist Haar in dem nega weiss geworden und
der nega sieht tiefer aus als die Leibeshaut, dann ist es (wirklich) nega 9ara-
ath, und wenn das der Priester sieht, so soll er ihn für unrein erklären.
[(J^araath auf vorher normaler Haut. A. Die Bahereth.]
Bei der Besichtigung findet sich: (4) Die Bahereth ist (zwar) weiss auf der
Leibes haut, sieht aber nicht tiefer aus als die Haut und ihr Haar ist nicht
weiss geworden, so schliesse der Priester den nega sieben Tage ein. (5) Ist
nach Ablauf dieser Zeit der nega in seinem Aussehen (oder: ,,nach des Priesters
Augenmaass") stehen geblieben, hat sich nicht auf der Haut verbreitet, so
schliesse ihn der Priester zum zweiten Male sieben Tage ein. (6) Ist bei
der Besichtigung am siebenten Tage der nega matt (blass, geworden oder ge-
blieben) und hat sich nicht auf der Haut ausgebreitet, so erkläre er ihn für
rein; es ist die mispachath. (7) Wenn sich aber (später) die mispachath auf
der Haut ausbreitet, nachdem der Kranke dem Priester behufs Reinspre-
chung vorgeführt war, so soll er dem Priester nochmals gezeigt werden.
(8) Wenn dieser die Ausbreitung bestätigt, soll er ihn für unrein erklären:
es ist 9araath.
[B. Die Seeth.]
(9) Ein Mensch wird wegen nega (jaraath zum Priester gebracht. (10)
Es findet sich eine weisse seeth auf der Haut, die das Haar in weiss ver-
wandelt hat und in der seeth ist eine Stelle lebenden Fleisches: (11) es ist
eine inveterierte 9araath der Leibeshaut, eine weitere Beobachtung nicht
nötig. (12) Blüht die (jaraath auf der Haut und bedeckt die ganze Haut
des nega von Kopf bis Fuss, so weit der Priester sieht, (13) so spreche er
den nega rein; ist er ganz in Weiss verwandelt, so ist er rein. (14) Aber
am Tage, da sich' lebendes Fleisch darin zeigt, ist er unrein; das lebende
Fleisch ist unrein, es ist 9araath. (16) Verwandelt das lebende Fleisch sich
wieder in Weiss, so erkläre der Priester den nega für rein.
[Lepra auf vorher veränderter Haut.]
(18) Auf der Haut eines Menschen war ein schechin und ist geheilt.
Nun findet sich an der Stelle des schechin eine weisse seeth oder eine weiss-
rötliche bahereth, so soll er dem Priester gezeigt werden. (20) Sieht der
Priester, dass es flacher aussieht als die Haut und dass sein Haar in Weiss
verwandelt ist, so erkläre ihn der Priester für unrein, es ist der nega der
^araath, die in dem schechin blüht. (21) .Ist kein weisses Haar darin, nicht
flacher als die Haut und blass, so verschliesse ihn der Priester sieben Tage.
(22) Verbreitet es sich auf der Haut, so erkläre ihn der Priester für unrein,
es ist ein nega. (23) Steht aber die bahereth an ihrer Stelle still und verbreitet
sich nicht, so ist es die carebeth der schechin und rein. (24) Oder auf der
— 489 —
Haut eines Menschen war ein Feuerbrand (Brandmal). Nun wird die Brand-
stelle eine bahereth, weiss-rötlich oder (rein) weiss. (25) Findet der Priester
bei der Besichtigung Haar in der bahereth weiss geworden, und ihr Aus-
sehen tiefer als die Haut, so ist es caraath in dem Brande blühend. Der
Priester erkläre ihn für unrein, es ist nega (jaraath. (26) Findet er aber in
der bahereth kein weisses Haar, und es sieht nicht flacher aus als die Haut
und ist matt, so schliesse er ihn sieben Tage ein. (27) Hat er sich bei der
erneuten Besichtigung ausgebreitet, so erkläre er ihn für unrein, es ist nega
caraath. (28) Steht die bahereth aber an ihrer Stelle still, hat sich nicht
ausgebreitet und ist matt, so ist es „seeth der Brandwunde". Der Priester
erkläre ihn für rein; denn es ist 9arebeth der Brandwunde.
[Lepra an Kopf und Bart.]
(29) Wenn Mann oder Frau einen nega an Kopf oder Bart haben (30)
und der Priester findet ihn (den nega) tiefer aussehend als die Haut und es
ist kurzes goldgelbes Haar darin, so ist er unrein, es ist der netheq, die
(jaraath des Kopfes oder des Bartes. (31) Ist aber der nega des netheq nicht
tiefer als die Haut und auch kein schwarzes Haar darin (sondern dieses —
Normalhaar — ist ausgefallen), so verschliesse der Priester den nega des netheq
sieben Tage. (32) Hat sich der netheq am siebenten Tage nicht ausgebreitet,
goldgelbes Haar ist nicht darin und tiefer als die Haut sieht der netheq
auch nicht aus, (33) so lasse er sich scheeren (damit eine etwaige Ausbreitung nicht
durch das Haar verdeckt wird), den netheq aber scheere er nicht und der Priester
isolire ihn nochmals sieben Tage. (34) Hat sich dann der netheq auf der
Haut nicht ausgebreitet und sieht nicht tiefer aus als die Haut, so erkläre
er ihn für rein. (35) Wenn aber nach der Reinsprechung der netheq sich
ausbreitet, (36) so braucht man nach dem unterscheidenden goldgelben Haar
nicht zu sehen, er ist unrein. (37) Stand aber der netheq in seinen Augen
still und schwarzes Haar sprosst darin, so ist der netheq geheilt, er ist rein
und der Priester spreche ihn rein. (38) Sind an der Leibeshaut eines Mannes
oder einer Frau beharoth (und zwar) weisse beharoth, (39) so soll der Priester
sehen, ob an der Haut ihrer Leiber matte, weisse beharoth sind. Dann ist
es der bohaq, er blüht auf der Haut, er ist rein. (40) Ein Mann, dessen (ganzer)
Kopf kahl (oder ausgerauft) ist, ist ein Kahlkopf und rein. (41) Wenn von
einer Ecke seines Gesichts an sein Kopf kahl ist, so ist er ein Glatzkopf,
gibbeach, und ebenfalls rein. (42) Wenn aber auf dem Kahlkopf oder der
Glatze ein weiss-rö tlicher nega ist, dann ist es blühende (floridej cjaraath auf
dem Kahlkopf oder der Glatze. (43) Sieht der Priester, daß die Erhebung
der nega weiss-rötlich ist an dem Kahlkopf oder der Glatze, wie das Aus-
sehen der Qaraath der Leibeshaut, (44) dann ist er ein aussätziger Mann,
unrein ist er, unrein erklären soll ihn der Priester: an seinem Kopfe ist
sein nega."
Wer diesen Text unbefangen prüft, muss zu dem meines Er-
achtens sicheren Schlüsse kommen, dass die ganze umständliche
Procedur der Erkennung und Diagnostik eines schweren infek-
tiösen Hautleidens zwecks Isolierung des davon Befallenen sich
der ganzen Beschreibung nach nur auf eine einzige Krankheit be-
ziehen kann, die erstens so einschneidende Massregeln notwendig
— 490 —
macht und auf die zweitens die hervorstechenden Symptome der
Flecken, Knoten und Ulceration einigermassen passen: die echte
Lepra, dass man aber ganz deutlich andere Hautleiden (Psoriasis,
Herpes tonsurans, Favus, Vitiligo) davon zu trennen versuchte, ohne
dass dies immer gelang. Aus Vers 2 geht deutlich hervor, dass
die einzelnen Symptome für sich noch keine „nega garaath" machen,
sondern diese erst auf Grund einer Veränderung gestellt wird, die
die drei Formen aufweisen. In Vers 3 wird eine dieser Verände-
rungen, die für die Nervenlepra so charakteristische weissliche
Verfärbung (morphaea alba) und zentrale Atrophie der leprösen
Flecken, deutlich beschrieben. Dieses atrophische Zentrum ist zu-
nächst von schwachrosa oder leicht graurötlicher Farbe und wird
erst weiterhin intensiv weiss ^). Das war auch den jüdischen Priestern
bekannt, da nicht jede bahereth für lebana (intensiv weiss) erklärt
wurde, sondern auch in Vers 18 eine weiss-rötliche (morphaea
rubra) erwähnt wird. Die weisse Bahereth ist das vorgeschrittenere
Stadium, in dem auch gewöhnlich (nach A. v. Bergmann) die
Atrophie und zentrale Depression stärker ausgeprägt ist. In ihr ist
gewöhnlich auch das Haar pigmentlos. Aus Vers 4 — 8 geht her-
vor, dass man auf die Ausbreitung der Flecke, wahrscheinlich auch
auf das Auftreten neuer Flecke, grosses Gewicht für die Diagnose
„Lepra" (nega Qaraath) legte. Sicher sind „mispachath" oder nach
gleicher Wurzel gebildete „sappachath" S3^mptome nichtlepröser
Hautleiden (Vers 6), wahrscheinlich Psoriasis- und Ekzemflecke, die
ja stehen bleiben und abblassen können.
In Vers 9 — 11 wird die Ulceration der Lepraknoten, der
seeth, geschildert, wie sie im späteren Verlaufe der Lepra vorkommt.
Gänzlich unklar sind dagegen Vers 12 — 16, in denen von einem
plötzlichen Weisswerden der ganzen Körperhaut und von einem
Weisswerden der Ulcerationen die Rede ist. Weder Psoriasis, noch
Vitiligo noch Herpes tonsurans können für eine Erklärung dieser
Stelle herangezogen werden. Sie ist und bleibt dunkel.
In Vers 18 — 28 werden jene Fälle in Betracht gezogen, wo
die Lepra auf der Basis eines anderen Hautleidens entsteht bzw. zu
einem solchen hinzutritt und hier natürlich etwas andere Formen und
Nuancen zeigt, als wenn sie die vorher gesunde Haut affiziert.
„Schechin" (Vers 18) ist nach Preuss das Ekzem, Schachan heisst
brennen oder heiss sein, schechin w'äre also = inflammatio, Entzün-
dung. In Vers 18 — 20 wird die Differentialdiagnose zwischen
I) Vgl. A. V. Bergmann, Die Lepra. In: Handbuch der Hautkrankheiten von
Mracek, Wien 1904, Bd. HI, S. 638.
— 491 —
postekzematösen Residuen und Lepra nach Ekzem behandelt. Nach
Preuss muss man sich die damahge Auffassung ungefähr folgender-
massen vorstellen: Tritt an solchen Stellen, die früher Sitz eines (viel-
leicht nässenden) Ekzems waren, ein weisses Lepramal auf, so wird
es je nach dem Alter der Narbe einen verschiedenen Ton annehmen;
ist die Narbe alt, weiss, ist sie noch frisch und zart, rötlich. Eine
Schuppung wird hier nicht erwähnt, weil sie auf der Narbe, die ja
Bindegewebe und keine neue Oberhaut ist, nicht vorkommen kann.
Dass die Ausschläge auch bei diesen Formen tiefer ("amoq) sein
sollen, als die gesunde Haut, wird nicht verlangt, eine Ekzemnarbe
w'ird nicht so sehr einsinken; die kranke Stelle soll hier also nur
flacher, schaphal, sein. Fehlen beide Kriterien, ist der Fleck nicht
glänzend, sondern opak, dehnt sich aber aus, so ist es zwar auch
eine nega, die verunreinigt (Keloid??), aber keine Lepra, die auch
Entfernung aus dem Lager bedingt. Dehnt sich die scheinbare
bahereth in der Narbe nicht aus, so ist es nur ein besonderer Zu-
stand des ursprünglichen Ekzems, und zwar eine carebeth. Dieses
Wort ist entweder ^= (frische) Entzündung des schechin oder = Bil-
dung einer Pseudomembran (Fibrinschicht, Kruste, „qerum") auf dem
eben heilenden Ekzem.
Ob die Deutung ,, Ekzem" für diese Stelle zutreffend ist, halte
ich für zweifelhaft, da Ekzeme für gewöhnlich keine Narben hinter-
lassen. Es handelt sich ganz allgemein um eine entzündliche Haut-
affektion, die zur Ulceration und Narbenbildung führt. Mehr kann
man nicht sagen.
In Vers 24 — 28 wird in analoger Weise die Differentialdiagnose
zwischen einer Brandnarbe und einem Leprafleck besprochen, in einer
dunklen, für die heutige klinische Diagnostik nicht verw^ertbaren
Weise.
Aus Vers 29 — 3 g geht deutlich hervor, dass zur echten Lepra
auch der so hartnäckige Favus gerechnet wurde. Denn das „kurze
goldgelbe" Haar in der affizierten Stelle ist höchstwahrscheinlich ein
Favusscutulum. Die Heilung des Favus knüpft sich in der That an
das Verschwinden der goldgelben Stellen und das Wiederauftreten
der ursprünglichen schwarzen (bei den Juden) Haare.
Ebenso wird in Vers 38 — 39 ein anderes Hautleiden geschildert,
wahrscheinlich Vitiligo oder Psoriasis, dessen nichtlepröse Natur aus-
drücklich betont wird.
Endlich wird in Vers 40 — 44 die Differentialdiagnose zwischen
einfacher und lepröser Alopecie besprochen bzw. das Auftreten eines
leprösen Infiltrats auf schon bestehender Glatze geschildert. Dass
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 32
— 492 —
dies wirklich vorkommt, lehrt ein von A. v. Bergmann mitgeteilter
analoger Fall ^).
Gerade diese letzten differentialdiagnostischen Bemerkungen be-
weisen, dass man den Aussatz als schwere ansteckende Krankheit von
leichteren Hautaffektionen trennte. Nur für die Lepra haben die fol-
genden Worte in Vers 45 und 46 einen Sinn:
(45) Der Aussätzige, an dem der nega ist, seine Kleider sollen zer-
rissen, sein Haar wild wachsend sein, über seinen Lippenbart soll er sich
verhüllen und „unrein, unrein!" rufen. (46) So lange der Ausschlag, nega,
an ihm ist, ist er unrein, einsam soll er wohnen, ausserhalb des Lagers soll
seine Wohnung sein.
Wie im Mittelalter, galt schon damals der Athem des Leprösen
als ansteckend. Daher die Vorschrift der Verhüllung des Mundes.
Ausserdem dienen die übrigen Bestimmungen bezüglich der Kleidung,
des Haarwuchses und des Rufes der Erkennung des Aussätzigen
schon aus der Ferne, ganz wie im Mittelalter, wo auch der Lepröse
sein Nahen mit lauter Stimme oder mittelst einer Klapper ankündigen
musste. Offenbar gab es schon bei den alten Juden Leproserien ausser-
halb der übrigen Wohnstätten, worauf Vers 46 hindeutet. Auch vom
König Asarja erzählt die Bibel, er war aussätzig bis zu seinem Tode
und wohnte im „beth ha-chophschith" (IL Kön. 15, 5), im „Zufluchts-
hause", einem offenbar für die Leprösen bestimmten Gebäude. Im
Talmud war der Lepröse für die menschliche Gesellschaft so gut wie
tot (Ned. 64 b), er lebt ausserhalb der Stadt „vor der Thür des Stadt-
thores" (IL Kön. 7, 3). Wenn er sich in die Stadt wagte, so konnte
es ihm passieren, dass sogar fromme Leute mit Steinen nach ihm
warfen und ihm zuriefen: „geh' an deinen Ort und beschmutze (in-
fiziere) die Menschen nicht!" (Lev. r. XVI, 3).
Nach alledem wird man nicht daran zweifeln können, dass die
garaath der Bibel im wesentlichen die echte Lepra gewesen ist. Für
die Diagnose „Syphilis" bietet die Krankheitsschilderung nicht die
geringste Handhabe. Auch die Aetiologie kann nicht heran-
gezogen werden, da in der Bibel die garaath lediglich als Strafe für
üble Nachrede erscheint. Erst in dem viel späteren Talmud wird
unter den mannigfaltigen Vergehen, deren Strafe der Aussatz ist
(Götzendienst, Gotteslästerung, Blutschande, Blutvergiessen, Diebstahl,
falsches Zeugnis, Hausfriedensbruch, Hochmut, Neid etc.). auch die
Unzucht hervorgehoben. Hat ein Mann seiner Frau während der
Menstruation beigewohnt, so wird das aus diesem Coitus stammende
Kind aussätzig. Fand die Beiwohnung am ersten Tage der Men-
[) A. V. Bergmann a. a. O., S. 635.
— 493 —
struation statt, so erkrankt das Kind nach lo Jahren, wenn am zweiten
Tage mit 20 Jahren, am siebenten Tage mit 70 Jahren! (Tanch.
me^. 3, S. 22 b).
Dass im späteren Altertum und Mittelalter die Unzucht, speciell
der Coitus mit einem menstruierenden Weibe als Ursache aller mög-
lichen Krankheiten galt, darum also nimmermehr ein Rückschluss
auf S3^philis zulässig ist, habe ich bereits im ersten Theile (S. 107 ff.)
des Näheren ausgeführt und muss darauf verweisen. Diese Thatsache
macht die Deutung der garaath als „Syphilis" unmöglich, für welche
übrigens auch sonst keinerlei greifbare Anhaltspunkte vorliegen, da
in der Bibel selbst keine Affektion der Geschlechtsteile erwähnt wird.
Bei der eminenten Contagiosität des Aussatzes ist natürlich eine
Uebertragung durch den Coitus sehr wohl möglich und wahrschein-
lich. Diese Contagiosität spiegelt sich auch in der biblischen Vor-
stellung von der Lepra der Kleider wieder, wofür die Stelle IL Kön.
5, 27 am meisten charakteristisch ist. Der von seinem Aussatz geheilte
Syrier will dem Propheten Elisa aus Dankbarkeit Gold und Kleider
schenken, die dieser aber ablehnt. Dagegen erbittet sich Elisas'
Diener Gehasi beides und — wird selbst leprös. Hierbei ist natür-
lich an eine direkte Uebertragung des Aussatzes durch die Kleider
zu denken.
3. Die Plage der Philister (i. Sam. Kap. 5 und 6). — Seit
Josephus, der (Antiq. Jud. VI, Kap. i, i) die Krankheit der Philister
für Dysenterie erklärte {e&vi]oxov ydg vjio dvoevregiag), ist diese rätsel-
selhafte Krankheit Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen i).
Wir folgen auch hier Preuss, der die Frage zweimal bearbeitet hat 2),
dabei aber nach mündlicher Mitteilung nur die zweite Arbeit gelten
lässt, in der er zu ganz anderen Ergebnissen bezüglich der Deutung
des Leidens gelangt ist.
Die Philister hatten (ca. 1000 v. Chr.) beim Siege über die Is-
raeliten die Bundeslade erbeutet und in Asdod aufgestellt.
„Und die Hand des Herrn lag schwer auf den Asdodim, und
er verheerte sie und schlug sie mit 'aphalim".
Sie senden darauf die Lade nach Gath, aber auch hier kam in
die Stadt „eine sehr grosse Zerrüttung, und der Herr schlug die Leute
der Stadt von Klein bis Gross, und es spalteten sich (von sathar)
ihnen, — oder nach einer anderen Lesart: „es traten bei ihnen an
verborgenen Körperstellen auf (von sathar") — "aphalim".
i) Die ältere Literatur bei Kanne, Die goldenen Aerse der Philister. Nürnberg 1820.
2) Allg. med. Centralzeitung 1898, No. 39 ff., Sep.-Abdr., S. 14/15 und Zeitschr. f.
klin. Medizin 1902, Bd. XLV, Heft 5/6, S. 22.
32*
— 494 —
Nun schickt man die Lade nach der dritten Hauptstadt Ekron,
aber wie in den beiden anderen Städten kommt „eine Zerrüttung des
Todes in die ganze Stadt. Und die Leute, welche nicht starben,
wurden mit 'aphalim geschlagen und das Geschrei der Stadt stieg
zum Himmel".
Nachdem die Lade sieben Monate im Philisterlande gewesen, raten
die Priester und Wahrsagter, die man befragt, sie zurückzugeben und
gleichzeitig fünf 'aphalim von Gold und fünf Aläuse von Gold mitzu-
senden. In Beth-Schemesch findet die Uebergabe an die Leviten
statt, wobei der Transportwagen samt den Zugtieren verbrannt und
die Lade auf einen grossen Stein gestellt wird. Auch von den Leuten
dieses Ortes schlägt der Herr noch 50070 Mann, „weil sie angesehen
die Lade des Herrn'^
Der Name „"aphalim" kommt nur noch in einer Strafandrohung
(Deut. 28, 27: „Der Herr wdrd dich schlagen mit dem Aussatze Egyp-
tens und mit aphalim") vor und bedeutet weiter nichts als „An-
schwellungen, Beulen". Man kann also darin mit Preuss nur
das Krankheitsbild einer Seuche erkennen, die beim Transport der
Lade von einer Stadt zur andern verschleppt wird, und deren Pro-
dukt sich plastisch in den Weihgeschenken darstellen lässt. Aus dem
ekronitischen Bericht folgt, dass unter Umständen schon der Tod ein-
treten kann, bevor noch die Beulen sich entwickelt haben. Diese
treten an verborgenen Körperstellen auf.
Nach Preuss ist dieses Krankheitsbild mit grösster Wahr-
scheinlichkeit auf die echte Beulenpest zu beziehen. Es handelt
sich um eine mörderische Seuche, an der viele sterben, ohne dass
es zur Bildung von Beulen kommt (Lungenpest), während bei anderen
sich Beulen an verborgenen Körperstellen, besonders in den Leisten-
beugen, bilden.
Da das Wort „"aphalim" irrtümlich von Aquila mit „phage-
dänisches Geschwür", von Buxtorf mit „mariscae" übersetzt w^urde,
so haben viele Autoren angenommen, dass es sich um Syphilis ge-
handelt habe ^). Hierfür lässt sich aus der Bibel selbst aber keinerlei
Anhaltspunkt beibringen.
Nach Preuss war den alten Erklärem die Kenntnis der Beulenpest allmählich ver-
loren gegangen. Statt des Wortes 'aphalim lasen die Masoreten ,,techorim", das für
decenter galt (Meg. 25 b) und das Gesäss (die nates) bezeichnen soll. Bei den chaldäischen
Uebersetzem ist dieses Wort das allein gebräuchliche. Sie deuten sogar die Psalmstelle
{78, 66): „Gott schlägt seine Feinde von hinten", mit diesen techorim, einem Leiden des
I) ^gl- J- B- Friedreich, Zur Bibel. Naturhistorische, anthropologische und medi-
zinische Fragmente. Nürnberg 1848, Bd. I, S. 243^ — 245.
— 495 —
Afters, wie sie also zu meinen scheinen, da ihnen wahrscheinlich die Beulenpest nicht mehr
bekannt war.
Ziemlich dunkel ist das Weihgeschenk der goldenen Mäuse.
Die Septuaginta und Josephus schieben einfach noch eine Aläuse-
plage, für deren Abwehr das Geschenk danken soll, in den Text ein,
wozu dieser, indem er (Cap. 5, 6) von „Mäusen, die das Land ver-
derben", spricht, selbst den Anlass gab. Nach G. Sticker (Wiener
klinische Rundschau vom 10. Xov. 1898) geht dem Ausbruch der
Beulenpest gewöhnlich ein grosses Sterben von Ratten voraus. Viel-
leicht war dieser Zusammenhang den Philistern schon bekannt. Da-
her die merkwürdige Votivgabe. Nach Asch off und Peypers
(Janus V, 611) ist die Maus das Bild der Zerstörung-. Im Tempel
zu Theben hält Ptah, der Gott der Zerstörung, in einer Hand eine
]\Iaus, nach der Maus heisst der Pestsender Apollo ZfÄivdevg, auf
manchen Münzen droht er mit einer Maus, die die rechte Hand hält,
während die linke den vorgestreckten Pfeil zeigt. Es ist auch be-
merkenswert, dass, während in der biblischen Erzählung von einer
Pest im Heere Sanherib's die Rede ist (II. Kön. ig, 35), Herodot
(II, 141) von einer grossen Mäuseschaar berichtet, die das Heer ver-
nichtet hätte. Die Wahl der Maus als Pestsymbol erklärt sich nach
Preuss daraus, dass das aus unterirdischen Löchern des Ackers
schaarenweise heraustretende Tier vielleicht ursprünglich das Zeichen
der unterirdischen Gottheiten war, die dem Menschen Böses bringen
und zu deren Versöhnung, „die sich reinigen von Sünden und heiligen
wollen", daher Mäuse als Opfertiere essen (Jes, 66, 17).
Auch W. Ebstein 1), der ebenfalls die Plage der Philister für
die Beulenpest hält, nimmt keinen kausalen, sondern nur einen sym-
bolischen Zusammenhang zwischen der Epidemie und der Mäusenot an.
4. Die Krankheit Hiobs. — Das schon von den Talmudisten
als Dichtung aufgefasste Buch Hiob schildert die Leiden einer fin-
gierten Persönlichkeit, die vom höchsten Glück ins tiefste Unglück
gestürzt wird, und nachdem sie aller irdischen Reichtümer beraubt
ist, von schwerer Krankheit heimgesucht wird. Hiob wird ,,mit
schechin ra geschlagen, von der Sohle seines Fusses bis zu seinem
Scheitel. Und er nahm einen Scherben, um sich damit zu schaben
und er sass in der Asche" (Hiob 2, 7/8). Drei Freunde, die all dieses
Unglück hören, kommen jeglicher von seinem Wohnorte; als sie ihn
von ferne sehen, erkennen sie ihn nicht wieder. Sie setzen sich mit
ihm auf die Erde, ohne zu sprechen; denn sie sehen, dass der Schmerz
i) W. Ebstein, Die Medizin im alten Testament. Stuttgart 1901, S. 96 — 97.
— 496 —
sehr gross war. Der Unglückliche klagt: das Kleid meines Leibes
(= die Haut) ist Gewürm und Staubkruste, meine Haut birst und
löset sich auf (7, 5), meine Haut ist schwarz von auf mir weg (hängt
schwarz von mir herab [30, 30]), an meiner Haut und an meinem
Fleische klebt (fettlos) mein Gebein, ich habe nur die Haut meiner
Zähne (mein Zahnfleisch, sonst nichts) übrig behalten (ig, 20). Der
Schlaf wird durch böse Träume gestört (7, 13), mein Gesicht glüht
vom Weinen (16, 16), ich zucke vor Schmerz (6, 10) und zahlreiche
andere Klagen ähnlichen Inhalts, unter denen diejenige: „bei Nacht
bohrt er (der Schmerz) meine Gebeine" (30, 17) als besonders syphilis-
verdächtig hingestellt worden ist.
Es handelt sich in Wahrheit um die poetisch ausgeschmückte,
hyperbolische Schilderung schwerer seelischer und körperlicher Leiden
verschiedener Art, die über Hiob verhängt werden, um sein Gott-
vertrauen zu erproben. Schon die seelischen Leiden, die durch die
plötzliche Verarmung und durch die gleichzeitige Ermordung seiner
IG Kinder hervorgerufen werden, können vollauf seine Abmagerung,
sein Weinen, seinen unruhigen Schlaf erklären. Dazu kommt ein
„schechin", eine entzündliche Affektion der Haut, die mit starkem
Jucken einhergeht, das Hiob durch Kratzen mit einem Scherben zu
lindern sucht. Die Haut birst (== schmerzhafte Rhagaden) und
löset sich auf (= starke seröse Absonderung), ist stellenweise
schwarz und krustös (= sanguinolente Krusten). Das ist, ohne
dass man dem Texte irgendwie Gewalt anthut, ziemlich deutlich das
Bild eines schweren chronischen Ekzems, dessen universelle
Ausbreitung zu den bekannten Folgeerscheinungen (unerträgliches
Jucken, Schmerzen, Schlaflosigkeit, Abmagerung und Anämie) führt.
Der Ausdruck „bei Nacht bohrt der Schmerz meine Gebeine" ist
ganz gewiss nur als dichterische Uebertreibung der grossen Schmerz-
haftigkeit des Ekzems zu nehmen, die dem Kranken das Liegen er-
schwert und ihm daher bei Nacht mehr zu schaffen macht als am
Tage. Es ist nach Preuss sehr fraglich, ob der Ausdruck „Gebeine"
an dieser Stelle mit „Knochen" zu identifizieren sei. Aber selbst
„nächtliche Knochenschmerzen" können bei nichtsyphilitischen Leiden,
wie Typhus, Blei- und Merkurintoxikationen, Erkrankungen der blut-
bildenden Apparate etc. vorkommen.
• Man sieht also, dass auch die Krankheit Hiobs für die Diagnose
„Syphilis" nicht den geringsten Anhaltspunkt darbietet.
5. Die Basale rathan^). — Wenn ein verheirateter Mann an
Lepra erkrankt, so soll nach der Vorschrift der Mischna (Keth. VII, 10)
1) Vgl. J. Preuss, Chirurgisches in Bibel und Talmud. In: Deutsche Zeitschr. f.
Chirurgie, Bd. LIX, S. 521—524.
— 497 —
das Gericht ihn ex officio zur Scheidung zwingen, selbst wenn die
Frau die Ehe mit ihm fortzusetzen gewillt ist, „weil sie ihn hin-
schwinden macht", nach der gewöhnlichen Erklärung: weil die Coha-
bitation den Verfall der Körperkräfte des Kranken beschleunigen
würde. 24 Arten Aussatz giebt es, hat ein Alter von den Männern
Jerusalems dem R. Jose und ein Alter von den Aussätzigen in
Sepphoris) dem R. Schimeon ben Gamliel erzählt (T. Keth VII,
II und Lev. r. 16,1), und von allen Formen sagen die Weisen, der
Coitus sei ihnen schädlich, am schädlichsten aber den „ba'"ale rathan"
(Keth. 77 b). Das bezieht sich nach Preuss auf den frühzeitigen
Verlust der Potenz, wie er bei der Lepra im Altertum und Mittel-
alter angenommen wurde.
Als Ursache der geheimnisvollen Krankheit ,, rathan" gibt die Tradition an: Hat der
Mann zur Ader gelassen und coitiert dann, so werden die Kinder kachektisch, haben beide
Ehegatten vor der Cohabitation venäseciert, so bekommen sie mit rathan behaftete Kinder.
Nach Rab gilt das nur, wenn der Mann vor dem Coitus nichts gegessen hat (Nidd. 17a).
„Welches sind die Zeichen der Krankheit? Es rinnen seine Augen, es fliessen seine
Nasenlöcher und es kommt ihm Speichel aus dem Munde und es werfen sich die Fliegen
auf ihn.
Und was ist seine Heilung? Abaje sagt: Man koche Phyllon, Ladanum, Nuss-
schalen, Lederabschabsel , Melilotus und Dattelschalen zusammen und bringe den Kranken
in ein Marmorhaus — das auch noch an anderer Stelle als Operationsraum genannt wird
(B. mec. 83 b). Dann giesse man dem Kranken 300 Becher von obiger Abkochung über
den Kopf, bis der Boden seines Gehirns weich wird, und spalte dann das Gehirn. Dann
nimmt man vier Blätter der Myrthe, hebt jeden Fuss einzeln auf und legt ihn wieder nieder
(nachdem man je ein Myrthenblatt untergeschoben), zieht es (das Gebilde in toto) dann mit
der Zange heraus und verbrennt es, denn sonst kommt es (oder die Krankheit) wieder
auf ihn.
R. Jochanan liess ausrufen: Hütet euch vor den Fliegen der Rathan-Kranken ! R. Zeira
setzte sich nicht in ihren Wind, R. Ami und R. Assi assen nicht Eier aus der Strasse, in
der jene Kranken (isoliert?) wohnten, nur R. Josua ben Levi setzte sich zu ihnen und unter-
richtete sie, vertrauend, dass die Gotteslehre ihm ein Schild sei, der ihn vor Schaden be-
wahren würde.
R. Chanina sagt: Warum gibt es keine Rathan-Kranken in Babylon? Weil sie
(die Menschen überhaupt?) Mangold essen und Bier aus Hizmi-Hopfen trinken. R. Jochanan
sagt: Warum gibt es keine (jar aath-Kranken in Babylon? Weil sie Mangold essen und
Bier trinken und im Wasser des Euphrat baden (Keth. 77 b)."
Preuss betont mit Recht die völlige Unbestimmtheit dieses
Krankheitsbildes. Er meint, die Symptome lassen sich vielleicht auf
Lepra beziehen, wenn, wie bei schweren Formen derselben, die
Schleimhäute sich verändern, die Conjunctiva, die Schleimhaut der
Nase, des Mundes und des Rachens Sitz lepröser Geschwüre werden
und die umgebenden Partien (Lider, Nase, Lippen) dazu noch durch
Infiltrate oder Knotenbildung starr geworden sind. Mit Recht hielt
man diese stark absondernden Geschwüre für besonders ansteckend
- 498 -
und hatte vielleicht auch nicht ganz Unrecht, wenn man an eine Ueber-
tragung der Lepra durch Fliegen dachte, nach Analogie der modernen
Forschungen über Malaria, Schlafkrankeit und Pest. Eigentümlich
ist freilich die sehr unbestimmt geschilderte Gehirn- oder Schädel-
affektion, bei der man eine bestimmte Diagnose nicht machen und
sowohl an einen Tumor, eine Caries oder einen Cysticercus denken
kann.
Diese Schilderung hat man denn natürlich auch als „Syphilis"
gedeutet, ohne dass dafür der geringste Anhaltspunkt gegeben ist.
Selbst der an die „Lues veterum" glaubende Peypers ist dieser
Hypothese entgegengetreten i).
§ 36. Die indischen „Giftmädchen".
Schon im ersten Teile (s. oben S. 284 — 290) sind alle wichtigen
Thatsachen mitgeteilt worden, aus denen die Einschleppung der Syphilis
nach Ostindien und dem Indischen Archipel am Anfange des 16. Jahr-
hunderts mit Sicherheit gefolgert w^erden kann. Inzwischen ist die
von mir schon im Manuskript benutzte vorzügliche quellenkritische
Darstellung der indischen Medizin aus der Feder des ausgezeichneten
Sanskritisten Julius Jolly im Drucke erschienen 2). Wir ersehen
daraus, dass die Inder sehr wohl die örtlichen Geschlechtskrankheiten
von der Syphilis unterscheiden konnten. Jolly giebt (a. a. O. S. 105
bis 106) die folgende Uebersicht dieser nichtsyphilitischen Geschlechts-
krankheiten:
Neben v j. d d h i {Hodenanschwellung, Hydrocele, Leistenbrach) wird upadamsa
genannt. Diese Erkrankung des Penis entsteht durch Verletzung desselben beim Coitus mit
den Händen, Nägeln oder Zähnen ^), Unterlassung der Abwaschung nachher oder Benutzung
von verdorbenem Wasser bei derselben, Verkehr mit einer menstruierenden, unreinlichen
oder an einer Frauenkrankheit leidenden Frau, erzwungenen Verkehr, den Gebrauch von
„suka" (= Applikation von stimulierenden Insekten am Penis) und andere Stimulantien
u. dgl. Die entstehenden Geschwülste und Pusteln sind schwarz, feigenartig, weiss u. s. w.,
je nach den sie verursachenden Grundsäften. Wenn das Fleisch am Penis geschwunden,
von Würmern zerfressen ist, so dass nur noch die Hoden übrig sind, so ist der Fall hoff-
nungslos. Wer nicht sofort nach dem Beginn der Krankheit dagegen einschreitet, sondern
den sexuellen Verkehr fortsetzt, dessen Penis wird durch Geschwulst, Würmer, Hitze und
Eiter zerstört, und er stirbt. Zunächst wird die Anwendung von Oelen und Wärme
empfohlen, dann öffne man eine Ader mitten am Penis oder setze Blutegel an, gebe Purgir-
und Brechmittel, bei schwachen Patienten ein Klystier. Je nach der Art der Erkrankung
1) Nederl. Tydschr. voor Geneesk. 1893, Bd. H, S. 397.
2) Julius Jolly, ,, Medizin", in: Grundriss der indo-arischen Philologie und Alter-
tumskunde von Bühler-Kielhorn, Bd. III, Heft 10, Strassburg 1901.
3) Das Beissen des Penis mit den Zähnen war ein Bestandteil der so raffinierten in-
dischen ars amatoria.
— 499 —
sind verschiedene warme und icalte Einreibungen, Abwaschmigen und Umschläge zu machen.
Der Arzt muss zu verhindern suchen , dass Eiterung eintritt und den entstandenen Eiter
rasch mit dem Messer beseitigen.
Ein anderes Leiden ist lingavarli oder liügärsas („Penisgeschwür"), ein Aus-
wuchs an den Genitalien, der einem Hahnenkamm gleicht, mit länglichen, sich über ein-
ander ansetzenden schleimigen und schmerzhaften Geschwüren, die schwer heilbar sind. Die
Geschwulst ist vollständig auszuschneiden und zu brennen, oder man reibe sie mit einem
Extrakt von Berberis asiatica, Realgar und anderen Arzneien ein. Nach Dutt, Nidäna
169 f., wäre unter lingavarti Syphilis, unter lingärsas Warzen zu verstehen. Die bei
Susruta 2, 2, 11 vorkommenden arsas hat schon Häser mit der Syphilis identifiziert. Sie
entstehen aus verdorbenem Fleisch und Blut am Penis, beginnen mit Jucken, dann entsteht
durch Kratzen eine Wunde, an der sich aus verdorbenem Fleisch entstehende, schleimiges
Blut aussondernde, wulstige Auswüchse innen (in der Eichel) oder an der äusseren Haut
bilden, den Penis und die Potenz zerstören. Aehnliche, übelriechende Auswüchse in der
Vagina heben die Menstruation auf. Offenbar ist mit arsas, lingärsas und lingavarti
die gleiche Krankheit gemeint, ob aber die Syphilis, ist ebenso zweifelhaft, wie bei den
vedischen Krankheitsnamen, die Bloomfield auf Syphilis bezieht, wenn auch die obigen
Symptome (hahnenkammartig u. s. w.) allenfalls auf syphilitische Condylome bezogen werden
könnten ^).
Die vedischen Stellen 2), die Bloomfield auf S3^philis bezieht,
lauten :
„Charm for curing tumours called gäyänya.
3. The gäyänya that crushes the ribs, that which pams down to the sole of the
foot, and whichever is fixed upon the crown of the head, I have driven out every one.
4. The gäyänya, winged, flies; he settles down upon man. Here is the remedy both for
sores not caused by cutting, as well as for wounds sharply cut! 5. We know, o gäyänya,
the origin, whence thou didst spring. How canst thou slay there, in whose house we
offer oblations?"
Aus dieser ganz allgemeinen Schilderung einer in Form von
Tumoren auftretenden Krankheit lässt sich die Diagnose „Syphilis"
in keiner Weise rechtfertigen. Bloomfield gelangt zu ihr auch nur
auf dem doch sehr zweifelhaften Wege der Etymologie, indem er
„gä yänya" von „gä yä = Frau ableitet oder von der Wurzel „gan"
= kongenitale Krankheit! Daraus würde doch höchstens zu schliessen
sein, dass es sich um ein Frauenleiden bezw. um irgend ein ange-
borenes Leiden handelt, das durchaus nicht Syphilis zu sein braucht.
Für die präcolumbische Existenz der Syphilis in der Alten Welt
hat man auch die uralte indisch-orientalische Sage von den „Gift-
i) Diese Ansicht Jolly's ist dahin zu berichtigen, dass es sich ganz offenbar um
typische, nicht syphilitische venerische, sog. spitze Condylome handelt.
2) Hymns of the Alharva-Verda translated by Maurice Bloomfield, S. 17 — [8.
Oxford 1807.
— 500 —
mädchen" herangezogen i). Da diese von Einfluss auf bestimmte
ätiologische Anschauungen der mittelalterlichen Medizin gewesen ist,
die auch für unser Thema Interesse haben, so gehen wir etwas aus-
führlicher darauf ein.
Skizzieren wir zunächst einige Formen der Sage vom Gift-
mädchen, wie sie Wilhelm Hertz in seiner berühmten Abhandlung^)
zusammengestellt hat. Hierauf werden wir auf den realen Kern
dieses Aberglaubens einzugehen und zu prüfen haben, ob hierbei die
Syphilis irgend eine Rolle spielt.
In das im 12. Jahrhundert aus dem Arabischen übersetzten,
unter dem Namen des Aristoteles gehende Werk „De secretis
secretorum" oder „De regimine principum" ist eine Erzählung ein-
geschaltet, wie Aristoteles durch sein Wissen das Leben Alexanders
vor einem tückischen Anschlag gerettet habe.
,, Alexander", so schreibt Aristoteles, „denke an die That der Königin von Indien,
wie sie dir unter dem Vorwande der Freundschaft viele Angebinde und schöne Gaben
übersandte. Darunter war auch jenes wunderschöne Mädchen, das von Kindheit auf mit
Schlangengift getränkt und genährt worden war, so dass sich seine Natur in die Natur
der Schlangen verwandelt hatte. Und hätte ich sie in jener Stunde nicht aufmerksam beob-
achtet und durch meine Kunst erkannt, da sie so furchtbar ungescheut und schamlos ihren
Blick unablässig an das Antlitz der Menschen heftete, hätte ich nicht daraus geschlossen,
dass sie mit einem einzigen Bisse die Menschen töten würde, was sich dir hernach durch
eine angestellte Probe bestätigt hat, so hättest du in der Hitze der Beiwohnung den
Tod davon gehabt."
Die Vergiftung erfolgt hier also während des Beischlafes, aber
nicht durch diesen, sondern durch einen tödlichen Biss.
In späteren Fassungen der Sage, z. B. bei Frauenlob, ist es
nicht der Biss, sondern der blosse Blick und Hauch des Mundes,
die tödlich wirken.
Der Sage von der Vergiftung durch den blossen Blick, den sog. „bösen Blick", liegt
nach Hertz offenbar eine Verwechselung des Giftmädchens mit der persisch-indischen
Qaftär zu Grunde. Nach Ibn Batutah glaubte man, dass es unter den indischen Yogi
Leute gebe, von denen ein einziger Blick genüge, um einen Menschen tot niederzuwerfen.
Oeffne man die Brust des Toten, so fehle darin das Herz; denn das habe der Zauberer
gefressen. Besonders Frauen sollten diese unheimliche Macht besitzen; eine solche nannte
man mit einem persischen Wort qaftär, Hyäne. Kam ein Weib in Verdacht, mit dem
Blick einem Kind das Herz im Leibe gefressen zu haben, so machte man mit ihr die
Wasserprobe wie mit den Hexen des Abendlandes, und wenn sie mit den vier an ihren
Armen und Beinen festgebundenen Krügen oben schwamm, so galt sie für überführt und
wurde lebendig verbrannt. Ibn Batutah war Augenzeuge eines solchen indischen Hexen-
1) Vgl. Haas, Zeitschr. der Deutschen morgenländischen Gesellschaft, Bd. XXXI,
S. 657.
2) Wilhelm Hertz, Die Sage vom Giftmädchen, München 1893.
— 50I —
Prozesses in Delhi in den dreissiger Jahren des 14. Jahrhunderts (Ihn Batoutah, Voyages,
texte arabe, accompagne d'une traduction par Defremery et Sanguinetti, Paris 1853,
Tom IV, p. 36 ff.)
Die ursprüngliche Fassung der Sage vom Giftmädchen beruht
auf dem Glauben an eine wirkliche materielle Ansteckung durch ein
I
reales Gift, das nicht der weiblichen Trägerin, wohl aber dem sie
berührenden Manne den Tod bringt. Diese Idee ist specifisch indisch.
Das Vorgehen dabei wird von Kazwini (f 1283) folgender-
maßen geschildert:
Zu den Wundern Indiens gehört das Kraut e 1 - b i s , das nur in Indien gefunden
wird und ein tödUches Gift ist. Die indischen Könige, wird erzählt, nehmen, wenn sie
einen feindlichen Herrscher beseitigen wollen, ein neugeborenes Mädchen und streuen das
Kraut einige Zeit lang erst unter seine Wiege, dann unter sein Bettpolster, dann unter seine
Kleider. Endlich geben sie es ihm in der Alilch zu trinken, bis das herangewachsene
Mädchen es ohne Schaden zu essen beginnt. Dieses Mädchen schicken sie darauf mit Ge-
schenken an den König, welchem sie Nachstellungen bereiten: wenn er ihr beiwohnt, stirbt
er. (Silvestre de Sacy, Chrestomathie Arabe, äme edit., Paris 1826, Tom. III, p. 398.)
Der arabische Name „bTs" kommt vom indischen ,.visa" = Gift
und zwar bezeichnet man damit als das Gift schlechthin die Wurzel
der in Indien heimischen Arten von Aconit, hauptsächlich Aconi-
tum Napellus ^).
Das auf die beschriebene Weise mit diesem furchtbaren Gift
durchtränkte Mädchen heißt im Sanskrit „visakanyä" = Giftmädchen
oder „visänganä" = Giftweib, und die indischen Schriftsteller sprechen
davon als von einer allbekannten Sache. Es war sogar eine Pflicht
der indischen Hofärzte, Küche, Keller und Frauengemach zu beauf-
sichtigen, um veräterische Köche und Giftmädchen auszuspüren.
Daß die Sage die Uebertragung des Giftes vorwiegend an das
weibliche Geschlecht knüpft ''^), hängt mit dem uralten Glauben an die
besondere Befähigung des Weibes für Vergiftungskünste zusammen,
die es in seiner Eigenschaft als Hexe und Zauberin ausübt 3), wobei
es besonders sich des Sexualtriebes der Männer bedient und
vermittelst des „Concubitus venenatus" seinen teufhschen Zweck
erreicht.
1) Näheres über diese Giftpflanze bei Th. Husemann, Artikel ,, Aconit" in Eulen -
bürg 's Realencyclopädie, 3. Aufl., 1894, Bd. I, S. 210.
2) Allerdings kannte der indische Volkesglaube auch Männer, welche, ganz den
Giftmädchen entsprechend, infolge fortgesetzter Einnahme von Giften gegen Gifte geschützt
waren und ihrerseits die dämonische Macht hatten, Frauen durch ihre Liebkosung zu töten.
Hertz a, a. O., S. 68.
3) Vgl. hierüber die interessanten Ausführungen von K. F. H. Marx, Die Lehre
von den Giften, Göttingen 1829, Bd. II, S. 276 — 278.
— 502 —
Dieser Concubitus venenatus läßt nun die mannigfaltigsten Deu-
tungen zu. Er bildet einen merkwürdigen Bestandteil des mittel-
alterlichen medizinischen Aberglaubens und hat als solcher auch in
der Geschichte der Syphilis seine Rolle gespielt.
Es gab gewisse Zustände der Frau, in denen man sie für „giftig"
hielt und aus einem zu dieser Zeit vollzogenen Beischlafe alle mög-
lichen schädlichen Folgen ableitete. Dazu gehörte zunächst die
Blutung bei der Defloration. Hertz ^) sagt darüber:
„Ueber tödliche Vergiftung im Liebesgenuss herrschten in der Vorzeit und
und herrschen zum Teil noch heute die abenteuerlichsten Vorstellungen. In der beliebtesten
und verbreitetsten Reisebeschreibung des Mittelalters, im Buch des Ritters von Mande-
V i 11 e , wird von einer Insel im fernen Osten erzählt, dass dort der Bräutigam nicht selbst
die Ehe vollziehe, sondern hierfür einen Stellvertreter miete, der wegen der Waghalsigkeit
des Unternehmens in der Sprache des Landes cadyberis, d. h. ein toller Verzweifelter, ge-
nannt werde. Dieser Brauch, so erklären die Eingeborenen, stamme aus alten Zeiten, in
welchen die Jungfrauen kleine Giftschlangen im Schosse verborgen getragen hätten, durch
deren Biss der erste, der ihnen beiwohnte, getötet worden sei . . .
So fabelhaft der Bericht Mandevilles klingt, so enthält er doch einen Kern Wahrheit.
Denn in der That bestand und besteht bei den verschiedensten Völkern der Brauch, dass
jener Akt, für den sich die Römer eine eigene Schutzgöttin Pertunda bestellt hatten, als
eine Sache angesehen wird, der man sich gern entzieht und die daher auf einem andern
als dem natürlichen Wege, durch manuellen Eingriff, durch Instrumente, durch den Phallus
eines Götzen oder durch einen Stellvertreter des Bräutigams, bald gegen Bezahlung, bald
aus Gefälligkeit, vollzogen wird ...
Eine Erklärung der eigentümlichen Anschauung werden wir jedoch nicht sowohl auf
dem Gebiete der Moral als auf dem des volkstümlichen Aberglaubens zu suchen haben. Da
findet sich denn, was schon Rosen bäum erkannt hat, dass bei einem Teile der Mensch-
heit nicht bloss das Menstrualblut, sondern ebenso das bei der Defloration fliessende Blut
für unrein und schädlich gehalten wurde. Ein sprechendes Zeugnis für diese Meinung bieten
uns die altindischen Hochzeitsbräuche. Nach den Hochzeitsprüchen im Veda galten die
vom Blute der Brautnacht geröteten Hemden für giftig und bösen Zaubers voll und mussten
daher gleich am Morgen beseitigt werden. Zitternd vor ihrer dämonischen Macht steckte
sie der Bräutigam auf die gespaltene Spitze einer Stange und bannte so ihren Zauber fest.
Sie wurden dann dem Priester zu teil, der allein im stände war, sie wieder zu reinigen.
Damit vertrieb man die bösen Dämonen des Ehebettes und verhütete, dass die junge Frau
ihrem Gatten Schaden thue."
Nicht bloss das Deflorations-, sondern auch das Menstrualblut
und andere Ausflüsse aus den weiblichen Genitalien galten als giftig.
Dass Frauen im Schosse Gift haben können, begegnet uns wiederholt in historischen
Sagen des Mittelalters. Auf diese Art erklärte man den Tod des Königs Wenzel IL von
Böhmen im Jahre 1305. Als dieser, so erzählt ein Zeitgenosse, Ottacker, in seiner
steinschen Reimchronik ^), von Tag zu Tag hinsiechte und von den Aerzten aufgegeben wurde,
1) A. a. O., S. 27—28, 38, 43.
2) Pez, Scriptores Rerum Austriacarum veteres et genuini, Bd. III, 741a f., Ratis-
bonae 1745.
— 503 —
da beschuldigte man gewisse Herren, dass sie ihm Gift beigebracht hätten, mit wunder-
lichen Sachen. Der Argwohn fiel auf ein schönes Weib Agnes, das fiedeln und singen
konnte und alle die Künste verstand, wowit die Weiber sich den Männern lieb und wert
machen. Wenn der König sie selbst zum Werke der Minne begehrte, so gewann sie sein
Wohlgefallen durch ihre lustlichen Sitten, und kam er um anderer Frauen oder Mädchen
willen in Liebespein, so half sie ihm als Unterhändlerin, dass sie seine volle Freundschaft
erwarb. Auch trug sie ihm heimliche Botschaft zu hohen Fürsten und ging oft für ihn
als Kundschafterin furchtlos in fremde Lande. Dadurch erlangte sie solchen Einfluss auf
ihn, dass er ihr all ihren Willen that und sie mit Gaben überschüttete, Sie wurde hof-
färtig und lebte auf grossem Fusse, hielt sich zwölf und mehr Pferde und führte in einem
eigenen Kammerwagen ihre Kleider und Kleinode mit sich. Diese Agnes wurde bezichtigt,
dass sie, durch grosse Bestechungen gewonnen, ihm der Welt Lohn gegeben habe. ,, Minne,
wie hast du es geschehen lassen, dass man falsche Zutat mischte unter die unergründliche
Süssigkeit, welche die minniglichen Frauen an ihrem zarten Leibe tragen? Alle Frauen
bitte ich, sie um die grosse Missethat zu hassen, die sie hieran beging. Der Mond und
die Sterne sollen ihr ihren Glanz versagen. Die Sterne und das Firmament und die vier
Elemente sollen ihr gram sein , da sie in Untreue sich selbst entehrte und ihren klaren
Leib unrein, widerlich und abscheulich machte, als der König bei ihr lag und minniglicher
Dinge pflag, womit er Freude wähnte zu erwerben, dass er davon musste sterben:
wan er faulen pegan
an der stat, da sich die man
vor schäm ungerne sehen lant."
Es liegt nahe, hier an ein venerisches Leiden zu denken, und
zwar passt die Beschreibung durchaus auf einen nichtsyphilitischen
gangränösen Schanker, dessen Ursprung durch eine Art von Ver-
giftung erklärt wird^).
Genau auf dieselbe Weise muss die Krankheit des Königs
Ladislaus von Neapel (geboren 1375, gestorben 14 14) gedeutet
werden.
Der Chronist Kaiser Sigismunds, Eberhart Windecke, schreibt
{um 1437):
„Do starb der Konig Lasle emes jehen todes, und er füllet von seinem gemechte
pis an sein herze, das tet Im eines bidermannes tochter von Nopels, die er genozoget hette
wider Iren willen^)."
Erich Ebstein^) erhielt vor kurzem durch den Münchener
Privatdozenten Dr. Beckmann folgende bisher ungedruckte Notiz
über die Krankheit des Königs aus einem Briefe vom August 14 14:
^^ — prope Urbem in Castro Montis Rotundi quaedam letalis infirmitas in virga
ipsum acriter invasit, cui Cancer se conjunxit, ipsum usque ad viscera corrodendo."
i) Selbst Proksch hat bei Mitteilung dieser Verse nicht die Diagnose „Syphilis"
zu stellen gewagt (Geschichte der venerischen Krankheiten, Bd. I, S. 362 — 363).
2) Historia Imp. Sigismundi, c. 29 (Bernhard Mencke, Scriptores rerum Germa-
nicarum, Lipsiae 1728, Bd. I, S. 109 1 f.; Hagen, Das Leben König Sigmunds von
Eberhard Windecke, Leipzig 1886, S. 25.
3) Erich Ebstein, Die Krankheit des Königs Ladislaus von Neapel. In: Medi-
zinische Woche 1906, No. 8.
— 504 —
Mit Recht bezeichnet Ebstein diese Schilderung als eine ausser-
ordentlich charakteristische Beschreibung eines typischen gangränösen
serpiginösen Schankers (cancer), der vom Membrum virile aus weiter-
kriecht, sich allmählich auf die Nachbarschaft verbreitet und bei un-
zweckmässiger Behandlung zum Tode führen kann.
Interessant ist, dass auch hier die Sage durch Vermittelung eines
„Giftmädchens'' die Krankheit entstehen lässt.
In den kirchlichen Annalen zu dem Jahre 1414 sagt Raynal-
dus^;, sich auf Theodoricus e Niem beziehend:
„Inter medios secundos successus cum Italiae imperium Ladislaus affectaret, morbo
correptus ex illito genitalibus a scorto Perusino, ut ajunt, veneno, sive igne sacro divinitus
immisso, ut per quae peccarat per ea puniretur, Neapolin reversus est, octavoque Augusti die
interiit."
Nach einer anderen Fassung der Sage bestachen die Florentiner
einen Arzt in Perugia, mit dessen junger und schöner Tochter der
König ein Liebesverhältnis hatte, und der unnatürliche Vater opferte
seiner Habgier das Leben seines Kindes. Er redete ihr ein, wenn
sie sich mit einer von ihm bereiteten Salbe an heimlicher Stelle ein-
reibe, werde die Neigung des Königs zu ihr in solchem Grade wachsen,
daß er nie mehr von ihr werde lassen können. Das verliebte Mädchen
glaubte ihm, benutzte die Salbe — es war Saft vom Eisenhut — und
vergiftete damit sich und ihn -).
Da der Begriff des „Contagiums" und der „Infektion" in ältester
Zeit fehlte, dagegen derjenige des „Giftes" schon sehr frühe bekannt
war, so lag es für die primitive Anschauung nahe, geheimnisvolle
Erkrankungen auf solche Vergiftungen zu beziehen. Seit uralter
Zeit gilt im Volksglauben das Weib als Trägerin und Übermittlerin
giftiger Stoffe, die in der Menstruation, dem weiblichen „Flusse", zu
Tage treten, oder in anderen fremdartigen Absonderungen aus den
weiblichen Genitalien (Fluor albus). Die Berührung mit dem giftigen
Cunnus schädigt, verdirbt die männlichen Genitalien und macht sie
krank. So heisst es in einem sizilianischen Volkliede^):
Buttana cu la fissa nvilinata
E ddhocu dintra ci teni lu focu,
Ci teni un cani corsu ncatinatu
Chi muzzica li cazzi a pocu a pocu.
i) Annales ecclesiastici ab anno 1198 . . . Auetore O. Raynaldo, Accedunt in hac
editione notae etc. Auetore Joanne Dominico Mansi Lucensi, Tom. VIII, Lucae
1754, Fol. p. 376, Christi annus 1414.
2) Hertz, a. a. O., S. 75 (nach Collenucio, Compendio delle Historie, del regno
di Napoli, p. 148 f., Venedig 1541.
3) Spigolatre siciliane. In: Rgviirdöia, Recueil de documents pour servir ä l'etude
des traditions populaires, Vol. III, S. 212 — 213, Heilbronn 1886.
— 505 —
M'ha muzzicatu a mia, lu sfurtunatu,
M'ha muzzicatu a parti unni haju locu;
Diri ci ll'haju a ogni 'nnamuratu
Cu futti a sta buttana campa pocu.
In französischer Uebersetzung:
Putain au con empoisonne
La dedans tu gardes le feu,
Tu gardes un chien de Corse enchaine
Oui mord les pines peu ä peu.
II m'a mordu moi aussi, pauvre malheureux,
11 m'a mordu ä un endroit delicat;
Je le dirai ä tous les amoureux,
Celui qui fout avec cette putain, vivra peu.
Der Volksglaube kennt zweierlei Arten von „Giftmädchen",
diejenigen der indischen Sage, die nur Trägerinnen des Giftes sind,
ohne selbst vergiftet zu sein, und solche, deren Körper selbst von
dem Gifte in Mitleidenschaft gezogen ist. Nur bei den letzteren kann
man an eine eigentliche „Krankheit" denken, die durch den geschlecht-
lichen Verkehr übertragen wird, obgleich theoretisch auch der Fall
möglich ist, daß eine Frau ein venerisches Gift von einem ]\Ianne
empfangen hat und, ohne selbst infiziert zu werden, dies auf einen
zweiten Mann überträgt.
Ein Beispiel für die erste Art von ,, Giftmädchen" kommt in dem indischen Drama
Äludräräkriasa (das Siegel des Räksasa) vor ^).
In die Vorgeschichte der dramatischen Handlung fällt ein Mordanschlag, welchen
Rakschasa, der Minister des Nandakönigs, gegen den Kronprätendenten Tschandragupta
ausführte. Überwunden und zum Scheine sich unterwerfend, sandte er an ihn ein Gift-
mädchen, das er mit Zauberkunst hergerichtet hatte. Aber der scharfsinnige Ratgeber
Tschandraguptas , der Brahmane Vischnugupta Tschannaleya, der den bezeichnenden Bei-
namen Kautilya (der krumme Wege liebt) führte, durchschaute den Plan und wusste es zu
veranstalten , dass ein unbequemer Verbündeter seines Schützlings , dem die Hälfte des zu
erobernden Reiches zugesagt worden war, die Jungfrau erhielt und in ihren Armen seinen Tod
fand. Dabei ist ein unserem Drama eigentümlicher Zug bemerkenswert: Das Mädchen
kann mit seinem Gift nur einen Mann verderben. Im Hinweis auf eine der berühmtesten
Stellen des Mahabharata sagt Rakschasa: Wie der Held Karna mit Indras Speer nur einen
einzigen Gegner töten konnte,
So ward für Tschandragupta auch von mir
Das Mädchen aufbewahrt, das einen nur
Umbringen konnte; doch als Opfer fiel
Ehi anderer.
Es ist also nur der erste Liebhaber, auf den sich in der Beiwohnung das im Leibe
des Mädchens angesammelte Gift mit seiner ganzen ISIacht entlädt. Ihr Magdtum ist die
giftige Blüte, die dem, der sie berührt, den sicheren Tod bringt.
i) Vergl. Hertz, a. a. O., S. 55 — 56.
— 5o6 —
Ob in Wirklichkeit ein Concubitus venenatus für den Mann
möglich ist, d. h. ob auf den Mann von der weiblichen Scheide beim
Geschlechtsakt Gift übertragen werden kann, ist sehr zweifelhaft.
Dass dagegen ein Concubitus venenatus für das Weib existiert, ist
zweifellos, da die Scheide sehr leicht Gift resorbiert. Aeltere und
neuere Beispiele hierfür hat kürzlich Stick er in seiner interessanten
Arbeit über „Vergiftungen vom Mastdarm und von der Scheide aus"
gesammelt^).
Sollten nicht aber doch der Sage vom indischen Giftmädchen
wirkliche Tatsachen zu Grunde liegen, die die vage Vermutung eines
indirekten Todes durch venerische Infektion ausschliessen und mehr
für eine reelle Vergiftung durch Arsenik oder andere Gifte sprechen?
Hier giebt mir Herr Professor Georg Sticker brieflich einen
interessanten Hinweis und eine beachtenswerte Hypothese. Dr. Hankin,
Gerichtsarzt in Ayra, teilte ihm mit, dass in Indien mehr Männer an
Arsenikvergiftung als dem vorgeschützten „Schlangenbiß" sterben,
und zwar mischen Weiber ihnen das Gift, wie in Rom und im Paris
des 17. Jahrhunderts. Dass nun der Ort der Giftwirkung die Vulva
beim Cunnilingus sein kann, ist eine naheliegende Vermutung, da nur
vom Munde, aber nicht vom Penis aus eine Vergiftung möglich ist.
Dass der Cunnilingus (aurapistaka) sowie der wechselseitige coitus
ore conficiendus bei den Indern sehr verbreitet waren, wissen wir aus
den Lehrbüchern der indischen ars amatoria 2), Schmidt zählt übrigens^)
die Giftmädchen zu den käuflichen Prostituierten, und es ist sehr
wahrscheinlich, dass diese sich zu solchen verbrecherischen Praktiken
gegen gute Bezahlung hergaben.
Ein Zusammenhang zwischen Hurerei und Giftmischerei findet
sich schon in altdeutschsn Schriften. Hier kommt oft das Wort
„Luppe" gleichbedeutend mit Hure vor, das Gift bedeutet (verlüpen =
vergiften; lubed = vergiftet)^).
Der schon von den mittelalterlichen Ärzten (Avicenna, Peter
von Abano, Mizaldus, Bernhard von Gordon, Gentilis von
Foligno, Carrerius, Caelius Rhodiginus) und im 16. Jahrhundert
i) Georg Sticker, „Vergiftungen vom Mastdarm und von der Scheide aus". In:
Archiv für Kriminalanthropologie, Bd. I, S. 290 — 365 (S. 300 wird der Fall des Königs
Ladislaus von Neapel citiert).
2) Vergl. Richard Schmidt, Beiträge zur indischen Erotik etc., S. 542 — 550,
Leipzig 1902. Derselbe, Das Kämasütram des Vätsyäyana, S. 220 — 221, Berlin 1907.
Derselbe, Liebe und Ehe im alten und modernen Indien, S. 260, Berlin 1904.
3) R. Schmidt, Liebe und Ehe in Indien, S. 565.
4) Vergl. K. F. H. Marx, Die Lehre von den Giften in medizinischer, gerichtlicher
und polizeylicher Hinsicht, Bd. I, S. 3, Göttingen 1827.
— d^/ —
von Johann Juvenis, Hieronymus Mercurialis, Peter
Andreas Matthioli, Leonhard Fuchs, Ulysses Aldrovandi
u. A. geführte Streit^) über die Natur der Giftmädchen kann auch
heute nicht mit Sicherheit entschieden werden. Wir haben im Ver-
laufe der Darstellung auf die verschiedenen Möglichkeiten hingewiesen,
die bei der Sage vom Giftmädchen in Betracht kommen können. Es
kann sich um einen einfachen Aberglauben gehandelt haben, um
blosse Zauberei, die man solchen Frauen zuschrieb, oder es kann
wirkliche Vergiftung zugrunde liegen, die bei Gelegenheit des Ge-
schlechtsaktes in Wirkung trat, wahrscheinlich bei Ausübung des
Cunnilingus, oder endlich handelt es sich um eine wirkliche Infektion
mit einer ansteckenden Krankheit, wobei es nicht ausgemacht ist, ob
dies in jedem Falle ein venerisches Leiden war. Bejaht man letzteres,
z. B. im Hinbhck auf den Fall des Königs Ladislaus, so spricht
alles für die Annahme eines lokalen gangränösen Schankers, nichts
dagegen für Syphilis.
Für die Geschichte der Syphilis hat die Sage vom Giftmädchen
nur insofern eine Bedeutung, als sie eine gewisse Nachwirkung aus-
übte und beim ersten Auftreten der Lustseuche ebenfalls mit heran-
gezogen wurde, um den plötzlichen Ausbruch der Krankheit zu er-
klären. In der oben (Teil I, S. 154 — 155) mitgeteilten Erzählung
des Gabriel Fallopia von den Spaniern, die die inficierten Freuden-
mädchen zu den Franzosen schickten, um diese anzustecken und zu
töten, findet sich ein deutlicher Anklang an jene alte Sage.
I) Vergl. die ausführliche Darstelking desselben bei W. Hertz a. a. O., S. 58 — 63.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis.
33
ACHTES KAPITEL.
Die Nichtexistenz der Syphilis im l<lassischen Altertum.
§ 37 Wesen der antiken Liebe.
Die Beweise für die Nichtexistenz der Syphilis bei den Alten
gründen sich nicht nur auf eine Kritik und Widerlegung- der in der
antiken Literatur vorkommenden Aeusserungen über angebliche syphi-
litische Erkrankungen, sondern vor allem auf eine allgemeine kriti-
sche Betrachtung des Geschlechtslebens der Alten überhaupt,
durch die jene litterarischen Angaben erst in ihrem wahren Lichte er-
scheinen. Erst die genaue Kenntnis der allgemeinen und speciellen
Erscheinungen im Geschlechtsleben der Griechen und Römer ermög-
licht eine objektive und unbefangene Würdigung der antiken „Syphilis"
im Lichte der modernen Forschung, sowohl in Beziehung auf die ob-
jektive Seite, die mit dem Geschlechtsleben zusammenhängenden Krank-
heiten, als auch subjektiv hinsichtlich des Reflexes auf die allge-
meinen Anschauungen der Laien und der Aerzte.
Es ist daher zunächst unsere Aufgabe, die Geschichte der öffent-
lichen Sittlichkeit und des individuellen Geschlechtslebens bei den
Alten unter den erwähnten Gesichtspunkten ganz kurz darzustellen.
Es kann sich im Rahmen dieses Werkes naturgemäss nur um einen
allgemeinen Ueberblick handeln, mit besonderer Berücksichti-
gung der neueren Forschungen, während für eingehendere Details
auf die älteren sittengeschichtlichen Werke von Forberg i), van
Limburg Brouwer^), Julius Rosenbaum ^) und Ludwig Fried-
länder ■^) verwiesen sei, deren Thatsachenmaterial allerdings durch
i) Antonii Panormitae Hermaphroditus. Primus in Germania edidit et Apopho-
reta adjecit Frider. Caroi. Forbergius, Coburg 1824.
2) P. van Limburg Brouwer, Histoire de la Civilisation morale et religieuse des
Grecs. 6 Bände (besonders Bd. I u. II), Groningen 1833 ff..
3) Julius Rosenbaum, Geschichte der Lustseuche im Alterthume, nebst ausführ-
lichen Untersuchungen über den Venus- und Phalluscultus, Bordelle, Novoog ■&Tp.Eia der
Skythen, Paederastie und andere geschlechtliche Ausschweifungen der Alten u. s. w,, Halle
1839; 6. unveränderte Auflage, Halle 1893.
4) Ludwig Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit
von August bis zum Ausgang der Antonine, 6. Auflage, 3 Bände, Leipzig 1888.
— 509 —
neuere Entdeckungen auf literarischem und archäologischem Gebiete
wesentlich vermehrt worden ist. Auch hat nur Rosen bäum die
Frage mit Bezugnahme auf die Syphilis behandelt deren Existenz er
irrtümlicherweise annahm und durch seine Untersuchungen über ge-
wisse sexualpsychologische und sexualpathologische Erscheinungen
bei den Alten zu stützen suchte. Wir werden sehen, daß seine Be-
weisführung schon damals eine unzureichende war und heute sogar
völlig nichtig ist, ja im Lichte der modernen dermatologischen und
venereologischen Forschungen das Gegenteil ergeben muss: die
Nichtexistenz der Syphilis im klassischen Altertum.
Hat es im klassischen Altertum etwas wie Liebe gegeben?
Jene moderne Liebe, die ein durchaus individuelles, mehr geistig als
sinnlich betontes Geschlechtsverhältnis zw-ischen Mann und Weib als
freien selbständigen Persönlichkeiten darstellt? Diese Frage muß
sowohl für die Griechen als auch für die Römer verneint werden,
wenn auch das hellenische Hetären wesen Ansätze zu einer solchen
individuellen Gestaltung der Liebe zeigt und wenn auch — wovon
weiter unten kurz die Rede sein wird — in späterer Zeit Spuren der
sog. „romantischen" Liebe nachweisbar sind. Im großen und ganzen
ist der Charakter der antiken Liebe ein durchaus sinnlicher, freilich
ist diese Sinnlichkeit in den Blütezeiten der Griechen und der Römer
eine ganz und gar naive, harmonische, aus demi natürlichen Wesen
des Menschen mit Notwendigkeit hervorgehende und zeigt durch die
unbefangene Auffassung des nackten Menschen und der Körper-
schönheit durchaus plastisch-ästhetische Züge. Die für die christ-
liche Kulturwelt so charakteristische dualistische Trennung von Leib
und Seele übte noch nicht ihren verhängnisvollen Einfluss auf das
Geschlechtsleben aus. Deshalb müssen sogar die sog. sexuellen Per-
versitäten der Alten anders beurteilt werden als die moderne Psycho-
pathia sexuahs, obgleich beide durchaus anthropologische Erschei-
nungen sind und als solche sowohl bei Kultur- als auch bei Natur-
völkern beobachtet werden i). Auch hier erscheint das Sinnliche un-
gebrochener und minder raffiniert. Für den antiken Menschen lag
eben das Geschlechtliche jenseits von gut und böse. Der christliche
Begriff der „Sünde" wurde darauf nicht angewendet. Höchstens
galten gewisse Ausartungen als „widernatürlich" oder als „Krank-
i) Vergl. das Kapitel „Die anthropologische Betrachtung der Psychopathia sexualis"
in meinem Werke „Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen
Kultur", Berlin 1908, S. 503 — 526.
33*
— 5IO —
heit" (vöoog). Es gab aber keinen mönchischen „Kampf" zwischen
Fleisch und Geist, sondern das „Fleisch" war nur die schöne äussere
Form des inneren, geistigen Lebens. In der sinnlichen Schönheit
verehrte und genoss man die geistige. Der ideale Mensch ist der
nackte, nicht der bekleidete^). Die grosse Verbreitung der Knaben-
liebe bei den Griechen, auf die wir später noch zurückkommen, wäre
nicht möglich gewesen, ohne diese tiefe Wirkung der blossen Körper-
schönheit, die bei den jugendlichen männlichen Gestalten noch mehr
hervortrat als bei den hellenischen Mädchen. Wie man heute grossen
Denkern und Dichtern, so errichtete man damals hervorragend
schönen Männern Denkmäler-). Auch die Geschlechtsmerkmale
waren Gegenstand eines naiven ästhetischen Genusses. Fr. Th. Vischer
meint, dass die Griechen mit gutem Grunde die Kraft der männlichen
Geschlechtsteile wichtig behandelt und sich dessen ebensowenig ge-
schämt haben, als wenn das Buch Hiob vom Nilpferd so gewaltig
sagt: „Die Adern seiner Scham starren wie ein Ast."^)
Der physische Geschlechtsgenuss in allen seinen Aeusserungen
und Bethätigungen, auch den sog. perversen, war den Alten etwas
Natürliches, Elementares, das weder unterschätzt noch überschätzt
wurde, wie etwa bei den modernen europäischen Kulturvölkern, wo
das Schwanken zwischen diesen beiden Extremen gerade die unheil-
vollen Disharmonien des Geschlechtslebens hervorruft. Eine kräftige,
ja glühende Sinnlichkeit, deren Zusammenhang mit dem südeuropäi-
schen Klima"*) nicht geleugnet werden kann, war das hervorstechende
Merkmal in der antiken Liebe. Die „Satyriasis" d. h. die sexuelle
Hyperästhesie, ist eine specifisch antike Krankheit. Die alten Aerzte
beschreiben den unersättlichen Trieb nach Geschlechtsgenuss als ein
sehr häufiges Leiden^), während diese Zustände heute recht selten
sind. Offenbar hingen sie auch mit den weiter unten zu erwähnenden
i) Vergl. hierüber die schönen Ausführungen bei Hippolyte Taine, Philosophie
der Kunst, Deutsche Ausgabe, Jena 1907, S. 58 ff.
2) Vergl. J. J. Winckelmann's Geschichte der Kunst des Alterthums, herausg.
von Julius Lessing, Berlin 1870, S. 94.
3) Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen,
Reutlingen und Leipzig 1847, Bd. II, S. 161. — Bei den Römern ist der Gartengott
Priapus das Symbol dieser naiven Auffassung des Geschlechtlichen.
4) Vergl. meine „Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia sexualis", Dresden 1902,
Bd. I, S. 20 — 23. — Die „sotadische Zone" Richard Burton's umfaßt Spanien, das
südliche Frankreich, Italien, Griechenland, Kleinasfen, Nordafrika.
5) Vergl. Alexander von Tralles, Original-Text und Uebersetzung nebst einer
einleitenden Abhandlung. Ein Beitrag zur Geschichte der Medizin von Dr. Theodor
Puschmann, Wien 1878, Bd. I, S. 275 — 277.
— 511 —
orgiastischen Ausschweifungen zusammen, von denen Fr. Th. Vischer
(a. a. O. II, 236) sagt: „Die Genüsse gaben jeden Taumel der Lust
frei und das Orgiastische der Orientalen war namentlich noch in den
Dionysien sichtbar."
Das, was wir „geschlechtliche Korruption" nennen, entstand in
Griechenland und Rom erst durch die Berührung mit fremden, be-
sonders orientalischen Völkern, am frühesten bei den kleinasiatischen
Griechen ^j, später dann in der hellenistischen Zeit und in Rom zu-
erst durch den Einfluss der griechischen Kolonien Italiens und dann
infolge des Zusammenflusses der Völker unter dem Imperium. Hier-
für gewährt z. B. das Vocabularium eroticum interessante Anhalts-
punkte -).
Wenn man von der furchtbaren geschlechtlichen „Korruption"
des kaiserlichen Rom spricht, so darf man nicht vergessen, dass das
ganze antike Geschlechtsleben sich in weit grösserer Oeffentlich-
keit abspielte als das moderne und dass die Naivetät der Aus-
schweifung den Begriff des Lasters, der Sünde immerhin weniger
aufkommen liess als heutzutage. Das werden wir im einzelnen noch
nachweisen.
Es ist jedenfalls eine eigentümUche Erscheinung, dass der antike
Mensch die leidenschaftlichsten Ausbrüche elementarer Sinnlichkeit
für weit weniger verhängnisvoll hielt hinsichtlich ihrer Wirkung auf
seine persönliche Tüchtigkeit und Menschenwürde, die 'xa^oxcLyaöia
oder virtus, als ein zu tiefes seelisches Erleben der Liebesleiden-
schaft. „Stets empfanden die Griechen", sagt Erwin Rohde, „eine
stürmisch übermächtige Gewalt der Liebe wie ein demütigendes Un-
heil, ein „Pathos" zwar, aber nicht ein heroisch aktives, sondern ein
1) Vergl. U. von Wilamowitz-Möllendorf , Aus Kydathen, Berlin 1880, S. 40.
2) Vgl. Fr. O. Weise, Die griechischen Wörter im Lateinischen, Leipzig 1882:
„Mit den asiatischen Sklaven hielt freilich auch die Unzucht und die Unsittichkeit in
potenziertester Gestalt ihren Einzug in Rom. War schon früher, wie dies bei einer Handels-
stadt nicht zu verwundern ist, mancher unlöbliche Brauch dort eingebürgert worden, und
z.B. die Mai tr essen Wirtschaft durch die ältesten griechischen Kolonien (oder gar
schon durch die Phönicier?) auf italischen Boden verpflanzt worden (vgl. pelex, paelex
= jiä?.Äa^), so hören wir jetzt von Ehebruch (moechus, moecha, moechisso, moechor,
moechimonium, moechias u. a.) [clinopale, embasicoetas, salaco u. a. sind meist dichterische,
nicht entlehnte Ausdrücke; vgl. aber masturbor] und Knabenschänderei (paedicare von
zä Jiaidixd Fick, Wörterbuch II, 153; moechocinaedus, vgl. pathicus, labda), und von un-
natürlichen Wollüstlingen (cinaedus, spatalocinaedus , lastaurus, priapus, vgl. spatula,
maltha) und Roues (asotus) und unter die Schar der Jünger der Aphrodite mischten sich
die Kastraten (eunuchus, spado, androgynus) und Zwitter (hermaphroditus, androgynus:
Lucr. 5, 836)."
— 512 —
rein passives^), das den sicheren Willen verwirrte, dem Verstände
das lenkende Steuer aus der Hand schlug, und den Metischen, wenn
es ihn in einen Abgrund leidenschaftlicher Verwirrung hinabriss,
nicht im Untergange erhob, wie die heroischen Frev^elthaten der
tragischen Helden, sondern ihn trübselig niederdrückte und ver-
nichtete" 2).
Gewiss hat es auch bei den Alten die ewigen Gefühle einer
leidenschaftlichen, romantisch individuellen Liebe zwischen Mann und
Weib gegeben, aber sie wurden teils durch Gesetz und Sitte unter-
drückt, teils auf die Knabenliebe abgelenkt, die bei den Griechen
wenigstens deutliche Kennzeichen einer solchen Individualisierung des
Liebesgefühles aufweist. Die alexandrinische Zeit freilich trug auch
in die heterosexuelle Liebe eine romantisch-sentimentale Empfindungs-
weise hinein. Erst der Hellenismus erzeugte den griechischen Liebes-
roman.
Das eigentliche eheliche Leben der Griechen und Römer ent-
behrte gänzlich der Romantik. Nach Finck^) waren es wesentlich
drei Ursachen, die das Gedeihen der romantischen Liebe in Griechen-
land verhinderten: die entwürdigende, unfreie Stellung des Weibes,
das Fehlen des unmittelbaren vorehelichen Liebeswerbens und die
Unmöglichkeit, eine persönliche Bevorzugung auszuüben, da die
Gattenwahl Sache der Eltern war.
Die antike Ehe^) wurde nicht aus Liebe, sondern nur wegen
der Erzeugung von Nachkommenschaft geschlossen, wie dies z. B.
S o r a n o s mit dürren Worten ausspricht ^). Ebenso spricht T a c i t u s
(Hist. I, c. 6) von ,, jenen echten Römern, die ohne Liebe heirateten
und ohne Feinheit und Hochachtung liebten" ^). Die Frauen führten
1) Leidenschaftliche Liebe heisst daher vöoog, vöotjjLia; vorzüglich bei Euripides:
z. B. Hippol. 477, 730, 764 ff., fr. 340; 4, 404.
2) Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer, 2. Aufl., Leipzig
1900, S. 29.
3) H. T. Finck, Romantische Liebe und persönliche Schönheit, 2. Aufl., Breslau
1894, Bd. I, S. 159.
4) Vgl. P'riedrich Jacobs, Vermischte Schriften, Leipzig 1830, Bd. 111, S. 233
bis 307; W. Wachsmuth, Allgemeine Culturgeschichte, Leipzig 1850, Bd. I, S. 199 bis
200; Ernst V. Lasaulx, Zur Geschichte und Philosophie der Ehe bei den Griechen. In
Abhandlungen der Kgl. bayr. Akademie der Wissenschaften, Bd. VII, Abth. I, München
1853, S. 23 — 128; van Limburg Brouwer, a. a. O. Bd. II, S. 80 — 173.
5) Vgl. H. Haeser, Lehrbuch der Geschichte der Medizin, 3. Aufl., Jena 1875,
Bd. I, S. 308.
6) Ein Beispiel hierfür liefert der alte Cato, dem die Ehefrau nur ein , .notwendiges
Uebel" und nur der Kinder wegen da war. Vgl. Mommsen, Römische Geschichte, 6. Aufl.,
Berlin 1874, Bd. I, S. 868.
— 513 —
innerhalb des Hauses ein abgeschlossenes unfreies Dasein, unterworfen
dem Willen des Mannes und ferngehalten von jeder Bethätigung am
öffentlichen Leben und von der Gesellschaft der Männer.
Dagegen hatten die Männer des klassischen Altertums in einem
weit ausgedehnterem Masse die Möglichkeit, ihre brutalen geschlecht-
lichen Instinkte zu befriedigen, sich sexuell auszuleben, als die moder-
nen Männer, da die Irradiation des geschlechtlichen Momentes in
alle Lebensverhältnisse eine bedeutend grössere und intensivere war
als heute. Der Betrachtung dieser Erscheinungsformen des Sexual-
triebes im öffentlichen Leben des Alterthums sei der folgende Para-
graph gewidmet ^).
§ 38. Die sexuellen Phänomene im öffentlichen Leben der Alten.
Der folgende kurze Ueberblick über die sexuellen Phänomene
im öffentlichen Leben der Alten gliedert sich naturgemäss in vier Ab-
schnitte: I. das Hervortreten dieser Erscheinungen im religiösen
Leben, 2. in Sitte und Brauch (einschliesslich der Volkssprache),
3. in der Literatur und 4. in der Kunst.
I. Der Zusammenhang der Religion mit dem Geschlechtsleben
als Urthatsache der Anthropologie ist von mir an anderer Stelle aus-
führlich behandelt und kritisch analysiert worden -). Es handelt sich
an dieser Stelle nur um den Nachweis der diesen Zusammenhang er-
weisenden Tatsachen im religiösen Leben des klassischen Altertums.
Die merkwürdigen Beziehungen zwischen Religion und Ge-
schlechtlichkeit treten uns nirgends deutlicher und sinnfälliger ent-
gegen als in den phallischen Kulten**), d. h. der Symbolisierung
der zeugenden Naturkräfte durch die Genitalien. Und nirgends wieder-
um bildet diese Vergöttlichung des Zeugungsaktes und der Zeug'ungs-
teile einen so hervortretenden Zug im religiös-sexuellen Leben wie
bei den Griechen und Römern. Das gilt von den ältesten und von
späteren Zeiten. Die Personifizierung und Verehrung des Phallus
i) Die niedrige Stellung der Frau bei den Griechen hat sich bis auf den heutigen
Tag erhalten. Vgl. Ferdinand Hueppe, Zur Rassen- und Sozialhygiene der Griechen im
Altertum und in der Gegenwart, Wiesbaden 1897, S. 52.
2) Iwan Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit, 4. — 6. Aufl., Berlin 1908, S. 104
bis 134.
3) Die ältere Litteratur darüber bei Rosenbaum, a. a. O. S. 64, Anmerk. 3; vgl.
ferner J. A. Dulaure, Des divinites generatrices ou du culte du phallus chez les Anciens et
Modernes. Reimprime sur l'edition de 1825, revue et augmentee, Paris 1885; Les Pria-
peia, Note de Lessing, Traduite de Failemand et augmentee de commentaires. Par
Philomneste Junior (= Gustave Brunet), Brüssel 1866; Otto Stoll, Das Ge-
schlechtsleben in der Völkerpsychologie, Leipzig 1908, S. 654 — 667.
— 514 —
oder Priapus als des schöpferischen Naturprinzips gab den Mittel-
punkt ab für die natürlich naive, prominente Rolle des Geschlecht-
lichen im Leben und Fühlen, Sitte and Brauch der antiken Völker.
Hier erschliesst sich das eigentliche Verständnis für den fundamen-
talen Unterschied zwischen antiker und moderner Kultur in Beziehung
auf die sog. „moralische" Auffassung sexueller Dinge.
Der Phallus als materielles Symbol der Zeugungskraft der Natur')
und der diese repräsentierenden Gottheiten, nämlich des Dionysos
(Bacchus), der Priapos, des Hermes (Herodot, Hist. II, 51), auch
des Herakles (Herkules)"-), spielte die Hauptrolle bei den diesen
Gottheiten geweihten Kulten, Mysterien, Volksfesten und Schau-
spielen, wobei er als Symbol des Gottes einhergetragen wurde unter
Absingung von „phallischen" obscönen und erotischen Liedern und
Vornahme geschlechtlicher Akte^) mit Freudenmädchen, Tänzerinnen
oder auch Knaben. In seiner Abhandlung über „Die Phlyakendar-
stellungen auf bemalten Vasen ^) bemerkt Heydemann:
,,Mit den Schauspielern der alten Komödie teilen die Phlyaken ausser den gleich-
gestalteten Masken auch den grossen Phallos (Aristoph. Wolken 734 mit Schol. Wolken
538), welcher aus Leder gemacht und roth bemalt vorgebunden wurde zu Ehren des
mächtigen zeugungsfrohen Dionysos : hiessen doch die Schauspieler davon in Sikyon : Phal-
lophoroi (Athen., p. 621 F., anderswo hiessen sie WvcpaXXoi, ib. 622 B.)".
Der Phallos wurde dabei auf zweierlei Arten getragen: entweder
herabhängend oder aufgerichtet, nach oben aufgebunden.
Es handelte sich um eine naive Verehrung der geschlechtlichen
Prinzipien und um eine ebenso naive sexuelle Bethätigung zu Ehren
der Zeugungsgottheiten 5), die oft in einen wahren Geschlechts-
rausch überging und dann freilich nicht selten ausschweifende und
i) So erscheint er auf der Darstellung einer griechischen Stele im Britischen Museum:
Eine Frau streut Samen auf ein Beet aus, aus welchem vier große Phalloi hervorspriessen.
Vgl. Paul Hartwig, Die griechischen Meisterschalen der Blütezeit des strengen rot-
figurigen Stiles, Berlin 1892, S. 346.
2) Vgl. Alexandre Colson, ,,Hercule phallophore dieu de la generation". In:
Annales du Musee Guimet, Paris 1882, Tome IV, p. 39 — 44.
3) Vgl- *^i6 ,,Acharner" des Aristophanes.
4) H. Heydemann, ,,Die Phlyakendarstellungen auf bemalten Vasen". In: Jahr-
buch des kaiserlich deutschen archäologischen Instituts, herausg. von Max Fränkel, Berlin
1887, Bd. I, S. 263 — 264.
5) Vergl. über diese ursprünglich natürlichen Grundlagen der phallischen Kulte die
zutreffenden Bemerkungen von Emile Begin, Lettres sur l'histoire medicale du Nord-Est
de la France, Metz 1840, S. 54, wo der Auffassung entgegengetreten wird, als ob nur eine
„korrumpierte Gesellschaft" den Priapus angebetet habe.
— 515 —
widernatürliche Formen annahm und sich in obcönen Reden ^), ona-
nistischen Proceduren und perversen Geschlechtsakten äusserte. Ueber
diese Dinge äussert sich Crusius^) folgendermassen:
„Leider unterliegt es keinem Zweifel, dass die hier vorausgesetzten Laster weite
Schichten des Volkes ergriffen und sich sogar, wie böse Parasiten, an gewissen ausschweifen-
den Scheinkulten festgesetzt hatten; wobei man nicht vergessen darf, dass bei den sog.
Naturvölkern und selbst in unserem Mittelalter ähnliche Erscheinungen nachweisbar sind
(Liebrecht, ,, Zur Volkskunde", S. 394 ff. u. ö.). Jetzt wissen wir auch, was die formatae
inguinibus res der orphischen Baubo waren, dieser Carricatur der 'Idfxßrj xsSvsidvTa (Agla-
oph. 818 ff., Abel Orph. fr. 215), und was die Landmännin des Kerdon, die mannstolle
Elegeis von Milet, getrieben haben mag, deren Namen man mit aaeXyaiveiv in Zusammen
hang brachte. In noch ekelhafterer Weise lässt bekanntlich Petron, ein Geistesverwandter
des Herondas, das scorteum fascinum von der Priapus-Priesterin anwenden (Satir. 138).
Dem Namen nach entspricht der ßavßcöv ziemlich genau dem mittelhochdeutschen .,wem-
plinc" (zu „wampe"), von dem Allerlei im Stile des Herondas bei Nithart zu lesen ist;
denn Hesych (s. v.) weiss, dass ßavßcö auch xoiXia bedeutet (c5?, JxaQ 'EfursSoxXsT), und
ßovßojv wird etymologisch identisch sein. Man sieht, Baubo war eine Eponyme ganz eigener
Art, die auf dem Thier zu reiten verdient, auf dem sie die Alten und Goethe reiten lassen''.
Wir werden noch weiter unten bei Betrachtung der künst-
lerischen Darstellungen sexuellen Charakters diese Thatsachen bestätigt
finden.
Eine Gottheit der Zeugungskraft, die gerade in der Geschichte
der venerischen Krankheiten eine literarische Rolle spielt, warPriapus,
dessen Symbol ein aufrecht stehendes, meist in übernatürlicher Grösse
dargestelltes männliches Glied war. Sein Kultus scheint ursprünglich
in der Gegend des Hellespont (besonders in Lampsacus) heimisch
gewesen zu sein, wie dies CatulP) bezeugt:
hunc lucum tibi dedico consecroque Priape,
qua domus tua Lampsacist quaque silva Priape.
nam te praecipue in suis urbibus colit ora
Hellespontia ceteris ostriosior oris.
Von hier kam der Priapuskult über Griechenland nach Italien,
wo er hauptsächlich als Schutzgottheit der Gärten und Acker ver-
ehrt wurde, als Schrecken der Diebe und Vögel, die „furum aviumque
maxima formido" des Horatius. Als Strafen für solche Versündi-
gungen gegen das Garten- und Feldeigentum werden vielfach sexuelle
1) Is quidem (= Jamblichus) loquitur de illis aio/QO?.oyiai? JiQog leQoTg quibus
non Cerealia solum et Dionysia sed etiam aliorum deorum sacra perstrepebant nee omnino
festi coetus carere videbantur". K. Lobeck, Aglaophamus sive de Theologiae Mysticae
Graecorum causis, Königsberg 1829, Bd. I, S. 689.
2) Otto Crusius, Untersuchungen zu den Mimiamben des Herondas, Leipzig 1892,
S. 128 — 130.
3) Q. Valerii Catulli Carmina rec. Lucianus Müller, Leipzig 1897, S. 73
(Fragm. 2).
- 516 -
Akte des Priapus angedroht, normaler und perv^erser Natur. Diese
eigentümliche Rolle des Priapus tritt uns besonders in den „Carmina
priapea" entgegen^), in denen uns das Symbol des Gottes in seinen
verschiedenen Bethätigungen vorgeführt wird. Gerade hier hätte es
nahe gelegen, als solche Strafe auch die Syphilis anzudrohen, falls sie
existiert hätte. Gerade in den priapischen Gedichten wäre eine
Schilderung der S3^philis am Platze gewesen. Wie wir sehen werden,
ist aber hier nichts davon zu finden.
Ausser dem Priapus hatten die Römer noch zahlreiche andere
männliche und weibliche Gottheiten, die mit dem menschlichen Ge-
schlechtsleben in Verbindung gebracht wurden. Sogar die speciellsten
geschlechtlichen Vorgänge hatten ihre bestimmten Gottheiten, wie aus
deren Namen hervorgeht, z. B. Dens Subigus („ut viro subigatur
virgo"), Dea Prema („ut subacta ne se commoveat prematur"), Dea
Pertunda („quae praesto est virginalem scrobem effodientibus maritis"),
Dea Perfica (Arnobius IV, 7). Ferner waren Pilumnus, Rumina
(Rumilia), Deverra, Cunina, Mena, Uterina, Fascinus u. a.
bei den geschlechtlichen Vorgängen des Weibes thätig-). Besondere
Erwähnung bedarf Mutunus Tutunus'^), der Gott der w^eiblichen
Empfängnis und männlichen Befruchtung, bei dessen Anrufung sich
die junge Frau auf ein „Fascinum" setzte, als welches sehr oft das-
jenige der Priapus-Statuen benutzt wurde (Arnobius IV, 7; Augustinus
VI, g: Priapus nimis masculus, super cuius immanissimum et turpis-
simum fascinum sedere nova nupta iubebatur more honestissimo et
religiosissimo matronarum). Er hatte eine Kapelle in Rom, in welcher
die Frauen verhüllt zu opfern pflegten.
In späterer Zeit bürgerten sich in Rom die Kulte dreier weib-
licher Sexualgottheiten ein, der hellenischen Aphrodite (Venus),
der ägyptischen Isis und der phrygischen Kybele.
Die Liebesgöttin Aphrodite*) ist nach neueren Untersuchungen
eine uralte autochthone griechische Gottheit und nicht orientalisch-
i) Priapeia sive Diversorum Poetarum in Priapum lusus aliaqiie incertoram auctorum
poemata emendata et explicata, 1781; Petronii Satirae et Liber Priapeorum. Tertium edidit
Franciscus Buecheler, Berlin 1895, S. 137 — 158 (Buch-Ausgabe); Carmina Priapeia.
In Nachdichtung von Alexander von Bernus mit einer kritischen Einführung von Adolf
Dannegger, Berlin und Leipzig 1905.
2) Näheres bei E. K. J. v. Siebold, Versuch einer Geschichte der Geburtshülfe,
Berlin 1839, Bd. I, S. 114 — 122.
3) Mutunus = fivTvog s. fivrzoiv = ro yvvatxsTov; Tutunus = Jiöa&rj, Jioadcov, äol.
116&&COV, latein. Puttunus und Thutunus.
4) Das Hauptwerk über sie ist die umfangreiche Abhandlung ,,Der Kult der Aphro-
dite" bei W. H. Engel, ,,Kypros, eine Monographie", Berlin 1841, Bd. II, S. 3 — 649.
— 517 —
semitischen Ursprungs, wie Pausanias (Descript. Graec., lib. I, 14)
und nach ihm viele andere Autoren berichteten. Nur in ihrer Be-
ziehung zu dem rein sinnlichen Geschlechtsleben und zur Prostitution
lässt sich ein späterer semitischer Einfluss nachweisen, der besonders
von dem Kult der phönizischen Astarte ausging.
L. V. Schröder bringt die „Aphrodite" in etymologischen Zu-
sammenhang mit den indischen „Apsaras". den durch „Leibesschön-
heit ausgezeichneten, stark aphrodisisch beanlagten, nymphenartigen
weiblichen Wesen, welche sich in dem Luftraum bewegen, in deut-
licher Beziehung zu den Wolkenwassern stehen und mit den priapisch
angelegten Gandharven verbunden oder vermählt sind".
Die 'AcpQoöm'] Ovgavia, die Himmelstochter, weist diese Beziehung
zum Luftraum auf. „Sie wallt durch den Aether und in den Meeres-
wogen", sagt Euripides von ihr im Hippolytos (v. 447):
cponä &äv ai&eg', ioxi d'iv d^alaooicp JiXvdcovi KvuQig.
Ursprünglich war sie die Göttin der himmlischen Wasser, die später
bei den Griechen zu irdischen Wassern geworden sind, aus denen sie
als die „Schaumgeborene" {äfpQoyevrig) emporstieg (Hesiod, Theogon.
195 ff.; Plato, Cratyl. 406 C; Apulejus, Metam. 4, 28).
Ursprünglich das Symbol der kosmischen Liebe und Anziehung
zwischen Himmel, Erde und Meer, wurde später Aphrodite die aus-
schliessliche Gottheit der irdischen geschlechtlichen Liebe und des
physischen Liebesgenusses, sowohl die A. Ovqavia als die A. IJdvdrjiuog.
Auch die Urania ist Göttin der Geschlechtslust und
wird so gut wie die Pandemos als Göttin der Prostitution
verehrt^).
„Der Liebesgenuss", sagt v. Schröder, „ist nach der griechi-
schen Anschauung geradezu das Gebot der Aphrodite-), und im Ein-
klang mit der Entwicklung der späteren Zeit wird ihr Bild immer
mehr dem der Hetären angeätinelt, wird Aphrodite geradezu Schutz-
göttin der Hetären 3).
Und nicht bloss die Hetären, sondern auch die gewöhnlichen
Lustdirnen und Hafenhuren verehren die Aphrodite als ihre Schutz-
göttin, daher auch A. Tlöovr] genannt, der zu Abydos ein Tempel
geweiht war (jioQvtjg de ' AqDQodkrjg kgöv eori nagä ' Aßvöi-jvoig, wg (pt]ot
— Vgl. ferner W. H. Röscher, Nektar und Ambrosia, Leipzig 1S83; Leopold v. Schröder,
Griechische Götter und Heroen. Heft i: Aphrodite, Eros und Hephästos, Berhn 1887.
i) Vgl. Preller, Griechische Mythologie, 3. Aufl., Bd. I, S. 277 — 278, 298.
2) Besonders charakteristisch ist die Stelle in den homerischen Hymnen (3, 156 — 158)
von der Verführung des Anchises zum Liebesgenuss durch Aphrodite.
3) V. Schröder, a. a. O., S. 23.
- 5IÖ -
ndfifpiXog. Athen. Deipnos. XIII, 572 e). Als Tempeldienerinnen,
Hierodulen , lagen die Mädchen in den der Aphrodite geweihten
Tempeln, wie auf Cypern (Herodot. i, 187; vgl. Engel, Kypros II,
143 ff.), in Korinth (Athen. XIII, 573 C; Strabo 8, 378) und anderen
Städten der Prostitution ob. Die feineren Hetären gaben oft Vor-
bilder für Aphroditen ab und empfingen diesen Namen als Beinamen,
z. B. die Lamia und Leaena. Man weihte ihnen sogar Tempel.
(Athen. VI, 253 a). Sie sassen Künstlern, wie Praxiteles und
Apelles, zu Aphrodite-Bildern.
Interessant für die rein sexuelle Auffassung der Aphrodite ist
auch ihre bildliche Darstellung in Verbindung mit phallischen Symbolen.
So erwähnt de la Chau eine Silbermedaille des zweiten Demetrius
und eine Bronzemedaille des Kaisers An tonin us, auf denen die
Aphrodite stehend in einem langen Rocke und von Priapen umgeben
dargestellt ist^). Auch die Beziehung der Aphrodite zum Dionysos^)
ist danach erklärlich. Als Frucht des Liebesverhältnisses zwischen
diesen beiden galt Priapos (Pausan. 9, 31, 2; Diod. 4, 6; Tibull. i,
4, 7). Auch zu anderen priapischen Dämonen, wie Konisalos,
Orthanes, Tychon hat Aphrodite Beziehung-^).
Früh schon kam der Kult der Aphrodite als Kult der Venus
nach Italien, auch hier wurden ihr zahlreiche Tempel errichtet, wo
die Liebesgöttin unter verschiedenen Beinamen (V. Cloacina, Ery-
cina, Victrix, Verticordia, Calva, Lutea) verehrt wurde^). Der
Aphrodite Pandemos und Hetaera der Griechen entspricht die „Venus
Vulgaris" der Römer, deren Beziehungen zur Prostitution Ovid
(Fast. IV) schildert:
Numina vulgaris Veneris celebrate, puellae,
Multa professorum quaestibus apta Venus;
Poscite thure dato, formam, populique favorem,
Poscite venditias, dignaque verba joco.
Auch die „Venus plebeia" des Martial (II, 53, 7) gehört hierher.
Als Symbol des rein Geschlechtlichen wurde der Name „Venus"
auch für den Coitus (Tibull. I, 9, 75 ff.) und geschlechtliche Genüsse
(Juven. XIII, 33 ff.), sowie für einzelne Geschlechtsteile gebraucht
(Mart. I, 91, 7 ff.).
Zur Zeit des zweiten punischen Krieges wurde durch eine be-
sondere Gesandtschaft der Kult der phrygischen Fruchtbarkeitsgöttin
i) Über die Attribute der Venus. Deutsche Ausgabe, Wien 1783, S. 15.
2) Vgl. darüber Engel, Kypros II, S. 206, 654 ff.
3) Vgl. V. Schröder, a. a. O., S. 79.
4) Rosenbaum, a. a. O., S. 64.
— 519 —
Kybele nach Rom herübergebracht (Liv. XXIX, loff.). Ihr Kult
war vorzugsweise ein päderastisch-homosexueller, weshalb wir ihn
weiter unten besprechen.
Eine dritte ausländische Sexualgöttin der Römer war die ägyp-
tische Isis, die schon unter Sulla verehrt, doch erst unter den
Triumvirn öffentliche Tempel erhielt (Dio Cassius 47, 15; 43, 2; Sueton,
Domit. 12), in denen große Unzucht getrieben wurde (Sueton. Domit. i,
Otho 12; Lampridius, Commodus 9, Sever. 26; Spartianus,
Caracalla 9; Ovid. art. amand. I. 27; Juvenal. VI, 488 ff.).
„Was in den sogenannten Isistempeln vorgegangen, entzieht sich aller menschlichen
Berechnung. Aufgrabungen in dem verschütteten Herkulanum und Pompeji beweisen, daß
ihre Fortschritte sich in die Provinz erstreckt. Jilit einer allmählichen, sanft vorschreitenden
Umstrickung durch die Bande der Sinnlichkeit fesselten diese geistlichen Herren ihre weib-
lichen Opfer fast unauflöslich an sich, und wenn eine Inschrift besagt, nur der Priester ist
ein Mann, der das Weib befriedigen kann, so überlasse ich es der Beurteilung der Leser,
was für eine Art von tierischem Magnetismus das gewesen, der auf den schwellenden
Polstern, bei schwelgerischer Blütenpracht, berauschenden AVohlgerüchen und mattem Lampen-
schein getrieben wurde. Die wissenschaftlichen Untersuchungen über diesen Gegenstand,
namentlich von dem berühmten Franzosen Gauthier, der alle Tempelheilungen des
Altertums anf Mesmerismus zurückführen wollte, haben zu keinem bestimmten Resultat ge-
führt, aber so viel ist gewiss, dass der grossartige Einfluss jener Priester auf die Geschlechts-
sphäre der Frauenzimmer ein nicht unbedeutendes Moment in der politischen Gestaltung der
Dinge abgegeben haben muss ')."
L. Preller (Römische Mythologie, 2. Aufl., von R. Köhler,
BerHn 1865, S. 728) spricht von einer „schändlichen Kuppelei der
ägyptischen Priester", da Isis als Heil- und Entbindungsgöttin vor-
züglich von Frauen und Mädchen und am meisten von den zahl-
reichen Libertinen gemischter Abkunft aufgesucht wurde, die damals
in dem galanten Rom eine grosse Rolle spielten. Daher die „Isiacae
sacraria lenae" des Juvenal (VI, 489). Dass auch päderastische Un-
zucht bei den Isisfeiern vorkam, beweist das anzügliche Wort des
Petronius (c. 140) über die „pygisiacra sacra"-).
Im Zusammenhange mit den Sexualkulten mag hier die inter-
essante Frage erörtert werden, ob auch bei der Verehrung der an-
tiken Sexualgottheiten die uns von anderen Gottheiten her bekannten
medizinischen Weihgeschenke (Donaria) üblich waren und ob aus
i) R. Finkenstein, Zur medizinischen Sittengeschichte des alten Roms, in: Deutsche
Klinik 1868, Nr. 37, S. 354.
2) So liest Otto Keller (Lateinische Volksetymologie und Verwandtes, Leipzig
1891, S. 32) das Wort „pigiciaca" in dem Satze: ,,Eumolpus", qui tarn frugi erat ut Uli
etiara ego puer viderer, non distulit puellam invitare ad pigiciaca sacra", während Buche 1er
(in s. Petron-Ausgabe, S. 107) hierfür das wenig überzeugende „physica" einseUen möchte.
— 520 —
ihrer Beschaffenheit vielleicht Schlüsse auf das Vorhandensein von
venerischen Krankheiten, speciell der Syphilis, gezogen werden können.
Es ist bekannt, dass die Römer aus dem altitalisch-etruskischen
Kulte den rehgiösen Brauch übernahmen, den Gottheiten Nachbil-
dungen menschlicher Eingeweide und Körperteile aus Bronze als
Weihgeschenke darzubringen. So wurden beim Ablassen des kleinen
Alpensees des Monte Falterone 1836 etwa 6 — 700 bronzene Eiguren,
sämtlich Weihgaben, entdeckt, darunter „deutliche Darstellungen von
Wesen, die an Krankheiten litten" (Brustwunde, Schwindsucht u. dgl.
m.) 1). Mit Recht erklärt C. Eriederichs ein Paar Augen aus
Bronze für das Weihgeschenk eines Augenkranken, da sich zahl-
reiche Marmorplatten mit zwei Augen und Weihinschriften darauf
erhalten haben 2). Homolle erwähnt Augen, Ohren, Brüste, Unter-
leib, Geschlechtsteile, Arme und Hände, Beine und Eüsse, die
man entweder in körperlicher Nachbildung oder als Reliefbild der
Heilgöttin als Dankesgabe für die Genesung von der den betreffen-
den Teil heimsuchenden Krankheit darbrachte. Ja, sogar das Haupt-
haar von Erauen wurde im Relief bild als Votivgeschenk in dem
Heiligtum der Gottheit niedergelegt^).
L. Stieda, dem wir eine vorzügliche Monographie*) über die
medizinischen Votivgaben verdanken, äussert sich über die Bedeutung
der Weihgaben folgendermassen :
„Körte meint, dass die einfachste Form der Weihgaben eine Nachbildung der ge-
heilten Glieder sei. Es ist gewiss möglich, dass alle jene Körperteile, die wir finden.
Arme, Hände, Füsse u. s. w., geheilte Glieder bedeuten sollen, aber wahrscheinlich ist es
nicht. Es ist das nicht in der menschlichen Natur begründet, dem Gotte für die stattge-
habte Heilung durch Darbringung eines gesundeten Körperteils, d. h. eines Geschenks,
zu danken. Dass die Kranken damals Bilder ihrer kranken Glieder darbrachten, unter-
liegt keinem Zweifel. Körte führt ein vortrefTliches Beispiel an, das kranke Bein mit der
„Krampfader" (Varicen). Jene Bilder, die Körte als „geheilte" Glieder ansieht, z. B.
Ohren, Augen u. s. w., sind gewiss Darstellungen solcher Personen, die an kranken Ohren
und Augen litten. Die betreffenden Personen kannten ihre Einzel-Leiden nicht, sie konnten
deshalb das Leiden selbst nicht darstellen; sie opferten ein Bild des entsprechenden Organs,
i) Vgl. G. Dennis, Die Städte und Begräbnisplätze Etruriens, Leipzig 1853.
2) K. Friederichs, Kleine Kunst und Industrie im Altertum oder Berlins antike
Bildwerke, Düsseldorf 187 1, Bd. II, S. 279—285.
3) Homolle, Artikel „Donarium" in: Dictionnaire des antiquites Grecques et Ro-
maines par Daremberg et Saglio, Paris 1892, Tome II, p. 375.
4) L. Stieda, Anatomisch-archäologische Studien. I. Ueber die ältesten bildlichen
Darstellungen der Leber. IL Anatomisches über altitalische Weihgeschenke (Donaria).
Mit 28 Abbildungen. S.-A. aus Bonnet-Merkels Anatomischen Heften, Bd. XV/XVI,
Wiesbaden 1901, gr. 8", IV, 131 Seiten.
um den Gott, der ihr Arzt war, an ihr Leiden zu erinnern — dann gingen sie gewiss nach
Hause. Der Kranke geht heute wie damals zum Arzte, der Geheilte nicht" ^).
Allerdings geht aus dem bekannten Gedichte 37 der Priapea
hervor, dass erst nach der Heilung die Votivgabe dargebracht wurde.
Dieses Gedicht ist auch ausschlaggebend für die Entscheidung der
wichtigen Frage, ob wirklich Nachbildungen der kranken oder nicht
vielmehr solche der gesunden Körperteile der Gottheit gestiftet wur-
den. Es lautet nämlich:
Cur pictum memori sit in tabella
membrum, quaeritis, unde procreamur?
cum penis mihi forte laesus esset
chirurgamque manum miser timerem,
dis me legitimis nimisque magnis,
ut Phoebo puta filioque Phoebi,
curatum dare raentulam verebar.
huic dixi: ,fer opem, Priape, parti,
cuius tu, pater ipse pars videris,
qua salva sine sectione facta
ponetur tibi picta, quam levaris,
compar, consimilisque, concolorque'
promisit fore mentidamque movit
pro nutu deus et rogata fecit.
(Carm. Priap. XXXVII ed. Buecheler.)
Hieraus geht hervor, dass, wie es auch heute noch in katho-
lischen Gegenden der Fall ist, erst nach der Heilung eine genaue
Abbildung des geheilten Körperteils als Votivgabe dargebracht
wurde, dass also diese nur für eine frühere Erkrankung des be-
treffenden Teiles spricht, keineswegs aber uns Aufschluss
giebt über die x\rt dieser Erkrankung oder gar diese
noch anzeigt.
Nachdem Stieda selbst seine Ansicht, dass die eigentümlich
gestalteten Donarien, die in den römischen Museen unter der Be-
zeichnung ,,Bubbone" (Erkrankungen der Leistendrüsen) aufbewahrt
werden, Darstellungen der „krankhaft veränderten Eichel" des Penis
seien (a. a. O., S. 105 — 166), nachträglich aufgegeben hat und sie
lieber als „erkrankte Brustwarze" deuten möchte (a. a. O., S. 131),
erübrigt es sich, auf die Frage einzugehen, welche Krankheiten
der Geschlechtsteile bei jenen Weihgeschenken der Geschlechtsorgane
in Betracht kamen. Die Thatsache, dass unter den Votivgaben sich
sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsorgane in grosser
Zahl befinden, beweist nur, dass Krankheiten oder Verletzungen
derselben vorkamen, weiter nichts. Es waren natürlich hauptsächlich
i) Stieda a. a. O., S. 65.
— 522 —
die Sexualgottheiten, wie Priapos (Carm. Priap. XXXVII), Lu-
cina ^), Isis (Tibull. I, 3, 27), denen die künstlichen Vulven und
Phallen dargebracht wurden.
Die Stelle in dem Carmen priapeum 37 „cum penis mihi forte
laesus esset" lässt sich nur auf eine schwere Erkrankung oder Ver-
letzung des Penis deuten. Welcher Art die ist, bleibt gänzlich dunkel.
2. Wie im religiösen Leben, so trat auch in Sitte und Brauch
der Alten, also im ganzen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens,
das sexuelle Element sehr stark und unverhüllt hervor.
Da sei zunächst hingewiesen auf die grosse Verbreitung der
sogen, „obscönen Gebärden" bei Griechen und Römern. Carl
Sittl, dem wir hauptsächlich folgen, sagt darüber in seinem vorzüg-
lichen Werke über die „Gebärden der Griechen und Römer" (Leip-
zig 1890):
,,Ein fast ebenso grosses Gebiet fügt die eigentümliche ]Moral des Altertums hinzu,
welcher das Obscöne nur lächerlich war; sogar unter den Philosophen huldigten, wie man
weiss, die Kyniker keiner besseren Ansicht. Wie konnte es auch anders sein, wo die
Dionysos- und Demeterfeste das Volk anreizten? Zu den zahlreichen (obscönen) Schimpf-
wörtern, welche die Lustspiele und die Wände Pompejis besonders leichlich liefern,
fehlen die entsprechenden Gebärden nicht."
Als „unzüchtiger Finger" par excellence galt der vorge-
streckte Mittelfinger der rechten Hand, der italienische „dito
impuro" -').
Sittl führt dafür (a. a. O., S. lOi ff.) die folgenden bezeichnenden Namen an:
fiarajivycov , Pollux 2, 18 und Phot. lex; fiardjivyog, Arrian. Epict. 3, 11; ocpäxBlog ,
Suid.; Schol. Plat. Tim. 84b; öaxxvXog; }^siJi6deQfxog , Gloss. Graecol.; digitus im-
pudicus, Priap. 56, i f.; Marlial. 6, 70, 5; Isid. orig. 11, l, 71; infamis, Pers. 2, 33;
famosus, Porphyr, sat. 2, 8, 26; verpus.
Das Zeigen des Mittelfingers galt ganz allgemein als Zeichen
der grössten Verachtung (Juven. 10, 53; Martial. 2, 28, 2; 6, 70, 5;
Schol. Pers. 2, 33). Bei Melampus (de palpitatione, p. 484, Franz)
heisst es: Adxrvlog 6 rgirog rrjg de^iäg yßiQog rjroi 6 fxeoog ßaoxaviag
di-jAoT xal Äoidooiag. Diogenes beschimpfte den Demosthenes, in-
dem er ihn einigen Bekannten mit dem Mittelfinger zeigte (Diog.
Laert. 6, 34). Besonders wurde der päderastische Pathicus und Ki-
naede so bezeichnet (daher das anzügliche xardjivyog). Er hiess da-
nach der xaTaday.Tv?ux6g, d. h. der, auf den man mit dem Finger zeigt
(Aristoph. Eq. 1381). Wenn also ein Grieche oder Römer den Mittel-
finger gegen jemand ausstreckte oder die Nase berührte (Hesych.
oxiv&aQiI^Eiv), schalt er ihn stillschweigend einen cinaedus oder pathicus.
1) O. Rossbach, Das Diana- Heiligthum in Nemi (Verhandl. der 40. Versammlung
deutscher Philologen in Görlitz 1889, Leipzig 1890, S. 149 — 164).
2) Auch der Zeigefinger wurde in diesem Sinne gebraucht.
— ö^ö —
Eine Interessante Darstellung dieser obscönen Gebärde findet sich auf einer Vase des
Museo Nazionale zu Neapel. Ein bärtiger nackter Mann, die Linke an die Stirn gelegt,
geht auf einen vor ihm hockenden nackten Mann zu, der die Rechte hoch erhebt und den
Zeigefinger derselben emporstreckt. ')
Eine andere unzüchtige Gebärde war die sogenannte „fica",
griechisch ovy.ov, die Feige-), das Hindurchstecken des Daumens
zwischen Mittel- und Zeigefinger, als Zeichen des Coitus. Gerhard
und Panofka beschreiben eine antike phallische Bronce von der
Form eines Arms, dessen Enden einerseits durch das männliche
Glied, andererseits durch eine geschlossene Hand mit dem Zeichen
der Fica gebildet werden ^).
Nicht selten kam auch direkter Exhibitionismus vor. So
heisst es in Theophrast's Characteren 1 1 : 'O de ßösXvoög Toiovrog olog
änavjrpaq yvvai^lv eXev&egaig dvaovQajLievog dei^ai rö aldölov. Bei Nicht-
bürgerinnen nahm man es also nicht so genau. C\'niker verübten
solche exhibitionistische Akte auf dem Markte (Lucian. Peregrin. 17),
die übrigens bei der Beschaffenheit des griechischen Chitons oft un-
freiwillig vorkamen.
Ausser dem stummen, aber vielsagenden Ausdrucke der obscönen
Geberden gab es im Altertum einen äusserst reichen obscönen
Wortschatz. Mit Recht bemerkt StolH), dass es kaum einen, auf
geschlechtliche Handlungen und Situationen oder auf die Geschlechts-
teile selbst bezüglichen bildlichen Ausdruck giebt, der nicht schon in
der erotischen Literatur des Altertums reichliche Belegstellen fände.
„Der geschlechtliche Verkehr", sagt Hübner, „in seinen natürlichen
Grenzen wie in seinen unnatürlichen Verirrungen, wird von Griechen
und Römern, wie von den südeuropäischen und manchen anderen
Nationen noch jetzt, ja bis in das sechzehnte Jahrhundert und weiter
herab auch bei uns, mit einer natürlichen Offenherzigkeit und Deut-
lichkeit behandelt, die unser Gefühl verletzen"^).
Das „Vocabularium eroticum" der Griechen und Römer
bietet ein bedeutendes Interesse als getreues Spiegelbild der ge-
i) Vgl. H. Heydemann, Die Vasensammlungen des Museo Nazionale zu Neapel,
Berlin 1872, S. 395 (Nr. 2835).
2) Vgl. Grimm, Wörterbuch, Leipzig 1862, Bd. III, Spalte 1444; C. J. Jage-
mann, Dizionario Italiano-Tedesco, Leipzig 1803, Bd. I, S. 459.
3) Neapels antike Bilderwerke. Beschrieben von E. Gerhard und Th. Panofka,
Stuttgart u. Tübingen 1828, Bd. I, S. 465.
4) Otto Stoll, Das Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie, Leipzig 1908,
S. 751-
5) E. Hübner, Martial. In: Deutsche Rundschau 1889, Bd. XV, S. 92.
Bloch, Der Ursprung der Sypliilis. o4
— 524 —
schlechtlichen Korruption und der geradezu unglaublichen naiven
Differenzierung der Geschlechtsgenüsse. Ohne Zweifel hatten die
Hellenen, hierin vergleichbar den modernen Franzosen, die reichste
sexuelle Terminologie, während die Römer hierin mehr Nachahmer
waren und viele Worte von ihnen übernommen haben. Nur weil
bisher ausschliesslich die lateinische Pornologie in besonderen Wörter-
büchern bearbeitet worden ist^), hat man diese Thatsache nicht ge-
nügend berücksichtigt. Hauptquelle für dieselbe ist das grosse Wörter-
buch des Hesychios in der Ausgabe von Moritz Schmidt-).
Es finden sich hier nicht weniger als 69 Ausdrücke für den
Coitus {ovvovoia) und die verschiedenen Stellungen und Mani-
pulationen dabei {oyj)fxaxa owovoiaotixa.) nebst den Ab-
w^eichungen von der Norm. Es seien (und auch bei den folgen-
den Rubriken) nur einige besonders interessante Beispiele genannt:
I. äxgaoiag (I, 1 04 j = avco^aAmg. naga to /nr] avyxExgäodai (Etym. Magn. 52, 4:
axQaala = XsyEjai de aal z6 fit] xara v6/novg owovoid^siv).
3. avaoEOVQf.ievr] (I, 182) ^^jy ovqo/lisvov ifidziov ijiaiQovaa, xal juSgog yvfivovaa
(Lobeck, Aglaoph. 826; Meineke Com. Gr. Frag. III, p. 118).
8. dvaoplSiv (I, 186) :;= ■^EiQoxQißsXv alboXov.
12. ' Aoxvävaooa (I, 308) = 'E^^svtjg 'd'sgdjiaiva. i'jrig jiqmti] i^evgsv 'A(pQo8iTt]V,
xai dtiöXaaza o^rifiaza.
15. ßaoayvxoQog (I, 361) = d ■&äaoov ovvovaiäCcov.
16. ßiäzai (I, 375) = yvvatxag ßiaQEzai.
18. ßgifit] (I, 399) = djZEiXr]. y.al yvvaiKEia dggt]zojioiia.
21. öianaQ'dEVEVEi (I, 494) = (p^sigei xögag.
22. diaoagxcöviafj,a (I, 498) = doeXysg zc axfjfia-
23. eyvco (II, 11) = wf^iiXrjOEV dvijQ Jigög yvraixa.
29. xagdg (II, 411) = d djioajiEg/j,aziofi6g.
30. xagiKov (II, 413) = EvzsXsg, fuxgSv. SrjÄoT ds xal d(pgo8io(ov axijfia alaygör.
xagixcß oxi^fiUTi = Xsyszai ds im ziov uxoXdazojv o/y^ia xagixöv (vgl.
Meineke, Philologus, Bd. XIII, S. 555).
33. XI XXI] (II, 481) = ovvovoia. r] djio zojv aldoiojv Svooo/nia.
34. xiooa (II, 486) = mi&vfxca. ogvsov. xal Ix^vg Jioiög. xal yvraixeiov
nd&og.
35. xvgrjVfj (II, 557) =^ Jiogvt] zig ovzcog ExaXETzo 8coÖ£xafirjxci.vog, diu zo zooavza
ox^fJ-OLza. 'A(pgo8iolo)v jioieTv.
37. xvaßoxogwvrj (II, 560) = vvfxqii].
39. xcoßj]X7] (II, 562) = ovvovoia.
1) Vgl. Pierrugues, Glossarium eroticum linguae latinae, Paris 1826; C. Ram-
bach, Thesaurus eroticus lingue latinae, Stuttgart 1833 (frecher Nachdruck von Pierrugues);
N. BJondeau, Dictionnaire erotique Latin-Fran^ais, Paris 1885. — Ferner die Werke
von Rosenbaum und Forberg.
2) Hesychii Alexandrini Lexicon rec. M. Schmidt. Jena 1857, T. IV, Index u. S. 88.
— 525 —
40. ?.saira sjil rvQoy.v7'jOTi8og (III, 19) = o/Jj/iia ovvovoiag dxöXaorov. Schol.
Arist. Lysistr. 231; Phol. 211, 11.
42. May Q IT 7] g (III, 71) = fiojgog rig, ij fitj sidcog fit^iv yvvaixög, xav ym'i] jiqo-
TQSjTtjtai avzov. Arist. Poet. 4; Nicom. Eth. VI, 7.
43. ixi^ig (III, iii) = xoirr], ovvovoia.
50. oQd-oaradöv (III, 219) = x6 ogßor oKpQodiatd^stv.
53. jiegiJiQcoHTiiöoa (III, 318) = TOvcpsQsvofihn} im tfj nvyfj.
57. axivöagog (IV, 45) ^ »; ijraraoTaaig vvxxog d(pQo8iaiojv evsxa.
58. oivcon:iaat (IV, 32) =^ zovro jis.-[oi7]zai :^aQd ri/v ExaiQav HiviÖttijv. ixco/iicp-
SsTro yoLQ eni tw doxi]HOveiv.
60. OHvla^ (IV, 52) = oxfjfia dtpQodioiaxöv, wg xo xü>v (foivixi^övxwv.
62. 01.10X0080VV flV, 57) = x6 axtjfiaxi^eod'ai xdg yvvaTxag.
Für die verschiedenen erotischen Temperamente und Dis-
positionen führt Hesychios unter der Rubrik „y.aTaffeoeTg Jigog
ä(pQodioia" 52 Ausdrücke. Unter ihnen seien folgende hervorgehoben:
dxo?.aoia (I, 100) = dxQaaia. 1) elg xd d(pQo8iaia xaxa(pEQ£ia.
rjXov (II, 275) = Xdyvov.
OoQog (II, 320) = ßdxTjg, dq?Qo8iaiaaxi'jg. dysla, t) i'xxoioig xov ajiEQfiaTog.
xdnoaira (II, 409) = tj xaxacpsQtjg, d-To rcDr xäjtQOiv.
13. xaxajivyoaivt] (II, 432) = i)8ov)j /iisydhj.
14. xiQOJv (II, 486) = d8v%'axog jiQog ovvovoiav. xal al8oiov ßkdßtj. xal dn-
E{o)xo?J.v/.i/.iEvog. xal xvgicog fihv o adxvgog, xal ivxexafiEvog, 6 yvvaixiag, xal
fxr) SvväfiEvog yQija^ai.
21. kdoxai (III, 16) = TiÖQvai.
22. XdoxavQOi (ib.) = oi tieoI xov o^Qov 8aoETg, xal tiÖqvoi xivkg övxEg.
23. ÄsaßidCEiv (III, 27) = jiQog äv8Qa oxouaxEvsiv.
27. fiiotjxtjv (III, 112) = xi]v xaxarpEQi] Uyovoiv fuarjztjv. fiia7jxac Ss yvvaixsg
oXioßoioi yotjaorrai.
32. olcfi 6 ).7]g (III, 191) = o 1X7] kyxQaxrjg, dlld xaxatpegijg jigog yvvaixa.
35. Sa/.aßaxyw (IV, 5) = szÖQVtjg ovo/iia, dsio 8e xavxTjg xal zag xax(ocpEQETg sig
xd 'A(fQo8ioia ovxcog tlsyov ' Axzixoi.
42. i'YQÖg (IV, 192) = 6 EvxazarfEQtjg Eig 7'j8ovdg.
Die verschiedenen Arten der Küsse wurden mit besonderen
Namen belegt. Hesychios führt lo verschiedene Namen an, darunter
z. B.:
1. xaxayXcoxxi^Eiv (II, 421) = xd sQWxixd xal ^EQiEQya (pi)J]i.iaza.
2. xaz aylvTizöv = si8og (piXrjfjiatog.
3. d)'£/<(yj'?7 (I, 193) =^ q)iX7]/iia.
7. xaßEtozov (II, 386) = El8og rpOJjfiaxog.
9. axifißaa/iiög (IV, 45) = (pdrjfiazog Ei8og.
10. OXQEJIXOV (IV, 84) = (piX7]fld XI JIOIÖV.
Sehr zahlreich (56) sind die das gesamte Prostitutionswesen
{jieQi 'Eraioojv xal IIoqvmv) und die Kuppelei {negi MaoTQonwv)
betreffenden Namen (10):
34*
- 526 -
2. dvÖQOfiavtjg (I, 189) := L-ri/isfiiivvTa rovg drögäoiv.
5. dji6(/?aQaig (I, 262) = t) haiga, wg 'HyTjoavÖQog.
7. yscpvQig (I, 427) = stÖQVt] rig im ye(pvQag, log 'HQaxkscov.
8. daf^iovgyoi {1, 458) = ai TiÖQvai.
SrjixirjV (I, 481) = uiÖQvrjv. kvtiqioi.
II. dgo/Lidg (I, 537) = ^ haiga.
13. i'jrtTraöTa? (II, 163) = haiQag s:;i(X)vvfiov.
18. xaaaXßdg (II, 418) = Ttögv^].
19. xaaavga (II, 418) = xaocoQig. ^ögvrj.
xaoavQEioig = ol'y.oig, k<p (bv ai haigai sxa&e^ovro.
22. ;ifaro/i;A£<aTO« (II, 425) = iv Kogirdoj haigai rirsg.
23. xsQafJ,£iH6g (II, 465) = röjiog ' Aß-r'jvrjoiv , ev&a 01 jiöqvol TTQosazr'jxsoav.
£101 8e 8vo xEgafisixot, o fisv k'^co rsixovg, o 8s ivrog.
25. xEXQafiai (II, 472) = S180S noQVsiag.
28. XOIVEIOV (II, 503) = JIOQVEIOV.
31. X CO /.toi (II, 564) = doElyrj ao/nam TTOQvixd.
32. Xvjirä (III, 56), lupa = sraiga, jtoQVt].
33. Xüjydg (III, 59) = TTÖQVi].
34. fiaxQvXeiov (III, 76) = xönog töjv jioqtevovzwt, rovreari jioqveTov, 6'jtov 01
fiaoTQOJToi, tjroi /navliozai, biEiQißov.
36. fiaxXd8a (III, 77) = jiÖqvyjv.
(.idxXrjg = jiÖQVog.
fiax^ig = JioQvrj.
fxdxXog = jioQvog.
fiaxXoovrrj = r] jieqI tu dcfQoSiaia cooeI xaracpEQEia, dxoXaoia, TiOQVEia.
39. droßdzt8£g (III, 209) = ai im fioixsia aXovoai yvvaTxsg xai i^EVEX&£ioai
im OV03V.
41. TzaQO^vvxai (III, 287) = oi zQE<p6/iisvoi vjio zöJv iraiQÖJv wg uv 81) igaazai.
43. jTwXog (III, 416) = kzaiQü. jicöXovg yaQvavzdg MXEyov, oTov 'A<pQo8iztjg.
44. SaXaßaxxfü (IV, 5) = jiögrt]? ovo/ia. dno 8e zavzt]g xul zug xazcoq)EQ£Tg
Elg %d 'A(fQo8iola ovzoog sXsyov Azzixoi.
47. 2!iv8vg (IV, 31) = »/ 2xvßia xal t) jiöqvij.
49. oxa[A,/id8Eg (IV, 38) = jzögvai.
50. ojto8r]GiXavQa (IV, 67) = »y zag 68ovg rgißovaa, 1} iv zaTg 68oTg ZQißo/iEvr].
51. azazrj (IV, 71) = nÖQVf].
ozQazrj = ■jz6qv7], prostibulum.
52. oTEyTziv (IV, 73) = ^^'' ji6qv>]v.
53. ovyxoizdXiov (IV, 91) = ovyxoizov.
ovyxoiziov = izaiga ovyxoif.ir}d£io(j]) (xiadoi/ia.
54. 2'^/*"'^^'^'? (IV, 272) = jzoQVT) äSo^og.
55. ;^a^i£ra<ptV (IV, 273) ^ ?; sioQvt].
56. noQVOXOTiog (IV, 362) ^ EzaiQOXQOipog, JioQvog.
4. 8Qd^o)v (I, 534) = jioQvoßooxog.
5. xdgßig (II, 411) = fiaozQOJzog.
6. XOQLV&ld'QElV (II, 517) ^ fiaOXQOJZEVElV, haiQEVElV.
7. /laoxQOJzög (III, 75) = 8ioxQOJzog. jzavovQyog. djiaxEcöv 6 t«? yv%'aTxag y
av8Qag JiQooxaXMV xal fxavXi^wv, i) TtQoaycoyog.
8. TiQOJiaiooi (III, 383) = jTßoaj'ajj'o?, [A.aoxQon6g.
— 527 —
9- TtQoiiaXyaTEVEiv (IIT, 381) = fisTazoojievsiv, uaaToojieveiv.
10. :T(>oayo)y6g (III, 372) = diödaxaXog y.axöiv, xal /naazQOJiög.
Höchst interessant sind die Synonyme für die Päderastie und
das Kinädentum, deren grosse Zahl (74 Ausdrücke!) bezeichnend
ist für die Verbreitung- und Bedeutung' der Männer- und Knabenliebe
bei den Griechen. Die Namen und Epitheta geben uns wichtige
Aufschlüsse über die mannigfaltigen homosexuellen Beziehungen und
Praktiken. Folgende seien aus der langen Reihe besonders hervor-
gehoben :
1. Xaxojvi^eiv (III, 9) = jTaiSi'oig XQ^^^'^'- h'g^- liierzu Nr. 2 u. 25].
2. Aaxoivixov zoojiov = xo uEQaivEiv xal jimdEgaazETr, z6 TiagEy^Eiv kavzag
zoTg ^Evoig. fjxioza yctg <pvldzrovoi Ädxw^'Eg zag yvvaixag.
4. ßaödg {I, 350) = xiraidog. wg 'Afisgiag.
5. BdzaXog (I, 364) = y.azoucvycov xal dvÖQÖyvvog. xt'raidog. sxXvzog.
6. Afjfiog xaXög (I, 482): UvoddinTZOvg viog f]v ovzog Afjfiog 6vo/xa xal zi)v
djgav xdlXiozog. k'ßog 8e j)v zoTg sgaazaig ijiiygdqiEcv Jiavzaxov zd zcöv Jiaidcov
ovd^iaza.
11. xaza.-Tvyov (II, 432) = xiraiSov ijyovr dosXyovg.
12. xEvxavooi (II, 463) = Tiaidsgaazai.
15. xiraiSog (II, 484) = do£?.y7jg, Jiogvog.
XIV 8a = TzoQvixtj doytjiiioavv)].
xivfjdog ^= doEXyrjg.
21. xgijza zqojtov (II, 534) = z6 xaiöixoTg XQijoOai.
22. xvjidzai (II, 556) = xiraidoi, /.laXaxoi.
25. xvaoXdxojv (II, 560) = 'AgiazaQxög (jprjoi zov Kl{E)iviav ovzco XsyEodni zcö
xvaqj XaxMvi'Corza. z6 8e zoTg jiaiSixoTg XQi'joaoOai XaxwviC^i-v eXsyov.
28. xcoXaßol (II, 563) = Xdozavgoi.
29. Xaijtog (III, 6) =^ xivaidog XMOzavQog.
31. XaoLzög (III, 15) = xivaidog. 1) XEOizög = jiÖQVtj.
32. Xrjxäadai (III, 33) = :iEoaivEodai.
33. Maoixav (111,72) = xivaiöov. 01 ds vjioxÖQia/iia Jiaidi'ov ciggsrog ßaqßanixov.
34. %>avvaQig (III, 139) = xivaidog.
35. vsßXdgai (III, 144) = nEQalvEiv.
36. 68dya (III, 178) = xaza:Tvyon'. TaoavzTvoi.
37. 7iao/t]zia (III, 291) = rj atayoäg ijSovijg ijzzäzai^).
38. jzaiSoTiiJiag (III, 255) = dooEvoßdz7]g, dv8Qoßnzrjg.
39. jiaoiozaoßai (III, 286) = rö dojid^Eiv zovg jiai8ag.
41. oiozvid^Eiv [jiovvidCEiv^ (III, 366) = rö jiai8ixoTg XQiiodai. Jiözviov ydg zov
8axzvX(i)ov Xeyovai.
43. oaxxivoavxoi (IV, 4) = 8aavjiQcoxzoi.
44. OKjpvid^Etv (IV, 36) = xazaSaxzvXi^Eiv. 8taߣßXrjvzai yaQ 01 Züfvioi. log
7iai8ixoig yocofisj'oi. aicpvidoai ovv z6 oxif^iaXlöai ").
oxifiayiaai (IV, 45) = xaza8axzvXiaai.
i) Vgl. zu dem Worte :zaoyj]Tidco und :^aay)jziaoß6g die Bemerkungen bei J.
Rosenbaum, Geschichte der Lustseuche u. s. w., S. 177, Anm. 2.
2) Vgl. hierzu Rosenbaum a. a. O., S. 130 — 131.
- 5-'8 -
45. ovxäCfi (IV, 92) = To y.riQFir h> xaig egonoiaig nfiiXiaig.
46. ofplyxtai (IV, 115) = Ol xivaiöoi, xal djiaXoi'^).
49. TavQog (IV, 133) = älXoi de rov JiaideQaoTtjv. xal zu yvvaixsiov.
47. Ti/iidva^ (IV, 157) = o TZQCoxrög.
48. Tirdv (IV, 160) = jiaidegaazijg.
50. ^akx iSiCsiv (IV, 270) == UTio iwv xai' Evßoinr '/^alHibicov. rißsim de xal
EJil tcöv jtai8sQaorovvro)v, Insl inXsö^'aQov naq" avTOig 01 Jiatdixol egoneg"^).
51. yjwQog (IV, 316) = naidsQaatrjg.
52. 8i£za{C)QiatQiai (I, 510) = yvvaixsg ai zezga/.i/Lisvai sigog zag izaigag im
ovvovoia, (hg 01 ärdgsg. olov zgißädsg^).
Unter den Rubriken „Alia ad rem veneream pertinentia" (21)
und ixotioi (19) werden verschiedenartige sexuelle Bethätigungen
und Perversionen zusammengefasst. Darunter seien hervorgehoben:
2. ßXi^iä'Qeiv (I, 381) = tÖ zizOoXaßsTv.
3. yvcozi^ (I, 439) = dÖEkcprj. r] ioco/ii^'ij.
5. ivd-i'icov (II, 99) = EQOiZlxÖv.
17. oiazQog (III, 190) = dcpgodioioiv jivQcooig, Exxavoig.
3. daXioy^eiv (I, 457) = ^ö jiaiSl ovreTvai. ' AfiJTQaxionai. ziv'tg öe z6 fj.oi/Evetv.
dalio}(6g (I, 457) :^ [xoiyßg.
4. drjfiöxoivog (I, 482) =^ 8i]/x6aiog ßaaaviazrjg. Jiogvog.
5. 'E^rjXEOzog (II, 124) = rjzaigrjxwg. od'EV xal zovg jiQOJXzovg 6f.io)VVfio}g
'E^tjxBOzovg sXeyov.
6. EjiaXXaxEVEZo (II, 134) ^ JiaX(X)axfj Eyqrjzo.
7. eniJieiQsi (II, 163) = fiot^EVEzat, rj j^ioiyevEi.
8. xaXEÖg (II, 397) = fMoiyog.
9. xor'tJioÖEg (II, 5'3) = vjtod/j^iaza /loi/ixd.
10. Äaxidöai (III, 8) = Örj/iiog zfjg ^ÄTZixiig, Qaq^avt^ag q^sgcov, ov ejiißoiövzai
xazd zöjv fwiyöJv.
Tl. ixoiyozvjzrj (III, 116) = rj vjio fiorytov zvjizofisi'tj.
12. fioiydygia (III, II 6) = zd zfjg fioiysiag dygEV/naza.
13. /Liv^Xög (III, 134) = oxoXiog, oyEinr'jg, Xäyvrjg, /.loiyög, dxgazrjg.
14. oixoip^oQovg (III, 185) = fxoixovg.
15- gaqyavidw&rjvai (III, 423) = zovg fwiyovg zaig gacpavioiv fj?Mvvov xazd zfjg
i'dgag.
16. oxsgoXiyyEg (IV, 42) = Xaixaazai. rj wniozai. in annotatione: „Is. Vossius,
qui vertit „cunnilingi".
axEgög = atdoioXEixzrjg.
17. zEv&ai (IV, 141) = AojJTOf^t'zat. /loiyoi.
18. rplXiTiJioi (IV, 244) = fioiyoL
19. zoysga (IV, 162) = /.loiydg.
i) Vgl. hierzu Rosenbaum a. a. O., S. 122.
2) Ibidem, S. 130.
3) Ibidem, S. 158.
— 529 —
Die Griechen lassen sich in Beziehung auf die Reichhaltigkeit
der erotischen und obscönen Terminologie und den naiven Gebrauch
derselben im gewöhnlichen Leben am meisten mit den Franzosen des
15. bis 17. Jahrhunderts vergleichen. Auch die späteren Hellenen
unterscheiden sich in dieser Beziehung von den gleichzeitigen Römern,
bei denen eine merkwürdige Verschleierung erotischer Dinge durch
Convenienz und sittliche Heuchelei zu konstatieren ist, während bei
den auch später noch unbefangenen und aufrichtigen Griechen eine
fast unbeschränkte Freiheit in dem Gebrauche der obscönen Aus-
drücke fortbestand.
Die altrömische Sprache allerdings ist in Beziehung auf Derb-
heit und drastische Charakteristik der obscönen Dinge der griechi-
schen bedeutend überlegen. „Keine Schriftsprache", sagt Paldamus,
„ist so reich an Wörtern zur Bezeichnung der crudesten physischen
Geschlechts -Beziehungen, als die ältere römische. Beweise davon
sind die alten Glossarien, namentlich Nonius und Festus. Ich meine
damit nämlich Wörter in ihnen wie scraptae, scrupedae u. a. bei
Ersterem, ancunulentae, bubinare, intercutitus, strutheus und die viel-
fachen Synonyme von stuprare bei dem Letzteren. Wörter, welche
alle, einer geistreichen, anmutigen Frivolität ermangelnd , nur den
Charakter einer dumpfen Sinnlichkeit an sich tragen" i).
Obscöne Dinge mit nackten Worten nennen, hiess deshalb be-
zeichnender Weise „latine loqui"''^).
In späterer Zeit allerdings trat an die Stelle der derben, aber
offenen und ehrlichen Pornologie eine verlogene Prüderie, die nicht
nur diese Dinge nicht mehr beim richtigen Namen nannte, sondern
auch in den harmlosesten Worten und Wortspielen etwas Unreines
witterte, nach dem alten Worte: Castis omnia casta, incestis multa
incesta.
Fr. Ritter hat in einer interessanten Abhandlung^) diese der
späteren Zeit der verfeinerten Kultur angehörige Thatsache in an-
sprechender Weise zu erklären versucht. Ein Teil seiner Ausfüh-
rungen sei hier wiedergegeben.
„So hört deijenige, welcher in sinnlicher Lust seine angenehmste Befriedigung findet,
zwar nicht ungern von den Gegenständen derselben sprechen, fühlt sich indessen in eine
i) Hermann Paldamus, Römische Erotik, Greifswald 1833. S. 19.
2) C. Rambach, Thesaurus eroticus linguae latinae, Stuttgart 1833, S. 167.
3) Fr. Ritter, Übertriebene Scheu der Römer vor gewissen Ausdrücken und
Wortverbindungen. lu: Rhein. Museum für Philologie. Alte Folge, Bd. III, Bonn 1835,
s. 569-580-
— 530 —
unbehaglicbe Stimmung versetzt, wenn diese durch eine einfache Bezeichnung die Würde,
welche sie in seinen Augen besitzen, verlieren und in ihrer Nacktheit aufgedeckt werden.
Dagegen verschafft ihm jede Unterhaltung und Darstellung, welche seinen Sinnen 'schlüpfrige
Bilder unter einer reizenden und dunklen Hülle vorführt, einen grossen Genuss, weil dadurch
den Objekten seiner Begierde eine höhere Bedeutung beigelegt wird . . . Ein Volk, dessen
Sitten noch unverdorben geblieben und dessen Bildung noch nicht in Verbildung ausgeartet
ist, spricht gewöhnlich unbefangen oder doch nur mit einer massigen Scheu die Namen der-
jenigen Dinge aus, welche den Menschen an sein sinnliches Dasein und das thierische Element
seines Wesens am meisten zu erinnern geeignet sind: ist aber Üppigkeit oder eine unnatürliche
Verfeinerung an die Stelle der alten Einfachheit und Kräftigkeit getreten, so wird die Rede-
freiheit in dieser Beziehung einer konventionellen Censur unterworfen. Dabei bleibt man
indessen nicht stehen; man geht noch einen Schritt weiter, und leiht einer Anzahl von
Ausdrücken eine ihnen früher ganz fremde obscöne Bedeutung, und diese werden alsdann
gerade so wie die eben genannten geächtet, weil man den Schein des Auslands und der
Sittlichkeit gern noch beibehält, wenn man das Wesen derselben schon aufgegeben hat.
In dieser falschen Scham steigt man endlich noch eine Stufe höher, und ächtet solche Wort-
Verbindungen, wodurch die Erinnerung an ein schmutziges Wort durch einen ähnlichen
Klang hervorgemfen werden hönnte."
Was nun die erste Art der für die spätere Zeit so charakte-
ristischen falschen Scham betrifft, nämlich die übertriebene Scheu,
die Namen der geheimen Teile auszusprechen, so hat Cicero (De
officiis, I, 35, 126) dies gewissermassen durch das Vorbild der Natur zu
erklären versucht, die diese Teile selbst mehr ins Verborgene ge-
rückt habe^). Noch interessanter und für unser Thema bedeutungs-
voller sind die Aeusserungen des Cornelius Celsus, die als merk-
würdiger Beleg dafür dienen können, daß selbst in rein wissen-
schaftlichen und sogar in medizinischen Büchern die Benennungen
der Geschlechtsteile als obscön galten.
Die denkwürdige Stelle bei Celsus (De medicine, Lib. VT,
cap. 18, I, „De obscoenarum partium vitiis") lautet:
„Proxima sunt ea, quae ad partes obscoenas pertinent. Quarum
apud Graecos vocabula et tolerabilius se habent, et accepta jam usu
sunt, cum in omni fere medicorum volumine atque sermone jactentur;
apud nos foediora verba, ne consuetudine quidem aliqua verecundius
loquentium commendata sunt: ut difficilior haec explanatio sit, simul
i) Principio, corporis nostri magnam natura ipsa videtur habuisse rationem: quae
formam nostram reliquamque figuram, in qua esset species honesta, eam posuit in promtu:
quae partes autem corporis, ad naturae necessitatem datae, adspectum essent deformem ha-
biturae atque tuq:)em, eas contexit atque abdidit. Hanc naturae tam diligentem fabricam
imilata est hominum verecundia. Quae enim natura occultavit, eadem onmes qui sana mente
sunt, removent ab oculis: ipsique necessitat, dant bperam, ut quam occultissime pareant:
quarumque partium corporis usus sunt necessarii, eas neque partes, neque earum usus suis
nominibus appeilant: quodque facere turpe non est, modo occulte; id dicere obscoenum est.
— 53' —
et pudorem, et artis praecepta servantibus. Neque tarnen ea res a
scribendo deterrere me debuit. Primum, ut omnia, quae salutaria ac-
cepi, comprehenderem: dein, quia in vulgus eorum curatio etiam prae-
cipue cognoscenda est, quae invitissimus quisque alteri ostendit."
Interessant ist auch hier der von Celsus hervorgehobene
Gegensatz zwischen der offenen, freien, ungezwungenen Redeweise
der griechischen Aerzte und Laien und der die Naturalia verschleiern-
den Prüderie und Heuchelei der Römer, die sogar die freie wissen-
schaftliche Forschung beeinflusst und beeinträchtigt hat. Allerdings
muss man in letzterer Beziehung vorsichtig urteilen. Denn Celsus
war kein Arzt, sondern ein universell gebildeter Laie^), dessen An-
sichten über diesen Punkt vielleicht besonders deutlich aus seiner laien-
haften konventionellen Auffassung des Geschlechtlichen entspringen.
Uebrigens hat neuerdings Sepp-) die seltsam rückständigen An-
schauungen des Celsus daraus abgeleitet, dass er der Schule der
pyrrhoneischen Skepsis angehörte, deren ngaoDjg und sTtox/] sich mit
solchen Dingen nicht vertrugen, und die Skeptiker sowohl die direkte
Aussprache aller auf die Genitalien bezüglichen Dinge scheuten als
auch die Behandlung dieser Krankheiten. Dieser spezifische Stand-
punkt kommt besonders in den Schlussworten des oben wieder-
gegebenen Ausspruches zum Ausdruck. Er darf gewiss nicht ver-
allgemeinert werden, wie dies Rosenbaum 3) gethan hat, der daraus
die kühne Schlussfolgerung zog, dass die antiken Aerzte nur sehr
selten Gelegenheit zur Behandlung von venerischen Leiden gehabt
hätten, weil diese falsche Schamhaftigkeit die Patienten ferngehalten
habe.
Diese irrige Annahme weist schon Dietrich in seiner Be-
sprechung des Rosenbaum'schen Buches (Neue medizinisch-chirur-
gische Zeitung, herausg. von J. N. Ehrhart, Innsbruck 1840, Bd. III,
S. 250) zurück. Sehr treffend meint er: „Selbst gesetzt, aber nicht
zugegeben , jene seien vermöge der vom Verfasser angeführten
Gründe der Beobachtung und Behandlang der Aerzte entzogen ge-
wesen, müssen wir nicht vergessen, dass Aerzte auch Menschen sind,
Leidenschaften wie Schwächen und Laster mit diesen teilen. Und
i) Vgl. Iwan Bloch, Artikel ,, Celsus" in Neuburger-Pagel, Handbuch der
Geschichte der Medizin, Jena 1902, Bd. I, S. 417.
2) Sepp, Pyrrhoneische Studien, Freising 1893, S. 19. — Dieser Schule war sogar
das Wort ,,hemia" ein nomen indecorum (Celsus VII, 18). — Vgl. über die Prüderie des
Celsus auch Quintilian, Inst. Or. VIII, 3, 47.
3) Rosenbaum a. a. O., S. 398 ff.
— 532 —
sollten da keine Selbstbeobachtungen beim Unterliegen dieser Krank-
heit, und infolge dessen auch Schilderungen des Uebels zum Besten
der leidenden Menschheit hervorgetreten sein?"
Auch die Frage ist am Platze, ob denn jene angebliche Scham-
haftigkeit grösser gewesen sei als die heftigen Schmerzen lokaler
venerischer Leiden, wie des Trippers und Schankers, die ganz von
selbst den Patienten zum Arzte treiben mussten. Das bezeugt ja
schliesslich auch Celsus selbst durch die von ihm gegebene inte-
ressante Beschreibung dieser örtlichen Genitalleiden, auf die wir
später zurückkommen ^).
Die römischen Dichter nahmen jedenfalls in dem Gebrauche
der sogenannten freien Ausdrücke einen anderen Standpunkt ein als
jene wissenschaftlichen Autoren vom Schlage des Celsus. Bei
Horatius, CatuUus, Martialis finden wir Ausdrücke wie „mentula",
„penis", „cunnus" etc. frank und frei, sans gene gebraucht. Nach
Ritter waren diese Männer durch eine g'riechische Bildung über
die römische Convenienz erhoben worden. Das Studium der lateini-
schen erotischen Terminologie beweist diesen griechischen Einfluss,
wie dasjenige der Inschriften und der sogen. Mauerpornographie,
z. B. von Pompeji die weite Verbreitung obscöner Ausdrücke auch
im Volke bestätigt und die Versicherung des Carmen Priapeum XXIX
Obscenis, peream, Priape, si non
uti me pudet improbisque verbis
ist nur cum grano salis zu nehmen.
Freilich trieb die den Römern eigene Prüderie — in dieser
Beziehung sind sie die Engländer des Altertums — seltsame Blüten.
So wurden gewisse Worte verpönt, weil sie bei älteren Autoren in
irgend einem erotischen Zusammenhange vorgekommen waren. Z. B.
ductare oder patrare, weil bei PI au tu s oder Terentius der Aus-
druck ductare meretricem oder amicam in der Bedeutung von con-
cumbere vorkommt. Darüber äussert sich Quintilian (Instit. Or. VIII,
3, 44) folgendermassen:
Sed quoniam vitia prius demonstrare aggressi sumus, vel hoc vitium sit, quod
y.ay.EjKpaJor' vocatur; sive mala consuetudine in obscoenum intellectum sermo detortus est,
ut „ductare exercitus" et „patrare bellum" apud Sallustium dicta sancte et anlique videntur
a nobis (quam culpam non scribentium quidera iudico sed legentium, tarnen vitanda, qua-
tenus verba, et vincentibus etlam vitiis cedendum est); sive iunctura deformiter sonat.
i) Vgl. auch die kritischen Bemerkungen von F. A. Simon, Kritische Geschichte etc.
der Syphilis etc., Hamburg 1857, Bd. I, S. 242.
Das Wort „patrare" bezeichnet schon Cicero (De officiis I, 35)
als ein von der Convenienz geächtetes. Es bezeichnet auch ticuöo-
jioisTv, abgeleitet von pater. Deshalb sagt Cicero an der erwähnten
Stelle: liberis dare operam re honestum est, nomine obscoenum.
Ebenso erinnerten sich die Römer bei dem Zahlwort „bini" an
das obscöne griechische ßivel Deshalb sprach ein Urbanus dieses
Wort nicht aus (Cicero ad Famil. IX, 22).
Das Allerschlimmste aber war die Scheu der Römer vor obscönen
— Lauten! So wurde die Wortverbindung „cum nobis" ängstlich
vermieden, da sie „cunnobis" ausgesprochen wird und dies an „cun-
nus" erinnert hätte. Deshalb sagte man statt dessen ,,nobiscum".
(Vgl. Cicero, Orator c. 45, § 154, ad Famil. IX, 22; Ouintilianus
VIII, 3, 45.) Ueber das Wort „penis" bemerkt Cicero (ad Famil.
IX, 22): „Hodie penis est in obscoenis. At vero Piso ille Frugi in
Annalibus suis queritur adolescentes peni deditos esse. Quod tu in
epistola appellas suo nomine, ille tectius penem".
Wenn man zur Zeit des Cicero ein obscönes Wort gebrauchen
wollte, sagte man entschuldigend: sit venia verbo, bonos auribus sit
(unser „mit Respekt zu melden"). Das hiess „honorem praefari" ^}.
Daher nennt Quintilianus (VIII, 3, 45) obscöne Ausdrücke und
Wort- Verbindungen „praefanda" (griechisch y.axejLKparov).
Reichhaltiges Material für den vulgären Gebrauch obscöner
Ausdrücke liefern die pompej an i sehen Wandinschriften 2), von
denen wir ein sehr drastisches anführen wollen:
Hie ego nu[nc fjutui.
formosa(m) fo[r]ma puella(m),
Laudata(m) a multis, set lutus intus erat.
(Garrucci A No. 2.)
Die Unsitte dieser obscönen Inschriften^), auf deren speziellen
Inhalt wir noch öfter zurückkommen werden, wird auch im Carmen
Priapeum XLIX erwähnt:
i) ,,Si dicimus „ille patrem strangulavit", honorem non praefaniur. Sin de Aurelia
aliquid aut LoUia, honos praefandus est. (Cicero ad Famil. IX, 22.)
2) Vgl. F. Buche 1er, Die pompejanischen AVandinschriften (Rhein. Museum für
Philologie, N. F., Bd. XII, Frankfurt a. IM. 1857, S. 241 — 260); Raphael Garrucci,
Inscriptions gravees au trait sur les murs de Pompei, Brüssel 1854 (besonders Anhang,
Tafel A).
3) Vgl. über diese auch den Index zu Zange meister. Corpus Inscriptionum Lati-
nanun, Berlin 1871, Bd. IV.
— 534 —
Tu, quicunque vides circa tectoria nostra
non nimium casti caimina plena ioci.
versibus obscenis offendi desine: non est
mentula subducti nostra supercilii.
Dem Exhibitionismus in Gebärde, Wort und Schrift entsprach
derjenige durch die Kleidung und den Körper. Die durchsich-
tigen Gewänder, die die intimsten Reize in halber Verhüllung nur
um so lockender zeigten und vielleicht auf ägyptischen Ursprung
zurückzuführen sind^), wurden besonders in der hellenistischen Epoche
und in der römischen Kaiserzeit allgemeine Volkstracht. Musseline
und chinesische Seide wurden für diese durchsichtigen Zeuge haupt-
sächlich verwendet und nicht nur von Frauen, sondern auch von
weichlichen Männern getragen ''^). Solche Kleider waren natürlich
namentlich bei den Hetären beliebt. Von den Flötenspielerinnen,
welche bei der Hochzeit des Makedoniers Karanos auftraten, sagt
Hippolochos (Athen. IV, p. i2gA), dass sie ihm völlig nackt
erschienen seien, bis einige der Gäste ihn belehrten, dass sie Chitonen
trügen. Dass auch anständige Frauen solche tricotartige, durchsich-
tige Gewänder trugen, beweist eine Aeusserung des Theokrit
(Idyll. XXII [XXVIII], lo), wo es von der Spindel, die er der
Gattin seines Freundes Nikias schenkt, heisst:
avv zq ji6)J.a fiev F'gy exzeXeosig dvdoetotg TiEJiXoig,
nöU.a d'ola yvvaiy.sg (joosoia' {'ddrira [durchsichtige] ßQaxrf.
„Eine Reihe von Thatsachen aus dem Leben", sagt Helbig^),
„bezeugt, wie die Griechen seit der Mitte des vierten Jahrhunderts
vor Christo in der emanzipiertesten Weise der Lust an der weib-
lichen Nacktheit huldigten. Bei dem Feste von Eleusis entkleidete
sich Phryne und stieg unter dem Jubel der Versammelten zum
Bade in den Fluss hinab (Athen. XIII, p. 590 F). Hypereides soll
dieselbe Hetäre bei einem Prozesse vor der Verurteilung gerettet
haben, indem er ihren Chiton zerriss und die Richter durch den
Anblick ihres Busens verwirrte (Stelle bei Becker, Charikles II •^,
S. 55). Dem Anaxarchos, dem Schmeichler Alexanders des Grossen,
wartete ein schönes Mädchen, vollständig nackt, als Mundschenkin
i) Vgl. J. G. Wilkinson, Manners and customs of the Ancient Egyptians, Lon-
don 1837, Bd. II, S. 333.
2) Ludwig Friedländer, Darstelhmgen aus der Sittengeschichte Roms, 6. Aufl.,
Leipzig 1890, Bd. III, S. 68.
3) Wolfgang Heibig, Untersuchungen über die campanische Wandmalerei, Leipzig
1873, S. 262.
— 535 —
auf (Klearchos von Soloi bei Athen. XII, p. 548 B). Während
eines Gastmahles, welches König Antigonos Gonatas zu Ehren
einer arkadischen Gesandtschaft gab, zeigten thessalische Tänzerinnen,
nur mit einem Gurte bekleidet, ihre Künste (Athen. XIII, p. 607 C).
Bei der Hochzeit des Makedoniers Karanos, die wir aus der Be-
schreibung eines Augenzeugen, des Hippolochos, kennen, traten
nackte Gauklerinnen auf, welche mit blanken Schwertern gefährliche
Kunststücke anstellten und Feuer spieen (Athen. IV, p. 120D). Die
späteren Vasenbilder, auf welchen Gauklerinnen dieser Art, ganz
nackt oder nur mit einem Schurze oder mit einer durchsichtigen
Hose bekleidet, öfters vorkommen (Archäol. Zeitung 1850, Taf. 21;
O. Jahn, Arch. Beitr., S. 332), bezeugen, dass solche Schaustellungen
in der hellenistischen Epoche allgemein beliebt und verbreitet waren.
Bekannt ist endlich, wie die damaligen Hetären die reflektierte Ent-
blössung in ein System gebracht hatten (Alexis bei Athen. XIII,
p. 568)".
Die Vasenmalerei der alexandrinischen Zeit sowie besonders die
bildhchen Darstellungen auf den späteren etruskischen Spiegeln und
den praenestiner Cisten schwelgen in der möglichst raffinierten Dar-
stellung der weiblichen Nacktheit, für die auch im Leben die Hetären,
Gauklerinnen und Flötenspielerinnen die meisten Vorbilder lieferten.
In Rom waren die berüchtigten, nichts verhüllenden kölschen Flor-
kleider hauptsächlich eine Tracht der Prostituierten i).
3. Was die Erscheinung des sexuellen Elementes in der Litte-
ratur betrifft, so kann man — trotz der Existenz raffinierter Lehr-
bücher der Ars amandi bei den Indern — die Griechen als die
eigentlichen Schöpfer der sogen, „erotischen" Literatur und der Porno-
graphie im engeren Sinne bezeichnen. Darin wurden sie die Vor-
bilder der Römer, des Mittelalters und der Neuzeit, deren bekannteste
Produkte auf diesem Gebiete überall Anklänge an die griechisch-
römische Erotik verraten. Es ist klar, dass diese Literatur bei den
Alten ganz anders beurteilt werden muss als bei den Neueren, da
sie bei jenen aus einer viel naiveren und freieren Auffassung des
Geschlechtlichen entsprang und selbst raffinierte Perversitäten ihnen
in anderem Lichte erschienen als später, wo der durch das Christen-
thum scharf betonte Dualismus von Körper und Seele das rein Ge-
schlechtliche als minderwertig und sündhaft stigmatisiert hatte. Mit
Recht bemerkt Friedländer 2), dass die damaligen völlig von den
1) Horat. Sat. I, 2, loi vgl. Friedländer a. a. O., I, 489.
2) a. a. O., I, 481.
— 536 —
unsrigen verschiedenen Anstandsbegriffe ehrbaren Frauen Vieles un-
bedenklich erscheinen liessen, was heute jedes weibliche Schamgefühl
empören würde. Es ist sogar in dieser Beziehung charakteristisch
für die antike Erotik, dass unter den überlieferten Namen v^on Porno-
graphen mehrere weibliche sich befinden, ganz abgesehen von der
fabelhaften Astyanassa, der Magd der Helena, die nach Suidas
zuerst über die Figurae Veneris geschrieben h^lben soll ').
Als eigentlicher Schöpfer der nach ihm genannten „sotadischen"
Literatur gilt Sotades aus Maronea, ein Zeitgenosse des Ptole-
maios Philadelphos (Athen. XIV, p. 620). Er führte den Beinamen
xivaidoXoyog fj ImviKoloyog, da er der Hauptrepräsentant der lasciven
Possenreisserpoesie in ionischen Versen war. Nach Christ 2) knüpfte
diese Kinädenpoesie zunächst an die Trinklieder des loniers Pyther-
mos und die unzüchtigen Tänze der alten lonier (motus ionici) an,
die wie auch später noch zu Petrons Zeit (Petron. c. 23) von ge-
meinen, unflätigen Possenreissern {xivaidoi) auf öffentlichen Plätzen
oder bei Weingelagen zur Belustigung des Volkes und der Zech-
genossen aufgeführt wurden. Die sotadische Poesie war ursprünglich
als ein diese obscönen Tänze begleitender (jesang gedacht. Schon
vor Sotades hatten Alexander Aetolus, Pyres von Milet,
Alexis und andere solche Lieder gedichtet (Athen. XIV, p. 620 c).
Die Darstellungen erotischer Scenen in diesen Tänzen veranlasste
dann wohl die verschiedenen litterarischen Produkte über die sogen.
Figurae Veneris, die Stellungen beim Coitus. So wird der Philänis
von Samos ein Buch jisgl noiKiXaiv oyi]fA,uxa>v acpQodioicov zugeschrieben
(Priap. LXIII, 17; Lukian. pseudol. c. 24), das aber nach Aeschrion
(Athen. VIII, 335 c) den athenischen Sophisten Polykrates zum
Verfasser haben soll. Nicht bestritten wird die Autorschaft der
Elephantis, die verschiedene Bücher über die Figurae Veneris und
die Liebeskunst schrieb, an deren üppigen Darstellungen sich u. a.
der Kaiser Tiberius (Sueton. Tiberius c. 43) ergötzte, der sein Schlaf-
zimmer mit diese vSchilderungen illustrierenden lasciven Bildern aus-
schmücken liess. Auch im vierten Carmen Priapeum ist von der-
artigen schamlosen Zeichnungen aus den Büchern der Elephantis die
Rede, die Lalage dem Priapos mit der Bitte um Nachprüfung dar-
i) Citat aus Suidas bei Antonii Panormitae Hermaphroditus cd. F. C. Forberg,
Koburg 1824, S. 207.
2) Wilhelm Christ, Geschichte der griechischen Litteratur bis auf die Zeit Justi-
nians, Nürdlingen 1889, S. 413.
— 537 —
bringt, ob sie als eine gelehrige Schülerin alle diese abgemalten
Varianten des Coitus getreulich nachmachen könne. Auf diese
Schilderungen beziehen sich auch Ovid's Worte (de arte amator.
II, 680):
. . . Venerem iungunt per mille figuras,
Inveniat plures nulla tabella modos.
vSuidas erwähnt das „diodexäreivov jteqI tojv aioxQ&v ox'>]fio.Tcov" eines
gewissen Paxamos und die mit dem Beinamen AwÖEKafirixavog aus-
gezeichnete Hetäre Kyrene, weil sie den Beischlaf in zwölf erlei
Weisen vollzog (cf. Aristoph. Ranae 1326 — 1328, Thesmophor. g8).
In der hellenistischen Zeit blühte auch die I.itteratur der Knaben-
liebe, wofür die melancholischen "Egcorsg f) xaXoi des Phanokles und
die lüsternen Epigramme des Rhianos ein Beispiel sind^). Diese
homosexuelle Dichtung wird auch in einem bekannten Epigramm des
Martial (XII, 95) gekennzeichnet, wo von derartigen Büchern des
Musaeus die Rede ist:
Musaei pathicissimos libellos,
Qui certant Sybariticis libellis.
Et tinctas sale pruriente Chartas
Instanti lege Rufe; sed puella
Sit tecum tua, ne talassionem
Indicas manibus libidinosis
Et fias sine femina maritus.
Eine andere erotische Spezialgattung war die Hetärenlitte-
ratur, als deren Vertreter Athenaios (XIII, c. 21, p. 567 u. 583)
den Aristophanes, Apollodoros, Ammonios, Antiphanes und
Gorgias nennt. Diese Bücher scheinen nach den Aeusserungen des
Kynulkos bei Athenaios nähere Angaben über die Reize und Be-
sonderheiten berühmter Hetären enthalten zu haben, da sie in Ver-
bindung mit Kupplern genannt werden. Sie gehören zur Gattung
der pornographischen Litteratur, wie an der erwähnten Stelle aus-
drücklich hervorgehoben wird. Das berühmte Werk des Kallistra-
tos TZEQi haigcov (Athen. XIII, p. 591) war besonders hervorragend
durch seine Wahrheitsliebe, während Machon (Athen. XIII, p. 578
bis 583) ein rein anekdotisches Werk über die bekanntesten Hetären
herausgab. Als „Hetärendramen" erwähnt Athenaios (XIII,
p. 567 c) die „Thalatta" des Diokles, die „Korianno" des Phere-
krates, die „Anteia" des Eunikos oder Philyllios, die , Thais"
I) Vgl. Heibig a. a. O., S. 249.
- 538 -
und ,,Phanion" des Men ander, die „Opora" des Alexis und die
„Klepsydra" des Eubulos,
Das berühmteste Werk der hellenischen Hetären litteratur sind
des Lukianos realistische 'EraiQixol diäXoyoi, in denen die Künste
und Schliche der Buhlerinnen höchst anschaulich geschildert werden^).
Als besondere Gattung der griechischen Erotik seien noch die
egcoriyMi ejiioTolai erwähnt. Solche verfassten Lesbonax, Philo-
stratos, Zonaios, Melesermos, Alkiphron und Aristainetos.
Früh hat sich auch bei den Römern die erotische Litteratur
entwickelt. Aufzählungen erotischer Dichter und Schriftsteller finden
sich bei Gellius (Noct. att. XIX, g, 7; 9, 10), Plinius (Ep. V, 3, 5),
Ovid (Trist. II, 413 ff.). Es scheint auch sehr früh schon eine ero-
tische Anthologie veranstaltet worden zu sein, woraus jene Autoren
ihre speziellen Kenntnisse auf diesem Gebiete schöpften ^). Nur einige
bedeutendere Namen der römischen Erotiker sollen hier angeführt
werden.
Von verschiedenen Autoren wird ein sechs Bücher umfassendes
erotisches Werk des Laevius „Erotopaegnion libri" erwähnt^), als
Hauptvertreter der derb erotischen atellanischen Volksprosa gelten
Novius und Lucius Pomponius, deren Scenen ebenso wie einzelne
Stücke des Plautus zum Teil im Bordell und bei Kupplern spielen
und „zahlreiche Obscönitäten und sonstigen Schmutz" enthalten*), als
Uebersetzer der lasciven Erzählungen ,,Milesiaca" des Aristides der
Pornograph Sisenna (Ovid. Trist. II, 443). Die Blüteperiode der
römischen Erotik beginnt mit der augusteischen Epoche. Auf diese
Zeit geht die Sammlung obscöner Gedichte zurück, zu denen der
custos hortorum, Priapus, Anlass gab: das sogen. „Corpus Pria-
peorum". Ueber dieses äussert sich Paldamus^): „Die poetische
Auffassung des Pöbelhaften und Gemeinen, welche wurzelnd in den
Fescenninen, weiter ausgebildet in den Priapeen, ihren Culminations-
punkt im Petronius erreicht. In der Zeit wie im Geiste stehen die
Verfasser der unter dem Namen „Priapeen" bekannten Gedichte, so
weit sie echt sind, der Blüte des römischen Staates zunächst. Ihre
Berüchtigtheit verdanken sie dem schrankenlosen, überkecken Mut-
1) Vielleicht bezieht sich auch der Ausdruck „Didymae puellae" bei Martial XII,
43 auf ein Hetärenbuch mit Anweisungen zur ars amatoria.
2) Vgl. W. S. Teuf fei, Geschichte der römischen Litteratur, Leipzig 1875, S- 4^-
3) Ibid. S. 241 — 243.
4) Ibid. S. 244.
5) H. Paldamus, Römische Erotik, Greifswald 1833, S. 84.
— ■ 539 —
willen und der dem Altertum überhaupt eigenen und hier besonders
schroff hervortretenden Unbefangenheit, mit welcher nicht bloss sinn-
liche, sondern auch rein physische Dinge geschildert werden." Die
Autoren der priapischen Gedichte sind unbekannt, nur Priap. III
stammt zweifellos von Ovid (Seneca contr. I, 2, 22) und Priap.
LXXXII und LXXXIII von Tibull (ed. Bücheier S. 155). Vielleicht
sind hier auch Ticidas und Memmius zu nennen, von denen Ovid
(Trist. II, 433) sagt: quid referam Ticidae, quid Memmi Carmen, apud
quos rebus abest nomen nominibusque pudor?, ferner Catullus, den
Propertius (III, 32, 87) und Ovid (Trist. II, 427) den „lascivus Ca-
tullus" nennen. Die Berechtigung dieses Epithetons geht aus den
uns erhaltenen obscönen Gedichten hervor.
Ovid selbst hat in seiner berühmten „Ars amatoria" die ge-
samte antike Liebeskunst in ein System gebracht, das auf rein sinn-
licher Basis aufgebaut ist, wie er es selbst erklärt (Trist. II, 303).
,,Wir erblicken in ihr", sagt Pa Idamus, ,,was tausend Menschen der Zeiten Lud-
wigs XIV. und der Regentschaft als Einzelheiten und zur Charakterisienmg von Individuen
erzählen, in ein System, eine Theorie mit Abstraktion von allen Persönlichkeiten gebracht.
Er ist der erste und einzige römische Dichter, welchem sich die Liebe ganz theoretisch und
objektiv darstellte, und sein Einfluss auf alle Zeiten ist daher, wie der des IMacchiavell, un-
berechenbar gewesen. Und zwar stellte er eine Liebe dar, welche, erwachsen und wurzelnd
auf sinnlichen und materiellen Interessen geleitet ward vom Verstände und nur flüchtige
Buhlschaft ist. Denn eine gesunde, allmählich reifende Gefühlsentwickelung hatten die
Römer nie gekannt"^).
Aehnhche Bedeutung wie Ovids Ars amatoria haben für die
Kenntnis des römischen Liebeslebens die satirischen Darstellungen,
wie sie in den Werken eines Petronius, Juvenalis und Martialis
uns erhalten sind und für die Kaiserzeit ungefähr die Stelle der
älteren Fescenninen, Mimen und Atellanen einnehmen, was die Kritik
der allgemeinen Korruption und der Laster einzelner Personen be-
trifft. Petronius „gefällt sich im Schmutze, aber er weiss, dass es
Schmutz ist, und bewegt sich frei und leicht darin" (Paldamus).
Sein satirischer Roman schildert in grellen Farben die sittliche Ver-
kommenheit der neronischen Zeit. Nur die berüchtigte sechste
Satire des Juvenalis erreicht ihn an furchtbarer Gegenständlichkeit
der Schilderung des Lasters und an Realismus. Eine vielleicht noch
reichere Quelle für das Studium der sexuellen Korruption und der
Psychopathia sexuaHs in der Kaiserzeit bilden die Epigramme des
Martialis in 14 Büchern. Martial selbst nennt als seinen Vor-
gänger den Domitius Marsus, einen Zeitgenossen des Horaz, und
weist auf die gleiche lasciva verborum veritas hin (Lib. I praef.).
i) Paldamus a. a. O. S. 73-
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. "^^
— 540 —
Als poetischen Schilderer üppiger Figurae Veneris nennt Mar-
tial ferner den Sabellus, dessen Pornographie er in dem folgenden
Epigramme (XII, 43) näher charakterisiert:
Facundos mihi de libidinosis
Legisti nimium, Sabelle, versus,
Quales nee Didymae sciunt puellae
Nee molles Elephantidos libelli.
Sunt illic Veneris novae figurae,
Quales perditus audeat fututor,
Praestent et taceant quid exoleti.
Quo symplegmate quinque copulentur
Qua plures teneantur a catena,
Extinctam liceat quid ad lucernam.
Tanti non erat, esse te disertum.
Auch die Kaiser Tiberius (Plin. Epp. V, 3, 5) und Hadrian
(Apulej. Apol. c. II, p. 410 ed. Oudendorp) werden als Verfasser
lasciver Gedichte genannt, und aus späterer Zeit sind Maximianus^)
und Ausonius, der Verfasser des „cento nuptialis", als Verfasser
erotischer Poesien zu erwähnen.
Interessant sind Aeusserungen des Martialis über die drastische
Wirkung obscöner Lektüre (XII, 95) und die Vorliebe der Frauen
für solche (III, 68). Der Arzt Theodorus Priscianus empfahl in
seinen Res Medicae (lib. II, c. XI, p. 22 C der ed. Argentorat.
1532 fol.) sogar die Lektüre erotischer Bücher zur Heilung der männ-
lichen Impotenz.
4. Wie die Litteratur, so wurde auch die bildende Kunst bei
den Alten im weitesten Umfange in den Dienst des sexuellen Genuss-
lebens gezogen. Die Massenhaftigkeit der antiken künstlerischen
Produktion machte sich auch auf erotischem Gebiete geltend.
„Das idassische Altertum", sagt Eduard Fuchs-), „ist für die Geschichte der ero-
tischen Kunst schon deshalb ein unerschöpfliches Gebiet, weil hier infolge verschiedener
Umstände das gesamte Kunstschaffen geradezu eine ununterbrochene Beweiskette für das
Gesetz, dass Kunst Sinnlichkeit ist, darstellt ... Es giebt kaum eine andere Epoche, aus
der uns ein ähnlich reichhaltiges Material an ausgesprochen erotischen künstlerischen Dar-
stellungen zur Verfügung steht. Nirgends so wie beim Altertume häuft sich heute noch in
ähnlicher Unerschöpflichkeit das Material von Tag zu Tag. Wo der Spaten ansetzt, fördert
er auch auf diesem Gebiete neue Belegstücke zutage, ganz gleich, ob man in Aegypten, in
Griechenland oder in Italien den alten Schutt wegräumt, um die grosse Vergangenheit aus-
zuschachten. Aus diesem Grunde findet sich auch heute selbst in jeder grösseren Privat-
sammlung eine Reihe von beachtenswerten Werken: Broncen, Terrakotten, Münzen, Gem-
men, Fresken, Marmorskulpturen u. s. w., insgesamt ein unerschöpflicher Reichtum an ver-
i) Paldamus a. a. O. S. 88—89.
2) Eduard Fuchs, Geschichte der erotischen Kunst, Berlin 1908, S. 80-
S. 143— 151.
— 541 —
bluffenden Motiven und künstlerisch starker Gestaltungskraft. Nach den erotischen Schöpfungen
der Alten sucht man aber auch in öffentlichen Sammlungen nicht vergeblich. Manche be-
sitzen sogar umfangreiche und besondere Abteilungen oder Schränke dafür, wie das Museo
nazionale in Neapel und das Vatikanische Museum in Rom . . .
Im Rahmen eines solchen Bildes (des römischen Genusslebens) wäre das Fehlen direkt
erotischer Darstellungen schon deshalb undenkbar, weil die bildliche und figürliche Vor-
führung wollüstiger Scenen sich immer als ein wirkungsvolles Stimulansmittel erwiesen hat;
im Dienste der Verführung sowohl, wie um die erotischen Freuden zu erhöhen. Man hat
dieses Mittel darum auch im Rom jener Zeit in starkem Maasse genützt. Und zwar offen
vor aller Welt imd sozusagen in demonstrativster Weise. Anders kann man z. B. die An-
bringung grosser erotischer Freskogemälde nicht nennen. Besonders die Wände der Speise-
säle zierten häufig solche Fresken ... In den Häusern der Hetären, von denen der vor-
nehmsten bis herab zu denen der Winkelhuren, waren die Wände ebenfalls häufig mit
stark gepfefferten erotischen Bildern geschmückt. Den Beweis dafür liefert die Strasse der
Lupanare in Pompeji. In den dort befindlichen Dirnenwohnungen hat man bei den Aus-
grabungen eine ganze Reihe gut erhaltener erotischer Wandgemälde aufgefunden. Speziell
über den Lagern, die ehedem als Betten dienten, fand man solche Bilder. „Praktische Ein-
führungen in die Technik der Liebe" könnte man die hier aufgefundenen Darstellungen be-
zeichnen . . .
Dass die Herstellung direkt erotischer Kunstwerke im klassischen Altertum ein über-
aus blühendes Gewerbe gewesen ist und niemals blosse Gelegenheitsarbeit für einige wenige
raffinierte Liebhaber, das beweist u. a. auch die grosse Zahl erotischer Mosaiken, die man
im Laufe der Jahre aufgefunden hat. In Neapel wird eine erotische Mosaik aufbewahrt,
die nicht weniger als etwa 4 Quadratmeter umfasst. In ziemlich grossen schwarzen und
weissen Würfeln ausgeführt, stellt sie Liebesspiele auf dem Nil dar. In drei Kähnen hul-
digen ebensoviel Liebespaare den intimsten Freuden der Wollust. Dasselbe Motiv, nur in
kleinerem Massstabe, wurde in Pompeji auch noch als Freskogemälde aufgefunden . . .
Waren die Wände der Lusthäuser reicher Römer und reicher Hetären mit zum Teil
äusserst kostbaren erotischen Freskogemälden geschmückt und in die Fussböden ebensolche
Mosaiken eingelassen, so standen auf den Säulen und Kapitalen, die überall angebracht
waren, erotische Gruppen aus Marmor und Bronce. Von solchen Stücken, die zugleich die
künstlerischsten erotischen Dokumente der Antike repräsentieren, hat sich infolge der Un-
vcrgänglichkeit des Materials eine noch grössere Zahl erhalten, und es bedürfte fürwahr
eines umfangreichen Bandes für sich allein, wollte man auch nur diesen Teil der erotischen
Kunst der Antike erschöpfend katalogisieren und behandeln . . .
Selbstverständlich blühte auch in der Kleinkunst das Erotische aufs üppigste. Alles,
was zum täglichen Gebrauche gehörte, war mit erotischen Darstellungen geziert. Vor allem
das Tafelgeschirr, und die Tonvasen, dieser Hauptartikel der antiken Industrie. Vasen mit
erotischen Darstellungen findet man nach Hunderten, zahlreiche Museen und auch viele
Privatsammlungen besitzen solche Stücke. Erotische Darstellungen auf Vasen sind überaus
alt, so sind aus den Gräbern von Apulien, die wohl etruskischen Urspnmges sind, zahlreiche
Tonvasen mit erotischen Darstellungen ausgegraben worden . . .
Zur Kleinkunst gehört auch der Steinschnitt, der bekanntlich niemals sonst eine ähn-
liche Höhe erreicht hat wie in der Antike. In den Steinschnitten begegnet man wohl den
allermeisten erotischen Darstellungen. Die Hauptgegenslände der Darstellung waren hier die
galanten Liebesaffären der Götter, besonders häufig Leda mit dem Schwan, Bacchuszüge
mit erotischen Orgien, Friapsfeste, die verschiedenen Stellungen beim Liebesgenuss und selbst
Tierbegattungsscenen. Die erotische Gemme war zweifellos ein Haupthandelsartikel in der
Antike . . .
35*
— 542 —
Man hat dem Priapus als einzigem Gott keine eigenen Tempel errichtet. Dafür
opferte man ihm an jedem Strasseneck, an jedem öffentlichen Platz, in jedem Winkel, in
jedem Garten stand die Säule des Gottes von Lampsakus, strotzend vor Uebermut, und
grinste frech jedes Alter an, Kind und Jungfrau, Jüngling und Mann . . .
Die Zahl der phallischen Grotesken und ebenso die Mannigfaltigkeit ihrer Formen
ist unerschöpflich. In der Mehrzahl sind sie zweifellos religiös-mj-stischen Charakters. In
hunderterlei Formen weihte man dem Gotte Priapus sein Abbild und groteske Darstellungen
seines Attributes, um ilin in irgendwelcher Weise günstig zu stimmen. Religiös-mystisch
war auch die Anwendung von phallischen Grotesken als Amulette: Die Zahl dieser Stücke
und ihre Anwendung muss allem Anscheine nach ganz ungeheuer gewesen sein, denn gerade
sie findet man heute noch überall, wo in ehemaligen griechischen und römischen Nieder-
lassungen Ausgrabungen vorgenommen werden . . . Neben diesen phallischen Grotesken
religiös-mystischen Charakters gab es noch solche sozusagen rein weltlicher Art. Als Spiel-
zeug oder Gebrauchsg^enstand. Das Priapszeichen wurde als figürlicher Schmuck nach-
weisbar an einer Menge von Gegenständen im Privatgebrauche verwendet . . . Überschaut
man diese unendliche Fülle von Anwendungsformen und Anwendungsgelegenheiten des
phallischen Motivs in grotesk - karikaturistischer Gestaltung und bedenkt dabei, dass selbst
die züchtigsten Blicke bei tausend Gelegenheiten diesem Gegenstande begegnen mussten,
indem er ihnen ständig unter die Augen trat, und dass ein Ausweichen einfach ein Ding
der Unmöglichkeit gewesen wäre, so ergiebt sich daraus der Schluss, dass die öffentliche
Darstellung in jenen Zeiten als etwas ganz Natürliches angesehen worden sein musste."
Wenn Hart.wig den Unterschied zwischen antiken und mo-
dernen Darstellungen darin erblickt^), dass bei ersteren nie der Be-
schauer als Supplement der Darstellung gedacht ist und sie rein
objektiv sind, so gilt das nur für die ältere Zeit, nicht für die spätere,
wo es auf die Reizung der raffiniertesten Sinnlichkeit abgesehen ist,
auch gilt es mehr für die sakrale als für die profane erotische Kunst.
Hierüber bemerkt Otto Jahn: „Es finden sich unter den Vasen-
bildern mit roten Figuren einzelne widerwärtig obscöne. Diese sind
nicht auf eine Linie zu stellen mit den Brutalitäten, welche auf Vasen-
bildern des ältesten und alten Stils namentlich im Gefolge der
bacchischen Lust in unverhüllter Nacktheit sich zeigen; was dort aus
Rohheit hervorgeht, erscheint hier als die Folge einer verfeinerten
raffinierten Sinnlichkeit. Damit stimmt es, dass solche Darstellungen
meistens fein und sauber ausgeführt sind — für Liebhaber, die es
sich etwas kosten Hessen. Wir wissen ja auch, dass selbst ausge-
zeichnete Maler, wde Parrhasios, sich herbeiliessen, solche libidines
zu malen, die meist auf Figurae Veneris hinauslaufen, und dass auch
die Alten ihre quarante manieres hatten. Dergleichen Verirrungen
von Lüstlingen soll man weder leugnen noch beschönigen; allein sie
in eine Klasse bringen mit Aeusserungen einer frischen Sinnlichkeit,
die sich unbefangener und natürlicher ausspricht als wir es jetzt ge-
i) Paul Hartwig a. a. O., S. 347.
— 543 —
wohnt sind, ohne verderbt oder verkehrt zu sein, oder mit Vor-
stellungen, die auf einer eigentümlichen, nicht hinreichend geläuterten
religiösen Anschauung beruhen, und daraus eine allgemeine Charak-
teristik der alten Kunst ziehen, ist ebenso unberechtigt als unrecht".
Wenn allerdings schon Aristoteles es für nötig hielt (Polit.
VII, 17, 14, II p. 1336, Bekker), den Behörden Massregeln zu emp-
fehlen, damit die Jugend nicht durch den Anblick lasciver Bilder
und Statuen verdorben werde, so dürfen wir annehmen, dass solche
Kunstwerke bereits zu seiner Zeit allgemein verbreitet waren. Die
alexandrinische Epoche war jedenfalls eine der Blütezeiten der antiken
erotischen Kunst, und die meisten Motive der Kaiserzeit sind dieser
Epoche entnommen. Das gilt besonders von Mosaiken und Ge-
brauchsgegenständen i). Was allerdings die obscönen Darstellungen
auf Vasen betrifft, so reichen sie in sehr viel frühere Zeiten hinauf.
Brygos z. B. (um 500 v. Chr.) hat diese Gattung von Darstellungen
zu einem besonderen Zweige seiner Malerei ausgebildet. Obscöne
Darstellungen kommen in Menge schon auf älteren Gefässen vor.
Hartwig^) zählt solche auf. So z. B. sieht man auf der Schale des
Epilykos im Louvre (Gazette archeol. 1888, p. 172) obscöne Gruppen
der unflätigsten, meist widernatürlichen Art, zwischen Männern
und Frauen. Eine andere Schale mit dem Schlagworte moirjoev in
der Sammlung Bourguignon in Neapel stellt folgendes Sujet dar:
Ein Mann sitzt vor einer nackten Frau und fasst an ihre Scham, in
dieselbe mit der Rechten einen undeuthchen Gegenstand, wohl einen
künstlichen Phallos einführend. Um eine „schmerzhafte" Operation,
wie man gemeint hat, handelt es sich hier sicher nicht. Die Gesten
der Hetäre beweisen das Gegenteil. — Auf einer Schale mit dem
Schlag Worte jiQooayooevco im Musee royal zu Brüssel sieht man einen
onanierenden bekränzten Jüngling. Ganz allgemein hat A. Schneider
(Athen. IMitteilungen 1889, S. 339 Anm.) darauf aufmerksam gemacht,
dass sich unter den Scherben aus den Aufschüttungen der Akropolis
Obscönitäten und Symplegmata auffällig häufig finden. Das Volk
Athens scheint in der Wahl seiner Weihgeschenke an die Götter der
Burg nicht sehr bedenklich gewesen zu sein 3),
In der Plastik ist das älteste Werk schlüpfrigen Inhalts, von
dem wir hören, das S3aTiplegma des Kephisodotos (Plin, n. h.
XXXVI, 24). Der Bildhauer Heliodoros, der ein anderes berüch-
1) Vgl. L. Friedländer a. a. O., III, S. 291.
2) Hartwig a. a. O., S. 345 Anm. 2.
i) Vgl. Hartwig a. a. O., S. 343—354-
— 544 —
tigtes Symplegma schuf (Plin. n. h. XXXVI, 35) gehört vermuthch
in die Zeit nach Alexander. Drei berühmte Maler der Alexander-
epoche, Aristeides, Pausias und Nikophanes werden von Pole-
mon (bei Athen. XIII, p. 567 B) ausdrücklich als „Pornographen"
bezeichnet. Diese Richtung äussert sich dann auch in der späteren
Vasenmalerei, die, wie es durch eine Reihe von Gefässen sogenannten
neuattischen und unteritalienischen Stiles bezeugt wird, vollständig
die Fähigkeit besass, unzüchtige Gegenstände in einer die Sinne
reizenden Weise zu behandeln. Besonders zahlreiche Beispiele hier-
für liefert die Sammlung Pourtales^). Auf den lasciven Bildern der
campanischen Wandmaler sind die Träger der Handlung Satyrn,
Pane, Bacchantinnen und der Hermaphrodit in unzweideutig wollüs-
tigen Situationen. Von diesen mythologischen obscönen Bildern
unterscheiden sich die realistischen, dem wirklichen Leben entnom-
menen. Jene erscheinen nach Heibig als in die Welt der Fabel
entrückt weniger anstössig, da die ideale Sphäre die Entwickelung
hinreichend schöner Formen und Geberden gestattet. Bei der zweiten
Gruppe giebt der Maler irdische Erscheinungen mit allen Mängeln
und Zufälligkeiten wieder. Der andere Unterschied zwischen den
beiden Richtungen zeigt sich in der Wahl des darzustellenden Mo-
mentes. Die realistische Richtung wählt mit Vorliebe das Symplegma
selbst, die mythologische die dem eigentlichen Akte vorhergehende
Scene^).
Man kann sagen, dass wir besonders durch die zweite realis-
tische Richtung- einen höchst anschaulichen Einblick in das gesamte
Unzuchts- und Genussleben des Altertums bekommen haben, der alle
litterarischen Nachrichten darüber durchaus bestätigt. Erotische Sym-
posien, das Prostitutions- und Bordellleben und die Ausübung sämt-
licher sogenannter sexuellen Perversitäten werden uns so im Bilde
vorg-eführt. Die erwähnten Werke von Eduard Fuchs, Hartwig,
Heibig, Gerhard, sowie die ,,Raccolta pornografica" von P^iorelli
und das berüchtigte „Musee secret"^) erschöpfen die Reichhaltigkeit
der Ueberreste der antiken erotischen Kunst noch lange nicht.
1) W. Heibig a. a. O.
2) Vgl. W. Heibig, Untersuchungen über die campanische Wandmalerei, Leipzig
1873, S. 86—87; S. 250.
3) Herculanum et Pompei. Recueil Genecal des peinlurcs, bronces, mosaiques etc.,
decouverts jusqu'ä ce jour, et reproduits d'apres le Antichitä di Ercolano, il Museo Borbo-
nico et tous les ouvrages analogues. Augmente de sujets inedits graves au trait sur cuivre
par H. Roux Aine. Et accompagne d'un texte explicatif par M. L. Barre. Musee
Secret. Paris 1862. Gr. 8", 260 S., 60 Tafeln.
— 545 —
§ 39 Prostitution und Psychopathia sexualis.
Die Geschlechtskrankheiten sind in ihrer Verbreitung und Er-
scheinungsweise g-anz und gar abhängig von der Prostitution und
von der Art und Weise der geschlechtlichen Bethätigung.
Wenn wir also über die Natur und die Arten der venerischen Krank-
heiten im klassischen Altertum eine richtige Vorstellung gewinnen
wollen, so müssen wir das Studium der Prostitutionsverhältnisse und
der Psychopathia sexualis vorausgehen lassen. Das ist ein durchaus
richtiger Grundgedanke des Buches von Rosen bäum. Die Prämisse
ist richtig, nur seine Schlussfolgerungen sind falsch, wie wir sehen
werden.
Die Griechen^), bei denen sich die Einführung der legalen
Prostitution an den Namen Solons (Athen. XIII, p. 569) knüpft,
unterschieden ausser den Bordelldirnen und gemeinen Prostituierten,
den jioQvai, noch die Hetären, haigai, die sie streng von den übrigen
Frauen trennten-). Die Dirnen waren meist Sklavinnen, die Hetären
teils ebenfalls solche, teils freie Frauen. Jene waren verachtet, diese
genossen vielfach grosses Ansehen. Als Kulturfaktor machte sich
das Hetären wesen allerdings erst seit Alexander dem Grossen geltend.
Erst in der Alexanderepoche erscheinen die Hetären als der regel-
mässig'e Mittelpunkt der gesellschaftlichen Vergnügungen der Jugend.
Damit hängt auch der Beginn des Frauenkultus und der Galanterie
in der hellenistischen Zeit zusammen.
,, Viele unter ihnen (den Hetären) zeichnen sich durch feine Bildung und schlag-
fertigen Witz aus, wissen die ausgezeichnetsten Persönlichkeiten der damaligen Zeit, Feld-
herren, Staatsmänner, Litteraten, Künstler, dauernd an sich zu fesseln und veranschaulichen
in der bezeichnendsten Weise die aus feinen geistigen und sinnlichen Genüssen gemischte
Existenz, welcher die Mehrzahl der damaligen Griechen huldigte. Fast bei jeder bedeuten-
deren Persönlichkeit, welche in der Geschichte des Hellenismus hervortritt, sind bekannte
Hetären nachweisbar. Die Mehrzahl der Zeitgenossen fand darin nichts Anstössiges. Pto-
lemaios VII., Euergetes II (Athen. XIII, p. 576 E) unterliess nicht in seinen Hypomne-
mata die Hetären anzuführen, mit denen sein königlicher Vorgänger Umgang gepflogen.
Zur Zeit des Polybios (Polyb. XIV, 11, 2) waren die schönsten Häuser in Alexandreia
mit den Namen berühmter Flötenspielerinnen und Hetären bezeichnet. Porträtstatuen
solcher Frauen wurden in Tempeln und anderen öffentlichen Gebäuden neben denen ver-
dienter Feldherren und Staatsmänner aufgestellt, ja, das gesunkene Ehrgefühl der griechi-
i) Vgl. van Limburg Brouwer a. a. O., II, 174 — 223; Fr. Jacobs, Die He-
tären. Griechische Freudenmädchen. Leipzig o. J. (S.-A. aus Jacobs, Vermischte
Schriften III, Leipzig 1830, S. 311 — 554); Rosenbaum a. a. O., S. 90 — 100.
2) Bekannt ist die Stelle bei Demosthenes c. Neaer. (Orat. Att., T. V, p. 578
und Athen. XIII, 31): rag /lisv hatgag fßovfjg erey.' k'/ufisv, tö? 8s jiaXXay.ag >ca&' rji-iiQav
&EQaJt£iag rov ocöjiiaTog, zag de yvvaiy.ag rov jraidojioisToßai yvi]akog, aal ro)v k'vSov (pv-
/MXa JllOT?]V E](E11'.
- 546 -
sehen Freistaaten liess sich sogar lierbei, Hetären, die mächtigen Persönlichkeiten nahe stan-
den, durch Kränze und bisweilen selbst durch Altäre imd Tempel zu ehren (Athen. VI,
p. 253 A 13)"^).
Sehr interessant ist die Schilderung der Gefahren des Um-
ganges mit Hetären von Anaxilas (Athen. XIII, p. 558), in der
hauptsächhch ihre unersättliche Habsucht und die Ausplünderung der
Männer erwähnt werden, aber von der naheliegenden Gefahr vene-
rischer Ansteckung nicht die Rede ist. Auch die Beschreibung eines
Hetäreninstitutes, d. h. eines vornehmen Bordells, die uns in einer
Komödie des Alexis erhalten ist (bei Jacobs a. a. O., S. 47) und
in der die Toilettenkünste der Insassinnen geschildert werden, über-
geht die Krankheiten der Hetären mit Stillschweigen.
Solon soll, wie erwähnt, zuerst die gewöhnlichen Bordelle
{noQVEia, oixijjuara) eingeführt haben (Athen. XIII, p. 569). Aus dem
Stücke ''ÄdelcpOL des Dichters Philemon erfahren wir, dass die Dirnen
in diesen Bordellen nackt für die Besucher zur Schau standen, damit
jeder sähe, mit wem er es zu thun habe, und nach Belieben wählen
könne. Der Preis war auf einen Obolus festgesetzt (Athen. XIII,
p. 569). Die eigentliche Bordellgegend in Athen war am Keramei-
kos-). Auch das Quartier Skiron genoss einen sehr schlechten Ruf
wegen der zahlreichen Dirnen, die hier vor den Thüren sassen^). Die
Agora im Kerameikos war ein lebhafter Verkehrsort der niederen
Hetären. Schon ein altes Solonisches Gesetz erwähnt die Thatsache,
dass diese Dirnen auf dem Markte offen sich anboten. Plutarch
(Solon 23) giebt die Strafen an, die Solon auf yior/da setzte. Und
noch später wird erwähnt, dass die Dirnen mit Vorliebe sich in der
Nähe des Leokorions, an der Nordseite der Agora, umhertrieben
(Alkiphron III, 5, i). Die öffentliche Prostitution und die Bordelle
standen unter der Aufsicht der Astynomen"*), die für die Aufrecht-
erhaltung des öffentlichen Anstandes zu sorgen hatten. Der Bordell-
betrieb selbst stand unter der Leitung eines jiogvoßooxog, der an die
Stadt eine jährliche Steuer, TcAog noovixov, zu zahlen hatte, die aus
den sehr verschiedenen Honoraren der Dirnen aufgebracht und von
besonderen „Hurenzinspächtern" (üxoQvoTelvnn]q) eingetrieben wurde
(Aeschines in Timarch., p. 134, ed. Reiske). Der Dirnenlohn {juio&cojua,
öidyQajiiua) wurde für jede einzelne Prostituierte von den Agora-
1) Heibig a. a. O., S. 195 — 196.
2) Kurt Wachsmuth, Die Stadt Atheit im Altertum, Leipzig 1890, Bd. II,
Abt. 1, S. 259 — 260.
3) Ebenda, S. 230.
4) Ebenda, II, i, 270.
— 547 —
nomen bestimmt (Suid s. v. didyga/u/ua) und schwankte zwischen
Obolen, Drachmen und Stateren.
Zahlreich waren auch die Kategorien der nichtkasernierten Pro-
stituierten (vgl. dazu oben S. 525 — 527). Dazu gehörten die leicht-
fertigen Flöten- und Zitherspielerinnen, die haloai /uovoiyMi, avh]TQtöeg,
xiiJagioroideg, die Hafendirnen d£iy.T7]giädeg (Athen. XIII, p. 576), die
Gassendirnen, ya^uauvTiai (Athen. XIII, p. 570), die Dandstrassenhuren,
OTioörjodavQai (Hesych. lY, 67). Zum Zwecke der Unzucht begaben
sich diese freien Dirnen in bestimmte Kupplerhäuser, i^iarov/leia
(Hesych. III, 76), juaoxQoma, yr^oa/oj^aa (Hesych. III, 372), Hurenwinkel,
XajuaiTVTieia, und Absteigequartiere, TEyog, wo sie „Geld für die Stube",
h'oixiov, oreyavojuiov (Athen. I, p. 8; Pollux Onomast. I, 75) zahlten.
Solche Stätten der Unzucht waren hauptsächlich die Wirtshäuser
[xaTiiiXeTov] der Hafengegend (Philostrat. epist. 23; Athen. XIII, p. 567),
wo allerdings meist nur der Abschaum der männlichen Bevölkerung
und fremde Matrosen verkehrten.
Mit Recht hat Rosenbaum (a. a. O. S. 94) darauf hingewiesen,
dass trotz der sehr eingehenden gesetzlichen Regelung des Bordell-
und Prostitutionswesens in Athen von einer sanitätspolizeilichen
Aufsicht bezw. einer Gesundheitskontrolle der Prostituierten nichts
gesagt wird und eine solche auch sicherlich nicht bestand. Aller-
dings könnte die oben erwähnte Schilderung Philemons über die
Prüfung der nackten Dirnen durch die Klienten darauf hindeuten.
Wahrscheinlich bedeutete dies aber mehr ein Entgegenkommen in
Bezug auf den Schönheitssinn der Hellenen als eine hygienische
Rücksichtnahme. Jener wurde natürlich auch durch Unsauberkeit und
sichtbare Krankheitserscheinungen (z. B. Hautkrankheiten, Geschwüre,
Ungeziefer) beleidigt. Ob aber bei dieser Zurschaustellung der Dirnen
an eine Ansteckung gedacht wurde, ist mehr als zweifelhaft.
Rosenbaum ist im Rechte, wenn er das äocpalibg in dem Bruch-
stücke des Eubulos (Athen. XIII, p. 568), wo von den Bordell-
dirnen gesagt wird:
nao d)v ßeßalcog do(palcüg t' e^eoxi 001
jiiiy.oov Tiqidodai y.eQjiiarog t))v f]dov/]v
daraus erklärt, dass man sich diese gemeinen Dirnen nicht den He-
tären, sondern den freien Bürgerinnen gegenübergestellt denkt, mit
denen der ausserehehche Beischlaf stets gefährlich war, da er als
Schändung oder Ehebruch bestraft wurde. Das beweist über-
zeugend die Stelle bei Diogenes Laertius (VI, c. 4), wo es heisst:
Als Antisthenes einen des Ehebruchs Angeklagten sah, sagte er
zu ihm: Unglücklicher, welcher grossen Gefahr hättest Du mit einem
- 548 -
Obolus entgehen können (w övoTvyijq, TiiiXIy.ov xiröwov oßoXov ()iarpv-
ynv idvraoo). Auch die Stelle des Xenarchos (Athen. XIII, p. 56g)
gehört hierher: xai rojv d' exdox^p' eorlv ädecog, evTeXcög^).
Was nun die Verhältnisse der Prostitution bei den Römern
betrifft, so sei zunächst hervorgehoben, dass das griechische He-
tärenwesen auch bei ihnen Eingang fand. Auch hier gab es in
der späteren Zeit durch geistige Bildung ausgezeichnete Buhlerinnen,
die zwischen der römischen Matrone und der öffentlichen Dirne stan-
den-). Diese Buhlerinnen wurden, ganz wie im 18. Jahrhundert, den
Ehefrauen vorgezogen (vgl. das bezeichnende Epigramm Martials
III, 70). Diese ,,amicae, pretiosae, delicatae, famosae" rekrutierten
sich hauptsächlich aus dem Stande der Schauspielerinnen, zu denen
schon dem Sulla, Verres und Cicero Beziehungen galanter Natur
nachgesagt werden '^). Dass Schauspielerinnen Prostituierte waren,
geht auch aus einer Stelle des Plautus (Casin. 82) hervor. Den
Uebergang vom Hetärentum zur gewöhnlichen Prostitution bildeten
ferner die Tänzerinnen, die in obscöner Darstellung- Erstaunliches
leisteten'*), die Harfen- und ]\Iusikmädchen (Plautus, Rudens 43;
Terent., Eunuch. I, 2, 53; Horat., Epist. I, 14, 21; Horat, Od. II,
II, 21) und „Ambubajae" (Horat., Sat. I, 2, i; Sueton., Nero c. 27),
die weiblichen Modelle in den Künstlerwerkstätten ■'), die ,,bustuariae"
u. a. m.
Die gewerbsmässigen Prostituierten par excellence lagen zum
grössten Teile in den Bordellen ihrem Gewerbe ob, die schon in
der älteren Zeit zahlreich vorhanden waren, wie wir das aus der
häufigen Erwähnung bei den älteren Tustspieldichtern schliessen
können. Diese Bordelle, „lupanaria" (Juvenal. VI, 120, 131;
Catull. XLII, 13; Petron., Sat. 7; et3miologisch von „lupa" abgeleitet,
cf. Lactantius, divin. instit. I, 20), „fornices" (Tit. Livius XXXVI,
23; XLIV, 11; Horat, Sat. II, 30; Mart. XI, 62; Petron., Sat. 7,
abgeleitet von „fornix" oder von jioovixov, cf. Rosen bäum a. a. O.
S. 105), ,,tabernae meritoriae" (Val. Max. I, 7) lagen hauptsäch-
lich in der Nähe der Stadtmauer (daher der Name „Summoenianae"
= Prostituierte bei Mart. III, 82; XI, 62 u. ö.), in dem daran an-
grenzenden Stadtteile Suburra, im vicus Patricius und unter den Ar-
i) Vgl. hierzu auch van Limburg Brouwer a. a. O., Bd. II, S. I79.
2) Vgl. die ausführliche Darlegung bei Paldamus a. a. O. S. 45 — 48.
3) Georg Grupp, Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit, IMünclicn 1903,
Bd. I, S. 192 u. 323.
4) Vgl. Sittl a. a. O. S. 224 — 252 und Martial. V, 78; XIV, 203.
5) Vgl. Friedländer a. a. O. III, 302.
— 549 —
kaden des Circus maximus (Juven. III, 65; Mart. XI, 7g; Priap. 40),
auch ausserhalb der Stadtmauern („meretrices extramuranae" vit. He-
liogab. 27).
Das Innere eines römischen Bordells kann nach den erhaltenen
Berichten so ziemlich rekonstruiert werden. Am anschaulichsten ist
die Schilderung des Petronius (Satin 7. 8. ed. Buecheler): ,,subinde
ut in locum secretiorem venimus, centonem anus urbana reiecit et
„hie" inquit „debes habitare". cum ego negarem me agnoscere do-
mum, Video quosdam inter titulos nudasque meretrices furtim
spatiantes. tarde, immo iam sero intellexi me in fornicem esse de-
ductum. execratus itaque aniculae insidias operui caput et per me-
dium lupanar fugere coepi in alteram partem . . . iam pro cella mere-
trix assem exegerat".
Hieraus erhellt, dass die Bordelle eine Anzahl ^•on Kammern,
Zellen, cellae hatten (vgl. auch Juven. VI, 122, 127), über welcher
der Name der betreffenden Dirne, meist ein nom de guerre, sich
befand, der „titulus" (Seneca Controv. I, 2; Martial. XI, 46;
Juven. VI, 122). Wenn die betreffende Zelle besetzt war, wurde
dies durch das Wort „occupata" auf einer Tafel verkündet (Plaut.
Asin. IV, I, 15) im Gegensatz zur unbesetzten Zelle „nuda" (Mart.
XI, 62). Eine Laterne „lucerna" erleuchtete das Gemach (Juven.
VI, 131; Horat. Sat. II, 7 v. 48; Tertullian. ad Uxor. II, 6), die oft
mehr Russ als Licht verbreitete (Seneca, Controv. I, 2). Die meist
vöUig nackt zur Schau stehenden Dirnen gaben sich auf einem mit
einer Decke „lodicula" versehenen Lager „pavimentum" oder „pul-
vinar" den Männern hin (Petron. 20; Juven. VI, 130).
Im allgemeinen herrschte eine grosse Unsauberkeit und Unrein-
lichkeit in den römischen Lupanaren, wie sich nach verschiedenen
Anspielungen der Dichter und Schriftsteller annehmen lässt (z. B.
Juvenal. VI, 130; Prudentius contr. Symmachum 1. II; Horat.
Sat. I, 2, 30; Seneca Controv. I, 2).
Wie erwähnt, trieben sich die Dirnen nackt vor oder in den
Bordellen umher, entweder stehend „prostibula" oder sitzend „pro-
sedae" (Plaut. Poenul. I, 2, 54).
Wenn sie einen Klienten ergattert hatten, wurde die betreffende
Zelle meist sorgfältig verschlossen, wie das anschaulich Martial
(XI, 45) schildert:
Intrasti quotiens inscriptae limina cellae,
Seu puer arrisit sive puella tibi,
Contentus non es foribus veloque seraque,
Secretumque pubes grandius esse tibi:
— 550 —
Oblinitur minimae si qua est suspicio riiiiae
Punctaque lasciva quae terebrantur acu.
Nemo est tarn teneri tarn sollicitique pudoris,
Qui vel paedical, Canthare, vel futuit.
Die Bordelle waren meist im Besitze eines Bordellwirtes,
leno, oder einer Kupplerin, lena, die das Kuppeleigewerbe, leno-
cinium, mit den meist als Sklavinnen von ihnen gekauften Mädchen
betrieben.
,, Kuppler, Kupplerinnen und im Bunde mit ihnen Wucherer, allgemein bekannte
Persönlichkeiten, wählte sich mit Vorliebe schon die ältere Komödie zu Helden. Der
Kuppler, ein Ausbund aller Hässlichkeit, dessen körperliche Unforni geistige Hässlichkeit
widerspiegelt, erscheint hier als frech oder feige und scheu, je nachdem, als eidbrüchig,
jedoch abergläubisch, und um nichts besser die Kupplerin, meist eine Weinsäuferin. Im
Bunde mit ihnen steht gewöhnlich der Geldwechsler, Wucherer, dessen Buden Dirnen um-
schwärmen, ihnen junge Leute zuzujagen. Im übrigen scheuten sich auch bessere Stände
nicht, aus diesen Dingen einen Erwerb zu ziehen, und selbst IVIänner wie Brutus, Cato
hielt keine Scham ab, Sklaven zu Wucherzinsen auszuleihen, da der Verdienst sich lohnte
— der Freudenlohn betrug fast das Dreissigfache des Arbeitslohnes^) — und bessere, ja
vornehme Leute nährten sich sogar von diesem Erwerbe (Dig. 3, 2, 4). Um üblen Nach-
reden und den Censuren zu entgehen, liess man schlechte Orte durch eigene Sklaven und
Freigelassene halten. Mit erschreckender Offenheit sagt Ulpian, auf den Gütern vieler
Vornehmer werden schlimme Anstalten gehalten (Nam in multorum honestorum virorum
praediis lupanaria exercentur; Dig. 5, 3, 27), und ebenso offen erhob der Staat Steuern
(Suet. Cal. 40; Senec. controv. i, 2) und verschenkte zum Vergnügen des süssen Pöbels
Freischeine (,,nomismata lasciva" Stat. sylv. i, 6, 79), die wie andere Marken unter die
Masse geworfen wurden" ^).
Die Lustsklavinnen („quaestuaria mancipia" Dig. III, 2, 4) waren
meist fremder Herkunft, aus Spanien, Syrien, Aegypten, Sehr an-
schaulich beschreibt Seneca (Controv. I, 2) den Ankauf der Mädchen
für solche Zwecke: „Nuda in litore stetit ad fastidium emptoris, omnes
partes corporis et inspectae et contrectatae sunt. Vultis auctionis
exitum audire? Vendit pirata, emit leno . . . Ita raptae pepercere
piratae, ut lenoni, venderetur: sie emit leno, ut prostituerit". Noch
andere Einzelheiten bezüglich des Verkaufes von Mädchen zu Pro-
stitutionszwecken erfahren wir aus dem interessanten Epigramme
Martials (VI, 66):
Famae non nimium bonae puellam
Quales in media sedent Subura,
Vendebat modo praeco Gellianus.
Parvo cum pretio diu liceret,
Dum puram cupit approbare cunctis,
i) Eine Arbeitssklavin war oft nur 120 Mark wert, eine Lustsklavin über 4600 Mark
(Plaut. Persa 4, 4, 113).
2) G. Grupp, Kulturgeschichte der römischen Kaiserzeit, Bd. I, S. 324 — 325.
— 551 —
Attraxit prope se manu negantem
Et bis terque quaterque basiavit.
Quid profecerit osculo, requiris?
Sescentos modo qui dabat, negavit.
Daraus geht hervor, dass offenbar auch ein Handel mit jung-
fräulichen Mädchen betrieben wurde, deren Preis ein höherer war
als der bereits deflorierter Mädchen. Ausser wie hier in der Subura
gab es Prostitutionsmärkte auch in anderen Stadtteilen, z. B. in der
Nähe des Venustempels (Plaut. Poenul. 305).
Viele Wirte und Inhaber von Garküchen und Bäckereien ^)
hielten Dirnen für ihre Gäste (vgl. Horat. Epist. I, 14, 21), die meist
zugleich durch Tanz und Flötenspiel für die Unterhaltung sorgten.
Als gewerbsmässige Kuppler g-alten ferner die Priester, Priester-
innen und Tempeldiener der Isi Stempel'-^); auch andere Tempel, in
denen Frauen ein- und ausgingen, waren als Orte der Unzucht ver-
rufen. Es gab nach Juvenal (IX, 22 — 26) keinen, in dem Frauen
nicht feilgeboten wurden. In den Tempeln wurde nach Minucius
Felix (Octav. p. 67, Muralt.) und Tertullian (Apol. c. 15) zwischen
den Altären Kuppelei geübt, und in den von Weihrauch duftenden
Zellen der Tempelwächter und Priester ging es zu wie in Bordellen.
Wahrscheinlich existierten auch eigene Bestellhäuser, maisons
de passe, wo freie Frauen sich prostituieren konnten nach dem be-
rüchtigten Beispiele der Messalina (Juven. VI, 116 ff.) und ver-
schiedener Kaiser, die Bordelle für ihren und ihrer Freunde Privat-
gebrauch einrichteten.
Sehr gross war endlich die Zahl der ausserhalb aller dieser
Etablissements befindlichen vagierenden Prostituierten, der
„scorta erratica", noctilucae, noctivigilae, nonariae, ambula-
trices, circulatrices, casalides, bustuariae, diobolariae, gal-
linae, lupae, bliteae, schoeniculae, putae, limaces" und der
anderen ebenso bezeichnende Namen wie diese „Nachtfalter", „Pflaster-
treterinnen", „Wanderinnen", ,, Gräberdirnen", „Pfennigdirnen" tragen-
den Strassenhuren. Sie führten ihre Klienten entweder in eigne
oder gemietete Wohnungen oder gaben sich ihnen auf offener Strasse
in dunklen Ecken (Catull. c. 58) oder zwischen den Gräbern (Mart.
I, 34) oder in den Bädern (Mart. III, 93) preis. Viele waren unter
gewissen „noms de guerre" bekannt, die sie beim Eintritt in das
ij In Pompeji hat man eine Reliefplatte über der Thür eines Bäckerbauses ge-
funden, mit grobem abgeplattetem Phallus und der Inschrift: „Hie habitat Felicitas". Vgl.
E. Gerhard, Neapels antike Bildwerke, S. 464.
2) Friedländer a. a. O., I, 501.
—• 552 —
Prostitutionsgewerbe angenommen hatten (Plaut. Poenul. V, 3, 20 — 21;
Juvenal. VI, 122). Als Kennzeichen trugen die römischen Prostituierten
bunte, grellfarbige Kleider oder die männliche Toga — daher hiessen
sie „togatae" (Horat. Sat. I, 2, 63 und 80 — 83) — , ferner wie die
modernen Dirnen vielfach blonde Perrücken (Juvenal. VI, 119).
Was das Honorar der Prostituierten in den Bordellen betrifft,
so scheint dieses vor dem Eintritt in die betreffende Zelle entrichtet
worden zu sein. Jedenfalls wurde es vorher verlangt (Juvenal. VI,
125). Jacquot (Gazette medicale de Paris 1850, Nr. 27) erwähnt
Denkmünzen aus Terracotta oder Knochen, die in den pompejanischen
Lupanaren gefunden wurden, und deren Bedeutung und Gebrauch
aus einem Freskogemälde hervorg-eht. Es waren das Marken für
den Eintritt in die öffentlichen Häuser. Man abonnierte sich damals
im Bordell wie heutzutage in den Badeanstalten ^). Name und Preis
der Dirne war über der Thür ihrer Zelle notiert (Seneca, Controv.
I, 2), der g-eringste Lohn betrug ein Ass-) oder zwei Obolen, daher
der Name „diobolaria, scorta" (Plautus Poenul. i, 2, 58), ausserdem
kostete die Benutzung der Zelle ein weiteres Ass (Petron. Sat. 8:
„iam pro cella meretrix assem exegerat"). Angaben über Dirnen-
honorare macht besonders Marti al (II, 53: 2 Asse; IX, 32: 2 Denare).
Auf der Wand eines Lupanars in Pompeji haben drei Soldaten ver-
merkt, dass sie jeder 5 Asse gezahlt haben ^). Für die Habitues der
Bordelle, die „adventores meretricum" (Plaut. Trucul. II, 7, 55), zu
denen auch vielfach Sklaven gehörten (Columella r. r. I, 8), gab
es ohne Zweifel Abonnementspreise. Der Dirnenlohn („captura",
„quaestus meretricius", „pretium stupri") musste meist im ganzen an
den Leno abgeliefert werden.
Die pekuniäre Seite des Prostitutionsgewerbes war die Haupt-
ursache der Verachtung derselben bei den Römern. Rossbach
bemerkt darüber:" „Allen Ingenui war verboten, eine in adulterio de-
prehensa und eine lena et a lenone lenave manumissa zur Ehe zu
i) F. Jacquot, Lettres d'Italie, in: Gazette medicale de Paris 1850, Nr. 27, S. 528.
2) Unter Umständen wohl noch weniger. Denn wenn, worauf mich Herr Dr. phil.
W. Schonack gütigst aufmerksam macht, Cicero pro Caelio § 62 in Bezug auf die
Clodia, die bekannte Geliebte des Catulhis, von einer ,,quadrantaria permutatio" redet, so
dürfte dies wohl kaum (wie A. Riese, Einl. z. Cat. Ausg. p. XIII meint) ,, frivoler
Scherz" sein, sondern wird sich darauf beziehen,^ dass in den Badstuben gewisse Dirnen
auch für ^/^ Ass (d. i. quadrans) zu haben waren. Cf. jetzt die Bemeikung J. v. Wage-
ningen s in seiner Ausg. der Caeliana p. 99 (M. Tullii Ciceronis oratio pro M. Caelio,
rec. atque interpretatus est Jacobus van Wageningen, Groningae 1908).
3) Jacquot a. a. O., S. 528.
OOJ
nehmen, dem Senator und seinen zur Agnation gehörigen Descen-
denten war ausserdem auch die Ehe mit einer corpore quaestum fa-
ciens untersagt"^). Das Bordell war unrein wie ein Abtritt und die
Berührung damit galt als Schande. Als Tiberius den Anklagesenat
für Majestätsverbrechen einsetzte, erklärte es letzterer für eine besonders
schwere Form der Majestätsbeleidigung-, eine Münze oder einen Ring
mit dem Bilde des Kaisers auf dem Abtritt oder in einem Lupanar
getragen zu haben (Sueton. Tiber. 58). Doch konnten Kuppler
römische Bürger werden und letztwillige Verfügungen treffen (Juv^enal.
VI, 217). Die Bordelle galten als minderwertige Häuser (Priap. XIV)
und in Miets- und Kaufverträgen, wie sich solche in Pompeji gefun-
den haben, wurde meist die Benutzung eines Hauses als Lupanar
von vornherein ausgeschlossen -).
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass bei den Römern
eine sorgfältige Hygiene der Prostitution bestand, wenngleich sich
eine nähere Beziehung derselben zu den venerischen Krankheiten
kaum nachweisen lässt. Schon der früher erwähnte Modus des An-
kaufs und Verkaufs der Prostituierten (geschildert von Seneca, Con-
trov. I, 2), wobei eine g-enaue Inspektion und Palpation aller
Körperteile der nackt zur Schau gestellten Prostitutionsrekrutinnen
stattfand („nuda in litore stetit ad fastidium emptoris, omnes partes
corporis et inspectae et contrectatae sunt") lässt darauf schliessen,
dass dabei auch auf eventuelle Krankheiten, sieht- und fühlbare, ge-
fahndet wurde, wozu auch lokale Geschwüre und Exkrescenzen an
den Genitalien und am After gehörten, sowie palpable Bubonen und
Abscesse. Auf die Vorteile dieser ungenierten Besichtigung der
nackten Prostituierten vor dem Genüsse spielt auch Horatius (Sat.
I, 2, 81 — 85, loi — 105) an, obgleich aus seinen Angaben:
Altera nil obstat: Cois tibi bene videre est
Ut nudam; ne crure malo, ne sit pede turpi,
Metiri possis oculo latus
eher auf Schönheits- als auf Gesundheitsfehler geschlossen werden
muss. Letztere wurden sicher mehr vom ästhetischen als vom
hygienischen Standpunkte aus betrachtet.
Während der Ausübung ihres schmutzigen Gewerbes musste
vor allem die Prostituierte darauf bedacht sein, durch häufige Bäder
und Waschungen nach jedem coitus impurus sich gesund zu erhalten
i) August Rossbach, ,, Untersuchungen über die römische Ehe", Stuttgart 1853,
S. 46;.
2) Jacquot a. a. O., S. 528 (Mietskontrakt der Julia Felix).
— 554 —
(Plaut. Poenul. 21g, 244), wofür vielfach eigene Diener „aquarioli",
„baccariones" zur Verfügung standen (Tertullian, Apologet,
c. 43; Juvenal. VI, 332).
Eine sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Prostitution existierte
nicht im alten Rom, jedoch musste die „licentia stupri" von den
Aedilen eingeholt werden (Tacitus, Annal. II, 85), denen die Auf-
sicht über die öffentliche Sittlichkeit oblag.
Noch wichtiger als die Betrachtung der Prostitution ist die
Kenntnis der antiken Psychopathia sexualis, der mannigfaltigen
geschlechtlichen Bethätigungen ausserhalb des natürlichen Geschlechts-
aktes. Es wäre falsch, von sexuellen „Verirrungen" schlechthin zu
sprechen. Denn ohne Zweifel wurden manche uns heute als solche
erscheinenden Akte, wie z. B. die mit der Knabenliebe verbundene
Pädikation, der Coitus per anum, ganz allgemein, ohne Scheu und
Scham, ausgeübt. Trotz gegenteiliger Behauptungen steht es für
mich fest, dass die Alten nicht unseren ethisch -moralischen Mass-
stab an diese widernatürlichen sexuellen Akte legten, sondern, wo
sie diese verdammen und verspotten, dies viel eher aus ästhetischen
und hygienischen Rücksichten thun. Auch ist es stets das Ueber-
mass und das Extrem, was gegeisselt wird, z, B. von Martial.
Man hatte auch sehr wohl die gesundheitlichen Schädigungen, z. B.
des analen Coitus, erkannt. Deshalb sind die Beziehungen der per-
versen sexuellen Bethätigungen zu venerischen Erkrankungen sehr
innige, deshalb hatte Rosenbaum mit vollem Rechte die Psycho-
pathia sexualis der Alten in den Mittelpunkt seines berühmten Wer-
kes gestellt. Wie schon oben erwähnt, war diese seine Prämisse
durchaus richtig, aber seine Schlussfolgerung war falsch und musste
es sein, weil zu seiner Zeit Syphilis, Gonorrhoe, Ulcus moUe, Condy-
lomata acuminata, Herpes und andere an den Genitalien lokalisierte
Affektionen noch nicht streng von einander geschieden waren. Wenn
also Rosen bäum aus dem häufigen Vorkommen sexueller Per Ver-
sionen und vor allem aus ihrer häufigen Bethätigung den Schluss
auf die Existenz der Syphilis bei den Alten zieht, so besteht nach
unserer heutigen ärztlichen Auffassung zwischen diesen beiden kein
notwendiger Zusammenhang. Wohl aber besteht ein solcher
Causalnexus zwischen jenen perversen Praktiken und den
pathologischen Veränderungen, z. B. am After, wie sie uns
klar und deutlich von den antiken Aerzten und Schrift-
stellern beschrieben werden. Wenn wir also erfahren, dass die
— 555 —
Pädikation bei den Alten überaus häufig, jedenfalls weit häufiger
als in der Neuzeit geübt wurde, dann werden wir allein hieraus
und nicht aus einer supponierten, aber nicht bewiesenen und nie be-
weisbaren Syphilis das häufige Vorkommen krankhafter Affektionen
der Regio analis erklären. Die bis heute beliebte Art der medizi-
nischen Logik, die aus der Häufigkeit der Schilderungen solcher Anal-
affektionen auf ihre „syphilitische" Natur schloß, ist falsch. Die
moderne Forschung, wie sie besonders im vorigen Kapitel über die
pseudosyphilitischen Affektionen dargestellt wurde, hat diesen Trug-
schluß aufgedeckt und ihm für immer ein Ende gemacht.
Nichtsdestoweniger ist es ein großes Verdienst Rosenbaums,
das gegenüber gewissen wissenschaftlichen Puritanern und Moralisten
mit Nachdruck hervorgehoben sei, daß er zuerst die große Bedeutung
der Psychopathia sexualis für die Entscheidung der Frage der Exis-
tenz oder Nichtexistenz der S3'philis erkannt hat. Daß er diese Frage
unrichtig beantwortet hat, ist weniger seine Schuld als die der Un-
voUkommenheit und Mangelhaftigkeit der venereologischen Wissen-
schaft seiner Zeit.
Wenn man die antike Psychopathia sexualis richtig beurteilen
will, so muss man genau beachten, dass sie gewissermassen aus zwei
Quellen gespeist wurde, die allerdings im Laufe der Zeit immer mehr
zusammenflössen. Zunächst sind die sexuellen Perv^ersionen bei
Griechen und Römern genau so als allgemein anthropologische
Erscheinungen aufzufassen, wie bei allen anderen Völkern. Ich habe
in dem Kapitel „Die anthropologische Betrachtung der Psychopathia
sexualis" meines Werkes „Das Sexualleben unserer Zeit" dargelegt,
daß die hierher gehörigen Erscheinungen sich überall und zu allen
Zeiten finden, und dass Kultur, Zivilisation, Krankheiten und Dege-
neration dabei nur die Rolle von begünstigenden , modifizierenden,
intensitätssteigernden Faktoren spielen. Wir werden also von vorn-
herein erwarten dürfen, auch bei den Alten dieselben Formen und
Aeusserungen der Ps3^chopathia sexualis anzutreffen, wie sie bei allen
Völkern, sowohl primitiven wie zivilisierten, beobachtet werden. Es
läßt sich aber nicht leugnen, daß gewisse sexuelle Perversionen bei
manchen Völkern in einer Massenhaftigkeit der zeitlichen und ört-
lichen Verbreitung sich finden und bei so zahlreichen Individuen auf
einmal zur gleichen Zeit auftreten, dass diese auffallende Frequenz
nur als Resultat einer allgemeinen Suggestion und Nachahmung,
kurz einer Volkssitte erklärt werden kann. Diese zweite Quelle
der sexuellen Perversionen tritt bei den Alten und besonders bei
den Griechen sehr auffällig in die Erscheinung. So läßt sich nur
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 36
- 556 -
ein relativ geringer Bruchteil der antiken Homosexualität als eine
angeborene Erscheinung auf allgemein anthropologischer Grundlage
erklären, der grössere Teil beruht auf einer uralten Volkssitte
wahrscheinlich fremden Ursprungs, die so tief eingewurzelt war, dass
sie von allen Männern, auch den typisch Heterosexuellen, be-
folgt wurde. Und wie eine solche Perversion als Volkssitte von
einem Volke zu einem anderen übergehen kann, dieses gewisser-
massen durch jenes infiziert werden kann, beweist das Beispiel der
Römer, die nicht nur die Knabenliebe in ihrer Bethätigung, son-
dern auch die Terminologie der Homosexualität von den Griechen
übernahmen, um sie freilich noch mehr ins Grobtierisch -Sinnliche
herabzuziehen, als dies die Hellenen bereits gethan hatten, bei denen,
wie wir sehen werden, der physische Charakter der Päderastie den
idealen stets begleitete, meist überwogt).
Diese Thatsache, die ja von allen neueren Forschern anerkannt
worden ist — ich erinnere z. B. an die weiter unten zu berück-
sichtigende Arbeit von Bethe über die dorische Knabenliebe —
wird uns nicht weiter verwunderlich erscheinen, da ja, wie oben
(S. 509 ff.) ausgeführt wurde, auch in der natürlichen heterosexuellen
Liebe das sinnliche Moment bei den Alten durchaus überwog und
der sinnliche Liebesgenuss die Voraussetzung für den geistigen
war, während die moderne Liebe umgekehrt den letzteren zur Vor-
aussetzung des ersteren macht. Woraus sich dieses Vorherrschen des
physischen Geschlechtsgenusses erklärt, ist schon früher angedeutet
worden (S. 510 — 511). Es hängt das auch innig mit der Irradiation
des geschlechtlichen Momentes in alle Lebensverhältnisse zusammen^
wie wir sie in dem Abschnitte „Die sexuellen Phänomene im öffent-
lichen Leben der Alten" kennen gelernt haben (S. 513 — 544).
Unter den verschiedenen sexuellen Perversionen der Alten
nimmt die Homosexualität"^) bezüglich ihrer Bedeutung für die
Kritik der Lehre von der Altertumssyphilis die erste Stelle ein.
Es ist das Verdienst von E. Bethe^), durch eine sorgfältige
kritische Untersuchung neuerdings ein g-anz neues Licht über Ursprung
und Bedeutung der griechischen Knabenliebe verbreitet zu haben.
i) Das betont schon W. Wachsmuth, Allgemeine Kulturgeschichte, Leipzig 1850,
Bd. I, S. 199 — 200.
2) Aeltere Literatur: M. H. E. Meier, Artikel „Päderastie" in Ersch u. Gruber»
Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, Leipzig 1837, Sekt. III, Teil IX,
S. 149 — 152; Forberg a. a. O., S. 234 — 277; Rösenbaum a. a. O., S. 119 — 227.
3) E. Bethe, Die dorische Knabenliebe. Ihre Ethik und ihre Idee. In: Rhei-
nisches Museum für Philologie, Frankfurt a. M. 1907, Neue Folge, Bd. LXII, Heft 3,
s. 438-475-
— 557 —
„Ist es nicht", so fragt er mit Recht, „die wunderbarste Erscheinung in der Ge-
schichte menschlicher Kultur? Eine Handlung überheisser Sinnlichkeit, unnatürlich, wider-
wärtig, wird zur Sitte, wird anerkannt, geachtet, geheiligt, sie wird das Fundament reinen
Strebens, unbedingter Treue, unbegrenzter Aufopferung, hoher Sittlichkeit."
Bethe weist die grosse Bedeutung der Päderastie für das an-
tike Mittelalter, das siebente, sechste und den grösseren Teil des
fünften Jahrhunderts nach, wo sie neben der Sinnenlust auch eine
„lautere Quelle zarter inniger Empfindungen, aufopfernder Hingabe,
idealer Erhebung" gewesen sei. Die Knabenhebe war damals eine
öffentlich anerkannte kulturfördernde Institution. Sie wurde von
den Dorern, den zuletzt in Griechenland eingewanderten rohen Ge-
birgsstämmen eingeführt, die sich von Nordwesten her über das
Alutterland und die südlichen Inseln bis nach Kleinasien ausbreiteten
und dann als Eroberer die älteren Bewohner knechteten. Auch
Bethe bemerkt mit Recht, dass auch vor den Dorern ein mann-
männlicher Verkehr in Griechenland existiert hat, dass aber die Dorer
die Knabenliebe als öffentlich anerkannte und ehrenwerte
Einrichtung brachten. Homer erwähnt niemals ein päderastisches
Verhältnis. Aber schon Solon (fr. 25 B 4) schildert die Päderastie
als harmlose Jugendfreude, und in der Blütezeit von Hellas waren
Männer wie Sophokles, Aischylos und Plato Päderasten. Der
angeblieh mehr ideale Charakter der Päderastie in Sparta und Kreta
im Gegensatze zu den homosexuellen sinnHchen Ausschweifungen in
EHs und Böotien wird von Bethe mit Recht bestritten. Er weist
auf Plato's herbe Worte (Gesetze, p. 636 und p. 836 ff.) und di&
Bemerkung des Aristoteles (Politik II 10, p. 1272 B 25) hin, dass
der kretische Gesetzgeber die Knabenliebe eingeführt habe, um die
Uebervölkerung zu verhindern. Im weiteren Verlaufe beruhte dann
die Erziehung zur dgeri] in der Herrenkaste bei den Dorern in Sparta,.
Kreta und Theben auf der Päderastie. In Sparta waren die Lieb-
haber für ihre Geliebten, die vom zwölften Jahre an mit ihnen ver-
kehrten, so sehr verantwortlich, dass für eine unehrenhafte Handlung
ihres GeHebten sie, nicht dieser, bestraft wurden (Plutarch, L3xurg
17 a A und 18 a E); auch kämpften sie in der Schlacht zusammen
(daher der kretische Name des geliebten Knaben: naQaoraMvg). Die
Verbindung geschah durch einen feierhchen Akt, bei dem der Ge-
schlechtsakt thatsächlich vollzogen wurde.
„Die Verlobung oder vielmehr fleischliche Vereinigung am heiligen Orte selbst unter
dem Schutze eines Gottes oder Heros steht für Thera und für Theben sicher. In Thera
reden eine nicht missverständliche Sprache die hocharchaischen Felsinschriften doch wohl
des siebenten Jahrhunderts, Hillers kostbarste Entdeckungen, mit gewaltigen Buchstaben
eingemeisselt auf dem Götterberge unmittelbar unter der Stadt, nur 50 bis 70 Meter vorn^
30*
— 55» —
Tempel des ApoUon Karneios und von heiligen Stätten des Zeus, Kures, Chiron, der Athena,
Ge, Artemis entfernt, dicht an einem alten Rundbau und einer natürlichen Höhle, die
später beide durch den Gymnasionbau vereint worden sind, auch in jener alten Zeit offenbar
die Stätten der dorischen Gymnastik und der Knabentänze. Da heisst es (J. G. XII 3,
537)- l^öv dsTra] ral j cov j Asktpauor h [o ?] Kgl/xo»' xe[T\dE ohh/ie :iatöa Ba&vx/Jog,
dds?i.jihed[y'\ de xov öeTva. An heiliger Stätte unter Anrufung des Apollon Delphinios hat
hier Krimon seine Verbindung mit dem Sohne des Bathykles vollzogen, und er hat sie
stolz der Welt verkündet und ihr ein unverwüstliches Denkmal gesetzt. Und viele Theräer
mit ihm und nach ihm haben an derselben heiligen Stätte den heiligen Bund mit ihren
Knaben geschlossen. Ich zweifle nicht, dass wir von diesem festen und unzweifelhaften
Zeugnis aus auch die noch zu Aristoteles' Zeiten bestehende, von ihm vermerkte Sitte der
Thebaner verstehen müssen [Aristoteles bei Plutarch Pelopidas 18 (und Erotic. 761 D/E)
lAoiOTotskrjg ök xai y.aß^' avtov sit (pjjal . . . etcI rov täq^ov zov 'löÄsco rag xaxasiioidiosig
TTOieTo^ai rovg iQO}f/.h'ovg xai xovg sgacxäg^ Auf dem Grabe des Heros Jolaos, hat er
geschrieben, machen die Liebhaber und ihre geliebten Knaben noch jetzt ihre Treuver-
sprechimgen. Plutarch fügt hinzu, weil Jolaos der Geliebte des Herakles gewesen und des-
halb an seinen Kämpfen als sein Schildknappe teilgenommen hat. Damals wird man sich
in Theben ja wohl mit einer feierlichen symbolischen Form begnügt haben, die der Ehe-
schliessung vor göttlichen Zeugen entspricht. Ursprünglich aber dürfte auch in Theben
gerade auf dem heiligen Platze im Angesicht des heroischen Vorbildes und Schützers der
Knabenliebe der Akt wie in Thera ausgeübt worden sein. Den Namen der heiligen Schar
aus der Heiligkeit des Päderastenbundes zu erklären, liegt nunmehr sehr nahe"^).
Aehnlich wurde auch in Megara und in Sparta die physische
Vereinigung des Mannes mit dem Knaben gefeiert. In Theben und
in Thera ist diese Sitte bis ins 4. Jahrhundert nachweisbar. Bei den
Dorern war die Tapferkeit und Tüchtigkeit des Knaben (d Trat?
ayadog) die Ursache für die Knabenliebe, wie die Inschriften von
Thera beweisen. In Athen war es mehr die Schönheit (d nalg xaXog).
Diese Tüchtigkeit wurde \'on dem Manne auf den geliebten Knaben
übertragen. So berichtet Aelian (Var. Hist. III, 12): die spartia-
tischen Knaben hätten einen anerkannt tüchtigen Mann gebeten,
eiojiveiv avToig, was der spartanische Ausdruck für „lieben" ge-
wesen sei. Die Intensität dieses eigenartigen physisch-seelischen Ver-
hältnisses zwischen Mann und Knaben war so gross, dass sie bis zur
Selbstverstümmelung ging. Plutarch erzählt im Eroticus 761 C
von einem Thessaler Theron, der sich selbst die linke Hand ab-
schlug, um den Nebenbuhler beim geliebten Knaben auszustechen.
Das deutet auf eine Individualisierung der päderastischen Liebe, wie
sie in der Neuzeit die heterosexuelle Liebe erfahren hat. Jedenfalls
ist es sicher, dass das antike päderastische Verhältnis bedeutend in-
dividueller war als die damalige heterosexuelle Liebe zwischen Mann
imd Frau.
1) Bethe a. a. O., S. 449 — 451.
— 559 —
Ueber die Xatur jenes eigentümlichen Verhältnisses bemerkt
Bethe:
„Die Eigenschaften des Mannes, sein Heldentum, seine ägerr) werden durch die
Liebe irgendwie auf die geliebten Knaben fortgepflanzt. Deshalb hält die Gesellschaft, ja
dringt der Staat darauf, dass tüchtige Männer Knaben lieben, deshalb bieten sich Knaben
dem Helden an; deshalb teilen Erastes imd Eromenos Ruhm und Schmach, deshalb wird
der Erast für die f~eigheit seines Geliebten verantwortlich gemacht, deshalb ist er auch der
legitime Vertreter seines Knaben neben dessen Blutsverwandten; deshalb sieht der Mann
vor allem auf die tüchtigen Anlagen des Knaben, den er sich erwählt, und noch schärfer
wird die aoETrj des Mannes geprüft, ob sie wert sei der Uebertragung ; deshalb war's
Schande für den Knaben, keinen Liebhaber zu finden, und andererseits eine — in Kreta
öffentlich und von der Familie gefeierte — Ehre für den Knaben, einen ehrenwerten Lieb-
haber gefunden zu haben und ihm feierlich verbunden worden zu sein. Daher der Ehren-
titel H/.1JV01 für die Knaben, die der Liebe eines Mannes teilhaftig geworden waren, daher
ihr Ehrenkleid, ihre Ehrung bei jeder öffentlichen Gelegenheit, nicht einmalige, sondern
dauernde; denn diese Knaben sind durch die Liebe in den Besitz der dosz/j gekommen,
der diese Auszeichnungen zustehen. Wie tief eingewurzelt dieser Glaube an die Veredelung
des Knaben durch die Mannesliebe und wie allgemein er verbreitet war, zeigt deutlich Plato.
Lässt er doch im Symposion den Aristophanes aussprechen: nur diejenigen würden tüchtige
Männer im Staate, die als Knaben eines Mannes Liebe erfahren haben (Symp. 191 E,
192 A). Und zwar ist es die sinnliche Knabenliebe, von der hier allein die
Rede ist"*).
Das ist der springende Punkt in der Erklärung der griechischen
Knabenliebe, das Ergebnis, zu dem Bethe im Gegensatze zu den
früheren idealisierenden Erklärungen der Päderastie gelangt ist. In
sehr scharfsinniger Weise weist er nach, dass in dem spartanischen
Terminus technicus eiotiveZv = ioäv = „die Seele im Liebesakte ein-
hauchen" das ursprüngliche Motiv für den unzweifelhaft als Volks-
sitte eingewurzelten Akt der Pädikation zu suchen ist. Diese
beruht nach Bethe auf dem uralten Glauben, dass durch die Im-
missio membri in anum und die Ejaculatio seminis in anum die Seele,
der Geist, das Wesen des Liebhabers auf den Knaben übertragen
wird. So entsteht aus dem tierisch - sinnlichen Akte ein seelisches
Wechselverhältnis. Bezüglich der näheren, durchaus überzeugenden
Beweisführung sei auf Bethe's Abhandlung verwiesen, die ja nur
als eine theoretische Erklärung für die, wie wir noch sehen werden,
ungemeine Häufigkeit der Pädikation, des analen Coitus bei der
Knabenliebe zu betrachten ist, in dem Sinne, dass jetzt diese Pädi-
kation das Primäre bei jedem päderastischen Verhältnis war, wäh-
rend die idealisierenden Autoren -), die ihr häufiges Vorkommen ja
i) Bethe a. a. O., S. 457—458.
2) Z. B. J. P. Mahaffy, Social Life in Greece from Homer to Menander, London
1874, S. 306—311.
— 560 —
auch nicht leugnen konnten, sie für das Sekundäre, für eine Folge
der „Entartung" der ursprünglich rein idealen Knabenliebe erklärten.
Ohne Zweifel ist Bethe vollständig im Rechte, wenn er am Schlüsse
seiner gediegenen Arbeit die hellenische Knabenliebe als eine „allge-
mein geübte Lust" bezeichnet, die durch das ganze Altertum und
im ganzen weiten hellenistischen Kulturgebiet geradezu als ein not-
wendiges Element des eleganten, griechisch gebildeten Lebens galt,
und als solches auch bei den Römern Eingang gefunden hat^).
Unsere Aufgabe ist weniger eine theoretische Erklärung der
Pädikation, als der Nachweis ihres überaus häufigen Vorkommens
und ihrer Aequivalenz mit dem normalen heterosexuellen Coitus.
Was die Ursachen für die grosse Verbreitung- des mannmänn-
lichen Geschlechtsverkehrs bei den Alten betrifft, so waren sie wahr-
scheinlich verschiedener Art. Die von Mantegazza und anderen
Autoren supponierten anatomischen Ursachen der Päderastie in
Südeuropa, beruhend auf einer stärkeren sexuellen Erregbarkeit der
Regio analis, zum Teil infolge abnormen Nervenverlaufes, kommen
wohl nur wenig oder gar nicht in Betracht.
Wichtiger sind die socialen Ursachen, auf die z. B. Schmoller-)
hinweist. Wenn sich auch vielleicht ein Zusammenhang der Päde-
rastie mit der staatlichen Regulierung der Kinderzahl nachweisen
lässt, als ein Mittel der Hemmung des zu grossen Bevölkerungs-
zuwachses, so konnte dies nicht der einzige ursächliche Faktor für
die Ausbreitung der Knabenliebe sein, da ja der physische Akt der
die Nachkommenschaft vermeidenden Pädikation auch beim Weibe
ausgeführt werden konnte. Es muss also mindestens noch ein Um-
stand hinzukommen, der die Bevorzugung des Knaben erklärt.
Bedeutsamer ist die von Hueppe-') mitgeteilte Thatsache, dass
Griechenland das einzige Land in Europa ist, in dem die Zahl der
männlichen Geburten die der weiblichen stark übertrifft
und dieses Verhältnis durch alle Altersstufen sich erhält. Wahr-
scheinlich war dies im Altertum auch der Fall, woraus sich das Auf-
kommen der Knabenliebe miterklären würde, das damals durch die
1) Die gleiche Anschauung von dem durchaus sinnlichen Charakter der griechischen
Knabenliebe vertritt O. D. (=: Octave Delepierre) in seiner interessanten Broschüre
„Un point curieux des moeius privees de la Grece", Athen (= Briissel) 187 1, 8", 24 S.,
während J. A. Symonds, „Die HomosexuaHtät in Griechenland" (in: Das konträre Ge-
schlechtsgefühl von Havelock Eilis und J. A. Symonds, Leipzig 1896, S. 37 — 126)
mir das ideale Moment zu sehr in den Vordergrund zu stellen scheint.
2) Gustav Schmoller, Grundriss der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Leipzig
1901, Bd. I, S. 173.
3) P'erdinand Hueppe, Zur Rassen- und Socialhygiene der Griechen, Wiesbaden
1897, S. 52.
- 56i -
strenge Ausschliessung der Frauen aus dem öffentlichen und
gesellschafthchen Leben ohne Zweifel stark begünstigt wurde.
Die eigentliche und Hauptursache der antiken Knabenhebe ist
die Thatsache, dass der Knabe und der Mann ästhetisch, geistig
und erotisch höher geschätzt wurde als das Weib.
Einen Anhaltspunkt dafür liefern schon die sogenannten Vasen
mit „Lieblingsinschriften", über die Wilhelm Klein ^) sich folgender-
massen äussert:
..Die Minderzahl der Frauennamen ist so auffällig — es sind im ganzen 30
Gefässe gegen 528 mit männlichen — namentlich wenn wir noch beachten, dass ihr Vor-
kommen auf Gefässen, die ihren Toilettebedürfnissen entsprechen, überwiegt, dass wir sie
ohne Gefahr vernachlässigen köimen".
Es wurde also fast ausschliesslich auf diesen Vasen der
männlichen Schönheit gehuldigt — rj Jiäig xaXy kommt nur sehr
selten gegenüber dem 6 Ttaig y.aXög vor — die weiblichen Reize galten
nichts in Vergleichung mit denjenigen der Knaben, die, wie ein
älterer Arzt-) sich ausdrückt, eine „Aufregung der feineren Sinne
der Wollust" bewirkten. Ausgebildet wurde dieser Sinn für die
Schönheit der männUchen Formen in den Gymnasien und an anderen
öffentlichen Orten, wo die Jugend nackt sich tummelte und gemein-
schaftlichen Leibesübungen oblag, oder bei den grossen Festen und
im Theater, wo man ebenfalls männliche Kraft und Schönheit be-
wundern konnte. Dies hebt ausdrückhch Cicero (Tusc. Quaest. IV.
33) hervor, aus diesem Grunde liess der der Knabenliebe feindliche
Polykrates die Gymnasien und Palästren schliessen (Athen. XIII, 78).
Es sei auch an den enthusiastischen H3-mnus auf die Knabenschönheit
bei Xenophon (Sympos. IV, 10 ff.) und bei Isokrates (Oratt. Att.,
Tom. IL p. 243) erinnert, welcher letztere ausdrücklich auf die Er-
regung der Wollust durch die physische Schönheit des Knaben auf-
merksam macht 3). Nach Lukianos (Amor. 33 ff.) entspringt die
Knabenliebe allein aus dem Gefühle für das Schöne, deshalb kennen
die Tiere sie nicht, weil ihnen dieses Gefühl fehlt ^).
Von den Griechen übernahmen die Römer diese höhere phy-
sische Schätzung der Mannes- und Knabenschönheit wie das am
augenfälHgsten in einem sehr interessanten Epigramme des Mar-
tialis (XI, 43) zum Ausdruck .kommt:
i) Wilhelm Klein, Die griechischen Vasen mit Lieblingsinschriften, 2. Aufl.,
Leipzig 1898, S. 2.
2) Landsberg in HenscheTs „Janus", Neue Folge, Bd. II, S. 617.
3) Vgl- *ii^ Stelle bei van Limburg Brouwer a. a. O., Bd. IV, T. II, S. 257.
4) Vgl. weitere Citate bei van Limburg Brouwer ib. S, 274.
- 562 -
Deprensum in puero tetricis me vocibus, uxor,
Corripis et ciilum te quoque habere refers.
Dixit idem quotiens lascivo Juno Tonanti ?
nie tarnen grandi cum Ganymede iacet.
Incurvabat Hylan posito Tirynthius arcu:
Tu Megaran credis non habuisse nates ?
Torquebat Phoebum Daphne fugitiva: sed illas
Oebalius flammas iussit abire puer.
Briseis multum quamvis aversa iaceret,
Aeacidae propior levis amicus erat.
Parce tuis igitur dare mascula nomina rebus,
Teque pula, cunnos, uxor, habere duos.
Ueber die thatsächliche Häufigkeit des homosexuellen Ge-
schlechtsverkehrs durch Pädikation giebt schon die oben mitgeteilte
griechische Terminologie (S. 527 — 528) Aufschluss, wo die verschie-
denen Worte, die sich auf den Missbrauch des Afters beziehen, mit-
geteilt sind. Auch die Dichter deuten mit unzweideutigen Worten
darauf hin, z. B. Theokrit (Id. V, 41):
'ÄviyJ' ejivyiCov rv, rv d^äkyeeg
ferner ebendas. Vers 87 und Vers 116; Straton von Sardes (Epigr. 6,
5") 77» 95. cit. nach Limburg Brouwer a. a. O., S. 233); Aristo-
phanes (Plut. 149 — 152).
Eine noch deutlichere Sprache reden die Abbildungen auf
griechischen Vasen und Gefässen. Roulez^) hat zuerst darauf
hingewiesen, in wie unzweideutiger Weise alle bildlichen Darstellungen
diese physischen Beziehungen zwischen Mann und Knaben wiedergeben.
Sehr bemerkenswert ist eine päderastische Scene auf einem von
Gerhard und Panofka-) beschriebenen Gefäss von gebrannter Erde.
Ein vorwärts gebückter Jüngling ist am Bauche des Gefässes
dargestellt, mit ausgestreckter Rechten die Finger wie geöffnet, in
der Linken ein Gerät auf dem Boden haltend wie einen Reifen;
hinter ihm ein Jüngling, der ihn rückwärts unzüchtig bedroht.
Vielleicht musste in dem hier dargestellten Spiel derjenige, bei dem
der Reifen niederfiel, sich diesen Dienst gefallen lassen, wie etwa
bei unserem Erraten, in wessen Hand der Ring sich befindet, der
Inhaber des Ringes nicht selten einem Kusse sich unterwerfen muss.
Das würde allerdings für eine unglaubliche Häufigkeit des Pä-
dikationsakles sprechen, wenn er als blosse Prämie bei solchen Spielen
zur Ausführung kam. Doch ist diese Deutung fraglich.
i) J. Roulez, Choix de vases peints du musee d'antiquites de Leide, Gent 1854,
S. 69.
2) E. Gerhard und Th. Panofka a. a. O., S. 463.
— 5Ö3 -
Eine undeutliche Gruppe unzüchtiger Männerliebe auf einem ponipejanischen Terra-
cottagefässe wird von denselben Autoren') unter Nr. 21 beschrieben.
Nach F. Bücheier '•^) muss das Wort „Paedicatio" eigentlich
„Pedicatio" von „pedicare" heissen, da dieses nicht mit jialg zusammen-
hängt, sondern mit pedo, podex, wie dies auch nach Bücheier die
Autorität der Priapea ergiebt und das „Pedicare" auf pompejanischen
Wandinschriften. So enthält Priap. LXVII ein verstecktes Anagramm
„Pedicare", nämlich:
Penelopes primani Didonis primam sequatur
et primam Cadmi syllaba prima Remi,
quodque fit ex illis, mihi tu deprensus in horto,
für, dabis: hac poena culpa luenda tua est.
Demgegenüber verficht Otto Keller^) die Anschauung, dass
„pedicare", dessen e statt ae auffallend sei, in der That von jtaidixa.
herkommt. Man hätte das nie bestreiten sollen.
,, Vielmehr", meint er, ,,lag die Aufgabe vor, dass man die auffallende Orthographie
wie bei obscenus volksetymologisch, mit anderen Worten eben durch falsche Etymologie
erklären musste. Es ist nun eigentlich doch leicht begreiflich, dass pedicare und pedere
in einen gewissen Ideenzusammenhang gebracht wurden, ähnlich wie mingere und fj-oi^ög
in Zusammenhang gebracht sind, nur dass es sich bei letzteren \\m wirklich naive urindo-
germanische Ideenassociation handelt, während bei pedicare und pedere wesentlich der
rein zufällige äussere Gleichklang für eine späte etymologische Hypothese bestimmend ge-
wesen sein dürfte. Es ist übrigens bezeichnend und bildet eine genügende Entschuldigung
für die altrömische Volksetymologie, dass man bekanntlich neuerdings mit grossem Eifer die
faktische Herkunft des pedicare von ped-, woher pedere und podex, verfochten hat."
Auf einer pompejanischen Wandinschrift heisst es:
Accensum qui pedicat, urit mentulam^).
Eine sehr deutliche Schilderung des Pädikationsaktes bringt
Priap. XI:
Ne prendare, cave. prenso nee fuste nocebo,
saeva nee incurva vulnera falce dabo:
traiectus conto sie extendere pedali
ut culum rugam non habuisse putes.
Aehnliche Schilderungen giebt Martial II, 51:
Infelix venter spectat convivia culi
Et semper miser hie esurit, ille vorat.
ferner IX, 69:
1) E. Gerhard und Th. Panofka a. a. O., S. 468.
2) Rhein. Museum für Philologie, N. F., Bd. XIII, Frankfurt a. M., S. 153—155.
— Vgl. auch die pompejanische Inschrift .,Phoebus Pedico" bei Zangemeister, Corpus
Inscriptionum Latinarum, Berlin 187 1, Bd. IV, S. 139 (Nr. 2194).
3) Otto Keller, Lateinische Volksetymologie und Verwandtes, Leipzig 1891,
S. 76-77.
4) F. Bücheier, Die pompejanischen AVandinschriften a. a. O., S. 259.
— 564 —
Cum futuis, Polycharme, soles in fine cacare.
Cum paedicaris, quid, Polycharme, facis?
was Priap. LXVIII näher erläutert wird, wo es u. a. heisst:
/usgöaksov certe nisi res non munda vocatur,
et pedicorum mentula merdalea est.
Für „pedicare" finden sich auch noch charakteristischere und
plastischere termini technici, z. B. „scindere podicem" (Priap. LXXVII),
,.nates praebere" (Priap. XXII), ,,nates pervellere" (Plaut. Pers. V,
2, 66). Ja, bei Persius (IV, 34 ff.) wird der Podex direkt als die
Vulva der Kinäden bezeichnet. In dem Fragment 195 des Archi-
1 och OS wird der Podex roäjiug genannt. „Quo a verbo derivantur
TEOTXoxQäfiiq, is qui podice gaudet, und didroajuig is qui podicem ut
cinaedus levem habet" ^).
Dass die Pädikation von der hellenischen Knabenliebe unzertrennlich war, lehrt eine
flüchtige Durchsicht der griechischen Dichtung, wo wir dieselben Poeten die ideale und
die rein physische Seite der Päderastie verherrlichen sehen. Neuerdings haben Paul
Brandt") und Otto Knappt) die betreffenden Stellen in erschöpfender Weise zusammen-
gestellt. Aus dem von diesen Autoren gesammelten Material seien die bemerkenswertesten
Belegstellen herausgehoben.
Bei Athenaios (XIII, 604 d) wird von Sophokles erzählt, dass er mit einem
schönen Knaben „vors Thor" gegangen sei, um dort mit ihm zu verkehren. Der Junge
habe seinen eigenen Mantel auf das Gras gebreitet und mit dem des Sophokles hätten sie
sich zugedeckt.
Im Fragment 66 des Anakreon heisst es drastisch:
'AXXa jiQOJitva
Qadivovg, c5 <piks, /.irjQovg.
Die fünfte Idylle des' Theokritos enthält den Wettgesang zwischen dem Ziegen-
hirten Komatas und dem Schafhirten Lakon. Beiden sind die Freuden der männlichen
Liebe, auch in ihren letzten Konsequenzen, durchaus bekannt. Komatas muss sich die An-
rede CO xivabog gefallen lassen (V. 25), doch auch er kann sich rühmen, die kallipygischen
Reize des anderen nicht bloss mit den Augen genossen zu haben (V. 41 — 44). Desgleichen
gesteht auch Lakon seine erotischen Spiele mit einem är>]ßo; .-zalg ein {V. 8;). Noch
einmal prahlt Komatas mit seinen an Milon vollzogenen Heldenthaten et dicit Milonem cum
permoleretur pulchre cevisse (podicem crebro motu agitavisse ob insignem voluptatem) (V.
117 — 119).
Ebenso rühmt sich in Epigramm 317 der Palatinischen Anthologie ein Ziegenhirt
einem anderen gegenüber der Pädikation eines dritten Hirten.
In Epigramm 330 derselben Anthologie hören wir von einem Standbild des Pan
neben einer schönen Quelle, der den Wanderer belehrt, er dürfe von dem Wasser schöpfen.
i) Citiert nach Paul Brandt, Der Tiaidow soco; in der griechischen Dichtung.
In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, herausg. von M. Hirschfeld, Leipzig 1906,
Bd. VIII, S. 636.
2) Paul Brandt, Der .-^aiöcov socog in -der griechischen Dichtung. In: Jahrbuch
für sexuelle Zwischenstufen, Leipzig 1906 u. 1907, Bd. VIII, S. 619 — 684 und Bd. IX,
S. 213—312.
3) Otto Knapp, Die Homosexuellen nach hellenischen Quellenschriften. In: An-
thropophyteia, herausg. von Friedrich S. Krauss, Leipzig 1906, Bd. III, S. 254 — 260.
- 5^5 -
so viel er Lust habe, es aber nicht zum Baden benutzen; wenn er es doch thue, würde er
die dem Pan eigene Strafe der pedicatio erleiden. Doch falls ihn dies vielleicht gar
noch anlocke, so wisse er auch noch andere Strafen, die ihm weniger gefallen würden.
Aehnliche Motive kommen ja überaus häufig in den Carmina Priapea vor, wo die
Pädikation als die gewöhnliche Strafe den Gartendieben angedroht wird.
Buch XII der Palatinischen Anthologie enthält 94 Gedichte des Straton aus Sardes
aus dessen Sammlung von Epigrammen auf schöne Knaben. Ueber die Motive des Coitus
analis mit Knaben belehrt uns Epigramm 7 des Straton in nicht misszuverstehender Weise:
2(piyy.zi]Q ovH soriv Tiagä Jiag&h'M, ovds q)ü.7jfia
ä:T?.ovv, ov qpvaiJti) ygoitog kvnvotrj,
Ol) }.6yog rjdvg sxeTvog 6 :Togvi>i6g, ovo' axegaiov
ß^Jf^fia, Siöaaxofxh'ij ö' sozi xamoriga.
yw/Qovvzai b'oTiidev jtäoar z6 Se jlisiCov exeTvo,
ol'x Eoziv nov -d-fig zl]v yjoa -rla^oixh'rjv.
Als Motive für die Pädikation von Knaben und Männern galten : die grössere Kraft
■des männlichen Sphinkters gegenüber dem des Weibes, der angenehmere männliche Geruch,
<lie raffiniertere Ars amandi (durch Küsse, obscöne Reden), die Möglichkeit der Mastur-
bation des Gliedes des pädicierten Knaben. Aehniich äussern sich Lukianos (eQont:g,
p. 457) und Achilles Tatius II, 35 — 38 über die Vorzüge der Knabenliebe vor der Liebe
zu Frauen.
Die Ausfühmng der Pädikation schildert Epigramm 206 des Straton, dessen Schluss
lautet :
'OyJ.ov xai f^ers, KvQi, y.ai ifißd/J.orzog dvda/ov
:;ioü)zor avjLifiE/^zär y /is/.szär ua&iTio.
In Epigramm 245 wird der Vorzug des ausschliesslich auf Knaben bezogenen
^vyi^Eiv vor dem blossen ([.lövov) ßirsiv hervorgehoben. Bei älteren, behaarten Kinäden
war das tiv/iCecv weniger angenehm, wie aus einem drastischen Epigramme des Meleagros
{Anthol. Palat. XII, 41) erhellt:
Ovxht fioi Qijocov ygäffEzai y.a/.og ovo" 6 Tivoavyijg
:zoiv :iozE, vvv d'ijd?] öa/.ög, 'A.-ro/./.ödorog.
Szigyoi &rj/.vv Egojza' daovzgojyXoiv de jziEOfia
?.aozavQ(ov fis/.EZoj .-roifiiaiv atyoßdzaig.
Denselben Inhalt hat ein Epigramm des Aikaios aus Messen e (Anthol. Palat.
XII, 30), während das folgende Epigramm des Rhianos (Anthol. Palat. XII, 38) die
jugendlichen Reize der ni'yi] des Knaben schildert:
^Qgai xal Xdgizeg ze xazd y?.vxv ysvav s'Xacov,
& jivyd' xvcöooeiv d' ovöe yegovzag säg.
AeSov fioi xivog ioal fidxaiga zv, xai rira naiboiv
xoo/ieig; d nvyd 8' sitze' Msvsxgdzsog.
Es mussten also die älteren Kinäden in dieser Beziehung den jugendlichen zu gleichen
suchen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Das ist der Ursprung der von den römischen
Dichtern, besonders Martial, so oft hervorgehobenen Depilation des Gesässes, die sie
an dieser Stelle nicht bloss den Weibern, sondern auch den Knaben ähnlich macht, daher
nicht als blosse Effemination aufgefassl werden kann.
Die Thatsache, dass der Coitus analis die gewöhnliche Art des
Geschlechtsverkehrs bei der antiken Männer- und Knabenliebe war,
gewinnt noch eine besondere Bedeutung und innige Beziehung zu
— 566 —
den venerischen Krankheiten, wenn wir mit ihr die zweite Thatsache
einer ausgebreiteten männlichen Prostitution, des „Kinäden-
tums", in Verbindung bringen. Diese musste sich mit dem Augen-
blicke entwickeln, wo das individuelle Verhältnis zwischen Mann und
Knaben durchbrochen wurde und ein Knabe mehreren oder vielen
Männern als Lustobjekt diente, was nach der Erklärung des Cor-
nelius Nepos (Praef. § 4): l^audi in Graecia ducitur adolescentibus
quam plurimos habere amatores, unzweifelhaft der Fall war. Hier-
aus entwickelte sich dann naturgemäss sowohl in Hellas als auch in
noch grösserem Masse in Rom die männliche Prostitution. Diese
rjxaigrjxÖTsg oder jiöqvoi (Aeschines contra Timarch. 137, p. 294) wur-
den allerdings in der Blütezeit streng von den ehrbaren igw/bievoi
unterschieden und politisch degradiert. Doch schon Aristophanes
erwähnt Uebergangsformen zwischen beiden, die er ironisch 01 xQi]OToi
nennt (Aristoph. Plut. 155^ — 159)) die grosse Geschenke für ihre
sexuellen Dienstleistungen nehmen. Auch Straton von Sardes
äussert sich in einem Epigramm (Anth. Palat. XII, 212, bei Brandt
a. a. O. IX, 247):
Weh mir, was soll die Thräne im Aug', was bist du so traurig?
Sage doch, was dir fehlt, Junge, und was du begehrst.
Nunmehr streckst du mir hin die Hand, die hohle, o Jammer!
Also verlangst du Geld! Wer hat dich dieses gelehrt?
Bist nicht mehr mit Gebäck, mit Honigkuchen zufrieden,
Nicht mit Nüssen wie sonst, die ich zum Spiele dir gab.
Nein, du denkst an Geld und Gewinn! O Fluch über jenen,
Der dich dieses gelehrt und deine Liebe mir nahm.
Noch bezeichnender ist Epigramm 214:
Gieb dich und nimm dies Geld, ich werde zufrieden dich stellen;
Und es wird mir dafür königlich lohnen dein I^eib.
Ein drittes (Epigr. 23g) spielt auf das Feilschen über den Preis
der Hingabe an;
Forderst du fünf? Ich gebe dir zehn, ich gebe auch zwanzig.
Bist du zufrieden damit? Danae war' es gewiss.
Vielfach bestanden diese Geschenke, mit deren Hülfe die egaorai
die eQMjuevoi zu gewinnen suchten, aus verschiedenen Tieren: Tauben,
Enten, Pfauen, Hähnen, Jagdhunden, Pferden u. s. w. Roulez^)
beschreibt mehrere Vasenbilder mit Darstellungen von Päderasten, die
solche Geschenke den Eromenen übergeben.
Aus diesen Verhältnissen entwickelte sich dann die männliche
Prostitution in der typischen Erscheinung des Kinädentums, der
Pathici {yJvaidoi. xvTidrm, Xaoiroi, otfiyy.jat).
i) Vgl. Roulez a. a. O., S. 70, besonders auch Tafel XVII daselbst.
- 5b7 -
Nach der Zusammenstellung von Rosenbaum M waren ausser
den Gymnasien und Palästren die Barbierstuben, y.ovqela (Demosth.
contr. Aristogit. 7S6, 7; Theophrast. Charact. VIII, 5; Plut. Sympos.
V, 5; Aristoph. Plut. 339), die Salbenläden, fxvooTxoiXela (Aristoph.
Equit. 1380)-), die Arzneibuden, largeTa (Aeschines contr. Timarch.
§ 40; Aelian. Var. bist. VIII, 8), die Wechselbuden, rQdjieCai (Theo-
phrast. Charact. V, ed. Ast p. 183), die Werkstätten, eoyaoT/joia, die
Badehäuser (Theophrast. Charact. VIII, 4) Versammlungsorte für
die männliche Prostitution und ihre Kuppler {TtQoaycoyoi. jnaoTQOJioi).
Auch der Kerameikos diente diesem Zwecke-''). An einsamen dunklen
Orten, hauptsächlich auf der Pnyx, gaben die männlichen Prosti-
tuierten sich ihren Kunden hin (Aesch. contra Timarch. p. 35, p. go,
p. 104, p. 112; Plato Sympos. p. 217b).
Die körperliche Erscheinung suchte natürlich meist die Merk-
male des Knaben nachzuahmen , w'as besonders in der Epoche
Alexanders des Grossen hervortrat, von der an eine allmähliche
Umgestaltung des männlichen Schönheitsideals bei den Griechen
überhaupt eintritt.
„Um die Alexanderepoche wird es Mode, das Gesicht zu rasieren, und tritt an die
Stelle der vollbärtigen Hellenen ein glattwangiges Geschlecht, welches auf künstlichem Wege
ein Scheinbild jugendlicher Zartheit festzuhalten trachtet. (Vgl. Becker, Charikles III-,
p. 242 ff.). Die Toilettenkünste, das Blondfärben des Haares (Menander bei Meineke,
Fragm. Menandri et Philemonis p. 235 und Fragm. comicor. gr. IV, p. 265, 133. Nikias,
Anth. pol. XI, 398. Vgl. Becker, Charikles HI-, p. 248 ff.), die Herstellung künstlicher
Haarputze (Diphilos bei Meineke, Fragm. comicor. gr. IV, p. 409); das Malen der
Augenbrauen (Ale.xis bei Athen. XIII, p. 568 A), die Zubereitung feiner Schminken
(Alexis bei Athen. XIII, 568 A; Theokr. idyll XV, 16; Duris von Samos bei
Athen. XII, 542 D) und Salben (Apollonios bei Athen, XV, p. 689 A) werden mit
grossem Raffinement gepflegt. Nicht nur Frauen, sondern auch Männer suchten durch
solche Mittel der Natur nachzuhelfen. Der Phalereer Demetrios von Samos färbte sein
Haar und schminkte sein Gesicht, um, wie Duris von Samos (Athen. XII, p. 542 D)
sich ausdrückt, ein heiteres und zartes Aussehen zu haben. So erschien die Durchschnitts-
masse der damaligen Griechen weichlich und weibisch (Klearch bei Athenaios XV,
p. 687 A: vi'v 8s Twr ä^'^gcoiicov ov^ ai oofiai fxövov &g qirjoi KXeagxog iv tqitco jibqI
ßion>, d/Aä y.al ai yooixl TOV<fSo6v eyovaai ti ovv£y.'&i]).vvovai xovg fiEzayeigi^ofih'Ovg).
Die Lieblingsfiguren der hellenistischen Dichtung sind zarte Jünglinge mit milch-
weisser Hautfarbe, rosigen Wangen und langen weichlichen Locken. Wie an Klei tos,
dem Genossen Alexanders, der weisse Teint bewundert wurde, hebt Bion die schneeweisse
Haut des Adonis hervor (Athen. XII, p. 532 C; Bion idyll, I, 7, 10). Pausanias
(HI, 19, 4) urteilt über den Hyakmthos des Nikias, der Künstler habe den Jüngling
allzu zart geschildert, um dadurch auf die Liebe des Apoll zu demselben hinzudeuten"*).
i) J. Rosenbaum a. a. O., S. 128 — 129.
2) Vgl. auch Wachsmuth a. a. O., II, i, S. 484.
3) Kurt Wachsmuth a. a. O., Bd. II, Abt. i, S. 259 — 260.
4) Heibig a. a. O., S. 257 — 258.
— 568 —
Diese Vorliebe für effeminierte Männer lässt sich auch in der
späteren Vasenmalerei Unteritaliens und ebenso an den Wandbildern
nachweisen. Von einem Wandbilde, das Phrixos darstellt, wurde
Heibig der Zweifel mitgeteilt, ob die Figur desselben nicht vielmehr
weiblich sei. Doch konnte er nach einer genauen Untersuchung
des Originals im Juli 1872 versichern, dass „an derselben noch gegen-
wärtig deutliche Spuren des männlichen Gliedes ersichtlich sind"^).
Der Mythos von Apoll und Admetos wird auf den kampani-
schen Wandbildern nach der alexandrinischen Version behandelt, der
zufolge der Gott in den schönen Jüngling verliebt war. Die üppig
schwellenden Fleischmassen und beinahe weiblichen Formen, welche
auf einem dieser Bilder dem Admetos eigentümlich sind, lassen,,
verglichen mit der folgenden von Rhianos gegebenen Schilderung
der Reize eines von ihm begehrten Jünglings (Anthol. palat. XII, 93, 3):
rf] jukv yäg Oeodcooog äyei norl niova oaoxog
äxjurjv, xal yviwv äv&og äxrjQaoiov
darauf schliessen, dass der Maler von einer ähnlichen Absicht be-
stimmt war, wie sie Pausanias bei dem Hyakinthos des Nikias
hervorhebt. Aehnlich wurden Ganymedes, Phrixos und Nar-
kissos dargestellt.
Die Maler der Kaiserzeit folgten dem Vorgange der Alexander-
und Diadochenperiode. Sogar der Cyklope Polyphemos wurde
als bartloser Jüngling dargestellt-). Ja, man kann sagen, dass erst
die römische Kaiserzeit die Effemination der Männer in einem gross-
artigen Massstabe entwickelt hat, wie wir das aus den zahlreichen
Anspielungen des Martialis, aus den Schilderungen des J u Ve-
na lis (II, 84 ff.) und Petronius, den Berichten des Suetonius
und der Kaiserbiographen entnehmen können. Allerdings hatte sich
schon weit früher durch Berührung mit der griechischen Kultur das
typische Kinädentum in Rom entwickelt^). Schon Varro verspottete
in seiner .Satire „Eumenides" die weibischen Moden der Männer^
spricht von den „partim venusta muliebri ornati stola" und vergleicht
diese Effeminierten wegen ihrer durchsichtigen Gewänder mit Najaden^).
T) Heibig a. a. O., S. 260.
2) Ibidem, S. 2bo — 261.
3) Vgl. darüber Meier a. a. O., S. 151 — 152.
4) Vgl. O. Ribbeck, Ueber Varronische Satiren. In: Rhein. Museum für Philo-
logie 1859, Bd. XIV, S. 107. Als Gegenstück' dazu geisselt Varro in den „Meleagri"
die männliche Kleidimg von Frauen (ibid. S. 128) und beschreibt das Kostüm einer ä la
Atalanta aufgeschürzten Jägerin : non modo suris apertis, sed paene natibus apertis ambu-
lans; cum etiam Thais Menandri tunicam demissam habeat ad talos (ähnlich Juvenal. VI, 446).
569 —
Jedenfalls hat die Päderastie, gegen die schon 169 v. Chr. die
lex Scantinia sich richtete, sich wesentHch unter griechischem Ein-
flüsse entwickelt. Das beweisen die vielen Namen griechischer Her-
kunft für die Homosexuellen beiderlei Geschlechts, wie „malacus"
(Plaut., Mil. III, I, 74; Plaut, Trucul. II, 7, 48), „cinaedus"
(Lucil., Fragm. II, 10; Juven. II, 9 u. a.), „pathicus" (Juven.
IX, 130 u. ö.)i), „catamitus" (Plaut., Menaechm. I, 2, 35; Auson.,
Epitaph. XXXIII), „draucus" (MarL I, 97, 11 ff.; Mart. VII, 67,
4 ff.), „ephebus" (Mart. IX, 36, 3), „parectatus" („tum ephebum
quemdam quem vocant parectaton", Lucil., Fragm. XX, 8), „andro-
gynus" (Auson. LXVIII, 15). Erwähnt w^erden ferner noch „ma-
lacissare" (Senec, Epist. 66; Plaut., Bacch. I, i, 31), „coprea",
„lastaurus", „maltha" (Horat., Sat. I, 2, 24), „patula" als pä-
derastische Bezeichnungen -).
Jedoch hat auch die lateinische Sprache schon seit der plautini-
schen Epoche eine reiche homosexuelle Terminologie entwickelt^).
Wir führen nur an:
,,Abronis vitam agere'- = Pathicus, pathice vivere.
„All ex viri" = cinaedus, paedico. Ab „allicere" (Plaut., Poenul. V, 5, 31).
„Amator" (Senec, Controv, I, 5).
,,Amatus" pro catamito (Gellius, Noct. Att. XVI, ig).
,,Ambulare in masculos" de paediconibus (Senec, Controv. I, 5).
„Amores" pro catamitis (Plaut., Mostell. arg. i ff.).
„Bell US" pro molli et effeminato (Mart. III, 63).
„Blax", moilis, lascivus, delicatus (Festus bei Rambach, S. 57).
„Caedere" ^ pedicare (Plaut., Casin. III. i, 14).
„Calamistratus" = moilis, effeminatus (Plaut., Asin. III, 3, 37).
„Capillati" pro catamitis (Mart. III, 58, 31).
„Cathedralitii", molies, efTeminati (Mart. X, 13, i).
„Clunes tor quere" specialiter dicebatur de patiente in pedicatione (Arn ob.
1, 2; Juven. II, 19 sqq.).
„Comati", molies, cinaedi, pathici (Juven. II, 15; XI, 149).
„Concubinus", pusio, catamitus (Suet. in Galb. 22; Mart. VIII, 44, l"
Catull., c 61, v. 126 u. ö).
„Conquiniscere", inclinari ad patiendam pedicationem (Plaut., Cistell. IV, i, 5),
„Culex" paedico (Hadrian., Epigr. apud Spartian. Rambach 93).
„Culus" podex: frequentissime de pathicis (Mart. II, 51, 5; Catull. XXXI,
I sqq.).
„Cymbala pulsans" pro cinaedo, ex Gallis, Cybeles sacerdotibus, more cinae-
dio, et cymbala pulsare solitis (Juven. IX, 60 sqq.).
„Dalraaticus" pro cinaedo (Lamprid. in Commod. Ramb. 97).
1) Dem entsprechend heissen die sich gewerbsmässig der Pädikation hingebenden
Frauen „pathicae" (Priap. XL; LXXIII).
2) Vgl. Saalfeld, Hellenismus, S. 35, zitiert nach G. Grupp a. a. O., I, 326.
3) Vgl. die Wörterbücher von Pierrugues, Blondeau und Rambach.
— 570 —
„Delicatus", moUis (Cicero ad Attic. I, i6; Catull. X\'1I, 14 sqq.).
,,Delumbis", mollis, effeminatus (Pers. I, 104 sq.).
„Depilatus", mollis, pathicus (Senec. de Constant. sap. i, 7).
„Destituere nudum-', pedicare (Cicero ad Fani. IX, 22).
,,DigituIo Caput scabere", sigmim pathicorum (Senec, Epist. 52; Juven.
IX, 131 sqq.).
„Discinctus" = mollis, pathicus (Sueton. in Jul. Caesarem 45; Seiiec,
Epist. 92; Pers. IV, 21 sqq.; Horat., Sat. II, i, 73 sq.).
„Divellere pilos", Cultus mollium et semivirorum. \'ellebant praesertim pa-
thici (Juven. XIV, 194 sq.; Senec, Epist. 115; Juven. IX, 12 sq.;
Mart. III, 74, i; IIT, 63, 3 — 6; V, 41, 6; Ovid., Art. am. I. 520;
Auson., Epigr. CXXIII, I sq.; Mart. IX, 27, i sq.).
„Diviso res" pro paediconibus (Ramb. 98).
„Dominus" pro catamito (Mart. XI, 71, i sq.).
„Effeminatus" (Priap. 58, 2).
„Emasculator", qui de viso mulierem facit (Apulej. in Apolog.-Ramb. 113).
,,Evirare" effeminare (Mart. V, 41, i ).
„Exoleti" (Sueton. in Tib. 43; Plaut., Poenul. Prolog. 17 sq.; Mart. XII,
43, 7 sq.; XII, 91, I sq.; Senec, Epist. 66).
„Exossus", mollis, effeminatus (Apul., Met. i).
„Fluxus", mollis, pathicus (Mart. V, 41, i sq.).
„P'ornix" pro pathico. Sic Curio Caesarem vocavit (Sueton. in Caes. 149).
„Fragilis", de viro prostituto, patiente in venerem (Horat., Sat. I, 8, 38 sq.).
„Galbanatus" pro molli et pathico (Mart. III, 82, i sq.).
,, Gemelli", cinaedi, pathici (Catull. I, III, i sq.).
„Glabri" pro mollibus et cinaedis, qui, muliebria patientium more, se totum
corpus levigabant (Mart. XII, 38, 4 sq.).
,,Ignavus" delicatus, mollis (Plaut., Casin. II, 3, 23).
„Imbulbitare" puerili stercore inquinare, quod accidit pedicantibus (Lucil.,
Incert. Fragm. 36).
,,Inclinare", incurvare ad puerile officium (Juven. X, 220 sq.).
„Incubitatus", paticus in paedicatione, inclinatus (Plaut., Pers. II, 4, 3).
„Incurvare", flectere ad puerile officium (Mart. XI, 43, 5 sq.).
„Integri pueri", nondum viliali (Catull. XXXII, i sq.).
„Internuculus", catamitus, pedicatus (Petron., Ramb. 160).
„L'evis",. saepe pro molli et pathico (Pers. I, 82 sq.).
„Lumbus tener", mollis (Juven. VIII, 16 sq.).
,,Manicatus, Manuleatus", mollis, effeminatus, mulierculus (Senec, Epist.
I, 33; Stat., Theb. VII, 657 sq.).
„Massilienses" = molles, paedicones (,,ubi tu es qui colere mores massi-
lienses postulas? Nunc, tu si vis subigitare me, proba est occasio" (Plaut.,
Cas. V, 4, I sq.).
„Meritorii pueri", catamiti (Juven. III, 234).
,, Mollis", pathicus (Cael. Aurelian., Chron. morb. IV, 9; Mart. IX, 47,
5 sq.).
„Morbus" de postera venere (Juven. II, 16 sq., 50; IX, 48 sq.; Auson.,
Epigr. CXXII, 5 sq.).
„Morbosus", cinaedus, pathicus (Catull. LH, i sq.).
„Muliebris patientia", de pathicis et catamitis (Petron., Sat.; Auson.,
Epigr. CXXII, 5 sq.).
— 571 —
„Muliebrosus", mollis, effeminatus (Plaut., Poenul. V, 5, 24).
„Ocquiniscere", inclinare (Rambach 211).
„Officium puerile", patientia pueri paedicati (Plaut., Cist. IV, i, 5; Mart.
IX, 67, I sq.).
„Opus muliebre", patientia paedicati (Petron., Satir.).
„Paedagogium", paedicatio (Sueton. in Neron. 28).
,, Passivus", pathicus (Jul. Firmic. in Math. 4).
„Perforare", praesertim de paedicante (Priap. LXXVIII, 3 sq.).
„Percidere", pedicare (Mart. VII, 62, i sq.; Priap. XIV, 5 sq.).
„Praetextatus", saepe pro impuro, a puerorum flagitioso officio (Juven. II, 171).
„Puellascere", effeminari (Varro, Sat. Menipp. 44).
„Pullarius", cinaedus ^).
„Pullus" catamitus (Plaut., Poenul. V, 5, 13 sq.).
„Pulliprerao", qui pueros premit et subigit (Auson., Epigr. LXX, 8).
„Pusio" pro catamito (Juven. VI, 34).
„Resinatus", mollis, pathicus, quod libidinosi hujus farinae resina pilos evelle-
bant pudendorum (Juven. VIII, II4).
„Resupinati". molles, infames (Juven. VIII, 176).
,,Scarabaeus'', paedico, a more scarabaeorum qui stercore gaudent (Auson.,
Epigr. LXIX, 9 sq.).
„Scindere", pedicare (Priap. LXXVII, 9).
„Scortum", pro puero catamito (Plaut., Poenul. prolog. 17 sq.; Sueton. in
Vitell. 3).
„Socraticus", cinaedus, pathicus, qui muliebria patitur (Juven. II, 10).
„Sponsa" pro catamito (Mart. VI, 64, 5; Juven. I, 78).
,,Stabulum" pro pathico (Sueton. in Caes. 49).
„Subulo", paedico, a subula qua sutores corium pertundunt (Auson., Epigr.
LXIX, 8).
„Suppedere", pedicare (Cicer. Ep. ad Famil. III, 22).
„Supplicium puerile", patientia in pedicatione (Mart. II, 60, 2).
„Testiculare", pedicare (Plaut., Amph. II, 2, 193 sp.).
„Unguentatus", pro moUi et cinaedo (Catull. LVI, 142).
„Usurarius", catamitus (Plaut., Curcul. Itl, i, 12 sq.).
„Vesica" de podice; sensu pedicationis (Plaut., Casin. II, 8, 21 sq.).
„Parum vir", effeminatus (Quintil., Inst. orat. V, 9; A. Gellius I, 5;
Mart. II, 36, 4).
„Virum quaerere", quem videbant hominem, vestitu, victu, incessuque möllern,
more pathicorum, de eo dicebant: „hie virum quaerit" (Petron., Sat. 119, 27).
Es ist kein Zweifel, dass in der Kaiserzeit die Päderastie und die
männliche Prostitution fast den gleichen Umfang angenommen hatte
wie die Prostitution der Weiber. Die Bordelle dienten beiden Zwecken
(Petron., Sat. 8; Mart. XI, 45, 2), ausserdem gab es eigene Knaben-
bordelle (Cod. Theodos. IX, 7, 6). In der Oeffentlichkeit spielten
i) Von „pullus" junges Thier, junges Huhn; vgl. Otto Keller, Lateinische
Volksetymologie etc., Leipzig 1891, S. 178. AusonLus hat ,, felis pullarius" Hühner-
marder = :jai8eQaoTtjg (Epigr. LXX, 5); GIoss. Cyrill., p. 564, iq: jiaiSeQaoTrjg, pullarius.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. O'
— 0 / ^ —
bei gewissen Festen die Päderasten dieselbe Rolle wie bei anderen
die Prostituierten. So schildert Petronius (Sat. 2;^) das schamlose
Treiben der Kinäden beim Priapusfeste, wo einer von ihnen das
folgende bezeichnende Lied singt:
huc huc cito cotivenite nunc, spatalocinaedi,
pede tendite, cursum addite, convolate planta
femoreque facili, clune agili et manu procaces,
moUes, veteres, Deliaci manu recisi.
Apulejus macht uns (Metamorph. L. VIII) in eingehender
Weise mit dem päderastischen Kulte der Kybelepriester bekannt,
die als Pathici sich öffentlich jungen Männern hingaben. Das gleiche
mussten die schön gelockten Pagen des kaiserlichen Hofes und an-
derer vornehmer Herren thun. Sie standen nach dem Diner bereit,
um sich von den Gästen missbrauchen zu lassen. Sie waren in
durchsichtige Gaze gekleidet, um die Wollust anzureizen ^). Sicher
gab es geheime Päderastenklubs. Das Fest eines solchen schil-
dert Juvenal (Sat. II, 84 ff.), bei dem die Kinäden die Feier der
Bona Dea in weiblicher Kleidung und unter Anwendung aller weib-
lichen Toilettenkünste begingen, unter Ausschluss von Frauen, also
ganz nach Art unserer modernen „Männerbälle". Ja, er erwähnt
sogar die Hochzeit eines gewissen Gracchus mit einem Hornbläser
(Juven. II, 117 — 120), bei der die Gäste die Glückwünsche darbringen,
während die „Braut" im Schoosse des Gatten liegt! Diese Männer-
hochzeiten waren nichts Aussergewöhnliches. Haben doch auch
Kaiser wie Nero, der sich mit Sporns und Doryphorus ver-
mählte, wie Heliogabalus öffentliche Hochzeiten mit Männern ge-
feiert, bei denen Brautschleier, Zeugen, Mitgift, Brautbett und Hochzeit-
fackeln und schliesslich sogar die öffentliche Schaustellung der Paedi-
catio nicht fehlten! (Tacit, Annal. XV, 37; Sueton., Nero 28, 29;
Lampridius, Heliogabalus 10). Auch das aus Lustknaben bestehende
sogen. „Paedagogium" der Kaiser muss hier erwähnt werden'-*).
Es ist nun interessant und von Bedeutung für die Kenntnis der
Beziehungen zwischen Pädikation und venerischen Krankheiten, die
physischen Merkmale der passiven Päderasten und andere Kenn-
zeichen ihrer sexuellen Bethätigung zusammenzustellen.
I. Depilation. — Während die männlichen Kinäden das
Haupthaar nach Frauenart lang wachsen und herabwallen Hessen,
i) Seneca, Epist. 123, 15 f. Vgl. Theodor Birt, Zur Kulturgeschichte Roms,
Leipzig 1909, S. 146.
2) Vgl. Th. Birt, De amorum in arte antiqua simulacris et de pueris minutis apud
antiquos in deliciis habitis. Marburg 1892.
— 0/ 0 —
pflegten sie um so sorgfältiger alle übrigen Körperhaare, an Lippen,
Extremitäten, Brust und Bauch, an den Genitalien und vor allem
am After zu entfernen, durch Ausrupfen mit den Fingern oder
Pincetten oder durch Anwendung künstlicher Enthaarungsmittel^).
Besonders das glatte, haarlose Gesäss ist ein Hauptkennzeichen des
Pathicus. (Vgl. über die Depilation der Kinäden Mart. 11, 29 u. 62;
VI, 56; IX, 27 u. 47; Sueton., Galba 22; Sueton., Otho 12; Persius
IV, 37 — 41; Mart. III, 63 u. 74; Mart. V, 41 u. 61; Juvenal. IX,
12; Catull. XXXIV; Julius Capitolinus, Pertinax 8; Spartianus,
Hadrianus 4.)
2. Das ,,cevere". — So nannte man eine wollüstige Bewegung
des Gesässes, womit der Kinäde entweder beim Gehen Männer an-
lockte oder beim Coitus das Weib nachahmte.
et de virtute locuti
Clunem agitant. Ego te ceventem, Sexte, verebor?
(Juvenal. II, 20 — 21; vgl. ferner Juvenal. IX, 40; Mart. III, 05;
Plautus, Pseudol. III, 2, 75). Deshalb hat wohl Suidas nicht mit
Unrecht das Wort „Kinäde" von xtreiv to. aldöla abgeleitet.
3. Aeussere Erscheinung, Gang, Blick, Stimme. — Die
weibische, nervöse Erscheinung des Pathicus, seinen tänzelnden, wie-
genden Gang, seine feine, dabei aber durchdringende Stimme schil-
dert vorzüglich Polemon (Physiognom., lib. II, g, i c, p. 290):
.,Der Androg)-ne hat einen schmachtenden und lüsternen Blick, und verdreht die
Augen und lässt sie umherschweifen, zuckt mit der Stirn und den Wangen, die Augen-
brauen ziehen sich auf einen Fleck ztisammen, der Hals wird gebogen, die Hüfte ist in
beständiger Bewegung; alles zuckt, Kniee und Hände scheinen zu knacken, wie ein Stier
schaut er um sich und vor sich nieder. Er spricht mit feiner (qxovsl Xsjitov), aber kräch-
zender und kreischender, sehr verdrehter und zitternder Stimme."
(Uebersetzung von J. Rosenbaum.)
Aehnlich schildert Adamantus (Physiognom., lib. II, 38, I c,
p. 440), der auch die (pcovrj Xejmq herv^orhebt, den Kinäden. Als
Kivaidov 07]jueia bezeichnet Aristoteles (Ph3'siognomicon, cap. 3 in
Scriptores Physiognomiae veteres, ed. J. G. Fr. Franz ius, Altenburg
1780, p. 51) das „gebrochene" Auge, einwärts gebogene Kniee, schlaffe
Bewegungen der Hände, Uebereinanderschlagen der Schenkel beim
Gehen, Umherwerfen der Augen -).
1) Das Enthaaren der Männer wurde als Gewerbe von Frauen, den ,,ustriculae",
betrieben (Tertull., De pallio, c. 4).
2) Deshalb bezeichnet auch Aristophanes solche Weichlinge als Frauen, z. B.
Sostrate und Cleonyme statt Sostratos und Cleonymos (Wolken 678 und 680), ferner
Horat., Sat. I, 8, 39 („Pediatia" statt „Pediatius'"). Vgl. auch Cicero. De oratore H, 68, 277.
37*
— 574 —
Nach Lukianos (adversus indoctum, c. 23) gab es ein Sprich-
wort, wonach es leichter sei, fünf Elephanten unter den Achseln zu
verbergen, als einen Kinäden, so sehr werde dieser durch Kleidung,
Gang, Blick, Stimme, gebogenen Hals, Schminke etc. charakterisiert.
4. Körperliche Anzeichen der passiven Päderastie. —
Dass der Geschlechtsverkehr zwischen Männern in Vergleichung mit
dem normalen Geschlechtsverkehr etwas Unnatürliches, Gewaltsames
ist und mit viel mehr Anstrengung verbunden ist, das haben die
antiken Aerzte wohl gewusst. Dafür spricht die folgende, sehr in-
teressante, bisher gar nicht beachtete Stelle des Ruphos von Ephe-
sos bei Oreibasios VI, 38 (ed. Bussemaker et Daremberg,
Bd. I, S. 540), wo er den heterosexuellen mit dem homosexuellen
Beischlaf, der offenbar etwas ganz gewöhnliches war, vergleicht:
Ka'&oXov juev al julieig ipvxQoregov t6 nw/xa änegya^ovrai. 'Hooov
jusv eloi ßiaioi al 7106g t6 d^rjXv yivojuevac öio xal )]OOov kvnrjQai al
de JiQog 16 olqqev ovvtovoi jtiev' Jioveiv de jueiCovwg dvayxdCovoiv. („Im
Ganzen kühlen die Begattungen den Leib ab. Die mit Frauen vor-
genommenen sind weniger wider die Natur, deshalb auch weniger
beschwerlich. Dagegen die mit Männern anstrengend imd notwendig
mit grösseren Schmerzen verbunden".)
Das Wort „novelv"- ist der allgemeine terminus technicus für
die Schmerzen und die Leiden infolge der Pädikation. Das
ward bestätigt durch ein sehr interessantes, neuerdings von Sudhoff
in seiner wertvollen Studie „Aerztliches aus griechischen Papyrus-
Urkunden" i) reproduziertes Papyrusblatt, das den Hüllen einer Kro-
kodilmumie von Tebtynis im südlichen Faijüm entstammt, bei den
Grabungen aus Mitteln der Mrs. Phoebe A. Hearst-Stiftung gefun-
den und etwa im Jahre 100 v. Chr. beschrieben wurde. Darauf steht
das folgende „Sprüchlein perverser Sexualität":
(pikojivyiojijg T[t?] äno^vrjoxoiv \ß.vei:eika'\ to xoig yvmgifioig.
xaraxavoare rd ö[o]rdQid /uov y.al xaTd\ßare~\
xai xotpare [i'^va zoig rd eixTivyia novovoi
eninaGdfi (bg (p\dQ\fiaxov .
(Tebt. Papyri, Part. I, S. 5, No. i, Zeile 17!),
was Sudhoff übersetzt:
i) Karl Sudhoff, Studien ziu- Geschichte der Medizin, herausg. von der Pusch-
mann-Stiftung an der Universität Leipzig, Heft 5/6: Aerztliches aus griechischen Papyrus-
Urkunden. Bausteine zu einer medizinischen Kulturgeschichte des Hellenismus, Leipzig 1909,
S. 109 — HO.
— 575 —
„Ein Päderast befahl seinen Freunden auf dem Sterbebette:
Verbrennt meine Gebeine und brecht und zerstosst sie, damit sie
denen, die in der Aftergegend krank sind, als „Arznei" dienen."
Sudhoff begleitet diese höchst interessante Stelle mit folgendem
Kommentar (a. a. O.. S. iio):
.."Wer nicht von der veritas novantiqua felsenfest überzeugt ist, dass die Spirochaete
pallida erst mit Kolumbus' erster Rückkehr ihren Einzug in die Alte Welt hielt, der wird
etwa an breite Kondylome denken, die der Lüstling mit seiner Asche noch bekämpfen will;
es steht aber natürlich nichts im Wege, Rhagaden, spitze Kondylome, Hämorrhoiden etc.
in dieser Region anzunehmen, die im harmonischen Anklang an modernste opotherapeutische
„Ideen" mit der Asche dieses ,, Homosexuellen'' geheilt werden sollen, damit sie den pas-
siven Päderasten zum Werke nicht unfähig machen."
Es liegt aber gar kein Grund vor, wie Sudhoff es hier thut,
die Syphilis hier überhaupt in Betracht zu ziehen. Das zeigt die
Wahl des Wortes „Ttoveiv"'. Denn dieses bedeutet, wie aus der von
mir beigebrachten Stelle des Ruphos erhellt, nichts weiter als eine
direkte Erkrankung infolge des anstrengenden, schmerz-
haften analen Coitus (daher gerade der terminus technicus ,,n:om>'"),
sei es durch rein mechanische Läsionen beim mehr oder weniger ge-
waltsamen Eindringen des Membrum in die Analöffnung oder durch
direkte Uebertragung einer lokalen Affektion des Gliedes auf After
und Mastdarm, wobei man hauptsächlich an Ulcus molle, Tripper,
spitze Kond^■lome und ansteckende Formen der Balanitis zu denken
hat. Wenn man das rolg xä lixTivyia tioyovoi übersetzt: „die in der
Aftergegend infolge eines analen Coitus krank sind", entsprechend
der wahren Bedeutung des Tiovtiv^ so ergiebt sich die Richtigkeit der
obigen Erklärung von selbst.
Es ist überhaupt sicher, dass die Alten, Aerzte und Laien, die
krankhaften Folgen der Päderastie entweder auf den Coitus analis
beziehen und in diesem Falle deutlich auf die Affektionen der Regio
analis hinweisen oder auch auf den Coitus in os und dann ebenso
deutlich lokale Affektionen des Mundes und Rachens daraus ableiten,
z. B. den üblen Mundgeruch, während der allgemeine Typus des
Pathicus aus der fortschreitenden Effemination und f.iakay.ia, also aus
einer mehr psychischen Aetiologie sich entwickelt.
Wie genau der Zusammenhang zwischen Affektionen des Anus
und der Pädikation bekannt war, geht aus dem in dieser Beziehung
nicht misszuverstehenden Epigramm des Martialis (Epigr. III, 71)
hervor :
Mentula cum doleat puero, tibi, Naevole, culus,
Non sum divinus, sed scio quid facias.
- 576 -
Man hat dieses Epigramm so gedeutet, als ob der Pathicus
Naevolus an einer Anusaffektion gelitten und diese dann auf den ihn
pädicierenden Knaben übertragen habe. Das ist natürlich möglich;
z. B. kann eine Rectalgonorrhoe des Naevolus bei dem Knaben
einen schmerzhaften Harnröhrentripper hervorgerufen haben, der so
oft zu schmerzhafter entzündlicher Schwellung des Penis führt. Ich
erkläre den Sinn des Epigramms einfacher aus den Schmerzen, die
durch das Missverhältniss zwischen Membrum und Orificium ani und
die für die Ueberwindung des Sphincter ani nötige Anstrengung so-
wohl beim passiven als beim aktiven Päderasten hervorgerufen wer-
den, und aus den oft bei diesem Akte entstehenden Einrissen und
Erosionen am Anus und an der Präputialschleimhaut ^). Auf dieses
Missverhältniss und diese Schmerzen bei der Pädikation spielt auch
das folgende Epigramm des Martial (III, 89) sehr durchsichtig an:
Utere lactucis et mollibus utere malvis:
Nam faciem durum, Phoebe, cacantis habes,
deuten ferner die termini technici ,,scindere" (Priap. LXXVII,
Mart. III, 94), „pervellere" podicem (Plaut., Pers. V, 2, 66). Gegen-
über dem aktiven ist der passive Päderast wirklich ein „fragilis"
(Horat., Sat. I, 8, 39). Auch die Stelle bei Petronius (Sat. 24,
ed. Bücheier, p. 24) „ab hac voce equum cinaedus mutavit transituque
ad comitem meum facto clunibus eum basiisque distrivit", ist be-
zeichnend genug. Wohin die wiederholten mechanischen Verletzungen
durch ein Membrum permagnum führen können, sagt in krassen
Worten Martial (VI, 37):
Secti podicis^) usque ad umbilicum
Nullas relliquias habet Charinus,
Et prurit tamen usque ad umbilicum,
O quanta scabie miser laborat!
Culum non habet, est tamen cinaedus.
Aehnliche Folgen langjähriger gewohnheitsmässiger passiver
Päderastie werden in Lib. IX, Epigr. 57 des Martialis beschrieben
i) Mit Recht sagt P. Meniere (Etudes medicales sur les poetes latins, Paris 1858,
S. 433) mit Beziehung auf Martial III, 71: ,,I1 indiquait clairement une cause evidente
de maladie; les deux coupables souffraient en meme temps, le diagnostic etait facile, mais
rien ne prouve qu'il y eüt lä autre chose qu'une lesion materielle, mecanique, dont on
pourrait retrouver l'analogue dans des conditions legitimes, et que Martial lui-meme a sig-
nalees un grand nombre de fois".
2) Auch Lib. IX, Epigr. 47 enthält eine deutliche Anspielung auf den ,,sectus
podex" des Pathicus.
— 577 —
(„culus tritior") und in dem folgenden Epigramm 131 des Ausonius
{ed. Peiper, p. 346):
Inguina quod calido laevas tibi dropace, causa est,
Irritant volsas laevia membra lupas.
Sed quod et elixo plantaria podice vellis,
Et teris incusas pumice Clazomenas,
Causa latet, bimarem nisi quod patientia morbum
Appetit, et tergo femina, pube vir es.
Das Wort „Clazomenae" ist hier mit Absicht gewählt, um den
desolaten Zustand eines oft pädicierten Gesässes zu bezeichnen. Bei
Pierrugues bezw. Rambach heisst es (S. 73): „Clazomenae. —
Scissurae podicis paedicatione triti et lacerati; inter morbos venereos:
a Clazomenis, Joniae asiaticae civitate, postera venere famossissima;
vel a xkdCeo§ai, frangi et dividi". In der deutschen Ausgabe
der Forberg'schen „Apophoreta" zum „Hermaphroditus" (Leipzig
1908, S. 222) bemerkt der Uebersetzer zu dieser Stelle, daß noch
heute in Italien der Pathicus allgemein mit dem Schimpfwort „Culo
rotto" bezeichnet werde, was den „Clazomenae" des Ausonius voll-
kommen entspricht.
Von grösster Bedeutung für die richtige Auffassung der Worte
„ficus" und „mariscae", die von den Anhängern der Altertumssyphilis
als „syphilitische Feigwarzen", als sogenannte „breite Kondylome"
aufgefaßt werden, ist die unwiderlegbare Thatsache, dass sie als
direkte Folgen der Pädikation aufgefasst wurden und in eine
unmittelbare Beziehung zur Einführung des Penis in den After
gebracht wurden.
Die Analogie zwischen der Feig-e und den feigenähnlichen Aus-
wüchsen am After ist hellenischen Ursprungs.
Das beweist der Inhalt eines Epigramms des Philippos der
„Anthologia Planudea" (IV, 240), in dem gleichfalls das Wort loidg
zugleich „Feige" und „Feigwarze am Anus" bedeutet.
Das Epigramm (Anthologia Palatina ed. Dübner, Paris 1872,
Bd. II, S. 377), Zwiegespräch zwischen a und ß lautet:
a. coQaiag y ioooco mg lo^ddag ei' ye Xaßelv juot
ovyx,o)QeTg öXiyag . .
ß. &iyyavE jurjöejuiäg. ooyiXog cbg 6 IJghjjiog igeTg' Ihi xal xevog
ijieig.
a. val kkojuai, öog juoi.
ß. xal ydg eycb dio/uai.
a. XQIJ^^'^'^ y^Q> ^^7^ /"^'j jra^' ijuov Tivog;
— 57« —
ß. soTi vojuog Jiov „doq Xdße".
a. xal ■&edv a>v dgyvQiov ob y^.iyj]]
ß. äk?.o ri yorjjua cpiXö).
a. 71010V rode;
ß. räjud xaxeo'&oiv
ovxa, öog evßvjucog ioydöa rip> ömooj.
In philologisch genauer (von Herrn Dr. phil. W. Schonack
freundlichst mitgeteilter) Übersetzung:
a. Ich sehe, daß die Feigen reif sind, wenn du doch mir ge-
statten möchtest, wenige zu nehmen ... ß. Rühre keine an! du
sprichst zornig wie Priapus; noch dazu willst du sogar mit leeren
Händen kommen ... a. Ja, ich bitte darum, gieb mir . . ß. Auch
ich habe eine Bitte, a. Du wünschest nämlich, sag' mir, was von
mir? ß. Irgendwo steht die Bestimmung: „gieb und nimm!" a. Ob-
wohl ein Gott, verlangst du Geld? ß. Etwas anderes möchte ich.
a. Welcher Art ist dies? ß. Wenn du meine Feige essen willst, so
gieb mir wohlgemut die „hintere" Feige! —
Es handelt sich also um ein Gespräch zwischen Priapos und
einem fremden Besucher des Gartens. Der Fremde möchte von den
schönen reifen Feigen einige haben, was der Gott zunächst rundweg
ablehnt, aber schliesslich gegen entsprechende Gegengabe erlaubt.
Erstaunt fragt der Fremde, ob denn ein Gott nach Geld verlangt;
doch der Gott belehrt ihn, dass er vielmehr des Fremden
eigene „Feige" begehrt.
Derselbe Gedanke wird im carmen Priapeum V ausgeführt:
Quam puero legem fertur dixisse Priapus,
versibus hie infra scripta duobus erit:
'quod meus hortus habet, sumas impune licebit,
si dederis nobis, quod tuus hortus habet'.
Hieraus geht hervor, dass auch das von Priapos zum Genüsse
begehrte Gesäss als „Feige" bezeichnet wurde, dass also loxdg bezw.
ficus auch für den ganzen Teil ohne Rücksicht auf etwaige krank-
hafte Veränderungen gesetzt wurde. Vielleicht hat dann das „ficosus"
in dem berühmten und von den Vertheidigern der Altertumssyphilis
als Hauptargument angeführten Epigramm des Martialis VII, 71
auch die Nebenbedeutung: „den Hintern preisgebend". Dass es sich
auf die Pädikation bezieht, ist zweifellos, wie wir weiter unten sehen
werden.
Dass „Ficus" auch im Sinne von feigenähnlicher Exkrescenz
am Anus, von „Feigwarze" genommen wurde und dass diese als
— 570 —
•eine direkte Folge des Coitus per anum aufgefasst wurde, dafür
liefert Epigramm 49 des 6. Buches des Marti alis den stringenten
Beweis :
Non sum de fragili dolatus ulmo.
Nee quae stat rigida supina vena.
De ligno mihi quolibet columna est,
Sed Viva generata de cupressu:
Quae nee saecula centies peracta
Nee longae cariem timet senectae.
Hanc tu, quisquis es, o malus, timeto.
Nam si vel minimos manu rapaci
Hoc de palmite laeseris racemos,
Nascetur, licet hoc velis negare.
Inserta tibi ficus a cupressu.
Hier wird also klar und deutlich unter dem Bilde des pria-
pischen Holzmembrum die Auffassung zum Ausdrucke gebracht, dass
die Feigwarzen durch die Einführung des Penis in den Anus ent-
stehen (,, nascetur inserta tibi ficus a cupressu"). Wo bei den Sati-
rikern die „fici" und „mariscae" vorkommen, g'eschieht das immer,
um den Vorwurf und Spott über die passive Päderastie ihres Trägers
auszudrücken. Der Sinn ist: „aha, der hat Feigwarzen, also ist er
ein Pathicus!" Wer diesen offen am Tage liegenden Zusammenhang
erkannt hat, der liest die folgenden Epigramme ganz anders als die
Anhänger der Lehre von der AltertumssyphiHs:
Ut pueros emeret Labienus, vendidit hortos
Nil nisi ficetum nunc Labienus habet.
(Mart. XII, 33.)
d. h. Labienus verkaufte seine Gärten, um Knaben zu kaufen, von
denen er sich pädicieren liess, und hat jetzt statt der Gärten ein
„Feigenbeet", d. h. ein Beet von Feigwarzen ').
Ferner:
castigas turpia, quum sis
Inter Socraticos notissima fossa cinaedos.
Hispida membra quidem et durae per brachia setae
Promittunt atrocem animum; sed podice levi
Caeduntur tumidae medico vidente mariscae.
(Juvenal. IL 9—13.)
l) Zur Erläuterung vgl. man noch die den Labienus betreffenden Epigramme II, 62,
■VFO erwähnt wird, dass er sein Gesäss enthaare, um sich pädicieren zu lassen, und XII, 16,
wo er als aktiver Pädikator verspottet wird, mit ganz ähnlicher Beziehung des „agellus" wie
des „ficetum" im obigen Epigramme.
— 58o —
Hier wird ein heuchlerischer Pathicus gegeisselt, der äusserlich
rauhe Männlichkeit hervorkehrt, wofür auch die starke Behaarung
des Leibes und der Arme spricht, jedoch der Arzt erkennt
lachend den wahren Sachverhalt, als er ihm von dem glatten,
enthaarten After die üppig ins Kraut geschossenen Feigwarzen ^) ent-
fernt! Wie man hier das Lachen des Arztes auf eine ganz und gar
hypothetische Syphilis beziehen will, ist mir unerfindlich, es bezieht
sich doch nur auf die überraschende Entdeckung, dass der Mann,
der äusserlich den Biederen und Virilen par excellence spielte, sich
nach Besichtigung seiner Posteriora als langjähriger Pathicus ent-
puppt. Darauf bezieht sich auch das „frontis nulla fides" in Vers 8.
Kein Wunder, dass der Arzt über diesen plötzlich sich ihm darbie-
tenden Kontrast lacht und mit Heiterkeit die Verlogenheit des alten
Heuchlers und Tugendprotzen konstatiert.
Das schon erwähnte Epigramm VII, 71 des Martial, das man
so oft auf Syphilis bezogen hat, muss ebenfalls in diesem Sinne inter-
pretiert werden. Es lautet:
Ficosa est uxor, ficosus et ipse maritus,
Filia ficosa est et gener atque nepos.
Nee dispensator nee vilicus ulcere turpi
Nee rigidus fossor, sed nee arator eget.
Cum sint ficosi pariter juvenesque senesque,
Res mira est, ficos non habet unus ager.
Es handelt sich um die mit Feigwarzen am Anus behaftete
Familie und das Gesinde eines Gutsbesitzers, alle sind davon be-
troffen, die Frau, der Gatte, die Tochter, Schwiegersohn und Enkel -),
ebenso der Hausverwalter, der Meier, der Gräber, der Pflüger, kurz
alt und jung; deshalb, so spottet Martial, ist es ein Wunder, dass
kein einziger Acker „Feig-en" trägt ^). Es herrscht eben — das ist der
wahre Sinn des. Epigramms — in dieser ländlichen Hausgenossen-
schaft eine zügellose geschlechtliche Promiskuität und alle
haben sich pädicieren lassen, Männer sowohl als auch Frauen. Weiter
i) ,,inarisca" ist ebenfalls eine Art grosser Feigen. Das Wort ist hier absichtlich
gewählt, um die üppige Wucherung der Kondylome zu bezeichnen.
2) Den Missbrauch ganz junger Knaben geisselt auch Epigr. IX, 6 und besonders
IX, 8 des Martial. Bekanntlich brachte Domitian die lex Scantinia de nefanda Venere
(Valer. Maxim. VI, i, 7) wieder in Anwendung (Sueton., Domit. 8).
3) „Ager" ist hier im zweifachen Sinne genommen. Martial denkt neben dem wirk-
lichen Acker, der keine Feigen trägt, an den ungenannten (= Gesäss), der solche reichlich
hat. Dies erhellt deutlich aus XII, 16, wo ,,agellus" einmal in jenen, einmal in diesem
Sinne gebraucht wird.
- 58i -
unten werden wir sehen, wie häufig auch Frauen sich der Pädikation
hingaben. Das „Ulcus turpe" bezieht sich wohl mehr auf die starke
Absonderung der Feigwarzen als auf den geschwürigen Zerfall.
Natürlich kann auch ein eiterndes Ulcus molle als Folge der Pädi-
kation auftreten und in dem Sammelbegriff „ficus" mitenthalten sein.
Auf die medizinische Terminologie der Analaffektionen kommen wir
später noch zu sprechen. Hier soll nur der Nachweis des Zusammen-
hanges der fici mit der passiven Päderastie erbracht werden. Dieser
Zusammenhang erhellt auch aus IV, 52 des Martialis, das ich an-
ders erkläre als Rosen bäum (a. a. O. S. 137) es thut. Das Epi-
gramm lautet:
Gestari iunctis nisi desinis, Hedyle, capris,
Qui modo ficus eras, iam caprificus eris.
Rosenbaum bemerkt hierzu:
„Wenn capra hier die Bedeutung von Scortum hat, wie es kaum anders sein
kann, so ist diese Stelle ein unzweideutiger Beweis, dass die Feigwarzen eine Folge des
Beischlafs mit gemeinen Huren waren, und letztere gewöhnlich damit behaftet waren."
Rosenbaum hat bei dieser Stelle übersehen, dass derselbe
Hedylus in einem späteren Epigramm (IX, 57) als eingefleischter
Pathicus verhöhnt wird und dass hierdurch der Sinn des obigen
Epigramms sich ganz einfach so erklärt: „Bis jetzt warst Du, Hedylus,
nur ein „ficus", d. h. ein passiver Päderast. Wenn Du aber nicht
bald aufhörst, Dich mit den beiden Ziegen (oder Ziegenböcken) abzu-
geben, so wirst Du bald ein „caprificus" sein. Caprificus bezeichnet
eine besondere Art von wilden Feigen, wird also hier als ein geist-
reiches Wortspiel gebraucht. Es ist möglich, dass es sich bei „capris"
um ein paar Huren handelt, möglich aber auch, dass Hedylus mit
Ziegen Sodomie trieb, und dass sich das Wortspiel auf diese Verbin-
dung von passiver Päderastie und Sodomie bezieht. Jedenfalls be-
zeichnet „ficus" auch hier wieder den passiven Päderasten, wie die
derbe Charakteristik des Hedylus als solchen in IX, 57 das schlagend
beweist ^).
Wie Hedylus ist auch Caecilianus, dessen laxe Sitten Martial
(IX, 70) geisselt, ein mit Feigwarzen behafteter Pathicus. Das ist
der Sinn von Epigramm I, 65:
l) Erwähnt sei noch die rein wörtliche Erklänmg des Epigramms IV, 52 bei Paul y
Wissowa, Real-Encyclopädie der klassischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung,
12. Halbband, Stuttgart 1909, Spalte 2142 (Artikel „Feige"): „Durch schlechten Umgang
verdorben wird jemand aus «iner fiais eine (unfruchtbaie) caprificus". Das erschöpft nicht
den Sinn des Epigramms, der wie oben gedeutet werden muss.
- 5B2 -
Cum dixi ficus, rides quasi barbara verba
Et dici ficos, Caeciliane, iubes.
Dicemus ficus, quae scimus in arbore nasci,
Dicemus ficos, Caeciliane, tuos.
„Ficus" heisst nach der vierten Deklination Feige, nach der
zweiten Feigwarze. Rosen bäum zitiert hierzu die folgenden Verse
der alten Grammatiker:
Haec ficus, fici vel ficus, fructus et arbor.
Hie ficus, fici, malus est in podice morbus.
Es war, wie GeigeP) treffend bemerkt, der „abenteuerliche"
Sitz am After, der diese Feigwarzen zum Gegenstande des Spottes
bei den Satirikern machte, weil er die Diagnose des widernatürlichen
Geschlechtsverkehrs sicherstellte. Deshalb werden die durch den natür-
lichen Geschlechtsverkehr erworbenen Feigvvarzen an den Genitalien
von den Satirikern fast gar nicht erwähnt, wenn sie den Laien auch
ebenso bekannt waren, wie den Aerzten, wie z. B. Carmen Priap. L
beweisen würde, falls die Lesart „ficosissima" richtig wäre. Nach der
gegenwärtig besten Edition der Priapea von Buecheler lautet das
Gedicht:
Quaedam si placet hoc tibi, Priape,
fucosissima me puella ludit
et nee dat mihi nee negat daturam,
causas invenit usque differendi.
quae si contigerit fruenda nobis,
totam comparibus, Priape, nostris
cingemus tibi mentulam coronis.
Buecheler hat, wie schon vor ihm Haupt („Conjectanea",
Hermes 1874, VIII, 241), ganz richtig erkannt, dass ficosissima hier
nicht am Platze ist, da der zum Priapus betende Mann schwerlich
sich für ein mit- Feigwarzen behaftetes Mädchen derart begeistern
konnte, dass er um jeden Preis sie, die in raffinierter Koketterie
(fucosissima, dafür Haupt: tricosissima) mit ihm ihr Spiel treibt (ludit),
besitzen möchte. Das wäre, selbst wenn man eine Kenntnis der
Ansteckungsfähigkeit ausschliesst, aus denselben ästhetischen Grün-
den unbegreifUch, die im Carmen Priap. XLVI den Liebhaber vor der
schmutzigen, mit Ungeziefer behafteten Dirne zurückschrecken lassen.
Auf eine andere Folge der passiven Päderastie scheint Martial
XI, 88 zu deuten:
I) A. Geigel, Geschichte, Pathologie und Therapie der Syphilis, Würzburg 1807,
S. iq8, Anmerk. 2.
- 583 -
Multis iam, Lupe, posse se diebus
Paedicare negat Charisianus.
Causam cum modo quaererent sodales,
Ventrem dixit habere se solutum.
Auf die Frage, weshalb er seit vielen Tagen nicht mehr pädicire,
antwortet Charisianus, er habe Durchfall. Berg^) erklärt in seiner
Uebersetzung des Martialis, dass dieser Ausdruck bedeute: er w^ar
selbst Kinäde. Der ,, Durchfall" sei also eine Folge der Reizung bei
der passiven Päderastie. Vielleicht aber ist das, wie Rosenbaum
(a. a. O., S. 134) meint, nur eine Ausrede des Charisianus, und es
verbirgt sich dahinter ein ernsteres Uebel des Pathicus, z. B. ein
Mastdarm tripper.
Dass jedenfalls die Pädikation für den Pathicus mit unange-
nehmen, oft unerträglichen Beschwerden verbunden war, scheint auch
die dunkle Andeutung bei Spartianus (Hadrian., c. 14) über die
Ursache des Selbstmords des schönen Knaben Antinous anzudeuten:
,,Antinonm suum, dum per Nilum navigat, perdidit, quem muliebriter flevit. de quo
varia fama est, aliis eum devotum pro Hadriano adserentibus, aliis quod et forma ejus
ostentat et nimia voluptas Hadriani."
Die „allzu grosse Wollust" des Kaisers Hadrian, die w^ohl
allzu häufigen unnatürlichen Beischlaf zur Folge hatte, war also die
Ursache des Selbstmordes des Knaben, wobei es dahingestellt bleibt,
ob auch eine Erkrankung vorhanden w'ar und zum Selbstmorde führte.
Kaum weniger häufig als die Pädikation der Männer war die-
jenige der Frauen durch Männer, sowohl bei den hellenischen Ver-
ehrern der Aphrodite Kallipygos (Athen. XII, 554 c) als auch bei
den Römern.
Interessant sind . in dieser Beziehung verschiedene Zitate aus dem Dichter Machon
bei Athenaios (Lib. XIII ed. Meineke, Vol. III, p. 43 ff.), aus denen hervorgeht, dass
berühmte Hetären sich pädicieren Hessen, z. B. die Mania:
ahovfjLEvrjv Xsyovoi zrjv Jivyriv Jiore
VTio Tov ßaoiXscog Maviav Ar]/zrjrQiov
dvta^tcöoai Scogsav xavxöv riva.
dovrog 5' ejiiaxoixi>aaa /nsia fiixgov Äeysi,
jiyafiifivovog nai, vvv exeTv e^eoii 001
(Athen. XIII, 579 a)
femer die Gnathaina:
Aeyovoi jiovTixöv ri (lEtQaxvlhov
a.va:!iav6f^iEV0v fiSTO. rr/g Fva&aivrj a^iovv
jTQog ECO y£v6i.i£vov, moxe xi]v TivyrjV ana^
i) Die Epigramme des Marcus Valerius Martialis in den Versmassen des Originals
übersetzt und erläutert von Alexander Berg, Stuttgart 1865, S. 419.
i84
avTÖi craQuo/Eiv zijr Sk tovt' emsTv, zd/.av,
sjisiza tfjv :jvyi]v /ne vvv alxeig, ozs
zag vg i.-rl roiLajv xaigög soziv sSäyeiv;
(Athen. 580 f.)
die Niko:
/.iyezai 6' ey.Ei%'ip- zijv yvvaifi' sa'/i]y.svai
7ivyi]v jidvv y.aXrjv, fjv Jioz' rj^iov kaßsTv
o Ai]/xo(fcör. fj S' sine ye}.6.aaa\ sv y''iva
2oq?0}ileT ),aßibv öwg, qrjai', nao' sfiov, (pü.zaze;
(Athen. 582 f.)
und endlich die Gnathainion (Athen. XIII, 581c).
Besonders die Gnathaina scheint in diesem Rufe gestanden zu haben. Ein Soldat,
der sie aushielt, nannte sie /.dy.xog („Cisterne"). Welchen üblen Nebenbegriff man damit
verband, zeigen die Zusammensetzungen /.axHOTTQwy.zog , Synonjin von svovngoyxzog, laxy.6-
nvyog und ).ay.xojiQO)Hzia ^).
Dass sich aber dieser -widernatürliche Verkehr keineswegs auf die Hetären be-
schränkte, sondern auch zwischen Ehegatten häufig vorkam, zeigen zahlreiche Stellen bei
römischen Schriftstellern. Z. B. bemerkt der Rhetor Seneca (Controv. I, 2): „Novimus
istam maritorum abstinentiam qui, etiam si virginibus timidis remisere noctem, vicinis tarnen
locis ludimt". Oft erwähnt Martial die Pädikation der Gattinnen und Buhlerinnen, z. B.
lässt er XI, 104, 17 ff. einen Lebemann zu seiner Gattin sagen:
Paedicare negas: dabat hoc Cornelia Graccho,
Julia Pompeio, Porcia, Brüte, tibi;
Dulcia Dardanio nondum miscente ministro
Pocula Juno fuit pro Ganymede Jovi,
und schildert IX, 67 deutlich die Pädikation als Folge des sexuellen Variationsbedürfnisses:
Lascivam tota possedi nocte puellam,
Cuius nequitias vincere nemo potest.
Fessus mille modis illud puerile poposci:
Ante preces totas primaque verba dedit,
genau wie bei Apulejus (Metamorph. III, c. 20): „Sic nobis gannientibus libido mutua
et animos simul et membra suscitat, et omnibus abjectis amiculis hactenus denique intecti
bacchamur in Venerem, cum quidem mihi jam fatigato de propria liberali-
tate Fotis puerile obtulit corollarium".
Vgl. ferner Mart. X, 81; XI, 79, 5; Ausonius, Epigr. LXXIX, p. 341 Peiper.
Interessant ist besonders XI, 99 des Martial durch den Spott auf das übermässige Klaffen
des Anus bei der sich der gewohnheitsmässigen Pädikation hingebenden Lesbia, die weder
sitzen noch stehen kann luid schliesslich von den eigenen — Kleidern pädiciert wird.
Nicht selten wurden Mädchen gleich den Knaben schon im Kindheitsalter pädiciert, wie
z. B. die Theodora, von der Prokop in den ^Avsxöoza (ed. Isambert, Paris 1856,
p. 104 — 107) berichtet: Tecog /u.sv ovv äcogog ovaa, rj 0sodcÖQa ig xoizrjv dvdQi ^vyisvai
ovöafirj el^sv ovöe ola yvvi] [xiyvvodai' »; 8e zovg xaxodaif^ovovatv dvögiav
riva fiiorfzrjv avs/uioyszo, xai zavza SovÄoig, oaoi zoTg y.sxzrjjLisroig sjiöfievoi ig z6
veazoov ndgegyov, xfjg ovorjg avzolg svxaigiag, zöv ökeßgov zovxov etoydCovzo s'v zs
fiaozQojTisiw n:o).vv ziva ygovor, inl zavzi] 8y zy nagd (pvoiv igyaoia zov
ooj/Liazog , öiazgißrjv ei •/£%>.
ll Vgl. Friedrich Jacobs, Vermischte Schriften, Leipzig 1830, S. 551.
- 585 -
Von bildlichen Darstellungen der paedicatio von Frauen seien erwähnt:
1. Ein Vasenbild im Museo Nazionale zu Neapel, auf dem ein bekränzter Satyr eine
auf der Erde knieende Frau pädicieren will ' ).
2. Auf einer Amphora aus Tharros sieht man nicht weniger als vier Männer mit der
Pddikation ihrer Frauen beschäftigt").
3. Ein Krater mit rötlichen Figuren schönsten Stiles. Dionysos mit Thyrsus steht
einer Frau („Mänade") mit Kalathos gegenüber, ein ithyphallischer SatjT einer bekleideten
Bacchantin, welche ihr Gewand nach Art der Venus Kallipygos erhebt, offenbar zum Zwecke
der Pädikation ^).
4. Pelike im Museo Tarquiniese in Corneto. Ein Mann sitzt vor einer Frau, die
das Gewand emporhebt. Auf der anderen Seite benützt er die Frau in unnatürlicher
Weise*).
5. Auf einer Kline, vor der ein dreibeiniger Tisch mit Gefässen und Trinkhörnern
steht, liegen zwei Jünglinge, beide unterwärts mit ihren Mänteln bedeckt, bekränzt und mit
Guirlanden um den Hals geschmückt: der eine hat in der Linken eine Schale, der andere
einen Zweig. Beide wenden die Köpfe um zu einer am Kopfende der Kline abgewandt
vor ihnen stehenden Frau, welche, bekleidet und beschuht, umblickt und ihnen, das Ge-
wand aufhebend, ihr Gesäss zeigt").
6. Auf einem pompejanischen Gemälde sieht man eine nackte Frau, den Kopf an
das Polster eines Triklinium gelehnt, den Hintern nach einem hinter ihr stehenden nackten
Jüngling gewandt*').
Die Feststellung der Häufigkeit des an Männern und Frauen
vorsrenommenen Pädikationsaktes im Altertum Hess auch, wie wir
gesehen haben, seine unmittelbare Beziehung zu rein lokalen mecha-
nischen oder pathologischen Alterationen der Regio analis erkennen,
die, wie wir ebenfalls sahen, sehr deutHch als eine Folge jenes Aktes
geschildert werden. Wir haben oben (S. 418 — 421 und S. 426 — 428)
bereits die zahlreichen nichts3^philitischen Affektionen und Lä-
sionen beschrieben, die durch die Pädikation hervorgerufen werden,
und müssen den Leser darauf verweisen. Diese sind heute noch
häufiger, mindestens aber ebenso häufig wie die syphilitischen
Affektionen. In dieser Beziehung ist die Mitteilung eines homo-
sexuellen Arztes interessant, der selbst mehrere passive Päderasten
behandelte und berichtet, daß er zwei syphilitische, einen lokalen
Schanker, mehrere Fissuren und einen Fall von spitzen Condylomen
i) H. Heydemann, Die Vasensammlung des Museo Nazionale zu Neapel, Berlin
1872, S. 620 (Nr. I B).
2) F. von Decker, Sardinische Reiseerinnerungen, namentlich aus Tharros. In:
Strena Helbigiana (Festschrift für W. Heibig), Leipzig 1900, S. 64.
3) S. Birch, „Vasen des Herrn Hope" in: Archäolog. Anzeiger, Oktober 1849,
Nr. 10, S. q8 — 99.
4) Paul Hartwig, Die griechischen Meisterschalen der Blütezeit des strengen rot-
figurigen Stils, S. 457.
5) H. Heydemann, a. a. O. S. 407 (Nr. 2855).
6) E. Gerhard und Th. Panofka, Neapels antike KunstMCrke, S. 461.
- 586 —
am Anus behandelt habe. Im letzteren Falle bestand eine grosse
blumenkohlförmige Geschwulst^). Fügt man die oben (S. 421 ff.) er-
wähnten Analulcerationen gonorrhoischen oder staph3dogenen Ur-
sprungs, die abscedierenden und hypertrophierenden Prozesse der
Analregion infolge der Pädikation hinzu (vgl. S. 429 und S. 430), so
braucht man nicht mehr zu der Hypothese von der „syphilitischen"
Natur der von Martial und Juvenal erwähnten „fici" und „maris-
cae" seine Zuflucht zu nehmen, über deren meist nichtsyphilitischen
Charakter sich erfahrene Gerichtsärzte längst klar sind (vgl. oben
S. 432 — 433 die Aeusserungen von E. Hofmann und Dittrich;.
Wenn auch im öffentlichen Leben der Alten die Homosexua-
lität der Frauen bei weitem nicht diejenige Rolle spielte wie die-
jenige der Alan n er, hauptsächlich wegen der den Frauen auferlegten
grösseren Zurückhaltung-), so war sie doch den Alten durchaus be-
kannt und geläufig und man schrieb ihr einen ähnlichen mythischen
Ursprung zu wie der mannmännlichen Liebe, wie aus einer Fabel
des Phaedrus (IV, 14) hervorgeht, nach der die „tribades" und die
„molles mares" dadurch entstanden sind, dass Prometheus in der
Trunkenheit
Adplicuit virginale generi masculo,
Et masculina membra adplicuit feminis.
Pia ton äussert sich im Symposion (p. 191 e) über den Ursprung
der Tribaden etwas anders: öoai de tö)v yvvaixcöv yvvaixög TjLtrjjud eiaiv,
ov Jidvv avxai roTg ävöodoi rov vvv noooeyovoiv, äXXd jucdXov Jigog Tag
yvvaixag TSioajUjuevai eioi' xal al eraiQioTQiai ex rovzov rov yevovg
yiyvovrai.
Es ist bezeichnend, dass auch die Tribadie in grösserem Um-
fange sich zuerst in Sparta entwickelte, wo auch der Ursprung- der
Knabenliebe als einer dorischen Volkssitte zu suchen ist. Plutarch,
der von der Liebe zwischen Frauen und Jungfrauen in Sparta be-
richtet (Lycurg. 18), hat sicher an Sinnenliebe dabei gedacht, was
ich mit Wachsmuth"^) gegenüber Welcker und K. O. Müller^)
annehme, weil die blosse Erwähnung dieser seltsamen Thatsache
von rein homosexuellen Liebesverhältnissen bei PYauen, für den er-
i) R. V. Kraff t-Ebing, Psychopathia sexiialis, lo. Aufl., Stuttgart 1898, S. 243.
2) Vgl. darüber u. a. William Mure, Historj' of Grecian Literature, London 1850,
Bd. III, S. 497 — 499.
3) Wilhelm Wachsmutli, Hellenische Altertumskunde aus dem Gesichtspunkte
des Staats, 2. Aufl., Halle 1846, Bd. II, S. 387.
4) Karl Otfried Müller, Die Dorier, Breslau 1824, Bd. II, S. 297—298.
,-.0/
fahrenen Anthropologen bereits die Betonung der physischen Bethä-
tigung einschhesst, ohne dass eine ideale Grundlage jener merkwür-
digen Beziehungen geleugnet werden soll.
Diese Auffassung gut auch für die seit Welcker^) vielerörterte
Frage, ob die lesbische Dichterin Sappho nur eine rein ideale Freund-
schaft für die von ihr besungenen und angeschwärmten Mädchen
empfunden habe oder in einer sinnlichen Glut für sie entbrannt ge-
wesen sei 2). Wer die Ergebnisse der neueren wissenschaftlichen
Forschungen berücksichtigt, ist durchaus zu der Annahme berechtigt,
dass bei angeborener, echter, originärer Homosexualität, wie das viel-
leicht bei Sappho der Fall war, jenes von Welcker und seinen
Nachfolgern betonte hohe ideale Gefühl sich in jeder Beziehung mit
einer leidenschaftlichen Sinnlichkeit und deren Bethätigung verträgt,
wie dies auch in der normalen heterosexuellen Liebe beobachtet wird.
Der „Fall Sappho" wird m. E. am richtigsten beurteilt, wenn man
aus den doch nun einmal nicht hinwegzudisputierenden klaren
Aeusserungen eines Ovid (Ars amatoria, III, 331: nota sit et Sappho,
quid enim lascivius illa? Trist., II, 365: Lesbia quid docuit Sappho,
nisi amare puellas? Heroid., XXI, 15 — 20 u. 201: Lesbides, infa-
mem quae me fecistis amatae), Horatius (Od., II, 13, 25: querentem
puellis de popularibus, Epist., I, iq, 28: mascula Sappho), Martialis
(VII, 69: Carmina fingentem Sappho laudavit amatrix: Castior haec,
et non doctior illa fuit) und Suidas (s. v. : erdigai de avrfjg xai cpilai
yeyovaoi rgeig, 'Ar^ig, Te}.eo(CTJza. Msydoa, 7106g ag xal diaßoX)]v eoyev
alo/gäg (filiag) und den ihre herrliche Poesie in den Vordergrund
stellenden Aeusserungen eines Solon (Stob., 2g, 58), Plato (Evvea
rag Movoag cpaoiv riveg' cog ohycÖQOjg' f/viös xai Zancpcj Aeoßößev fj
öexaTTj bei Bergk, Poetae lyrici graeci, Leipzig 1853, S. 494), Ca-
tull. (XXXV, 16: Sapphica puella musa doctior), Philoxenos
(Plut., Erot., 762 F), Horatius (Carm., IV, 9) und den eigenen leiden-
schaftlichen Liedern der Sappho, mit denen sie die Liebe der
Mädchen erfleht (vgl. besonders Fragm. 9; Fr. 12, 22, 2;^; Fr. 33:
'Hoäjuav juev eyw oeßsv, ^'Ar&i. jtdXai Tioxa; Fr. 34; 36; 38; I-r. 40; 41;
Fr. 58 und Fr. 70, wo von ihren Nebenbuhlerinnen bei der
schönen Atthis die Rede ist), den einzig möglichen Schluss zieht,
1) F. G. Welcker, Sappho von einem herrschenden Vorurteil befreit, Göttingen 1816.
2) Vgl. F. G. Welcker, Ueber die beiden Oden der Sappho. In: Rhein. Museum
f. Philologie, 1856, Bd. XI, S. 226 — 259; William Mure, Sappho and ihe Ideal iove
of the Greeks, ebendas., 1857, Bd. XII, S. 564 — 593; vgl. Ovid, Ars amatoria, ed. Paul
Brandt, Leipzig 1902, .S. 166 (Anmerk. zu III, 331) und S. 240 (neuere Literatur) und
die alierneueste Monographie: Bernhard Steiner, Sappho, Jena 1907.
Bloch. Der Ursprung der ."Syphilis. -^o
- 588 -
dass sie in der That eine Tribade war, dabei aber eine ideal empfin-
dende Künstlerin. Zu diesem Ergebnis kommt auch Theodor Koch
in seiner vorzüglichen Monographie über die Sappho'), wenn er bei
aller Anerkennung des idealen Grundzuges der sapphischen Liebe
schliesslich bemerkt: „dass diese Liebe bei einer starken, südlich-
leidenschaftlichen Xatur körperlicher so zu sagen und sinnlicher wird
als unter unserem phlegmatischen Himmel und als, wie man immer-
hin gestehen mag, überall zu wünschen ist, wird niemand in Ver-
wunderung setzen" (a. a. O., S. 45).
Jedenfalls ist der spezielle Typus der Tri baden, als deren
ältester Sitz neben Sparta die Insel Lesbos galt, den späteren Autoren
durchaus geläufig, wie die besondere Terminologie beweist
{rgißag, eraigiorgiai; Lukian., Dialog, meretr. V, 2; dieraigioTgiai,
Hesych. i, 510 = yvvälxeg ai Tetoajujuh'ai Jigög rag haigag im ovvov-
oiq, (hg oi ävdgsg- olov rgißddeg; tribas (Mart., VII, 67; Phaedrus,
IV, 14); frictrix (Tertullian. de pallio, c. 4); subagitatrix
(Plaut, Pers. II, 2, 45).
Lukianos berichtet (Dial. meretr. V, 2) von den Weibern auf
Lesbos vTio dvdgcov uev ovy. i&e?Mvoag avro ndo/eiv, yvvaiil de amdg
7iX't]oia'Qovoag. cooneg dvdgag. Er teilt dort ein sehr charakteristisches
Gespräch zwischen der Hetäre Leaina und der Tribade Megilla mit
und schildert sehr eingehend den darauf folgenden Geschlechtsver-
kehr zwischen den beiden. Eine andere berüchtigte Tribade ist die
Philaenis (Lucian., Amores, c. 28): jräoa ök ))juo)v fj yvvaiy.ovTTig eoro)
^ikaivig, dvögoyvvovg egonag doxrj^ovovoa.
Von römischen .Schriftstellern erwähnt schon Plautus eine
weibliche Homosexuelle, die Sophoclidisca in den Persern U, 2, 45,
zu welcher Paegnium sagt: ne me attrecta, subagitatrix. — Sin te amo?
— Male operam locas. Horatius spricht (Epod. V, 41) von der
„mascula libido"_ der Folia aus Ariminum, und eine auch heute noch
sehr häufige Complication führt uns Seneca (Controv. II in fine) vor,
nämlich die Eifersucht des Ehemannes, dessen Frau ihn mit einer
Tribade hintergeht: „Hybreas cum diceret controversiam de illo, qui
tribada deprehenderat et occiderat, describere coepit mariti affectum,
in quo non deberet exigi inhonesta inquisitio".
Martial und Juvenal belehren uns dann über die grosse Ver-
breitung der Tribadie in der Kaiserzeit, deren Organisation in ge-
heimen Klubs deutlich aus der Schild-erung Juvenals (VI, 306 — 322)
hervorgeht. Sie feierten ihre Orgien am Altar der Göttin Pudicitia
II Theodor Koch, Alkäos und Sappho, Beriiii 1862.
- 589 —
und beim Feste der Bona Dea. Wie gross die Zahl der Tribaden
in Rom war, geht auch aus dem Epitheton „tribadum tribas" hervor,
mit dem Martial (VII, 70) die Philaenis anredet, ein richtiges
„Mannweib", deren männliche Allüren und ausschweifendes Treiben
in dem berüchtigten Epigramm VII, 67 so drastisch geschildert werden:
Paedicat pueros tribas Philaenis
Et tentigine saevior mariti
Undenas dolat in die puellas.
Harpasto quoque subligata ludit,
Et flavescit haphe, gravesque draucis
Halteras facili rotat lacerto,
Et putri lutuienta de palaestra
Uncti verbere vapulat magistri:
Nee cenat prius aut recumbit ante.
Quam Septem vomuit meros deunces;
Ad quos fas sibi tunc putat reverti,
Cum coloephia sedecim comedit.
Post haec orania cum libidinatur,
Non fellat — piitat hoc parum virile — ,
Sed plane medias vorat puellas.
Di mentem tibi dent tuam, Philaeni,
Cunnum lingere quae pulas virile.
Eine andere Tribade mit männlichen Neigungen ist Bassa, der
Epigramm I, go gewidmet ist, aus dem die die Art des homo-
sexuellen Verkehrs beschreibenden Verse hervorgehoben seien:
At tu, pro facinus, Bassa, fututor eras.
Inter se geminos audes committere cunnos«
Mentiturque virura prodigiosa Venus.
Die Art des Verkehrs beschränkte sich also nicht bloss auf
Küsse und Umarmungen, sondern es fand auch eine Nachahmung der
heterosexuellen Cohabitation statt (das „equitare" des Juvenal VI, 3 1 1),
ausserdem eine manuelle oder linguale Masturbation, die als Zeichen
der „mascula libido" galt, oft aber, wie im Falle der Philaenis
(Mart. VII, 67; IX, 40), auch abwechselnd bald von der einen, bald
von der anderen Partnerin ausgeführt wurde. Dass, wie Martial
(VII, 67) und Seneca (Epist. 95) annehmen, eine clitoris permagna
es den Tribaden möglich macht, einen wirklichen Coitus auszuführen,
ist ein altes, auch in neuerer Zeit oft wiederholtes Märchen ^). Dagegen
bedienten sie sich in ihrem gegenseitigen Verkehr zweifellos schon
sehr früh einer künstlichen Nachahmung des männlichen Gliedes
{öXioßog), die aus Leder gefertigt war, und von Suidas s. v. öhoßog
i) Vgl. die betreffenden ungeheuerlichen Angaben bei Martin Schur ig, Muliebria,
Dresden 1729, S. 92.
38*
— 590 —
folgendermaassen definiert wird: alödiov degjiidTO'or , cß iygcTjvTo ai
Mih]oiai yvvaixeg , cbg igißdöeq xal aioxQOvgyoi. "Eyoüivxo de avroTg
xai ni yf]Qai yvvaiy.sg. Darnach wurden diese künstlichen Phallen
hauptsächlich von den jMilesiei innen, den Iribaden, sehr wollüstigen
Frauen und Wittwen gebraucht. Nach Aristophanes (Lysistr. io8
bis iio), der neben Kratinos am frühesten diesen ö?uaßog erwähnt,
scheint in der That Milet Hauptfabrikationsort für diese Wollust-
apparate gewesen zu sein :
i^ ov yuo rjfiäQ :joovöoour Mth'jnioi,
ovx elöov 07'd' ö/uoßov oxKo^äy-Tvlor,
(ig rjv av >)fih' oy.vrlvi] 'jti?:o)'oi(i.
Der Dichter Kratinos empfahl sogar nach vSuidas (s. v. jnior]Ti])
den allzu wollüstigen Weibern den Gebrauch des Olisbos und erwähnt
nach Athenaios (Deipnosoph. XV. 676 f.) die vagxiooi'vovg ö)doßovg.
Nach Otto Crusius^) sprach auch Epicharmos von Fegga Nd^ia =
öegjudTiva aldola, gegen die er wohl zu Felde zog. Sophron spricht
ebenfalls im gleichen Sinne von dem djuqpdhjra xvnrd'QEiv und von
den ocoXrivEg (Spritzen) als yjjgäv yvvaiy.öjv ?uyv£Vfia (Feckerbissen der
Wittwen) und des Blaisos ueoojgißag (halbabgerieben) gehört nach
Bergk's Darlegungen in dieselbe Kategorie'^).
Die bei weitem ausführlichsten Mitteilungen über Herstellung
und Benutzung des künstlichen Lederphallus oder ßavßcov, wie er
hier heisst, finden wir in den erst i8gi entdeckten Alimiamben des
dem 3. Jahrhundert v. Chr. angehörigen hellenistischen Dichters He-
rondas. Hier dreht sich der 6. Mimiambus, betitelt fßdidCovoai i)
""Idid'Covoai („Die beiden Freundinnen oder Das vertrauliche Gespräch")-^)
ganz» um diesen zweideutigen Gegenstand.
Die Personen des Stückes sind Koriito, die Frau eines Ackerbürgers und ihre Freun-
din Metro, die sich bei einem Besuche recht eifrig bei Koritto nach dem Fabrikanten eines
,, scharlachroten Baubon" {y.oxxivov ßavß(ova) erkundigt, den sie liei einer anderen Be-
kannten, der Nossis, gesehen habe, die ihn wiederum von der Eubule bekommen habe. Es
stellt sich heraus, dass dieser ,,consoIateur" der Koritto selbst gehört und also, ohne ihr
Wissen, von einer Frau zur anderen gewandert ist. Koritto bricht nämlich in die ent-
rüsteten Worte aus :
O diese Weiber! Dies Weib bringt mich noch um!
Ich liess mich durch ihr Bitten und Fleh'n erweichen.
1) Otto Crusius, Untersuchungen zu den Mimiamben des Herondas, Leipzig 1892,
S. 129.
2) Weitere Zitate bei Crusius a. a. O. S. 129 — 130.
3) Herondae Mimiambi ed. O. Crusius, Leipzig 1892, S. 38—45; Die Mimiamben
des Herondas. Deutsch mit Einleitung und Anmerkungen von Otto Crusius, Göttingen
'893, S. 37—44-
— 591 —
Und gab ihn ihr, eh' ich ihn selber brauchte;
Doch sie, als ob sie auf der Gasse ihn
Gefunden hätte, verschenkt ihn, auch an solche,
Die nicht dazu gehören. Eine Freundin
Von dieser Sorte kann mir gewogen bleiben ;
Eine andre mag sie sich an unsrer Statt
Als Freundin suchen. Gerade der Nossis ihn
Zu leihn! Der würd' ich doch — vermess'uer red' ich
Als Weibern zusteht; mögst du mich nicht hören,
Adrasteia — hätt' ich tausend, gab' ich Der
Nicht einen ab, und wenn er räudig wäre!
(Uebers. von Crusius.)
Nachdem Metro den Zorn ihrer Freundin beschwichtigt hat, erfährt sie auf noch-
maliges dringendes Befragen von ihr, dass ein kahlköpfiger Schuster Kerdon aus Chics diese
Baubonen heimlich fabriziert. Koritto rühmt seine AVaare enthusiastisch :
Ich wenigstens — mit zweien kam er nämlich —
Wie ich sie erblickte, gingen mir vor Entzücken
Die Augen über. Unsern Männern hebt sich
— Wir sind ja unter uns — das Glied nicht so.
Und mehr noch — weich, wie holder Schlaf, ist Alles,
Und Wolle sind die Riemchen, keine Riemen;
Einen Schuster, der es mit uns Frauen besser
Als dieser meinte, kannst du lange suchen. (Crusius.)
Metro hört dann noch, dass Artemis, die Frau des Gerbers Kandas, den Kerdon
mit seinen zwei Baubonen zu der Koritto geschickt habe und dass diese nur einen be-
kommen konnte, weil der andere schon bestellt sei. Deshalb geht Metro jetzt sogleich zur
Artemis, um sich ihrer Vermittlung beim Ankauf eines ohoßo^ zu bedienen.
Der Inhalt dieses sehr realistischen Mimus ist in mehrfacher
Beziehung interessant. Wir ersehen daraus, dass diese künstlichen
Glieder V) auch noch in der hellenistischen Zeit ebenso verbreitet und
beliebt waren wie zur Zeit der älteren Komödie und dass die sie
benutzenden Frauen eine Art von Geheimbund bildeten, von dem
nach den Worten der Koritto alle ausgeschlossen waren, die „nicht
dazu gehören", dass ferner diese Lederphallen von einer zur andern
wanderten und recht oft wohl gar gemeinschaftlich benutzt wurden.
Am merkwürdigsten ist aber die Stelle, wo Koritto den Ausdruck
„räudig" gebraucht. Im Original steht hier: ydiwv evvzmv ev ovx äv
öorig kengög iori jiooodcbooi. Schon vor mehr als zehn Jahren, noch
vor dem Erscheinen des ersten Teiles dieses Werkes habe ich auf
diese in jedem Falle bemerkenswerte Stelle hingewiesen -) und daraus
den Schluss gezogen, dass hier eine venerische Erkrankung des
i) Sie täuschten ganz wie moderne Erzeugnisse dieser Art sogar bezüglich der Farbe
ein wirkliches membnim virile vor.
2) Iwan Bloch, Kannten die Alten die Contagiosität venerischer Krankheiten?
Ein neuer Beitrag zu einer alten Frage. In: Deutsche medizin. Wochenschr. 1899, Nr. 5.
— 592 —
Gliedes angedeutet. Ich knüpfte hierbei an eine Aeusserung" von
Crusius an (Untersuchungen u. s. \v., S. 120): „Der Ausdruck XenQ6(;
ist gerade bei dem ßavßiov sehr beziehungsvoll". Offenbar ist die
Bezeichnung XsjiQÖg von Koritto der Wirklichkeit entnommen und
von dem männlichen Gliede auf den künstlichen Phalhis übertragen
worden. Die Frage ist nun, ob sich das Wort lejroög auf eine an-
steckende Hautkrankheit bezogen hat, und welcher Art diese Haut-
krankheit gewesen ist. Zu diesem Zwecke wiederhole ich in etwas
abgekürzter P^orm meine schon früher an anderer Stelle \-cröffent-
lichten kritischen Untersuchungen ^) über die Bedeutung des Wortes
Xenga bei den Griechen.
Der Altmeister der Aussatzforschung in Deutschland, Rudolf Virchow, dem wir
so viele bedeutende Arbeiten über Lepra verdanken, hat auch zuerst die Frage der älteren
Terminologie dieser Krankheit kritisch erörtert. Er konnte nachweisen, dass ,, schon vor
den Arabern die Bezeichnung der Lepra einen allgemeineren Begriff erhalten hat". Als älteste
Bezeichnung des Aussatzes bei den Griechen müsse der Name „Elephantiasis" angesehen wer-
den, und dieser sei erst nach Hippokrates aufgekommen. Der Ausdruck ,, Lepra" komme
zwar schon bei Hippokrates vor, aber ohne genauere Definition und stets neben Be-
zeichnungen für leichtere Hautleiden. Erst Galen hat nach Virchow die Elephantiasis
n eine ,, gewisse Verbindung mit der Lepra" gebracht, als ob diese eine geringere Porm
oder ein Rückbildungszustand der Elephantiasis sei. Schliesslich ist dem auch auf dem Ge-
biete der historischen Kombination so hervorragenden Forscher die wichtige Thatsache nicht
entgangen, dass ,, schon in der griechischen Uebersetzung des Neuen Testamentes (Evangelium
Lucä, Cap. 17, Vers I2j die Aussätzigen als lengoi aufgeführt werden und dass auch der
alttestamentliche Aussatz überall als ,, Lepra" übertragen wurde" ■).
Es war also von Virchow festgestellt worden, dass ,, Lepra"- die Bedeutung als
Aussatz bereits bei den Griechen gehabt habe. Nur ging aus seinen Untersuchungen hervor,
dass Elephantiasis die ältere Bezeichnung sei, während Lepra = Aussatz erst seit der Zeit
des Galen gebräuchlich geworden sei. Wenn man aber die Genesis der ganzen Aussatz-
terminologie des Altertums genau prüft, so gelangt man zu der Ueberzeugung, dass ,, Lepra"
die ältere Bezeichnung des Aussatzes bei den Griechen war, der Name
,, Elephantiasis" viel jüngeren Ursprungs ist, dass also unser heutiges Wort Lepra
für den Aussatz auch vom historischen Standpunkte das einzig berechtigte ist.
Diese Frage ist mit Sicherheit nur zu lösen, wenn sich irgend eine Beziehung zur
Gegenwart herstellen lässt, wenn man nachweisen kann, dass eine uralte Bezeichnung des Aus-
satzes noch heute sich in derselben Bedeutung erhalten hat. Diese Forderungen sind erfüllt
durch die Nachrichten, welche wir aus älterer und neuerer Zeit über den Aussatz in Persien
besitzen. Sie beweisen, dass der Name ,, Lepra" viel früher für den echten Aussatz ge-
braucht worden ist, als der Name „Elephantiasis".
Etwa um das Jahr 450 v. Chr. berichtet Herodot über die Ferser (Herodoti
historiarum, lib. I, c. 138, ed. H. R. Dietsch, Leipzig 1887, S. 81): og av de tmv
1) Iwan Bloch, Beiträge zur Geschichte und geographischen Pathologie des Aus-
satzes. Die Bedeutung einiger Nachrichten über den Aussatz in Persien. In : Deutsche
medizin. Wochenschr. 1900, Nr. 9.
2) Rudolf Virchow, Die krankhaften Geschwülste. Berlin 1863, Bd. II, S. 494 ff.
— 593 —
uoTior 2 f'.T £)>;/• //' Xsv>t>jr f/ij, ig .Tohr oviog ov y.aTsoxsTui orSs avfi/ii'ayKiai loloi äXloioi
TIsgoTjai. (paol öe /uv ig tot ijhor äfiagrovra xt raina F^eiv. ^sTvov Öf Jtävza tov lafi-
ßavö/iisvov i'Jio zovro)v F^eXavvovot fx xi]g Xüiotjg. (,,Wet von den Bürgern an Lepra oder
Lenke leidet, darf die Stadt nicht mehr betreten und nicht mit den anderen Personen zu-
sammenkommen. Man sagt, dass der an dieser Krankheit Leidende gegen die Sonne ge-
sündigt habe. Jeder Fremde aber, der mit dieser Krankheit behaftet ist, wird aus dem
Lande gejagt.")
Die zweite, fast genau mit dem Berichte des Herodot übereinstimmende Nachricht
über den Aussatz in Persien stammt von einem der ausgezeichnetsten griechischen Aerzte,
Ktesias aus Knidos, dem berühmtesten Gegner des Hippokrates, dem Verfasser der
leider nur in Fragmenten noch erhaltenen wertvollen Bücher über Persien und Indien ^).
Im Jahre 416 v. Chr. kam Ktesias nach Persien, wurde Leibarzt der Parysatis und
des Artaxerxes IL Mnemon und hielt sich als solcher 17 Jahre in Persien auf, da er
erst 399 V. Chr. in seine Heimat zurückkehrte. Er hat uns viele schätzbare und durchaus
glaubwürdige Nachrichten über Persien hinterlassen, da er zu den eigenen Beobachtungen
den Inhalt der ihm zur Verfügung gestellten Dokumente der Landesarchive hinzufügen
konnte. Ich zitiere die den Aussatz betreffende Stelle nach der neuesten Ausgabe von
Gilmore (,,The Fragments of the Persika of Ktesias, ed. John Gilmore, London 1888,
p. 165: 'O ds MEyaßv'Qog jtsvts diaxQixi'ag iv xfj e^ooia ftij, ä:io(i(8QdaxFi, vjioxQidEig xov
moäyav. Tiiadyag de ?Jysxai -Tag« ITegaaig 6 /.sjiQog, xal foxi. Jtäoiv djigö-
otxog. (,, Nachdem Megabyzos 5 Jahre in der Verbannung verweilt hatte, entfloh er,
indem er sich stellte, als ob er ein ,, Pisagas" sei. Pisagas aber heisst bei den Persern
der ?,£jiQ6g, dem sich Niemand nahen darf".)
Wenn das Wort ,, Lepra" wirklich nur eine leichte, schuppende Hautkrankheit be-
deutet hat, ein Irrtum, auf dem z. B. Münch ein ganzes Buch (,,Die Zaraath der hebrä-
ischen Bibel", Hamburg 1893) aufgebaut hat, so ist es eigentlich nicht zu verstehen, wie
die Perser nach den Mitteilungen des Herodot und Ktesias, sowie nach einer interessanten
Stelle im Zend-Avesta -) auf diese nur mit einer leichten Krankheit Behafteten so strenge
und gewiss aus der Erfahrung ihres Nutzens abgeleitete Isolierungsmaassregeln anwenden
konnten. Schon aus diesen Maassnahmen lässt sich mit Sicherheit der Schluss ziehen, dass
es sich um eine schwere und ansteckende, für die Gemeinde die grössten Gefahren
mit sich bringende Hautkrankheit gehandelt haben muss. Dass dies der Aussatz gewesen
ist, dass der kejiQÖg. der ,, Pisagas" ein an unserem heutigen typischen Aussatze Leidender
gewesen ist, erhellt mit der grössten Evidenz daraus, dass noch heute in Persien mit
dem Worte „Pisagas" die wahre Lepra, unser Aussatz bezeichnet wird und
dass noch heute die bei Herodot und Ktesias sowie im Zend-Avesta er-
wähnten Vorschriften für Aussätzige in derselben Form in Geltung sind.
J. E. Polak, lange Jahre Leibarzt des Nasreddin Schah, der sich von 1851 bis
1860 in Persien aufhielt, hat im Jahre 1863, einer Anregimg Virchow's folgend, in dessen
Archiv einen Aufsatz über die Lepra in Persien veröffentlicht '), in dem er sagt: „Den
Individuen, die von der Krankheit befallen sind, ist es verboten, in die Städte zu kommen".
Also dieselbe Vorschrift, die nach Herodot und Ktesias schon vor mehr als 2300
i) Die bisher ausführlichsten Darstellungen seines Lebens bei J. Chr. F. Baehr,
„Ctesiae Cnidii Operum reliquiae, Frankfurt a. M. 1824 und bei H. C. M. Rettig, Ctesiae
Cnidii vita cum appendice de libris, quos Ctesias composuisse fertur, Hannover 1827.
2) Zend-Avesta, deutsch von J. F. Kleuker, Bd. II, 1777, ^^ 167.
3) J. E. Polak, Lepra in Persien. In: Virchow's Archiv 1863, Bd. LXXVII,
s. 175 ff-
— 594 —
Jahren in Persien bestand! Und auch der Name der Krankheit hat sich unverändert er-
halten. Polak bemerkt darüber: „Die Krankheil heisst mit dem arabischen Namen
Dschezam, im Türkischen heisst sie Pis". Das ist insofern nicht ganz richtig, als die tür-
kische Sprache diesen Namen aus der persischen übernommen hat. Denn in Dr. Julius
Zenker's „Türkisch - arabisch - persischem Wörterbuch" (Bd. I, Leipzig 1866) ist Pis ^
lepre, Aussatz, ausdrücklich als ein j)ersisches Wort bezeichnet. Es finden sich dort auf
Seite 234 und 235 folgende Namen: „Pist" = aussätzig, lepreux; „Pis" =^ lepre, Aussatz;
und „Pisegi" = leprosite, Aussatz. Während das Wort ,,Pis" die Eigentümlichkeit der
neupersischen Sprache erkennen lässt, viele Endsilben abzuwerfen, ist uns in dem Worte
„Pisegi" ganz zweifellos das uralte, bei Ktesias sich findende Wort ,, Pisagas" erhalten.
Damit ist aber auch der unanfechtbare 'beweis geliefert, dass das Wort
kejTQo? in der älteren Zeit zur Bezeichnung eines Aussätzigen gebraucht
wurde. Dass die Griechen später unter „Lepra" auch andere Hautaffektionen verstanden,
kommt dabei ja gar nicht in Betracht. Hier handelt es sich um die Feststellung der
ältesten Terminologie. Und für diese ist zunächst ,,/£Toa" als eine der frühesten Be-
zeichnungen des Aussatzes anzusprechen.
Als nun später andere Namen für den Aussatz aufkamen, wie Elephantiasis, Leon-
tiasis, Ophiasis u. s. w., von denen einige rein symp tomatologische Bedeutung hatten,
während die „Elephantiasis" allmählich zum allgemeinen Begriff wurde, da wurde auch
das alte, wie wir sahen, wohlverbürgte Wort „Lepra" für eine bestimmte Form des Aus-
satzes wieder herangezogen oder, da es wahrscheinlich in bestimmten Gegenden noch immer
den Aussatz bezeichnete, von den alexandrinischen Nomenciatoren für die von ihnen
ausgebildete rein symptomatologische Terminologie des Aussatzes mitverwertet. Nun erst
versteht man die bisher ganz unbeachtet und unverstanden gebliebene, aber für die ge-
schichtliche EntM'ickelung der Aussatz-Terminologie höchst wichtige Stelle bei Galen
in dem Capitel über die Elephantiasis (Galeni Introduclio, cap. XIH, ed. Kühn, Bd. XIV,
S- 757)' tit'kg Si; zöjv jiaXaiOTEQwv eig e^ SiaiQovai rö Jtä&og xovro, elg sXecpavziaoiv,
Ifovrlaaiv, 6<piaaiv, IsjiQav xai äXmjiexiav xai ).d)ßr)v. („Einige unter den älteren
Aerzten unterscheiden bei der Krankheit sechs verschiedene Formen, die Elephantiasis, die
Leontiasis, Ophiasis, Lepra, Alopecie und Mutilation.")
Wenn die Aerzte der römischen Kaiserzeit von den .laXaiöcsooi reden, so meinen
sie stets die Aerzte der älteren alexandrinischen Schule. Ja, es lässt sich sogar über die
Zeit der ersten wissenschaftlichen Monographieen über den Aussatz Genaueres mitteilen
nach einer sehr wichtigen Notiz des Ruphos von Ephesus bei Oreibasios'), nach
welcher imler den TtaXaiol, den älteren Alexandrinern, zuerst Straton, der Schüler des
Erasi Stratos, über- die Elephantiasis geschrieben und eine Theorie der Pathogenese dieser
Krankheit aufgestellt habe. Darnach darf man annehmen, dass etwa um das Jahr 300 v.
Chr. das erste wissenschaftliche Studium des Aussatzes in A.lexandria begonnen und
naturgemäss zunächst zu einer genaueren terminologischen Einteilung der einzelnen Krank-
heitsformen geführt hat. Wahrscheinlich wurden damals die einzelnen in verschiedenen
Ländern oder in verschiedenen Teilen von Hellas üblichen alten Namen für den
Aussatz wie Lepra, Elephantiasis, Satyriasis, Leontiasis, Herakles-Krankheil u. s. w. in die
neue Terminologie mit herübergenommen. Dies erhellt deutlich aus der zitierten Stelle des
Ga lenos.
i) ,, Oeuvres d'Oribase" ed. Daremberg et Bussemaker, Bd. IV, Paris 1862,
S. 63 : ovdsv fiev Jiagä zmv Tialaiöjv :isqI tfjg kXscpavxiäaeoog dxr]xöa/iiev .... fxörog
fjiÄir Ergätcov 6 rov ^Egaoiorgärot' /j.a&t]T>jg h'voiag jiaQEoye zov 7iä-&ovg, y.axoyvfxiar
avio oro/idCcüv.
— 595 —
Dieser Excurs war nötig, um zu zeigen, wie auch gemäss diesem Prinzip bei den
Alexandrinern die ,, Lepra" als Aussatz und zwar als eine bestimmte Form desselben be-
zeichnet wurde. Asjiga ist abgeleitet von der indogermanischen Wurzel ,,lap" = schälen')
und bedeutet eine schuppige, dabei ansteckende Hautkrankheit. Für spätere Zeiten
steht jedenfalls fest, dass der Begriff ,, Lepra" ausser dem Aussatz auch andere ansteckende
Hautkrankheiten mit umfasst hat. Deshalb sagt Galen: ,, Lepra heisst der Aussatz, weil
er die Haut rauh und schuppig macht, wie man dieses bei den anderen Formen von Lepra
sieht" (Galen a. a. O. : Xengav de rt'jy TQaxvvoi'oav x6 dsg/na xai olov ögärai sjii xwv
XejiQcäv jzoiovfiert)7').
Der Gebrauch des Wortes ?,ejiQ6g in dem Gespräche der Freun-
dinnen und mit Beziehung auf den künstlichen Phallus lässt in der
That eine gewisse Absicht der Wahl gerade dieses Wortes vermuten,
da ja auch jede andere Krankheit hätte gewählt werden können.
Crusius hat es deshalb .,räudig" übersetzt, um die Uebertragbarkeit
— denn die „Räude" ist eine übertragbare Hautkrankheit — anzu-
deuten. Und wie die oben gegebenen kritischen Nachw^eisungen dar-
thun, bezeichnet das Wort Xsjigog in der That eine ansteckende
Hautkrankheit.
Ich war früher der Ansicht, dass hier eine „v^enerische" Er-
krankung des männlichen Gliedes angedeutet sein könne und dass
der Ausruf der in sexuellen Dingen offenbar sehr erfahrenen Bürgers-
frau Koritto als das erste sichere historische Dokument für die
Kenntniss der x\lten von der Contagiosität venerischer Krankheiten
betrachtet werden müsse, dass es aber weitere Schlüsse über die
Natur dieser Krankheit nicht zulasse.
Nach wiederholter eingehender Prüfung dieser in der That sehr
interessanten Stelle glaube ich ihr jetzt die folgende Deutung geben
zu müssen. Herondas, der ja die ägyptischen Verhältnisse genau
kannte, wie seine eingehende Schilderung derselben (Mim. I, 27 ff.)
bezeugt, hat bei dem ,Mjto6g" wahrscheinlich an den in Aegypten
grassierenden, seit lange einheimischen Aussatz (Lucret., De rer.
nat. VI, II 14: Est Elephas morbus, qui propter flumina Nili gignitur
Aegypto in medio, neque praeterea usquam) gedacht, der gerade da-
mals, wie wir gesehen haben (um 300 — 250 v. Chr.) von den Schülern
des Erasistratos wissenschaftlich erforscht wurde und je nach
seinen Symptomen mit verschiedenen Namen, u. a. auch dem ältesten,
durch Herodot und Ktesias bezeugten; kejiga belegt wurde (Galen.
XIV, 757). Es ist also der wirkliche Aussatz, von dem in dem Aus-
rufe der Koritto die Rede ist. Wie oben . (S. 400) mitgeteilt wurde,
kommen bei Lepra in über 95 "/q der Fälle krankhafte Veränderungen
i) A. Vanicek, Griechisch- latemisches etymologisches Wörterbuch, Leipzig 1877,
Bd. II, S. 837.
— 596 —
der männlichen Geschlechtsteile vor und zwar in Form von Knoten,
Infiltraten und Geschwüren an der Eichel, der Vorhaut, der Haut
des Penis und am Scrotum. Sie können früh auftreten und lange
persistieren. Es ist nun mög-lich, dass Herondas das gemeint hat,
aber ebenso gut kann er auch an den Aussatz im allgemeinen, d. h.
am ganzen Körper, gedacht haben, an das aussätzige Individuum als
solches, dessen Berührung streng gemieden wurde, und gewiss
auch die bei der Cohabitation. Wie aus den oben mitgeteilten
Stellen bei Herodot und Ktesias hervorgeht, war den Alten die
Uebertragbarkeit des Aussatzes durch die Berührung durchaus be-
kannt. Die Stelle des Herondas liefert also höchstens hierfür einen
neuen Beweis, nicht aber für meine frühere Annahme, dass ein
spezifisch venerisches Genitalleiden hier angedeutet sei.
Der Sinn der Worte der Koritto ist also nach meiner Auf-
fassung dieser: Dass gerade die Nossis, diese mir widerwärtige Person,
meinen schönen „Tröster" bekommen hat, ärgert mich sehr. Der
würde ich unter tausend nicht einen einzigen geben, auch wenn er
aussätzig wäre und ich ihn daher aus ästhetischen und hygienischen
Gründen nicht selbst gebrauchen könnte.
Dass Xejioög hier einfach „schmutzig", „unappetitlich" oder ,,rauh"
bedeutet, halte ich für ausgeschlossen. Dann wäre irgend ein anderer
Ausdruck, der das besser bezeichnet, gewählt worden. Darin hat
Crusius unbedingt Recht, dass gerade das Wort IsjiQfk mit Absicht
gewählt ist.
Uebrigens muss ganz ohne Beziehung auf diese Stelle die Mög-
lichkeit, dass bei dem hier erwähnten gemeinschaftlichen Gebrauche
der öXioßoi Krankheiten übertragen werden konnten, durchaus in Be-
tracht gezogen werden. Z. B. konnte bei nicht genügender Reinigung
sehr leicht eine gonorrhoische Infektion stattfinden.
Von bildlichen Belegen für den Gebrauch künstlicher Phallen seien erwähnt:
Eine Schaale des Pamphaios im Britischen Museum (verzeichnet bei Klein,
„Meistersign.", S. 93, 14) zeigt eine scheussliche nackte Hetäre, die zwei derartige Instru-
mente zur Hand hat; dieselbe Darstellung, trägt, wie es scheint, die Schaale des Euphro-
nios bei Klein, ,,Lieblingsinschr.", S. 57, Nr. 7 und bei Hartwig, ,, Griechische Meister-
schaalen", Taf. XLIV, 3. Das Motiv der letzteren Figur, einer nackten Hetäre mit einem
Schenkelband am rechten Beine, ist die oxvzivrj sJTixovQi'a, deren sich die Hetäre bedient.
Der eiförmige Gegenstand, welchen die Hetäre in der rechten Hand hält, kommt wiederholt
auf den Vasen dieser Zeit vor, so z. B. in der Hand eines Epheben im Innenbilde der
Schaale des Hieron im Louvre. Es ist ein Flacon, aus welchem die Hetäre den Phalios
mit Oel beträufelt.
Hartwig erwähnt ferner eine Schaale bei Aug. Costellani in Rom mit Tribaden,
die künstliche Phalloi anwenden, ferner (S. 345) eine Schaale mit dem Schlagworte ejioirfosv,
auf der ein Mann einen solchen in die Scheide einer Frau einführt (s. oben S. 543).
— 597 —
In der Vasensammlung des Berliner Museums befindet sich eine Vase (Nr. 2272)
dem mit einer sehr interessanten Darstellung, die anzudeuten scheint, dass die Weiber sich nach
Gebrauche eines ohaßog zu waschen pflegten. Furtwängler*) beschreibt sie folgender-
maassen: „Eine nackte Frau ist im Begriffe, die Sandale an den linken Fuss festzubinden; sie
beugt sich vor, zieht mit beiden Händen die roten Bänder an und hat sich, um dem Fusse
näher zu sein, etwas ins rechte Knie herabgelassen; so ist der Raum trefflich gefüllt. Dass
sie sich soeben gewaschen, deutet ein flaches Becken zu ihren Füssen an. Rechts vor ihr er-
kennt man den Umriss eines grossen Phallos im freien Räume, ihr zugekehrt."
Mehrere Terrakotten in Neapel mit solchen Sujets beschreiben Gerhard und Pa-
nofka"-): Nr. 20. Eine sitzende nackte Frau, einen Phallus umarmend, der schlauchartig
vorn über ihr liegt. Desgleichen Nr. 24 und Nr. 18.
Nr. 16. Liegende, kahlköpfige Alte, den linken Arm auf das Kissen ihres Lagers
gestützt und einen vor ihr liegenden Phallus mit Wehmut betrachtend.
Streng genommen muss der grössere Teil der bisher geschil-
derten homosexuellen Typen des klassischen Altertums nicht der
eigentlichen originären Homosexualität zugerechnet, sondern muss
unter die Rubrik „Bisexualität" eingeordnet werden. Die Homo-
sexualität als Volkssitte in Hellas und Rom hindert nicht die
frühere oder spätere heterosexuelle Bethätigung. Sehr oft gingen
beide gleichzeitig nebeneinander her. Der Knabe wurde neben der
Freundin oder der Frau im Hause gehalten. Daraus ergaben sich
häufige Streitigkeiten, Eifersuchtsscenen u. a. m. Solche Konkurrenz
zwischen dem homo- und dem heterosexuellen Verhältnis eines Mannes
schildert z. B. Martial (IX, 2; XI, 43; XII, 86; XII, 96; XII, 97),
lässt aber deutlich durchblicken, dass bei Wüstlingen der Geschmack
wechselte (XI, 87). Wie die Männer als Weiber, so dienten die
Weiber als Männer im Geschlechtsv'erkehre. Daraus resultierte eine
allgemeine körperliche und seelische Labilität der Geschlechter und
eine Indifferenz des Geschlechtsbegriffes, die zu der Conception des
„Hermaphroditos" führte, jener mannweiblichen Wesen, die im
x\ltertum eine so merkwürdige Rolle gespielt haben.
Man darf annehmen, dass die hermaphroditische Idee ursprüng-
lich aus Beobachtungen des wirklichen Lebens hervorgegangen, sei
es solchen von körperlicher oder seelischer Hermaphrodisie, und erst
später unter dem Einflüsse der Ausbreitung der Homosexualität
und Bisexualität in erotisch-libidinösem Sinne umgestaltet worden ist.
Für beide Arten haben neuerdings Meige^^) und van Römer^) er-
1) Ad. Furtwängler, Beschreibung der Vasensammlung im Antiquarium der Kgl.
Museen zu Berlin, Bd. I, S. 547.
2) Neapels antike Bildwerke I, S. 466 — 467.
3) Henry Meige, L'infantihsme, le feminisme et les hermaphrodites antiques,
Paris 1895.
4) L. S. A. M. V. Römer, Ueber die androgynische Idee des Lebens. In: Jahrb.
f. sex. Zwischenstufen, herausg. von Magnus Hirschfeld, Leipzig 1903, Bd. V, S. 707 — 940.
- 598 -
schöpfende Belege beigebracht. Bezüglich des näheren Studiums der
für das Verständnis der antiken Psychopathia sexualis grundlegenden
Frage sei auf diese Arbeiten sowie auf das monumentale Werk von
Neugebauer^) verwiesen. Wir wollen nur die interessantesten und
für die weite Verbreitung der „androgynischen Idee" im Altertum
bedeutsamsten Punkte hier anführen, wobei wir vielfach den Unter-
suchungen V. Römer's folgen.
Die griechische Mythologie ist reich an hermaphroditischeii Wesen. Zeus selbst war
ein solches nach den orphischen Versen :
Zfi'c: ägoip' ysrsTO, Zevg äiißgorog ejikeio vi'/Kft].
Er erzeugt selbst wieder androgynische Gottheiten, wie Athene, wie Agdistis und
Dionysos. Agdistis gebiert als Kybele den Attis, der entniannnt und vom Tode wieder
erweckt weibliche Formen annimmt. Hermaphrodit ist auch Adonis, der „ein Mann ge-
wesen war für die Aphrodite, ein Weib aber für den Apollon" (Photius, ed. Bekker,
Berlin 1824, S. 151, 5 b). Aus dem Kreise der Kybele stammt auch die Mise, eine un-
züchtige mannweibliche Gottheit, deren Verehrung bei tribadischen Geheimkulten (vgl. oben
S. 515) eine Rolle spielte (Orphica XLII). Ebenso heisst Dionysos aQQSvo^Xvg
(loannes Lydus, ed. Bekker, Bonn 1837, lib. IV, 95), Euripides nennt ihn dtjlv-
fj.OQ(pog, weibgestaltet, die orphische Hymne (XX, 2) 8i(pvfj, mit zwei Geschlechtern.
Später symbolisierte Hermaphroditos die androgynische Idee, Hermes als aktive, männliche,
Aphrodite als weibliche Kraft. In unzähligen Bildwerken, von denen viele noch erhalten
sind, fand diese Vorstellung sichtbaren Ausdruck, und es ist kein Zweifel, dass viele
Hermaphroditendarstellungen nach Beobachtungen im wirklichen Leben
dargestellt wurden, besonders solchen von Feminismus beim Manne, wie dies Meige
(a. a. O.) nachgewiesen hat. Der berühmte Physiologe Blumenbach erwähnte in
Böttigers ,,Amalthea" (Leipzig 1822, Bd. II, S. XVII ff.) „Jünglinge und Männer mit
weiblicher Brust", deren er selbst drei gesehen hat. .,Es lässt sich denken", meint er, ,,wie
solche Hermaphroditen zuweilen in prodigiis und hinwiederum in deliciis habiti sein
konnten. Namentlich ist dieser Fall der männlichen Brust in Aegypten nicht selten (Prosper
Alpinus) und an plastischen Kunstwerken des ägyptischen Altertums bemerkbar, so dass
auch Fea einen Pastophoros für eine weibliche Figur ansah. Auch Hessen sich' wohl
Männer, die sich solcher Weiblichkeit schämten'), durch eine chirurgische Operation davon
befreien (Paul. Aegineta VI, 46). Und von dieser gefälligen Abweichung des
Bildungstriebes könnten doch wohl die alten Künstler die veredelten For-
men ihrer Hermaphroditen entlehnt haben''. Aehnliche Ansichten über die Ent-
stehung der Hermaphroditendarstellungen hat Raoul Rochette (Choix de peintures de
Pompei etc., Paris 1846, Livrais. 3, p. 140, Anm. 10). Schon Diodor (IV, 6, 5) deutete
die Sage von Hermaphroditos in diesem realistischen Sinne, wie ihn auch das Epigramm
CVII des Ausonius wiedergiebt:
In puerum formosum.
Dum dubital natura, marem faceretne puellam
Factus es, o j^ulcher, paene puella, puer.
1) Franz v. Neugebauer, Hermaphroditismus beim Menschen, Leipzig 1908.
2) ö'yojiEQ zaig 'ßrjlsiaig ovtoj y.ai loTg ugosoi Jiegl röv rfjg r'jßrjg '/qÖvov oi fiaoioi
(pvaöjVTai xazä jioaöv .... Trjg yovv ü:xQiiJiEiag tyovot^g ovtibog to xnzü ri/r (-h]/.VTi]Ta
/[eiQoi'QyEir a^iov. Paulus Aegineta, ed. Brian, Paris 1855, S. 212.
— 59Q —
Wie in den Hermaphroditen trat auch die androg}-nische Idee bei den religi(")sen
Festen in die Erscheinung und zeitigte hier ebensolche sinnHch-obscöne Ausschreitungen
wie in gewissen wollüstigen Darstellungen des Hermaphroditos (z. B. schlafender H. im
Museo Nazionale zu Rom, Abbild. 63a und b bei v. Römer). So ahmte bei den
„Ariadneia", den Festen zu Ehren der Ariadne, ein Jüngling das Geschrei und Bewegungen
einer Frau in Kindesnöten nach (Plut. , Theseus, c. 20). Bei den dem Dionysos gewid-
meten Anthesterien kleideten sich die Athener „noch weiblicher" als die Frauen des Xerxes,
die Greise wie die Jünglinge und Epheben (Philostratos, Apollonios v. Tyana IV, 21).
Bei den Herakleen (Plut., Quaest. graec. 58), den Thargelien und Oschophorien trugen
Männer Weiberkleider. Die Hybristika, ein Fest der Aphrodite, wurden von den Weibern
in Männer-, von den Männern in Weiberkleidung begangen. Eusebius (de laud. Const.,
p. 516 C) erzählt, dass auf dem Gipfel des Libanon ein Tempel der Aphrodite war, welchen
er eine , .Schule für Liederlichkeit" nennt, ,,für alle obscönen Männer, die ihren Körper
durch Zuchtlosigkeit beschmutzen, geöffnet. Einige Effeminierte, die eher Weiber als
Männer genannt werden können, da sie die Würde ihres Geschlechtes ablegten und litten,
was Weibern zusteht, verehrten sie wie die Gottheit".
Welcker vermutet, dass auch die geflügelten androgvnen Figuren der unteritalienischen
Vasen, welche Miliin u. a. Genius der Mysterien zu nennen beliebt haben, als Diener des
androgynen Dionysos und des Kinädismus zu betrachten sind.
Derselbe Autor erwähnt die Aphrodite der Knabenliebe (sonst auch die Sache des
Pan, bei den Römern des Priapus. kommt aber als jloyvvri'>;, Göttin der Weisslinge (sum
candidus Pers. 4, 20j, von Kratinos und Aristophanes an, nicht häufiger bei gewissen
Dichtern vor als der d^ra^ög xal /.Evxug .-ratg. Dieselbe ist wohl auch die Venus Murcia
(MvQy.ia)^). In diese Klasse gehört auch die SxQaxsia in zwei karischen Inschriften
(C. J. Gr. Nr. 2693; Venus militaris bei Arnobius IV, 7)-).
Sehr bekannt und von den Satirikern oft erwähnt sind die weibischen Priester der
Grossen Mutter, der Kybele, Korj'banten (Juvenal. V, 25) oder ,,gaHi" genannt (nach
einem Flusse Gallus in Galatien, Plin. Nat. hist. V, 147), die sich zu Ehren der Göttin
nach dem Vorbilde des phrygischen Knaben Attis selbst entmannten (Ovid., Fast. IV,
223 — 244) und gelegentlich auch andere kastrierten (Martial. III, 91), die wegen ihrer
meist in der wollüstigen Ekstase (Martial. V, 41) begangenen sexuellen Perversitäten be-
rüchtigt und gefürchtet (Martial. Vll, 95) waren und ein grosses Kontingent zum Ki-
nädentum in Rom stellten, wo der Kybelekult zu Ende des 3. vorchristlichen Jahrhunderts
eingeführt worden war (Liv. XXIX, lo).
In enger Beziehung zum Dienste der Grossen Mutter stand der Kult der ,,Dea Syria"
zu Hierapolis, den Lukianos in seiner Schrift TIsqI 1)]? 2vgit]g dsov geschildert hat. Im
Kapitel 50 — 51 wird über die Gallen folgendes gesagt:
,,An bestimmten Tagen versammelt sich das Volk in grosser Menge bei dem Tempel.
Hier verrichten viele Gallen und die oben erwähnten heiligen Leute den mysti.schen Dienst,
wobei sie sich in die Arme schneiden und mit den Rücken gegen einander stossen. Eine
Anzahl derselben steht dabei und bläst auf Flöten; andere schlagen die Handpauken; wieder
andere singen begeisterte, heilige Lieder. Alles Dieses aber geht ausserhalb des Tempels
vor: denn so lange sie Solches verrichten, betreten sie den Tempel nicht. — An diesen
Tagen entstehen auch Gallen. Denn während die Anderen unter Flöten tönen den heiligen
1) Livius. I, 33. Orelli ad Arnob. 4, 16, T. 2, p. 199 fio/.xog [fwÄxöc wie
fioh/6g und /iivkyög) eins mit i.ia/M>i6g.
2) F. Creuzer (Zur Archäologie, Leipzig 1846, S. 297) nennt „Venus almus" als
androgyniscbe Göttin der Römer.
— 6oo —
Dienst begehen, wandelt die Raserei auch Viele der Umstehenden an, und Manche, die nur
um zuzusehen gekommen waren, verübten an sich, was ich jetzt beschreiben will. Der
Jüngling, den dieser Zustand befällt, reisst sich die Kleider vom Leibe, rennt unter lautem
Schreien mitten in den Kreis der Priester hinein, ergreift dort eines der Schwerter, die seit
vielen Jahren, wie es scheint, hierzu in Bereitschaft stehen, verschneidet sich damit, und
läuft durch die Stadt, indem er in den Händen hält, was er sich abgeschnitten. Und in
welches Haus er es hineinwirft, aus demselben erhält er weibliche Kleidung und weiblichen
Putz. Also verfahren sie bei der Verschneidung" M.
Neben den eigentlichen Homosexuellen, den Kinäden und Lust-
knaben spielten diese ..semiviri" (Varro, Sat. Menipp. 132) eine grosse
Rolle in der Korruption des kaiserlichen Rom. Sie wurden nicht
bloss durch die Priester der Kybele repräsentiert, sondern rekrutierten
sich besonders zahlreich aus profanen Kreisen seit der Einführung
des orientalischen Eunuchen wesens in Rom. Diese Verschnittenen
wurden hauptsächlich aus Aegypten importiert -) und waren so zahl-
reich in Rom , dass vornehme Haushaltungen deren eine Menge
zählten (Alartial. X, 91) und im Gefolge ihrer Herrschaft einher-
zogen, ein widriger Anblick, wie ihn besonders anschaulich Ammi-
anus Marcellinus schildert (XIV, 6): „Zuletzt kommt eine Menge
Verschnittener, vom Knaben- bis zum Greisenalter hinauf, von siech-
haftem Aussehen, mit schrecklich verzerrten Gesichtszügen. Wohin
auch Einer gehen mag, da wird er Haufen solcher v^erstümmelten
Menschen sehen, und das Andenken jener Königin der Vorwelt,
Semiramis, verfluchen, die zu allererst zarte Knaben entmannte, der
Natur Gewalt anthat und sie in ihrem Laufe hemmte".
Der heterosexuelle Geschlechtsverkehr mit Kastraten war sehr
beliebt als antikonzeptionelles Mittel bei kinderscheuen Frauen
(Mart. VI, 67) oder diente perversen Zwecken (Mart. III, 81). Ein-
gehendere Mitteilungen darüber macht Juvenal (VI, 366 — 378J.
Darnach nahm man mit Vorliebe die Kastration erst beim Beginne
der Mannbarkeit vor, weil dadurch die Entwickeiung des Membrum
virile nicht gehemmt, sondern angeblich gefördert würde und ein
solcher Verschnittener ,,nec dubie custodem vitis et horti provocat"
(VI, 375), nämlich in Bezug auf die Grösse seines Gliedes, das ihn
nicht bloss Frauen, sondern auch Knaben g^efährlich macht (VI,
377—378)-
i) Lucian's Werke, übersetzt von August Pauly, Stuttgart 1832, S. 1748 — 1749.
Vgl. auch Catull., c. 63 und Lucret. H, 610 ff.; Varro, Sat. Menipp. 132.
2) Vgl. H. Haeser, Lehrbuch der Geschichte der Medizin, Jena 1875, Bd. I,
S- 57; J- Preuss, Die männlichen Genitalien und ihre Krankheiten nach Bibel und Tal-
mud (Wiener medizin. Wochenschr. 1898, Nr. 12 ff.). — Vgl. über antike Eunuchen
Jules Rouyer, Etudes medicales sur l'ancienne Rome, Paris 1859, S. 81 —97.
ÖOI —
Häufig allerdings wurde die Entmannung schon früher und zum
Zwecke der Züchtung effeminierter Kinäden vorgenommen, um mög-
lichst geeignete Objekte für die Libido homosexueller Individuen zu
bekommen.
„Bei einigen der Art", sagt Lukianos (Amor., c. 21), ,,ging die Kühnheit ihrer
despotischen Lebensart so weit, dass sie mit dem Messer die (männliche) Natur raubten.
Sie fanden erst das Ziel ihrer Genusssucht, nachdem sie das Männliche den Männern ent-
rissen hatten. Aber die Armen und Unglücklichen, damit sie noch länger Knaben sind,
bleiben nicht weiter Männer, ein zweideutiger Ausdruck einer Doppelnatur, bewahren sie
weder wozu sie geboren, noch wissen sie, wozu sie zu rechnen sind. Die in der Jugend
aufbewahrte Kraft lässt sie frühzeitig im Alter entkräftet werden, denn während man sie
noch zu den Knaben rechnet, werden sie schon Greise, und sie haben keine Zwischenstufe
des Mannesalters. So sank die schändliche und jedes Schlechte lehrende Wollust, ein nie-
driges Vergnügen aus dem andern schöpfend, bis zu jenem nicht mit Anstand zu nennenden
Laster [piexQi rf)? orjdrp-ai Svraairt]; fr.Tpg.TWC röoov), so dass keine Art der Unzucht
ihr mehr unbekannt war."
Für unser „Laster" hat Lukianos in diesem Falle das Wort
vöoog, Krankheit, gewählt, und es ist lehrreich, an dieser Stelle bei
der Auffassung der Alten über die sexuellen Perversionen etwas zu
verweilen. Wir haben schon in der Einleitung ausgeführt (s. oben
S. 511 — 412), dass die Alten schon eine übermässige Liebe, wenn
sie auch heterosexuell war, als etwas Pathologisches, als eine
Krankheit ansahen, wofür die Worte morbus, vooog, vöorj/ua gewählt
wurden. Derselbe terminus technicus nun wird auch für die Excesse
und die extremen Formen der homosexuellen Leidenschaft ge-
braucht. Nicht die gewöhnliche, in massigen Grenzen sich haltende
und nur, so weit es der allgemeinen Sitte entsprach, ausgeübte
Knabenliebe hiess so, sondern erst die gänzliche Umkehrung des
Sexualcharakters, also die volle Verweiblichung, Effemination des
Mannes im Korybanten- und Kinädentum, die anatomische und phy-
siologische Nachahmung des Weibes beim Manne wurde mit der
Bezeichnung morbus, vooog belegt und vielfach als Folge einer Rache
der Venus angesehen, die übrigens auch noch andere Leiden ver-
hängen konnte. Rosenbaum hat dieser Thatsache ein sehr weit-
läufiges Kapitel seines Buches gewidmet ^), unter dem Titel Novoog
&rjXEia, über welche von Herodot (I, 105) geschilderte Krankheit
der Skythen vor ihm, neben älteren Autoren, hauptsächlich Stark ■^)
und Friedreich 3) besondere Abhandlungen veröffentlicht haben.
1) Rosenbaum a. a. O., S. 145 — 227.
2) C. W. Stark, De vovoco t'frj/.siq apud Herodotum Prolusio, Jena 1827.
3) J. B. Friedreich, Novaog -d-ijhia. Ein historisches Fragment. In: Analekten
zur Natur- und Heilkunde, Würzburg 183 1, S. 28 — 33.
— 6o2 —
An dieser Stelle handelt es sich nur darum, die Auffassung der Alten
hinsichtlich der krankhaften Natur des „Lasters" der Päderastie
näher zu beleuchten. Denn heute braucht die Ansicht, dass es sich
bei der drileia vovoog um Tripper oder gar Syphilis gehandelt habe,
nicht ernsthaft widerlegt zu werden. Wohl aber ist es von Interesse,
die weite Ausdehnung des Begriffes morbus, vooog kennen zu ler-
nen, da dieser uns noch öfter begegnen wird, auch in Beziehung zur
supponierten „Altertumssyphilis".
Herodot (I, 105) lässt die ,, weibliche Krankheit", ■drp.siav vovaov, über die Skythen
hereinbrechen, die den Tempel der uranischen Aphrodite in Askalon geplündert hatten, und
nicht bloss sie, sondern auch ihre Nachkommen werden für immer damit behaftet. Dies,
sagt Herodot, sei die Erklärung der Skythen und man könne noch heute bei ihnen diese
eigentümliche Kategorie von Individuen, die die Skythen selbst si'agsag nennen, sehen.
Es handelte sich also um eine Gruppe von Männern mit weiblichem Habitus.
Die ßj'jXeia vovoog wird von dem Scholiasten zum Thukydides mit der fiaXaxia identifi-
ziert: xai 4>iloxTi]Tt]g öia zcn' IJdgtdog &ävaror i}fj?.siav vöoov voorjoag, xal fiij (peQOiv
xr]V aiO)[VVi]v, ojieX'd'üiv sx Trjg Tiargidog, k'xicos Jiohr, ijv dia t6 jrd'&og Makaxiav
exclXeos. Thucyd., Lib. I, c. 12, ed. Bauer, Leipzig 1790, p. 33 (zit. nach Rosen-
baum a. a. O., S. 151).
Genauere Mitteilungen, als sie die aphoristische Andeutung des Herodot über
die Effemination der Skythen darbietet, finden wir in der hippokratischen .Schrift jieqI
äegcov ydäzcov tojicov (c. 22 der Ausgabe von Kühle wein, Hippocratis Opera, Vol. I,
p. 64 — 66, Leipzig 1895). Sie sind, wie alle Aeusserungen des Verfassers dieser berühmten
Schrift, höchst bemerkenswert durch die nüchterne naturwissenschaftliche Auf-
fassung des Wesens der Krankheiten, deren natürliche Ursachen überall hervorgehoben
werden, wie das auch in der Schrift jteqI igfjg vovoov geschieht, die wahrscheinlich von
demselben Verfasser herrührt.
Nachdem der Verfasser von de aere, aquis et locis in den Kapiteln 19 — 21 in sehr
anschaulicher Weise die geringe sexuelle Differenzierung der Skythen aus der Natur
des Landes und der Lebensweise abgeleitet hat, wobei er die häufige Impotenz der Männer
auf das fortwährende Schütteln auf dem Pferde bemi Reiten, diejenige der Frauen auf ihre
Korpulenz zurückgeführt hat, während letztere bei gehöriger Körperbewegung und konse-
kutiver Abmagerung sehr leicht concipierten, wie das Beispiel der nach Griechenland ver-
schlagenen skythischen Sklavinnen beweise, fährt er in Kapitel 22 folgendermaßen fort:
"Eri TE jiQog xovToioiv Evrov^iai yivorrni 01 tiXeTozoi er ^xvßrjoi xal yvvaixeZa
EQydCovrai xai c5? at yvvalxFg [ßiaiiEvriai] öialt-yorTat te öfjioicog' xaXevv-
xal TE Ol roiovzoi 'AvögisTg. ot fiev ovv ejzixcoqioi Ttjv ahirjv jiQoaxidEaoi ■&e(Jü xal
OEßoriai rovrovg jovg dv&QOJMovg xal jiqooxvveovoi^), ÖEÖoixöxEg ueqi ecovtwv Exaazoi.
£/wl Ö'e xal avzcü doxsT zavra zd irdOea &ETa slvai xal zäkXa Jidvza xal ovSsv ezeqov
EZEQOV ■&£i6z£Qov ovÖe dv&QCOJin'OJZEQor, uVm Jidvza ofioTa xal ndvza ÜEia '^}. Exaazov de
1) Diese Heiligung der Päderasten und effeminierten Homosexuellen begegnet uns
schon in der Bibel, wo sie ebenfalls quadesch = Heiliger genannt werden. Vgl. die Einzel-
heiten bei J. Preuss, Prostitution und sexuelle -Perversitäten nach Bibel und Talmud in:
Unna's Monatshefte f. prakt. Dermatologie 1906, Bd. XLIH, Nr. 9, S. 471 — 472.
2) Vgl. fast genau den gleichen Gedanken in ganz ähnlichen Worten in den ersten
Sätzen von :ieqI iQijg vovoov, ed. Dietz, Leipzig 1827. p. 2 ff.
— 6o3 —
avzwv f'xEi qwaiv tijv scovzov xal ovdh' ärsv (fvoiog yivEiai. xal tovto lo jiäd^o? &g /lioi
doxsT yh'SO'&ai (fgäoco. vno ztjg ijijiaoirjg avToix; xsöfcara Xa/ußdvsi, ärs aiei
XQS/na/iisvcor' djtd xmv ijijtcov roig Jiooiv ensixa djioxoiXovvrat xal sXxovrai rot loxioi., o'i
av acpödga voa^acoon'. iöJvxai 8s acpäg avrovg tqÖjko tokoSe. Sxozav ya.Q aQxrjzai r]
rovoog, ojita&sv zov wzog exazsQOV q^Xsßa zdfivovoiv. oxözav Sk djioQfjvfj z6 alfia, vjivog
vJioXai^ißdvEi vjzo do&svEtt]g xal xa^evSovoiv. EJtsiza dvsysiQOVzai, ol {.iev zivsg vyisEg
iovzeg, ol 8' ov. i/nol f^iEV oi'v 8oxsT ev zavzt] zf] u'joei 8iaq?&eiQEO&ai 6 yovog. stal ydg
Tzagd zd cbza (pXsßEg, äg idv zig ijiizdfiy, äyovoi yivovzai oc ijiiz/Li)p9^£rzEg^). zavzag zoi-
^'vv fioi 80XEOV01 zag (pkißag e7iizd[A,vEiv. ol 8k fiEzd zavza ijiEiSdv d<pixcovzai Jiagd yv-
vuTxag xal fitj oioi z'stooi XQV^^'^^ ocpiaiv [aizaTg^, z6 tiqmzov ovx iv&vfiEvvzai , dX?J
ijovxltp' s'xovai. oxözav 8e 8lg xal zglg xal Jiksovdxig avzoToi Jisigtofisvoioi [xi]8h> dXXoi-
ÖZEQOV djioßalvi] , vofiioavzEg zc i][iaQzi]X£vai zco "ßscö, ov sjiaizioivzai, ir8vovzai ozoXip'
yvvaiXEÜp' xazayvövzEg hovzöjv drar8Q£iijv. yvvaixi^oi'oi zf xal igydCovzai ftszd z&r yv-
vaixwv d xal ixsTvai. —
Tovzo Se Jidaxovoi 2xv&ecov ol nXovoioi, ovx ^* xdxiozot, dXX' ol svyevtazazoi xal
laxvv TTlsiazrjv xExzr]^iEroi, 8id zrjv iTinaaifjv , ol 8k nEvtjzeg vjoaov ov ydg Injid-
Covzai. xaizoi Exgi/v, ei dEtozEQov zovzo z6 v6aEVf.ia zöjv Xoijiöjv iaziv, ov zoTg yevvaio-
zdzoig ztüv Sxvdewv xal zoTg jiXovoiwzdzoig jzgoojiijizEiv /tiovvoig, dXXd zoTg änaoiv 6/iioicog,
xai fxäXXov zoiaiv dXiya xexzij/lievoioiv, ei 8i] zi/liw/hsvoi xo^QOvaiv ol ■d'eol xal ■dav^aCdfiEvoi
vTi' dv&gcojioiv xal dt'zl zovzwv x^-Qi'^^ag djzo8i86aoiv xal f] zoiavzr] vovaog and
zoiavzijg :igoqmaiog zoTg 2xvß)jai yirszai oi'ijv Ei'gijxa. f'xec 8k xal xazd zovg Xoijzovg
dvd gcüjzovg ofxoUog. oxov ydg Ijiiidi^ovzai /tidXioza xal jzvxvözaza , exeT
ttXeTozoi vjto XE8fidz(i}v xal iaxtd8ojv xal jio8aygiu>v dXiaxovzai xal Xay-
VEVsiv xdxiozoi sioi. zavza 8e zoiai [rs] 2xvd't]ai ngoosozi , xal svvovxoei-
8EOzazoi Eiaiv dv&gwnoiv 8id zavzag [re] zag jzgo<pdoiag xal ozi dva^vgi8ag
k'xovoiv alel xal sloiv knl zcöv i'niiwv z6 jiXeiozov zov ;fßOJ'ot;, üjoze /it/jze
XEigi äjizEo&ai zov atSoiov vjiö zs zov yvxEog xal zov xojiov ijiiX^&so&ai
zov l/LiEgov xal zf/g /iCEi^iog xal fitj8kv nagaxivEiv Jigdzsgov i) dvav8go)&iivai.
Aus diesem höchst merkwürdigen und zum Teil auf genaue Beobachtung gegründeten
Berichte geht also hervor, dass es sich um ein erworbenes Leiden handelt und zwar er-
kranken an demselben nur diejenigen Individuen, die andauernd reiten. Und dann ist
dieses Leiden durchaus nicht etwas den Skythen Eigentümliches, sondern der
Verfasser von jisgl dsgwv v8dzoiv zojzcov erklärt im Schlusspassus ausdrücklich, dass
auch bei allen anderen Menschen das andauernde und anhaltende Reiten jene sexuelle
Apathie und Impotenz hervorrufen könne, die als das Vorstadium der allerdings den
Skythen und einigen anderen Völkern allein eigentümlichen Novoog &tjXsia zu betrachten ist.
Nach wiederholter Lektüre der zunächst etwas rätselhaft klingenden Schilderung habe
ich mich überzeugt, dass bei strenger Trennung des Primären, d. h. der Impotenz, von
dem Sekundären, d. h. der Effemination, die ganze Stelle auch in klinischer Beziehung
und für unsere moderne naturwissenschaftliche Auffassung sehr einfach und einleuchtend
erklärt werden kann, was bisher allen früheren Autoren entgangen ist.
Also die Vorbedingung und wesentliche Ursache der vovoog ■&^Xsia (Hero-
dot) oder dvavSgEirj (Verfasser von de aere, aquis et locis) der Skythen ist die durch an-
dauerndes Reiten hervorgerufene Impotenz, wie sie auch bei allen anderen Völkern
vorkommt, aber nur bei wenigen zur Effemination führt.
i) Vgl. hierzu Oeuvres d'Hippocrate, ed. Littr6, Bd. VII, S. 472 und über diese
hippokratische Theorie der Impotenz Sprengel-Rosenbaum, Geschichte der Arzneikundfe,
4. Aufl., Leipzig 1846, Bd. I, S. 362, Anm. 35 [mit Angabe der Parallelstellen].
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 39
— 6o4 —
Zunächst beschreibt nun der Verfasser der genannten hippokratischen Schrift in sehr
klarer und anschaulicher Weise die Entstehung dieser Impotenz als eine Folge von
allerlei krankhaften Zufällen beim häufigen und andauerndem Reiten. Und zwar
sind dies Zufälle verschiedener Art.
An erster Stelle nennt er xEÖi-iata. Hienmter verstehe ich nicht wie Rosen-
baum (a. a. O. S. 216), die bereits ausgebildete „Varicocele", den Krampfaderbruch des
Hodens, sondern die die Bildung der Varicocele begleitenden ziehenden Schmerzen in
der Leistengegend'). Dass es sich um solche handelt, beweist ihre Beziehung zu dem
Herabhängen der Füsse, wodurch eine diese ausstrahlenden Schmerzen veranlassende Zerrung
des Samenstranges hervorgerufen wird. Wenn diese Schmerzen stärker werden {01 av
ocpöÖQO. rooyacooiv) — es kommen bei Varicocele oft heftigste Neuralgien vor — , so fällt
den Betreffenden das Gehen schwer, sie lahmen und ihre Hüftgegend zieht sich vor Schmerz
krampfhaft zusammen -).
Wenn nun dieser Zustand eingetreten ist, nimmt der Trieb zum Geschlechtsverkehr
ab, die Betreffenden werden unlustig zum Beischlaf (kayveveiv xdxiaroi etat). Das ist
durchaus glaublich und wird durch die modernen wissenschaftlichen Beob-
achtungen bestätigt. So sagt Theodor Kocher (a. a. O. S. 204 — 205): ,, Einzelne
Patienten leiden an häufigen Pollutionen, andere klagen über Druck im Hoden und Ab-
nahme des Geschlechtstriebes. Und dass alle diese Beschwerden wirklich von der
Varicocele abhängen, zeigt das auch von uns mehrfach konstatierte Verschwinden derselben
nach glücklicher Operation. Die Abnahme des Geschlechtstriebes mag zum Teil
als eine Art von Schmerzlähmung aufzufassen sein, wie mir einer der Pa-
tienten klagte, er könne überhaupt keine kräftige Anstrengung mehr aus-
führen, weil er sofort Schmerzen in der Seite bekomme. Mit der Hebung
der Schmerzen tritt auch Besserunji der Geschlech Isf unktionen ein."
i) Das geht deutlich aus den Definitionen des Erotianus (Eroiiani vocum Hippo-
X craticarum conlectio rec. Josephus Klein, Leipzig 1865, .S. 15, 11 und S. 83, 6):
Ksd/^ia. rj y^Qovia tisqI zä äg&ga vooojdt]g öiädeaig. rivsg de (paoh' y.al zijv tisqI
za yevvtjriau /woia, und des Galenos (raktjvov zibv 'IjiJio?<Q<izovg yXdioaoiv E^rjyrjoig,
ed. Kühn, XIX, S. iii): Ksä/naza: zag sx Qsv/uazog ^Qoviovg 8ia&eaeig , ijzoi tieqI
zu aQßga ov/Ujiavza Pj i^aigizcog negl za xaz' loxiov, hervor. Also eine schmerz-
hafte, in der Gegend der Hüfte lokalisierte Affektion infolge des Reitens.
Es ist aber eine allbekannte Erscheinung, dass der der Bildung der nicht selten durch
Zerrung und Quetschung des Samenstranges beim Reiten oder Herabspringen vom Pferde
entstehenden Varicocele vorausgehende charakteristische Leistenschmerz nach der Lenden-
gegend, der Hüfte und bis in die Kniegegend ausstrahlt (vgl. Theodor Kocher,
Die Krankheiten der männlichen Geschlechtsorgane, Stuttgart 1887, S. 204) und oft den
Charakter einer ,, rheumatischen" oder neuralgischen Affektion annimmt, so dass die obigen
Definitionen durchaus zutreffend sind und wir auch die Ausdrücke „Ischias" und ,, Podagra"
verstehen.
2) Die von Kühlewein acceptierte Emendation klxovvzai von Mercurialis und
Ermerins giebt hier gar keinen Sinn, die alte Lesart skxovzai ist die richtige. Das beweist
auch der Schluss des Kapitels, wo noch einmal die Symptome wiederholt werden und dabei
ebenfalls nicht von „Geschwüren" die Rede ist, sondern nur von den verschiedenen Arten
des Schmerzes {vjio xsöfidrcov xai laxidScov xal TiodayQiöjv). Schon Grimm-Lilienhain
(Hippokrates Werke, Glogau 1837, Bd. I, S. 210) haben richtig übersetzt: ,,die Hüften
ziehen sich zusaromen" (seil, schmerzhaft).
— 6o5 —
Dass auch dem Verfasser von de aere, aquis et locis dieser Zusammenhang klar war,
beweist schlagend der Satz: öxov yuQ mjrdCor'zac f^idlioja xal jtvxvÖTaTa, sy.eT nXsTazoi
vjto xsdfidicoi' y.ai toyiüdcov yai jTOÖayQiöJv ä?doxoviai xal /Myvevsiv xäxiazoi etat. Hier
wird also die Venäsektion der Venen hinter den Ohren gar nicht in Anspruch genommen,
um die konsekutive Impotenz zu erklären, sondern diese ist lediglich eine Folge der
Schmerzen und der diese bedingenden V^eränderungen an Hoden und Samenstrang.
Wie erklärt sich nun die seltsame Theorie von dem Auftreten der Impotenz infolge
der Oeffnung der Venen hinter dem Ohre? Hier hat der sonst so scharf beobachtende
Verfasser von de aere etc. ganz offenbar einer ähnlichen Anschauung gebuldigt wie der
Verfasser von tisqi yoi'ijg, wo es in Kap i heisst: ,,Es ziehen sich vom gesamten Körper
aus Adern und Nerven nach den Genitalien hin, durch deren Reibung, Erwärmung imd
Anfüllung eine Art wollüstiger Kitzel über den Menschen kommt und Wohlbehagen und
Wärme aus jener Gegend nach dem ganzen Körper strömt ... Es führen aus dem ge-
samten Körper Gänge dorthin, es ziehen sich solche von dem Gehirne aus nach
der Hüftgegend, nach dem ganzen Körper und so auch nach dem Rücken-
marke, und auch von diesem gehen Gänge aus, so dass das feuchte Ziifluss wie Abfluss
nach und aus demselben hat. Wenn aber der Samen nach dem Rückenmarke
gelangt ist, geht er zu den Nieren; der Weg dorthin führt durch die Adern . . .
Von den Nieren aber gelangt der Samen mitten durch die Testes zu den Ge-
nitalien, und zwar geht er nicht den Weg des Urins, sondern er hat dicht daneben einen
anderen Weg" und in Kap. 2: „Diejenigen aber, welche am Ohre zur Ader ge-
lassen sind, können zwar den Coitus ausüben und ejakulieren auch, aber
nur wenig und obendrein schwachen und unfruchtbaren Samen. Geht doch
das Meiste vom Kopfe aus an den Ohren vorüber nach dem Rückenmarke;
dieser Gang aber hat sich, wenn die Schnittwunde vernarbt ist, verhärtet"*).
Wenn nun der Verfasser von jisqI ueqoov diese Theorie') auf die Impotenz der
Skythen anwendet, weil er bei ihnen eine zu therapeutischen Zwecken vorgenommene Venä-
sektion hinter den Ohren gesehen hat, so muss bei der Konstruktion des Zusammenhanges
der Nachdruck auf die Worte e.fioi fikr oi'v SoxsT sv ravz}] ztj itjoei öia(p{^£iQso-
dai 6 yörog und zai'zag zoirvv fioi doxfovai zag (p)Jßag sjzizdf,i7'€ir gelegt werden. Es
ist also keineswegs sicher, dass die Skythen gerade die Venen, die nach der Theorie des helle-
nischen Arztes mit der Potenz in Verbindung stehen, für den Aderlass benutzt haben. Aller-
dings spricht für letzteres der Umstand, dass in anderen Schriften des hippokratischen Corpus
die Venaesectio an dieser ominösen Stelle ausdrücklich gegen xsdfiaza (Epidem. VI,
ed. Kühn, II, 609: KsSfidzcor zag f.v zoTaiv loaiv ojiio&sv qcJJßag oydi^siv) empfohlen wird.
Dann würde sich die Anschauung der Verfasser von tisoI yorFjg und negl ueocor als eine
Polemik gegen die letztere Methode darstellen.
Mir scheint aber der Zusammenhang ein ganz anderer zu sein und jener merk-
würdigen Beobachtung eine wahre Thatsache zu Grunde zu liegen, die den antiken
Aerzten noch nicht bekannt war. Das ist die nach Fall auf den Kopf mit oder ohne
Verletzung desselben auftretende Hodenatrophie und consecutive Impotenz.
1) Hippokrates' sämmtliche Werke. Ins Deutsche übersetzt von Robert Fuchs,
München 1895, Bd. I, S. 209 — 210.
2) Sie findet sich auch in der hippokratischen Schrift jtsoi zöjzoiv xwv xazd m'&oco-
710V (ed. Kühn, Leipzig 1826, Bd. II, S. 106). — Interessant ist, dass auch nach dem
Talmud der Aderlass das Sperma verringert, besonders wenn er an den unteren Ex-
tremitäten ausgeführt wird. Vgl. J. Preuss, Zur Geschichte des Aderlasses. In: Wiener
klinische Wochenschr. 1895, Nr. 35.
39*
— 6o6 —
„Eine auffallende Ursache (seil, der Hodenatrophie", bemerkt Englisch'), ,, bilden
die Verletzungen des Schädels und der Wirbelsäule. So wurde Atrophie beobachtet nach
Verletzungen am Hinterhaupte von Lallemand, Hildanus, Fischer, Smith, Gall,
Curling, Larrey, nach Stoss, Schlag, Fall und Schusswunden. Auffallend war dabei
die rasche Abnahme der Geschlechtsfunktion, deren Wiederherstellung nur in
den seltensten Fällen erfolgte. Die Atrophie des Hodens erfolgt oft schon nach sehr
kurzer Zeit (2 Monaten)". — De Montmollin stellte März 1875 der Societe medicale
de Neufchätel eine Hodenatrophie vor bei einem 41jährigen Manne, der sich im 27. Jahre
verheiratet und 4 Kinder gezeugt hatte. Derselbe fiel vor 10 Jahren auf den Kopf ohne
weitere Erscheinungen als Kopfweh und Schmerzen in den Gliedern. Die Kopfschmerzen
machten den Patienten bald arbeitsunfähig. Ein Jahr später wurde er ins Spital aufgenom-
men wegen Diabetes insipidus. Er litt an heftigen Kopfschmerzen, Schmerzen und Zuck-
ungen in den Gliedern. In derselben Zeit begannen die Bart- und Schamhaare auszufallen,
und er konnte den Coitus nicht mehr wie früher ausüben. Anderthalb Jahre nach dem
Vorfalle war er völlig bartlos, hatte keine Erektionen mehr noch Samenergüsse. Nach
nahezu 5 Jahren war der rechte Hoden bohnengross, der linke haselnussgross, der Patient
sonst normal, nur in der Gegend der kleinen Fontanelle sehr druckempfindlich. (Mitgeteilt
bei Kocher a. a. O. S. 559 — 560.)
Nun ist es sicher, dass bei einem Reitervolke wie den Skythen sehr häufig Sturz
mit dem Pferde und Kopfverletzungen aller Art vorkommen mussten. Gegen diese Kopf-
verletzungen nun wendete man den Aderlass und zwar möglichst in der Nähe des leidenden
Teiles, also am Kopfe selbst und zwar an den Venen hinter dem Olire an. Auch die
Hippokratiker wählten bei Krankheiten der oberen Körperteile als Stelle des Aderlasses
Kopf, Hals, Zunge, Arme, bei Krankheiten der unteren die Füsse^) und im Oriente ist der
Aderlass am Kopfe bei Kopfleiden weit verbreitet und noch heute üblich. Dr. Paris ^)
erzählt: ,,Fast jeder Armenier, Grieche, Jude, Türke, hat eine Fontanelle und ebenso miss-
brauchen sie das Schröpfen. Wegen eines simpeln Kopfwehs lassen sie den ersten besten
Barbier sich eine Binde um den Hals schlagen, damit das Blut zurückgehalten werde, und
hernach mit einem Scheermesser einige Schnitte um das Ohr herum machen,
da dann ungefähr so viel Blut als in eine Eierschale geht, ausfliesst". ^
Die Tliatsache, dass auch die Skythen den Aderlass am Kopfe vornahmen, ist wohl
nicht anzuzweifeln. Wahrscheinlich thaten sie es in den Fällen, wo es sich um Kopf-
verletzungen und Kopfleiden infolge des unmässigen Reitens handelte. Und diese Kopf-
verletzungen als das Primäre hatten die Impotenz zur Folge, die der Ver-
fasser von ,-T£ßt dsgcov irrtümlich dem sekundären Aderlass am Kopfe zuschreibt! So dürfte
sich am einfachsten und natürlichsten diese rätselhafte Stelle erklären. Es wird dadurch zu-
gleich die Genesis der Impotenz durchaus der modernen Forschung entsprechend aufgehellt.*)
1) Englisch, Artikel „Hoden" in Eulenburg's Real-Encyclopädie der gesammten
Heilkunde, 3. Aufl., Wien und Leipzig 1896, Bd. X, S. 555.
2) Vgl. J. H. Baas, Die geschichtliche Entwicklung des ärztlichen Standes, Berlin
1896, S. 67.
3) In Roux, Journal de Medecine, Bd. XLIV, S. 355, zitiert nach Sprengel -
Rosenbaum a. a. O., I, S. 362, Anm. 35.
4) Die Theorie des Zusammenhanges von Impotenz und Venäsectio findet sich noch
bei mittelalterlichen Autoren. Vgl. Victor Tarrasch, Die Anatomie des Richardus.
Inaug.-Diss., Berlin 1898, S. 47; Walter Schnelle, Die Chirurgie des Johannes Mesue
jun. Schluß des 4. Buches zum ersten Male veröffentlicht. Inaug.-Diss. Berlin 1895, S. 29
(beide unter der Ägide von J. Pagel).
— 6o7 —
Wie schon erwähnt, ist diese Impotenz das Primäre, die Vorbedingung und wesent-
liche Ursache der sekundären Effemination, die sich infolge der Hodenatrophie iind sexuellen
Passivität allmählich entwickelt und zum Teil künstlich gezüchtet wird. Auch diese
zweite Erscheinung, die eigentliche -dtj^sia vovaog, beruht auf tatsächlichen Beobach-
tungen und wird durch ethnologische Parallelen als ein eigenartiges, in seiner
Art spezifisches Phänomen charakterisiert, so dass das Rätselhafte und Wunderbare
daran einigermassen erklärt werden kann.
Sowohl Herodot (I, 105) als auch der Verfasser von de aere, aquis et locis führen
•die auf die Impotenz folgende Effemination auf die Beleidigung der Aphrodite oder einer
anderen Gottheit zurück. Es war kein durch Menschen, sondern ein durch die Götter ver-
hängtes Schicksal. Ganz ähnlich unterscheidet auch die biblisch-talmudische Auffassung den
„saris" (Spadonen, Impotenten) durch Menschenhand von dem ,,saris chammah", dem
„Sonnen-saris". Preuss'j bemerkt darüber:
„Bestätigt sich die erst kürzlich ausgesprochene Vermutung des Herrn v. Oefele,
dass auch die Äg)-pter den ,, Beschnittenen durch Ammon-Ra", den Sonnengott kennen,
so wird der bisher nicht erklärte Name dieses ,,Sonnen -saris" verständlich. Die Gemara
substituiert dafür die dem Monotheismus entsprechendere Bezeichnung: saris min haschamajüm,
„durch Hand des Himmels", letzteres die Umschreibung des hebräischen Gottesnamens.
Der Sonnen-saris entsteht sowohl infolge Stehenbleibens auf infantiler Stufe (Aplasie), als
auch einer Erkrankung nach der Pubertät (Atrophie). Intrauterin entsteht die
Hemmung, wenn die Schwangere bei hellem Feuer buk (nach 'Arükh „in der Sonne ass",
chammah = Sonne) und schweren Wein trank (Jeb. 80 a). Ein „Verschnittener durch Hand
des Himmels und Menschenhand zugleich" kann jemand werden, wenn ihm chatatin (Ex-
crescenzen) aufgegangen sind (durch die Hand des Himmels) und er diese nun abkratzt
(j. Jeb. 9a). R. Eliesar (noch zur Zeit des zweiten Tempels, um 50 p. Chr.) berichtet,
dass man Sonnencastraten in Alexandrien in Ägypten heile (also impotent Gewordene?)."
Es erscheint also auch hier die Impotenz und Verweiblichung als eine Krankheit,
vooOi, die wiederum als göttliche Strafe angesehen wird und nunmehr in religiösem
Sinne aufgefasst wird, weil man den natürlichen Ursprung der auf homosexueller Basis
sich entwickelnden Effemination nicht kannte und vielfach auch wohl die relative Impotenz
der Homosexuellen gegenüber Frauen mit der absoluten Impotenz heterosexueller Individuen
in einen Topf warf. Man kannte eben noch nicht die natürlichen Erklärungen für gewisse
rätselhafte Erscheinungen auf diesem Gebiete. Es ist deshalb von höchstem Interesse, dass
sich Adolf Bastians berühmter „Elementargedanke" auf diesem Gebiete besonders auf-
fällig und instruktiv nachweisen lässt. Stellt man die hierauf sich beziehenden Thatsachen
in Kürze zusammen, so fällt der letzte Schleier von dem Rätsel der di)).sia vovaog und die
Richtigkeit und Naturtreue der Schilderung des Verfassers von ;Tfot degcov wird in das
hellste Licht gesetzt.
Es ist das Verdienst Hammonds, in einer monographischen Studie^) die wichtigsten
analogen Fälle zusammengestellt und dadurch die Glaubwürdigkeit der hippokratischen Schilde-
rung endgültig bewiesen zu haben.
1) J. Preuss, Die männlichen Genitalien und ihre Krankheiten nach Bibel und
Talmud. In: Wiener med. Wochenschr. 1898, Nr. I2ff., S.-A., S. 11 — 12.
2) William A. Hammond, The disease of the Scythians (Morbus Feminarum)
and other analogous conditions. In : American Journal of Neurology and Psychiatry, August
1882, p. 339 sq.
— 6o8 —
Schon Reinegg') und Klaproth'-) haben auf Zustände hingewiesen, die grosse
ÄhnHchkeit mit der „skythischen Krankheit" haben und vor allem noch zu ihrer Zeit
in den Gegenden beobachtet wurden, auf die auch die hippokratischc Beschreibung sich bezieht.
Ersterer berichtet; „Der merkwürdigste aller Nomadenstämme von Cuban ist der der
Nogays oder Mongutays. Die Angehörigen dieses Stammes unterscheiden sich von anderen
durch ihre mongolischen Züge, welche ihren ganzen Körperbau charakterisieren. Die Männer
sind fett, gross und dick, haben hervorstehende Backenknochen, tiefliegende Augen und spär-
lichen Bartwuchs. Wenn sie durch Krankheit heruntergekommen sind oder älter werden,
so wird die Haut des ganzen Körpers runzlig, der Bart verschwindet gänzlich, und sie
sehen jetzt Weibern höchst ähnlich. Sie werden impotent und weichen im Denken
und Handeln erheblich von den anderen Männern ihres Stammes ab. Sie müssen dann den
Verkehr mit Männern meiden und schliessen sich in ihrem Umgang den Frauen an, deren
Kleidung sie auch annehmen."
Auch Chotomski (bei Daremberg, Oeuvres d'Hippocrate, Paris 1843, p. 497) sah
viel später unter den Tartaren des Kaukasus viele Männer infolge übermässigen Reitens im-
potent werden. Mit Recht folgert Hammond daraus, dass die Skythen der alten Zeit
und ihre Nachkommen, die heutigen Bewohner des Kaukasus ganz besonders mit Impotenz
behaftet waren und viele von ihnen zur Effemination neigten.
Hammond'*) selbst konnte vor langen Jahren in Neu-Mexiko, wo er als Militärarzt
stationiert war, bei den Puebloindianern Beobachtungen machen, die mit der ß^tjksia
vovoog die grösste Ähnlichkeit aufweisen. Es wurde ihm die Thatsache hinterbracht,
dass die Pueblos einen Stammesgenossen in jedem Dorfe aussuchen, den sie geschlechtlich
impotent machen und dann zu päderastischen Zwecken benutzen. Diese Person nannte man
einen „Mujerado", wahrscheinlich eine Umgestaltung aus dem spanischen Wort „Mujeriego",
welches „weiblich" oder „weibisch" bedeutet.
Der eine der Mujerados, die Hammond untersuchte, teilte ihm mit, dass er schon
7 Jahre lang Mujerado sei, und dass er bis zu jener Zeit die sexuellen A[ttribute
der Mannbarkeit voll besessen habe. Zuerst seien seine Hoden kleiner geworden,
und mit ihrer Atrophie habe er den Geschlechtstrieb, sowie jeden .Sinn für männliche Be-
schäftigung verloren und daher Frauenumgang aufgesucht. Sein Penis hatte anfangs die
volle Grösse, aber da er nach und nach die Erektionsfähigkeit verlor, wurde das Glied auch
bald atrophisch. Bevor er ein Mujerado wurde, halte er, wie er mit sichtlichem Stolze mit-
teilte, einen grossen Penis gehabt, und seine Testikel waren „grandes como huevos", so
gross wie Eier.
Seine Stimme war hoch, dünn und versagte, besonders wenn er erregt war, was bei
ihm sehr leicht vorkam-; ausserdem gestikulierte er mehr als irgend ein anderer Indianer.
Bei einem zweiten von Hammond untersuchten Mujerado war die Schamgegend
frei von Haaren, der Penis stark verkleinert. Die Testikel bestanden offenbar nur aus
Bindegewebe, da auch bei starkem Druck kein Schmerz angegeben wurde, und die weichen
flachen Körper, welche in der Tiefe des Scrotum lagen, nur die Grösse einer wilden Bohne
hatten. Sonst bestand keine Deformität an den Genitalorganen. Er glich nackt mehr einem
Weibe als einem Manne und in Frauenkleidern konnte man ihn nicht von wirklichen Weibern
unterscheiden.
i) Reinegg, Beschreibung des Kaukasus, Petersburg 1796, T. I, .S. 269.
2) Klaproth, Reise im Kaukasus, Berlin 1812, 1, 285.
3) Vgl. W. A. Hammond, Sexuelle Impotenz beim männlichen und weiblichen
Geschlecht. Mit Vorwort von E. Mendel, Berlin 1891, S. 1 1 1 ff.
— 6og —
,,Es war mir schwierig", sagt Hammond, „die Atrophie der Genitalorgane, des-
gleichen die sichtbaren Veränderungen, welche in anderen Teilen des Organismus eingetreten
waren, zu erklären, aber schliesslich gelang es mir doch, einige Erkundigungen darüber ein-
zuziehen, die wohl auf Wahrheit beruhen, da sie von verschiedenen authentischen Quellen,
wie von den betieff enden Individuen in derselben Weise angegeben wurden.
Der Mujerado ist für die religiösen Orgien, welche bei diesen Indianern ebenso wie
bei den alten Griechen, Ägyptern und anderen Nationen gefeiert werden, durchaus unent-
behrlich. Er führt die passive Rolle aus bei den päderastischen Gebräuchen, die einen so
wichtigen Teil der Zeremonien bilden. Diese Saturnalien finden im Friihling jeden Jahres
statt und werden den Nichtindianern gegenüber mit der grössten Heimlichkeit betrieben.
Zum Mujerado wird einer der kräftigsten Männer gewählt, und an ihm täglich viele Male
Masturbation ausgeführt. Zugleich muß er fast beständig reiten. Die Sexualorgane
werden hierdurch zunächst in einen Zustand reizbarer Schwäche gebracht, so dass die Be-
wegung auf dem Pferde schon hinreicht, eine Pollution hervorzurufen, während zu gleicher
Zeit durch den Druck des Körpers gegen den Rücken des Pferdes — denn das Reiten
geschieht ohne Sattel — die Ernährung der Genitalien beeinträchtigt wird. Allmählich
können trotz des vorhandenen Orgasmus keine Samenentleerungen her\'orgerufen werden,
auch wenn die Erregung noch so intensiv ist. Schliesslich wird auch die Auslösung des
Orgasmus ganz unmöglich. Unterdessen beginnen der Penis sowie die Hoden zu schrumpfen
und erreichen mit der Zeit den äussersten Grad von Atrophie. Die Erektionsfähigkeit ist
dann gänzlich geschwunden.
Die deutlichsten Veränderungen aber gehen hierbei nach und nach in dem Hang und
in den Neigungen des Mujerado vor sich. Er findet kein Gefallen mehr an den Be-
schäftigungen, die er früher betrieben; sein Mut schwindet, und er wird so furchtsam, dass,
wenn er früher im Rate der Pueblos eine hervorragende Stellung inne hatte, ihm nun alle
Macht und Verantwortlichkeit genommen und er selbst einflusslos wird. Ist er verheiratet,
so entziehen sich- Frau und Kinder seiner Obhut . . . Übrigens wird es nicht als ein
Schimpf betrachtet, Mujerado zu sein. Er wird von seinen Stammesgenossen beschützt,
unterstützt, ja in gewissem Sinne geehrt, und braucht, wenn er will, nicht zu arbeiten.
Die Männer jedoch verkehren nicht mit ihm, aber dies geschieht mehr seinen Wünschen
und Neigungen gemäss, als dass jene ihn meiden. Er ist in der That bemüht, sich so viel
als möglich dem weiblichen Geschlecht anzupassen und alle die geistigen und körperlichen
Eigenschaften des Mannes los zu werden ....
Der Unterschied zwischen den Mujerados und den 'Evagh^ der Skythen besteht
hauptsächlich darin, dass bei den Pueblos der Verlust der Impotenz absichtlich zu einem
bestimmten Zweck herbeigeführt wird, während die Impotenz bei den Skythen als zufälliges
Endresultat bestimmter Sitten und Gebräuche eintritt. Im ganzen glaube ich annehmen zu
dürfen, dass in beiden Fällen ähnliche Ursachen zugrunde liegen.
Den Pueblos scheint es bekannt zu sein, einen wie grossen Einfluss das Reiten
ausübt, wenn es sich darum handelt, jemanden zum Mujerado zu machen. In der That
besitzen, wie ich aus eigener Anschauung weiss, die nomadenhaften Indianerstämme, welche
gewissermassen die Repräsentanten der Skythen des westlichen Continents
sind, besonders die Apachen und Novajos, kleine Geschlechtsorgane, schwachen Sexualtrieb
und geringe Potenz. Schon in ihrer ersten Kindheit gewöhnen sie sich daran, auch bei
den kleinsten Entfernungen zu reiten. Sie gehen selten zu Fuss, höchstens an solchen
Stellen, wo ihre Pferde leicht straucheln können; stets halten sie sich in nächster Nähe
ihrer Pferde auf. Ich habe selbst gesehen, wie sie, nur um den Sattel zu holen, eine
Strecke von 25 Fuss ritten. Infolge dieser Lebensgewohnheit sind die Muskeln der unteren
— 6io —
Extremitäten in ihrer Entwicklung gehemmt, die Schenkel ganz dünn, und die Waden so
flach wie eine Hand. Sie sind ganz unfähig, weite Märsche zu Fuss zu machen.
Ich bin ganz sicher, dass Impotenz unter ihnen sehr häufig vorkommt, obwohl ich
keine genaueren Erkundigungen darüber habe einziehen können. Oft wurde ich bei diesen
Indianerstämmen, sobald sie erfuhren, dass ich ein „Medizinmann" war, von jungen, an-
scheinend gesunden Männern um eine „kräftige Medizin" zur Stärkung der Potenz gebeten.
Wie ich übrigens erfuhr, werden auch die meisten ,, Medizinmänner" ihres Stammes aus
demselben Grunde von ihnen konsultiert. Ein Apachen- oder Novajo-Weib mit mehr als
2 — 3 Kindern würde ein Unikum sein."
Hammond spricht zum Schluss die Ansicht aus, dass die Opfer der ß}]XEia vovoog
wie die Mujcados zu päderastischen Zwecken benutzt wurden. Jedenfalls bietet die in der
hippokratischen Schrift erwähnte Verehrung der effeminierten Skythen eine auffällige
Analogie mit dem Kultus der Mujerados, deren ganze Genesis so viele wirklich überraschende
Ähnlichkeiten mit derjenigen der an der &r)Xsia vovoog leidenden Individuen aufweist.
Die Mujerados sind jedenfalls insofern die alleinigen echten Repräsentanten einer
modernen ,, Skythenkrankheit", als ihr Leiden wie das von dem Verfasser von jisgl degcov
geschilderte sich aus den gleichen zwei Faktoren zusammensetzt, der primären
Impotenz und der sekundären Effemination.
Im übrigen findet man diese Faktoren isoliert recht häufig, besonders die Effe-
mination. In Bezug auf die Impotenz durch Reiten bemerkt Johann Peter Frank*):
,,Das Reiten des Landvolkes auf übel gebauten, von vorn mit einem einfachen, er-
habenenen Knopfe oder mit einer schmalen Rippe versehenen Reitsattel, das allzu früh-
zeitige Reiten der Knaben auf schwertrabenden oder unartigen Pferden, wozu solche, oft
ohne Not, von ihren Eltern, in einem Alter, wo sie sich noch nicht zu halten wissen, auf
dem Lande gezwungen werden, sind meistens die nächste Ursache der Quetschung der
Hoden und der nachfolgenden Unfruchtbarkeit, oder noch schwererer Übel."
Was die Typen der Effemination betrifft, wie sie in der üi'jkeia vovoog zutage trat,
so finden wir solche sowohl bei den Alten wie bei anderen Völkern und zu allen Zeiten.
So sagt z. B. Josephus von den galiiäischen Soldaten (De hello Judaico IV, 9, 10):
„Noch triefend vom Blute verprassten sie das Geraubte, ergaben sich aus lauter Über-
sättigung ungescheut weibischen Leidenschaften, indem sie sich das Haar frisierten, Weiber-
kleider anzogen, sich mit Duftöl Übergossen und sich zur Zierde die Augen bemalten. Aber
nicht allein im Putz thaten sie den Weibern nach, sondern Hessen sich auch als solche ge-
brauchen und ersannen im Übermass der Geilheit naturwidrige Wollüste: sie wälzten sich
in der Stadt wie in einem Bordelle und befleckten sie mit lauter Werken der Unreinigkeit^)."
Weitere Beispiele antiker Effemination sind bereits früher erwähnt worden. Auf sie
und die analogen Verhältnisse in Nord- und Zentralamerika, wo uns ,, heilige" effeminierte
Päderasten sehr häufig begegnen, sei nur im Vorübergehen hingewiesen. Eine ausführlichere
Übersicht darüber giebt Adolf Bastian^).
Zur Erläuterung des für die Effemination gebrauchten Aus-
druckes vovoog möge auch die folgende, bisher unbeachtete Stelle
bei Aulus Gellius (Noct. Att. Lib. IV, cap. 2) dienen: „De eunucho
i) J. P. Frank, System einer vollständigen medicinischen Polizey, Frankenthal 1791,
Bd. 11, S. 222.
2) Des Flavius Josephus Werke, übersetzt von Heinrich Paret, Stuttgart 1855,
S. 506—507.
3) Adolf Bastian, Der Mensch in der Geschichte, Leipzig 1860, Bd. III, S. 3ioff.
— 6ii —
quidem quaesitum est, an contra edictum aedilium videretur venun-
datus, si ignorasset emtor eum eunuchum esse. Labeonem respondisse
ajunt, redhiberi posse quasi morbosum." Auch hieraus geht hervor,
daß Effemination und Impotenz als „morbus" galten.
Schon aus dem oben (S. 5 24 ff.) mitgeteilten Vocabularium ero-
ticum der Griechen, das zum größten Teile teils mit Beibehaltung
derselben Worte, teils in wörtlicher Uebersetzung in den sexuellen
Sprachschatz der Römer überging und von diesen noch vielfach ver-
mehrt wurde, haben wir entnehmen können, daß auch alle übrigen
Variationen des Geschlechtsgenusses und sexuellen Perversi-
täten bei den Alten bekannt waren und geübt wurden. Auf be-
sondere griechische und römische Lehrbücher der Sinnenlüst wurde
schon oben (S. 536 — 537) hingewiesen. Sie enthielten die Grundzüge
der ovßagirixi] äoelyeia (Philo, Vit. Moys. 1,1), die „mille modi Veneris
(Ovid., ars amat. II, 679; III, 787; Ovid, Amor. III, 14, 24; III, 7, 64).
Die hochentwickelte hellenistisch-römische Kultur Hess die latent
in den meisten Menschen schlummernden Neigungen zu sexuellen
Aberrationen und Raffinements offen hervortreten und steigerte sie
ins Ungemessene. Den Gipfel der sexuellen Korruption bezeichnet
das erste christliche Jahrhundert, als Zeit der ärgsten Verdorbenheit
und Entartung nennt Birt die Jahre 30 — 68 n. Chr., unter der Herr-
schaft Caligulas, Messalinas und Neros ^), wo die Abneigung gegen
die Ehe, die schon Augustus zu seiner berühmten Ehegesetzgebung
veranlasste, mit der männlichen Neurasthenie, der weiblichen Hysterie
(vgl. das charakteristische Epigramm des Martial, XI, 71) und der
Vorliebe für Haut-goüt (klassisch geschildert von Martial, III, 77)
sich vereinigten, um die rapide Ausbreitung geschlechtlicher Ent-
artung herbeizuführen und zu erklären. Es war die Zeit der „Wollust-
kommissare" 2) der römischen Kaiser, als deren ersten Sueton (Tib. 42)
den T. Caesonius Priscus erwähnt („novum denique officium instituit
a voluptatibus, praeposito equite romano, T. Caesonio Prisco") und
als deren berühmtester Petronius Arbiter von Tacitus (Annal.
XVI, 18, 3) verewigt worden ist. Sie hatten die Aufgabe, neue
Arten der Wollust zu entdecken und zu ersinnen, wie auch die per-
sischen Könige dem eine Belohnung zugesagt haben sollen, der ihnen
eine neue Art des geschlechtlichen Genusses offenbarte, da sie mit
i) Theodor Birt, Zur Kulturgeschichte Roms, Leipzig 1909, S. 146.
2) Sie sind vergleichbar den „maitres de plaisir" fürstlicher Lebemänner und Roues
des 18. Jahrhunderts.
6l2
den alten sich nicht begnügen mochten, wie die byzantinische Theo-
dora, von der Prokop (Hist. arc. IX, 6) erzählt: }) de xdx rojv toiöjv
rQfjirjßdroiv SQyaCojuevi], evexäXei rfj (pvoEi, dvgcpoQovjuevi] öri dt] jui] xal
Tovg tird^ovg nim] evqvteqov i) vrv elm Tgvjxqh], OJioig xal äXXi^v hravda
f^d^iv ejiueyväo&ai övvarrj eh].
Aus der folgenden kurzen Uebersicht werden wir ersehen, dass
sämtliche auch heute bekannten Arten abnormer sexueller Betätigung
auch im Altertum existierten und jedenfalls sehr bekannt waren,
wenn man nach den häufigen Erwähnungen der verschiedenen Schrift-
steller urteilt. Auch hier werden uns hauptsächlich — wie bei der
Päderastie — etwaige Beziehungen zu venerischen Erkrankungen
interessieren und wir werden gewisse Möglichkeiten einer besonderen
Lokalisation venerischer Affektionen , die durch die verschiedenen
abnorm sexuellen Betätigungen geschaffen werden, ins Auge fassen
müssen.
Die grösste Bedeutung kommt dabei jenen Perversitäten zu, bei
denen der Mund (Lippen, Zunge und Mundhöhle) eine aktive oder
passive Rolle spielt. Denn es ist klar, dass die „Mundunzucht" bei
der zarten, leicht zu Einrissen geneigten Schleimhaut der Lippen und
der Mundhöhle sehr häufig Gelegenheit zu venerischen Ansteckungen,
entzündlichen und geschvvürigen Veränderungen geben kann.
J3ie Terminologie der antiken Mundunzucht ist verschieden, je
nachdem es sich um die männlichen oder weiblichen Genitalien handelt.
Betrachten wir zunächst die erstere Art.
I. Mundunzucht mit und am männlichen Genitale. — Den
Coitus per os ausführen hiess Xeoßid'Qeiv [und zwar beim Manne
Hesych. III, 27: Jiqbg uvÖqq oio/.iareveiv], corrumpere buccas
(Mart. III, 75), illudere capiti (Sueton. Tib. 45), irrumare (Martial
III, 96 u. ö.), os percidere (Mart. II, 72, 3; Plaut. Pers. II, 4, 12),
altiora tangere (Priap. 28, 5), summa petere (Mart. XI, 46). Das
Irrumieren galt als die spezifische Unzucht der Greise (Mart. IV, 50;
XI, 46), seine Erduldung als ein Zeichen der Demütigung, Schande
und Strafe (Catull. XVI, i; XXVIII, 10; XXXVII, 8; XXI, 8
und 13; Priap. XIII).
Hierbei spielen Mund und Mundhöhle eine mehr passive Rolle,
während die aktive dem Membrum virile zufällt.
Ist umgekehrt der Mund aktiv gegenüber dem Membrum, so
bezeichnete man das mit den Namen Xeoßioeiv, leoßid'Qeiv (Aristoph.
Ran. 1308; Vesp. 1346), da die Lesbier bzw. Lesbierinneren diese
Unzucht, das lateinische fellare (Mart. II, 42; III, 82, 84, 87, 96;
VI, 81 u. ö.; Catull. LIX, LXXX u. ö.) erfunden haben sollen.
- 6i3 -
Der Scholiast zu Aristophanes Wespen 1346 beruft sich auf die Stelle des
Theopompos in dessen „Odysseus": i'ra fii) t6 jiaXaio^' rovro xai &Qid/.ov/isi>ov (5('
7J/iisTeQ(or OTO/^tdrcor EiJtco aoqyaiia, ö rfnai Jiaidag Asaßüov svqsTv. Daher Suidas
s. V. Aeoßi'oai = /lO/S'vai t6 aröiia. Aioßioi yäg 8ießd?J.ovTO ijzi aloxQÖirjTi. Derselbe
s. V. ai()^%-id^eiv : Xsaßiu^sn' tu zco azö/iiazi JiagavofiETv.
Lukianos (Pseudol., c. 28) nennt Xsoßiäl^Eiv zusammen mit (foirixiCeiv = lambere
cunnuni).
Rosenbaum') führt zur Erläuterung dieser auf den liederlichen Timarchos sich
beziehenden Aeusserung die folgenden Stellen aus Lukianos' Pseudologista an:
,,Bei den Göttern, was gerätst du denn in Wut, da das Volk auch das von dir
sagt, dass du ein Fellator und Cunnilingus seiest (jigog ^ecöv, emi fioi, ri maxei?, sjifiödr
xäxeh'a Äsycoai 01 jiolXol, IsoßiaCen' os xal (poivixi^siv). Verstehst du auch diese Wörter
so wenig wie das djioqrgäc ? und hältst du sie für Ehrentitel ? Oder bist du daran schon
gewöhnt, an d.TOCjgdg aber nicht, und willst es als etwas dir Unbekanntes aus der Liste
deiner Titel streichen? (cap. 28). — Ich weiss wohl, was du triebst in Palaestina, in
Aegypten, in Phoenicien und Syrien, sodann in Hellas und Italien, und vor allem jetzt in
Ephesus, wo du deinen Tollheiten die Krone aufsetzest (cap. 11). — Deine Mitbürger wirst
du aber niemals überreden, dass sie dich nicht für den Unflätigsten unter allen, für den
Auswurf der ganzen Stadt halten sollten. Vielleicht stützest du dich aber auf die Meinung
der Uebrigen in Syrien, dass man dich (dort) keiner Schuld, keines Lasters geziehen habe.
Aber beim Herkules, Antiochien sah die Geschichte, als du jenen von Tarsus kommenden
Jüngling entführtest und — doch es würde mir nicht anstehen, dergleichen aufzurühren.
Alle, welche dabei waren, wissen es und erinnern sich daran, indem sie dich auf den Knieen
ruhend sahen (xal ae fisv ig yorv avyaa&^fisvov idovisg) und jenem das thun, was du
wohl weisst, wenn du es sonst nicht ganz und gar vergessen hast (cap. 20). — Aber als
man dich auf den Knieen des Sohnes des Küpers Oinopion liegend (toi; fiecQaxiov ev yovaoi
xeifievov) antraf, was glaubst du da? Hielt man dich nicht für einen solchen, als man eine
solche That sah? (cap. 28). — Wie, beim Zeus, nach einer solchen That wagst du noch
uns zu küssen? — Eher eine Natter oder Viper küssen! Die Gefahr und den Schmerz des
Bisses kann doch ein hinzugerufener Arzt beseitigen -). Von diesem Kusse und mit solchem
Gifte, wer darf da sich dem Tempel oder Altare nahen? Welcher Gott würde den Flehenden
anhören: wie viel Weihkessel, wie viel Flüsse würde man bedürfen? (cap. 24). — In
Syrien bist du QoSoödqn'rj genannt; die Ursache zu nennen muss man sich schämen, bei
der Athene ! •') In Palästina aber (pgay/uög (die Hecke) wegen der Stacheln des Bartes, wie
ich glaube (vgl. Priap. 74 „barbatis non nisi summa petet"). In Aegypten dagegen avvdyxr}
(Angina, Bräune), dies ist eine bekannte Sache. Es soll wenig gefehlt haben, dass du nicht
erstickt wärest, als du auf den Matrosen eines Dreimasters stiessest, welcher auf dich ein-
fallend, dir den Mund verstopfte (og ifureachv ujiE(pQa^e 001 x6 arofia)."
Für „fellare" finden sich auch die lateinischen Ausdrücke: ore
morigerari (Sueton., Tiber. 44), ore adlaborare (Horat, Epod.
i) J. Rosenbaum a. a. O., S. 228 ff.
2) D. h. hier handelt es sich für den antiken Autor um ein ärztlich angreifbares
hygienisches Uebel, beim Kusse des Fellators aber um einen ästhetischen Ekel, den kein
Arzt beseitigen kann wie die Giftwirkung des Schlangenbisses.
3) Forberg a. a. O., S. 281, bemerkt dazu: Haud scio an Rhododaphnes cogno-
mine a Syris isti tradito tecte sugilletur cunnilingus, ita quidem, ut in rosa lateat cunnus,
in lauri folio lingua lingens.
- 6i4 --
VIII, 20), lambere medios viros (Mart. II, 61; III, 81, Ausonius,
Epigr. 81), lingere (Mart. III, 88; VII, 55), vorare (Catull.,
LXXX, 5, 6).
Je nachdem die Mundunzucht am membrum virile von einem
männlichen oder weiblichen Individuum ausgeführt wurde, sprach man
von einem „fellator" (Mart. XI, 30) oder einer „fellatrix" (Corp.
Inscr. Lat. IV, 46, Nr. 760).
2. Mundunzucht am weiblichen Genitale (Unzucht des
oxvla^ und cunnilingus). — Hierfür finden sich folgende griechische Be-
zeichnungen: oxvXa^ (Hesych. IV, 52 = oyrjjua äcpooöioiaxov, cbg t6
rcöv cpoivixi'QövTwv), (poivixiCsiv (Galen., ed. Kühn XII, 249; Lukian.
Pseudol. 28), oxeQoXlyyeq (Hesych. IV, 42 = Xmxaorai r/' coTiioxaL
In annotatione: Js. Vossius, qui vertit = „cunnilingi". oy.egog =
aidoioXeixtrjg), yXcorroTtoieTv (Aristoph., Kop. 1280).
Der Name oxvXa^ stammt offenbar von der Beobachtung der-
artiger Dinge bei Hunden. Rosenbaum (a. a. O. S. 260) zitiert hierzu
das Sprichwort bei Suidas: xvva öegeiv dednofievyjv xö xov 0eQexgdxovg'
o)^f]jua de eori äxoXaoxov elg xö alöoiov. Ei'o)jxai de em xcö, älXo naoxovxcov
nv&tg ifp olg jxenöv^aoiv fj nagoLfxia. Derselbe Autor weist darauf hin,
dass auch die Frauen des Altertums sich der Hunde als Cunnilingi
bedient haben dürften wie diejenigen des Mittelalters und der Neuzeit.
Dass das Wort (poivixiCetv die Thätigkeit des Cunnilingus be-
zeichnet, geht aus der Definition des Hesychios s. v. oxvXa^ hervor.
Ferner hat Galen eine sehr bemerkenswerte Stelle über dieses Wort.
Er sagt in seiner Schrift jisgl xrjg xojv äjiXöjv (paQjudxwv xgdoewg xal
dvvdfiecog (lib. X, cap. i ed. Kühn XII, 249): jiöoig ö'iÖQCÖxog xe xal
ovQov xal xaxajiU]viov yvvaixbg d eXyi] xal ßöeXvod .... ttoXv d'avxov ßöeXv-
QOJxeQov i]yoviuai xijv xojiqov elvai, xal jueiCov ye öveiöog ioxiv dvßocojio)
oaxpQOvovvxi xojiQoqpdyov dxoveiv /} aioxQOVQyov ^) 1) xivaiöov, dXXd xal
xwv aioxQOVQycöv juäXXov ßdeXXvrxöjUE^a xovg (poivixiCovxag xöjv
Xeoßia^ovrojv, cp (paivexai /uoi jtagaTiX^oiov xi Jidoxsiv 6 xal xaxajU7]viov
Ttivojv. Es wird hier das cpoivtxi'Qeiv ebenso von dem XeoßidCeiv unter-
schieden wie in der oben erwähnten Stelle des Lukianos. Offenbar
schrieb man den Ursprung der Perversität ebenso den Phöniziern zu,
wie denjenigen des Fellare den Lesbiern. Die Namenbildung ist die
gleiche. Es handelt sich beide Male, sowohl bei Galen als auch bei
Lukianos, um bestimmte sexuelle Perversitäten bzw. die Aus-
führung einer solchen, die mit den Worten Xeoßid^eiv und cpoivixi^eiv
bezeichnet wird. Ich halte es deshalb für gänzlich ausgeschlossen,
i) alaxQovgyög ist der terminus technicus für ,, perverse sexuelle Akte ausführen".
- 6i5 -
bei dieser klaren, unzweideutigen Definition der Autoren das q?oiviyu^eiv
mit der (poivixh] vovoog der hippokratischen Schrift IJoooQtjnxov (ed.
Kühn I, 233) zu identifizieren, die dem ganzen Zusammenhang nach
als eine Hautkrankheit aufzufassen ist, wahrscheinlich als typische
Lepra nach der Erklärung des Pseudo-Galenos (Glossar, ed. Kühn
XIX, 153)^) und mit der Thätigkeit des Cunnilingus nichts zu thun
hat. vooog heisst eben nicht immer „Laster", sondern wird ebenso
häufig auch für wirkliche Krankheit gebraucht, z. B. von Hippo-
krates. Damit werden die Ausführungen Rosenbaums (a. a. O.
S. 264 — 271) über einen etwaigen Zusammenhang des (poivixiX^eiv und
der (foivty.h] vooog hinfällig.
Anschaulich schildert Aristophanes (Eqiiit. 1284 — 1286) das Treiben der Cuiini-
lingi in den Bordellen:
Tifv yaQ aviov ylcjiiav aloygaTg ijdovaTg h'^iaiferai,
SV xaoavgioioi Xsi/cov tov djTÖJizvazov öqooov
y.ai fio?.vvcor zi]v vmivi]v, xal xvy.iov tol^ eoxö.Qa?,
und (Pax 885):
z6%' ^wfiov avzfj^ TrQoojieoiov ix/.d^iEzai.
Forberg zitiert noch eine Anzahl von griechischen Epigrammen mit Anspielungen
auf den Cunnilingus (a. a. O. S. 325 ff.).
Noch häufiger wird diese Perversität von den römischen Autoren
erwähnt, bei denen sie mit den Worten „lingere" (Mart. III, 96),
„cunnum lingere" (Mart. I, 77; II, 84; VII, 67), „ligurire" (Sueton.,
Tib. 45), „cunnilingus" (Mart. IV, 43; XII, 85; Cicero, or, pro
domo 18; Priap. 78), „lingua fututrix" (Mart. XI, 62), „liguritor"
(Auson., Epigr. 120) bezeichnet wird.
Dass einige Individuen als cunniÜngi ebenso verrufen waren wie andere als Kinäden,
gehl nicht bloss aus der Stelle bei Cicero (pro domo i8 u. 31) hervor, sondern auch aus
dem folgenden interessanten Epigramm Martials (II, 28), in dem die verschiedenen Per-
versitäten und Liebesarten einander gegenübergestellt werden:
Rideto multum qui te, Sextille, cinaedum
Dixerit et digitum porrigito medium.
Sed nee paedico es nee tu, Sextille, fututor,
Calda Vetustinae nee tibi bucca placet.
Ex istis nihil est, fateor, Sextille: quid ergo es?
Nescio, sed tu scis res superesse duas.
Aehnlich zeichnet Epigr. IV, 43 den selbstständigen Typus des Cunnilingus gegen-
über demjenigen des Kinäden, und VI, 26 und XI, 47 ervvähnen diese Perversität als eine
Folge von Impotenz"').
1) tpoiviy.lrj vöaog' t) y.aza ^oivly.i]v xai y.azu zd ä/.Xa dvazohy.d [a.eqj] :i),eo-
vätovoa' bt]).ovodai de y.dvzavda SohsT 7) i/.Eq?avztaotg. Vgl. auch die durchaus zu-
treffende Bemerkung von Robert Fuchs in seiner Uebersetzung des Hippokrates,
München 1895, Bd. I, S. 526.
2) Man vergleiche auch Corp. Inscr. Latin., ed. Zange meister, Berlin i8~i,
Bd. IV, S. 79 (Nr. 1255): „Amandus Cunn. linget"; S. 88 (Nr. 1383): ,,Optime Cunnum
— 6i6 —
Die wichtigste Frage ist die nach den Folgen der Fellatio, Irru-
matio und der Unzucht des Cunniling-us und nach den Beziehungen
dieser perversen Akte zu etwaigen venerischen Erkrankungen,
endUch nach der Andeutung letzterer bei den antiken Autoren.
Ich verweise bezüglich der gegenwärtig beobachteten Krank-
heiten infolge der verschiedenen Arten der Mundunzucht auf die
früheren Ausführungen (S. 434ff.) und wiederhole nur, dass man
folgende nichtsyphilitische Affektionen beobachtet hat: weicher Schanker,
«Stomatitis gonorrhoica mit Ulceration, Sycosis parasitaria, spitze
Kondylome, Angina.
Wenn wir nun in Bezug darauf die Mitteilungen der Alten über
die Krankheiten der Mundunzucht treibenden Individuen prüfen, so
werden wir sehen, dass nicht eine einzige als Syphilis gedacht
werden, vielmehr ohne Zwang als eine der obigen Affektionen erklärt
werden kann.
Zunächst ersehen wir aus den Bemerkungen des Galen (s. oben),
Lukianos (s. oben), Martial (z. B. II, 42), dass die Mundunzucht
für etwas Ekelhaftes, Schmutziges galt und mit dem xojiQocpdyeiv
auf dieselbe Stufe gestellt wurde, was auch der Schluss des Epigr.
III, 78 des Martial andeutet, wo über den auch in III, 81 verspotteten
passionierten Cunnilingus Baeticus gesagt wird:
Nescio quod stomachi vitium secretius esse
Suspicor: ut quid enim, Baetice, saprophagis?
Neben diesem ästhetischen Widerwillen erwähnen die alten
Schriftsteller aber auch reale Folgen der Mundunzucht, die wir hier
in Kürze zusammenstellen wollen.
I. Uebler (Tcruch aus dem Munde. — Drastisch sagt Martial
(XI, 30):
Os male causidicis et dicis olere poetis.
Sed fellatori, Zolle, peius ölet.
Ebendenselben foetor oris geisselt er auch beim Cunnilingus (XII, 85):
Paediconibus os olere dicis.
Hoc si, sicut ais, FabuUe, verum est:
Quid tu credis olere cunnilingis?
linget"; S. 91 (Nr. 1425): „Clintius ciinnu[m] Jingit Itonusia linget [seil, mentulam]";
S. 133 (Nr. 2081): „Colepius (Pater) Cunnu[m] LingeL"; S. 46 (Nr. 763): ,,Asbeslus Cun-
num linges"; S. 100 (Nr. 1578): ,,Linge Laidi Cunnum"; S. 142 (Nr. 2257): ,,Froto Plani
Lingit Cunnum"; S. 151 (Nr. 2400): „Satur noli Cunnum lingere Extra Porta set intra
Porta Rogat te Artocra ut sibi lingas mentulam At Fellator Quid".
— 6i7 —
Um diesen üblen Mundgeruch, der sich auf leicht erklärliche
Weise nach der Mundunzucht einstellen konnte, zu verhindern, wurde
der Mund mit Wasser ausgespült, wie aus Priap. XXX, Mart. III, 87
und besonders II, 50 erhellt, wo es heisst:
Quod feilas et aquam potas, nil, Lesbia, peccas.
Qua tibi parte opus est, Lesbia, sumis aquam.
Deshalb rät Martial auch zum Waschen und Untertauchen des
Kopfes nach den Küssen eines Fellators (XI, 95).
Ueber den spezifischen Geruch der w^eiblichen Genitalien und
seine Uebertragung auf den Cutmilingus verbreitet sich recht drastisch
Ausonius (Epigr. 82 und 84).
Natürlich konnte dieser Geruch nicht bloss durch Uebertragung
der spezifischen Geruchsstoffe der Genitalien hervorgerufen werden,
sondern auch infolge lokaler Erkrankungen der Mundhöhle (Stoma-
titis, Ulzeration etc.) entstehen.
2. Bleiche Gesichtsfarbe. — Als eine Folge der Mundunzucht
wurde auch die blasse Gesichtsfarbe betrachtet, und zwar wurde sie
bei Fehlen anderer Krankheiten ausschliesslich dieser sexuellen Per-
versität zugeschrieben. Das besagt Epigr. I, 77 des Martialis:
Pulchre valet Charinus, et tarnen pallet.
Parce bibit Charinus, et tamen pallet.
Bene concoquit Charinus, et tamen pallet.
Sole utitur Charinus, et tamen pallet.
Tingit cutem Charinus, et tamen pallet.
Cunnum Charinus lingit, et tamen pallet.
Ebenso spielen Juvenal (II, 50) und Catullus (LXXX) auf
die Gesichtsblässe der Feilatoren, Cunnilingi und Pathici an. Es handelte
sich in allen diesen Fällen wohl um gewerbsmässige Prostituierte,
denn nicht bloss der Coitus analis, sondern auch die Mundunzucht
wurde oft durch Geld erkauft, wie aus Mart. III, 75 und XI, 66
hervorgeht. Das ausschweifende Leben eines gewerbsmässigen Wüst-
lings war wohl geeignet, die anämische Blässe hervorzubringen, die
wir noch heute bei vielen männlichen Prostituierten antreffen. Daher
wurde sie im Altertum bei beiden Kategorien als charakteristisches
Merkmal hervorgehoben.
3. ovvdyx^- — In der oben mitgeteilten Stelle des Lukianos
wird die ovvdy/i] (Halsbräune, Erstickung) als Folge des Irrumiert-
werdens angeführt. Man kann sie als Halsentzündung, Angina^),
i) Rosenbaum (a. a. O., S. 249) sagt: „Es scheint uns, wenn wir berücksich-
tigen, dass Timarchus nicht bloss Fellator, sondern auch Irrumator war, wahrscheinlicher.
— 6i8 —
besser aber wohl noch als einfache Erstickung deuten, wie dies durch
den Nachsatz bewiesen wird. Hier ein syphilitisches Leiden anzu-
nehmen, liegt gar keine Veranlassung vor.
4. Zungenaffektionen. — Irrtümlich führt Rosenbaum (a.
a. O. S. 273) die ,, Zungenlähmung" als eine Krankheit des Cunni-
lingus an, indem er als Beweis dafür Epigr. XI, 85 des Martial
zitiert:
Sidere percussa est subito tibi, Zolle, lingua,
Dum lingis. Certe, Zolle, nunc futues.
Es handelt sich offenbar um eine Hypoglossuslähmung als
Folge einer cerebralen Affektion, die mit der Mundunzucht keinerlei
ätiologischen Zusammenhang zu haben braucht.
Dagegen kann bei dem folgenden Epigramm XI, 61 die Mög-
lichkeit eines Zusammenhanges zwischen der Erkrankung der Zunge
und ihrer sexuellen Benutzung nicht ganz in Abrede gestellt werden.
Das Epigramm lautet:
Lingua maritus, moechus ore Nanneius,
Summoenianis inquinatior buccis;
Quem cum fenestra vidit a Suburana
Obscena nudum Leda, fornicem cludit
Mediumque mavult basiare, quam summum;
Modo qui per omnes viscerum tubos ibat
Et voce certa consciaque dicebat,
Puer an puella matris esset in ventre:
— Gaudete cunni; vestra namque res acta est —
Arrigere linguam non potest fututricem.
Nam dum tumenti mersus haeret in volva
Et vagientes intus audit infantes,
Partem gulosam solvit indecens morbus.
Nee purus esse nunc potest nee impurus.
Es handelt sich um einen gewerbs- und gewohnheitsmässigen
Cunnilingus und Fellator, dessen üble Gewohnheiten so bekannt
waren, dass er selbst den Bordelldirnen Ekel einflösste. Dieser ist
plötzlich von einer Krankheit der Zunge ergriffen worden, die sie
gebrauchsunfähig macht, sodass er nur noch mit den Lippen Unzucht
treiben kann (nam dum tumenti mersus haeret in volva). Denn „den
dass er diesen Namen deswegen empfing, weil er, bene vasatus, häufig Angina hervor-
brachte, bei denen nämlich, die ihm als Feilatoren dienten". Ohne jeden Beweis bringt er
aber diese Art der Angina mit den von Aretaios (Lib. I, c. 9) beschriebenen sXxsa ZvQiaxa
zusammen, für deren „syphilitische" Natur übrigens ebenfalls gar kein Anhaltspunkt sich findet.
— 6ig —
eigentlichen begierigen Teil lähmt oder löst unziemliche Krankheit
auf und er kann weder keusch noch unkeusch sein." Man kann mit
Meniere^) sehr wohl das „solvere" mit „lähmen" übersetzen und
demgemäss eine Zungenlähmung annehmen. Man kann aber „solvere"
auch mit „auflösen" = zerstören, zerfressen übersetzen und an ein
Zungencarcinom denken. Es ist möglich, dass der Ausdruck „indecens
morbus" wirklich mit „maladie honteuse" (Dupouy, Buret), „un-
anständige" Krankheit übersetzt werden muss. Dann würde dies
doch höchstens besagen, dass der Dichter gerade die Affektionen des
Teiles, mit dem gesündigt wurde, als eine Art von gerechter ^Strafe
für den alten eingefleischten Cunnilingus ansah und mit dem Worte
„indecens" in diesem Sinne, aber nur in diesem eine Art von Causal-
nexus zwischen Zungenunzucht und Zungenaffektion herstellte. „In-
decens" kann aber auch „ekelhaft", „übel" bedeuten, mit blosser Be-
zeichnung des Charakters der Krankheit ohne Beziehung auf irgend
einen sexuellen Ursprung. Handelt es sich um eine Lähmung oder
um ein destruierendes Geschwür der Zunge, so haben wir für die
Diagnose Syphilis keinerlei bestimmte Anhaltspunkte.
Den letzten Vers des Epigramms hat Rosenbaum richtig erklärt,
wenn er darauf hinweist, dass durch die Zungenaffektion nicht nur
das arrigere, sondern überhaupt das „impurus" (Cvmnilingus) sein
unmöglich ward. „Purus" aber war er überhaupt nicht mehr, seitdem
er gewohnheitsmässig die Unzucht des Cunnilingus trieb, wobei für
die Auffassung „purus" Mart. IX, 63 und Petron., Sat. 9 zu ver-
gleichen ist.
Dass ausser den verschiedenen Arten der Betätigung der Homo-
sexualität und der Mundunzucht auch alle anderen heute bekannten
sexuellen Perversitäten und abnormen sexuellen Praktiken bei den
Alten vorkommen, mag durch folgende kurze Andeutungen erhärtet
werden, da sich eine nähere Besprechung wegen der geringen Be-
ziehungen der meisten dieser Perversitäten zu den venerischen Krank-
heiten erübrigt.
Die Koprolagnie und der Masochismus, als deren Teil-
erscheinungen ja schon die Fellatio und die Praktiken des Cunnilingus
aufzufassen sind, werden in drastischen Schilderungen bei Seneca
(De beneficiis IV, 31; Epist. 87), Galen (ed. Kühn XII, 24g s. oben)
und Catullus (Carm. 98) beschrieben.
I) Zitiert nach Edmond Dupouy, Medecine et moeurs de l'ancienne Rome d'apres
les poetes latins, Paris 1885, S. 339.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 40
620 —
Wie sehr sadistische Neigungen, abgesehen von den harmlosen
„Liebesbissen", deren Wollust Catull (Carm. 8), Horatius (Carm. I,
13, 11; Tibull. I, 6, 14; I, 8, 38), O vid (Amor. I, 7, 41) u. A. besingen,
besonders in der römischen Kaiserzeit verbreitet waren, erweisen die
ausführlichen Schilderungen des Sueton, Tacitus und der Scrip-
tores Historiae Augustae über die mit Grausamkeit innig ver-
knüpften wollüstigen Exzesse eines Tiberius, Caligula, Nero,
Heliogabal usw.
Auch der sexuelle Fetischismus war nicht unbekannt. Be-
sonders der Geruchsfetischismus musste in einer Zeit hervor-
treten, die mehr als heute Parfüme und Wohlgerüche zur Körperpflege
und sexuellen Anreizung benutzte. Die sexuelle Beziehung wird denn
auch öfter angedeutet, z. B. von Catullus (Carm. 13) und Martial
(IX, 62).
Einen eigentümlichen Fetischismus, die Vorliebe für Greisinnen
(sog. „Gerontophilie" der neueren Autoren), schildert Martial im
Epigramm III, 76:
Ariigis ad vetulas, fastidis, Basse, puellas,
Nee formosa tibi, sed moritura placet.
Hie, rogo, non furor est, non haec est mentula deniens?
Cum possis Hecuben, non potes Andromachen !
welche merkwürdige sexuelle Perversion also schon Martial für etwas
Krankhaftes, für ein Zeichen von Psychopathie erklärt hat.
Der isolierte Kleiderfetischismus wird im Talmud (Jeb. 76a)
erwähnt, wo es heisst, dass der Anblick von Frauenkleidern allein
schon sexuell erregend wirken kann.
Den Incest, der im allgemeinen im Altertum nicht ganz so
stark verabscheut wurde wie in der Neuzeit, geisselt Martial (II, 4):
O quam blandus es, Ammiane, matri?
Quam blanda est tibi mater, Ammiane!
Fratrem te vocat et soror vocatur.
Cur vos nomina nequiora tangunt?
Quare non iuvat hoc quod estis esse?
Lusum creditis hoc iocumque? Non est:
Matrem, quae cupit esse sororem,
Nee matrem iuvat esse nee sororem.
und XII, 20:
Quare non habeat, Fabulle, quaeris
Uxorem Themison? habet sororem.
und Catull schildert (Carm. 88, 89, 90, 91) die Incestorgien des Gellius,
der mit Mutter, Schwester, Oheim und Cousinen geschlechtlich verkehrt!
621
Sehr verbreitet muss nach den häufigen Erwähnungen die
Sodomie gewesen sein, deren Vorkommen auch durch bildliche Dar-
stellungen bezeugt wird und deren klare Definition bereits im Penta-
teuch (Levit. XX, Vers 15 — 16; vgl. ferner Exod. XXII, V. 19; Levit.
VII, V. 21; XVIII, V. 23; Deuteron. XXVII, V. 21) gegeben wird.
Ueber die Sodomie als religiösen Kult berichten Herodot und
Strabo, wo sie von der Vermischung der Weiber von Mendes in
Aegypten mit Böcken berichten (Her od. II, 46; Strabo XVII, 802;
vgl. auch Plut, mor. gSg). Bekannt ist auch die Sage von der
Liebe der Pasiphae zu einem Stier (Ovid ars amat. I, 289 — 326;
Apollodor. III, 8; Vergil., ecl. 6, 45 u. ö.). Dass in der Kaiser-
zeit wirkliche sodomitische Exzesse von Weibern mit Thieren vor-
kamen, beweist z. B. die bekannte Stelle des Juvenal (VI, 332 — 334)
über die Ausschweifungen beim Fest der Bona Dea:
. . . hie si
Quaeritur et desunt homines, mora nulla per ipsam.
Quo minus imposito clunem summittat asello.
Weshalb gerade hier für die Befriedigung nymphomanischer Be-
gierden ein Esel gewählt wird, deutet Juven.IX, 92 an, wo die Salacität
der Esel hervorgehoben wird, auf deren Ursache von Lampridius
(Commod. 10) angespielt wird: habuit et hominem pene prominente
ultra modum animalium, quem onon appellabat, sibi carissimum. Eine
sehr detaillierte Schilderung des Verkehrs zwischen Weib und Esel
giebt Apulejus (Aletam. X, 22), der hierin ohne Zweifel das Vor-
bild für ganz ähnliche Scenen in Voltaires „Pucelle" und Nerciats
„Diable au corps" geworden ist.
Auch Bühne und bildende Kunst verschmähten nicht die Darstellung der Unzucht
mit Tieren. Nach Friedländer ^) kamen unter den mythologischen Pantomimen auch Dar-
stellungen der Europa mit dem Stier vor, worauf Aelian (Nat. anim. VII, 4) hindeutet,
wenn er sagt, daß Stiere abgerichtet wurden, Frauen zu tragen. Noch deutlicher und
drastischer war nach Suetonius (Nero 12) die Darstellung der Pasiphae mit dem Stier:
inter pyrrhicharum argumenta taurus Pasiphaen ligneo juvencae simulacro abditam iniit, ut
multi spectantiym crediderunt (vgl. dazu auch Martial. Spect. 5).
Berühmt ist die antike Marmorgruppe im Museo nazionale zu Neapel, die einen
bärtigen Pan im Akte der Begattung mit einer Ziege darstellt").
Ein Vasenbild der gleichen Sammlung stellt den auf einem Esel reitenden Bacchos
dar, während ein ihm folgender Satyr mit dem Esel Unzucht zu treiben im Begriffe ist^).
Eine ähnliche Scene findet sich auf einem zweiten Vasenbilde*).
i) L. Friedländer a. a. O., II, S. 409.
2) Vgl. darüber Gerhard und Panofka, Neapels antike Bildwerke, Bd. I, S. 461
und „Herculanum et Pompei etc. Musee secret", Paris 1842, S. 222 und Tafel 56.
3) H. Heydemann, Die Vasensammlungen des Museo Nazionale zu Neapel, Berlin
1872, S. 321 (Nr. 2501).
4) Ebenda, S. 879.
40*
622
Das Altertum hatte, wie schon früher erwähnt, eine raffinierte
Technik des Geschlechtsverkehrs ausgebildet, die nicht bloss die
wollüstigen Bewegungen während des Coitus (man vgl. darüber
Priap. i8 und Lucret. IV, i246ff.), sondern vor allem die verschieden-
artigen Stellungen, oyj]jj,aTa, Veneris figurae (Ovid., Trist. II,
523), 'A(pQoöixi]g TQOJioi (Aristoph., Eccles. 8), deren Kombination
in den berüchtigten spinthriae des Tiberius (Sueton., Tiber. 45)
den Gipfelpunkt sexueller Ausschweifung erreichte. Für die Ver-
breitung venerischer Affektionen, insbesondere einer etwaigen Syphilis,
hatten diese Raffinements gewiss grosse Bedeutung. Das gilt be-
sonders von denjenigen, bei denen mehr als zwei Personen sexuell
aktiv waren.
Es scheint, dass die Symplegmata und Spinthrien in den Bordellen auf Bildern dar-
gestellt waren, die zur Anleitung dienten. ,, Besondere Erwähnung", sagt Helbig^), „ver-
dient ein Bild im pompejanischen Bordell : ein nackter ithyphallischer Mann liegt auf einem
Bette und zeigt einem neben ihm stehenden Mädchen in grüner Tunica eine an der Wand
hängende Gemäldetafel, auf welcher ein Symplegma dargestellt ist. Die Gemäldetafel ist an
beiden Seiten mit Klappen versehen. Diese Darstellung weist auf die praktische Anwendung
hin, welche man von den im pompejanischen Bordell gemalten Symplegmata machte".
Es sind zahlreiche pompejanische Symplegmendarstellungen auf
uns gekommen. Es sei nur auf die Schilderungen bei Gerhard und
Panofka^), Helbig'^), Roux und Barre*) u. A. hingewiesen.
In der Kaiserzeit gelangte die Technik der Symplegmata zur höchsten Ausbildung und
zwar bezog sie sich sowohl auf die Erfindungen gewisser Wollustapparate als auch auf die
raffinierte Ausbildung der Symplegmen zwischen mehreren Personen in den sog. „spinthriae".
Man schrieb hauptsächlich dem Tiberius, dem Caligula und dem Nero beiderlei Er-
findungen zu, wie aus des Lampridius Bemerkung über Heliogabalus (Heliogabal. 33):
„libidinum genera quaedam invenit, ut spinthrias veterum imperatorum vinceret, et
omnes apparatus Tiberii et Caligulae^) et Neronis norat" hervorgeht. Die be-
stimmte Angabe des Tacitus (Annal, VI, i: lunc primum ignota ante vocabula sellario-
rum et spin thriarum , ex foeditate loci et multiplici patientia), dass Tiberius die Er-
findung der ,,sellarii" und ,, spinthriae" gemacht habe, wird durch Sueton (Tiber. 43:
secessu vero Capreensi etiam sellaria excogitavit, sedem arcanarum libidinum, in quam
undique conquisiti, puellarum et exoletorum greges monstrosique concubitus repertores, quos
spintrias appellabat, triplici serie connexi, in vicem incestarent coram ipso, ut aspectu
i) W. Heibig, Wandgemälde der vom Vesuv verschütteten Städte Campaniens,
Leipzig 1868, S. 371.
2) A. a. O., S. 456, 457, 458, 459—461, 462, 465, 470 u. ö.
3) A. a. O., S. 371 u. ö.
4) Roux et Barre, Herculanum et Pompei, Tome VIII, Paris 1842, S. 9 bis
zum Schluss.
5) Von Caligula berichtet allerdings Sueton (Calig. 16), dass er die Erfinder der
Spinthrien aus Rom verbannt habe und beinahe hätte ertränken lassen.
— 623 —
deficientis libidines excitaret) bestätigt. Nach Forberg ^) war die „sellaria" ein mit Polstern
ausgestatteter Raum und die „sellarii" waren diejenigen, die auf diesen Ruhebetten sich
gegenseitig schändeten. Es ist Forberg und anderen Autoren eine interessante Stelle in
des Spartianus Lebensbeschreibung des Kaisers Melius Verus entgangen, die vielleicht
etwas Licht auf die Beschaffenheit dieser für "Wollustzwecke benutzten Polsterbetten wirft.
Spartianus sagt (Helius c. 5): fertur etiam aliud genus voluptatis, quod Verus invenerat
nam lectum eminentibus quattuor anacliteriis fecerat minuto reticulo undique inclusum eumque
foliis rosae, quibus demptum esset album, replebat iacensque cum concubinis velamine de
liliis facto se tegebat unctus odoribus Persicis atque idem Apicii Caeli relata, idem
Ovidii libros amorum in lecto semper habuisse, idem Martialem, epigrammaticum poetam,
Vergilium suum dixisse. Wahrscheinlich handelte es sich bei der sellaria des Tiberius um
ähnlich raffinierte Wollustlager als Vorbedingung für die Ausführung der Spinthrien.
Der Ausdruck „spintria" oder ,,spintheria" wurde auch auf die an diesen Orgien be-
teiligten Personen angewendet, wie aus Sueton., Vitell. 3, erhellt, wo Vitellius als einer
der Lustknaben des Tiberius erwähnt wird: Pueritiam primamque adulescentiam Capreis
egit inter Tiberiana scorta, et ipse perpetuo spintheriae cognomine notatus ex-
istimatusque corporis gratia initium et causa incrementorum patii fuisse, sequenti quoque
aetate omnibus probris contaminatus.
In Uebereinstimmung mit dieser Stelle deutet Georges in seinem ,, Lateinisch-
Deutschen Wörterbuch" (5. Aufl., Leipzig 1885, Sp. 2398) das Wort „spintria" als „qui
muliebria patitur seque aliis abutendum praebet". Etymologisch wird es aus dem griechischen
a(piyntrjQ abgeleitet. Nach Festus (Zitat bei Forberg 1. c. S. 373) ist „spinter armillae
genus, quo mulieres utebantur brachio summo sinistro", „spintria" bezeichnet also das
kettenartige Zusammenhängen der an dem Symplegma Beteiligten und zwar gewöhnlich
„triplici Serie" (Sueton., Tiber. 43) die sexuelle Verbindung von drei Individuen. Solche
„triplex series" schildern Martial (X, 81), Seneca (Nat. Quaest. I, 16), Ausonius
(Epigr. 59), wobei sie bei jenen beiden aus einer Frau und zwei Männern, bei letzterem
aus drei Männern besteht. Natürlich kamen auch Spinthrien zu fünf und mehr Personen
vor, nach der Versicherung des Martial XII, 43:
Quo symplegmate quinque copulentur
Qua plures teneantur a catena.
Ebenso IX, 32 (Symplegma zu vieren).
Es braucht wohl nicht näher ausgeführt zu werden, weshalb
gerade bei diesen Spinthrien die Gefahr einer venerischen Ansteckung
besonders gross sein musste, grösser noch als bei allen anderen Be-
tätigungen der antiken Psychopathia sexuahs, und weshalb auch sie
venerische Affektionen in ungewöhnlicher Lokalisation zur Folge
haben konnten.
Von der Betrachtung der Prostitution und der Psychopathia
sexuaHs im Altertum wenden wir uns nunmehr zu einer kurzen
Uebersicht über die Faktoren, die eine Verbreitung der venerischen
Krankheiten im Altertum entweder begünstigen oder hemmen mussten.
6) Forberg a. a. O., S. 373.
— 624 —
§ 4o. Begünstigende und hemmende Faktoren für die Verbreitung
der venerischen Krankheiten im Altertum.
Es ist schon früher (S. 509 ff.) von der Prävalenz der physischen
Seite in der antiken Liebe die Rede gewesen. Die hedonistische
Lebensanschauung-, wie sie in der berühmten Grabschrift des Sar-
danapalos (Athen, XII, 39 [p, 52 9 f.]): äxQi ecogcov xov ^Mov cpcbg eniov
E(payov ■fjcpQodioiaoa zum Ausdruck kommt, wurde bezüglich der Liebe
nicht nur von einigen philosophischen Sekten verbreitet, sondern war
eine communis opinio bei Griechen und Römern. Der Geschlechts-
genuss galt entgegen der heutigen Anschauung als genau so
notwendig wie Essen und Trinken. Deshalb wurden schon früh
Vorschriften über den Beischlaf in die Gesetze aufgenommen. So
verlangte Solon drei Kohabitationen im Monat (Plutarch., Solon
20, 6), was wohl ungefähr mit der Meinung der griechischen Aerzte
übereinstimmt, die Celsus (I, i) wiedergibt, der sowohl allzu häufige
wie allzu seltene Ausübung des Coitus widerrät, im übrigen bereits
die so grossen individuellen Unterschiede in Beziehung auf die
jedem gemässe Frequenz hervorhebt. Die sexuelle Abstinenz hielt
man jedenfalls für gesundheitsschädlicher als den massigen Geschlechts-
verkehr. Bezeichnend hierfür ist Horat., Sat. I, 2, 116 — 119:
tument tibi cum inguina, num, si
ancilla aut verna est praesto puer, impetus in quem
continuo fiat, malis tentigine rumpi?
non ego . . .
Deshalb empfiehlt derselbe Dichter auch ohne Bedenken den
Bordellbesuch zur Stillung der ,,taetra libido" und zum Schutze der
verheirateten Frauen (Sat. I, 2, 31 — 35 und Sat. II, 7, 47 — 52).
Ansichten wie die des Epikuros, dass der Coitus niemals der
Gesundheit zuträglich sei ^), waren auch später unter Aerzten und
Laien nur vereinzelt. Man legte im Gegenteil dem Beischlafe die
grösste Bedeutung für das Wohlbefinden bei. Ich erwähne z. B. die
interessanten Aeusserungen des Galen os und des Ruphos von
Ephesus bei Oreibasios (ed. Bussemaker et Daremberg I, 536 — 551)
über die Gefahren und Schädlichkeiten der sexuellen Abstinenz. Ov
jurjv JiavTaTzaoi xdxiora, sagt Ruphos, a(pQodioia. ioriv, ei xal xov xaigöv
xal To fX£TQov oHOTieiv ed^eXoig' (hcpeXeiai de e^ avrcbv eloiv aide.
JiXfjOjuovijv re xevcooai, xal eXacpQOv TiaQon'/^eTv to ow/ua, xal elg av^ijotv
i) 'A<pQo8iaicov ÖS xara fikv 'Ejiixovqov ovdsfiia XQfjoi? vyieivrj (Galen bei Oribas.,
ed. Bussemaker-Daremberg I, 536).
— 625 —
JiQOXQSxpai, xal ävÖQCodeoTEQOv aTioqpfjvai, xard de yjv)(i]v ovveortjxora rs
Xoyiojuov öialvet, xal OQyfjg dxgarovg enavirjoiv öib xal r(bv [xeXayxoXix&v,
a>g TL xal ezeQOV, l'ajua enurjöeioTarov juioyeod-ai.
Die Frage nach der Zulässigkeit und Berechtigung des ausser-
ehelichen Geschlechtsverkehrs wurde, ebenfalls im Gegensatz zu heutigen
Anschauungen, von den Alten unbedenklich bejaht. Charakteristisch
hierfür ist die erwähnte Stelle bei Horaz (Sat. I, 2, 3off.) Da über-
haupt leidenschaftliche Liebe als etwas Krankhaftes, Unvernünftiges
galt, empfahlen die Alten als Heilmittel gerne die Ablenkung durch den
Geschlechtsverkehr mit Dirnen und Kokotten. „Nil nisi lascivi a me
discuntur amores", sagt Ovid (Ars amatoria III, 27). Er giebt der
Venus tuta, der vom Zwange des Gesetzes befreiten freien Liebe den
Vorzug (I, 33; II, 599), und so singt auch Lucretius (De rerum
natura IV, 1065 — 1068):
Nee Veneris fructu caret is qui vitat amorem,
sed potius quae sunt sine poena commoda sumit:
nam certe purast sanis magis inde voluptas
quam miseris ....
In den griechischen Zauberpapyri sind nach Sudhoff ^) für die
aktive Betätigung des normalen und perversen Geschlechtsverkehrs
nicht selten Hilfs- und Stärkungsmittel angegeben, namentlich
Erektionsbeförderungsmittel, z. B. in den Greek Papyri des British
Museum (I, 1893, S. 90). So im Anschluss an Beförderungsmittel der
Trinkfestigkeit zwei Anweisungen, wie man den Geschlechtsverkehr
fleissig ausüben und jederzeit auf Wunsch über Erektionen verfügen
könne:
ta. yroAAa ßiveiv övvao^ai: ozQoßUai jievn'jxovTa jueiä ovo
xva.'&ayv yXvxeig
xal xoxxovg Tiejiegeayg rgixpag nie.
iß. OTVEiv^), OTE d^eXeig: jiejteqi juerd /.leXiTog rgiyjag XQ^^ ^of t6
Tifeljjua.
Sudhoff verweist auf das reiche Material von ähnlichem Liebes-
zauber, oft drastischer Art, in den magischen Texten, besonders in
dem grossen Louvre-Papyrus, den Wessely 1888 in den Denk-
schriften der Wiener Akademie (Bd. XXXVI, S. 44 — 126) samt dem
Londoner „Papyrus Anastasy" (S. 127 — 139) herausgegeben hat. Viel-
i) Karl Sudhoff, Aerztliches aus griechischen Papyrus-Urkunden, Leipzig 1909,
S. HO — III.
2) oxveiv = steif sein, Erektionen haben. — Oefter finden sich renommistische Aus-
lassungen über Beweise ungewöhnlicher Potenz, z. B. bei Ovid., Amor. III, 7, 23 — 26.
— 626 —
leicht waren auch die in den Tebtynis-Papyri (I, No. 6, S. 58 — 65 bei
Sudhoff a. a. O. S. 114 — 115) erwähnten äcpQoöioia Mittel zur Er-
höhung der geschlechtlichen Potenz.
Eine sehr interessante Zusammenstellung der gebräuchlichsten
Erektionsmittel, ivtarixd rov aiöoiov, findet sich übrigens bei Galen os
(ed. Kühn XIV, 487 — 489), wo ausser dem oben erwähnten Pfeffer
noch viele andere Potenzmittel genannt werden und die vielfachen
organtherapeutischen Anklänge ä la Brown-Sequard bemerkenswert
sind (Genuss von tierischen Hoden, Einreibung des Membrum mit
Stierurin, der unmittelbar nach dem Coitus gelassen ist, Genuss ver-
schiedener Pflanzensamen).
Von den Dichtern der Kaiserzeit werden jNIittel zur Steigerung der Potenz bezw. zur
Beseitigung von Impotenz häufig erwähnt. So spricht Martialis (X, 4, 6) von „amatrices
aquae", vielleicht sexuell stimulierenden kohlensauren Wässern, und zählt an anderer Stelle
(III, 75) die in der römischen Lebewelt am meisten gebräuchlichen vegetabilischen Aphro-
disiaca auf:
Stare, Luperce, tibi iam pridem mentula desit,
Luctaris demens tu tarnen arrigere.
Sed nihil erucae faciunt bulbique salaces,
Inproba nee prosunt iam satureia tibi.
Von diesen scheint er die Zwiebeln für das wirksamste Mittel zu halten (XIII, 34):
Cum sit anus coniunx et sint tibi mortua membra,
Nil aliud bulbis quam satur esse potes.
Zauberinnen und Hexen waren sehr erfahren in der Bereitung von Liebestränken,
aber auch von potenzfeindlichen Mitteln (vgl. die horazische Canidia Epod. V; Sueton.
Caligula 50; Juvenal. VI, 616), die ,,Thessala philtra" (Juvenal. VI, 610) waren be-
sonders berüchtigt in dieser Beziehung. Meist wurden sie in Verbindung mit magischen
Proceduren, Zaubersprüchen und Zaubergesängen angewendet (Juvenal. VI, 133). Ein
beliebter Bestandteil der Liebestränke war das „Hippomanes", nach Theokritos (II, 48 — 49)
ein Arkadisches Kraut, nach Vergil (Georg. III, 281 — 283) der „Brunstschleim der Stuten,
den oft Stiefmütter sammelten und mit Kräutern und verderblichen Worten mischten", nach
Plinius (Nat. histor. VIII, 42) ein „auf der Stirn des neugeborenen Füllens befindlicher
schwarzer Körper von der Grösse einer Feige, welchen die Mutter sofort verschlingt oder
die Geburt nicht an die Euter lässt". Dieses „amoris veneficium" war sehr gefürchtet.
Caesonia soll dieses aphrodisische Gift ihrem Gemahl Caligula beigebracht und dadurch
seinen Wahnsinn herbeigeführt haben (Sueton. Calig. 50; Juvenal. VI, 615 — 616).
Die bei weitem ausführlichste und interessanteste Schilderung der Impotenz, ihrer
Folgen und Behandlung findet sich bei Petronius (Sat. 126 — 139). Encolpios hat in
Kroton unter dem Namen Polyaenus ein Liebesverhältnis mit einer vornehmen und schönen
Dame Circe angeknüpft. Als sie aber auf dem Rasen liegen „quaerentes voluptatem robustam'',
da versagt dem Encolpios plötzlich die Manneskraft. Erstaunt fragt Circe ihn, ob ihm etwa
ihr Kuss oder Atem zuwider oder ob der Schweissgeruch ihrer Achseln ihn abstosse. Es
ist interessant, dass sie nicht etwa fragt, wie-das heute vielleicht eine galante
Dame thun würde: Oder fürchtest Du, dass ich geschlechtskrank sei?^). Er
i) Ebenso fehlt eine solche Anspielung gänzlich in den Worten, womit die Circe
nachher ihre Dienerin Chrysis nach der Ursache der plötzlichen Kälte des Encolpios fragt:
— 627 —
erwidert ,,toto corpore velut luxato", dass er behext sein müsse (veneficio contactus sum)
und fragt sich „an vera voluptate fraudatus essem", um dann schließlich dem Giton zu sagen:
crede mihi, frater, non intellego me vinnn esse, non sentio, funerata est illa pars corporis,
qua quondam Achilles eram".
Encolpios unterwirft sich sodann nach einem stärkenden Regime und dem Genüsse
von Zwiebeln der folgenden geheimnisvollen Procedur, die die alte Hexe Proselenos mit ihm
vornimmt. Sie umwickelt seinen Hals mit einer bunten Schnur und schmiert ihm ein Ge-
misch von Sand und Speichel auf die Stirn, wobei sie ein Zauberlied singt. Darauf muss
er dreimal ausspucken und dreimal Steinchen in seinen Busen werfen, die sie selbst gesegnet
und in Purpur gewickelt hat. Dann „admotis manibus temptare coepit inguinum vires",
was denn auch augenblicklichen Erfolg hat. Doch leider ist der Erfolg nur vorübergehend.
Encolpios erlebt bei der Circe ein zweites, noch schmählicheres Fiasko und wird von ihren
Sklaven aus dem Hause geprügelt.
Die Proselenos führt ihn dann zu der Priesterin des Priapos, der Oenothea, die nun
allerlei geheimnisvolle Proceduren vornimmt, bei denen Bohnen, ein uralter Tierschädel, drei
Gänse, die heiligen Vögel des Priapos, Haselnüsse, die in eine Schale mit Wein geworfen
werden, Prophezeiungen aus der Gänseleber u. s. w. eine Rolle spielen und der Becher un-
gemischten Weines fleissig kreist. Dann geht die Oenothea zu einer sehr drastischen
lokalen Reizung über, die folgendermaßen beschrieben wird: „Profert Oenothea scorteum
fascinum, quod ut oleo et mmuto pipere atque urticae trito circumdedit semine, paulatim
coepit inserere ano meo . . . hoc crudelissima anus spargit subinde umore femina mea.
nasturcii sucum cum habrotono miscet perfusisque inguinibus meis viridis urticae fascem
comprehendit omniaque infra umbilicum coepit lenta manu caedere."
Es geht aus der weiteren Erzählung nicht klar hervor, ob diese Flagellationskur der
Impotenz den gewünschten Erfolg gehabt hat. Nach den darauf folgenden Versen, die mit
den Worten schliessen:
me quoque per terras, per cani Nereos aequor
Hellespontiaci sequitur gravis ira Priapi ^),
scheint es nicht der Fall gewesen zu sein.
Galt den Alten die Befriedigung des Geschlechtstriebes als etwas
Notwendiges und Natüriiches und bezeugen auch zahlreiche Sentenzen
die naive Freude am Geschlechtsgenusse (z. B.: nam quis concubitus,
Veneris quis gaudia nescit? [Petron. 132]; siquis amat quod amare
iuvat feliciter ardet [Ovid, Remed. amor. 13]; Vivamus, mea Lesbia,
atque amemus [Catull. V]), so verwerfen sie doch alle Exzesse der
Sinnenlust, vor allem den übermässigen Liebesgenuss. Diese gute
und diese böse Seite der Liebe kommen in Aussprüchen wie dem
des A pul ejus (Metam. ed. Altenburg 1778, S. 145): flamma saevi
„die, Chrysis, sed verum: numquid indecens sum? numquid incompta? numquid ab aliquo
naturali vitio (d. h. angeborener Fehler) formam meam excaeco? noli decipere dominam
tuam, nescio quid peccavimus" (Sat. 128).
l) Dass die Impotenz als ein vom Priapus verhängtes Schicksal galt, zeigt das vom
Tibullus verfasste Carmen Priapeum LXXXIII, wo der Gartengott als ,,nefandus desti-
tutor inguinuum" angeredet wird. Uebrigens enthält auch dieses Gedicht eine gute Be-
schreibung der männlichen Impotenz.
— 628 —
amoris parva quidem primo vapore delectat sed fomento consuetu-
dinis exaestuans immodicis ardoribus totos adurit homines, und dem
bekannten Vers aus der Anthologia latina:
balnea vina Venus corrumpunt ^) corpore nostra
conservant eadem balnea vina Venus
bezeichnend zum Ausdruck. Die dxQaretg und äxöXaoroi in sexueller
Beziehung werden u. a. von Aulus Gellius (Noct. Attic. XIX, 2)
heftig gegeisselt.
Wir gehen nunmehr zu einer kritischen Analyse derjenigen
Faktoren über, die im Altertum eine Verbreitung der venerischen
Krankheiten sehr stark begünstigen und insbesondere der Aus-
breitung der Syphilis gewaltigen Vorschub hätten leisten müssen,
falls diese damals schon existiert hätte.
I. Grossstadtleben und Uebervölkerung. — Es ist von
grosser Bedeutung in Beziehung auf die Verbreitung der Geschlechts-
krankheiten, dass auch im Altertum dieselben Verhältnisse hin-
sichtlich der grossen Verkehrszentren und einer intensiven Städtekultur
existierten wie heute. Auch das Altertum hatte seine Millionenstädte
mit allen ihren Schattenseiten und sein „Wohnungselend". Besonders
Pöhlmanns gediegene Untersuchung 2) hat diese Verhältnisse hell
beleuchtet und legt interessante Vergleiche mit der Gegenwart nahe,
die für unser Thema insofern bemerkenswert sind, als die moderne
Statistik die grossen Städte als die eigentlichen Herde und Central-
punkte für die Verbreitung venerischer Krankheiten erwiesen hat^).
Die Schätzung der Einwohnerzahl Roms in der Kaiserzeit schwankt
zwischen i — 2Y2 MiUionen ^), die zweitgrösste Stadt war Alexandria
mit I Million. Grossstädte in unserem Sinne waren auch Antiochia,
Athen, Karthago, Byzanz u. a. m.
Sehr anschaulich hat Pohl mann die Folgen der Uebervölkerung
in den antiken Grossstädten und ihren Zusammenhang mit den sozialen
Uebeln der Prostitution und des Verbrechertums geschildert:
i) Das ,,corrumpere" bedeutet hier offenbar nur eine allgemeine Schwächung des
Körpers durch allzu viele Bäder und allzu häufigen Wein- und Liebesgenuss.
2) Robert Pöhlmann, Die Uebervölkerung der antiken Grossstädte im Zusammen-
hange mit der Gesammtentwickelung der städtischen Civilisation, Leipzig 1884.
3) Vgl. mein Werk ,,Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur mo-
dernen Kultur, Berlin 1909, 7. — 9. Aufl., S. 440.
4) Vgl. P'riedländer a. a. O., I, 58 — 70 (Ueber die Bevölkerung Roms).
— 629 —
„Die übermässige Agglomeration der Menschen neben- und übereinander') war ja
gar nicht denkbar ohne die mannigfachsten Störungen des F'amilienlebens, ohne eine Ver-
mischung der Geschlechter und Vermehrung der Versuchungen, welche die Sittlichkeit des
Volkes um so mehr schädigen mussten, je weniger die geringe intellektuelle und moralische
Bildung der Massen ein Gegengewicht bot.
Wenn wir ferner hören, dass in diesen Gebäuden, in denen sich in der Regel auch
Schenkstuben befanden, Diebs- und Gaunergesindel aller Art seine Schlupfwinkel zu haben
pflegte^), so würden wir schon damit auf die Annahme einer weitergehenden Verwendung
unterirdischer Räumlichkeiten geführt, auch wenn uns nicht durch Martials gelegentliche
Bemerkungen über diesen „clusus fomix" als Proletarierobdach (X, 5, 7) die Existenz der
antiken Kellerwohnung zur Genüge feststände. Sehr häufig begegnen wir endlich denselben
Räumen als Stätten der Prostitution (Juvenal. X, 239: carcer fomicis; XI, 171: olido
fofnice; Horat. sat. I, 2, 30: olenti in fornice, cf. ep. I, 64, 21; Martial. XII, 61, 8:
niger fomix; Seneca, vit. beat. 7, 8), und es lässt sich darnach ungefähr ermessen, welche
Bedeutung durch die Wohnungsnot einerseits und die gewinnsüchtige Wohnungsspekulation
andererseits gerade die Kellerwohnung für die Frage der Behausung der untersten Volks-
schichten gewonnen haben m£^
Vergegenwärtigt man sich das Zusammenwirken all dieser für die Gestaltung des
städtischen Bevölkerungszustaiides massgebenden Faktoren, so begreift man das enorme
Wachstum der sogenannten ,, gefährlichen Klassen" in Rom, die man wohl mit einem mo-
dernen Nationalökonomen als den ,, tiefsten Niederschlag der relativen Surpluspopulation"
der Weltstadt bezeichnen kann, des Bettler- und Vagabundentums, des lungernden arbeits-
losen und arbeitsscheuen Gesindels alier Art, der Prostitution, des Gauner- und Verbrecher-
tums; Elemente, die in so unheimlicher Massenhaftigkeit hervortreten, dass es die Ver-
hältnisse nur zu treffend charakterisiert, wenn man von der Bevölkerung Roms wie von
einer Kloake oder einem Sumpfe sprach, der ständig der Reinigung und der Abzugskanäle
bedürftig sei. Es ist ein düstres, aber im grossen und ganzen gewiss getreues Bild, welches
Ammianus Marcellinus von dem römischen Volksleben seiner Zeit entwirft, von dem
wüsten Treiben eines faulenzenden Proletariats, das sich auf Strassen und Plätzen, in den
Schenken, im Circus und Theater breit machte (besonders XXVIII, 4: hi omne quod
vivunt vino et tesseris inpendunt et lustris et voluptatibus et spectaculis; eisque templum et
habitaculum et contio et cupitorum spes omnis Circus est maximus)" ^).
Die Inanspruchnahme der meist dem Sklavenstande angehörigen
Prostituierten in Rom wurde noch durch ein bemerkenswertes Ver-
hältnis zwischen der freien männlichen und der freien weiblichen
Bevölkerung begünstigt, das vielleicht auch für andere antike Gross-
städte Geltung hatte. Dio Cassius (54, 16) berichtet nämlich, dass
im Beginne der Kaiserzeit die weibliche freie Bevölkerung in Rom er-
i) Bei Martial VII, 20 muss der Schmarotzer Santra 200 Stufen bis zu seiner
Kammer steigen, was mindestens auf 10 Stockwerke schließen lässt.
2) Sokrates, Hist. eccl. V, 18. Es erinnert, wie Pöhlmann bemerkt, an die
Mysterien moderner Grossstädte, wenn uns Sokrates mitteilt, dass mit jenen Schenken
häufig Bordelle verbunden waren, in welche man Fremde, besonders Provinzialen hinein-
lockte, um sie dann mittelst einer Falltüre in den Backkeller hinab zu befördern und dort
zeitlebens bei erzwungener Arbeit festzuhalten.
3) Pöhlmann a. a. O. S. 105; S. 96^ — 97; S. 52.
— Ö30 —
heblich geringer war als die männliche. Friedländer ^) setzt die
freie weibliche Bevölkerung Roms um 17% geringer an als die
männliche -). Dadurch wurde ein grosser Teil der Männer von der
Ehe ausgeschlossen und auf die Benutzung der Prostitution ange-
wiesen, die sich wesentlich aus dem Stande der zahlreichen weiblichen
Sklaven rekrutierte und beständig durch Einwanderung ergänzt und
vergrössert wurde. Diese ausländischen Dirnen, die natürlich hin-
sichtlich der Einschleppung und Uebertragung von ansteckenden
Krankheiten, nicht nur solchen venerischer Natur, besonders gefähr-
lich sein mussten, waren in Rom sehr zahlreich. Sie trieben ihr
Gewerbe meist als Flötenspielerinnen und Tänzerinnen, viele stammten
aus Asien, vorzüglich dem gräcisierten Syrien (die „ambubaiae" des
Horatius, Sat. I, 2, i) und bildeten gewissermassen die Elite der
römischen Prostitution, deren Manieren und Redeweise römische
Dirnen vergeblich nachzuahmen strebten, wie Marti al dies ergötzlich
schildert (X, 68). Dass umgekehrt die römischen Frauen eine grosse
Vorliebe für ausländische Männer, wahrscheinlich meist Sklaven,
hegten, und mit ihnen in geschlechtliche Beziehungen traten, lässt
sich aus einem Epigramme (VII, 30) desselben Dichters schliessen,
in der er Parther, Germanen, Dacer, Ciliker, Kappadocier, Aegypter,
Inder, Juden, Alanen als Liebhaber einer Römerin erwähnt.
Diese geschlechtliche Promiskuität war natürlich am meisten bei
den grossen Volksfesten zu beobachten, wo die Prostitution in allen
ihren Formen sich breit machte und wüste Orgien der Unzucht ge-
feiert wurden. Für sie gilt das Wort Ovid's (Ars amat. I, 59):
Quot caelum Stellas, tot habet tua Roma puellas. Er nennt als Ge-
legenheiten für erotische Abenteuer vor allem das Adonisfest (Ars
amat. I, 75), von dem wir ja auch sonst wissen, dass es ein Dirnen-
fest war^), die Naumachie des Augustus (Ars amat. I, 171 — 176)
im Jahre 2 v. Chr., von der Ovid in Bezug auf die aussergewöhn-
liche sexuelle Promiskuität sagt:
i) Friedländer a. a. O. I, 59.
2) Er berechnet für das Jahr 4 v. Chr.:
320000 freie männhche erwachsene Personen der Plebs,
265 600 freie weibliche ,, ,, ,, ,,
17 000 Senatoren und Ritter nebst Angehörigen,
13 000 Soldaten,
60 000 Fremde.
675 600.
3) Diphilos bei Athenaios VII, pag. 292 e: ov de vvv a'äyco, jtoQvetov iari,
jtoXvTslcög 'Addivia äyovo^ szaiga /lis&'' szeqcov jtOQvcöv j(y8r]v. oavxov anoaä^Eig rov zs
xöXnov ajiozQsycov. Vgl. Alciphron., ep. I, 39.
— 631 —
Nempe ab utroque mari iuvenes, ab utroque puellae
Venere, atque ingens orbis in Urbe fuit.
Quis non invenit turba, quod amaret, in illa ?
Ehen ! quam multos advena torsit Amor !
ferner die Festfeier eines Feldherrntriumphes (ibid. I, 177 — 228)
und den Fackellauf zum Dianahain (I, 25g — 262). Ueber die
Feste der speziellen Sexualgottheiten und die Gelegenheit zur Un-
zucht bei ihnen, ist bereits oben (S. 518 ff.) das Wichtigste mitgeteilt
worden ^).
Auch die in allen Provinzen stattfindenden Feste und Schauspiele zogen immer eine
grosse Menge von Teilnehmern an. Die olympischen Spiele hatten seit alten Zeiten ganz
Hellas versammelt und dieses Fest war noch bis zur Zeit Julians das besuchteste Griechen-
lands (Julian., Epist. ad Themistium, p. 263 A). Nächst ihnen übten die eleusinischen
Mysterien in Athen, die Mysterien von Samothrake die grösste Anziehungskraft auf Fremde
aus allen Ländern aus.
Ueber die ausgedehnte Prostitution bei solchen F'esten
bemerkt Friedländer^):
„Dass bei solchen Versammlungen Händler und Gewerbtreibende und überhaupt alle,
die dort auf gewinnreiche Geschäfte hoffen konnten, sich zahlreich einfanden, ist selbst-
verständlich. Dio von Prusa sagt, dass Kuppler mit ihren Dirnen zu der Herbstversamm-
lung der Amphiktyonen in Pylä und andern Festversammlungen reisten (Dio Chrys., Or.
LXXVII, p. 561 M). Ueberhaupt scheinen Kuppler viel umhergezogen zu sein; die Un-
seligen, sagt Clemens von Alexandria, gehen zur See mit einer Fracht von Dirnen, wie von
Weizen oder Wein (Clem. Alex., Paed., IH, 22, p. 265 Pott.). Strabo erzählt, dass in
dem wegen seiner Bäder viel besuchten Karura (auf der Grenze von Phrygien und Karlen)
in einem Gasthause ein Kuppler mit einer grossen Menge von Dirnen bei einem Erdbeben
von der Erde verschlungen worden sei (Strabo XII, 8, 17, p. 578). Der erwähnte Sem-
pronius Nikokrates (Anthol. Gr., ed. Jacobs IV, p. 284), der seine künstlerische Lauf-
bahn aufgab, um, wie er selbst sagt, ein Händler mit schönen Frauen zu werden, dürfte
also auch in diesem neuen Gewerbe das alte Wanderleben fortgesetzt haben Ein
sehr bedeutender AVallfahrtsort war Comana in Pontus, wo bei dem sogenannten Auszuge
der dort verehrten Göttin (nach Strabo) Männer und Frauen von allen Seiten zusammen-
strömten. Der Ort, zugleich ein Hauptmarkt für den armenischen Handel, war überdies
voll von Hetären, die grösstenteils dem Tempel angehörten, und also in jeder Beziehung
ein Kleinkorinth (Strabo XII, p. 559).
Besonders günstige Verhältnisse für die Verbreitung von Ge-
schlechtskrankheiten boten naturgemäss die grossen Hafenstädte
mit ihrem stets fluktuierenden Verkehr von Fremden und Matrosen,
wie Brundisium, Puteoli, Korinth, Athen, Smyrna, .Alexandria u. s. w.
Am meisten war Korinth als eine Stadt des Lasters und der Ausschweifungen be-
rüchtigt, als ,, Durchgangspunkt für alle Menschen" (Aristid., Or. III, p. 21 sq.) und ein
i) Ueber die Grösse des Fremdenverkehrs in Rom und die damit verbundenen
Ausschweifungen vgl. Friedländer a. a. O., I, 23 ff.
2) Friedländer a. a. O., II, 90.
— 632 —
von allen Hellenen besuchter Festversammlungsort, an dem in späterer Zeit die Hefe des
Orients und Occidents zusammenströmte. Ein berühmtes griechisches Sprichwort hiess:
ov Ttavrog avÖQog ig Köqiv^ov k'a^' 6 jiXovg, was Hesychios (III, 240) dahin
erläutert: ijrsl Öoy.si roTg ig Koqiv&ov slgnleovai ^svoig )raksjii^ zig rj jiokig elvai, dia zijv
Twr exaiQÖJv yorjTslav. iojzovda^ov yäg im tovzo 01 KoQiv&toi xal Qa&v/xa>g 8ia zovzo
Stfjyov. Noch zu des Rhetors Ar ist i des Zeit war Korinth die Stadt der Aphrodite und
der Hetären (a. a. O. p. 23, 5).
Uebertroffen wurde Korinth an Ueppigkeit und A^ergnügungssucht nur durch
Alexandria, die Welthandelsstadt des Altertums, wo zugleich eine grossartige Industrie
sich entwickelt hatte und die mit Einschluss der Fremden und Sklaven in der Kaiserzeit
über eine Million Menschen zählte, Aegypter, Griechen, Juden, Römer. Dazu „führte der
Welthandel die afrikanischen und asiatischen Völkerschaften in Menge aus den weitesten
P'ernen wie in keiner anderen Stadt der Erde zusammen; Aethiopier, Libyer und Araber
sah man hier neben Skythen, Persern, Baktrern und Indern (Friedländer a. a. O. II, 151).
Auch die üppigen Luxusbäder in der Nähe solcher Hafen-
städte verdienen an dieser Stelle eine Erwähnung als „deversoria
vitiorum" (Seneca, ep. 51), vor allem das bei Puteoli gelegene
Bajae, ausgezeichnet durch Klima, Lage, prachtvolle Bauten und
ein raffiniertes Genussleben (vgl. Martial. I, 63, XI, 80; Horat.,
ep. I, I, 83; Ovid, Ars amat. I, 255; Propert. I, 11), von dem
Varro (Sat. fr. 44) sagt, dass dort nicht nur die Mädchen Gemeingut
seien, sondern auch viele Alte zu Kindern und Knaben zu Mädchen
würden. Aehnlichen Ruf hatte Kanobus, ein bei Alexandria ge-
legener Badeort, den Juvenal (VI, 84; XV, 44) und Strabo (XVII,
15 — 18, p. 799 sqq.) als Schauplatz zügellosester Ausschweifungen
und obscöner Orgien schildern.
2. Kriegszüge und Wanderungen der Legionen. — ■ Zu
allen Zeiten ') haben die Kriegszüge Veranlassung zu einer unge-
wöhnlichen Verbreitung und Verschleppung von venerischen Leiden
gegeben. So befand sich im Gefolge des athenischen Heeres vor
Samos eine Menge feiler Mädchen (Athen. XIII, p. 572 E), und
Tacitus (Histor. III, 83) hat uns die Folgen einer solchen Begleitung
in seinem wunderbaren Stile ebenso kurz wie anschaulich geschildert:
alibi praelia et vulnera, alibi balineae popinaeque; simul cruor et
strues corporum, juxta scorta et scortis similes; quantum in luxurioso
otio libidinum, quicquid in acerbissima captivitate scelerum, prorsus
ut eandem civitatem et furere crederes et lascivire. Aehnlich schildert
Quintus Curtius Rufus (V, i, 36 ff.) die Ausschweifungen der
Soldaten in Babylon. Ebenso erwähnen Vulcatius (Avid. Cassius 5)
i) Das gilt auch für die Gegenwart. Es sei nur an die Scharen von Prostituierten
erinnert, die während des russisch -japanischen Krieges das russische Heer nach der Mand-
schurei begleiteten.
— 633 —
und Spartianus (Pescennius 3) die Zügellosigkeit und das Bordell-
leben der römischen Legionen.
Ueber die Verhältnisse der Soldatendirnen in der hellenistischen Zeit geben zwei
interessante Urkunden der Elephantinepapyri Auskunft, die das „kaufmännisch geordnete
Uebergeben einer Soldatendirne von einer Hand in die andere zeigen". Sudhoff*) teilt
den Inhalt des einen Dokumentes folgendermassen mit:
„Der frühere Besitzer entsagt mit dem Empfang der Summe allen Ansprüchen an
die Dirne, Elaphion mit Namen, die aber ihr eigenes Siegel (ein feines Frauenköpfchen mit
,, Melonenfrisur") führt und offenbar als rechtsfähige Person auftritt. Die Syrerin Elaphion
also zahlt im ersten Falle dem Arkader Antipatros die „roocpsTa" in einer Höhe von
300 Drachmen aus unter dem Rechtsbeistand des Arkaders Pantarkes, der jedenfalls die
Summe herschiesst und damit stillschweigend in ihren Besitz tritt; denn 5 Monate später
zahlt ihm dann wieder die Elaphion 400 Drachmen aus unter dem Rechtsbeistand des
Dion, der also ihr dritter Besitzer wird, indem sie sich fingiertermassen von dem zweiten
wieder loskauft. Dadurch, dass der zweite Besitzer Pantarkes lOO Drachmen mehr erhält
als der erste Besitzer Antipatros, wird vermutlich dokumentiert, dass Pantarkes länger im Be-
sitze der Dirne war als Antipatros."
Neben den gewöhnlichen Kriegszügen und den das Heer be-
gleitenden Prostituiertenscharen ist ein sehr bedeutungsvolles, bisher
noch wenig gewürdigtes Moment für die Verbreitung und Verschlep-
pung ansteckender und speziell venerischer Krankheiten im Altertum
die Versetzung ganzer Legionen des römischen Heeres von einem
oft lange Jahre hindurch innegehabten Standort nach einem weit ent-
fernten, von einem Lande in das andere, vom Osten nach dem Westen,
von heissen Gegenden mit ihren ganz anderen klimatischen und hygieni-
schen Verhältnissen in den rauhen, noch ganz für sich abgeschlossenen
Norden, endlich aus dicht bevölkerten Kulturcentren in Gegenden,
die von der Civilisation noch nicht berührt worden waren. Es ist
sehr interessant, an der Hand von Spezialwerken wie W. Pfitzner's
„Geschichte der römischen Kaiserlegionen von Augustus bis Hadrianus"
und Martin Bangs „Die Germanen im römischen Dienst bis zum
Regierungsantritt Constantin's L" (Berlin 1906) diese wechselnde Ge-
schichte der Legionen zu verfolgen und sie dann auch unter dem
Gesichtspunkte einer Verschleppung von contagiösen Krankheiten zu
betrachten.
Wenn man sich daran erinnert wie sehr am Ausgange des
15. Jahrhunderts die Verbreitung der Syphilis mit den Zügen der
Söldnerheere verknüpft war, welcher Parallelismus sich da bis ins
einzelne nachweisen lässt^), wenn man sich ferner vor Augen hält.
i) Karl Sudhoff, Aerztliches aus griechischen Papyrus -Urkunden, S. 106 — 107
(Das Dokument wurde im Jahre 284/283 v. Chr. ausgestellt).
2) Vgl. darüber oben Teil I, S. 255 ff.
— 634 —
mit welcher Intensität noch heute die Syphilis dort auftritt, wo sie
bisher noch nicht existierte, mit welcher Schnelligkeit sie sich unter
bisher von ihr noch unberührten Volksstämmen ausbreitet und welche
Verheerungen sie dann anrichtet — dann wird man zu dem berech-
tigten Schlüsse kommen, dass gerade diese merkwürdigen Wande-
rungen und plötzlichen Versetzungen der römischen Legionen, bei
denen viele Male ganz ähnliche Verhältnisse gegeben waren wie bei
der grossen Syphilisepidemie am Ende des 15. Jahrhunderts, dass
gerade sie zu gleichen Ausbrüchen der Syphilis hätten Veranlassung
geben müssen, wenn eben die Krankheit damals schon in der alten
Welt existiert hätte. Es ist dies neben vielen anderen Argumenten
ein sehr starker, ja beinahe absoluter Beweis gegen die Existenz der
Syphilis im klassischen Altertum, zumal da andere Volksseuchen von
den Alten selbst auf solche Verschleppungen zurückgeführt werden.
Es seien nur einige Beispiele dafür angeführt. So wurde die von Thukydides ge-
schilderte Pest durch das peloponnesische Heer nach Attika verschleppt (Thukyd. III, 8).
Das Heer des Kaisers Lucius Verus verbreitete auf seinem Rückzuge von Asien nach
Rom die blatternartige Seuche des Jahres 165 n. Chr. in allen Provinzen. Unmittelbar
nach der Ankunft der Legionen in Rom brach auch dort die Krankheit aus (Julius
Capitolinus, Verus c. 8). Auch Plinius erwähnt im Anfange des 26. Buches seiner
Naturalis Historia die Einschleppung verschiedener ansteckender Hautkrankheiten nach Italien,
wie des Mentagra, des Karbunkel und des Aussalzes, den er dem ganzen Zusammenhange
nach auf eine Einschleppung durch die Legionen des Pomp ejus zurückführt (PI in., Nat.
hist. XXVI, 5).
Gerade der Aussatz, der nach den wissenschaftlichen Studien der älteren alexandri-
nischen Ärzte, der naXaioi des Ruphos (bei Oribas. ed, Daremberg IV, 63), der
na'kaiöxEQOi des Galen (Introduct. c. XIII ed. Kühn XIV, 757) und den mustergültigen
Schilderungen des Aretaios (Morb. chron. II, 13) und des Archigenes (Aetius, Tetrab.
IV, Serm. I, cap. 120 — 121) in allen seinen heutigen Formen den Alten bekannt war,
legt die entsprechende Parallele mit der Syphilis nahe, da die antiken Schriftsteller, Laien
wie Arzte, sich in eindeutiger und bestimmter Weise über ihn aussprechen. Wir wissen
durch Lucretius (De rerum natura VI, 11 12 — 11 13: est elephas morbus qui propter
flumina Nili Gignitur Aegypto in medio neque praeterea usquam), Plinius (Nat. hist.
XXVI, 5: Aegypti peculiare hoc malum) und Galen (De methodo medendi lib. II, cap. 12
ed. Kühn XI, 142), dass in Äegypten von jeher der Hauptherd der Lepra gewesen ist
und von hier aus sich nach dem Westen verbreitet hat. Während noch der im ersten vor-
christlichen Jahrhundert lebende Lucretius von dem Vorkommen des Aussatzes in West-
europa nichts weiss, melden uns mehrere Schriftsteller des ersten und zweiten nachchrist-
lichen Jahrhunderts das Auftreten der Krankheit in Italien, Gallien und Germanien. Plinius
macht zweimal (Nat. hist. XX, 14 und XXVI, 5) die bestimmte Angabe, dass die Lepra
erst zur Zeit des Po m pejus nach Italien verschleppt worden sei. Eine wertvolle Bestäti-
gung hierfür bildet eine Mitteilung des Plutarch (Sympos. VIII, 9), wonach der Aussatz
zuerst zur Zeit des Asklepiades in Italien vorgekommen sei, desselben Asklepiades,
den Plinius (Nat. hist. XXVI, 7) ausdrücklich als einen Zeitgenossen des Pompejus
bezeichnet. Plinius bezieht das Auftreten der Lepra in Italien zur Zeit des Pompejus auf
eine Einschleppung, die offenbar mit den asiatischen Feldzügen des letzteren in Zusammen-
- 635 -
hang gebracht werden muß, also in die 60 er Jahre des letzten vorchristlichen Jahrhunderts
fällt. Es müssen damals wohl sofort scharfe Isolierungsmassregeln ergriffen worden sein,
denn Plinius berichtet an derselben Stelle (XXVI, 5), dass die Krankheit in Italien schnell
wieder erloschen sei. Celsus, der etwa 30 p. Chr. sein berühmtes Werk über die Medizin
verfasste, nennt {III, 25) den Aussatz eine in Italien „beinahe unbekannte" Krankheit, hat
also wohl nur vereinzelte Fälle gekannt bezw. von ihnen gehört. Es scheint aber, als ob
doch auch später noch die Lepra wenigstens in Rom häufiger beobachtet worden ist. Denn
Caelius Aurelianus (Morb. chron. IV, l) berichtet, dass der in Rom lebende Begründer
der methodischen Schule, Themison, ein Zeitgenosse des älteren Plinius, sich zuerst ein-
gehend mit der Therapie des Aussatzes befasst und seine Schüler darin eingeführt habe.
Und wenn wir von dem ebenfalls in der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahr-
hunderts lebenden Aretaios hören (De curat, morb. chron. II, 13), dass die Gallier und
Gelten zahlreiche Mittel gegen den Aussatz anwenden, so dürfen wir daraus doch gewiss
auf eine ziemliche Verbreitung der Krankheit in Italien und Gallien schliessen.
Zu diesen bemerkenswerten Nachrichten kommt endlich noch eine interessante Stelle
bei Galen (De methodo medendi, ed. Kühn, XI, 142), aus der wir ersehen, dass auch in
Germanien schon damals, also im 2. Jahrhundert n. Chr. der Aussatz, wenn auch selten,
beobachtet wurde (xaTO. ds zag Fegf^iariag te xal Mvoiag GJTaviüJzaTa tovto t6 Jiä&og
WJirai yirofiEvoi'). Es ist dies die erste sichere Nachricht über das Auftreten der Lepra
in Deutschland. Gerade für Deutschland lässt sich nun eine sehr bedeutsame Beziehung zu
Aegypten nachweisen, die es höchst wahrscheinlich macht, dass die Lepra aus diesem Lande
direkt nach Germanien eingeschleppt wurde. Nach Pfitzner') wurde nämlich ungefähr
25 V. Chr. die Legio II (Augusta) nebst zwei anderen Legionen (III und XII) in Aegypten
stationiert. Diese zweite Legion wurde nach der Niederlage des Varus (9 p. Chr.), also
mehrere Decennien später an den Rhein versetzt. Statt ihrer kam die Legio XXII
nach Aegypten. Legio II stand beim Tode des Augustus (14 n. Chr.) in Obergermanien,
und zwar hatte sie ihr Standquartier in Mainz, wo mehrere Inschriften derselben gefunden
worden sind. Sie nahm dann teil an den beiden Feldzügen des Germanicus in den Jahren
15 und 16 n. Chr. Aber auch die statt ihrer anno 9 p. Chr. nach Aegypten versetzte
Legio XXII kam nach 34 Jahren zur Hälfte ebenfalls nach Mainz (43 p. Chr.), die
andere Hälfte kam nach Italien.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese lange Jahre in dem Aussatzherde Aegypten
stationiert gewesenen Legionen die Krankheit direkt nach Germanien verschleppt haben, wo
sie dann später beobachtet wurde. Es ist jedenfalls von grösstem Interesse, dass gerade
die Gegend von Mainz, wo wir bezüglich der Invasion ägyptischer Legionen genau unterrichtet
sind, durch eine sehr große Verbreitung des Aussatzes im Mittelalter ausgezeichnet war'^).
Wie die von Plinius erwähnten ansteckenden Hatitkrankheiten
und wie der Aussatz hätte auch die Syphilis durch die Legionen
überallhin verbreitet bezw. von überallher eingeschleppt werden und
zu zahlreichen ausgedehnten und auffälligen Syphilisepidemien Ver-
anlassung geben müssen, wenn sie damals existiert hätte. Um so
eher als, wie wir sahen, die Prostitution mit den Kriegszügen so eng
1) Pfitzner a. a. O., S. 190, 222, 259.
2) Vgl. Rudolf Virchow, Zur Geschichte des Aussatzes, besonders in Deutsch-
land, in Virchows Archiv 1860, Bd. XVIII, S. 148.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 4i
— 636 —
verknüpft und überhaupt das Luxusleben innerhalb der Legionen sehr
stark entwickelt war^).
3. Alkoholismus. — Wie die moderne Statistik festgestellt
hat, ist der Alkoholgen uss in seiner häufigsten Form als akuter voll-
ständiger Rausch oder auch nur als blosse „Anheiterung" einer der
wesentlichsten Faktoren der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten,
der in 60^80 7o der Fälle von venerischer Ansteckung die Ueber-
tragung vermittelt und begünstigt hat. Auch den antiken Kuppler-
innen und Prostituierten war die die Libido sexualis steigernde und
zugleich eine gewisse psychische Lähmung hervorrufende Wirkung
des Alkohols wohl bekannt und wurde v^on ihnen, wie wir sehen
werden, ebenso reichlich ausgenützt wie heutzutage.
Pur die aligeinein verbreitete Kenntnis der sexuell stimulierenden Eigenschaften des
Alkohols bei den Alten lassen sich zahlreiche Aeusserungen und sprüchwörtliche Redens-
arten bei Dichtern und Schriftstellern anführen, von denen wir nur einige besonders charak-
teristische erwähnen, so vor allem das berühmte: ,,sine Cerere et Libero friget Venus''
(Terent. Eunuch. 732), ferner ,,oirog tgcorog sJ.syyog" (Straten in Anthol. Palat. XII,
135 ed. Dübncr II, 414), „oivog yäo SQCozog TQO(pi]" (Callimach. cpigr. 43), ,,solutior
est post vinum licentia" (Senec. de ira III, 37), „KvTTQiSog 8'E?.7iig öiai'&voaEi rposvag
ä[ifiEiyvvf.iEva Aiovvaloiai StüQOig (Bacchylides bei Athen. II, 396), „Et Venus in vinis
ignis in igne fuit" (Ovid., Ars. amat. I, 244), „vini usus olim Romanis feminis ignotus
fuit, ne scilicet in aliquod dedecus prolaberentur: quia proximus a Libero patre intemperantiae
gradus ad inconcessam Venerem esse consuevit" (Valer. Maxim. II, i, 5), ,,hac Amor,
hac Liber, durus uterque Dens" (Proper t. I, 3, (4, ähnlich Achill. Tat. II, 3, 3:
"E^fcog y.al Aiövvaog, ovo ßi'aioi deoi).
Neben der sexuell erregenden Wirkung des Alkohols kannte
man auch seine lähmenden Eigenschaften, die sich sowohl in der
langsameren Vollziehung des Coitus als auch in dem Verlust des
kritischen Unterscheidungsvermögens und der Fähigkeit zur genaueren
Untersuchung des Partners bekunden. Beides hat der Kenner Ovid
vortrefflich zum Ausdruck gebracht, wenn er (Ars. amat. I, 231 — 234)
erstens den Bacchus die Flügel Amors mit Weine netzen läßt, so
dass er schwer, imbeweglich stehen bleibt auf dem von ihm eroberten
Gebiete (Permanet et capto stat gravis ille loco), ein Symbol für die
ausserordentliche Verlängerung und Erschwerung der Begattung durch
den Alkohol 2), und wenn er zweitens (Ars. amat. I, 245—252) die Ge-
fahren des Weingenusses hauptsächlich darin erblickt, dass unter
seinem Einflüsse leicht Mängel und Fehler des Mädchens
i) Vgl. darüber Friedländer a. a. O., III,* 213.
2) In den pseudoaristotelischen Problemata (3 p. 871a No. 15) heisst es ebenfalls:
8iu ri Ol /LisdvovrEg d(pQo8iGiü^Fiv udwarol riair. — Eine vortreffliche Schilderung des
Alkoholismus findet sich bei Plinius (Nat. histor. XIV, 28 — 29).
- 637 -
übersehen werden (Vers 246: iudicio formae noxque merumque
nocent; Vers 24g: Nocte latent mendae, vitioque ignoscitur omni),
wozu vielleicht auch etwaige venerische Geschwüre und Excrescenzen
gehörten^).
Die griechischen S3^mposien, zu denen Flötenbläserinnen und
Tänzerinnen hinzugezogen wurden (Plato, Sympos. 212D), und die
üppigen römischen Gastmähler, bei denen erotische Lieder, Nuditäten
und lascive Tänze ihre Wirkung auf die alkoholisierten Gäste nicht
verfehlten (Quint., inst. or. I, 2, 8: omne convivium obscenis canticis
strepit, pudenda dictu spectantur; Plutarch, quaest. conviv. VII, 8,
4, 4 p. 712F: Ol de TioXXol, y.al yvvaixcov ovyy.aTay.eifiEvcov xal naidcov
avTjßoiv, ejiiöeiy.vvvTai jiujui'jfxaTa JiQayjuaTCOv y.al Xoycov, ä jzdai]i; jiieO}]?
TaQaxcoöeoTEQov t«? i^v^oig diari^^^oiv) und bei denen nicht selten das
berauschende Getränk aus Gläsern in Form von Geschlechtsteilen
(Juven., I, 2, 95: vitreo bibit ille priapo) getrunken, ähnlich gestaltetes
Backwerk (Mart., IX, 2, 3; XIV, 6g) genossen wurde, Lampen in
Phallusform die ausgelassene Scene erleuchteten-), gaben oft Veran-
lassung zu sexuellen Orgien, bei denen jede Vorsicht ausser Acht
gelassen wurde.
Wahre Brutstätten der venerischen Krankheiten mußten aber
jene Orte sein, an denen die Prostitution sich des Alkoholis-
mus zur Erreichung ihrer Zwecke bediente. Das waren die Animier-
kneipen und die Bordelle und Hetärenwohnungen.
Die Animierkneipe (y.arT}]?.ETov Isokrat. Areiopag. 232; Athen., XIII, p. 567;
salax taborna Catull., XXXVII, i; caiipona, cauponula, Cicer., Phil. 2, 77) war als ein
gefährlicher Ort der Unzucht verrufen. Friedländer ^j bemerkt darüber:
,,Uebrigens waren die Wirtshäuser sehr häufig Orte der Prostitution und die AVirte
zugleich Kuppler. Wiederholt wird von den juristischen Schriftstellern erwähnt, dass die
weibliche Bedienung der Tabemen sowohl in den Städten als an den Landstraßen aus feilen
Dirnen zu bestehen pflegte und die Wirtschaft häufig nur ein Deckmantel für Kuppelei
war (Ulpian., Dig. III, 2, 4, § 2; XXIII, 2, 43, i ib. § 9). Nach einem Erlass des
Kaisers Alexander Severus durfte eine Sklavin, die unter der Bedingung verkauft worden
war, dass sie nicht prostituiert werden sollte, auch nicht in ein Wirtshaus verkauft werden,
wo die Verwendung zur Aufwartung nur ein Vorwand war, um das Gesetz zu umgehen
(Cod. IV, 56, 3). Von der gesetzlichen Bestimmung, dass mit dem weiblichen Personal
der Tabemen ein Ehebruch nicht begangen werden könne, nahm erst Constantin im Jahre
326 die Wirtin selbst aus, aber nur in dem Falle, dass sie die Gäste nicht selbst bediente . . .
Auf einem aus der Kaiserzeit herrührenden Relief von Aesernia in Samnium (Isernia) rechnet
ein Mann in Reisekleidern, den Maulesel am Zügel führend, mit der Wirtin ab; oberhalb
des Bildes ist das Gespräch selbst verewigt, nach welchem ausser dem Wein, der wohl
1) Drastisch schildert Juvenal (VI, 300 — 301) diese wollüstige Umnebelung:
.... Quid enim Venus ebria curat? Inguinis et capitis quae sint discrimina, nescit.
2) Vgl. dazu Paul Brandt in seiner Ausgabe von Ovids Ars amatoria, S. 210.
3) L. Friedländer a. a. O., II, 44.
41*
— 638 —
umsonst gegeben wurde, für Brot l As (damals 6'/., Pfg-)» für Zukost 2 As, für das Mädchen
8 As, für Heu 2 As zu bezahlen waren."
Eine sehr anschauliche Schilderung von dem Treiben in einer an der Landstrasse ge-
legenen Animierkneipe giebt Virgil in dem Gedichte „Copa", Die syrische Schenkwirtin
(copa Syiisca) führt vor der Taberne einen wollüstigen Tanz unter Castagnettenbegleitung
aus und preist den vorüberziehenden Wanderern im Gesänge die ihrer im Innern der gegen
die Sommerhitze schützenden kühlen Schenke harrenden Genüsse an, besonders die ver-
schiedenen Weine, die in schönen Gläsern kredenzt werden:
si sapis, aeslivo recubans te prolue vitro
seu vis crystallo ferre novos calices
dazu ein üppiges Ruhelager und die Umarmung eines schönen Mädchens
eia age pampinea fessus requiesce sub unibra
et gravidum roseo necte caput strophio,
formosus tenerae decerpens ora puellae
und schliesst in horazischer Lebensweisheit:
pone merum et talos. pereat qui crastina curat
mors aurem vellens 'vivite' ait, 'venio'.
Auch Sueton (Nero 27) erwähnt diese die Wanderer anlockenden copae. Es waren,
wie auch die übrigen Animierkneipendirnen, meist Syrerinnen und Orientalinnen (copa Syrisca,
ambubaja), die, wie Juvenal (III, 62 — 66) klagt, in Scharen nach Rom strömten und durch
ihre Wollüste und sexuelle Korruption besonders verrufen und — begehrt waren. Welche
unversiegbare (quelle für die Ausbreitung einer etwaigen Syphilis diese Art iimigster Be-
rührung von Orient und Occident hätte abgeben müssen, liegt auf der Hand.
Dass auch in allen Bordellen alkoholische Excesse an der Tagesordnung waren und
der Weingenuss hier Mittel zum Zweck möglichst großer Ausbeutung der Klientel war, er-
fahren wir aus der attischen Komödie und den Lustspielen des Plautus. So schildert
z. B. Syncerastus im „Poenulus" (II, 9) die ausschweifenden Zechgelage in einem solchen
Hurenhause, in dem für diesen Zweck ein Lager von sämtlichen Weinsorten in etikettierten
Flaschen bereitsteht. Leonida wünscht sich eine Nacht bei einer Dirne nebst einem Fässchen
Wein (Plaut., Asinar. III, 3). Ganz wie bei uns sprachen auch die Dirnen selbst eifrig
dem Weine zu („vini modo cupidae" Plaut. Pseudolus I, 2). Von den Excessen des
Nero in Bordellen und Anitnierkneipen haben uns Tacitus (Annal. XV, 37) und Sueton
(Nero 27) lebhafte Schilderungen hinterlassen*).
Als Motto für die Beziehungen zwischen AlkohoHsmus und
Prostitution könnte das Wort des älteren Plinius (Nat. hist. XIV,
28) gelten: Ita vina ex libidine haurivmtur, atque etiam praemio in-
vitatur ebrietas et, si dis placet, emitur!
4. Die Sitte des Küssens. — Die orientalische Sitte des
Männerkusses wurde zur Zeit des Augustus in Rom eingeführt-) und
verbreitete sich schnell unter den Kreisen der Vornehmen (PI in., Nat.
histor. XXVI, 3), wo sie zu einer wahren Plage wurde, die Martial
sehr lebhaft schildert:
i) Auch Martial (III, 82, i — 3) erwähnt die Gastmähler und das Zechen in den
römischen Bordellen.
2) Vgl. darüber L. Friedländer a. a. O., Bd. I, S. 160 und 202 — 204.
— 639 —
Bruma est et riget horridus December,
Audes tu tarnen osculo nivali
Omnes obviiis hinc et hinc tenere
Et totam, Line, basiare Romam . . . (VII, 95)
Effugere non est, Flacce, basiatores.
Instant, morantur, persecuntur, occiirrunt,
Et hinc et illinc, usque quaque, quacunque.
Non iilcus acre pustulaeve lucentes,
Nee triste mentum sordidiqiie lichenes,
Nee labra pingiii delibuta ceiato
Nee congelati gutta proderit nasi .... (X.I, 98)
Tantum dat tibi Roma basiorum
Post annos modo quindecim reverso,
Quantum Lesbia non dedit Catullo.
Te vicinia tota, te pilosus
Hircoso premit osculo colonus;
Hinc instat tibi textor, inde fuUo,
Hinc sulor modo peile basiata,
Hinc menti dominus pediculosi.
Nee deest hinc oculis et inde lippus,
Fellatorque recensque eunnilingus.
Jani tanti tibi non fuit redire. (XII, 59)
Hieraus erhellt, dass zur Zeit Marti als diese Kusssitte bereits
auch unter den niederen Klassen in geradezu epidemischer Weise um
sich gegriffen und zu einer wahren Küsswut sich gestaltet hatte, die
selbst durch offenbare Krankheitserscheinungen wie Geschwüre,
Pusteln, Bartflechten („triste mentum sordidique lichenes"), Läuse u.s. w.
nicht gezügelt wurde. Ebensowenig konnte man sich vor den wenig
appetitlichen Küssen eines Fellator oder Cunnilingus, wie auch vor
denen der Kinäden (Petron. 2:^: immundissimo me basio conspuit)
schützen, und Tertullian (de resurrectione carnis c. 16) sagt von den
Küssen der Tribaden und Kybelepriester, der Gladiatoren und Henker:
et tarnen calicem non dico venenarium, in quem mors aliqua ructarit,
sed frictricis, vel archigalli, vel gladiatoris aut carnificis spiritu in-
fectum, quaero an minus damnes quam oscula ipsorum?
In diesen Aeusserungen des Martial, Petron und Tertullian
bekundet sich allerdings mehr der ästhetische Ekel und Widerwille
gegen Küsse von derartigen Individuen als die Kenntnis der Ueber-
tragung von ansteckenden Krankheiten durch solche Küsse. Den-
noch ist auch diese nicht ganz unbekannt geblieben. Das
beweisen die Mitteilungen des älteren Plinius (Nat. hist. XXVI,
1 — 3) über die Mentagraepidemie unter der Regierung des Kaisers
Tiberius, die ja von den Verteidigern der Altertumss3'philis immer
wieder als Beweis für die Existenz der Lustseuche angeführt und
— 640 —
namentlich von Rosenbaum i) mit allen Mitteln medizinischer und
etymologischer Sophistik als solche zu erweisen versucht wurde, im
Lichte der modernen Forschung aber sehr bestimmt und eindeutig
als eine nichtsyphilitische Dermatomykose diagnostiziert werden
kann, wie wir gleich sehen werden. Der Bericht des Plinius lautet:
Sensit facies hominum novos omnique aevo priore incognitos non Italiae modo
verum etiam universae prope Europae morbos, tunc quoque non tota Italia nee per lUyricum
Galliasve aut Hispanias magno opere vagatos, aut alibi quam Romae circaque, sine dolore
quidem illos ac sine pernicie vitae, sed tanla foeditate ut quaecumque mors
praeferenda esset. Gravissimum ex his lichenas appeliavere Graeco nomine,
Latine, quoniam a mente fere oriebatur, — ioculari primum lascivia'j, ut est procax
muitorum natura in alienis nnseriis, mox ex usurpato vocabulo, — mentagram, occu-
pantem multis et intus totos utique voltus, oculis tantum immunibus, des-
cendentem vero et in coila pectusque ac manus, foedo cutis, furfure.
Non fuerat hacc lues apud inaiores patresque nostros, et primum Til^eri Claudi
Caesaris principatu medio irrepsit in Italiam quodam Perusino equite Romano quaestorio
scriba, cum in Asia adparuisset, inde contagionem eins inportante. nee sensere id maium
feminae aut servitia plebesque humilis aut media, sed proceres veloci transitu
osculi maxume foediore muitorum qui perpeti medicinam toleraverant cica-
trice quam morbo. causticis namque curabatur, ni usque in ossa exustum esset, rebellante
taedio. adveneruntque ex Aegypto geiietrice talium vitiorum medici hanc solam operam ad-
ferentes magna sua praeda, siquidcm certum est Manilium Cornulum e praetoriis legatum
Aquitanicae provinciae HS. CC elocasse in eo morbo curandum sese, acciditque saepius
ut nova contra genera morborum gregatim sentirentur. quo mirabilius quid potest reperiri,
aliqua gigni repente vitia terrarum in parte certa membrisque hominum certis vel aetatibus
aut etiam fortunis, tamque malo eligente, haec in pueris grassari, illa in adultis, haec proceres
sentire, illa pauperes?
Eine kritische Analyse dieses Berichtes ergiebt Folgendes:
Unter den neuen, nicht in ganz Europa, sondern nur an einzel-
nen Orten epidemisch auftretenden Gesichtskrankheiten, die von aus-
wärts eingeschleppt wurden, zwar schmerzlos und nicht lebens-
gefährlich, aber äusserst entstellend waren, war die schlimmste
diejenige, die die Griechen „Liehen" nannten. Von den Römern
wurde sie wegen, ihres hauptsächlichen Sitzes und Beginnes
am Kinn scherzhaft „Mentagra" genannt^), von dort aus verbreitete
i) J. Rosenbaum a. a. O., S. 278 — 297.
2) Dieses Wort bedeutet hier nicht, wie Rosen bäum meint, „Lüsternheil" oder
,,Obscönität", sondern ,, Mutwille, Schäkerei", vgl. Georges, Kleines Lateinisches Hand-
wörterbuch, Leipzig 1885, Sp. 1429. Es kann sich also in keinem B'alle um eine An-
spielung auf sexuelle Perversitäten, wie die Betätigung des Cunnilingus, handeln.
3) Da sie im Anfange nur bei den Vornehmen grassierte, die Gicht, das „Podagra"
aber ebenfalls eine Krankheit der üppig lebenden oberen Klassen ist, so lag es für einen
boshaften Spötter nahe, in Analogie für diese neue aristokratische Krankheit den Namen
,, Mentagra" zu erfinden. Ein Anhaltspunkt für eine obscöne Anspielung dabei liegt nicht
vor, es sei denn, dass man die Küsswut an sich in solchem Sinne auffasste, was freilich
auch möglich ist.
- 641 -
sie sich bei vielen über das Gesicht bis zu den Augen, die aber ver-
schont blieben und nach abwärts auf Hals, Brust und Hände. Als
Hauptsymptom erwähnt Plinus eine hässliche, kleienartige Ab-
schuppung. Das Mentagra wurde nach seinen weiteren Mitteilungen
durch einen aus Perusia stammenden römischen Ritter nach Italien
eingeschleppt, und zwar aus Asien. Dieser vornehme Mann hatte
offenbar andere vornehme Leute inficiert, denn das Uebel verbreitete
sich, wie Plinius ausdrücklich hervorhebt, zunächst nur unter den
Vornehmen, bei denen allein eben die Sitte des Küssens üblich war,
und wurde durch dieses rasch übertragen. Frauen, Sklaven,
niederer und mittlerer Stand blieben im Anfange gänzlich davon ver-
schont. Das Leiden war sehr hartnäckig und wurde mit energischen
kaustischen Mitteln bekämpft, so dass Narben zurückblieben. Man
rief ägyptische Spezialisten herbei, die in der Behandlung dieser
Krankheit sehr erfahren waren und sich in Rom dadurch grosse
Reichtümer erwarben.
Unter diesen Aerzten nennt Galen den Pamphilos, der durch
ein von ihm verordnetes exööqiov Xetxirjvcov sehr viel Geld er-
worben habe, zur Zeit als in Rom die „Mentagra" genannte
Krankheit herrschte^). Es war dies ein scharfes arsenikhaltiges
Aetzmittel, das Eiterung der erkrankten vStellen hervorrief und in
Verbindung mit nachfolgenden heissen Bähungen, Kataplasmen und
Pflastern schliesslich die Heilung mit Narbenbildung herbeiführte.
Sehr interessant bezüglich der Diagnose der Affektion ist dabei der
am vSchlusse erteilte Rat, stets auch die scheinbar gesunden Partien
der Peripherie mitzubehandeln, da auch sie oft von der Affektion
schon ergriffen seien -). Das war die am meisten gebräuchliche Be-
handlungsweise des Mentagra {aint] y.oiv)] eTiifieleia ifjg /iievtdygag).
Weitere, die Angaben des Plinius durchaus bestätigende Mit-
teilungen über das Mentagra haben wir von dem Arzte Kriton,
der ein Zeitgenosse des Martial und Leibarzt des Kaisers Trajan
(g8 — 117 n. Chr.) war und ein berühmtes Werk über Kosmetik ver-
fasste 3). Zu dieser Zeit war, wie wir aus den oben zitierten Epi-
i) Galen, jisgi ovv&eoecog (paQi-mxoiv icöv aaxa. lönovg ßißkiov V, c. 2, ed. Kühn,
XII, 839: 'ExdÖQiov ksiX'>]VO)v. xavti] Iläfiqyuog yQtjad/nevog im ' Pcöfirjs jileTaxov ijiogi-
aazo sjiiHQazovaTjg iv zf} Jiöksi zfjg /nevzäyoag ksyofj,svr]g.
2) Ib. XII, 841: jiQo dk zijg icöv ix^oniow e::iideaEiog ::isQila}ißäreiv 8si za e^co&ev
zov leix^jvog (pagfidxov d(p?.ey/iidvzov anhp'Uo, :roooyaoiCö/ierov zfj i^coidzcp yga/ufif) zov
?.eiyj'jvog (iixqöv zl zcöv ditad^öiv aco/iidzwv.
3) Vgl. über Kritons Schriften: Max Wellmann, Die pneumatische Schule bis
auf Archigenes, Berlin 1895, S. 14, Anm. 7.
— 642 —
grammen Martials wissen, das Mentagra („triste mentum sordidique
lichenes") auch schon in den unteren Volksklassen verbreitet.
Die Aeusserungen des Kriton über das Mentagra fanden sich
in dem dritten Buche seiner Koo/ut]Tixd^), und Galen hat folgende
Beschreibung des Leidens wörtlich daraus excerpiert -):
[KgiTOJVog Jigog zovg im zöjv yeveiojv lsix'fivag.'\ 'E(pe^fjg tovtcov, o Kqitojv eyQaips
jigog zovg sjii zöiv yevEioiv Xeixfjvag oids 7t(og. Jtgog ^s zovg sjii zöJv yEVEiojv ?.f;i)rfjrag
jia&og arjÖEOzazov, xal yafi }(vt]o/iovg ejtKpsQEi nal jiEfjioiaoir zmv czsjiovdözcov y.nl yJv-
Svvov ovx oXiyov, eqjiei yuo eoziv 6'ze xaO' ö)mv zov jtQoawjtov, xal wpOaXiww ajiTEiai
xal o^eÖov zfjg drojidzco 8vofWQ(/)iag sailv al'riov.
Auch diese Schilderung bestätigt die Angaben des Plinius
über den Beginn der Affektion am Kinne und das allmähliche Herauf-
kriechen {eqjiei) nach oben, was sehr charakteristisch für eine Derma-
tomykose ist. Kriton scheint schwerere Formen dieser Affektion
beobachtet zu haben, da er von ihrer „Gefährlichkeit" spricht. Er
hebt auch den Juckreiz hervor.
Um welche Krankheit hat es sich nun beim Mentagra ge-
handelt? Dass es nicht Syphilis war und sein konnte, haben schon
die älteren Syphilisgeschichtsschreiber, wie z. B. Matthiolus und
Brassavola erkannt'').
Alles: das ursprüngliche Auftreten unter den durch die Kuss-
sitte einer Infektion am Kinn besonders ausgesetzten Vornehmen, der
Beginn am Kinn, die Art der Ausbreitung per continuitatem, der
Juckreiz, die Verunstaltung des Gesichtes, das periphere Fortschreiten
nacti Abheilung des Centrums, wie dies Galen andeutet, alles dies
spricht für eine Dermatomykose und zwar für eine der vielen Arten
der Trichophytie.
Vor einigen Jahren hat schon der gelehrte Medizinhistoriker
J. Chr. Huber diese Diagnose gestellt und treffend begründet^).
i) Galen 1. c, ed. Kühn, XII, 827.
2) Ib. XII, 830.
3) Matthiolus bemerkt treffend: ,,Nani si Mentagra (qiiod morbi genus Graeci
lichenas appellant) foeniinas, servos plebemque humilem ac mediam non invasit, verum Pro-
ceres tantum veloci transitu osculi, Aggregator ipse viderit, quomodo rectius dicatur Galliens.
Nam tempestate nostra, nullis immun ibus relictis. per morlales grassatur. Praemisimus
enim Gallicum saepius in verendorum ])articulis oriri, at liehen quoniam mentum
invaserat, Älentagrae nomen sibi vindicaverat". Petri Andreae Matthioli, De morbo
Gallico opusculum, in: Luisinus, Aphrodisiacus, Lugduni Batavorum 1728 p. 252 (ähnlich
auch Brassavola ebendort p. 669).
4) J. Chr. Huber, Rezension von Rosenbaums Geschichte der Lustseuche im
Altertume, ". Aufl., 1904 in: Münchener med. Wochenschr. 1904, Nr. 45.
— 643 —
Er sagt: „Auch das Mentagra Plinii hat man zu den vene-
rischen Leiden gestellt. Diese in Histor. natur., Lib. XXVI, cap. f
und 2 beschriebene Dermatose befiel nur Männer von Stand; Frauen,
Sklaven und Plebs wurden verschont. Rosenbaum sieht hier eine
venerische Krankheit des Cunnilingus. Ich halte das Leiden für
.Sycosis parasitaria (Herpes tonsurans durch den von Gruby 1842
und Malmsten entdeckten Pilz). Diese Ansicht vertritt auch Jean
Breitbach (1888) in seiner Bonner Dissertation über Sycosis para-
sitaria; somit dürfte sie auch die Ansicht des bedeutenden Derma-
tologen Doutrelepont sein. Wie kann man ein Leiden für vene-
risch halten, das Weiber, Sklaven und Plebs verschont und nur
bärtige Männer der besseren Stände befällt! Auch wissen wir aus
dem Parasitenbuche von Perroncito, dass Herpes totisurans in
Italien häufig ist."
Man kann in der That das Mentagra mit Bestimmtheit als eine
der zahlreichen Formen der Trichophytie diagnostizieren, von welcher
Dermatomykose die neuere Forschung- zeitlich, örtlich und klinisch
sehr verschiedene Arten festgestellt hat^).
So wissen wir, dass diese Pilzerkrankung der Haut sehr leicht
von Person zu Person übertragen wird und auch heute noch in einer
Art von Epidemie auftreten kann, wie denn z. B. in den Jahren
1882 — 1885 in Leipzig und Berlin eine solche epidemische Verbreitung
der „Bartflechte", des antiken Mentagra, beobachtet worden ist 2).
Auch nimmt das Leiden in den südlicher gelegenen Ländern einen
mehr akuten Verlavif^), besonders bei den tieferen Barttrichophytien,
wie ihn schon Plinius geschildert hat. Trotzdem erstreckt sich die
Dauer der Affektion auf Monate und Jahre. Das gilt vor allem für
eine in Italien häufige Form, die durch das Trichophyton rosaceum
hervorgerufen wird und trotz Behandlung länger als ein Jahr dauert^).
Auch das Jucken, die kleienförmige Abschuppung, das peripherische
Weiterkriechen, das ausschließliche Vorkommen bei Männern, wie
dies von Plinius und Kriton beschrieben wird, gehört zur Sympto-
matologie der trichophytischen Bartflechte, der Sycosis parasitaria.
i) Man vgl. besonders die vorzügliche Abhandlung von H. C. Plaut ,, Trichophytie"
in: Mraceks Handbuch der Hautkrankheiten, Wien und Leipzig 1909, Bd. IV, 2, S. 73
bis 156.
2) Vgl. Kaposi, Pathologie und Therapie der Hautkrankheiten, 5. Aufl.. Berlin-
Wien 1899. S. 1002.
3) Plaut a. a. O., S. 74.
4) Ibid S. 127.
— 644 —
Die folgende Schilderung der Sycosis trichophytica von Behrend i)
deckt sich im wesentlichen mit derjenigen der genannten antiken
Autoren, wobei nochmals daran zu erinnern ist, dass das Mentagra
wohl eine besondere Form der Trichophytonerkrankung darstellt, wie
sie im Norden nicht beobachtet wird:
,, Gelangt der Pilz auf irgend eine Weise auf den bärtigen Teil des Gesichtes, so
bildet sich zunächst an der Austrittsstelle des Haares ein kleines rotes Knötchen, welches
juckt und sich alsbald mit einer kleinen Schuppe bedeckt. Schon in kurzer Zeit dehnt
sich die Röte weiter aus, es kommt zur Entwicklung einer runden Scheibe mit etwas er-
habenem Rande, die mit Schuppen bedeckt, sich allmählich vergrössert und den Um-
fang eines Fünfzigpfennigstückes, eines Markstückes und darüber erreicht. Anfangs ist die
Entzündung ziemlich oberflächlich und die Infiltration nur massig, später jedoch, etwa nach
vierzehntägigem Bestände, dringt sie in die Tiefe, so dass es zur Entwicklung derber, tief
in das Unterhautbindegewebe reichender und auf ihrer Unterlage frei beweglicher, knotiger
Verdickungen des Corium kommt. In vielen Fällen bilden sich auf einer derartigen Scheibe
und zwar dann meist an ihrer Peripherie mehrere isolierte Knoten, während das
Zentrum blass wird und einsinkt, zuweilen aber auch wandelt sie sich in ihrer ganzen
Ausdehnung in einen einzigen Knoten dieser Art um, der alsdann bis zum Umfang einer
Haselnuss, ja selbst einer Wallnuss heranwachsen kann.
Nicht immer bleibt die Affektion auf ihre ursprüngliche Stelle beschränkt, vielmehr
wird der Pilz regelmässig, sei es durch die kratzenden F'ingcrnägel, sei es beim Abwischen
des Schweisses mit dem Taschentuch oder beim Waschen und Abtrocknen auf weitere
Strecken übertragen, und es können sich daher an benachbarten Stellen sehr
bald gleiche Veränderungen herausbilden. Indes nicht überall, wohin der Pilz gelangt, kommt
es zur Bildung von Knoten, sondern man sieht dann an vielen Stellen nur kleine Schüpp-
chen-) an den Austrittspunkten der Haare aus den Follikeln."
Den weiteren Verlauf des Krankheitsprozesses, der schliesslich
zu den auch von Plinius und Kriton erwähnten schweren Ent-
stellungen führt, führt uns Jarisch^) recht anschaulich vor Augen:
„Allmählich kommt es zum Auftreten von isoliert oder in Haufen stehenden Fblli-
culitiden, welche durch Ausbreitung des entzündlichen Infiltrates in die Tiefe und Fläche
der Haut confluieren, und zur Bildung von bald nur disseminiert, bald dicht gedrängt
stehenden und den grössten Teil des bebarteten Gesichts, besonders Kinngegend occupierenden
Knoten zusammenfllessen. Diese erscheinen als sehr schmerzhafte, bis zu mehreren Centi-
metern hervorragende, mehr weniger scharf umschriebene, an ihrer Oberfläche meist ver-
krustete Tumoren. — Unter dem Einflüsse der Eiterung kommt es zur Elimination imd
Zerstörung der Krankheitserreger und die Affektion heilt demzufolge in loco spontan ab,
freilich nicht ohne zeitweilig mehr oder weniger umfangreiche Narbe nbildung^) und
bleibenden Haarverlust zu hinterlassen. In der Regel werden die Patienten in Folge der
1) Gustav Behrend, Lehrbuch der Hautkrankheiten, 2. Aufl., Berlin 1883, S. 556
bis 557.
2) Das ,,foedo furfure" des Plinius.
3) A. Jarisch, Die Hautkrankheiten, Wien 1900, S. 582 — 583.
4) Auch diese „cicatrix" erwähnt Plinius, der sie zum Teil auf die Behandlung
mit Aetzmitteln zurückführt.
— 645 —
oft hochgradigen Schmerzhaftigkeit und Entstellung schon frühzeitig veranlasst,
ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen."
Hiernach bleibt wohl kein Zweifel mehr, dass das Mentagra
nichts anderes gewesen ist, als eine Trichophy tia profunda, da
es nach Lokalisation, Entwickelung und Verlauf sich durchaus mit
dieser Dermatomykose deckt. Dass es „Syphilis" gewesen sei, wird
ohnehin nach den mitgeteilten Daten kein ernstliafter Forscher mehr
behaupten können ^).
Itn Zusammenhange mit dem Mentagra und mit der Unsitte
des Küssens muss auch die Gesichtskrankheit des Kaisers Ti-
ber ins erwähnt werden, die viele Autoren, sogar Rosen bäum (a. a.
O. S. 293) und Proksch (a. a. O. Bd. I, S. 202 — 203) für Syphihs
halten. Es sei gleich bemerkt, dass auch diese Diagnose völlig
unhaltbar ist, wenn man kritisch und unbefangen die überlieferten
Nachrichten prüft. Gerade für die Hautaffektion des Tiberius gilt
das Wort: simplex sigillum veri !
Plinius berichtet, dass das Mentagra in der Mitte der Re-
gierungszeit des Kaisers Tiberius (14--37 n. Chr.) in Rom auftrat,
also etwa im Jahre 25 oder 26 n. Chr. und dass es hauptsächlich
durch das Küssen unter den Vornehmen sich verbreitete -). Hieraus
nun erklärt sich ohne Zweifel das von Tiberius erlassene Verbot
dieses täglichen Küssens (Sueton., Tiberius 34: cotidiana oscula
edicto prohibuit) und höchst wahrscheinlich auch seine Abreise
von Rom im Jahre 26 n. Chr., die wohl damit zusammenhängt, dass
er selbst an Mentagra erkrankt war. Dies hat schon Fried-
länder vermutet^), da Tacitus unter den Gründen, die Tiberius
bewogen, im Jahre 26 [d. h. in dem Jahre der Mentagraepidemie !]
Rom zu verlassen, die Entstellung seines Gesichtes durch Geschwüre
und Pflaster erwähnt (Annal. IV, 57: erant qui crederunt in senec-
tute corporis quoque habitum pudori fuisse: quippe illi praegracilis et
incurva proceritas, nudus capillo vertex, ulcerosa facies ac ple-
rumque medicaminibus interstincta). In Verbindung mit dem
i) Erwähnt sei noch die spätere Mentagra-Epidemie zur Zeit des Soranos (Anfang
des zweiten Jahrhunderts n. Chr.), von der Marcelius Empiricus (De med. liber c. 19,
p. 129) berichtet: Ad lichenem sive mentagram, quod vitium neglectum solet per totam
faciem et per totum corpus serpere et plures homines inquinare. Nani Soranus medicus
quoiidam ducentis hominibus hoc morbo laborantibus curandis (!) in Aquitania se locavit.
2) Deutlicher heisst es in einer späteren selbstsländigen Redaktion dieser Stelle
(Plinii Secundi Junioris de medicina. Hb. I, c. 18, ed. Val. Rose, Leipzig 1875, S. 33:
eos qui sie (seil, mentagra) vexantur osculari non oportet, quoniam contactus per-
niciosus est.
3) Friedländer a. a. O., Bd. I, S. 160.
— 646 —
Verbote des Küssens und dem Verlassen Roms gerade während der
Mentagraepidemie kann in der That diese Gesichtsaffektion des Ti-
berius zwanglos als Mentagra gedeutet werden, da ja dieses Leiden,
wie wir oben sahen, mit Pflastern und Aetzsalben behandelt wurde.
Der Kaiser war ja der Uebertragung- des Mentagrapilzes am
meisten ausgesetzt, da gerade ihn die seit Augustus bestehende
Hofetikette zwang, die Freunde erster Klasse mit einem Kusse zu
begrüssen (Sueton., Otho, c. 6) und sein offenbar nach der Ansteckung
erfolgtes Verbot sehr übel aufgenommen wurde (Valer. Maxim. II,
6, 17, vergl. Friedländer a. a. O., I, 160). Deshalb wurde seine
Erkrankung wohl besonders peinlich empfunden und die Spezialisten
gaben sich mit der Behandlung der kaiserlichen Gesichtsaffektion
ganz besondere Mühe und erfanden zu diesem Zwecke neue Heil-
mittel, wie den jQOxioxog Jigög sQjiiirag Tißeoiov Kaioagog, den Galen
{jieQi ovv&eoecog q^aQfxdxayv tcöv xarä yevr] V, c. 12, ed. Kühn XIII, 836)
erwähnt. Wenn wir uns erinnern, dass auch vom Mentagra der Aus-
druck egjisiv gebraucht wurde, so können sich die eQJirjxeg an dieser
Stelle sehr wohl auf diese Affektion beziehen. Sie können aber auch
ganz allgemein als ,, Flechten" gemeint sein, da die egjifjteg analog
diesem deutschen Ausdrucke verschiedene peripher weiter kriechende
Dermatosen umfassten.
Denn ausser dem Mentagra litt Tiberius höchst wahrscheinlich
noch an einer schon länger bestehenden Akne. Denn Sueton
spricht offenbar von einer ganz anderen Gesichtsaffektion des Ti-
berius als dem Mentagra, wenn er (Sueton., Tiber. 68) bemerkt:
facie honesta, in qua tamen crebri et subiti tumores, d. h. es bil-
deten sich häufig und plötzlich Knoten im Gesichte, wie dies bei
der Akne und der Rosacea der Fall ist. Eingehender hat der Kaiser
Julian in einer Beschreibung des Tiberius in der Unterwelt diese
Affektion geschildert (Caesares in Opera omnia Parisiis 1630, Bd. II,
S. g, zit. nach Rosenbaum 1. c. 293):
'EjTiozQacpevrsg de JTQog zi]v y.a^eÖQav ä)q)§t]oav cbxEiXal xaza xm' vöizoi' /ivgiai
xavzfJQEg zivkg xal ^sofiaza xal jiXtjyal /aAf.Tot xal /iü)?.o}ji£g, vjio zfjg axoXaoiag xal
(bfioztjzog, tpcogat ziveg xal XEixfjvsg, oiov iyxExavfih'ai. Deutsch: ,,Als er sich aber gegen
den Sitz gewendet hatte, sah man nach dem Rücken zu Tausende von Narben, Brand-
flecke, Schaben, harte Striemen und Schwielen, von seiner Ausschweifung und Roheit
mancherlei tpwQai und lEi^rjvEg gleichsam eingebrannt."
In der Voraussetzung, dass dies kein Phantasiebild ist, ähnlich
dem in Lucians „Cataplus sive Tyrannus" (c. 24 und c. 28), wo die
Uebelthaten in der Unterwelt in Gestalt von Brandmjden und ähn-
lichen Verunstaltungen sichtbar werden, sondern dass Julian wirklich
— 647 —
nach überlieferten Berichten die Affektion schildert, so wird jeder
moderne Dermatologe sogleich die Diagnose einer sehr hartnäckigen
und langjährigen Akne stellen, die die obere Rückenpartie in der
geschilderten Weise zu verunstalten pflegt. Bei dem Alter desTiberius
war sie g-ewiss noch mit einer Seborrhoe vergesellschaftet, die die
von Sueton erwähnten häufigen Rezidive erklärt, die im übrigen
auch durch den übermässigen Alkoholgenuss, den Sueton (Tiber. 42
„Biberius" statt „Tiberius") geisselt, herbeigeführt sein konnten ').
Dass man auf Grund der vorliegenden Berichte nur zu einer
solchen Diagnose kommen kann, bestätigen auch die folgenden
Aeusserungen eines Meisters in der modernen dermatologischen Dia-
gnostik.
Unna sagt von der Krankheit des Tiberius:
„Auch die von Tacitus und Sueton geschilderte Krankheit des Tiberius ist im Lichte
heutiger Pathologie gewiss nichts weniger als Syphilis und wird in allen Einzel-
heiten verständlich, wenn man annimmt, dass er sein Leben lang ein derbhäutiger Sebor-
rhoiker gewesen ist und in der Jugend an ausgebreiteter Akne, später an sebor-
rhoischer Alopecie und Rosacea pustulosa gelitten hat. Noch heute wird das Aus-
sehen dieser Unglücklichen im Volksnnmde stets auf unmässiges Trinken und geschlechtliche
Ausschweifungen zurückgeführt. Hätte der alte Tiberius wirklich wegen (tertiärer) Syphilis
Pflaster im Gesicht getragen, so wäre wohl auch vom Verschwinden seines Nasengerüstes
oder Defekten seines Schädels in derselben Beschreibung die Rede gewesen"'-).
Und, füge ich hinzu, würde Sueton (Tiberius 68) von einem
von so schwerer Syphilis Heimgesuchten gesagt haben: Valetudine
prosperrima usus est, tempore quidem principatus paene toto prope
inlaesa, quam vis a tricesimo aetatis anno arbitratu eam suo rexerit
sine adiumento consiliove tuedicorum? Eine Seborrhoe, eine hart-
näckige Akne, selbst ein INIentagra braucht den allgemeinen Gesund-
heitszustand nicht zu beeinträchtigen, wohl aber muss dies eine so
schwere ulceröse Syphilis thun, wie sie hier angenommen wurde ^).
1) „Ein allgemein bekanntes ätiologisches Moment der Krankheit aller und besonders
auch des höchsten Grades von Acne rosacea ist der übermässige, gewohnheitsmässige Genuss
von Alcoholicis". M. Kaposi, Pathologie und Therapie der Hautkrankheiten, 5. Aufl.,
Wien 1899, S. 558.
2) P. G. Unna in der Besprechung von J. K. Proksch's Geschichte der venerischen
Krankheiten, Bd. I in: Unna's Monatshefte, Bd. XX, 1895, S. 442.
3) Allerdings scheint Tiberius einmal von einer akuten, kolikartigen, epidemischen
Darmerkrankung heimgesucht worden zu sein. Wenigstens berichtet Plinius (Nat. histor.
XXVL 6): Id ipsum mirabile, alios desinere in nobis, alios durare, sicuti colum. Tiberi
Caesaris principatu irrepsit id malum, nee quisquam id prior imperatore ipso sensit, magna
civitatis ambage, cum in edicto eius excusantis valetudinem legeret nomen incognitum. Von
einem schweren, chronischen, den ganzen Körper in Mitleidenschaft ziehenden Leiden des
Tiberius, wie es die Syphilis gewesen wäre, ist aber nirgends die Rede.
— 648 —
An dieser Stelle mag noch beiläufig bemerkt werden, dass man auch den Kaiser
Augustus für syphilitisch erklärt hat. Proksch') beruft sich auf eine Krankheitsschil-
derung bei Sueton (Augustus, c. 80), welche, wie er meint, „an Syphilis gemahnt". Diese
Stelle lautet:
„Corpore traditur maculoso, dispersis per pectus atque alvum genetivis notis
in inodum et ordinem ac numerum stcllarum caelestis ursae, sed et callis quibusdam, ex
p rurigine corporis adsiduoqne et vehementi strigilis usu plurifariam concretis
ad impetiginis formain."
Das ist eine so deutliche und bestimmte Schilderung von über Brust und
Unterleib zerstreuten Muttermälern und eines Pruritus senilis mit seinen durch
Kratzen und den häufigen Gebrauch des Badestriegels hervorgerufenen bekannten Folge-
erscheinungen (Hautverdickung, ekzematöse Stellen), dass man sich wundern muss, wie
hier überhaupt an die Diagnose ,, Syphilis" gedacht werden kann.
Uebrigens hat Sueton in den Kapiteln 80 — 82 noch einige weitere Mitteilungen
über Ivrankheiten des Augustus gemacht, aus denen sich ergielit, dass er von angeborener
schwächlicher Konstitution war, an Schreibkrampf des rechten Zeigefingers, Blasensteinen
litt, verschiedene akute und gefährliche Krankheiten durchmachte, wie z. B. eine Hepa-
titis acuta (distillationibus iecinore vitiato), die von Antonius Musa durch kalte Um-
schläge geheilt wurde. Auch war er sehr empfindlich gegen die periodischen Witteiungs-
wechsel, im Herbst war er sehr abgespannt (languebat), im Frühling bekam er Bronchitis
(praecordiorum inflatione) und Schnupfen (gravedine). Deshalb sah er sich zu einem von
Sueton (Aug. 82) ausführlich geschilderten System der Abhärtung genötigt. Von irgend
einem Leiden, das auch nur entfernt an Syphilis erinnert, ist nirgendwo die Rede.
Mit der Sitte des Küssens berührt sich nahe die der Benutzung
eines gemeinsamen Bechers, wodurch ohne Zweifel mit Leichtig-
keit syphihtische Infektionen herbeigeführt werden können, wenn ihre
Quelle, die .Syphilis, und die dabei so häufigen Plaques muqueuses
der Lippen und Mundschleimhaut existiert hätten. Schon von dem
kretischen ävdo£ior> berichtet Athenaeus (T3eipnosoph. IV, 22, p. 143c),
dass die jüngeren Tafelgenossen aus einem einzigen gerneinsamen
Becher tranken. Auch später trank man zum Zeichen der Freund-
schaft oder Liebe aus demselben P>echer (Achilles Tatius II, g;
Lucian., Dial. deor. 5, 2; 6, 2). Ovid sagt, dass der Liebhaber an
derselben Stelle aus dem Becher trinken müsse, wo ihn die Lippen
des Mädchens berührt haben:
Pocula, quaque bibit parte puella, bibas
(Ars amat. I, 576).
Sehr deutlich spielt Martial (II, 15) auf den Ekel an, den ein
solches Zutrinken hervorrufen musste, wenn der eine Partner eine
Mundkrankheit hatte oder Mundunzucht trieb:
I) J. K. Proksch a. a. O., Bd. I, S. 203.
— 649 —
Quod nulli calicem tuum propinas,
Humane facis, Horme, non süperbe ').
Neben den bisher geschilderten Momenten, die unbedingt eine
gewaltige Verbreitung der Syphilis hätten begünstigen müssen-), falls
sie existiert hätte, giebt es aber im antiken Leben auch solche, die
als hemmende Faktoren für die Verbreitung" venerischer Krank-
heiten, speziell der S3^philitischen Ansteckung betrachtet werden können,
ohne dass sie natürlich jene erstgenannten gänzlich paralysiert hätten.
Da kommt in erster Linie die noch für die moderne Welt vor-
bildliche und immer noch unerreichte antike Reinlichkeit in Be-
tracht, die wie Essen und Trinken und geschlechtliche Bethätigung
ein unentbehrHches Element des täglichen Lebensgenusses im Alter-
tum gewesen ist^j.
Wenn man einen Unterschied zwischen Griechen und Römern in Beziehung auf die
Bäder machen will, so kann man ihn vielleicht darin finden, dass im ganzen bei den Griechen
mehr das Privatbad, bei den Römern mehr das grosse öffentliche Bad dominierte, bei letz-
teren wenigstens das öffentliche Badewesen unvergleichlich grossartiger entwickelt war als bei
den Hellenen. Allerdings gilt das erst für die nimische Kaiserzeit, während früher das
römische Badewesen in Vergleichung mit dem griechischen recht primitiv war'*) und sich in
seiner späteren Ausbildung eng an die griechischen Verhältnisse anlehnt, wie dies schon die
aus dem griechischen entlehnte Terminologie beweist (balneum = ßalavEiov, thermae = ßsQfid
seil. ?.ovTQä).
In der That lässl sich das griechische Badewesen bis in die mykenische und homerische
Zeit zurück verfolgen, wie eine kurze Betrachtung der interessanten Terminologie ergeben
wird, die uns zugleich eine Uebersicht über die wichtigsten Details der hellenischen Bäder
geben wird.
Schon bei Homer kommen ausser den nervenstärkenden .Seebädern [Xoetqu 'OneavoTo
Ilias l8, 489; Od. 5, 275, näheres darüber bei Athen. I, 44, p. 24c)^) auch Hausbäder
1) Ueber die gewiss gefährlichen ,,communia pocula" in den Bordell- und Ver-
brecherkneipen vgl. Juvenal VIII, 177.
2) Diese Notwendigkeit hebt auch C. v. Liebermeister hervor. Vgl. seine
Aeusserung oben, Teil I, S. 7.
3) Ueber Waschen und Baden bei den Griechen vgl. man die ausführlichen Mit-
teilungen bei Iwan von Müller, ,,Die griechischen Privataltertümer" (in: Handbuch der
klassischen Altertumswissenschaft, Bd. IV, Abteil. I, 2. Hälfte, München 1893, 2. Aufl.,
S. 132 — 135; ferner die anregende Studie von Karl Sudhoff, Aus dem antiken Bade-
wesen. Medizinisch-kullurgeschichtl. Studien an Vasenbildern, Berlin 1910; über Rom vgl.
E. M. vom Saal, Das Badeieben im alten Rom, Leipzig 1895; P"riedländer, Sitten-
geschichte, Bd. III, S. 145 ff. ; Theodor Birt, Die Bäder in: Kulturgeschichte Roms,
Leipzig 1909, S. 79 — 89; Ch. Daremberg in seiner Ausgabe des Oreibasios, Bd. II,
S. 865—883.
4) Vgl. darüber die lebhafte Schilderung Senecas (Epist. 86).
5) See- und Flussbäder werden uns auch auf Vasenbildern vorgeführt. Mehrere Bei-
spiele beschreibt Karl Sud hoff. Aus dem antiken Badewesen, Berlin 1910, S. 25 — 26.
— 650 —
in Badewannen (uaäfiii'üoi vgl. Athen. I, 44, p. 24d) und warme Privatbäder (Ilias 14,
6: dsQua XoetqÖ.), sowie Fusswaschungen {jio8Üvijitqo%> Odyss. 15, 504 und 19, 343) vor.
Die warmen Bäder scheinen gerade in der heroischen Zeit behebter gewesen zu sein als
in der klassischen Periode, wo ein Arislophanes (Nubes 1045 — 1046) die OsQfia lovzgd
als y.äxiocöv und deiXoraTOv lür die INIannhaftigkeit verwirft und wohl die kalten Bäder
{if'vxQa IovxqÜ ib. 1051, Hip poerat., de vict. rat. II, Kühn I, 694) vorzieht. Erst
später in der hellenistischen Zeit kamen sie neben den bis dahin am meisten gebräuchlichen
kalten Bädern und Uebergiessungen wieder zur Geltung ').
Die klassische Badeterminologie ist eine sehr reichhaltige: ßaXavsTov (Aristoph.,
Plut. 535; Eq. 1401; Plato, Rep. VI, 495 e u. ö.) Bad; o ßaXavEVQ , Bademeister,
Badegehülfe (Aristoph., Av. 491; Plato, Rep. 1, 344d; Aristoph. Eq. 1403 u. ö.);
ßahiviooa, Badedienerin (Anthol. Palat. V, 82 ed. Dübner I, 74; ßaXavEveiv , im
Bade bedienen (Aristoph., Lysistr. 337) — Iovtqov, häufigei lovigä (Hippocr., De
vict. rat. II, Kühn I, 694; Soph., Ant. 1186; Aeschyl., Prometh. 555; Antiphanes
bei Athen. I, 32, p. 18c), das kalte Bad; XovtqÜ dF.Qfia (Hippocrat., De vict. rat. II,
Kühn I, 694; Homer., Ilias 14, 6; Pind., Ol. 12, 21), ^F.Q^ioXovoia (Galen ed.
Kühn XI, 181; Plut. de san. tuend, p. 394), das warme Bad; ■&s(}fioXovrQeiv ,
^EQfioXoi'TsTv (Aristot. probl. i, 29; Hermippos bei Athen. I, 32, p. i8c)");
6 XovTfjojv (Aeschyl., Eum. 439; Xen., Ath. 2, 10), Badehaiis; 6 XovxQOjioiög (Poll.
7, 167: so hiess ein Stück des Anaxilas) der das Bad bereitet; 6 X.ovttjq (Athen,
p. 199 c) Badebecken, Badetisch ■'); x6 Xovtijqiov (Aeschyl. fragm. 321) Badebecken;
XovTQoy^öo? , wasserergiessend (iQiJiovg der dreifüssige Kessel, in dem das Badewasser er-
wärmt wird, Ilias 18, 346; Od. 8, 433) oder der Sklave, der das Bad bereitet (Od. 20,
297; Xenoph., Cyrop. 8, 8, 10; Athen. XII, p. 518c); to Xovzqiov (Aristoph. Eq.
I401) das gebrauchte Badewasser. — o TiodaviTnt'jQ (Herod. 2, 172; Aristot., Pol-
I, 12) Fussbecken, Waschschüssel'); r) jivsXog (Aristoph., Pax 843; Lucian., Lexijihan.
5) Badewanne; >; aQVxaiva (Aristopii., Equit. 1087; Theophr., char. 9, 3) die Giess-
kanne; 6 uqv ßaXog (Athen. XI, 783!.; Aristoph., Equit. 1094) kleineres Giessgefäss'*);
ij xoXv fißrjO Qd (Plato, De rep. V, p. 453d; Alexis bei Athen. I, p. 18c) Ort zum
Baden, Tauch- und Schwimmbad; ?/ 7ivi>ia (Herod. 4, 75; Plut., Symjios. 3, 10, 3),
ro jiVQiaiia (Aristot., probl. i, 55; Poll. 7, 168) das trockene Dampfbad oder Schwitz-
bad; 6 jiagaxvTtjg oder jisQixvztjg , jiaQUXECOv (Athen. XII, S'^*^» Oxyrhynchos
Papyri Bd. I, p. 231 — 232; Pap. de Magdola Nr. XXXIII bei Sudhoff, Papyrus-
Urkunden S. 89) Badediener; xa/^iydgtog (Edictum Diocletiani VII, 75 u. 76), der Gar-
derobier des öffentlichen Bades.
i) Vgl. den Papyrus von Magdola aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. bei Sud hoff,
Aerztliches aus griechischen Papyrusurkunden, S. 89 — 90.
2) Mit Aristophanes stimmen andere Dichter der attischen Komödie wie Anti-
phanes (bei Athen, p. i8c: ovko oxeqeov xi ngäyfia dEQfiöv iad' vScoq) und Hermippos
(ebendort) in der Verwerfung des warmen Bades überein.
3) Der X.ovxrjQ diente auch für die Reinigung des ganzen Körpers. Ueber seine
Formen und Verwendung vgl. Sudhoff, Aus dem antiken Badewesen, S. 29 — 43 (mit
Abbildungen).
4) Sie kommt schon bei Homer (Od. 15, 504; 19, 343) vor, sowie auf einer alten
kyprischen Terrakotte (Abbildungen bei Sudhoff a. a. O., S. 4—5, vgl. ferner ebendort
S. 15 — 16 und S. 24).
5) Üeber den Unterschied zwischen der Arytaina und dem Arybailos vgl. die ge-
naueren Studien von Sudhoff a. a. O., S. 26 ff.
- 651 -
Nicht weniger reich ist die Terminologie des römischen Badewesens: balneum,
balineum (Piin., Ep. II, 17, 11; III, 5, 14; Senec, Dial. IV, 32, 2; Ep. 86, 9, 10 etc.;
Celsiis I, I und II, 17), balineae (Plin. n. h. XX, 59), balneus (Petron. 41), ba-
liscus (Petron. 42), das Bad (meist allgemein das warme); balneator (Plin., n. bist.
XVIII, c. 44; Mart. III, 93, 14) Bademeister; lavatio (Cic, ep. 9, 5, 3) Bad; lavatio
(Phaedr. 4, 5, 22) Badegeschirr; lavabrum, labrnm (Lucret. VI, 799, Vitruv. V, 10, 4)
Badewanne; frigidarium, frigidaria cella (Plin., ep. V, 6, 26; II, 17, 11) das kalte
Bad; tepidarium (Cels. I, 3 ; I, 4) das lauwarme Bad; calidarium (Cels. I, 4), cal-
daria cella (Plin., ep. V, 6, 26) das heisse Bad; sudatorium (Senec. ep. 51, 6;
de vita beat. 7, 3) Schwitzbad, Dampfbad; laconicum (V^itruv. V, 1 1 ; Martial. VI, 42;
Dio Cass. 53, 27) Raum für das trockene Schwitzbad; vaporari (Petron. 73) im Dampf-
bade sitzen; vaporarium (Senec, nat. quaest, 3, 24, 3) Dampfröhre; hypocaustum
(Plin., ep. II, 17, 11) Heizgewölbe der Bäder; piscina (Plin., ep. II, 17, 11; V, 6, 23)
Schwimmbassin; solium (Cels. I, 4; Petron. 73) Badewanne; in solium descendere
(ibidem), in die (tiefer gelegene) Badewanne steigen; capsarius (Dig. I, 15, 3) Badediener.
Die griechischen Bäder lagen meist neben den Gymnasien und Palaestren (Vitruv.
V, 1 1). Nach U. V. Wilamowitz-Moellendorff *) waren sie, soweit sie Staatsanstalten
waren, unentgeltlich, und ausser dem Wasser ward auch die Seife geliefert. Wahrscheinlich
gab es aber auch reservierte Zellen und Trinkgelder für das Sklavenpersonal. Private Palaestren
wie die des Dionysios bei Piaton, die des Timagetos auf Kos bei Theokrit werden
nach V. Wilamowitz auch Eintrittsgeld gefordert haben. Auf einem Vasenbilde '^) steht
die Inschrift Srjfiöaia als Bezeichnung für ein öffentliches Bad, was auf den Gegensatz l'dia
seil. ßaXavEia für ein Privatbad hinweist. Reiche Bürger stifteten häufig Freibäder für das
Volk oder errichteten ganze Badeetablissements zur unentgeltlichen Benutzung, manchen
wurden auch die Unkosten für die Bäder vom Staate auferlegt''). Schon in frühptolemäischer
Zeit bestand eine Steuer für die Benutzung öffentlicher Bäder (rö ßaXavEiov), die z. B. von
den Tempeln entiichtet werden musste, die auf ihrem Grund und Boden Badeanstalten an-
legten. In der Kaiserzeit zahlte man auch in öffentlichen Bädern ein kleines Eintrittsgeld,
das zwischen einem Quadrans ('/^ As) und i As schwankte^).
Die grossartige Entwicklung des Badewesens in der Kaiserzeit wird uns sowohl für
die grossen als auch die kleineren Städte, ja sogar für Dörfer^) durch zahlreiche Angaben
bei griechischen und römischen Autoren bezeugt. „Vielleicht für keinen Zweck", sagt
Friedländer®), ,,sind in den Inschriften der Städte Italiens sowie sämtlicher Provinzen
Stiftungen und Vermächtnisse häufiger bezeugt als für Erbammg, Erhaltung, Ausstattung und
unentgeltliche Freigebung öffentlicher warmer und kalter Bäder für Männer und Frauen,
zuweilen sogar für Sklaven und Sklavinnen." Auch die Kaiser waren eifrig auf die Förde-
rung des Badewesens bedacht. So nahm Tiberius sogar transportable Badeeinrichtungen
für seine Soldaten in den pannonischen Krieg mit (Vellej. Patercul. II, 114, 2), An-
ton in us Pius stellte dem Volke die kaiserlichen Bäder imentgeltlich zur Verfügung (Capi-
tolinus, Antonin. Pius c. 7), Caracalla liess die nach ihm benannten kolossalen Thermen
erbauen (Spartianus, Carac. c. 9), Alexander Severus versorgte alle Stadtquartiere,
1) U. V. Wilamowi tz-Moellendorf f , Antigonos von Karystos S. 268, An-
merkung 5.
2) Fig. 40 bei Sud hoff, Badewesen S. 51.
3) Vg'- Sudhoff, Aerztliches aus griechischen Papyrus-Urkunden S. 77 — 78.
4) Ibidem S. 80—81, 84.
5) So berichtet der jüngere Plinius (Ep. II, 17, 26), dass ein kleines Dorf bei
Laurentum drei öffentliche Badeanstalten besass.
6) L. Friedländer a. a. O., Bd. III, S. 149.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 42
— 652 —
die noch keine hatten, mit öffentlichen Bädern (Lampridius, Alex. Sever. c. 39), gross-
artig waren auch die von dem dritten Gordianus angelegten Thermen und Privatbäder
(Capitolin., Gordianus tertius c. 32). Im vierten christlichen Jahrhundert gab es in Rom
nicht weniger als 856 Badehäuser und 11 Thermen und in Konstantinopel 153 Privatbäder
und 8 Thermen^). In den Gemeindeordnungen selbst der kleinsten Städte war die Hygiene
des Badewesens peinlich geregelt, wie die von Hübner und Mommsen veröffentlichte Lex
metalli Vipascensis erweist, nach der in den kalten und warmen Bassins der Badeanstalt
eines portugiesischen Dorfes Vor- und Nachmittags frisches fliessendes Wasser vorhanden sein
und bis zu einer bestimmten Höhenmarke reichen mussle luid monatliche ausgiebige Reinigung
der Kessel vorgeschrieben Avar'').
Von grösstem Interesse ist aber die Thatsache, dass auch die
Bordelle in reichlichem Masse mit fliessendem Wasser und
Badegelegenheiten versehen waren. Plautus erwähnt die Bäder
in Bordellen und ihre intensive Benutzung durch die Insassinnen (z. B.
Poenul. I, 2). Später wurden Bordelle in Masse mit immer fliessen-
dem Wasser versehen, wie dies aus der Schilderung^ des Frontinus
(De aquis c. 76: quae nunc nos omnia simili licentia usurpata utinam
non per offensas probaremus: agros, tabernas, cenacula etiam, cor-
ruptelas denique omnes perpetuis salientibus instructas lu-
ven im us) hervorgeht.
Indem wir an dieser Stelle von der bei Celsus, Galen, Ori-
basius ausführlich erörterten allgemeinen hygienischen und thera-
peutischen Verwendung der Waschungen und Bäder absehen 3), wollen
wir sie nur in ihrer Bedeutung für die Sexualhygiene der Alten
betrachten.
Dass beim Baden auch die Genitalien einer speziellen Reinigung
unterzogen wurden, ersehen wir schon aus Vasenbildern. So zeigt
ein Bild der ehemaligen Kollektion Hamilton eine auf dem Rande
eines Tisches sitzende Frau vor dem Badebecken, die gerade mit
i) R. Pöhlmann, Die Uebervölkerung etc. S. 144 — 145.
2) Friedländer a. a. O., III, 149.
3) Erwähnt sei nur ein wenig bekanntes Gedicht der griechischen Anthologie (bei
J. G. Regis, Epigramme der griechischen Anthologie, Stuttgart 1858, S. 283, No. 304):
Lob des Bades.
Zu vielen guten Gaben hülfreich ist das Bad:
Die Säfte ziehts hinunter, löst den dicken Schleim,
Entleert von Gallenüberfluss das Eingeweid',
Schwächt in der Haut des Juckens peinlich Reizgefühl,
Verschärft der Augen Sehkraft um ein Merkliches,
Schwemmt aus den Ohrkanälen fort Schwerhörigkeit,
Bewahrt Gedächtnis, scheucht Vergesslichkeit hinweg,
Erheitert zu Gedanken alsobald den Geist;
Die Zunge schmeidigt's zu den Worten wolilgelenk ;
Den ganzen Leib aufklärt es durch die Reinigung.
- 653 -
einem Schwämme ihr Genitale reinigt^). Vielleicht wurden von Frauen
für diesen Zweck auch Sitzbadewannen, Bidets benutzt. Sudhoff-)
erwähnt ein „kleines Waschgefäss, das eine Dame mitführen konnte,
flach, ohne Fuss und in der Form einer Bidetschüssel von heute, die
unter einer hockenden Frauenstatuette aus Cypern zur Darstellung
kommt" ^).
Im Liebesverkehr galt den Völkern des Altertums die „mun-
dities", die Sauberkeit als erstes Erfordernis, wie dies Ovid sowohl
für die Männer (Ars. amat. I, 513 — 524) als auch für die Frauen
(ib. III, 133 ff.) ausdrücklich hervorhebt.
Offenbar handelt es sich bei den Waschungen vor und nach dem Coitus um eine
ursprünglich orientalische Sitte, die dann von Griechen und Römern übernommen wurde.
So berichtet Herodot (I, 198) von den Babyloniern und Arabern, dass Mann und Frau
nach dem Beischlaf ein Bad nehmen und sie kein Gefäss anrühren, bevor sie sich nicht ge-
badet. Für die Aegypter bestätigt dies Clemens Alexandrinus (Citat bei Rosen-
baum a. a. O., S. 385). Für die Juden, deren ausserordentliches Reinlichkcitsbedürfniss
durch die in Bibel und Talmud enthaltenen Vorschriften bezeugt wird''), hat Julius Preuss
in seiner wertvollen Studie über „Waschungen und Bäder nach Bibel und Talmud" ^) die
betreffenden Thatsachen zusammengestellt. Darnach mussten Mann und Weib nach dem
Coitus ein Bad nehmen (Levit. 15, 18), ebenso nach der Ejacuiatio involuntaria (Deuteron.
23, 12)- Neben der biblischen Vorschrift, nach jedem Samenergusse zu baden, die wohl
nur für den Verkehr mit dem Tempel bestimmt war, existierte noch eine andere Be-
stimmung, die auf Esra zurückgeführt wird, dass der Mann nach jeder Ejakulation, ob
intra coitum oder nicht, baden müsse, bevor er sich wieder mit der Gesetzeslehre be-
schäftigte. Nach Preuss hatte diese „Verordnung Esras" den ausgesprochenen Zweck,
durch die Unbequemlichkeit des Badens von allzu häufigen Cohabitationen zurückzuhalten.
Man erzählt, ein Mann wollte ein Mädchen ,,zu einer sündhaften Sache" zwingen; als sie
ihm zurief: ,, woher willst du nachher Wasser zum vorgeschriebenen Bade nehmen?" Hess
er von ihr ab (Ber. 22a). Noch drastischer ist die Erzählung im palästinischen Talmud:
Ein Weinbergswächter wollte sich mit einer verheirateten Frau einlassen; während sie nach
einem Tauchbade suchten, kamen Leute dazu und die Sünde unterblieb" (j. Ber. 6 c 28).
Man ersieht aus dieser Erzählung, welchen Wert man auf das Baden und die Reinigung
nach dem Coitus legte.
Sehr interessant ist auch die Mitteilung des Joseph us (contra Apionem II, c. 24):
xal fiETu Ttjv i'o/iii/iidv Gvvovaiav ävÖQog xal yvvaixog ajiokovaaodai xeXevei 6 röfiog.
ifwxy? T£ xal acöf^iarog syyivEzai fioXvofiög. Man schrieb also dem Coitus nicht bloss eine
i) Abbildung 32 bei Sudhoff, Aus dem antiken Badewesen, S. 41.
2) Sudhoff, Aerztliches aus Papyrus-Urkunden, S. 139.
3) Die Statuette ist im Besitz der R. Accademia di Medicina in Turin. P. Giacosa
hat sie auf Tafel 34 des Atlas zu seinem Werke „Magistri Salernitani nonduni ediii"
(Turin 1901) abgebildet.
4) Diese subtile Körperpflege bei den Juden und ihre Beziehungen zur Prophylaxe
der Krankheiten ist schon in einer wenig bekannten alten Dissertation von Salomo Hirsch
Burgheim behandelt: ,,De studio munditiei corporis penes Judaeos morbis arcendis atque
abigendis apto", Leipzig 1784.
5) Wiener med. Wochenschr. 1904, Nr. 2 ff. (S.-A. 22 Seiten).
42*
— 654 —
seelische, sondern auch körperliche Verunreinigung zu, die man durch die gesetzlichen
Waschungen und Bäder beseitigte.
.Bezüglich der Griechen sind die Zeugnisse für die Reinigung post coituni spär-
licher. Doch liefert die griechische Mythologie einige interessante Beispiele, die Rosen -
bäum zusammengestellt hat (a. a. O., S. 386, Anmerk. i: Bad der Europa nach dem
Beischlaf mit Zeus (Antigen. Carystius, hist. mirab. 179), der Aphrodite nach dem
Beilager mit dem Vulkan (Athen. XV, p. 681), der Ceres nach demjenigen mit Neptun
(Pausan., Arcad., p. 256). Auch Hesiod ("Egy. 731):
fiJ]d^ aiSoia yovi) ::iS7ialayj^ievog ev8o&i oi'yov
faTU] if(.-Te?.aS6r Traoar/ airgiisv, dXl' äXiaoßai
und Lukian, der von den Hetären sagt (Amor. 42): vvxTa.(; im Tovzoig öirjyov/iEvai, xal
xovg ETEQoyQcorag vnvovg nal drjlvTxrjxog svvtjv ys/novoav. ä<p' ■^ g dvacrag enaorog
Evdv }.ovTQOv XQsTög eozi, beweisen die Sitte der Reinigung nach dem Beischlafe.
Vielleicht gebrauchten die griechischen Frauen zur lokalen Reinigimg der Genitalien
post coitum nicht bloss den Schwamm, sondern auch die Alutterspritze (d /^ir]rQeyyvrt]g),
deren Gebrauch bei Ausflüssen aus den Geschlechtsteilen uns durch Soranos (II, 41; 44
ed. Rose) und Galen (XIII, 316 ed. Kühn) bezeugt wird. Zu Vaginalinjektionen benutzte
man die Ohrenspritze (djriHÖg nkvorriQ, Paul. Aegin., ed. Brian, p. 300). Auch
eine Art von Irrigator wird bereits im Corpus hippocraticum beschrieben (de sterilitate,
c. X) imd eingehend geschildert, wie die Frauen ihn selbst anwenden müssen (vgl.
die Uebersetzung von Robert Fuchs, Bd. III, S. 602 — 603). Vielleicht kamen bei der
Reinigung ante oder post coitum auch schon solche Hilfsmittel zur Verwendung.
Bei den Römern war die Waschung nach dem Coitus (,,a concubitu mariti se
purificare" sagt Sueton. Aug. 94) ebenfalls Vorschrift, der Terminus technicus dafür lautet
,,aquam sumere, petere, poscere" (Ovid., Ars amat. III, 619; Amor., üb. III, eleg. 7;
Petron., Satir. 94; Mart. II, 50). In den Bordellen hatten die „aquarioli" oder
„aquarii" die Aufgabe, den Dirnen das Wasser für die nach dem Coitus notwendige
Waschung herbeizuholen (Plaut., Poenul. I, 2, 14; Juvenal. VI, 331; Tertull. Apolog. 43).
Man nannte sie auch baccariones. Rosenbaum citiert eine alte Glosse: baccario,
:n:oQvo8iü.xovog, meretricibus aquam infundens; eine andere: aquarioli, ßaV.äösg, ßaV.ug
a ßd/J.cov vöcoQ, ab aqua jaciunda. Auch die Erwärmung des Bades lag ihnen wohl ob.
Denn wir wissen durch Philo (Opera, ed. Mangey, II, p. 265), dass zu seiner Zeit sich
die Prostituierten häufig der warmen Bäder bedienten.
Dass nicht bloß nach dem natürlichen, sondern auch nach dem
widernatürlichen Geschlechtsverkehr Waschungen vorgenom-
men wurden, ist a priori wahrscheinlich und wird durch mehrere
Stellen bei antiken Autoren bestätigt. Rosen bäum und Lomeier
haben wohl mit Recht aus Priap. XXX auf den Gebrauch des
Waschens nach dem päderastischen Akte geschlossen. Für die Mund-
unzucht bezeugt die nachträghche Reinigung mit Wasser Marti al
11, 50.
Bisher sehr wenig beachtete Stellen über die Beziehung
der Mundspülung zur Unreinheit, oder vielleicht auch Krank-
heit finden sich bei Catull. So heisst es Carm. 99 Vers 7 — 10:
Nam simul id factumst, multis diluta labella
Abstersi guttis omnibus articulis,
- 655 -
Ne quicquam nostro contractutn ex ore maneret,
Tamquani conmictae spurca saliva lupae.
Das Gedicht ist an Juventius gerichtet, dem Catull einen
Kuss geraubt. „Sobald dies geschehen war, da spültest du mit vielen
Tropfen die Lippe ab und wischtest sie ab mit allen Fingergliedern,
damit nichts von meinem Munde, sich setzend, haften bliebe, gleich-
sam als wäre es der unflätige Speichel einer bepissten (wohl = be-
schmutzten) Dirne 1).
Ganz ähnlich heisst es im Carmen 77, 7 — 8:
Sed nunc id doleo, quod purae pura puellae
Savia conminxit spurca saliva tua.
Der Dichter denkt wohl in beiden Fällen bei dem Ausdrucke
,, spurca saliva" an die Mundunzucht der Fellatrix (Carm. gg) und des
Fellators (Carm. 77), wodurch der Kuss eines solchen Individuums
unrein wird und den Geküssten befleckt („conmingere"). Deshalb ist
eine sofortige Reinigung des Mundes nach einem solchen Kusse
notwendig. Ob hierbei mehr der Gedanke an eine Mundkrankheit
massgebend ist oder der rein ästhetische Widerwille prävaliert, bleibt
zweifelhaft.
Merkwürdig ist jedenfalls der Schluss des Carm. 97 des Catull, wo der Mund
eines Fellators als ebenso abschreckend wie der Hintere eines kranken Henkers bezeichnet
wird. Das auch sonst recht interessante Gedicht lautet :
Non (ita me di ament) quicquam leferre putavi,
Utrumne os an culum olfacerem Aemilio.
Kilo mundius hoc, niloque immundior ille.
Verum etiam culus mundior et melior:
Nam sine dentibus est: dentes hoc (seil, os) sesquipedales,
Gingivas vero ploxeni habet veteris,
Praeterea rictum qualem diffissus in aestu
Meientis mulae cunnus habere solet.
Hie futuit multas et se facit esse venustum,
Et non pistrino traditur atque asino ?
Quem siqua attingit, non illam posse putemus
Aegroti ailum lingere carnificis ?
,,Ich war nicht der Meinung, dass es etwas ausmache, ob ich beim Aemilius den
Mund oder den Hintern witterte. Jener ist um nichts reiner, dieser [seil, der Hintere] um nichts
unreiner, ja der Hintere ist sogar reiner und besser. Denn ihm fehlen die Zähne, jener hat
sechsellenlange Zähne und hat das Zahnfleisch eines alten Wagenkastens, ausserdem einen
Rachen (eigentlich ein ,, Maulaufsperren"), wie ihn der cunnus eines pissenden Ä[aaUiers zu
haben pflegt, der in der Hitze auseinandergetreten ist. Dieser hat viel Geschlechtsverkehr
ausgehalten und behauptet, er sei anmutig, und er soll nicht der Stampfmühle und dem
i) Diese sowie die folgenden wortgetreuen Uebersetzungen verdanke ich der Liebens-
würdigkeit des Herrn Dr. phil. W. Schonack.
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(den Malstein ziehenden) Esel überliefert werden? Wenn diesen (seil, den Mund) eine be-
rührt, dürfen wir da nicht glauben, sie könne ebenso gut den Hintern eines kranken
Schinderknechts belecken ?"
Hier wird, wie so oft bei den Alten, das Ekelhafte und Unverständliche einer
perversen Leidenschaft als etwas Krankhaftes aufgefasst und mit einer körperlichen Krank-
heit verglichen.
War die Sitte des täglichen Bades sicher ein bedeutendes Hemmnis
für die Verbreitung venerischer Krankheiten, so darf nicht verschwiegen
werden, dass das antike Badewesen als Bestandteil des allgemeinen
Genusslebens ^) vielfach auch im entgegengesetzten, begünstigen-
den Sinne wirken konnte.
Früher hatte man eine Trennung von Männern und Frauen in den Bädern vor-
genommen, teils durch Einrichtung besonderer Abteilungen für jedes Geschlecht in der-
selben Badeanstalt (Varro, de ling. latin. 8, 48; 9, 64)'-), teils durch Baden der beiden
Geschlechter zu verschiedenen Zeiten (Vormittags für Männer, Nachmittags für Frauen)^).
So sehen wir auf den griechischen Vasenbildern Frauen und Männer getrennt baden'*).
Trotzdem kamen auch schon bei dieser vollständigen Trennung sexuelle Beziehungen vor,
die in den Frauenbädern teils durch mitgenommene Sklaven''), teils durch die auch in Frauen-
bädern beschäftigten Bademeister und Badediener vermittelt wurden''). Umgekehrt gab es
auch weibliche Badegehülfen im Männerbade, die den Männern nicht selten arg zusetzten').
Von einer eigentlichen Unzucht in den Bädern kann man erst seit der Zeit sprechen,
wo die gemeinschaftlichen Bäder (,,balnea mixta", Lamprid., Alex. Sever. 24,
drSQoyvva loviQa, Anthol. Pal. IX, 783) für Männer und Frauen eingeführt wurden.
Dies geschah in Rom durch Agrippa im Jahre 32 v. Chr. (Dio Cass. XLIX, c. 43), von
wo diese gemeinsamen Bäder in der Kaiserzeit sich über das ganze Imperium verbreiteten
und auch in den hellenischen Ländern üblich wurden (Plutarch, Cato major, c. 39).
i) So bei Petron., Sat. 72: immo iam coeperam etiam ego plorare, cum Trimalchio
'ergo' inquit 'cum sciamus nos morituros esse, quare non vivamus? sie vos felices videam,
coniciamus nos in balneum, meo periculo, non paenitebit.
2) Die yvvaixeia &6kog der Papyri. Vgl. Sudhoff, Aerztliches aus griechischen
Papyrusurkunden, S. 88.
3) Vgl. Friedländer, a. a. O. III, S. 149.
4) Vgl. solche das Treiben in den Frauenbädern illustrierende BUder bei Sudhoff,
Aus dem antiken Badewesen, S. 62 — 63, 68, 69.
5) Martial, VII, 35; Claudian., I, 106.
6) Sudhoff führt den Badepapyrus aus Magdöla vom Jahre 220 v. Chr. an, wo
ein männlicher Parachyt im öffentlichen Frauenbade erwähnt wird („Aus dem antiken Bade-
wesen'S S. 49). — Im Talmud gehört der Bademeister, ballän {= ßalavEvg) ,,zur Klasse
der Menschen, die beruflich auch mit Frauen zu thun haben und deren Trieb daher böse ist".
Vgl. Preuss, a. a. O. S. 13. — Welche zweifelhafte Rolle auch schon damals männliche
Masseure in Frauenbädern gespielt haben, erhellt aus Juvenals drastischer Schilderung
der lasciven Manipulationen eines solchen ,,aliptes" (Juvenal., VI, 421 — 423).
7) Charakteristisch hierfür ist das folgende Epigramm der Anthologia Palatina (V,
82, ed. Dübner, Bd. I, S. 74):
'Q ooßaQTj ßaläviaon, ri ör) jiots fi'sxjivga loveig;
TiQiv f.CajioÖvoaoOai, zov nvQog algd'ävofxai.
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Die „mulieriim balineas cum viris lavantium" geisselt Plinius (N. bist., XXXIII, 12),
Quintilian betrachtet es als ,,signum adulteiae lavari cum viiis" (Inst, orator., V, 9, I4),
Ovid (Ars amat., III, 639 — 640) deutet das unzüchtige Treiben bei diesen gemeinsamen
Bädern an. Deutlicher äussert sich Martial (III, 51; III, 72; VII, 35; IX, 33; XI, 75)
über ihren wahren Zweck, wobei seine Bemerkung für unser Thema von besonderem In-
teresse ist, dass man im Bade ausgiebige Gelegenheit habe, den Partner nackt zu sehen und
etwaige Körpcrfehler zu sehen (vgl. besonders Epigr. III, 72; auch III, 51). Von
Heliogabalus berichtet Lampridius, dass er jederzeit mit Mädchen zusammen badete
(Heliog., c. XXXI) und dass er und seine Freunde einmal zwischen jedem der zahlreichen
Gänge eines Gastmahls sich an einem solchen balneum mixtum ergötzten (ibid., c. XXX).
Schon zu Martial's Zeit bekamen auch die Prostituierten, sogar die gewöhnlichsten
Strassendirnen Zutritt zu den Bädern (Mart., III, 93, 15), weshalb viele Badeanstalten bald
nur noch als eine besondere Art von Bordellen betrachtet wurden (Lamprid., Heliogabal. 26;
Tacit., bist., 3, 83). Zwei Epigramme der Anthologia Palatina (IX, 621 u. 622; Dübner
II, 126) erwähnen dieses Treiben der Prostituierten in den Bädern und schildern, wie die
Scharen der Liebhaber die Dirnen nach dem Bade erwarten, deren hier reichlicher Verdienst
harrt. Aus Epigramm 622 scheint hervorzugehen, dass gewisse Badeanstalten für das Ein-
trittsgeld ausser dem Bade auch die Dirne lieferten. (Vgl. über die Prostitution in den
Bädern auch Ammian. Marcellin., XXVIII, 4).
Trotz mehrfacher Verbote in der Kaiserzeit durch Hadrian (Dio Cass., LXIX, 8;
Spartian., Hadr., c. 18), Marcus Antoninus (Capi tolinus, M. Antonin., c. 23),
Alexander Severus (Lamprid., AI. Sev., c. 24) erhielt sich die Sitte des gemeinsamen
Badens, die noch von Clemens Alexandrinus (Paedag., III, 5, § 32, p. 272 Pott) und
Cyprianus (De habitu virginum in: Migne, Patrologie, Bd. IV, col. 471) scharf ver-
urteilt wird ').
Was die Reinheit des Badewassers betrifft, so wurde zwar
sowohl bei den Griechen als auch bei den Römern für ständigen
Zufluß frischen Wassers in die Badewannen, Bassins gesorgt, auch
häufig die unmittelbare Waschung unter Duschen und Wasseraufläufen
vorgenommen. Dennoch badeten nicht selten mehrere Individuen in
derselben Badewanne (Mart. II, 70), und von dem älteren römischen
Bade sagt Seneca (Epist. 86, g): non subfundebatur aqua nee recens
semper velut ex calido fönte currebat, nee referre credebant, in quam
perlucida sordes deponerent. Die neuesten Ausgrabungen in Perga-
mon deckten das Badezimmer des Oberen G3^mnasions auf, mit sieben
grossen Marmorwaschbecken. Über jedem war ein Wasserauslauf
angebracht, während durch alle sieben Becken das gebrauchte Wasser
hindurchlief und erst beim letzten Rinnenbecken zum Abflusskanal
abgeleitet wurde. Sud hoff'*) führt noch weitere Beweise zur Recht-
fertigung seiner Meinung an, dass man zu der Reinheit des Wassers
i) Auch im alten Aegypten war das gemeinsame Baden Brauch, wie ein bei Sud-
hoff (Aerztliches aus Papyrusurkunden, S. 130) abgedrucktes Liebeslied aus der Zeit der
19. Dynastie bezeugt.
2) Aus dem antiken Badewesen, S. 53 — 54.
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in dem gemeinsamen Luter kein rechtes Vertrauen zu fassen vermöge.
Doch ist es nicht ausgemacht, ob diese Zustände die Regel waren.
Dagegen spricht die obige Aeusserung Senecas, die beweist, welch
grossen Wert man in der Kaiserzeit auf die Reinheit und Durch-
sichtigkeit des Badewassers legte. Im grossen und ganzen können
wir daher dem Urteil Birts beistimmen: „Wie vieler Hilfsmittel der
öffentlichen Hygiene — Vakzination, Desinfektion — , deren wir uns
heute erfreuen, hat das Altertum entbehren müssen! Aber das
Bäderwesen trat an ihre Stelle; es war bestimmt, durch Ver-
breitung der Sauberkeit die Volksgesundheit in allen Volksschichten
zu garantieren. Denn es handelte sich hier thatsächlich um Volks-
bäder für alle" ^).
Schon Rosenbaum (a, a. O. S. 374) hat darauf aufmerksam
gemacht, dass in Verbindung mit dem täglichen Bade auch das darauf
folgende Salben und Einölen des Körpers bei den Alten als ein
wertvolles Prophylaktikum gegen venerische Ansteckung betrachtet
werden muss, wie ja auch heute noch die Einfettung der Genitalien
vor dem Coitus als ein Schutzmittel gegen Infektion in Anwendung
gezogen wird-). Die Sitte der Einölung des Körpers nach dem Bade
war so allgemein, dass, wie Ulrich von Wilamowitz-Moellen-
dorff sich ausdrückt^), die athenischen Jünglinge das Oelfläschchen,
die Lekythos, genau so regelmässig bei sich trugen, wie wir das
Portemonnaie. Schon bei Homer kommt die Oelfiasche {fj kiqxv&og)
und das Salben nach dem Bade vor^); erst später aber, wohl unter
orientalischem Einflüsse''), wurde diese Sitte ein unentbehrliches Ele-
ment des Lebensgenusses, während sie früher mehr aus hygienischen
Rücksichten geübt worden war.
Auch hier hat sich eine reichhaltige griechisch - lateinische Terminologie entwickelt,
von der wir nur das Wichtigste erwähnen: rö /livqov (zuerst bei Archilochos, Fragm.
30 ed. Bcrgk p. 543, zitiert von Athen. XV, p. 37 p. 688c), die Salbe, Salböl; o fj.vQ-
srpög, (AVQonoiög (Plut. Pericl. i; PoU. VII, 177; Athen. XIII, p. 608 A), Salben-
fabrikant, Salbenkoch; 6 ixvQOJKÖXrjg (Xen. conv. 2, 4; Athen. XIII, 6i2e; XII. 552ff.),
Salbenhändler; x6 ^vqojiwXeTov (Plut., Timol. 14; Lys. 24, 20), Salbenverkaufsbude;
[.ivQv^eiv (Aristoph., Lysistr. 938; Aristoph., Plut. 529; Herod. i, 195), salben;
äkEicpEiv (Oreibas. III, 170; Thucyd. i, 6; Homer., Od. 6, 227; 12, 45; Plut.
i) Theodor Birt, Zur Kulturgeschichte Roms, .S. 84.
2) Vgl. mein Werk ,,Das Sexualleben unserer Zeit", 7. — 9. Aufl., Berlin 1909, S. 426.
3) U. von Wilamowitz-Moellendorff, Antigonos von Karystos S. 268.
4) Vgl. Od. 6, 79 — 80: 8<ÖK£V 8e XQVOEr) iv Iriav&q) vyqov e)miov, sicog yvTXöiaaixo
ovv d(xq?iji6?^oiai yvvai^iv.
5) Plinius (Nat. hist, XIII, l) nennt die Perser als Vorbilder der Griechen und
Römer.
— 659 —
Them. 3), salben; x6 ä).sii.ii.ia (Oreibas. III, 178; Athen. XII, p. 553c; Plat., Tim.
50e; Plut., Lyc. 16) die Salbe, das Oel; z6 a).ei:iiTrjQiov (Theophr., de sudore 28)
Gemach, Anlage zum Salben im Bade und der Palästra'j; 6 äXsiJiTijg, aliptes (Aristot.,
Eth. 2, 6, 7 ; Pol. 27, 6, i; Plut., de tuend, san. 18, p. 133 B; Corp. Inscr. Graec. I,
no. 138311.; Cicero, ep. i, 9, 15; Juven. VI, 422), der Einsalber; o lazQa}.Ei7tz7]g ,
iatraliptes (Plin., ep. lO, 5, i; 10, 6, i), ein Arzt, der durch Salben heilt; >; larga-
?.siJiTi>irj, seil. XEyvrj, iatraliplice (Plin., nat. hist. 29, 2), die Kunst, durch Ein-
salben zu heilen; fj ä?.Eiyjcg (Herod. III, 22), das Salben; ygistv, XQiEa{^ai (Homer.,
II. 23, 186; Od. 4, 252; 3, 466 u. ö.; Oreibas. III, 172), salben; zu -/gTofia (Xen.,
conviv. 2, 4; Aesch, Agam. 94), Salbe, Salböl; i) ygiaig (Oreibas. III, 172), das
Salben; rö iXaiov (svcöÖEg , Hom., Od. 2, 333; nodoEV, II. 93, 186; Oreibas. III, 172),
das Salböl; iXatöco (Pind., fragm. 274), mit Oel salben; ro iXaio&ioiov (Vitruv.
5, II, 2), das Sal!)zimmer in der Ringschule und im Bade-); ^ Xrjxv&og (Hom., Od.
6, 79; Aristoph., Av. 1588; Plat., Charm. 161 e; Aristot., Eth. 4, 5), Oelf lasche ^) ;
rö Xrjxv&iov (Aristoph., Ran. 1200 ff.), Oelfläschchen; o Xrjxv&OJioiög (Strab. XV,
717; Poll. 7, 182), Oelflaschenfabrikant; o Xt]HV&0Ji(oX7]g (Poll., 7, 182), Oelflaschen-
verkäufer; d dXdßaozgog, z6 nXdßaazQov, alabasler, alabastrum (Herod. 3, 20:
Plut., Timol. 15; Theoer. 15, 114; Plin., nat. hist. 13, 19), oben spitz zulaufendes
Salbfläschchen ; z6 vaQ&t'jX lov , narthecium (Cicero, de fin. 2, 22), Salben- und
Arzneikästchen.
Ungere (Cels. I, 3), salben; unguenlum (Cels. III, 18; Senec, ep. 86, 12
und 13), Salbe, Salböl; unctio (Cels. I, 2, I, 3, II, 14, IV, 15; Senec, ep. 53, 5), die
Salbung; unctor, reunctor (Senec, ep. 123, 4; Senec, fragm. 36; Plin., nat. hist.
29, 2), der Salber; unctorium (Plin., ep. 2, 17, 11), Salbenzimmer im Bade; unguen-
tarium (Plin., ep. 2, 11, 23), das Salbengeld; unguentarius (Senec, ep. 88, 18),
Salbenhändler; unguentaria taberna (Senec, ep. 108, 4), Salbenverkaufsbude; ungu-
entati (Senec, fragm. 114), die Gesalbten; oleum (Senec, ep. 15, 3; 53, 5), Salböl.
Wie erwähnt, war die Einsalbung oder besser Einölung^) mit
meist wohlriechenden Salben in der späteren Zeit mehr ein Mittel des
Genusses als der Hygiene geworden, so dass ein Mann wie Seneca
abfällig von den „homines inter oleum et vinum occupati" spricht
(Ep. 15, 3) und sich selbst der Salben enthielt (Ep. 108, 16); wie die
Essener, von denen Josephus (Bell, judaic. II, 8, 3) sagt: „Oel halten
sie für etwas Verunreinigendes, und wenn einer ohne seinen Willen
gesalbt worden ist, so wischt er seinen Leib ab; denn in rauhe Haut
setzen sie eine Ehre". Aus ähnlichen Gründen sollen die Lacedämonier
früher die Salbenhändler ausgewiesen haben (Athen. XV, p. 686 f.;
1) Als eignes stattliches Gebäude erscheint das dXEin.zriniov auf einer Inschrift in
Smyrna, Corp. Inscr. Graec. no. 3148, Z. 16 u. 20.
2) Vgl. über das Elaeothesium A. Rieh., A Dictionary of Roman and Greek Anti-
quities, London 1860, S. 255 und Abbildung, ebenda S. 142.
3) Hiermit hängt wohl das Wort .,celuch itha" im Talnuid zusammen (j. Schebi
VIII, 38a, 26), das Preuss a. a. O. S. 16 als ,,Oelflacon" erwähnt.
4) Dass es sich meist um Salben von sehr flüssiger Konsistenz gehandelt hat,
bemerkt schon Hans Locher, Die chirurgischen und medizinischen Krankheiten des
Schädels und Gehirns. Erlangen 1869, T. I, S. 219.
— 66o —
Senec, Nat. Quaest. IV, 13, g). Allerdings meint Seneca an an-
derer Stelle (Ep. 80, 3), dass der Körper viel Salböl nötig habe, und
dass dieses eine Art von Stärkungsmittel sei („ut corpus unctione
recreavi", ep. 53, 5). Jedenfalls wurde in der Kaiserzeit das Ein-
salben zwei bis drei Mal am Tage wiederholt (Senec., ep. 86, 12)
und es wurde in Verbindung mit den Bädern, der Massage
und der Gymnastik zu einer speziellen Heilmethode ausgebildet,
der „ars iatraliptice", als deren Erfinder Plinius (Nat. hist. 29, 2)
den Herodikus (Prodicus?) von Selymbria nennt. Der „aliptes"
wird bei Celsus (I, i: sanus homo, qui et bene valet, et suae spontis
est, nullis obligare se legibus debet; ac neque medico, neque
alipta egere) dem Arzte gegenüber gestellt'), war also wohl meist
ein Nichtarzt, der vielfach überhaupt die rationelle Erziehung zu über-
wachen hatte 2).
Die Thätigkeit des Jatralipten war eine sehr umfangreiche und
bedeutende, seitdem die einst von Archidamos aufgeworfene Frage,
ob die Einreibung {rglyng, frictio)'^) trocken, als sogenannte ^rjQOTQißi'a
oder mit Oel vorgenommen werden solle, zu Gunsten der letzteren
Methode schon von seinem Sohne Diokles von Karystos und
später besonders ausführlich von Galen beantwortet wurde '). Diokles
war wohl auch derjenige Arzt, der zuerst die Einsalbung am frühen
Morgen zu hygienischen Zwecken empfahl ^). Später wurde die
Salbung in eine innige Verbindung mit der Gymnastik, mit dem
Bade und mit dem Geschlechtsverkehr gebracht. Man unterschied
eine präparatorische {nuQaoxevaotixri igTipig, Galen VI, 117, 122;
Oreibas. I, 470) und eine apotherapeutische Salbung und Massage
{äjioi^egajievzixij tq., Galen VI, 116, 122; Oreibas. I, 483, 488).
Wie diese prophylaktische und hygienische Methode auch
beim Coitus in Anwendung gebracht wurde, hat Galen aus-
führlich geschildert (Gal., de sanit. tuenda III, c. 11 — 12, ed. Kühn,
Bd. VI, S. 221 ff.). Dass in der That bei Hellenen und Römern
i) Aehnlich Cicero, ep. ad fam. I, 9, 15: vellem non solum salutis meae quem-
admodum niedici, sed ut aliptae, etiam viriuin et coloris rationem habere vokiisscnt.
2) Im Corp. Inscr. Latinar. III, 2, 110. 1434 wird ein äXstjirrjg jiaidcov Kaiaagog
erwäiint.
3) Die XQixjJig, frictio, Einreibung, Massage ist von dem blossen Ueberslrcichcn mit
Salbe, der ;^ßro«?, unctio, wohl zu unterscheiden, was schon Celsus (II, 14) ausdrücklich
hervorhebt: Inter unctionem autem et frictionem multum interest.
4) Vgl. M. Wellmann, Die Fragmente der sikelischen Aerztc Akron, Philistion
und des Diokles von Karystos, Berlin 1901, .S. 67.
5) Oribasius, ed. Bussemaker et Daremberg, Bd. III, S. 169. Vgl. auch Well-
mann a. a. O. S. 178.
— 66i —
reichliche Einölung vor dem Coitus schon früh übhch war, ersehen
wir aus dem „Poenukis" (III, 3) des Plautus, wo der Kuppler Lycus
dem Collybiscus ausser dem Mädchen auch eine überreichliche Ein-
ölung verspricht:
Ibi te replebo usque unguentum eccheumatis.
Quid multa verba? faciam, ubi tu laveris,
Ibi ut balneator faciat unguentariam.
Wir ersehen daraus, dass auch in den Bordellen, dem Haupt-
herde der venerischen Krankheiten, die Einsalbung vor und nach
dem Coitus in reichlichstem Maasse vorgenommen und dadurch als
ein bedeutsames Prophylaktikum der venerischen Ansteckung regel-
mässig wirken konnte.
Als eine besondere P'orm der Reinlichkeit erwähnt Rosenbaum (S. 370—375)
noch die künstliche Enthaarung, yii?.cooig, o nagazikfiög , jiagatikkco , djto-
ziXXoi (Aristoph., Lysistr. 89, 151, 578; Ran. 516; Eccles. 724; Athen. X, p. 442a,
XIV, p. 638 f. u. ö.), depiiatio, depilare, pilare, vellere, devellere (Marl. IX,
28; II, 62; XII, 32; X, 90; Sueton., Doniitian. 22 u. ö.). Diese Depilation wurde
entweder mit Haarzangen (volsella, Mart. IX, 27, 5; forceps adunca, Pers. IV,
40; xvfjazQOV aidoiov, Edict. Dioclet. XIII, 7; rgi^o^aßig, zQixoXdßiov, tQixo?Mßi-
810V, vgl. Sudhoff, Aerztliches aus Papyrusurkunden, S. 96) oder mit heisseni Harze oder
Pechpflaster (resina, Plin., nat. hist. XIV, 20, Mart. XII, 32, davon resinare,
Juven. VIII, 114, 6 ÖQWjia^, dropax, Gal. VI, 416, Mart. III, 74, X; 65, öqw-
TiaxiCsiv, Luc, Demon. 50, z6 yjilco&Qov, psilothrum, Galen. XI, 826, XII,
450 ff., XIV, 142, 394; Mart. III, 74; Senec, Controv. 7 praef. § 3) vorgenommen,
war hauptsächlich bei Frauen üblich, während sie bei Männern als Zeichen der Effemination
galt (Plin., nat, hist. XIV, 20: pudelque confiteri maximum jam honorem eins esse in
evellendis virorum corpori pilis) und hauptsächlich bei Homosexuellen gebräuchlich war.
Uns interessiert natürlich vor allem die Depilation der Schamhaare. Ueber deren
Bedeutung für die Verhütung venerischer Ansteckung äussert sich Rosenbaum (a. a. O.
S. 370) folgen dermassen : ,,Da die Haare bekanntlich eine grosse Neigung haben Feuchtig-
keiten an sich zu ziehen und festzuhalten, so werden sie dies auch mit den gesunden und
kranken Genitalsekreten thun, wenn sie mit ihnen in Berührung kommen und diese Sekrete
werden um so leichter nachteilig einwirken als jedes Haar zugleich mindestens von zwei
Hautdrüsen begleitet wird, welche zum Teil einen gemeinschaftlichen Ausführungsgang mit
ihm haben und an den Stellen, wo sich häufiger und starker Haarwuchs, eine bedeutend
erhöhte Thätigkeit entwickeln, welche sie ohnehin in heissen Ländern zeigen."
Dass diese Form der örtlichen Depilation in der That eine Beziehung zum Ge-
schlechtsverkehr hatte, beweist Epigramm X, 90 des Martial:
Quid vellis vetulum, Ligia, cunnum?
Quid busti cineres tui lacessis?
Tales munditiae decent puellas.
Hieraus ersehen wir, dass die Entfernung der Schamhaare nur bei den Frauen üblich
war, die noch sexuellen Verkehr pflegten. Deshalb ruft der Dichter der alten Ligia zu:
Erras si tibi cunnus hie videtur,
Ad quem mentula pertinere desit.
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Plinius (nat. bist. 29, 8) geisselt die ,,piIoriim eviratio instiluta resinis eorum
ilemque pectines in feminis quidem publicati" als „Ines moruin" und als eine Er-
findung der griechischen Aerzte, vor denen schon der alte Cato gewarnt habe.
Es scheint also auch die griechische Medizin die Depilation der Genitalien für den Ge-
schlechtsverkehr empfohlen zu haben, da Plinius sie zusammen mit dem Ringkampf, dem
Salben des Körpers, den heissen Bädern und Brechmitteln als Bestandteile der ihm so ver-
hassten griechischen Hygiene nennt. Dass die Enthaarung der weiblichen Geschlechtsteile
altgriechischer Brauch war und hier ebenfalls eine sexuelle Bedeutung hatte, geht aus ver-
schiedenen Aeusserungen des Aristophanes hervor, z. B. Lysistr. 149 — 152:
st yäg ?ca&rjfts&' Evdov ivTsigi/nf^ievai
xäv zoTg )['-''^wvioioi zoTg afiogyivotg
yv[A.val jiaQioifisj', dsi.xa JiaQazEiil/iEvai
arvoivz' äv ävdgeg Hiijud v fioiev jilexovv.
Aehnlich Eccies. 12, Lysistr. 89, Ran. 516.
Es ist wahrscheinlich, dass die Hellenen diese Sitte aus dem Orient überkommen
haben, wo sie sich namentlich in Aegypten , Indien und Persien bis auf den heutigen
Tag erhalten hat ').
Als eine wirksame prophylaktische Maassnahme muss ferner die
Beschneidung, circumcisio, jieqitojui]'-) angesehen werden, die
zwar eine rein orientalische Sitte war, aber doch auch indirekt für
die gesamte griechisch-römische Kulturwelt, die so viele Beziehungen
zum Orient hatte, eine grosse Bedeutung gewann. Der alte Streit,
ob das ursprüngliche Motiv der Beschneidung als Volkssitte ein reli-
giöses oder ein hygienisches gewesen sei, geht uns hier nichts an.
Es sei nur darauf hingewiesen, dass nach Buschmann wesentlich
vier Motive für die Beschneidung in Betracht kommen: i. Erleich-
terung und Erhöhung der Sexualthätigkeit und dadurch bewirkte
grössere Fruchtbarkeit; 2. Opfer eines Teiles des Genitale, um den
Segen der Götter und Erlösung vom Leiden zu gewinnen; 3. Reli-
giöses und nationales Merkmal und Zeichen der Unterwerfung unter
einen Despoten; 4. Zur Erhaltung der Gesundheit und als Pro-
phylaktikum. Nur der letztere Punkt kommt für uns in Betracht.
i) Näheres bei Otto Stoll, Das Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie, Leipzig
1908, S. 227 ff., wo auch das Motiv der besseren Reinhaltung der Genitalien hervorgehoben
wird.
2) Vgl. Rosenbaum a. a. O. S. 375 — 383 (dort ist auch die ältere Literatur ver-
zeichnet); ferner O. Stoll a. a. O. S. 499 — 531; H. Welcker, Untersuchung des Phallus
einer altägyptischen Mumie nebst Bemerkungen zur Frage nach Alter und Ursprung der Be-
schneidung (Archiv f. Anthropologie 1877, Bd. X, Heft 1/2, S. 123 ff.); Th. Pusch-
mann, Alter und Ursachen der Beschneidung (Wiener med. Presse 1891, Nr. 10 — 12);
J. Preuss, Die Beschneidung nach Bibel und Talmud (Wiener klin. Rundschau 1897,
Nr. 43 — 44); Carl Alexander, Die hygienische Bedeutung der Beschneidung, Breslau
1902; K. Sudhoff, Aerztliches aus griechischen Papyrusurkunden, Leipzig 1909, S. 165
bis 180 (enthält auch die neueste Literatur).
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Seine Bedeutung wurde schon im Altertume erkannt. Die
klassische Stelle hierfür ist Philo, De circumcisione (Opera, ed. Tho-
mas Mangey, London 1742, Bd. II, p. 211). Er nennt unter den
Beweggründen für die Beschneidung vor allem die „Verhütung
einer heftigen Krankheit und eines schwer zu heilenden
Leidens, welches man Anthrax nennt, eine Benennung, die,
wie ich glaube, von dem darin glimmenden wütenden Brennen her-
genommen ist, und leicht bei denen entsteht, welche ihre Vor-
haut haben. Zweitens wegen der für die Priesterkaste erforderlichen
Reinheit des ganzen Körpers. Daher scheren auch die Priester in
Aegypten ihren Körper; denn es sammelt sich und zieht sich etwas
sowohl unter den Haaren als auch unter der Vorhaut zusammen,
was entfernt werden muß". (Uebersetzung von Rosenbaum) ').
Unter „Anthrax" ist der ganzen Schilderung nach hier wohl
kaum etwas anderes zu verstehen als ein rein örtlicher gangränes-
cierender Schanker, der wegen der entzündlich - alcerösen Verände-
rungen als ävd^oa^, wegen des serpiginösen, fortschreitenden Charak-
ters als VOJU7], noma bezeichnet wurde (rd o}]7iedovc6öi] tcöv iXxcöv^
orav E7iivejLir]Tai rovg tieql^ jojtovg, dvojud^ovoiv löicog vofidg,
Galen. XIII, 851, ed. Kühn). Der Midrasch erwähnt die „noma
am Fleische" (i. e. am Penis), wegen der „der Arzt die Beschnei-
dung anordnet. Es ist unzweifelhaft das griechische vojlu'j (lat. noma).
Die Gemara kennt ausserdem noch eine Beschneidnng des Heiden,
also des Erwachsenen, weg'en ,,moräna". Das Wort wird sonst im
Talmud als Bezeichnung eines Wurmes gebraucht und hat vielleicht
auch hier diese Bedeutung 2).
Dass in Südeuropa und im Orient Geschwüre sehr leicht phagedänisch und ser-
piginös werden, hat schon Rosen ha um (a. a. O. S. 318) hervorgehoben. Man ver-
gleiche darüber auch die Beobachtungen von Wem ich ^).
i) "Ev fisv, x*^?^^Jii}? vöoov xal Svoidrov jiädovg anaXXayip' , fjv ävßgaxa xaXovaiv,
ano xov xaieiv h'tvq^ofCEvor; <bg oi/iiac, lavTtj? Tijg JiQooijyoQiac TV^orzog, rjzt? ov xoXw-
XEQOV xoTg rag äxooTToa&iag Ey^ovaiv syyivEzo' Aevzeqov, zrjv 81' oXov zov ow^iaroi; y.adu-
QÖzrjza TiQog zö aQfiozzeiv zä^si lEQCOfiEVi]. IJag' o xal ^vQÖJino xa awfiaxa jtqoovjieq-
ßdXXovzE? Ol EV AlyvjTzcü zü)v lEQECov. vjioai^XXEyEzo yäg xal vjzoozsXXei xal ßgi^l xal
Tzoo^iaig svia xcöv öcpEiXövxwv xadaiQEodai.
2) J. Preuss, Die Beschneidung nach Bibel und Talmud, S.-A., S. 13. Im Mi-
drasch (Genes, r. 46, fol. 95c) heisst es: Die Söhne des Königs Thalme hatten sich heim-
lich beschneiden lassen. Die Mutter, die von ihrem Manne nachträglich die Erlaubnis dazu
erlangen will, sagt ihm: ,, Deinen Söhnen ist eine Noma an ihrem Heische (Penis) aufge-
gangen, und der Arzt (rophe) hat angeordnet, dass sie beschnitten werden sollen".
3) A. Wernich, Artikel ,, Endemische und epidemische Krankheiten" in Eulen-
burg's Realencyklopädie, 3. AufL, Bd. VI, S. 650; vgl. femer J. L. C. Ziermann, Ueber
die vorherrschenden Krankheiten Siciliens etc., Hannover 18 19, S. 195.
— 664 —
Auch wirkt im südlichen Klima die dort meist sehr reichliche
Absonderung des Smegma als ein Irritament, das die Intaktheit der
Haut und Schleimhaut schädigt und durch Zersetzung Balanitis und
Ekzeme hervorruft und dadurch eine venerische Infektion ungemein
begünstigt. Ist die Vorhaut durch die Beschneidung entfernt worden,
so hört damit auch jene Absonderung auf und die Eichelschleimhaut
wandelt sich in eine derbe, allen Reizen und Infektionserregern weit
weniger zugängliche Haut um.
Welche Bedeutung dies für die venerische Ansteckung hat, ergiebt
sich aus folgenden von Alexander (a. a. O. S. 15) mitgeteilten Daten:
Aus einer Veröffenüichung des Städtischen Krankenhauses in Kopenhagen von
Haslund über die dortigen venerischen Erkrankungen ergiebt sich, dass von 891 in
einem Jahre dort behandelten Männern bei 140, also bei i / "/q, reine Vorhaut-
erkrankungen bestanden. Auf Grund der umfassenden Statistiken der berühmten Syphihs-
forscher Hutchinson, Fournier u. A. kommt E, II. Freeland zu der Berechnung,
dass das Primärsyphihd in 73 "/„ aller Fälle auf der Vorhaut oder in der Vorhautfurche
sitzt, d. h. also, dass in 7 3 7o sämtlicher zur Beobachtung gelangter Fälle die
Syphilisübertragung an der Vorhaut stattgefunden hat. Alexander fand sogar
i" 7 9°i\, seiner Fälle von geschlechtlichen Erkrankungen Affektionen der Vorhaut bezw.
den Ursprung der Erkrankung im Präputium. Freeland sah als Schiffsarzt im Orient von
den mit ihm in Berührung kommenden Matrosen die Kaskaren, die als Mohamedaner be-
schnitten sind, im Gegensatz zu der übrigen stark verseuchten Mannschaft
fast niemals an Schanker erkranken. Breitenstein hat 15 000 eingeborene be-
schnittene und 18000 europäische unbeschnittene Soldaten der holländisch-indischen
Armee gegenübergestellt, die unter gleichen örtlichen, sozialen und hygienischen Verhält-
nissen lebten. Von ihnen eikrankten nun im Jahre 1895: an Geschlechtskrankheiten
im allgemeinen lö^/^ von den beschnittenen, 41 "/o ^"" ^^^^ unbeschnittenen Soldaten!
An Syphilis 0,8 °/y von den ersteren, dagegen 4, 1"/^, also fünfmal so viel, von den
letzteren.
Wie also die Beschneidung sicherlich schon im Altertum als
ein vortreffliches Prophylaktikum gegen venerische Ansteckung ge-
wirkt hat, so steckte auch in dem uralten Aberglauben von der
Giftigkeit und Schädlichkeit des Menstrualblutes i) und dem daraus
resultierenden Verbote des Coitus mit einem menstruierenden Weibe
ein wahrer Kern, insofern erfahrungsgemäss gonorrhoische Prozesse
während der Zeit der Menses intensiver auftreten und reichlichere
Sekretion zur Folge haben -) und bei Chronicität der Krankheit während
der Menses sehr häufig akute Exacerbationen sich bemerkbar machen.
i) Vgl. hierüber J. Preuss, Materialien zur Geschichte der biblisch -talmudischen
Medizin, XVI. Die weiblichen Genitalien. In: Allgem. Medizin. Central-Zeitung 1905,
Nr. 5 ff., S.-A. S. 15 — 29; Ploss-Bartels, Das -Weib in der Natur- und Völkerkunde,
8. Auflage, Leipzig 1905, Bd. I, S. 458 — 475.
2) Vgl. E. Finger, Die Blennorrhoe der Sexualorgane, 4. Aufl., Leipzig- Wien 1896,
S- 325, 354-
— 665 -
§ 4'- Allgemeine medizinische Anschauungen der Alten
über die venerischen Krankheiten.
Indem wir uns nunmehr der Betrachtung der allgemeinen An-
schauungen des Altertums über die Geschlechtskrankheiten zuwenden,
haben wir zunächst die Behauptung Rosenbaum's zu prüfen, *dass
die griechischen und römischen Aerzte im grossen und ganzen keine
Gelegenheit gehabt hätten, wirkliche Erfahrungen über venerische
Krankheiten zu sammeln, weil die mit solchen behafteten Patienten
(männliche und weibliche) sich teils aus Scham, teils aus Angst lieber
an männliche und weibliche Kurpfuscher, Hebammen, Rhizotomen etc.
gewandt hätten. Diese Ansicht, die Rosen bäum aber nur für
Griechenland und Rom aufstellt, ist gänzlich irrig, was die rein
klinischen Erfahrungen betrifft. Wir werden sehen, dass gerade
diese den Aerzten in reichlichstem Masse zur Verfügung standen und
dass die medizinische Kenntnis der venerischen Affektionen sicher
eine bedeutend umfangreichere war als die ,, Erfahrung" der Laien.
Sind nicht auch heute noch gerade die sexuellen Leiden eine Lieb-
lingsdomäne des gesamten Kurpfuschertums? Wenden sich auch
nicht jetzt noch sehr viele Leute aus Scham und Angst zuerst an
Charlatane auf diesem Gebiete, bevor sie einen approbierten Arzt
konsultieren? Und doch köiuite Niemand daraus den Schluss ziehen,
dass letzterer weniger Erfahrung besitzt als der Quacksalber. Die
Sache ist vielmehr die, dass zu allen Zeiten und trotz der immensen
Fortschritte der Venereologie das Kurpfuschertum gerade Sexual-
leiden immer mit Vorliebe in den Bereich seiner Thätigkeit gezogen ')
und die wissenschaftliche Therapie in den Augen des Publikums ver-
leumdet und diskreditiert hat, zumal in der römischen Kaiserzeit, wo
das Interesse der Laien an medizinischen Dingen sehr gross war
und durch Schriften, wie diejenigen des Celsus, befriedigt wurde,
der doch die Bedeutung der wissenschaftlichen Medizin vollauf ge-
würdigt hat, im Gegensatze zum älteren Plinius, diesem typischen
Vertreter des Charlatanismus, wie aus seiner leidenschaftlichen und
gehässigen Verurteilung der medizinischen Heilmethode im Anfange
von Buch XXIX seiner Naturgeschichte hervorgeht-).
1) Vgl. über die sexuelle Kurpfuscherei mein „Sexualleben unserer Zeit", Berlin 1909,
s. 784-785-
2) Neuerdings sucht Raben hörst („Der ältere Plinius als Epitomator des Verrius
P^laccus", Berlin 1907) den Nachweis zu erbringen, dass der Encyclopädist V e r r i u s Flaccus
der Verfasser des Pamphletes gegen die medizinische Wissenschaft sei. Vgl. J. Ilberg,
A. Cornelius Celsus und die Medizin in Rom. In: Neue Jahrbücher für das klassische
Altertum, Leipzig 1907, Bd. XIX, S. 406 — 407.
— 666 —
Das Laienwissen über ärztliche Dinge ging überall auf
die Lehren der offiziellen Medizin zurück und ganz wie heute
lassen sich überall im medizinischen Volksglauben die Elemente der
wissenschaftlichen Heilkunde in Praxis und Theorie nachweisen.
Niemals haben Laien über irgend ein Gebiet der Heilkunde „mehr"
gewusst als die Aerzte selbst. Das gilt ganz gewiss auch für die
Geschlechtskrankheiten. Es ist hier nicht der Ort im einzelnen die
sehr interessante Geschichte der medizinischen Aufklärung
der antiken Laien weit durch Vorträge, Demonstrationen und po-
pulärmedizinische Werke darzustellen. Es seien nur einige wichtige
Punkte hervorgehoben, die beweisen, dass als hauptsächliche Quelle
dieser Aufklärung- die wissenschaftliche Medizin selbst in Betracht
kommt.
Schon in der älteren griechischen Medizin machte sich dieses Interesse der Laien an
der Medizin bemerkbar, wie Piaton's ,,Tiniaens" und die Schriften des Aristoteles be-
zeugen. Plutarch berichtet (Alcxandr. 8, i), dass Alexander der Grosse von Aris-
toteles für die Arzneiwissenschaft interessiert worden sei und diese nicht nur theoretisch
studiert, sondern auch praktisch in Krankheitsfällen bei seinen Freunden ausgeübt habe. In
Rom wurde die Medizin ein Gegenstand der allgemeinen Bildung [kyxvxhog Tiaidsia, oibis
doctiinae) und als solcher zuerst von Varro in seinen ,,Disciplinarum libri XIX" be-
handelt'). Und das berühmte Werk des A. Cornelius Celsus „De medicina" war nur
ein Teil einer grossen Encyclopädie, die den Titel „Artes" führte, mit der Landwirtschaft
begann-) und für das Laienpublikum berechnet war. Kurz nach Celsus trat der hervor-
ragendste Apostel der populären medizinischen Aufklärung auf, der unter dem Kaiser
Claudius lebende Athenaios, der Stifter der pneumatischen Schale. Er war der erste
energische Vertreter einer umfa-isenden hygienischen Aufklärung der Jugend. In seiner
Schrift jiSQi vyiEtrijg diaiirjg äussert er sich u. a. folgendermassen (bei Oribasius, ed.
Bussemaker et Daremberg, Bd. III, S. 164):
„Es ist für alle Menschen nützlich oder besser notwendig, dass sie von diesem Alter
(dem 14. Lebensjahre) an zugleich mit den anderen Wissenschaften auch die Heilkunde
sich zu eigen machen und ihre Vorschriften kennen lernen, damit sie in Bezug auf ihre
eigene Gesundheit sich selbst in vorzüglicher Weise beraten können. Denn es giebt beinahe
keinen Augenblick in der Nacht und am Tage, wo wir diese Kunst nicht nötig hätten,
beim Spazierengehen,- beim Sitzen, Salben, Baden, Essen und Trinken, Schlafen und Wachen,
kurz bei allem, was wir während unseres ganzen Lebens thun und ausführen, immer haben
wir die Medizin für eine gesunde und unschädliche Lebensführung nötig. Es ist aber zu
mühselig und unmöglich, über alle diese Dinge immer die Aerzte zu Rate zu ziehen."
Durch Athenaios angeregt vertritt Plutarch in den 'YyiF.ivu naQayyskfiara die
Ansicht, dass der Philosoph ausser der Geometrie, Dialektik und Musik auch den eigenen
Körper genau kennen müsse. Er sagt cap. 25: ,,Das ist doch wahr, dass Niemand ohne
Kenntnis der Beschaffenheit seines Pulses sein soll, da die Verschiedenheit hier bei jedem
Einzelnen gross ist. Auch soll Jeder die Mischung von Wärme und Trockenheit, welche
i) Vgl. Ilberg a. a. O. S. 381—382.
2) Vgl. Iwan Bloch, ,, Celsus" in: Puschmann's Handbuch der Geschichte der
Medizin, Jena [902, Bd. I, S. 416 — 417.
— 667 —
sein Körper besitzt, kennen, sowie die Dinge, deren Gebrauch seiner Natur nützlich oder
schädlich ist", und cap. i : ,, Unter den freien Künsten steht die Heilkunde keiner in Ab-
sicht auf das Glänzende, Treffliche und Angenehme nach, und denen, die sie lieben, verleiht
sie in der Gesundheit und dem Wohlbefinden eine reiche Belohnung".
Dass diese medizinischen Dilettanten, die (pMargoi, bisweilen mehr wussten als
unwissende Aerzte, largoP), die den Fortschritten der Wissenschaft nicht gefolgt waren,
darf nicht dahin generalisiert werden, dass die Laien überhaupt in der Medizin ebenso gut
oder besser beschlagen gewesen seien. Die (piUargoi waren doch immer nur vereinzelt
gegenüber der grossen Masse der in medizinischer Hinsicht gänzlich unwissenden tSiwrai
(Galen VII, 477). Aus der vorzüglichen Darstellung, die Iwan von Müller der popu-
lären Medizin der Kaiserzeit gewidmet hat^), geht hervor, dass dieses grosse Interesse des
Laienpublikums an der Medizin und den Streitigkeiten der medizinischen Sekten ein mehr
sekundäres, passives und theoretisches war. Die für diesen Zweck verfassten Kompendien,
für die die 'lazgiyJ] ovvayoiyi) des Menon das Vorbild war^), das Werk des Celsus und
ähnliche Schriften, geben immer die Anschauungen und Erfahrungen von Aerzten wieder!
Was nun die speziellen Erfahrungen der wissenschaftlichen Aerzte
auf dem Gebiete der Geschlechtskrankheiten betrifft, so werden wir
ja sehen, dass die gesamte antike Venereologie von ihnen ge-
schaffen wurde und nicht von den Laien, dass also nicht das
„Nichtwissen" der Aerzte die Ursache des völligen Schweigens über
die Syphilis sein kann. Wenn Rosenbaum ferner meint, dass die
Aerzte wegen der grossen Schamhaftigkeit der Patienten, beson-
ders der weiblichen, keine Gelegenheit gehabt hätten, die Geschlechts-
leiden genauer zu erforschen, so wird dieses Argument erstens da-
durch widerlegt, dass sie doch alle möglichen Leiden der Genitalien
gesehen haben müssen, da sie sie individuell beschreiben, und
zweitens wird es dadurch hinfällig, dass das zweifellos vorhandene
Schamgefühl, namentlich der Frauen'^), das ja auch heute noch ein
1) Das galt besonders von Landärzten, wie z. B. jenem Arzte, den Aulus
Gellius bei einer fieberhaften Erkrankung rufen liess und der den Unterschied von Vene
und Arterie nicht kannte und hierüber von dem anwesenden Freunde des Gellius, dem
Philosophen Calvisius Taurus belehrt werden musste. Auch Gellius will die Heilkunde
zu einem Zweige der allgemeinen Bildung gemacht wissen (Noct. attic. XVIII, 10).
2) Iwan V. Müller, Ueber die dem Galen zugeschriebene Abhandlung Üeq! tj/?
dgioTtjg aigeascog in: Sitzungsberichte der philosoph. u. histor. Klasse der Kgl. Bayer. Aka-
demie der Wissenschaften 1898, S. 53 — 63 (I. Die Popularität der medizinischen Ueber-
sichtslitteratur).
3) Ueber die früheren doxographischen Uebersichten medizinischer Lehren vgl. H.
Dl eis, ,, Ueber das physikalische System des Straten" in: Sitzungsber. d. kgl. preussischen
Akad. d. Wissensch. 1893, S. loi ff.
4) Beispiele hierfür bei Celsus (Prooemium S. 9, i ff. der Ausg. von Darem-
berg), wo es sich um die ,,verecundia" einer vornehmen Dame bei einem Gebärmuttervorfall
handelt, und bei Galen (XI, 341 u. XIV, 641 ff.), wo die an govg yvvaixsTo? erkrankte
Frau des Konsulars Flavius ßoethos sich vor den Aerzten schämt und zuerst die besten
Hebammen Roms zu Rate zieht, bis sie durch die Verschlimmerung des Leidens gezwungen
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 43
— 668 —
so grosses Hindernis für die rechtzeitige ärztliche Diagnose und
Therapie ist, wohl meistens überwunden worden ist ^), da wir von
zahlreichen Untersuchungen männlicher und weiblicher Geschlechts-
teile hören und die Anwendung des Mutterspiegels gang und gäbe
war. Auch konnte von einem die ärztliche Erfahrung einschränken-
den Schamgefühl doch nur bei freien Individuen die Rede''*) sein.
Bei Sklaven wurde keine Rücksicht genommen. Nicht bloss traten
Faustkämpfer, Fechter und Athleten nackt auf. Schon beim Ankauf
wurde der Sklave oder die Sklavin in völlig nacktem Zustande auf
einem drehbaren Gestelle, der catasta, oder auch einer Steinplatte
vom Kopfe bis zu den Füssen eingehend besichtigt.
Es hiess im allgemeinen: einen Sklaven von der Catasta („Staberius Eros suomet
aere emptus de catasta", Sueton., de grammaticis 13) oder auch von der Steinerhöhung
(„de lapide emptus", Cic. in Pis. 15; Plaut., Bacch. IV, 7, i") kaufen. Die Catasta
Hess sich im Kreise drehen, so dass der Sklave oder die Sklavin von allen Seiten geprüft
werden konnte:
Non te barbaricae versabat turbo catastae
(Statins, Silv. II, i, 72).
Der Käufer hatte das Recht, den Sklaven vollständig nackt zu sehen und genau zu
inspizieren und zu befühlen [ne qua vitia corporis lateant, wie Seneca sich aus-
drückt (Senec, ep. 80, 8 — 9)], was nöthig war, da die Verkäufer oft trotz Verbotes durch
ein Edikt der Aedilen, diese Körperfehler und Krankheitszustände des männlichen und
weiblichen Sklaven zu verbergen suchten (ibidem und Cicero, de officiis III, 17: sed etiam
in mancipiorum venditione fraus venditoris omnis excluditur, qui enim scire debuit de sa-
nitate, de fuga, de furtis, praestat edicto aedilium). In diesem Erlass der kurulischen
Aedilen hiess es: ,,Man soll Sorge tragen, dass das Verzeichnis von jedem einzelnen Sklaven
so (ausführlich) angefertigt sei, dass man daraus genau ersehen könne, an welcher Krank-
heit oder an welchem Gebrechen (quid morbi vitiive cuique sit) einer leide,
ob emer ein Ausreisser oder ein Landstreicher sei, oder überhaupt noch mit einer Strafe
im Rest stehe". Bei Gellius (Noct. att. IV, 2), der diese Stelle mitteilt, wird dann aus-
geführt, dass eine Krankheit sich mitunter auf den ganzen Teil des Körpers erstrecke, mit-
unter nur auf einen Teil des Körpers. Als Beispiel für das erstere wird „phthisis aut
febris", für das letztere „caecitas aut pedis debilitas" angeführt. Es ist interessant, dass
unter die „morbosi" auch Individuen mit geschlechtlichen Fehlern, wie Eunuchen
und Frauen mit angeborener (nativa sterilitas) oder erworbener Unfruchtbarkeit (at si
valetudo offendisset, exque ea viiium factum esset, ut concipere fetus non posset) gerechnet
wurden.
wird, verschiedene Aerzte, darunter auch Galen, herbeizurufen, Aeusserungen über das
weibliche Schamgefühl gegenüber Aerzten bei Herodot III, 133 und Euripides, Hippolyt.
293 ff. Vgl. auch Robert Fuchs, Geschichte der Heilkunde bei den Griechen in: Hand-
buch der Geschichte der Medizin von Neuburger-Pagel, Jena 1901, Bd. I, .S. 190.
i) Vgl. oben S. 531 und S. 532.
2) In älterer Zeit war auch hier die Unbefangenheit grösser, wie denn bei den Spar-
tanern Lykurg angeordnet haben soll, dass die Mädchen und Knaben bei Gelegenheit von
Festen sich einander in nacktem Zustande zeigten (Flut., Lycurg. 14).
— 66g —
Durch die griechischen Papyrus-Urkunden sind viele Kaufverträge über Sklaven auf
uns gekommen. Sudhoff, der die in medizinischer Beziehung wichtigsten Stellen zu-
sammengestellt hat ^), bemerkt: ,,Noch wichtiger war die Garantie der Gesundheit beim Ein-
kauf eines Sklaven oder einer, auch für die Fortpflanzung bestimmten, Sklavin. Aeusserlich
sofort leicht erkennbare Leiden oder Fehler musste allezeit der Käufer selbst beachten bezw.
sich hierin selbst davor schützen, indem er die Augen aufmachte, dass er nicht betrogen
wurde. Nur über verborgene innere Leiden muss der Verkäufer eine Erklärung abgeben
und für eine gewisse Zeit eine Garantie leisten. Solche ,, rückgängige Fehler", wie es heute
noch beim Pferdekauf heisst, waren in alexandrinisch-hellenistischer Zeit beim Sklaven vor
allem Fallsucht und Aussatz, die denn auch in unzähligen Sklaven Verkaufsverträgen als
nicht vorhanden an Eidesstatt betont werden."
Die Erklärung über ein solches y.QVTzxov :jddo; fehlt niemals. Der Verkäufer haftete
für 6 Monate für Fallsucht, alte Schäden und verborgene Leiden. Sudhoff verweist auch
auf die einschlägigen Bestimmungen der Digesten über die meldepflichtigen Krankheiten der
Sklaven. Für unser Thema von Interesse sind folgende Stellen'):
Dig. XXI, I, 6 u. ": Trebatius ait, impetiginosum morbosum non esse, si eo mem-
bro, ubi Impetigo esset, aeque recte utatur; et mihi videtur vera Trebatii sententia.
Spadonem morbosum non esse, neque vitiosum, verius mihi videtur, sed sanum esse,
sicuti illum, qui unum testiculum habet, qui etiam generare potest — sin autem quis ita
spado est, ut tarn necessaria pars corporis ei penitus absit, morbosus est.
Dig. XXI, 1, 12: Qui clavum habet, morbosus est; sed et polyposus ... Is, cui
OS oleat, an sanus sit, quaesitum est; Trebatius ait, non esse morbosum, os alicui olere,
veluti hircosum, strabonem; hoc enim ex illuvie oris accidere solere; si tamen ex corporis
vitio id accidit, veluti quod iecur, quod pulmo, aut aliud quid similiter dolet, morbosus est.
Dig. XXI, I, 14: Ouaeritur de ea muliere, quae semper mortuos parit, an morbosa
sit; et ait Sabinus, si vulvae vitio hoc contingit, morbosam esse . . . De sterili Caelius
distinguere Trebatium dicit, ut, si natura sterilis sit, si vitio corporis, contra. Item de eo,
qui urinam facit, quaeritur; et Pedius ait, non ob eam rem sanum non esse, quod in lecto
somno vinoque pressus, aut etiam pigritia surgendi urinam faciat; sin autem vitio vesicae
collectum humorem continere non potest, non quia urinam in lecto facit, sed quia vitiosam
vesicam habet, redhiberi posse.
Dig. XXI, I, 15: Quae bis in mense purgatur, sana non est; item quae non pur-
gatur, nisi per aetatem accidit.
Während merkwürdiger Weise Aussatz und Epilepsie in den Digesten nicht erwähnt
werden, sehen wir, dass verschiedene für den Dermatologen und Venereologen interessante
Leiden beim Sklavenkauf berücksichtigt wurden, wie die Impetigo, welcher Begriff wohl
ausser Ekzem vielleicht auch Psoriasis und Ichthyosis umfasst (vgl. die Schilderung bei
Celsus, Lib. V, c. 28, 17 — 18), der komplete Eunuchismus, Warzen und Polypen, übler
Mundgeruch, sobald er mit einem inneren Leiden (der Lunge oder des Intestinaltractus)
zusammenhing, habituelle Totgeburt infolge Erkrankung oder fehlerhafter Beschaffenheit der
weiblichen Geschlechtsorgane, Sterilität infolge einer Krankheit, Enuresis bei Erkrankung
der Blase, Dysmenorrhöe.
In ähnlicher Weise wie beim Sklavenkauf wurde bei der Unter-
suchung der Militärdienstpflichtigen auf Krankheiten gefahndet, wie
i) ,, Sklavenwesen'' in: Aerztliches aus griechischen Papyrus-Urkunden, S. 142 — 149.
2) Ich zitiere nach der Ausgabe des „Corpus Juris civilis" von Kriegel, Herr-
mann und Osenbrüggen, Leipzig 1858.
43*
— 670 —
dies ebenfalls die Papyrusurkunden bezeugen ^). Das Gleiche galt
von der Besichtigung der Priesterkinder vor der Beschneidung 2).
Trifft es also nicht zu, dass, wie Rosenbaum behauptet, die
heimischen Sitten die Aerzte daran hinderten, grössere Erfahrungen
über geschlechtliche Erkrankungen zu sammeln, so war das Wander-
leben vieler Aerzte und ihre Zerstreuung über das ganze Imperium
nur in höchstem Maasse geeignet, ihnen die etwa noch mangelnden
Erfahrungen auf diesem Gebiete reichlich zuzuführen.
Bis tief in die byzantinische Zeit zogen diese jiEQioöevrai, circulatores von
Ort zu Ort. In der Grabschrift des freigelassenen Arztes P. Scribonius Primigenius
heisst es, dass er, in Iguvium geboren, viele Orte besucht habe und überall durch seine
Kunst, noch mehr durch seine Zuverlässigkeit bekannt sei (Antholog. latin., ed. Meyer 1430).
Aehnlich nennt die Grabschrift eines Arztes aus Nicäa bei Doliche in Thessalien ihn
„jio?M]v &dXaooav xal yaiav jieQivooxrjoag^^ (Kaibel, Epigr. Gr. 509). Neuerdings teilt
Oehler^) die Grabschrift des Arztes Hedys mit, der auf seinen Reisen die Länder Asiens,
Europas und Afrikas und die Strömungen des Okeanos gesehen hat und dessen Gebeine in
Nikaia ruhen.
Zu diesen vielgereisten Aerzten gehörten auch die Militär-
ärzte^), denen schon im Corpus hippocraticum (De medico, c. 14)
empfohlen wird, fremden Söldnerheeren zu folgen, die Schiffsärzte ^)
und die Festärzte''). Die weite Verbreitung griechischer Aerzte
im Bereiche der antiken Welt zeigt die Zusammenstellung von Oehler
nach Orten und Namen (a. a. O. S. 5 u. 20 — 25).
Nicht zu vergessen ist endlich bei der allgemeinen Beurteilung
der antiken Kenntnis der venerischen Leiden, dass es wahrscheinlich
auch auf diesem Gebiete Spezialisten gab. Meist stammten sie
wohl aus Aegypten, der Urheimat des ärztlichen Spezialistentums
(Herodot. II, 84)'^). Dort entwickelte sich unter den Ptolemäern
1) Vgl. Sudhoff, a. a. O. S. 252—253.
2) Ibidem S. 176.
3) Johann Oehler, Epigraphische Beiträge zur Geschichte des Aerztestandes. In:
Janus, Bd. XIII, 1908, S.-A., S. 4.
4) Ueber die griechischen Militärärzte vgl. Robert Fuchs, a. a. O. S. 183 — 184;
Rudolf Pohl, De Graecorum medicis publicis, Berlin 1905, S. 63 — 64; über die römischen
vgl. Iwan Bloch, Uebersicht über die ärztlichen Standesverhältnisse in der west- und ost-
römischen Kaiserzeit, in: Puschmann, Handbuch, 1902, Bd. I, S. 586 — 587; Theodor
Meyer, Geschichte des römischen Aerztestandes, Kiel 1907, S. 48 — 51.
5) Iwan Bloch, Schiffsärzte in byzantinischer Zeit. In: Janus, Bd. VII, 1902,
S. 15 — 16; Oehler, a. a. O. S. 9,
6) Pohl, a. a. O. S. 64. Auf einer Inschrift von Olympia 62 wird auch ein Arzt
erwähnt, der für die in Olympia zusammenströnienden Fremden bestimmt war. Andere
Inschriften über Festärzte bei Oehler, a. a. O. S. 10.
7) Galen (Introductio, cap, i, ed. Kühn, XIV, 675) sucht auch die Quelle der
griechischen Medizin in Aegypten.
— 67 1 —
ein reges wissenschaftliches Leben. Die Alexandrinerzeit war die
Epoche der ersten medizinischen Monographien.
Erwähnt seien Andreas von Karystos, der ein grosses Werk über Pharmakologie,
vdgdT]^ (Galen XI, 795; XIX, 105; Plin., n. h. 20, 200) und eine Abhandlung über
den Biss giftiger Tiere, Jisgt Saxsriov (Galen XIV, 180) schrieb, Kleophantos (Ueber
den Wein, Plin., n. h. 26, 14), Apollonios Mys (Ueber Salben, jteqI fivQCOV, Athen.,
p. 688 e ff.), Demosthenes Philalethes (Ueber Augenheilkunde, 6<p&a?^/Liix6g, Aet. II,
3, 12, 16, 44 u. ö.), Gaius (Ueber Wasserscheu, Cael. Aurelian., ac. morb. III, 14),
Dioskurides Phakas (Ueber die Lybische Pest, Oreibas. III, 607), der Erasistrateer
Straton (Ueber den Aussatz, eXsq^avxiaaig , Oreibas. IV, 63), Asklepiades über Alo-
pecie (Galen XII, 410) u. a. m.
Es war nichts Ungewöhnliches, dass man bei neuen Krank-
heiten die vielerfahrenen ägyptischen Spezialärzte nach Rom berief
(Plin., n. h. 26, 3 und 29, 30).
Dass nach all diesem bei den alten Aerzten eine ausgedehnte
Kenntnis der krankhaften Affektionen der Geschlechtsteile bestanden
hat, lässt sich in keiner Weise bezweifeln und wird ja durch die
grosse Zahl der Krankheitsschilderungen dieser Art bestätigt, die wir
weiter unten übersichtlich zusammenstellen. Was aber im Grossen
und Ganzen fehlt, das war die klare Erkenntnis, dass die sogenannten
„venerischen" Affektionen eine Gruppe für sich bilden, als deren
letzte Ursache der Geschlechtsverkehr in Betracht kommt. Wohl-
verstanden fehlt es, wie wir sehen werden, nicht ganz an Andeutungen,
dass man gewisse Affektionen mit der Unzucht in Verbindung brachte.
Von hier aber bis zur Aufstellung der Sondergruppe der „Ge-
schlechtskrankheiten", d. h. der hauptsächlich durch den sexuellen
Verkehr erworbenen spezifischen Leiden, ist noch ein weiter Weg.
Auch darf nicht vergessen werden, dass Tripper und weicher Schan-
ker, die von den alten Autoren ohne Zweifel beschrieben worden
sind, relativ harmlose Leiden sind in Vergleichung mit der Syphilis
und noch bis vor kurzem nur wenig beachtet wurden.
,,Es ist noch nicht gar so lange her", sagt A. Blaschko'), ,,dass, wenn man die
Gefahren der venerischen Krankheiten erörterte, man ausschliesslich die Syphilis im Auge
hatte. Nicht nur medizinische Autoren beschränkten sich, um die Notwendigkeit einer
energischen öffentlichen Prophylaxe darzuthun, stets darauf, auf die grossen Schäden hinzu-
weisen, welche den Erkrankten sowie der Gesellschaft aus der syphilitischen Infektion er-
wüchsen (The Lancet, 28. August 1869: Gonorrhoe und venerisches Geschwür sind nichts
im Vergleich mit wirklicher Syphilis), auch in der öffentlichen Diskussion war und ist auch
jetzt noch die Harmlosigkeit der Gonorrhoe, im Gegensatz zur Syphilis, der ,, einzig ernst-
lichen Krankheit" (R. Scott, A State Iniquity, London 1890, p. 52), eines der wichtigsten
Argumente der Abolitionisten gegen die ärztliche Untersuchung der Prostituierten."
i) A. Blaschko, Syphilis und Prostitution vom Standpunkte der öffentlichen Ge-
sundheitspflege, Berlin 1893, S. 15.
— 672 —
Man schenkte also gewiss im Altertume dem Tripper und dem
lokalen Schanker in ätiologischer Beziehung wenig Beachtung und
doch hat man sie beschrieben, während von der Syphilis in den
Schriften der alten Aerzte und Laien nichts zu entdecken ist. Schon
dieser Gegensatz ist bezeichnend. Denn die Theorie von dem „leich-
teren" Verlaufe der (nota bene unbehandelten!) Syphihs im Altertume,
so dass man sie wie Tripper und Schanker wenig beachtete, wird
doch heute wohl Niemand mehr ernstlich aufrecht erhalten. Wir
nehmen vielmehr den Standpunkt ein, dass die Syphilis, falls sie exi-
stiert hätte, vielleicht in pathogenetischer und ätiologischer Beziehung
den alten Aerzten entgangen wäre, niemals aber in klinischer Be-
ziehung.
Nach diesen Vorbemerkungen gehen wir zu einer genaueren
Untersuchung der allgemeinen Anschauungen der Alten über die
venerischen Krankheiten über.
Als grösstes Hindernis einer unbefangenen Würdigung und
Erkenntnis der venerischen Ansteckung erscheint die humoral-
pathologische Auffassung der Hautkrankheiten, die im Corpus
hippocraticum niedergelegt ist, jene Lehre, nach der die Affektionen
der Haut nur „Ablagerungen" [äjidoraoig) von Krankheitsprodukten
auf der äusseren Oberfläche seien, die ihren eigentlichen Ursprung
inneren Zuständen, einer krankhaften Veränderung der „Säfte"
{dvoxQaoia) verdankten. In diesem Sinne sprach man von einem
„Ausschlagen", „Hervorbrechen", „Blühen" der Hautkrankheiten. Die
älteste Terminologie weist auf diese supponierten inneren Ursachen
hin, sie prägte die Bezeichnungen „Exanthem", e^dv&rjjua (Hip-
pocr., Aphor. VI, 9; Epid. VI, 2, 15; Prorrhet. II, 49; Galen. XIX,
495; XVII A, 358, 394; XI, 846; XIII, 421 u. ö.), „Exanthisma",
iidv&iojua (Hippocr., Coac. Praenot, ed. Kühn, I, 308) von e^av&lCeiv,
„Gewächs", cpvjua (Hippocr., Aphor., Lib. III, no. 20; Prorrhet. II,
ed. Kühn I, 104; Epidem. III, Sect. 3, ed. Kühn III, 482; Galen.,
ed. Kühn XVII, B. 636; XIII, 437 u. ö), „Efflorescenz", „Ek-
thyma", EXTCojua, sx-&vjua (von ex'&veiv, Galen. XVII A, 354, 865;
Erotian, ed. Klein, p. 67), „Ekzem", ex'Qef^o- (Erotian., ed. Klein,
p. 67: ex'&vjuara' exCsjuara, co? (prjoi Baxyßlog. xal exd-voeig al e^av-
^rjosig; Aetius, Tetrabl. IV, Serm. i [= Lib. XIII, c. i28])i). Diese
i) Die gewöhnliche Angabe in dermatologischen Lehrbüchern, dass der Name
„Ekzem" zuerst bei Aetius von Amida (6. Jährhundert p. Chr.) vorkomme, ist unzu-
treffend, wie schon das obige bisher unbekannte älteste Zitat aus dem Vokabular des zur
Zeit Neros lebenden Erotianos ergiebt. Uebrigens ist auch die Stelle des Aetius den
Werken des Pneumalikers Archigenes, eines Zeitgenossen des Kaisers Trajan, ent-
— &73 —
Bezeichnungen waren ganz allgemeiner Natur und bezogen sich
auf die Ablagerungen der krankhaft veränderten Humores in der Haut^).
Die wissenschaftliche Betrachtungsweise der Hautkrankheiten
in der hippokratischen und späteren antiken Medizin war wesentlich
eine ätiologische und diese vorwiegend humoral-pathologisch. Von
einer genaueren Lokalisation, einer wissenschaftlichen Erforschung
der Verschiedenheiten einzelner Hautaffektionen, einem S^'steme der-
selben war keine Rede. Man konnte sich die pathologischen Mani-
festationen auf der Haut durchaus nicht als rein selbstständige Affek-
tionen sui generis und von spezifischer Natur vorstellen, sie blieben
stets Ausflüsse innerer Zustände-), zu welchen sie unter Umständen
wieder zurückkehren konnten. Der Ursprung der alten Lehre von dem
sogenannten „Zurückschlagen" der Hautkrankheiten ist hier zu suchen.
Es blieb also für die Diagnose und Differentialdiagnose der
krankhaften Veränderungen der Haut nur die rein formalistische
Betrachtungsweise übrig, die nach Form, Grösse, Farbe, Wachstum,
Art der Ausbreitung, klinischen Symptomen der Entzündung, des
Schmerzes, des Juckens, Abscedierung u. s. w. die einzelnen Exan-
theme unterschied.
Auch die venerischen Hautaffektionen wurden nicht
anders aufgefasst und beurteilt. Vorzüglich hat ein so beson-
nener und kritischer Forscher wie von Töply diese Verhältnisse
charakterisiert ^) :
„Schliesslich dürfen wir gerade gegenüber den als verdächtig bezeichneten „Aus-
wüchsen" der griechischen und römischen Schriftsteller zweierlei nie vergessen. Die Nomen-
clatur des medizinischen Altertumes ging auf der Basis des Formalismus auf. die unsere
bewegt sich auf ätiologischer Grundlage. Wenn wir von Plaques sprechen, involvieren wir
bereits eine vorangegangene S3'philitische Ansteckung, das Altertum dachte jedoch,
um nur ein Beispiel anzuführen, bei Ficus in den allerseltensten Fällen an einen auf be-
stimmte Weise erworbenen und auf bestimmter Grundlage sich entwickeln-
den Krankheitsprozess, sondern nur an die äussere Erscheinung, deren
Grenzen vom Einen enger, vom Anderen weiter gezogen wurden, so dass Allgemein-
nommen, wie denn schon Galen den Ausdruck ix^sofiaTa aus einem Werke des Archi-
genes Jtsgi zöiv xarä yivog (pagfidxcov anführt (Galen de compos. medicanient. secundum
locos lib. I, cap. 8, Kühn XII, 468). Auch Dioskurides (ebenfalls zur Zeit Neros) soll
das Wort „sxCs/Lia'' erwähnen (nach W. Pape, Griechisch ■ deutsches Handwörterbuch,
Braunschweig 1857, Bd. I, S. 658).
i) Vgl. J. G. Dorl, Rudimentum exanthematologiae, Jena 1794, S. i".
2) Bezeichnend hierfür ist die Ueberschrift von Kapitel 28 des 5. Buches des
Celsus ,,De interioribus ulceribus, quae aliqua corporum parte corrupta nascuntur", womnter
er meist Hautleiden versteht.
3) Robert Töply, Die Syphilis im Altertum. Wiener klin. Wochenschr. 1889,
Nr. 29, S. 583.
— 674 —
berufungen auf medizinische Namen des Altertums stets etwas Missliches an sich haben,
wie sich am klarsten zeigte, wenn man alle jene Titel einzeln zu prüfen versuchte, welche
für syphilitische Lokalmanifestationen in Anspruch genommen wurden. Andererseits muss
man sich klar sein darüber, dass selbst der gesicherte Nachweis venerischer
Affektionen am Munde oder Rachen oder After im allgemeinen noch gar
keinen Beleg für syphilitische Spätmanifestationen bieten würde, sofern man
nicht mit Bestimmtheit aus der zitierten Nachricht als ursächliches Moment die im Alter-
tume leider nur zu verbreitete illegitime Ausübung des Geschlechtsaktes mit
Sicherheit ausschliessen könnte, ausser es handelte sich um eine so klare pathologisch-
anatomische Beschreibung, wie wir sie von dem formalistisch angehauchten medi-
zinischen Altertume nicht zu gewärtigen haben."
Wie z. B. die Lepra nach ihren verschiedenen Formen ver-
schiedene Krankheitsnamen für die ganze Krankheit bekam (vgl.
oben S. 594), ohne dass diese irgend ein ätiologisches Verhältnis
ausdrückten, so ist dies auch bei den Geschlechtsaffektionen ge-
schehen, und es ist ganz sicher, dass z. B. das spitze Kondylom
je nach den verschiedenen Formen auch verschiedene Namen (z. B.
■äv/uiov, axQod^v fxiov , äxgoxoQÖcov, ovxrj, ovxcooig, fici, mariscae u. a. m.)
bekam ^). So entstanden die mannigfaltigen Bezeichnungen der vene-
rischen Krankheiten nach rein äusserlichen, die Form- und Farben-
veränderung berücksichtigenden Gesichtspunkten, denen jede ätio-
logische Beziehung fern lag. Es gab bei den Alten keine
eigentlichen „Geschlechtskrankheiten", d. h. direkt oder in-
direkt mit dem Geschlechtsverkehr zusammenhängende
Leiden, sondern nur Krankheiten der Geschlechtsteile.
Diesen „obscoenarum partium vitia" widmet Celsus ein besonderes
Kapitel (XVIII des Lib. VI), wobei er unter diesen „unanständigen
Teilen" die männlichen und weiblichen Genitalien und den After
versteht. Es ist bezeichnend, dass in der Einleitung dieses Kapitels,
wo Celsus allgemeine Ausführungen über die Affektionen dieser
„obscoenae partes" giebt, die, wie er sagt, bei den Griechen „in omni
fere medicorum volumine atque sermone jactentur", jede Anspie-
lung auf ihre Beziehungen zum Geschlechtsverkehr fehlt
und ihre Behandlung in einem besonderen Kapitel — abgesehen da-
von, dass Celsus überhaupt die Krankheiten nach den einzelnen
Körperteilen und Gegenden behandelt — einzig und allein durch die
Rücksichtnahme auf das Schamgefühl erklärt wird.
i) A. Geigel, Geschichte, Pathologie und Therapie der Syphilis, Würzburg 1867,
S. 188 — 189, macht sehr zutreffende Bemerkungen über diese rein formalistische reichhaltige
Nomenclatur der spitzen Kondylome, für die er noch die späteren ebenso charakteristischen
Namen ,,uvae, thymi, corymbi, morum, morae, atrici oder altriti, fructus Rubi, fragae,
Strawberry" anführt.
- 675 -
Wenn es nun aber auch feststeht, dass die wissenschaftliche
Kategorie der „venerischen" Krankheiten in unserem Sinne bei den
Alten nicht existiert hat, so bleibt dennoch die Frage offen, ob denn
nicht unabhängig von jeder pathologischen Theorie und klinischen
Beschreibung eine Ahnung von der venerischen Ansteckung vor-
handen gewesen sei und x\ndeutungen der letzteren sich bei antiken
Autoren nachweisen lassen. Dass gewisse Folgen normaler und
perverser sexueller Beziehungen durchaus bekannt waren, haben wir
schon öfter nachzuweisen Gelegenheit gehabt (vgl. oben S. 574 — 583,
585, 616 — 619). Es fragt sich aber, ob der Geschlechtsverkehr als
eine direkte oder nur als eine indirekte Ursache dieser Er-
scheinungen aufgefasst wurde, ob ferner der Gedanke an eine Con-
tagiosität, Uebertragung einer Krankheit von Mensch zu Mensch
dabei obwaltete, oder die Lokalerkrankung nur als Folge einer all-
gemeinen Zerrüttung des Körpers durch die Unzucht angesehen
wurde, endlich ob der Begriff der ,, Unreinheit" nicht viel mehr ein
ästhetischer als ein hygienischer gewesen sei. Alle diese Momente
müssen bei der Entscheidung des Problems der Kenntnis der Con-
ta.giosität der venerischen Krankheiten berücksichtigt werden, sogar
die naheliegende Möglichkeit, dass man ganz irrtümlich unter der
Einwirkung irgend eines Volksaberglaubens ein Leiden mit dem
Geschlechtsverkehr in Verbindung gebracht hat, muss in Betracht
gezogen werden, wie überhaupt der superstitiöse Faktor (z. B. Ge-
schlechtskrankheiten als Strafe der Götter) stets in Rechnung zu
ziehen ist.
Wir wollen zunächst die Ansichten der Alten über die Folgen
der Unzucht und einer ausschweifenden Lebensweise im all-
gemeinen prüfen und werden sehen, dass auch hier gerade die
venerischen Leiden unerwähnt bleiben.
Einen klassischen Beleg hierfür bietet Seneca, Epist. 95, 20 — 22
(ed. Haase III, 302).
Maximus ille medicorum et huius scientiae conditor feminis nee capillos defluere dixit
nee pedes laborare^); atqui et capillis destituuntur et pedibus aegrae sunt, non mutata femi-
i) In der That ist bei den Hippokratikem der Ursprung des noch heute vorhan-
denen Volksglaubens zu suchen, dass vorzeitiger Haarausfall und Podagra auf starke
sexuelle Aktivität und Exeesse in Venere zurückzuführen sind. Die Hauptstelle ist
Aphor. VI, 26 — 28, wo es heisst, dass die sexuell inaktiven Eunuchen und Jünglinge vor Aus-
übung des Geschlechtsaktes kein Podagra und keine Alopecie bekommen, während Frauen
erst nach Aufhören der (offenbar als den Krankheitsstoff ableitend gedachten) Menstruation
an Podagra erkranken. Vgl. dazu Galen, ed. Kühn XI, 165, sowie XVHI A, 41, wo
er in der Erläuterung von Aphor. VI, 28 auch auf das Fehlen bezw. seltene Vorkommen
— 676 —
narum natura, sed vita est; nam cum virorum licentiam aequaverint, corporum
quoque viril i um incommoda aequarunt. Non minus pervigilant; non minus potant,
et oleo et mero viros provocant, aeque invitis ingesta visceribus per os reddunt et vinum omne
vomitu remetiuntur, aeque nivem rodunt, solatium stomachi aestuantis. Libidine vero ne
maribus quidem cedunt: pati natae, di illas deaeque male perdant! adeo
perversum commentae genus inpudicitiae viros ineunt. quid ergo mirandum
est maximum medicorum ac naturae peritissimum in mendacio prendi, cum
tot feminae podagricae calvaeque sint? beneficium sexus suis vitiis perdiderunt, et,
quia feminam exuerant, damnatae sunt morbis virilibus.
Es muss hervorgehoben werden, dass Seneca hier als angeb-
hche Folgen der Unzucht und ausschweifenden Lebensweise nur
Haarausfall und Podagra nennt, diese eigentlichen „virilia in-
commoda", die nunmehr auch die Weiber heimsuchen, sobald sie die
gleichen sexuellen Exzesse begehen wie die Männer, und dass er
die wirklichen venerischen Leiden gar nicht erwähnt.
Ferner galt damals ganz wie heute auch die harmlose Akne
als eine Folge zu starker geschlechtlicher Bethätigung, wie das aus
der bereits oben (S. 646) mitgeteilten Aeusserung des Julianus deut-
hch hervorgeht, wo die alte Akne des Tiberius samt ihren narbigen
Residuen als eine Folge seiner Wollust {vjio Ti]g äxoXaoiag) betrachtet
wird. Auch Tacitus (Annal. IV, 57) scheint diesen Zusammenhang
anzudeuten.
der Kahlköpfigkeit bei Frauen hinweist und XVIII A, 44, wo er die ursächliche Bedeu-
tung der d<pgoöiaicov XQV^^^ ^^^ ^^^ Entstehung des Podagra erörtert. Aehnlich Celsus
IV, 24; Plin., nat. hist. XI, 47 u. 94; Aristoteles, de gener. animal., 1. V, c. 3, sowie
das bezeichnende Epigramm der Anthologia Palatina (XI, 414, ed. Dübner II, 357):
Avai/is?.ovg Bux^ov xal XvaineXovg 'AqpQodirtjg
ysvvärai Ovydrtjg Xvaij.i£lfj(; Tzoddyga.
Dass aber auch die Alopecie von den Hippokratikern direkt mit dem Coitus und der
sexuellen Erregung in Verbindung gebracht wurde, beweist die sehr interessante Stelle
De natura pueri, c. 9, die nach der Uebersetzung von Robert Fuchs (Hippokrates' sämt-
liche Werke, München 1895, Bd. I, S. 227) lautet: „Diejenigen aber, welche einen kahlen
Kopf bekommen, haben zuviel Schleim; bei ihnen wird während des Beischlafes der
im Kopfe befindliche Schleim aufgerüttelt und erhitzt; er wendet sich gegen die Epi-
dermis und verbrennt die Haarwurzeln und die Haare fallen aus. Die Eu-
nuchen andererseits werden deshalb nicht kahlköpfig, weil bei ihnen keine starke Er-
regung eintritt, der Schleim während des Coitus nicht erhitzt werden und die Haare
verbrennen kann." Noch deutlicher bezieht Aristoteles (Problem. Sect. IV, quaest. 18)
den Haarausfall auf sexuelle Ausschweifungen. Die Stelle lautet in der Pariser Ausgabe
(Aristotelis Opera omnia, Paris 1889, Bd. IV, S. 139): 'Ojtoaai JiQsoßvrsQov yivo/nsvov [xi]
av^dvovtai rcöv avyyevixwv tqi/cöv , änaoai xovro Tidaxovoiv iv raig XayvEiai?'
xs(palr] yoLQ xal 6<pQvg xal ßXsfpaQig ovyysvixai rgiysg ... Aixiov d'ort xaraxpix^t
ra fivo) '■^ Xayvsia oXiyai/na ovza, djoz' ov TienzEi zrjv zQO<pt]V 6 zojcog' ov
XafA.ßuvovaai 8s ZQOcprjv sxqsovoiv at zgi/sg.
- 677 -
Auch hier kann man aus dem ganzen Zusammenhange den
sicheren Schluss ziehen, dass die Akne ganz wie der Haarausfall und
das Podagra als eine f~olge der Säfteverderbnis durch sexuelle
Exzesse^) angesehen wird und nicht als Uebertragung einer an-
steckenden Krankheit.
Als eine häufige Folge sexueller Exzesse und Verirrungen galt
den Alten auch, was schon früher hervorgehoben, übler Körper-
geruch, besonders der Achselhöhlen und des IMundes. Auch
hier handelt es sich nur zu einem kleinen Teile um reale Beobach-
tungen, zum größeren um einen uralten Volksaberglauben,
dessen Ursprung auf die Pan- und Satyr-Sagen zurückzuführen ist.
Die Ansicht, dass die den Geschlechtsverkehr pflegenden Individuen oder libidinöse
Personen übel riechen und den sogenannten ,, Bocksgeruch" ausströmen, findet sich schon in
den IlQoßlriixaTa des Aristoteles (Sect. IV, quaest. 24, Bd. IV der Pariser Ausgabe, S. 140):
Aia Ti Ol OKpoodioid^ovTsg 7} 01 zoiovzoi dvocodeig, ot 8s jraTös? ov, y.al tov y.a-
Xovfievov ygÜDOv-j oCovaiv; "H tmv jivsvfidroiv, coa.-rso fiQijTai, tn jLiev tcov Jiatduov jtsttsi
z6 vygov xal xovg idgöirag, 01 de icöv dvdgdiv äjiE.-iioi.
Eine ähnliche Erklärung Problem. IV, sect. 12. Der mit der sexuellen Ausschweifung
zusammenhängende Bocksgeruch ist sicher ein Produkt des alten Glaubens an erotische
Dämonen in Bocksgestalt, an den Pan, die Faunen und Satyrn, denen man einen starken
Geschlechtstrieb zuschrieb wie den Ziegenböcken '^). Der bekannte Bocksgeruch wurde
offenbar auf diese übermässige Libido ziuoickgeführt und die häufige starke Ausdünstung
und das Schwitzen beim Coitus des Menschen ähnlich gedeutet.
Nicht um Bocksgeruch, Geruch der Achselhöhlen, sondern um einen foetor ex ore
und üblen Geruch der Scham teile handelt es sich bei der in den Scholien zu Apollonios
dem Rhodier (I, 609, 615), zu Euripides (Hekabe 887) und zu Pindar (Pyth. 4, 88
und 449), sowie bei Zenobios und Suidas (s. v. Atjuviov yaxöv) erwähnten Krank-
heit der Lemnierinnen*). Nach diesem uralten pathologischen Mythus wurden die
Frauen der Lemnier wegen Vernachlässigung des Kultes der Aphrodite von einer eigen-
tümlichen Krankheit heimgesucht, deren wesentlichstes Symptom übler Geruch war, so
dass ihre Männer sich von ihnen wendeten und wilde Ehen mit thrakischen Kebsweibern
eing;ingen.
i) Und zwar rühren die Krankheiten infolge sexueller Ausschweifungen vom (p?.sy/Lia,
Schleim her. Deutlich wird dies ausgesprochen bei Aristoteles, Probl. IV, quaest. 16
(Opera orania graece et latine, Paris 1889, Didot, Bd. IV, S. 138): Ata ti i] kayveia
JiQOS voarjfiaz^ svta z(öv dno (pkey/xazog av/Liq.^eQ£i; "H ozi n:eoizzcouaT6g eozir e^odog,
moze ovvEy.y.olvEzai nokkt] jzsgtzzcoaig; z6 dk (pkey/xa jzegixzcofia.
2) 6 ygäaog = 8vooafj.ia zcöv zgdycor nach Suidas, Bocksgestank, Schweissgeruch
unter den Achseln, davon o ygdacov, der nach dem Bock oder Schweiss riechende (z. B.
Athen. XIII, 49, p. 585 e).
3) Vgl. hierüber die eingehenden Ausführungen bei Wilhelm Heinrich Röscher,
Ephialtes, eine pathologisch-mythologische Abhandlung über die Alpträume und Alpdämonen
des klassischen Altertums, Leipzig 1900, S. 82, 83, 89, 92 u. ö.
4) Vgl. W. H. Röscher, Die ,, Hautkrankheit" [xvcor') der Pandareostöchter und an-
dere mythische Krankheiten. In: Rhein. Mus. f. Philologie 1898, Bd. LllI, S. 185.
— 678 —
Es ist nun sehr interessant, dass man ausser dem von den satyr-
ähnlichen Bocksdämonen abgeleiteten rgayog, hircus, dem Bocksgeruch
auch andere Krankheitserscheinungen oder körperliche Abnormitäten
mit der Satyriasis, der den Satyrn eigenen übermässigen Geschlechts-
lust in Verbindung brachte. So schrieb man — wohlbemerkt ganz
irrtümlicher Weise — den Aussätzigen einen excessiven Sexualtrieb
zu, offenbar nur, weil in einem gewissen Stadium das Gesicht des
Aussätzigen dem eines Sat3'^r glich, woher der Name oaivgiaoig zur
Bezeichnung des Aussatzes stammt. Wegen der Verdickung der
Lippen, der Röte der Wangen, der knolligen Ohren wurden die
Leprösen mit den Satyrn verglichen und ihnen sekundär auch eine
übermäßige Geschlechtslust angedichtet^). Auch andere Auswüchse
und Excrescenzen im Gesichte brachte man mit den Satyrn und
ihrer tierischen Ausgelassenheit in Zusammenhang, z. B. Exostosen,
Warzen und Drüsenschwellungen in der Gegend der Ohren 2).
Wir haben schon früher darauf hingewiesen, daß die Alten eine
übermäßige sexuelle Leidenschaft, sei sie normal oder pervers, als
„Krankheit" oder „Laster" morbus, vooog bezeichneten. Es lag nun
nahe, Individuen, bei denen man eine oder die andere der eben geschil-
derten wirklichen oder angeblichen Folgen sexueller Ausschweifung
beobachtete, wie etwa üblen Geruch, Haarausfall, seltsame Auswüchse
des Gesichtes u. dgl. m., damit zu verspotten und mehr oder
weniger durchsichtige Scherze darüber zu machen.
So schliesst Martial hauptsächlich aus dem üblen Gerüche auf ein ausschweifendes
Leben der damit behafteten Personen (z. B. VI, 55; VI, 93; XI, 30; XII, 59 u. 85 u. ö.;
auch Catull 37, 3 — 5). Auch in der Anthologia palatina (XI, no. 239 — 242) finden sich
witzige Epigramme mit Anspielungen auf den üblen Geruch ausschweifender Männer und
Frauen. Und wie oft man über den vorzeitigen Haarausfall solche zweifelhaften Scherze
machte, erhellt aus Sueton (Div. Julius 45): calvitii vero deformitatem iniquissime ferret,
saepe obtrectatorum iocis obnoxiam expertus. Zu diesen loci, mit denen Caesar
wegen seiner Glatze verspottet wurde, gehörte auch der bezeichnende Ausdruck, den seine
Soldaten auf ihn geprägt hatten: „moechus calvus" (ib. 51). Ebenso heisst es von
Domitian (Sueton., Domitian. 18): Calvitio ita offendebatur, ut in contumeliam suam
1) Vgl. besonders Aristoteles, de gener. anim. IV, 3: IlaQajtXrjoiov xovtcp xai
z6 v6ar]fia x6 xakov/nsvov aarvQiaaig xal yag ev tovtco 8ia gsv/tiazog t) Jivsv/natog ajiejirov
jilfj^og slg xa (j-ÖQia xov tiqoocotiov JiagE/njiEoovTog älkov l^wov xal oaxvgov (paivsxat zo
TiQoawTtov. Ferner Galen VII, 30, 728 Kühn und bei Orib. IV, 60; Ruphos bei
Orib. IV, 63; Aretaeus, De niorb. chron. II, 13.
2) Ueber die Bezeichnung der Exostosen als aaxvQiaofiög vgl. Galen, de tumoribus
praeter naturam, c. XIV, ed. Kühn VII, 728. DeV Ausdruck aazvQiao/iiog findet sich als
Bezeichnung eines cpvfia schon bei Hippocr., Aphor. III, 26. Im Glossarium des Pseudo-
Galenos (Kühn XIX, 136) heisst es oaxvQiofioi : 01 jieqc xa wza JiQO(irixeig oyxoi zütv
ddeva>v. svioi 8k -zag z&v atdoicov svxäaeig rjxovoav.
— 679 —
traheret. si cui alii ioco vel iurgio obiectaretur. Solche „ioci" über die Kahl-
köpfigen finden sich auch bei den Satirikern (z. B. Martial. VI, 57; VI, 74).
Dass man auch Warzen und andere Hautaffektionen verspottete, beweist die sehr
klare Stelle bei Seneca ad Gallionem de vita beala 27, 5: papulas observatis alienas, obsiti
plurimis ulceribus? Hoc tale est quäle siquis pulcherrimorum corporum naevos
aut verrucas derideat, quem fera Scabies depascitur.
Dass die Neigung zur Verspottung von Körperfehlern gerade bei den Römern
ausserordentlich verbreitet war, bezeugt Cicero (De oratore II, 59, 239): Est etiam de-
formitatis et corporis vitiorum satis bella materies ad iocandum.
Wenn man diese bisher kaum gewürdigten, aber sehr beweis-
kräftigen Stellen sich vor Augen hält, aus denen hervorgeht, dass
Körpergeruch, Haarausfall und Hautauswüchse oft Gegenstand des
Spottes und anzüglicher Witze bei den Alten waren und unter dem
Einflüsse des früher erörterten Volksglaubens nicht selten mit ge-
schlechtlichen Excessen in Verbindung gebracht wurden '), so erfährt
der vielumstrittene „Morbus Campanus'* des Horaz-) eine sehr
einfache und einleuchtende Erklärung.
Die Scene mit der Erwähnung dieser rätselhaften campanischen
Krankheit findet sich in der Schilderung der Reise nach Brundisium
bei Horatius Sat. I, 5, 51 — 64. Sie spielt in der Villa des Cocceius
bei Caudium, unweit von Capua. Während der Abendmahlzeit wird
die Gesellschaft, zu der außer Horaz auch Maecenas und Cocceius
gehören, durch ein Paar Possenreisser belustigt:
Nunc mihi päucis
Sarmenti scurrae pugnam Messique Cicirri,
Musa velim memores, et quo patre natus uterque
contulerit litis. Messi darum genus Osci,
Sarmenti domina exstat: ab his maioribus orti
i) Solche anzüglichen Scherze und Witze scheinen auf hervorragende Männer be-
sonders im Theater und auf der Bühne gemacht worden zu sein. Dies war z. B. der
Fall beim Kaiser Verus, der in Syrien sich den tollsten geschlechtlichen Ausschweifungen
ergab und, was besonders bespöttelt wurde, einer Dirne zu Liebe sich den Bart abnehmen
liess. „Risui fuit omnibus Syris, quorum multa ioca in theatro in eum dicta ex-
tant" (Capitolin., Verus 7). Solche Scherze waren denn auch bei den Atellanen, mimi-
schen Darstellungen und den Spässen der Possenreisser üblich, wofür Ho rat., Sat. I,
552 — 69, ein typisches Beispiel.
2j Ueber den „Morbus Campanus" vgl. man ausser Rosenbaum a. a. O. S. 297
bis 305 vor allem die wenig bekannte Abhandlung von C. G. F. Uhde, Commentatio de
morbo Campano, cujus mentionem facit Horatius, Leipzig 1859 (8", 44 S.). In meinem
Besitze befindet sich gleichfalls eine sehr seltene italienische dramatische Satire „II Morbo
Campano". Dramma per musica etc. dall' Abate Pettignone [= Raffaele Aramo aus
Mailand] o. O. u. J. (Mailand ca. 1795), 8", 43 Seiten, in der in recht drastischer Weise
und in obscönen Versen die Ansicht, dass der Morbus Campanus des Horaz die Syphilis
gewesen sei, verspottet und ad absurdum geführt wird.
— 68o —
ad pugnam venere. prior Sarmentus 'equi te
esse feri similem dico' ridemus, et ipse
Messius 'accipio', caput et movet. 'o tua cornu
ni foret exsecto frons', inquit 'quid faceres, cum
sie iTiutilus minitaris?' at illi foeda cicatrix
saetosam laevi frontem turpaverat oris.
Campanum in morbum, in faciem permulta iocatus,
pastorem saltaret uti Cyclopa, rogabat:
nil illi larv^a aut tragicis opus esse cothurnis ^).
Ich übersetze diese Stelle folgendermaßen:
„Jetzo, o Muse, melde mir mit wenigen Worten den Kampf
des Possenreissers Sarmentus mit dem Schreihahn Messius -), und von
welchen Vätern entsprossen beide den Streit begannen. Des Messius
erlauchtes Geschlecht^) sind die Osker, des Sarmentus Herrin lebt
noch. Von solchen Ahnen abstammend nahmen sie den Kampf auf.
Sarmentus hebt an: „Ich behaupte, dass du Aehnlichkeit hast mit
einem wilden Pferde." Wir lachen und Messius selbst versetzt: „Ich
nehme die Aufforderung an" und schüttelt drohend den Kopf. Drauf
jener: „Was würdest du erst thun, wenn dein Hörn (cornu) dir nicht
aus der Stirn geschnitten wäre, da du gestutzt schon so gewaltig
drohst*)?" Aber^) jenem hatte doch noch eine hässliche Narbe links
an der borstigen Stirne das Antlitz entstellt. Nachdem er noch sehr
viele anzügliche Witze über das kampanische Laster und über das
Gesicht gemacht hatte '■), forderte er ihn auf, den Cyklopen als Hirten
i) Der lateinische Text ist nach der Ausgabe der Satiren des Horaz von Hermann
Schütz, Berlin 1881, S. 71 — 72, wiedergegeben.
2) Cicirrus = xixiqqo? (nach Hesychius = aXexxQVMv), redupliciert aus xqH^w,
ein Spottname des Messius wegen seiner kreischenden und dem Tone des krähenden Hahnes
ähnlichen Stimme. Vgl. G. A. Koch, Vollständiges Wörterbuch zu den Gedichten des
Q. Horatius Flaccus. .2. Aufl. Hannover 1879, S. 90 — 91.
3) Das ,, darum genus" ist hier ironisch gemeint. Die Osker wurden im Gegenteil
von den Römern sehr verachtet und galten für plump und bäuerisch (vgl. Gellius, Noct.
Att. n, 2t; XI, 16; Xni, 9; Juvenal. HI, 207; VI, 455; Propert. IV, 2, 62).
4) Nämlich durch das possenhafte Schütteln des Kopfes.
5) Das „at" leitet hier einen erklärenden Zusatz ein: ,,Das Horngewächs war ihm
zwar abgeschnitten, aber eine Narbe noch übrig."
6) Dem ganzen Zusammenhange nach muss Vers 62 so übersetzt werden, da das
„kampanische Laster" und das Gesicht des Messius miteinander in einen ursächlichen Zu-
sammenhang gebracht werden. Uhde zieht (a. a. O. S. 35) die folgenden Versionen vor:
,, Nachdem er über die Campanische Krankheit in das (ins) Gesicht sehr viel gescherzt hatte"
oder „Nachdem er über die Campanische Krankheit (nämlich) das Gesicht sehr viel gescherzt
hatte." Beides scheint mir den Sinn der Spöttereien des Sarmentus nicht richtig wieder-
zugeben.
— 68i —
im Tanze darzustellen. Er bedürfe dazu keiner Maske und keines
Kothurnes."
Diesen Spott vergilt nun Messius in gieicher Weise, indem er
den Sarmentus als ehemaligen Sklaven verhöhnt.
Nach dem bisher Gesagten ist, wie schon erwähnt, die Erklärung
dieser vielerörterten Scene sehr einfach. Das „cornu exsectum" an
der Stirn ist wirklich ein typisches Hauthorn gewesen, wie aus der
so plastischen Schilderung und dem so charakteristischen
Sitze mit Sicherheit gefolgert werden kann. Denn gerade die
hornigen Auswüchse sitzen mit Vorliebe an der Stirn i)
und gleichen bisweilen in überraschender Weise einem Thierhorn -'),
so daß auch in dieser Beziehung nur an ein Hauthorn gedacht
werden kann, wenn Sarmentus den Messius mit einem thierischen
Wesen vergleicht, das halb Pferd, halb gehörntes Thier ist, d. h. mit
dem Einhorn ^). Die Vergleichung mit einem mit dem Hörn stossen-
den Tiere ist so charakteristisch und so eindeutig, dass die
Diagnose eines Cornu cutaneum beim Messius ausser allem Zweifel
ist. Es ist nun sehr wohl möglich, dass in bestimmten Gegenden
Hauthör ner häufiger beobachtet werden, obgleich darüber noch keine
verlässliche Statistik vorliegt, und dass für das Altertum das in
Campanien der Fall war'^).
i) Nach der Zusammenstellung von H. Lebert (H. Lebert, Ueber Keratose, Berlin
1864) finden sich die Hauthörner am häufigsten am behaarten Kopf und an der
Stirn, weiterhin kommen in der Reihenfolge der Häufigkeit das Gesicht, zumal die Wangen
und die Unterlippe, dann der Handrücken u. s. w." Gustav Behrend, Artikel ,, Haut-
horn" in Eulenburgs Real-Encyclopädie 1896, Bd. X, S. 74. — Erasmus Wilson
fand unter 90 Fällen 48 mal den Sitz des Hauthorns am Kopfe. „Die Krankheiten der
Haut", Leipzig 1850, S. 517.
2) G. Behrend, a. a. O. S. 73: , .Dasselbe stellt einen pyramidenartigen oder an-
nähernd cylindrischen Auswuchs der Haut dar, der sowohl in seiner Form, als überhaupt
in seiner ganzen äußeren Erscheinung dem Hörn mancher Thiere gleicht." Das
illustriert z. B. die Abbildung eines solchen Cornu cutaneum bei Perls-Neelsen, Lehrbuch
der allgemeinen Pathologie, Stuttgart 1894, S. 319, Fig. 113.
3) Die Schilderung des Einhorns bei Plinius, nat. histor. VHI, 31 passt sehr gut
auf diese boshaften Anspielungen des Sarmentus: Asperrimam autem feram monocerotem,
reliquo corpore equo similem, capite cervo . . . uno cornu nigro media fronte
cubitorum duo eminente.
4) Hierauf würde die Notiz eines alten Commentators dieser Stelle deuten: ,,Hoc
enim quasi a natura Campanis fere omnibus est, ut capitis temporibus magnae Verrucae
innascantur in modum cornuum." Citiert nach der Horazausgabe von W. Dillenburger,
6. Aufl., Bonn 1875, S. 375. — In ihrer Uebertreibung (Campanis fere omnibus!) lässt
diese Bemerkimg den Einfluss des Volksaberglaubens erkennen, der einige wenige solche
auffällige Beobachtungen sofort generalisiert.
— 682 —
Wenn nun Sarmentus das Hauthorn des Messius verspottet, so
liegt es auch für ihn nahe, diesem Scherze die damals, wie wir sahen,
allgemein beliebte Spitze zu geben, die darin bestand, dass man
relativ harmlose Hautexcrescenzen einer geschlechtlichen
Ursache zuschrieb. Damals wie heute „amüsierte man sich die
Haare weg und die Finnen an", wie der Volksmund sagt. Die Pointe
des Witzes ist in diesem Falle der „morbus Campanus", das kam-
panische „Laster". Denn nur so kann es übersetzt werden, nach dem
ganzen Sinne und Zusammenhange der Stelle i).
Die Bewohner Campaniens waren von jeher wegen ihrer Ueppig-
keit und Wollust verrufen. „Es giebt kaum eine Gegend in Europa",
sagt Karl Otfried Müller, „die ihre Bewohner so leicht verweich-
licht, wie das glückliche Campanien" 2), von dessen zeitlich aufeinander-
folgenden Bewohnern der ältere Plinius sagt: hoc quoque certamen
humanae voluptatis tenuere Osci, Graeci, Umbri, Tusci, Campani
(nat. hist. III, g). Es war wirklich ein „Tummelplatz menschlicher
Wollust".
Schon Plautus hat die geschlechtlichen Perversitäten der kampanischen Bevölkerung
gegeisselt :
sed Campas genus
Multo Syrorum jam antidit patientia
(Trinumm. II, 4, 144.)
Wie Tiberius nach Capri, so zog auch der Kaiser Claudius sich nach Campanien
zurück, um sich in diesem Milieu ungehindert seinen wollüstigen Ausschweifungen hingeben
zu können (Sueton. Claud. 5). Speziell den Stammesgenossen des von Sarmentus ver-
höhnten Messius, den Oskern, wurde die schändlichste Unzucht vorgeworfen und das Wort
„obscoen" von ihrem Namen abgeleitet „quia frequentissimus fuit usus Oscis libidinum
spurcarum" ^). Auch zwei Epigramme des Ausonius werfen den ,,Opici" =; Osci und den
Bewohnern der oskischen Stadt Nola sexuelle Ausschweifungen vor:
Eunus Syriscus inguinum liguritor,
Opicus magister. .Sic eum docet Phyllis^).
(Epigr. 87.)
i) Für die Bedeutung von Morbus als ,, Laster, unreine Leidenschaft, geschlechtlicher
Excess, sexuelle Monomanie", die wir schon öfter hervorgehoben haben (vgl. oben S. 511
bis 512, 570, 601 — 602, 611), kann gerade Horaz besonders in Anspruch genommen
werden. So bedeutet Ode I, 37, 10 das Wort ,, morbus" die den Verschnittenen eigen-
tümliche Wollust und Sat. II, 3, 254 muss es mit „lasterhaftes, geschlechtlich ausschweifen-
des Leben" übersetzt werden, als dessen insignia die „fasciolae, cubital, focalia" der Effe-
minierten angeführt werden.
2) Karl Otfried Müller, Die Etrusker, Breslau 1828, Abteil. I, S. 177.
3) Festus, de sign. verb. XIV, p. 191, 194 (Citat bei Rosenbaum, S. 298).
4) Es ist bezeichnend, dass diese auf sexuellem Gebiete so erfahrene Phyllis in
Cajjua wohnt.
- 683 —
Subscriptum picturae Crispae mulieris impudicae.
Praeter legiümi genitalia foedera coetus,
Repperit obscoenas Veneris vitiosa libido.
Herculis heredi quam Lemnia suasit egestas,
Quam toga facundi scenis agitavit Afrani,
Et quam Nolanis capitalis luxus inussit.
Crispa tamen cunctas exercet corpore in uno.
Deglubit, fellat, molitur per utramque cavemam;
Ne quid inexpertum frustra moritura relinquat.
(Epigr. 79.)
Mit dem „kampanischen Laster" ist also entweder das aus-
schweifende Sexualleben der Campaner im Allgemeinen gemeint oder
irgend ein spezielles Laster, wie z. B. die Thätigkeit des Cunnilingus
oder Fellator, die der „Opicus magister" übt. Hiermit wurde dann
nach dem \"olksglauben die Entstehung einer so absonderlichen
Hautexcrescenz, wie das Cornu cutaneum, in Verbindung gebracht.
Dass bei dem „Hörn" an sich schon an etwas Erotisches
gedacht wurde und (notabene) nicht an eine Krankheit, beweist
der uralte Ausdruck „einem Hörner aufsetzen" xegara Jioieiv, der
schon in dem Traumbuche des Artemidoros (Oneirocrit. II, 12)
vorkommt. Nach Friedreich ^J steht dieses Sprichwort ohne Zweifel
mit der erotischen Symbolik und grossen Geilheit des Bockes in Be-
ziehung. Deshalb wurden auch die wegen ihrer Geilheit verrufenen
Satyrn mit Hörnern und Bocksfüssen dargestellt und last not least
nannte man deshalb die Hauthörner an der Stirn auch
diovvoiay.oi.
So bei Pseudo-Galen , Definitiones medicae 394 (ed. Kühn, Bd. XIX, S. 443):
AiovvaioHOi slaiv oorcüdeig v:ieooy_al eyyvg y.goTäcfOJV yiyfö/LiFvac. }JyovTai dk xioara asio
zöiv }iSQaoqpogovvT(ov Lcoojv xex/.rjfiEva.
Ferner Heliodoros bei Oribasius IV, 204 — 205 (ed. Bussemaker et Daremberg):
'OoTdibrjg ijiicpvaig iv navil /.ikv yivBzai jueqsi tov acöfiaiog, jiAsova^öriojg de h' li] xecpalfj ,
IxäXiata zd>v XQOzdq^cov '). "Ozav Se 8vo EJiicpvoeig yh'wvrai ji?.i]aidCovaai roTg y.ooTäq)oig,
xigara zavzd zivsg sicodaaiv ovofidCEiv , sviov Ss Siorvaiaxovg zovg ovzco
7iE7iov&6zag dvß^Qcöjtovg :iooot]y6QEvaav.
Nach diesen Beweisen für die Beziehungen im Volksglauben
zwischen Hörn und Geilheit^) unterliegt es wohl keinem Zweifel
i) J. B. Friedreich, Die Symbolik und Mythologie der Natur, Würzburg 1859,
S. 670.
2) Also schon Heliodor kannte das überwiegend häufige Vorkommen der Haut-
hörner an der seitlichen Stini.
3) Vielleicht deutet auch der Satz bei Petron Satir. 43: corneolus fuit .... et
adhuc salax erat diese Verbindung an. (Vgl. übrigens die naheliegende astrologische
Erklärung des „cornua nascuntur", ibidem 39.) Wir finden sie auch später noch in byzan-
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 4-4
— 684 —
mehr, dass das mit dem Hauthorn des Messius in Verbindung ge-
brachte „kampanische Laster" nichts weiter gewesen ist als die im
Altertum sprichwörtliche Wollust der Campaner und ihr Hang zu
sexuellen Excessen auch abnormer Natur, und dass der Spott und
Hohn des Sarmentus irgend einer Bethätigung des Messius in dieser
Hinsicht gegolten hat. Für irgend ein körperliches Leiden neben
dem Hauthorne ist keinerlei Anhaltspunkt gegeben.
Wie wir bisher gesehen haben, brachten die Alten gewisse
Hautaffektionen in eine eigenthümliche Beziehung zu geschlechtlichen
Excessen und zwar auf Grund seltsamer humoralpathologischer Er-
wägungen, die jedenfalls die Möglichkeit der Ansteckung durch den
Geschlechtsverkehr gänzlich ignorieren, weil sie ja auch ausschliesslich
nicht an den Genitalien lokalisierte und nicht venerische Krankheiten
betreffen. Es erhebt sich nun die Frage, ob den Alten, Aerzten und
Laien der spezifische Charakter und die Contagiosität der eigent-
lichen ,, Geschlechtskrankheiten" bekannt gewesen ist. Diese Frage ist
um so bedeutungsvoller, als keinerlei Zweifel darüber herrschen
kann, dass die Ansteckungsfähigkeit und Uebertragbarkeit
gewisser Krankheiten von Aerzten und Laien beobachtet,
erkannt und in klaren und deutlichen Worten geschildert
worden ist und dass zu diesen von den Alten ausdrücklich
als contagiös erwähnten Leiden auch verschiedene Haut-
krankheiten gehörten.
Schon vor bald 90 Jahren hat der Göttinger Professor C. F. H. Marx in beinahe
erschöpfender Weise die Stellen bei alten Schriftstellern, die sich auf ansteckende Krank-
heiten beziehen, gesammelt. Sein Werk ') besitzt noch heute grundlegende Bedeutung.
Später haben Haeser'^) und Hirschberg*) ausführlicher auf die Idee eines Contagiums
bei den Alten hingewiesen, für welche ja schon das Vorhandensein so bezeichnender Aus-
drücke, wie dvdxQCoaig (Plutarch. de discrimine amici et adulatoris 20) Ansteckung
(eigentlich noch treffender ,,Anfärbung"), m'aXaf.ißdven' (Plut. Sympos. V, 7) sich (eine
tinischer Zeit. Jakob Möller (De cornutis, Frankfurt 1692, S. 9) bemerkt über den
Ursprung des Wortes ,,cornutus", der Gehörnte, der Hahnrei: Quidam vero existimant istius
verbi convitium promanasse ab Imperatore Andronico, qui cornua cervorum insignia et rari
aliquid habentia in particibus fori suspendebat, specie quidem ostentandae magnitudinis
ferarum quas cepisset, cum tarnen re vera civitatis mores et uxorum quas ipse
comprimebat lasciviam notaret. Nicet. de Imperatore Andronico, lib. 2.
i) C. F. H. Marx, Origines contagii, Karlsruhe 1824, 8", XX, 153 .S. und:
Additamenta ad Origines contagii, Karlsruhe 1826* 8", XH, 51 S.
2) H. Haeser, Geschichte der epidemischen Krankheiten, Jena 1882 (vgl. bes.
S- 739)-
3) J. Hirschberg, Geschichte der Aiigenheilkunde, Bd. I, S. 347 ff., Leipzig 1899.
- - 685 —
Ansteckung) zuziehen; contagium, contagia, contagiosus (Liv. III, 6; Vergil. Eclog.
I, 51; Georg. III, 468; Horat. Epod. 16, 61; Lucret. VI, 1233; Veget. Art. Veterinär,
lib. I, 14) Ansteckung, Ansteckungsstoff, ansteckend; contactus aegrorum
(Liv. XXV, 26: contactus aegrorum vulgabat morbos; Seneca de tranquillilate animi 7, 4)
die ansteckende Berührung der Kranken; transitus, transire (Plin. n. h.
XXVI, 3; Vegetius Art. Veterinär, lib. III, 2: hi omnes niorbi contagione sunt pleni, et
si unum animal apprehenderint, celeriter ad omnia transeunt; Veget. III, 22: est autem
nequissima passio primo quod pestifero transitu contagionem spargit in plurimos;
Capitolinus, M. Antonius 28: ne in eum morbus transiret) Uebertragung, übertragen;
inficere (Cicer. ad Attic. 1, 13, 3; Vergil. Eclog. III, 480) anstecken; labes
(Ammian. 14, 6, 23), lues (Caelius Aurelianus Morb. chron. I, 4: Memorat denique
Silimachus Hippocratis seclator, contagione quadam, plurimos ex ista passione, veluti lue, apud
urbem Romam confectos), tabes, tabum (Sallust. Catil. 2"; Minuc. Felix. Octav. c.
5; 11; Vergil. Georg. III, 481), lues tabifica (Ammian. Marcellin. XIX, 4) an-
steckende Seuche, ein beredtes Zeugnis ablegt.
Wie tief der Begriff der ansteckenden Krankheit wurzelte und demgemäss die Furcht
vor Berührung damit behafteter Menschen verbreitet war, erhellt aus der folgenden charak-
teristischen Schilderimg des Ammianus Marcellinus (XIV, 6, 23): et quoniam apud eos
ut in capite mundi morborum acerbitates celsius dominantur, ad quos vel sedandos omnis
professio medendi torpescit, excogitatum est adminiculum sospitale nequi amicum
perferentem similia videat, additumque est cautionibus paucis re medium aliud
satis validum, ut famulos percontatum missos quem ad modum valeant noti
hac aegritudine colligati non ante recipiant donium quam lavacro purgaverint
corpus, ita etiam alienis oculis visa nietuitur labes').
Es ist interessant, dass hier von einem prophylaktischen Bade zur Reinigung
und Beseitigung eines Ansteckungsstoffes die Rede ist. Man hatte sogar schon die Vor-
stellung von der Rolle der Kleidung als Infektionsträger, die wir schon oben"-) aus
der Bibel (II. Könige. 5, 27) kennen lernten. Vergil (Georg. III, 561 — 566), sowie aus
späterer Zeit Cedrenus {Mezsdidoro ds 1] %'öoog [seil. Xoi[.i6g'\ avzt] djiors i/A,dzcov.
Georgii Cedreni compendium historiarum, Paris 1647, p. 257 D) bieten Belege hierfür. Dass
endlich das Contagium schon von den Alten als ein ,, contagium animatum" aufgefasst und
auf kleine Lebewesen zurückgeführt wurde, beweist die berühmte Stelle bei Varro,
Rer. rusticar. lib. I, 12, 2: Animadvertendum etiam, siqua erunt loca palustria . . . quod
crescunt animalia quaedam minuta, quae non possunt oculi consequi, et per aera
intus in corpus per os ac nares perveniunt atque efficiunt difficiles raorbos''').
Als Prototypen ansteckender Krankheiten galten den Alten ausser der von vielen
Autoren (Thucydid. II, 51; Dionys. Halicarnass. X, 53; Diodor. Sicul. XIV, 71;
Euseb. Histor. eccles. VII, 17; Evagrius Histor. eccles. IV, 29 u. v. a.) geschilderten
1) Ganz ähnlich schildert Seneca De tranquillitale animi 7, 4 die Gefahr der Be-
rührung und des Zusammenseins mit den von einer ansteckenden Krankheit (pestilentia)
ergriffenen Individuen.
2) Vgl. S. 493.
3) Auch Vitruvius deutet, allerdings in etwas weniger klarer Weise, die Bakterien-
theorie der Malaria an: Cum aurae matutinae cum Sole Oriente ad oppidum pervenient, et
iis ortae nebulae adiungentur, spiritusque bestiarum palustrium venenatos cum nebula
mixtos inhabitorum Corpora flatus spargent, efficiunt locum pestilentem (De architectura 1, 4).
Nach I. Ilberg, A. Cornelius Celsus u. s. w., S. 383, ist diese Bakterientheorie der
römischen Autoren aus griechischer Quelle übernommen.
44*
— 686 —
„Pest"') die Ophthalmie, die Schwindsucht und die Krätze, sowie verschiedene
andere contagiöse Hautkrankheiten.
Das Contagium der Augenentzündung, ocp&aXfxia, lippitudo-), wird zuerst bei
Plato (Phaedrus 36, p. 255 D) erwähnt: xal ovo' Sri Ttenov&sv oidsv ovo s'xei (pQaaai,
uXX' olov 6.71 akXov ocp^aXfiiag ajioXsXavxwg jiQocpaaiv EiJieXv ovx k'j^st . . . ,,[Der Liebende]
weiss nicht, was ihm geschah, und kann es nicht sagen, sondern wie einer, der von einem
Andern eine Augenentzündung abbekommen, kann er die Ursache nicht angeben." (Ueber-
setzung von J. Hirsch berg).
Auch Plutarch (Sympos. V, 7) bestätigt die eminente Contagiosität der infektiösen
Ophthalmien: Tmv S'äXXcor voatjfmTcov /näXiora xai Taxiora rag offdaXf^iiag dvaXai^ißdvovoiv
Ol ovvövtsg ■*).
Neben der Ophthalmie werden gewöhnlich die Schwindsucht (f&ioig, q?{^6ij.
phthisis und Krätze lycöga , Scabies als typische Beispiele ansteckender Krankheiten
angeführt.
So heisst es bei Aristoteles, Problem. VII, quaest. 8 (Opera omnia, Paris 1889,
Bd. IV, S. 154): Aia Ti djin q)§ia£fog aal 6(pdaXfiLag xal tf'CüQag 01 jiXrjoiäCovreg
aXioKovrai, anö ök vdgwjtog nal jivqstiov xal djiOJih]^iag ov/ aXlaxovcai ovds TÖJr
äXXcov. „Weshalb werden von der Lungenschwindsucht und der Augenentzündung und von
der Krätze diejenigen, welche sich [den Kranken] nähern, befallen, dagegen nicht von
Wassersucht, Fiebern, Apoplexie und anderen Leiden?"
Aehnlich äussert sich Galen (De differentiis febrium lib. I c. 3, Kühn VII, 2 7q)
über die Ansteckungsgefahr der an Pest, Krätze, Ophthalmie und Schwindsucht Leidenden:
üoTiEQ ye xal Sri or^vöiargißEiv roig Xoi/hcüttovoiv EJiiocpaXig. dnoXavoai yäg
xivbvvog cöansQ ipcögug rivog t] dcpßaX/Liiag. bjt lacpaXkg ös xal xoTg vjto
(p-d'örjg ovvsxof/,£voig avvdirjfiSQSVSiv, xal 6'Xcog 0001 oijjrsdovcjösg ixjiveoroiv, cög
xal tovg ol'xovg, iv olg xatäxeivTai, övaoödsig vjiäQ)(^Eiv.
Mit dem Wortlaut der citierten Stelle der aristotelischen Probleme stimmt zum Teil
wörtlich die Notiz bei Alexander aus Aphrodisias, Problemata Sect. II, quaest. 42 (bei
I. L. Ideler, Physici et Medici Graeci minores, Berlin 1841, Bd. I, S. 64) überein.
Am meisten interessieren uns natürlich im Zusammenhange mit
der Frage nach der Kenntnis der Contagiosität venerischer Krank-
heiten die Anschauungen und positiven Angaben der Alten über die
1} Hierunter sind gewiss neben der eigentlichen Bubonenpest verschiedene andere
epidemische Infektionskrankheiten zu verstehen. Ueber die Natur der durch die klassische
Schilderung des Thukydides (II, 48 — 54) berühmt gewordenen „attischen Pest" (430—425
v. Chr.) ist noch keine endgültige Klarheit geschaffen worden. Vgl. Wilhelm Ebstein,
Die Pest des Thukydides (die attische Seuche), Stuttgart 1899 (mit Polemik gegen R.
Koberts Erklärung der attischen Pest als einer Combination von Ergotismus und Blattern).
— Ueber die Geschichte der eigentlichen Bubonenpest besitzen wir jetzt das ganz hervor-
ragende Werk von Georg Sticker, Geschichte der Pest, Giessen 1908 (darin das Altertum
S. 17 — 35 behandelt).
2) Vgl. über ,, lippitudo", das nach J. Hirsch berg, a. a. O. S. 247, Anm. 2
,, Katarrh, Granulation und Eiterfluf^ der Bindehaut nebst Folgezuständen" umfasst, die ge-
lehrten Nachweisungen von L. Kotelmann, Dfe Ophthalmologie bei den alten Hebräern,
Hamburg u. Leipzig 1910, S. 146 — 147, Anm. 1099.
3) Ueber die Ansteckungsfähigkeit der Ophthalmie äussern sich von römischen
Schriftstellern Ovid (Remed. amoris 605, 616) und Seneca (De dementia II, fa).
Ansteckungsfähigkeit von Affektionen der äusseren Decke,
zu denen ja auch die Geschlechtskrankheiten in gewissem Sinne ge-
hören. Wir erwähnten schon, dass hauptsächhch die ipdyna, Scabies
als Prototyp einer solchen ansteckenden Hautkrankheit galt.
Wie der Ausdruck xpcogag iivog an der eben mitgeteilten Galen- Stelle (VII, 179)
beweist, verstanden die griechischen Aerzte unter rpmga verschiedene ansteckende Haut-
krankheiten, unter denen sich, wie wir sehen werden, zweifellos auch unsere heutige
eigentliche ,, Krätze" befand.
Sehr bemerkenswert sind die Ausführungen über die Ursache der grossen An-
steckungsfähigkeit der ipojga in den Problemen des Aristoteles und des Alexandros
von Aphrodisias.
'H 8s ipdiQa, heisst es bei Aristoteles (Probl. Sect. VII, quaest. 8), /.läkkov zäiv
ä?Mor, olov emjiolfjg xe y.al yUoyoov x6 anoQQSov xa ya.Q xvt]ai.iüi8)] xoiavxa' 810 avxa
xcp sTiiJioXfjg yivEodai y.ui yXiaygov sivai cbirsxai. Tmv 8'ä?J.o}V xa /isv ovy c'mxExai 8ia
x6 fiij ETriJio/ajg yirsodai, xa 8'ovra sjiuioltjg, ort ov jiQOOfist'si 8ia ^rjQOxtjxa. Ganz ähnlich
äussert sich Alexander Aphrodisiensis (Probl. II, 42, Ideler I, 64).
Es wird alo sehr richtig die eminente Ansteckungsfähigkeit der Scabies daraus erklärt,
dass ihr Sitz ein oberflächlicher (ETXiJTokfjg) ist gegenüber anderen mehr in der Tiefe der
Cutis lokalisierten Affektionen wie der XenQa und Xsvxy]. Unter dem yllaxQOV hat man
wohl die Sekretion ekzematöser Partien zu verstehen, die man für contagiös hielt im Gegen-
satze zu den Stellen von trockener Beschaffenheit.
Dass unter „Scabies" vielfach auch die durch die Invasion von Milben hervorgerufene
Hautaffektion, unsere „Krätze" oder „Räude" zu verstehen ist, beweist mit Sicherheit die
folgende Stelle des Vegetius (III, 71): Haec (seil. Scabies) jumentis deformem passionem
et inlerdum periculum generat. Contagiosa namque est et transit in plures. Es ist
hier offenbar von der Pferderäude die Rede. Auch Livius (IV, 30) erwähnt die Tier-
räude und ihre Uebertragbarkeit auf den Menschen: scabie alia (seil, pecora) absumta:
vulgatique contactu in homines morbi, et primo in agrestes ingruerant servitiaque;
urbs deinde impletur.
Eine contagiöse Hautkrankheit unter dem Namen „Scabies" beschreibt auch Curtius
Ruf US (IX, 10): Altero die classis adpulsa est haud procul lacu salso; cujus ignota natura
plerosque decepit temere ingressos aquani. Quippe Scabies corpora invasit et con-
tagium morbi etiam in alios vulgatum.
Die durch den Sarcoptes hervorgerufene ansteckende Tierräude erwähnt endlich noch
Juvenalis (II, 78—80):
Dedit hanc contagio labem
Et dabit in plures; sicut grex totus in agris
Unius scabie cadit et porrigine porci.
Beiläufig sei bemerkt, dass Aristoteles die Krätzmilbe, xo axagl als s?.d/jfixov
Cööov erwähnt (Histor. Animal. 5, 32), ohne indessen ihre Beziehungen zur Krätze zu kennen.
Als eine zweite ansteckende Hautkrankheit wird von dem
Pneumatiker Herodotos (bei Oribasius IV, 617) ein ulceröses,
mit Fieber auftretendes Exanthem unter dem Namen av&Qay.eq
beschrieben und folgendermassen charakterisiert: Firovrai de xal yMxd
rivag E7iidj]juovg airiag y.arä zovg TtXeiozovg xal dno l'&vöbv eig k'dvi]
fis'&ioTavTai.
— 688 —
Drittens ist auch die Trichophytie, wie sie in der berühmten
Mentagra-Epidemie des Jahres 25 n . Chr. in Rom auftrat, als
ein ansteckendes Hautleiden klar und deutHch erkannt und be-
schrieben worden (vgl. oben S. 639 — 646). Deshalb war das „osculari"
so gefürchtet, „quoniam contactus perniciosus est" (Plinii Secundi
Junioris de medicina lib. I, c. 18 ed. Rose, Leipzig 1875, ^- 33)'
worauf Martial in mehreren Epigrammen anspielt V)-
Endlich ist noch des Aussatzes, der eXecpavTiaoig zu ge-
denken, den auch die Alten für ein sehr ansteckendes Uebel hielten.
Die wichtigsten Stellen: Aretaeus de cur. morbor. diuturnor. II, 13: 8sog 6e
^vfxßiovi' TS xal ^in'diairäo&ai ov fisTov r] loifJiq); Aretaeus de causis et signis diurturnor.
morbor. II, 13: Toiovgds oin' iovzag xlg ovh äv (pvyoi rj xig ovx av ixTQajisü] ....
dsog yag xal dfx,(pi (lEzadöoiog xov xaxov; Caeiius Aurelianus, Morbor. chron.
Hb. IV, c. I : Alii aegrotum in ea civitate, quae nunquam fuerit isto morbo vexata, si fuerit
peregrinus, cludendum probant, civein vero longius exulare, aut locis mediterraneis, et
frigidis consistere, ab hominibus separatum, exinde revocari, si meliorem receperit valetudinem,
quo possint ceteri cives nulla istius passionis contagione sauciari; Paulus
Aegineta IV, I: 'Ejieidij 8e twv svfiszadö coiv iozl z6 jiäd-og' ov^ fjzzov ij
loi/iiög, ajioiHiazEov avzovg u>g ozi jioQQCozdroi zmv tiöXewv, ev fXEOoyEioig xai xazaxpvxQOig
xal ohyardQMJzoig ;ua)^to«?, eI'jieq oiöv zs . . . . avzoi ze yaQ sTiizrjdecozEQO) zoi dsgi
XQj]oovzai, xal ovx av /tszadoTEv äkXoig zov xaxov.
Wohlverstanden ist dieses so „leicht übertragbare" Uebel (Paul.
Aegin. IV, i) der echte, wirkliche Aussatz, nicht etwa eine
S3^philis, die sich dahinter verbirgt. Denn sowohl Aretaios als auch
Caeiius Aurelianus und Paulos von Aegina beschreiben in dem
Kapitel, wo sie die grosse Ansteckungsgefahr der Elephantiasis er-
wähnen, einzig und allein den typischen Aussatz mit allen seinen
charakteristischen Symptomen, vor allem der typischen Veränderung
des Gesichtes, den Mutilationen etc.
Diese Belege sind ausreichend, um den Satz aufstellen zu können,
dass den Alten der Begriff der von Mensch zu Mensch über-
tragbaren ansteckenden Krankheit im allgemeinen und der-
jenige ansteckender Hautkrankheiten im besonderen sehr
geläufig war, ja, dass sie sogar eine Uebertragung durch eine Art
von geschlechtlicher Berührung kannten, wie sie doch der Kuss dar-
stellt, der nach Plinius eine so bedeutsame Rolle bei der Ver-
breitung des Mentagra spielte.
l) Zu den früher (S. 639) mitgeteilten wäre noch das hierfür sehr charakteristische
Epigramm X, 22 hinzuzufügen:
Cur spleniato saepe prodeam mento
Albave pictus sana labra cerussa,
Philaeni, quaeris? basiare te nolo.
— 689 —
Man sollte daher a priori annehmen, dass ihnen auch der Begriff
der „Geschlechtskrankheit", d. h. einer durch den Geschlechtsverkehr
acquirierten spezifischen Erkrankung der Genitalien bezw. der sich
bei jenem am innigsten und längsten berührenden Körperteile nicht
fremd geblieben sei.
Da muss aber von vornherein festgestellt werden, dass jenes
eben erwähnte, aus unzweideutigen Beobachtungen hervorgehende
klare Wissen gerade auf dem Gebiete der venerischen Krankheiten
den Alten völlig abging. Wir finden bei ihnen nur dunkle
Ahnungen, unklare Andeutungen über geschlechtliche An-
steckung und Unreinheit der Genitalien. Und gerade das Schweigen
der Aerzte, die, wie wir sahen, über die Contagiosität der Krank-
heiten sehr gut Bescheid wussten, lässt in diesem Falle den Schluss
zu, dass eine klare und rationell begründete Erkenntnis der An-
steckungsfähigkeit venerischer Leiden nicht existierte. Sonst hätte
sie in den zahlreich uns erhaltenen Kapiteln über Krankheiten der
Genitalien in den Werken der antiken Medizin zum Ausdrucke
kommen müssen, wie z. B. die Contagiosität des Aussatzes in den
einschlägigen Kapiteln betont wird. Der durchaus nicht niedrige
Stand der antiken Venereologie, die wir im nächsten Paragraphen
zu würdigen haben, lässt dies als eine unbedingte Voraussetzung
erscheinen, falls der Begriff eines venerischen Contagiums den alten
Aerzten wirklich klar zum Bewusstsein gekommen wäre. Während
z. B. beim Mentagra durch „transitus osculi" die parasitäre Haut-
affektion übertragen wird, weshalb vor dem Küssen als einem „con-
tactus perniciosus" gewarnt wird, finden wir nirgendwo ein Verbot
des Coitus zur Verhütung venerischer Ansteckung, selbst nicht in der
Bibel, die, wie wir gleich bemerken wollen, im Gegensatze zu der
Medizin des klassischen Altertums, so viele Reinigungs- und Ab-
sonderungsvorschriften für Gonorrhoiker enthält.
Bei der Entscheidung der Frage nach der Kenntnis der An-
steckungsfähigkeit gewisser Ausflüsse, Absonderungen und krank-
hafter Behaftungen der Genitalien muss man sich stets den tiefen
Abscheu der gesamten orientalischen und griechisch-römischen Welt
des Altertums vor U nreinlichkeit und pathologischen Sekre-
tionen überhaupt und denjenigen der männlichen und weib-
lichen Genitalien im besonderen vergegenwärtigen. Vieles, was
uns heute vielleicht als „Furcht vor Ansteckung"' erscheinen würde,
war bei den Alten nichts als ein Ausfluss des rein ästhetischen
Widerwillens, des Reinlichkeitstriebes schlechthin, wenn
auch die Möglichkeit nicht geleugnet werden kann und soll, dass
— 6go —
dahinter bisweilen eine hygienische Ueberlegung und Erfahrung ge-
steckt hat.
So gilt die Frage, ob es sich um eine blosse Reinlichkeits- oder
mehr um eine hygienische Vorschrift handelt, vor allem auch für die
bekannte und in jedem Falle sehr bemerkenswerte Bibelstelle (Lev.
15, 2 ff.), die ich nach der zuverlässigen Uebersetzung des Arztes
und Hebraisten J. Preuss^) wiedergebe:
,, Jeder Mann, der aus seinem Fleische (Penis) fliesst, ist unrein. Und seine Un-
reinheit ist gleich, ob tropft sein Fleisch von seinem Fluss oder sich verstopft sein Fleisch
von seinem Fluss. Das Lager, auf dem er liegt, Sitzgeräte und Reitzeug, die er benutzt,
sind unrein; wer sein Lager oder ihn selbst berührt, sich auf ein von ihm benutztes Sitz-
gerät setzt oder seine Satteldecke berührt oder trägt, muss seine Kleider waschen, selbst
baden und ist unrein bis zum Abend; dasselbe gilt für jeden, auf den das Sputum des
Flusssüchtigen (zab) gefallen und für Alles, das der Kranke berührt hat, ohne vorher seine
Hände in Wasser abgespült zu haben. Irdenes Gerät, das er berührt, wird zerbrochen,
hölzernes in Wasser gespült. Zur Zeit der Wüstenwanderung sollte man derartig Kranke
ganz aus dem Lager entfernen. Hat der Ausfluß aufgehört, so zählt er sich sieben Tage
zu seiner Reinigung, wäscht dann seine Kleider, badet in lebendem Wasser und ist rein.
Am folgenden Tage bringt er zwei Tauben dem Priester, der sie opfert."
Nach Preuss heisst jeder abnorme Ausfluß aus den Genitalien
zob, effluvium, der damit Behaftete zab, fem. zab ah, der Zustand
zibah. Dass es sich hier nur um Ausflüsse aus den Genitalien
handeln kann, beweist die Zusammenstellung des zibah- Gesetzes mit
dem über Pollution und Menstruation, wie im Siphra (ed. Weiss,
p. 75 a) ausdrücklich deduciert wird. Unter „zabah" versteht jedoch
der (nachbiblische?) Sprachgebrauch nur die aus den Genitalien ab-
norm blutende Frau.
Es ist Preuss ohne weiteres zuzustimmen, wenn er sagt, dass
mit dem ,, Flusse" hier nur die Gonorrhoe gemeint sein kann und
dass man wegen der seltenen Fälle von Spermatorrhoe und benignem
Katarrh der Harnröhre jedenfalls keine Ausnahme machen konnte.
Dass die Vorschriften einen grossen hygienischen Wert besassen, ist
von unserem Standpunkt aus klar. Ob sie aber allein zu diesem
Zwecke gegeben wurden, kann nicht mit Sicherheit behauptet werden,
zumal da das Verbot des Coitus für den „zab" fehlt, während es be-
züglich der Unreinheit tum'a des menstruierenden Weibes besteht:
„Wenn ein Mann ein (an der monatlichen Absonderung) leidendes
Weib beschläft und ihre Scham aufdeckt — er entblösst ihre Blut-
quelle und sie deckt den Quell ihres Blutes auf — , so sollen beide
ausgerottet werden aus der Mitte des Volkes" (Lev. 20, 18). Es
i) J. Preuss, Die männlichen Genitalien und ihre Krankheiten nach Bibel und
Talmud. In: Wiener medizinische Wochenschrift 1898, Nr. 12 ff., S.-A., S. 24 — 25.
— 6qi —
scheint überhaupt die Unreinheit der menstruierenden Frau und der
„zabah", d, h. der an abnormen Bhitungen ausserhalb der Menstruations-
zeit Leidenden, für schlimmer gehalten worden zu sein als die Un-
reinheit des Gonorrhoikers. In der Mischna findet sich nämlich eine
Bestimmung, dass die Unreinheit der „zabah", der abnorm blutenden
Frau stärker sei als die des „zab", da sie ihren Concumbenten für
sieben Tage verunreinige, er aber eine (reine, nicht kranke) Frau nur bis
zum Abend, wie der Coitus mit einem Gesunden (Kelim I, 4) \).
Diese Thatsachen sprechen nicht dafür, dass man den Tripper-
kranken für besonders ansteckungsfähig hielt. Es ist möglich, dass
in talmudischer Zeit eine Kenntnis des Trippercontagiums und
seiner Uebertragung durch den Coitus vorhanden war. Preuss
(a. a. O. S. 28) teilt die folgende Stelle aus einem Midrasch (Lev. r.
fol. 25a) mit: „Wenn ein junger Mensch sündigt, wird er ge-
schlagen mit zibuth und Aussatz, darum warnt Mose davor." Be-
merkenswert ist auch, dass von den beiden Opfertieren eines als
Sühnopfer gebracht wird und die Schrift (Lev. 15, 15) den Zusatz
macht: „es sühne für ihn (den Genesenen) der Priester vor dem
Herrn seinen Fluss." Endlich weist Preuss darauf hin, dass man
später beide Krankheiten, Gonorrhoe und Aussatz, mit dem gemein-
samen Namen neg'aim belegte, was von nag'a berühren, abge-
leitet, nur contagia, ansteckende Krankheiten bezeichnen könne. Wir
hätten also bei den Juden der späteren Zeit doch eine Kenntnis der
Ansteckungsfähigkeit des Trippers anzunehmen -), die bei Griechen
und Römern sich nirgendwo nachweisen lässt.
Ganz sicher hat dem klassischen Altertum der Begriff einer
„spezifischen Geschlechtskrankheit" gefehlt. Haeser glaubt allerdings,
dass der bei dem Pneumatiker A n t y 1 lo s vorkom mende A usdruck ,,di6.'&£0ig
atdouHif „vielleicht als eine Andeutung der sonst von keinem Arzte
erwähnten spezifischen Natur derartiger Affektionen gelten könne" ^).
Die betreffende Stelle findet sich bei Oreibasios (ed. Bussemaker et Daremberg IV,
469 — 470) und lautet : Ov jieqI tcöv dia deözrjza JisgiTS/iivofiEV(or vvr 6 Xöyoq iarlv, aXXa
oig di.a&EOECog aidouxrjg yEi'o/Lih'Tjg , tj nöo&i] fiE?uah'ETai. Bussemaker und Daremberg
haben diese Stelle folgendermassen übersetzt: Nous ne parlons pas ici de ceux qui subissent
la circoncision pour cause de religion, mais de ceux dont le prepuce s'est noirci (gangrene)
par suite d'une maladie des parties genitales. Haeser (a. a. O.) verdeutscht:
,,Es ist jetzt nicht die Rede von Denen, welche aus religiösen Gründen der Beschneidung
1) Vgl. J. Preuss, a. a. O. S. 27.
2) Diese Kenntnis nimmt auch Heinrich Auspitz an (Die Lehren vom syphiHtischen
Contagium und ihre thatsächliche Begründung, Wien 1866, S. 15).
3) H. Haeser, Lehrbuch der Geschichte der Medizin. Dritte Bearbeitung. Jena 1875,
Bd. I, S. 511.
— 6g2 —
unterzogen werden, sondern von denen, welchen in Folge einer die Geschlechtsteile
ergreifenden Diathese die Vorhaut brandig wird."
Ohne Zweifel ist die französische Uebersetzung richtiger und 7,utreff ender ; denn
diä^EOig alSoiiyJ] muss wörtlich als „Zustand der Genitalien" (natürlich krankhafter)
übersetzt werden. Es ist also von einer Gangrän der Vorhaut infolge eines krankhaften
Zustandes der Genitalien die Rede, wobei dieser letztere im Dunkeln gelassen wird. Dass
Siddeatg unser „Zustand", und zwar rein örtlich genommen, ist und nicht als „Diathese"
im konstitutionellen Sinne übersetzt werden muss^), erhellt aus Galens klaren und unzwei-
deutigen Ausführungen (De symptomatum differentiis über, cap. i, ed. Kühn, Bd. IV, S. 43 j,
wo er diadeaig von diayisTa&ai beschaffen sein, sich in einem (gesunden oder kranken oder
neutralen) Zustande befinden, ableitet. (Vgl. auch Galen XV, iii.)
Weitere Belege bietet der ,, Thesaurus Graecae Linguae" von Henricus Stephanus,
wo es heisst: „Quod vero ad corporis diädsoiv attinet, apud Aledicos pro Morbo s.
Vitio accipitur", eoque vel recenti, vel certe non admodum veteri; Diosc. 2, diad'eaei?
(or(or aurium vitia: i, ßk£(päQCO%' palpebrarum vitia. Sic Galen, ad Glauc. öiadeoEig rjjiaTiy.m
jecinoris vitia, jecinoris morbi. Et dtädeaig xm)uxri Coli vitium s. dolor [Galen, vol. IX,
P- 575- 'Ovo/nd^o) 8e vogcoSfi.; dia&sosig ov fwvov nxav )jdij roocöaiv, ä?J.a. xäiiFibhv
äQyjjxm Tig avtföv avviazaoffai] .... Quamobrem jiäx)oc et biäüeaig idem quodammodo
esse videntur"*). Auch Galen (XIII, 315) erwähnt Sindeoetg zov aldoiov.
Die Diathese war hiernach eine örtliche Affektion, die Ursache der Diathese nach
der humoralpathologischen Anschauung eine Dyskrasie. Als Beleg hierfür führe ich eine
charakteristische Stelle über die Leberaffeklionen bei Galen (De compos. medicamentor. sec.
locos, lib. VIII, c. 6, ed. Kühn XIII, 191 — 192) an: xal xara tovto rfjg droviag rov
r]nazog, ogd'öjg a.%' sijtxov ötä^eoiv alziar sivai filav, ijv övaxoaaiav ovoßäCofisv,
avßig ogß'wg av i.syoifxi /nij /tiar, d/J.' dy.zd) rag diadeaeig eivai, öiön rooavzai Sia(pooal
zcöv SvaxQaoiojv eloi.
Die did'&eoig aldouxr) bedeutet also weiter nichts als eine „Krank-
heit der Genitalien", wie alle anderen Affektionen, die durch irgend
eine Dyskrasie hervorgerufen wird. Und so würde gerade die Wahl
des Ausdrucks diddeoig darauf hinweisen, dass man gar nicht an eine
durch Ansteckung erworbene „Geschlechtskrankheit", sondern an eine
durch Dyskrasie entstandene brandige Affektion der Genitalien dachte
(gangränöser Schanker, Krebs, diabetische Gangrän, Brand bei Para-
phimose etc. etc.).
Da nun der Begriff der spezifischen Geschlechtskrankheiten nicht
existiert, so fragt sich weiter, ob den, wie wir sahen, mit dem Begriff
des Contagiums wohl vertrauten Alten nicht doch die Uebertragbarkeit
und Ansteckungsfähigkeit gewisser Leiden durch den Coitus bekannt
i) So noch Rudolf Virchow, Anlage und Variation. In: Sitzungsberichte der
Königlich preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1896, No. XXIII, S. 518
{did^Eoig = Anlage).
2) Henricus Stephanus, Thesaurus Graecae linguae, ed. Parisina 1833, Vol. II,
Col. I151. — In der That war bei den Pneumatilcern voaog die allgemeine Dyskrasie, jid'&og
dagegen die durch die Dyskrasie hervorgerufene Verletzung der natürlichen Funktion der
Körperteile und insofern identisch mit der 8id§soig (Pseudo-Galen XIX, p. 386, 6, def.
133; P- 386, 15, def. 134). Vgl. Wellmann, Die pneumatische Schule, S. 161.
— 693 —
gewesen sei, insbesondere der Gonorrhoe und des Schankers. Auch
hier ist die Ausbeute so gering', die betreffenden Andeutungen
sind so vage und dunkel, dass man im Grossen und Ganzen auch
diese Frage verneinen und höchstens für den widernatürlichen
Geschlechtsverkehr eine Kenntnis des Zusammenhanges gewisser
Analaffektionen mit dem Akte der Pädikation zugeben kann, wie aus
unseren früheren eingehenden Darlegungen (vgl. oben S. 575 — 583
und 585 — 586) hervorgeht, ohne dass auch hier die „Ansteckung"
durch solchen Verkehr hervorgehoben wird, vielmehr lediglich die
Feigwarzen am After als ein Erkennungszeichen der passiven Päderastie
gelten, über deren Pathogenese sonst nichts ausgesagt wird.
Als „eines der wichtigsten Zeugnisse für geschlechtliche An-
steckung- im klassischen Altertum" ^) betrachtet der berühmte Mytho-
loge Wilhelm Heinrich Röscher die Sage von Minos und
Prokris, die er von diesem Gesichtspunkte aus in seiner vorzüglichen
Arbeit über „Die , Hundekrankheit' {xvojv) der Pandareostöchter und
andere mythische Krankheiten" ^) behandelt hat. Wir müssen daher
auf diesen Mythus etwas näher eingehen.
Als die beiden wichtigsten Quellen gelten die Berichte des ApoUodoros und des
Antoninus Liberalis.
ApoUodoros, der nach Röscher aus guten, alten Quellen schöpft, berichtet (bibl.
3, 15, I, 4): si de avvü.&oi yvvi] Mcvcoi, dövraror fi%' avrrjv ocoßrji'ai. TTaanpärj yag,
sjiEidi) 7toX).aTg Mivco^ oi'rijvvd^FTo yvvai^iv , iqpaQfidfcet'oev avröv , y.ai ojiÖte älh]
ovvTjvvä^sto, elg rd do&ga e(ptEi ß^tjgia, xai ovrcog dudiXXvr'TO .... TIoöxQig, dovna
zrjv KiQxaiav jiieh' gi^av .tqo^ xd fajdev ßXäipai, ovvevvd^Exai. {,,Wenn ein Weib mit
Minos verkehrte, war sie unrettbar dem Tode verfallen. Denn Pasiphae gab dem Minos,
da er mit vielen Frauen geschlechtlich verkehrte, Gift ein und sobald er den Coitus mit
einer anderen ausübte, suchte sie deren Geschlechtsteil ■') mit bösen Geschwüren (&i]Qia)
heim, so dass sie starben . . . Prokris erst machte durch den Genuss eines aus der Kir-
käischen Wurzel"*) bereiteten Trankes den Coitus unschädlich").
Röscher übersetzt dijoln (wörtlich ^ ,,Thiere'') mit „Geschwüre" und sagt: ,.Zum
Verständnis des eigenartigen Ausdrucks ßtjgia, der offenbar die volkstümliche Benennung
einer bestimmten Krankheit ist, bemerke ich, dass man gewisse bösartige Krankheiten, ins-
besondere der atdoTa (^ äodga) als dtjgia oder ßtjgto'jfiaia, gewisse bösartige, fressende
Geschwüre und Wunden ;ils £?.xr} Tsßrjgico/iisva oder vofial ■&t]giwÖ£i? zu bezeichnen pflegte.
Vgl. namentlich PoUux onom. 4, 206: drjQico/^ia yirerai fisv i'Xxog jiegl dvögwv aidoTa
ai(.ia TioXi) y.al fiiXav xai Svacödeg dtpiiv, fxezd ^leXm'iag xi]v odgxa iodiov. Hesych. s. v.
ßrjgiov Jid^og xi ocofiaxog, o y.ai y.agxivog ya?.sixai.^^
1 ) Briefliche Aeusserung in einem Schreiben an den Verfasser.
2) Rheinisches Museum für Philologie, Frankfurt a. M. 1898, Neue Folge, Bd. LIII,
S. 180— 181.
3) ägß'oa bedeutet hier wie bei Herod. 3, 87; 4, 2 das weibliche aidoTor.
4) Ueber diese, die Mandragora- oder Alraunwurzel vgl. Dioskor. 4, 76; Plin., n.
bist. 25, 147; 26, 156; Galen XII, 26.
— 694 —
Bei der im nächsten Kapitel zu erörternden antiken Terminologie der venerischen
Affektionen werden wir auf die Gruppe der dtjQia und ^ijQiojfiaTa wieder zu sprechen
kommen. Man verstand darunter, wie schon aus den eben mitgeteilten Definitionen des
Pollux und des Hesychios erhellt, übelriechende {dvoöiösg), gangränöse {/x.eXav), die
Gefässe arrodierende {atfia jioXv), rasch um sich fressende (Ti]v adgxa lad^iov)
Geschwüre der Genitalien, also entweder gangränös - serpiginöse Schanker oder
krebsartige Ulcerationen {ö xal y.aQxlvog xaXsTxai)^). Der Name {hjQiov, -driQiwfia
wurde offenbar davon abgeleitet, dass die Affektion etwas ,, Fressendes" an sich hat und wie
ein Tier das gesunde Fleisch frisst. Unter Bezugnahme auf die Krankheiten des Herodes
des Großen und des Kaisers Galerius bringt Röscher eine ebenso plausible etymologische
Ableitung des {)t]Qiov: „Von Herodes d. Gr. berichtet Josephos (Ant. Jud. 17, 6, 5
und bell. Jud. I, 33, 5) ausdrücklich, es sei bei ihm eine aidoiot' ofjipn; (orjTisdöiv) oxcolrjxag
ei-iTtOLOvaa [yEVVöJGa) eingetreten, d. h. ein bösartiges, Fäulnis bewirkendes Geschwür, in
dem sich schließlich Maden oder Würmer entwickelten: eine pathologische Erscheinung,
die auch sonst mehtfach bezeugt wird und zu der Benennung Otjoiov (?9»/pta) oder {^rjQiojfMa
wesentlich beigetragen zu haben scheint (vgl. Herodot. 4, 205 ; Suid. s. v. uTidn'aTO. s. v. evlai;
Galen ed. Kühn XII, p. 6; XIII 733, XIV 755 ; Heim, Incantam. mag. 556, 564. Bochart,
Hierozoicon 3, 521). Ganz ähnlich heisst es von der schrecklichen Todeskrankheit des
Kaisers Galerius bei Lactantius (de mort. persec. 33): Nascitur ei ulcus malum in
inferiori parte genitalium serpitque latius .... proxima quaeque Cancer invadit et
quanto magis circumsecatur latius saevit, quanto curatur, increscit .... jam non longe
pernicies aberat et inferiora omnia corripuerat. computrescunt forinsecus viscera "') et in tabem
sedes tota dilabitur .... repercussum medelis malum recidit introrsus et interna compre-
hendit, vermes intus creantur etc."
Als wirkliche Thiere und nicht als bösartige Geschwüre erscheinen die dtjgia in dem
zweiten, nicht minder interessanten Berichte, der im 41. Kapitel der ,, Metamorphosen" des
Antoninus Liberalis (ed. Koch, Leipzig 1832, S. 51 — 52) gegeben wird:
Iloöy.oig df: xarahjiovoa tÖv yjipalov vjt' alayvrt]g qr/Exo q)svyovaa Jiaga Mivoiva
Tor ßaoi/Ja xGiv KQrjxön'. Kaxaiaßovaa b'avxov syöfXEVov im dxsxviag vjiioxvsXxo xai
idiöaaxev xbv xqojiov avxcö, st yivoivxo :naTdeg. 'O yag Mivcog ovgeaxev oq^sig xai
axoQjiiovg xai axoXojxsvdgag , xai ajrsdrrjoxov ai yvvaZxsg oaaig eiilyvvxo.
UaaKpdt] fi'fjv ' HXlov ß'vydxtjg adävaxog. "H y'ovv ÜQoxQig f.jiI xfj yovfj Mivmog firjyaväxai
Toiövös' xvaxiv alyog Iveßalev eig yvvaixog cpvaiv xai 6 Mivoig xovg oipeig
TiQÖxEQOv E^EXQivEv Eig XTjv xvoTiv, EJiEixa Sk ji a Q a xTjv IJaaiqpdtjv slguov
Ef.iiyvvxo. xai ejiei avxoig iysvovxo .Taidsg, 6 Mivcog SidoT xfj UqÖxqiÖi xov dxovxa xai
T.OV xvva' xovxovg dk-ovdh' E^erpuys drjQi'ov, d)J.d jidvxa e/eiqovvxo. (Deutsch nach der
Uebersetzung von Friedrich Jacobs, Stuttgart 1837, S. 141 — 142: „Prokris verliess nun
den Cephalus aus Scham und floh zu Minos, dem König der Kreter. Da sie diesen kinderlos
fand, machte sie ihm Versprechungen, und belehrte ihn, auf welche Weise er Kinder be-
kommen köimte. Denn Minos gab statt des Samens Schlangen, .Skorpionen und Skolopendern
von ^ich, und alle Weiber, denen er beiwohnte, starben. Pasiphae aber war eine Tochter
1) Hier ist die Quelle für die doppelte Bedeutung des mittelalterlichen ,, Cancer" =
„Schanker" und ,, Krebs" zu suchen.
2) Aehnlich heisst es über die gleiche tödliche Krankheit des Königs Ladislaus von
Neapel (j 1414) in einer von Erich Ebstein (Medizinische Woche 1906, Nr. 8) ver-
öffentlichten, bisher ungedruckten Notiz: ,,quaedam letalis infirmitas in virga ipsum acriter
invasit, cui Cancer se conjunxit, ipsum usque ad viscera corrodendo.
— 695 —
des Helios und unsterblich '). Prokris veranstaltete also Folgendes. Sie schob die Blase
einer Ziege in die Natur eines Weibes ; in diese Blase leerte Minos erst die Schlangen aus,
dann begab er sich zur Pasiphae und wohnte ihr bei. Da sie hierauf Kinder bekamen,
gab Minos der Prokris den Wurfspiess und den Hund; diesen entging kein Thier, sondern
alle wurden erlegt.")
Unter vollkommener Berücksichtigung des Phantastischen und
Fabelhaften in diesen beiden Berichten -) lässt sich nicht verkennen,
dass ihnen eine dunkle Vorstellung der venerischen Ansteckung zu
Grunde liegt. Der Bericht des Apollodoros würde sogar für eine
relativ deutliche Erkenntnis der Uebertragung von Schankern durch
den Beischlaf sprechen, wenn wir mit Röscher das di-joia ohne weiteres
mit „Geschwüre" übersetzen. In dem Berichte des Antoninus Libe-
ralis ist besonders die Prozedur der Prokris auffällig. Man hat sie
neuerdings als erstbekannte Anwendung eines Kondoms ge-
deutet^), der in diesem Falle dem Zwecke der Verhütung einer Ge-
schlechtskrankheit gedient hätte.
,, Nimmt man an", sagt Heibig, ,,dass alle religiösen Mythen im Grunde nur mensch-
liche Dinge und Erfahrungen — wenngleich oft verzerrt — wiedergeben, so lässt sich aus
der angeführten Stelle schliessen, dass dem Altertume wenigstens in der römischen Kaiserzeit
der Gebrauch tierischer Blase zur Aufnahme des männlichen Samens bei der Begattung in
der Absicht, die Frau vor den Folgen (Ansteckung, Schwängerung) zu schützen, bekannt
war. Dass die Prokris nach Antoninus die Blase nicht über das männliche Glied des
Minos stülpte, sondern in die Scheide der Frau einführte, erklärt sich aus der Ungeschickt-
heit der meisten uns erhaltenen alten Schriftsteller in technischen Sachen, während die Funde
selbst oft eine viel höhere Leistungsfähigkeit der Technik des Altertums nachweisen. ]Man
braucht deshalb nicht der Annahme der Kommentatoren beizupflichten, dass hvoti^ für
xvo'&og (Höhlung, weibliche Schamteile) zu verstehen sei, also die Prokris die Scheide einer
Ziege in die einer Frau gesteckt habe. Dies wäre aus anatomischen Gründen für den beab-
sichtigten Zweck kaum geeignet und überdies schwer ausführbar gewesen."
Auch Hans Ferdy^) schliesst sich der Ansicht Helbigs an.
i) D. h. sie unterlag im Verkehr mit Minos nicht dem Schicksal der anderen sterb-
lichen Weiber, die infolge des verderblichen Coitus starben.
2) Sie fanden übrigens vollen Glauben, wie die Erzählung des Plutarch (Quaestion.
convivalium L. VIII, 9, 3, ed. G. N. Bernardakis, Leipzig 1892, p. 349) beweist: y.ai tov
rjfisrsQOV ^svov "Eiprjßov 'Adip't^oiv i'o/uev iy.ßd/./.ovTa iiszä .-to?.Äov on:igfiaTog
drjQidior' daGv y.al tioXIoTq jioai raj^v ßadiCor. ( ,\Vir wissen, dass unser Gast-
freund Ephebos in Athen in einem starken Samenerguss ein haariges, mit vielen Füßen
geschwind laufendes Thierchen von sich gegeben hat.") Von kleinen Giftschlangen, die im
Schosse der Jungfrauen verborgen beim Coitus Unheil brächten, berichtet noch das mittel-
alterliche Reisebuch des Ritters von Mandeville. Vgl. W. Hertz, Gesammelte Abhand-
hmgen, S. 195 — 196, Stuttgart u. Berlin 1905.
3) Heibig, Ein Condom im Altertume. In: Reichs-Medizinal-Anzeiger, Bd. XXV,
Nr. 1. S. 3 — 4, Leipzig 1900.
4) Hans Ferdy, Zur Geschichte des Coecal-Condoms. In: Zeitschrift für Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten, Bd. III, S. 144, Leipzig 1905.
— bgö —
daß hier die erste Erwähnung eines Condoms vorliege, zumal da
Ziege, Schaf und Kalb die drei Haustiere seien, deren Coecum sich
zur Verfertigung eines Condoms eigne. Und es lässt sich nicht ver-
kennen, dass die „Blase" nach der Annahme der Prokris wirklich
dazu gedient hat, die giftigen Bestandteile des Ejakulats aufzunehmen
und dadurch eine Ansteckung bezw. Schädigung durch den Coitus
zu verhüten, also die Funktionen unseres modernen Condoms zu er-
füllen. Auch diese Stelle würde also mindestens die Vorstellung
eines durch den Coitus drohenden Leibesschadens beweisen. Da aber
andere Erwähnungen prophylaktischer Mittel, speziell des Condoms,
bei den Alten bisher nicht bekannt wurden, so lässt sie sich in ihrer
Singularität weder für die Kenntnis ansteckender Geschlechtskrank-
heiten, noch für deren systematische Prophylaxis verwerten.
Astruc^) und Hensler-) haben auf eine sehr bemerkenswerte
Stelle in der „Historia Lausiaca" des Bischofs Pallad ius von
Helenopolis (367 — 430 n. Chr.) hingewiesen, die dann Rosenbaum-'')
kritisch erläutert und mit Recht für ein wertvolles Dokument für die
Uebertragung einer Geschlechtskrankheit erklärt hat. Allerdings
muss diese nach unserer heutigen Interpretation angenommen
werden. Ob aber der Schilderung des Palladius wirklich eine
solche Kenntnis der Contagiosität der erwähnten Geschlechtskrankheit
zu Grunde liegt, bleibt zweifelhaft.
Da Rosen bäum für seine Erläuterung und Deutung die sehr
schlechte und fehlerhafte Pariser Ausgabe von 1644 benutzt hat, so
geben wir zunächst die Stelle nach dieser wieder (a), um dann ihren
Wortlaut nach der neuesten kritischen Ausgabe von 1904 (b) zur
Vergleichung daneben zu stellen.
a) 'AjieX&cov 8e elg rr/v 'Ake^avdgiav, räia aal xovxo xaTo. d^siav olxovofxlav , x6 dt]
XsyöiXEVov, i'ß(o rov -^^mv e^sxqovoev, jisqiejieofv yäg Exovaicog rfj ddtafpoQc'q, Eig vozbqov
uxovoiov EVQa/HEVog ooizrjQiav jiaQEßalsi' yuu xai Oeültqoiq xal ijijiodgo^uoig xai zag
öiazQißäg ei^ev ev zoig xaJirjkEioig ' ovzcog öt: yaozQifiagyöjv xal olvoq^Xvyiäv evejieoev xai
£ig zov ßögßvQOV zfjg yvvaixEi'ijg sjiiß'Vf^iag ' xal (I)g eoxsjtzezo auaQzfjaai fiifiadi zivi
jzgogofiiXcöv avvExöJg zä Jigog ro eIxoq mvzov 8ie?Jy£zo • zovzcov ovzcog vjt avzov
öiaJzgazzofiEVCOV yiyovEV avzui xaza ztva oixovofiiav är&gai xaza zijg ßakärov • xai ejil
zooovzov sr6ai]a£v s^afirfviaTov ygovov, (hg y.azaoanfjvai avzov zu /(ogin xal aviofiazcog
anojiEOElv vozEgov ös vyiävag xal sJtavEk'&ojv avEV zovzcov zujv /.leXwv, xal Eig qgövrjfxa
■dEixöv il&ojv xal sig fivr'j/iajv zfjg ovoaviov jioXizEiag , xal i^ofioXoyijoä^iEvog Tzävza zä
avfJ,ßEßi]x6za avzfö raig äyioig jzazgüoiv, ßvsgyr/nai iii) cfdüoag Exotfii'/ih] /iezu oXiyag
i) Johannes Astruc, de moibis veneieis," Bd. I, S. 15 — 16, Paris 1740.
2) Phil. Gabr. Hensler, Geschichte der Lustseuche, die zu Ende des XV. Jahr-
hunderts in Europa ausbrach, Bd. I, S. 316, Altena 1783.
3) J. Rosenbaum, a. a. O. S. 318 — 321.
— 697 —
i]fi£Qa?. (Palladii Lausiaca hisloria, cap. 39. Tn : Magna bibliotheca veterum patruni, Tom.
XIII, p. 950 — 951, Paris 1644.)
b) 'A:!iE?..&cov ök slg 'Ah^ärdgEiar xai oixovo/ni'ar, zo ö>) Äsyofisvov, Ijkü) tov rjlov
i^EXQOvas. ^legiensae. yag sxovaicog zf] dSiacpooiq, i? vozegov dxovaior ergdf-ievog ocoztjot'av.
jzuQsßaAs ydg &sdzgco xal tJiTioöooaloig xal zag Siazgißdg si^sr h' xaJitjXsiotg ■ oihcog dk
yaozgif^iagymv xal oivo(pXvycbv Ei'e.~rsosr €ig zov ßögßogov zyg yvraixsiag e7ti§v/iuag. xal
(hg kaxinzEzo dj.iagzfjaai, fiifiddi zivl avvzvxdiv zd jzgog z6 sXxog avzov ötsXsyszo. zovzcov
ovzcog diajigarzofisvcov yiyovEV äv&ga^ xaz' avzfjg zrjg ßaXdvov, xal ejiI zoaovzo%' ernor]OEV
E^a/xrjviaTov ^Qovov cbg xazaoaizfjvai avzov zd fidoia xal djzojzEOEir. vazegov Se vyidrag
ävEV zwv /heXmv EXEi'vcor xal EjzavsX&djv Eig q:g6v)]/.i.a dsi'xör, fjXdEV E^o/noXoyovusvog zavza
Tidvza zoTg izazgdoiv. h'Egyiioai 8k fit) qy&doag ixoifi>'jdt] fisz' oXi'yag fjfiigag. (The Lausiac
History of Palladius II. The Greek Text edited with introduction and notes by Dom
Cuthbert Butler, chapt. 26, p. 82, Cambridge 1904.)
Es handelt sich um einen gewissen Hero, von dem erzählt
wird, dass ihn das Geschick [xar oixovojuiav) nach Alexandrien ge-
führt habe, hier habe er Theater und Pferderennen besucht und sich
in anrüchigen Kneipen aufgehalten. Der Rest der Version a wird
von Rosen bäum dann folgendermassen übersetzt:
,,Auf diese Weise aber Schlemmer und Säufer geworden, verfiel er in den Schlamm
der Wollust; und als er mit dem Gedanken zu sündigen umging, machte er sich so-
gleich mit einer Schauspielerin zu schaffen (und löste ihren Gürtel?). Als dies
so von ihm vollbracht war, brach ihm nach göttlicher Schickung ein äv&ga^
auf der Eichel hervor und er lag 6 Monate lang daran so heftig darnieder,
dass seine (Geschlechts-) Teile verfaulten und von selbst abfielen. In der Folge
aber gesund geworden und mit dem Verlust der Glieder davon gekommen und zur göttlichen
Erkenntnis gelangt, und eingedenk des Himmelreichs, nachdem er alles, was ihm begegnet,
den frommen Vätern bekannt hatte, entschlief er nach wenigen Tagen, ehe sich die Wirkung
(der Besserung) gezeigt hatte."
Die Version b hat statt juijuädi nvl jiQooofxilcbv ovvexcog den Wort-
laut ju. T. ovvTvi(ov und statt xa jrgög xb elxog ^) eavxov dieXsysxo '■^), was,
wie Rosen bäum schon erkannt, ganz unverständlich, t. tiq. x. s.
avzov ö., was mit Rosen bäum avxSjg d. gelesen werden muss, um
den folgenden Sinn zu bekommen: „Er traf eine Schauspielerin und
vereinigte (seil, sein Glied) mit ihrer Vulva". Es fehlt nun in Version b
sehr bezeichnend das >iaxä d^eiav olxovofxiav^ so dass hier der Zusammen-
hang zwischen dem Coitus und dem Auftreten des äv&Qa^ weniger
als „göttliche Schickung" denn als natürlicher Vorgang erscheint und
die Stelle darnach einfach übersetzt werden muß: „Nachdem dies
geschehen war, entwickelte sich bei ihm ein ärdga^ auf der Eichel."
Dass die Version b die richtigere ist, beweist auch ihre Ueber-
einstimmung mit der betreffenden Stelle eines syrischen Textes
1) slxog = Einschnitt = Vulva, Rima muliebris.
2) diaXsysadai = awovoidCEir.
— öqB —
der neuerdings mit der eng-lischen Uebersetzung- herausgegeben wurde.
Durch diese wird ein abschliessendes Urteil über die Bedeutung der
ganzen Erzählung ermöglicht. Sie lautet:
c) Now therefore this man was at length persecuted by lust as by a fire, and he
was never again able to dwell in bis cell, but he went to Alexandria, and by reason of
bis pride it happened unto bim, through Divine Providence, even as it is said, »One good
is rooted up by another«. Nevertheless having fallen willingly into a State of indifference,
he finally found redemption. Now he was present continually at the shows of the theatres
and circuses, and he was never absent from the public diinking rooms of the taverns; and
thus whilst he was leading this life of prodigality and drunkenness he feil and was brought
to a standstill in the miry ditch of the lust of women. At length he went to one of
those women who are at the head of the grade of harlots, and because of
his passion with all boldness he held converse with her, and these things
having thus been done by him there broke out in the place of his nature a
carbuncle which grew with great vigour, and his sickness waxed sore upon
him for a space of six months, and his members rotted awayand theyhadto
be cut off. By these means he became finally cured, but he remained without members;
and afterwards he went back again to the integrity of [his] nature, and to divine thoughts.
(The Book of Paradise, being the histories and sayings of the monks and ascetics of the
Egyptian Desert, By Palladius, Hieronymus and others. The Syrian Texts, according to the
recension of 'Anän Jshö' of Beth 'Abhe, edited with an English translation by E. A.
Wallis Budge, London 1904, Vol. I, p. 199 [chap. 23 ,,of Ahron (Hero) the Alexandrian]).
Abgesehen von der hier erzählten glücklicheren Wendung in
dem Schicksale des Hero stimmt dieser syrische Text c mit dem
Texte b überein und zeigt nur insofern noch eine charakteristische
Abweichung, als die ansteckende Person hier direkt als Prostituierte
bezeichnet wird und so der natürliche Causalnexus zwischen Coitus
und Entwickelung des Anthrax in eine noch hellere Beleuchtung
gerückt wird. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, dass hier
die Entstehung des ävd^qa^ als Folge des Coitus dargestellt
ist. Ob dieser Coitus als ein C. impurus aufgefasst wird, d. h. ob
der Erzähler eine Kenntnis von der Ansteckungsfähigkeit derartiger
Leiden gehabt hat, kann natürlich mit Sicherheit aus diesem Berichte
nicht gefolgert werden. Der Bericht lehrt nur, dass damals solche
Beobachtungen g^emacht wurden, deren Deutung für den modernen
Leser nicht zweifelhaft ist. Für uns bietet also diese Stelle die
typische Schilderung der Uebertragung eines ''tiv&Qa^, d. h.
eines phagedänischen Schankers durch den Coitus mit
einer Prostituierten.
Dass ,, Anthrax" ^) an dieser Stelle die Bedeutung „gangränöses,
serpiginöses, um sich fressendes Schankergeschwür" hat, ergiebt sich
I) Vgl. oben S. 663; ferner J. Hirschberg, Geschichte der Augenheilkunde,
Bd. I, S. 387, 255 — 256, Leipzig 1899. — Ausführlicher kommen wir auf das Wort bei
der Erörterung der Terminologie der antiken Venereologie im nächsten Paragraphen zurück.
— 699 —
aus der weiteren Schilderung des typischen Fortschreitens der Gangrän
mit ihrer zerstörenden Wirkung, die schliessHch zum „Abfallen" der
ergriffenen Teile führte.
Einen sicheren Beleg für die Kenntnis der Contagiosität der
venerischen Krankheiten bei den Alten bezw. bei den noch ganz
unter antikem Einflüsse stehenden Byzantinern hat man ferner in
einer Stelle des byzantinischen Kirchenhistorikers Georgios Kedrenos
zu finden geglaubt, auf die zuerst Friedrich Schnurrer^) aufmerk-
sam gemacht hat. Nach der besten Ausgabe von Immanuel Bekker
lautet die Stelle folgendermassen :
'QaavTcog de zig xal älh] yvri] evJiQsrisazuzT] , xögrj ovoa xal JiaQ&eviav aoxovoa,
dießXij&i] (og zovg &eovg Evvßgi^ovaa. tjv avU.aßo/ueroi xal fiaariytoaavzsg jui] vnelxovaav
xfj zovzMi- Svoasßeiq :TaQe8coxar 8tg tcoqvsTov, ivzEildfj.sroi zrö zavzrjv vifiovzi xo/ni^eiv
VJiEQ avzijg ^ftsoi^aiov %'Of.ilof.iaza zgta. og exöozov avzi]v EigTtrjdüyvzaiv jiävzag
ujiexQOVEzo , Ttgog^aai^ofi EVT] sknog e^siv ejic xqvtizov zÖjiov xal zovzov zijv
OLTiaXkayrjv exÖE^ao&ai. ovzcog ovv zovzovg cuioßovxoXovoa zov ß^Eov Ixezevev aajtikov
zrjv jraQ&EViav avzijg 8ia(pvkd^ai, xal dij v:irjxova£V avzfjg o ^sög (Corpus Scriptorum
Historiae Byzantinae editio emendatior et copiosior consilio B. G. Niebuhr instituta,
Georgius Cedrenus Joannis Scylitzae ope ab Immanuele Bekkero suppletus et emendatus,
Bonn 1838, Tomus prior p. 466),
Die hier geschilderte Episode geschah unter der Christenver-
folgung des Kaisers Diocletian im Jahre 303 n. Chr. Eine der
Gotteslästerung beschuldigte schöne und keusche Jungfrau wird ge-
züchtigt und in ein Bordell gebracht, wo sie dem Wirte täglich
3 Nummi abzuliefern hat. Sie schreckt aber alle Besucher durch
die Erklärung ab, dass sie an verborgener Stelle (im xqvtztov totiov)
ein Geschwür habe, dessen Heilung sie abwarten möchten. Nach-
dem ihr diese Täuschung gelungen ist, bittet sie Gott, ihr ihre Jung-
fräulichkeit unbefleckt zu erhalten, welcher Wunsch auch erfüllt wird.
Es ist nach dem ganzen Wortlaut nicht sicher^), dass es sich
gerade um ein Genitalgeschwür gehandelt hat, doch ist es dem
ganzen Zusammenhange nach sehr wahrscheinlich, dass das Mäd-
chen, die dann allerdings in rebus venereis nicht mehr so unerfahren
gewesen wäre, den Männern ein Ulcus an den Genitalien vorgespiegelt
hat. Denn dass es solche damals gab, wird Niemand bestreiten, eben-
sowenig, dass sie allgemein bekannt und Gegenstand des Abscheus
und Ekels waren. Deshalb beweist die Stelle nichts für die Kennt-
nis der Ansteckungsfähigkeit solcher Affektionen, so sehr sie auch
i) Friedrich Schnurrer, Chronik der Seuchen. Tübingen 1825, Zweiter Theil,
s. 35-36.
2) xQVJizög x6:iog muss mit ,, verborgene Stelle" übersetzt werden, nicht mit „ge-
heimen Theilen", wie Rosenbaum es tut.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 45
— 7^o —
in dieser Beziehung den modernen Leser bestechen mag. Eine von
Rosen bäum (a. a. O. S. 452 — 453) erwähnte Parallelstelle aus der
oben erwähnten „Historia Lausiaca" des Bischofs Palladius, dessen
Lebenszeit (367—430) noch zur Hälfte in das Jahrhundert der diokletian-
ischen Verfolgung fällt, bestätigt die Auffassung, dass die Jungfrau
nur das Gefühl des Ekels bei ihren Besuchern erregen wollte und
dass eine Anspielung auf die Ansteckungsfähigkeit des fingierten
Ulcus hier keineswegs vorliegt:
'H de ey.XiTta^ovoa avrovg naQsxäksi Xsyoi^aa ozi "Ekxog ?.y_oi xi sig xexQVjx-
fisvov rojtov ojiEQ goy^äxcog o^si, xal öeöoixa /nt] elg fxtoog /lcov eX'&rjTE' sxÖots ovv
[loi oXlyag ^fisgag, xal i^ovaiav k'xsze xal öwQsär fis s'xsiv. (Palladii Historia Lausiaca
ed. Dom Cuthbert Butler, Cambridge 1904, p. 161 [cap. 65].)
Hier spielt die Geschichte in einem Bordell zu Korinth, aber
die fromme Jungfrau sagt von dem Geschwüre „am geheimen Orte",
dass es äusserst übelriechend sei und sie fürchte, dadurch ein
Gegenstand des Abscheus^) bei ihren Besuchern zu werden. Diese
möchten sich noch einige Tage (seil, bis zur Heilung des Ulcus) ge-
dulden, dann stehe sie ihnen zur Verfügung. Diese Version bringt
das Motiv des Ekels deutlich zum Ausdiuck uud lässt so auch die
Stelle bei Kedrenos in einem anderen Lichte erscheinen. Das Mäd-
chen gebraucht als einziges Abschreckungsmittel hier den üblen Ge-
ruch, und nicht die uns heute so naheliegende Ansteckungsgefahr
des Geschwürs.
Einer von Rosen bäum (a. a. O. S. 466) aufgefundenen Stelle
in dem „Pratum spirituale" des im 6. Jahrhundert lebenden Kirchen-
historikers Johannes Moschus hat schon Proksch-) den „histo-
rischen Wert" abgesprochen, sie berechtigt aber nach seiner Meinung
„zu der Annahme, dass die Alten höchstwahrscheinlich Lepra und
Syphilis confundirten , und dass ihnen die Uebertragung gewisser
Krankheiten durch den Coitus ausser- und innerhalb von Bordellen
gar wohl bekannt war."
Was die angebliche Verwechselung von Lepra und Syphilis bei den Alten betrifft,
so sei auch hier wieder betont, dass die antiken Schilderungen des Aussatzes immer nur
die heutige typische Krankheit dieses Namens in allen ihren Formen betreffen und
keinerlei Andeutung von Syphilis sich darin nachweisen lässt, wenn auch in der Terminologie
das ursprünglich auf die ganze Krankheit sich beziehende Wort /.ejiga später lange Zeit zur
i) fiXoog bedeutet nicht nur Hass, sondern auch Ekel, Abscheu, so z. B. Eurip.
Medea 1323, wo Jason die Medea als /xioog bezeichnet. Ebenso Sophocl. Philoct. 991;
Antig. 760; Thukyd. I, 103.
2) J. K. Proksch, Geschichte der venerischen Krankheiten, Erster Theil, Bonn
1895 S. 170.
— yoi —
Bezeichnung eines charakteristischen Teilsymptoms des Aussalzes verwendet wurde'),
der als Allgemeinleiden jetzt den Namen sketpavtiaaig bekam. Erst später dienten die
spezifischen Hautveränderungen des Aussatzes, die ursprünglich als Isjroa bezeichnet und
schon in der Bibel eine klassische Beschreibung erfuhren (vgl. oben S. 486 — 492), wieder
als Allgemeinbezeichnung der ganzen Krankheit. Auf ähnliche Veränderungen der Haut
wandte man zur Zeit des Galen ebenfalls den Terminus „Lepra" an, weil sie ebenfalls
eine weisse Farbe und Rauhigkeit und Abschuppung zeigten. Deshalb definiert Galen
diese nicht zur Elephantiasis gehörige „Lepra" folgendermassen : Ahcga öl Ttä&og fiev xai
avTi) 6iQiA.atog ejiI t6 Isvxotsoov y.ai roayvzEQor tqetiöiaevov. 1) ök TQayvztjg olov
yvÖoay.iojv e::iavsoT(OTa)v. (Auch die Lepra ist eine Atfektion der Haut, ist aber mehr
weiss und von rauher, unebener Beschaffenheit. Die Rauhigkeit ist von der Art wie die
einer Eruption kleiner Bläschen-')), und ausführlicher: Äetiqu eoxI (.leraßoli] xov ygwTog snl
To Tzagä (pvoiv /nsTCt Toayvzijzo? xal xrt]afiMv xal jtÖvcov, Eoß' ore fisv xai kEJiidag
dTzo.-zt'jiTEiVy oxe ÖE xal EJtivEfXErai TilEiova ^EQt] rov oo'j/naTog (Lepra ist eine unnatürliche
Veränderung der Haut mit Rauhigkeit, Jucken, Schmerzen, die bisweilen mit Abschuppung
verbunden ist, bisweilen sich über mehrere Theile des Körpers verbreitet^).
Nach dieser ziemlich klaren Schilderung war die spätere Hautaffektion /.Ejrga eine
Form der Psoriasis und des psoriasiformen Ekzems, wofür die Schuppenbildung,
die weisse Farbe, das Jucken, zeitweise Schmerzen, die Ausbreitung über den Körper
sprechen, auch die Zusammenstellung der nicht näher beschriebenen ?JjTQa mit der levxT]
und dem Xsiyrjv bei Hippokrates (Prorrhet. H, 63), mit P.evxt], a?.(p6g, ifjcoga bei
Oribasius (V, 393) weist auf eine solche oberflächliche Dermatose hin, wie denn alle
diese Affektionen unter die Rubriken verschiedener Formen des Ekzems, der Psoriasis,
ferner der Scabies, der Vitiligo, Ichthyosis, des Herpes tonsurans u. s. w. einzureihen sind*).
Nirgendwo aber findet sich irgend eine Andeutung, dass
diese XsTiga etwa Syphilis gewesen sei. Wer das behauptet, hat die
Pflicht, eine konkrete Stelle beizubringen. Ebenso fraglich ist es, ob
die Uebertragung der Geschlechtskrankheiten durch den Coitus „gar
wohl" bekannt war. Auch die erwähnte Stelle des Moschus spricht
nicht dafür.
Sie lautet: 'O 'Aßßäg IIo/.vyQÖviog Tcäkiv i^f.üv diTjVTJaaro, i)fiTr Xsyojv, oii er toJ xoivoßio)
rov IlEvüovxXa, aÖEXq^og r)v :iävv :rQOO£yojv avxov xal aax7]xrjg. ejio?,EfU]§}} ds slg jioq-
veiav, xal /nij ElasvEyxcov xov ^roXef^ov, E^fjAßEv xov fiovaoxtjgiov xal OjifjXder elg 'Isgiyco
jiXi}Qwoai xi]v i:xidv/iuav avxov. xal d>g ElofjXd'EV Eig x6 xaxaycöytov xfjg jiogvEiag,
i) Vgl. die kritischen Bemerkungen über die Aussatzterminologie oben S. 592 — 595.
— Als Theil der Elephantiasis erscheint die „Lepra" auch bei Scribonius Largus Com-
positiones c. 250 (ed. Helmreich, Leipzig 1887, S. 97).
2) Galeni Introductio, cap. 13 = Kühn XIV, 758.
3) Pseudo-Galeni definit. med. 295 = Kühn XIX, 427 — 428.
4) Es ist bei der rein formalistischen Terminologie der Alten erklärlich, dass sie
z. B. für die verschiedenen Formen des Ekzems, deren z. B. noch ein modernes Lehr-
buch wie Unna-Bloch ,,Die Praxis der Hautkrankheiten", Berlin-Wien 1908. S. 426 bis
475 nicht weniger als 12 aufzählt, auch besondere Namen hatten, ebenso für Impetigo
(bei Unna-Bloch 5 Formen) und andere vielgestaltige Dermatosen. Vgl. Iwan Bloch,
Celsus bei Neuburger-Pagel, Handbuch der Geschichte der Medizin, Jena 1902, Bd. I,
S. 410 (Antike Terminologie der oben erwähnten Dermatosen).
45*
— 70-2 —
ev^scoe i/.sjigovßt] ökwQ. xal ßeaoäfievo? iavzov ev zoiovico o^^tjfiari, Ev&ea>g snio-
TQSxpev slg x6 fiovaotrjQiov avzov, EvyaQiatwv zw ^sco xal ?Jycov, oxi 6 deo? ijf^ya/niv /twi
zrjv zoiavzrjv vöaov, Iva ^ W^XV f^^^ owi^ (Johannes Moschus, Pratum spirituale ca
14, in: Bibliotheca veterum patrum, T. XIII, Paris 1624, fol. 1062).
Es wird hier offenbar eine Wundergeschichte berichtet, die
dem Abt Polychronios in den Mund gelegt wird. Ein von der
Fleischeslust ergriffener Mönch des Klosters Penthukla wanderte
nach Jericho, um dort in einem Bordelle seine Begierde zu befriedigen.
„Als er aber die Herberge der Hurerei betreten hatte,
wurde er sofort am ganzen Körper leprös, und als er sich
in diesem Zustande erblickt hatte, kehrte er sogleich zu
seinem Kloster zurück, indem er Gott dankte und sagte:
„Gott hat diese Krankheit über mich verhängt, damit meine
Seele gerettet werde." Hieraus erhellt deutlich, dass der Alönch
plötzlich durch eine göttliche Schickung leprös wurde, um so an der
Vollziehung des Beischlafs gehindert zu werden, dass er also diesen
noch gar nicht ausgeführt hatte. Damit werden alle Schluss-
folgerungen hinsichtlich einer hier vorliegenden Andeutung einer an-
steckenden Geschlechtskrankheit hinfällig.
Eine solche Andeutung findet sich auch nicht in einer eben-
falls von Rosenbaum herangezogenen Stelle des Galen, die von
jenem als Schilderung der Uebertragung der Gonorrhoe durch den
Beischlaf aufgefasst wird^). — Zu Anfang von Kapitel 14 der Schrift
„De sanitate tuenda" (Ausgabe von Kühn Bd. VI, S. 443 — 444) ist
von Kranken die Rede, die reichlichen und hitzigen Samen (o:nceojua
jioXv xal d^EQfxov) bekommen, der sie zur Ausleerung durch den Bei-
schlaf reizt und infolgedessen Schwäche und Abmagerung herbeiführt.
Enthalten sie sich aber des Coitus, so bekommen sie Kopfschmerzen,
Dyspepsie, nächtliche Pollutionen und ähnliche Zustände wie die sind,
welche sie von dem Coitus haben. „Einer von diesen Kranken
sagte mir, dass er bei der Ejakulation den Samen als etwas
Beissendes und Brennendes empfunden habe, und zwar nicht
nur er allein, sondern auch die Frauen, mit denen er den
Beischlaf vollzogen habe" {(hg de rig e^ avrcöv eq?rj juoi, öax-
vcodovQ ze xal 'Oeqjuov ndvv rov OTiEQfxaTog alo'&dvEO'&ai xard
zrjv änoxQioiv, ov fiovov eavrov, äXXd xal rdg yvvaixag alg äv
öfjLiXriorj). — Soweit teilt Rosenbaum die Stelle mit. Es ist aber
aus der Fortsetzung des Satzes noch als sehr bemerkenswert hervor-
zuheben, dass Galen dem betreffenden Kranken nur riet, keine
Speisen zu geniessen, die eine derartige beissende Beschaffenheit des
l) Rosenbaum, a. a. O. S. 424, 427.
— 703 —
Samens herbeiführten, bezw. Medikamente zu nehmen, die sie be-
seitigten, dass er ihn aber nicht vor dem Coitus warnte und auf
die Ansteckungsgefahr hinwies. {Tomco xoivvv eyco ovveßovXevoa,
ßgay/udrcov juev äjis/eo&ai tcöv yevvrjxixcov ojiEQjuaTog, nooocpEQEoßai de ov
ßgcüjuara judvov, äXkd xal (pdg/uaxa rd tovtov oßeoTixd). Wenn, wie
Rosenbaum annimmt, Galen hier wirklich auf eine Uebertragung
der Gonorrhoe vom Manne auf verschiedene Weiber angespielt hätte,
dann würde er nicht verfehlt haben, den Patienten darauf aufmerk-
sam zu machen und ihm vor allem den Coitus zu verbieten. Die
Stelle besagt aber nur, dass der Ausfluss so scharf und beizend war,
dass beide Concumbenten das in coitu empfanden. Von irgend
etwas Contagiösem ist gar nicht die Rede.
Das gilt auch für eine Bemerkung des Cicero i) in einem an
G all US gerichteten Briefe des Jahres 57 a. Chr.
,,Ego auteni," heisst es dort, ,,cum omnes morbos reformido, tum quo Epicurum
tuum Stoici male accipiunt, quia dicat dvgovgixä xal dvasvrsQixa Jiädri sibi molesta esse:
quorum alterum morbum edacitatis esse putant, alterum etiam turpioris intempe-
rantiae."
Es werden hier Dysenterie und Dysurie einander gegenüber
gestellt, und die erstere als Folge allzugrosser Esslust, die Dysurie
aber als Folge einer „noch schändlicheren Unmässigkeit" bezeichnet.
„Dysurie" ist nach der Definition des Galen vorhanden, wenn die Miction entweder
mit Schmerzen verbunden ist oder nur sehr schwer von statten geht*). Er führt die
schmerzhafte Dysurie auf Entzündung ((p).eyi.iovi']), Eiterung (djiöönjfia) , Geschwüre
{sXy.coac;), abnorme Dyskrasie und abnormes Pneuma zurück, die bloss funktionelle auf
Blasenschwäche oder eine Geschwulst^). Das ist im ganzen eine sehr gute Zusammen-
stellung der verschiedenen Arten von Dysiuie, die auch nach unserer Auffassung bei ent-
zündlicher Reizung von Blase und Harnröhre (z. B. bei Erkältung, die auch Galen XVI,
415 als Ursache von dvoovgi'a anführt), bei Eiterungen (Gonorrhoe, Cystitis, Tuberkulose,
Blasensteine), bei schweren Erkrankungen anderer Theile und schweren Dyskrasien, aus
mechanischen Gründen (Prostatahypertrophie, Tumoren, Strikturen) vmd rein funktionell bei
nervösen Leiden (Neurasthenie, Hysterie u. s. w.) vorkommen. Die Zusammenstellung von
Dysenterie und Dysurie in dem Citat des Cicero ist vielleicht nicht zufällig, sie findet sich
auch bei Galen (XVII A 349) imd es ist ja bekannt, dass gerade bei schwerer Dysenterie
und Mastdarmerkrankungen häufig schmerzhafte Dysurie vorkommt. Cicero trennt in
seinen eigenen Bemerkungen allerdings beide Zustände und führt sie auf verschiedene Ur-
sachen zurück.
1) M. TuUii Ciceronis Opera ed. Jos. Caspar Orellius, Vol. III, Pars I, Zürich 1829,
p. 168 (Epistol. ad Familiär. VII, 26).
2) Aehnlich sagt Guyon: ,,Die Kranken bezeichnen mit der geläufigen Phrase »Ich
kann nicht gut urinieren« sowohl Schwierigkeiten als Schmerzen beim Harnlassen
(Die Krankheiten der Harnorgane, übers, von Kraus u. Zuckerkandl, Wien 1897,
Bd. I, S. 22).
3) Galen ed. Kühn, Bd. XVIIIA, S. 153 — 154 (Hippocratis Aphorismi et Galeni
in eos commentarii, Aphor. VII, 48),
— 704 —
Unter „turpior intemperantia" braucht nun durchaus nicht „Un-
mässigkeit im Geschlechtsgenusse" verstanden zu werden, sondern ich
halte es dem ganzen Zusammenhange nach für viel wahrscheinlicher,
dass hier unmässiger Genuss alkoholischer Getränke gemeint
ist, die ja sehr häufig Zustände von Dysurie herbeiführen. Denn
Alkoholismus galt auch den Alten für „turpior" als Gefrässigkeit,
und es liegt nahe, wie Verdauungsstörungen auf diese, so die Störun-
gen in der Funktion der Harnorgane auf das viele Trinken zu be-
ziehen. Sollte aber, was bei der Unklarheit des Ausdrucks nicht zu
beweisen ist, dennoch unter „turpior intemperantia" geschlechtliche
Unmässigkeit zu verstehen sein, so wissen wir, dass habituelle Mastur-
bation nnd sexuelle Excesse sehr häufig Dysurie auf rein nervöser
Basis hervorrufen. Natürlich hätten die Stoiker vielleicht dabei auch
an eine Gonorrhoe gedacht, ohne jedoch den richtigen Causalnexus
zwischen dem Coitus und dem die Dysurie zur Folge habenden Tripper
zu kennen, da man diesen ja, wie wir sehen werden, auf ganz andere
Ursachen zurückführte als auf eine Ansteckung und sehr wohl an-
nehmen konnte, dass diese supponierten nichtcontagiösen Ursachen
irgendwie mit sexuellen Excessen zusammenhingen.
Ein weiteres gewichtiges Moment hinsichtlich der Unkenntnis
der Alten inbetreff der Contagiosität der Geschlechtskrankheiten bildet
die Thatsache, dass eine solche nirgends in den besonderen
Abhandlungen über den Coitus und seine Hygiene erwähnt
wird. Wenn man bedenkt, welche Rolle die Geschlechtskrankheiten
und die Ansteckungsgefahr in den modernen Schriften ähnlicher Art
spielen, so ist dieses Schweigen der alten Aerzte von grösster Be-
deutung. Sie kannten sehr wohl die ix rä)v äcpQodioicov ßXdßtjv (Rufus
bei Oribas. III, 112), rechneten zu diesen schädlichen Folgen aber
niemals die venerischen Leiden.
Schon einer der älteren Aerzte, Diokles von Karj'stos, spricht sich über die
Schädigungen durch allzu häufigen Genuss der Liebe dahin aus, dass sie besonders die
Nieren, die Blase, Lungen, Augen und das Rückenmark treffen (Oribas. III, i8i). Be-
sonders eingehend haben sich später Rufus von Ephesus und Galen mit der Hygiene und
Pathologie des Beischlafes beschäftigt. Die Abhandlung des Rufus (bei Oribas. I, 540
bis 551 u. III, 112 — 113) ist eine förmliche Monographie und enthält recht interessante
und gute Beobachtungen über Aspermatismus, die schädlichen Wirkungen nächtlicher
Pollutionen u. a. Interessant ist, dass er den mit einer Krankheit (v6ot]j.ia ri) der Blase und
Niere Behafteten den Coitus verbietet, ebenso wie den Epileptikern und Maniakalischen.
Der Geschlechtskrankheiten gedenkt er mit keinem Worte. Galen s Ausführungen (als
besondere Abhandlung tieoi dcpoodioicov bei Kühn V, 911 — 914, und später bei Oribas.
ed. Bussem. et Dar. I, 536 — 540, sowie Oribas. III, 109 — 112) gehen dahin, dass der
— 705 —
Coitus besonders Brust, Lunge, Kopf und Nerven in Mitleidenschaft zieht, daß im Alter
der Pubertät viele Jünglinge infolge vorzeitigen und excessiven geschlechtlichen Verkehrs von
unheilbaren Krankheiten befallen werden (xal zro/.loi fjSr] i^ äcfoodiaioyv avt^HEora e:jadov),
dass aber auch die Enthaltsamkeit üble Folgen hat. Auch bei Galen fehlt jede Andeutung
der Gefahr venerischer Ansteckung beim Geschlechtsverkehr. An einer anderen Stelle (De
remediis parabilibus lib. II c. 38 =^ Kühn XIV, 485) erwähnt er Heilmittel, die ver-
hindern sollen, dass die weiblichen Genitalien in coitu nicht nässen (^gog rö f^ii] y.advygai-
veodat rö alöoTov iv zaig ovrovotaig rwv yvvaixmrj, ein Beweis, dass er krankhafte Ab-
sonderungen aus den weiblichen Geschlechtsteilen lediglich als Gegenstand des Ekels auf-
fasst, nicht aber an ihre mögliche Contagiosität denkt. Unter den Aphrodisiacis, die an
dieser Stelle angeführt werden, fehlen denn auch gänzlich die naheliegenden Prophylaktica
gegen venerische Ansteckung. Ganz ähnlich ist auch dem Aretaios die Gonorrhoe (und
der Samenfluss) arep.Tfs de xal mjdkg /^leacpi dxoijg, ein „ekelhaftes Leiden, von dem
man nicht gerne sprechen hört" (De causis et sign, chron. morb. lib. II c. 5), aber kein
ansteckendes. Schon bei Hippokrates (de nat. muliebri Kühn II, 538) wollen die Frauen
wegen Leukorrhoe nicht mit dem Manne verkehren: xal reo dvdgl imo z^g vygöttjTog. ovx
I^eXei /aioysa^ai.
Es waren also rein ästhetische Gründe, die eine Contra-
indikation des Coitus bildeten, wie die von Galen erwähnte reich-
liche Absonderung der Genitalien, wozu gewiss auch Geschwüre und
nässende Condylome gehörten, ferner der üble Geruch derartiger Affek-
tionen, der besonders grossen Abscheu vor dem Coitus^) erweckt
haben wird, nicht aber die Vermutung irgend einer Ansteckungs-
gefahr.
Als ein sehr gewichtiges Moment, das gegen die Kenntnis der
Ansteckungsfähigkeit der venerischen Leiden im Altertum spricht,
muss endlich nochmals die Thatsache hervorgehoben werden, dass
niemals bei Gelegenheit der Aufzählung schlechter Eigenschaften
und verderblicher Einflüsse der Prostituierten die von ihnen drohende
Ansteckungsgefahr erwähnt wird. Das ist so auffällig im Hin-
blick auf die spätere Zeit, wo in der belletristischen und ärztlichen
Litteratur gerade diese gefährliche Seite der Prostitution stets primo
loco genannt wird, dass dieses Schweigen der alten Autoren und
dieses Fehlen des Behaftetseins mit venerischen Leiden unter den
zahlreichen Epitheta der Huren die Frage im Sinne einer LTnkennt-
nis der Ansteckungsfähigkeit und Uebertragbarkeit dieser Krank-
heiten entscheidet.
i) Wie sehr gerade übler Geruch bei der geschlechtlichen Annäherung gefürchtet
war, haben wir früher gesehen. „Numquid te osculum meum offendit? fragt Circe den
Encolpios (Petron. 128) in der Furcht, üblen Geruch an sich zu haben. Daher auch der
Spottname ygdocov bei Athen. XIII, 49, p. 5856; vgl. ferner Anthol. Palatin. XI,
no. 239 bis 242.
— -job —
Schon F. A. Simon') drückt seine Verwunderung darüber aus, dass „selbst beim
Athenaeus, dessen dreizehntes Buch seiner öemvooofpiotai d. h. Gespräche mehrerer Sophisten
bei einem Gastmahl, sich ganz und gar mit dem Kurtisanenwesen der Griechen beschäftigt,
und wo alle schlechten Eigenschaften der Hetären zur Sprache kommen, ihre tolle Ver-
schwendung, die Schlauheit und Habsucht, mit welcher sie ihre Liebhaber ausplündern u. s. w.,
nie und nirgends von schlimmen Krankheiten die Rede ist, welche aus dem Umgange mit
ihnen entspringen können. Dasselbe gilt von den Kurtisanengesprächen des Lucian und
von den Kurtisanenbriefen des Alciphron und Aristenetus. In den Dialogen wirft eine
Nebenbuhlerin der andern alle ihre körperlichen Fehler vor, um sie ihrem Liebhaber zu
verleiden ; sollte sie da wohl eine schimpfliche und ansteckende Krankheit vergessen haben,
wenn eine solche damals so bekannt und gewöhnlich gewesen wäre, wie bei uns? —
Gewiss nicht; wahr oder unwahr, sie würde ihre Nebenbuhlerin auch damit wenigstens ver-
dächtigt haben."
Die Liste lässt sich noch durch andere bezeichnende Stellen
ergänzen, an denen wir bestimmt eine Erwähnung der venerischen
Leiden der Huren erwarten würden, falls die Ansteckungsfähigkeit
bekannt gewesen wäre. So z. B. bei Aristophanes Eccles. 749 — 751,
wo die Frauen den Huren das Handwerk legen wollen, die die Jüng-
lingskraft vergeuden, so bei Lucretius IV, 1130 — 1152, wo dem
Verliebten geraten wird, die Fehler und Gebrechen seiner An-
gebeteten zu erforschen, um sich von seiner Leidenschaft zu be-
freien und wo diese Fehler einzeln aufgezählt werden, bei Petron.
128, wo Circe den Encolpios nach dem Grunde seiner sexuellen
Kälte fragt und einige mögliche Ursachen der Furcht und des Ab-
sehens vor ihr aufzählt. Auch bei der von Lucretius IV, 11 77 — 1178
erwähnten Thatsache, dass die Weiber beim Coitus ihre Fehler zu
verbergen suchen, vermissen wir die naheliegende Erwähnung einer
venerischen Krankheit. Das Gleiche gilt von dem die etwaigen
Fehler der Saufeja spezialisierenden Epigramm III, 72 des Martial:
Vis futui, nee vis mecum, Saufeia, lavari,
Nescio quod magnum suspicor esse nefas,
Aut tibi pannosae dependent pectore mammae,
Aut sulcos uteri prodere nuda times,
Aut infinito lacerum patet inguen hiatu,
Aut aliquid cunni prominet ore tui.
Sed nihil est bonum, credo, pulcherrima nuda es.
Si verum est, vitium peius habes: fatua es.
Auch in den Epigrammen der Wandinschriften, die so oft sich
mit Huren und männlichen Prostituierten beschäftigten, vermissen wir
eine klare Andeutung venerischer Krankheiten. So fehlt sie in dem
drastischen Carmen Priapeum XL VI, das eine schmutzige, mit Läusen
behaftet Dirne und den Ekel, mit ihr zu verkehren, schildert:
I) F. A. Simon, Kritische Geschichte des Ursprungs, der Pathologie und Behand-
lung der Syphilis, Hamburg 1857, Bd. I, S. 82.
O non candidior puella Mauro
sed morbosior^) omnibus cinaedis,
Pygmaeo brevior gruem timente,
ursis asperior pilosiorque,
Medis laxior Indicisve bracis,
manes hie licet ut libenter ires:
nam quamvis videar satis paratus,
erucarum opus est decem maniplis,
fossas inguinis ut teram dolemque
cunni vermiculos scaturrientis.
Dagegen scheinen auf den ersten Blick zwei schon früher mit-
geteilte pompejanische Wandinschriften derartige Hinweisungen auf
venerische Leiden zu enthalten 2). Das erste (s. oben S. 563) lautet:
Accensum qui pedicat, urit raentulam.
d. h. „Wer den Accensus (obrigkeitlicher Diener) pädiziert, verbrennt
(verletzt, entzündet sich?) den Penis." Es liegt nahe, hier an eine
Gonorrhoe zu denken, nach Analogie mit der Bedeutung des mittel-
alterlichen Ausdrucks „Verbrennen" für Gonorrhoe. Ob das latei-
nische Wort diese Bedeutung hat, ist zweifelhaft. Vielleicht handelt
es sich nur um eine Verletzung oder Entzündung infolge eines
mechanischen Missverhältnisses. Immerhin ist die Stelle sehr be-
merkenswert, w'enn sie auch für die Kenntnis der Contagiosität vene-
rischer Krankheiten nicht verwertet werden kann.
Die zweite Inschrift (s. oben S. 533) lautet:
Hie ego nu [nc f] utui
formosa (m) fo[r]ina, puella (m),
Laudata (m) a multis, sed lutus intus erat.
„Hier habe ich soeben das (ein?) hübsche Mädchen coitiert, das
von vielen gepriesen wird, aber (ach!) sie barg Dreck (Koth) in ihrem
Innern."
Ob es sich in diesem Falle um geschlechtliche Ansteckung
handelt oder nicht, ist nicht zu entscheiden, kann aber auch nicht
ausgeschlossen werden. Mir scheint es, als ob hier bloss der Kon-
trast bei der äusseren Schönheit und der schmutzigen Beschaffenheit
der Genitalien (durch Unsauberkeit oder Krankheit) zum Ausdruck
gebracht werden soll. Endlich könnte das Wort „lutus" auch auf
einen „dreckigen" Charakter, eine „Dreckseele" gehen, was ja bei
Mädchen dieser Art nicht weiter verwunderlich ist.
Um ganz vollständig zu sein, muss noch bemerkt werden, dass
in einer dritten verstümmelten pompejanischen Inschrift (Corp. Inscr.
1) Hier im Sinne von ,, lasterhaft" gebraucht.
2) Für die genaue Uebersetzung beider Inschriften bin ich einem hervorragenden
klassischen Philologen zu Dank verpflichtet.
— joS —
Latin. Nr. 15 17), die auch mit dem Bericht über den Coitus mit
einem schönen Mädchen beginnt, unmittelbar darauf das Wort
„Morbus" folgt. Der Zusammenhang lässt sich nicht mehr feststellen,
da das Fehlende nicht zu rekonstruieren ist.
Die Gründe, weshalb den Alten eine klare Erkenntnis der Con-
tagiosität der venerischen Krankheiten abging, sind schon im Ein-
gang dieses Paragraphen dargelegt worden. Rosenbaum hat
ausserdem noch darauf hingewiesen^), dass man die Genitalkrank-
heiten vielfach als Strafen der Götter, speziell der Liebesgötter
(Aphrodite, Priapos, Dionysos u. s. w.) ansah. Dieser göttliche Ur-
sprung galt noch in der christlichen Zeit, wie die Erzählung des
Palladius bezeugt. Ebenso geht der Glaube an den astrologischen
Ursprung der Genitalkrankheiten-) auf die Alten zurück, unter denen
sich sogar einzelne Aerzte wie z. B. Krinas aus Massilia (PI in. nat.
hist. 29, I, 4) der Astrologie in ihrer Praxis bedienten. Julius
Firmicus Maternus, der in seinen um 350 n. Chr. verfassten acht
Büchern über Astrologie (Matheseos libri VIII, Pars I, ed. Sittl,
Leipzig 1894) eine vollständige Theorie des astrologischen Aber-
glaubens entwickelte, hat schon die Ansicht ausgesprochen (lib. III
c. 7 u. 8), dass eine gewisse Konstellation der Venus bei der Geburt
dem betreffenden Individuum den ,,mors per gonorrhoeam, id
est defluxionem seminis" bringe.
§ 42 Die antike Venereologie.
Nach der Erörterung der ätiologischen Anschauungen der Alten
über die venerischen Krankheiten gehen wir nunmehr zu einer Dar-
stellung der klinischen Venereologie im Altertum über, von der ge-
trost behauptet werden kann, dass sie dem damaligen Stande des
Wissens und der theoretischen Anschauung gemäss nicht im ge-
ringsten hinter den übrigen medizinischen Disziplinen zurückstand.
Noch einmal sei dem Urteil Rosenbaums über die angebliche Un-
wissenheit der alten Aerzte auf diesem Gebiete nachdrücklich wider-
sprochen. Was soll man dazu sagen, wenn Rosenbaum ') das Bei-
spiel eines von Martial (VI, 31) verspotteten Arztes, der mit einer
Patientin geschlechtlich verkehrt hat, dazu benutzt, um den Aerzten
der Kaiserzeit überhaupt nachzusagen, dass sie sich absichtlich den
1) a. a. O. S. 72 ff.
2) Vgl. oben Teil I, S. 24.
3) a. a. O. S. 404.
— 709 —
Weg zur genaueren Erforschung versperrt, sich wenig um die Kultur
der Wissenschaft und Aufzeichnung von Erfahrungen gekümmert
hätten, deren VeröffentHchung gegen ihr eigenes Interesse gewesen
wäre! Oder wenn er das bissige Urteil des Apulejus (Metamorphos.
X c. 2) über die Aerzte, die die Liebeskrankheit (venerea cupido)
nicht erkannt hatten, dahin verallgemeinert, dass das Publikum über-
haupt zu den Aerzten hinsichtlich der Geschlechtskrankheiten
wenig Vertrauen gehabt habe! Diese Methode der Argumentation
richtet sich durch sich selbst. Wir werden im Gegenteil sehen, dass
das Wissen der antiken Aerzte in rebus venereis ein sehr beträcht-
liches war.
I. Untersuchungsmethoden und diagnostisch-therapeu-
tisches Instrumentarium. — Da die klinische Beobachtung der
Alten eine rein formalistische war und meist jeweils nur die
Reihenfolge der einzelnen Symptome feststellte, ohne sich mit ihrer
Pathogenese und ihrem kausalen Zusammenhange näher zu be-
schäftigen, so resultierten hieraus manche Unklarheiten in den
Krankheitsschilderungen, die den modernen Arzt vielfach lückenhaft und
fragmentarisch anmuten. Auf der anderen Seite führte das forma-
listische Prinzip zu einer subtilen Diagnostik, die beispielsweise bei
den Excrescenzen eine ganz der äusseren Erscheinung entlehnte
Terminologie schuf, so dass man nicht selten die Einheitlichkeit des-
selben Leidens verkannte, nur weil es unter verschiedenen Formen
auftrat. Bei den Details der weiter unten zu erörternden venereolo-
gischen Terminologie werden wir diesen Punkt stets zu berück-
sichtigen haben.
Schon Celsus (VI, 18) hat auf die reiche Terminologie der
Genitalleiden bei den Griechen hingewiesen, die durch die Schriften
der Aerzte und die Umgangssprache verbreitet sei, während die
Römer weniger Benennungen dafür hätten.
Die Venereologie gebot ferner über ein vorzügliches Instru-
mentarium für diagnostische und therapeutische Zwecke. Gurlt
hat in seiner vorzüglichen Geschichte der Chirurgie die verschiedenen
Instrumente nach den Autoren von Hippokrates bis auf Paulus
von Aegina zusammengestellt. Wir entnehmen seinem Verzeichnis^)
die auch für die Venereologie in Betracht kommenden Instrumente.
Instrumente bei Hippokrates*),
6 f^ioTÖg Sonde (De capitis vulneribus cap. 19),
6 fi. arsQsög solide Sonde,
i) E. Gurlt, Geschichte der Chirurgie und ihrer Ausübung, Berlin 1898, Bd. I,
S. 314, 505 — 519, 593. — Einzelne Stellenangaben sind von mir hinzugefügt worden.
2) Vgl. auch Robert Fuchs in Puschmanns Handbuch, Bd. I, S. 257 — 258.
fj ixrjXrj xaaamQivr] solide Sonde,
^ ^^ktj xaoaixEQivrj in äxQov jexQijfisvr] geöhrte Zinnsonde,
t6 nrsQov Federkiel und ^ xvarig Blase zu Einspritzungen,
»7 avQiy^ Röhre, Kanüle,
6 ai'Xloy.og Katheter (De morbis I, 6),
o /.lOTog y.aaoizEQivog y.oiXog zinnernes Rohr,
6 xarojizrJQ Mastdarmspiegel (De haemorrhoidibus cap. 5, De fistulis III).
Instrumentarium der römischen Kaiserzeit.
jy /iii^Xij specillum, Sonde [aus Bronze, Silber und Zinn],
»/ jiXaTVfirjXrj breite Sonde (Heliodoros),
o oHÖX.oyj zweischneidiges Strikturenmesser (Heliodoros bei Oiib. IV, 472),
ra xavzrjQia Glüheisen, ferramenta candentia (Herodotos bei Orib. II, 409),
fj /.aßi'g, To juvdiov vulsella, volsella, Pinzette (Heliod. bei Orib. IV, 473 — vgl. über das
iivöiov Haeser a. a. O. Bd. I, S. 509),
to TQiy[o/.dßior, rj TQiyo/.aßig Haarzange,
o av'/.iay.og, 6 xa&ExrjQ, fistula, Katheter'),
o avXioxog, 6 xXvoxfjQ, canula, fistula, sipho, clyster, Röhrenkanülen, Spritzen aus Bronze
oder Blase mit daran befestigter Kanüle*),
x6 x/.vaT7]Qidiov Injektionsspritze (Soran. II, 18, § 59),
^ dconxga Speculum (für Scheide und Mastdarm) drei- bis vierblättrige Specula (Soran us
II, 34, nsoi dio.-TXQiofiov ; Aet. XVI, 90; Paul. Aeg. VI, 73),
x6 aoilrjvaQiov kleine Röhre (aus Bronze oder Zinn, Heliodoros bei Orib. IV, 473),
to inwxrjoiov Bougie (aus Papyrus, Heliod. bei Orib. IV, 473),
novacula, Rasiermesser (Cels. VI, 4),
specillum tenue, tenuius (Cels. VIII, 2),
fifjlai öiJivQtjvai specilia bicipita s. bicapitulata, zweiknöpfige Sonden*).
Instrumente bei Galen.
rö biojivoivov Sonde mit Knopf an jedem Ende (XVIII A, 479),
o xlvoxt)o (XVI, 120, X, 301),
6 fxrjXQsyyvxrjg Mutterspritze (XIII, 316),
fj xvaxig xoiQsia Schweinsblase zu Einspritzungen,
o xavxrjQ, x6 xavxrjQiov Glüheisen (XI, 415; X, 325; XVII B, 326 u. ö.),
x6 ^vQÜcpiov TisnvQojfis^'oi' glühendes Messer,
o ovQcov Röhre,
TO aco?.7]vägiov kleine Röhre,
o avXiaxog sv&vxQtjxog gerade Röhre,
d xa&ExriQ (VIII, 1 1 ; XIV, 788, u. ö.) Katheter.
i) Man hatte gebogene imd gerade Katheter für einen erwachsenen Mann (s. Tafel II,
Fig. 67, 69 bei Gurlt a. a. O.), gebogene für einen Knaben luid weibliche Katheter
(Fig. 66, 68). Cels US (VII, 26, i) erwähnt drei Katheter von verschiedenem Kaliber für
das männliche und zwei für das weibliche Geschlecht, von je 15, 12, 9 Zoll bezw. 9 und
6 Zoll Länge. Er beschreibt eingehend die Technik des Katheterismus.
2) Vgl. Tafel III, Fig. 99 a u. b, lOOa, b, c bei Gurlt a. a. O.
3) Tafel II, Fig. 6, 14 bei Gurlt.
— 711 —
Instrumente bei Antyllos.
t6 dfi<pifZT]kov Sonde mit doppeltem Knopf,
o fir)TQsy/vzt]g Mutterspritze (Oribas. II, 442),
tÖ xavzrjoiov Glüheisen,
rö tjicoxrjQiov Bougie,
o iSgodiaaro/^vg Aftererweiterer,
rö fitxQov diÖTizgiov kleines Spekulum, Mastdarmspiegel,
6 y.adExt)Q Katheter,
xaaoizEQivoQ ooiltjv xvx)MZEQrig runde Zinnröhre oder Spritze (Orib. III, 573).
z6 (pvadoiov Blasebalg für Injektionen (Orib. II, 442).
Paulos von Aegina.
z6 duivgrjvov Sonde mit zwei Knöpfen,
^ tpcdig knäicixrj scharfe Scheere,
z6 nvQrjvoEideg y.avzrjQioi' sondenknopfförmiges Glüheisen,
o xavarrjQog oidrjgog Glüheisen,
6 aifioggoidoHavozrjg Hämorrhoidenbrenner,
o x(^Ä>covg y.aÄa^loxog Bronzeröhre,
o avkioHog fioXvßöivog Bleiröhre,
at naiMfiiÖEg «Lto jIzeqojv ^rjvaioiv Gänsekiele.
z6 acoXrjvägiov fioXißSovv kleine Röhre für die Urethra (VI, 57).
Man ersieht daraus, daß den Alten sowohl für die Diagnostik
als auch für die Therapie der venerischen Affektionen und der
Krankheiten des Afters und der männlichen und weiblichen Ge-
schlechtsteile ein reichhaltiges Instrumentarium zur Verfügung stand.
In Verbindung mit einer bereits sehr detaillierten und relativ exakten
Kenntnis der Anatomie der männlichen und weiblichen Geni-
talien i) konnte auf solcher diagnostisch-therapeutischen Grundlage auch
der klinische Teil der antiken Venereologie zu einer achtbaren Höhe ent-
wickelt werden, soweit dies die humoralpathologische Auffassung zuliess.
Unter den venereologischen Untersuchungsmethoden nehmen
vor allem die verschiedenen Specula und die Katheter und
Sonden unser Interesse in Anspruch.
Die älteste Erwähnung eines Speculums findet sich im Corpus
hippocraticum, und zwar in der Schrift de haemorrhoidibus cap. V
1) Ueber die Einzelheiten der Anatomie der weiblichen Genitalien bei den Hippo-
kratikern vgl. das Verzeichnis der Namen bei Robert Fuchs in Puschmanns Handbuch,
herausg. von Neuburger-Pagel, Jena 1901, Bd. I, S. 264 — 265. — Ferner H. Fas-
bender, Geschichte der Geburtshülfe, Jena 1906, S. 10, 22, 33 — 36, 50; Bucher, Die
noch heute interessierenden Angaben des Hippokrates über geburtshülf liehe und gynäko-
logische Gegenstände, Inaug.-Dissert., Strassburg 1896. Vor allem aber sei verwiesen auf
die grosse Uebersicht bei Oribasius (III, 363 — 382, 390 — 391), wo die Anatomie der
Blase, und der äusseren und inneren männlichen und weiblichen Genitalien nach Galen,
Soranos, Rufus sehr ausführlich erörtert wird. — Nach Galen (de semine II cap. i
Kühn IV, 596) hatte auch Herophilus eine ausführhche Abhandlung über die Anatomie
der Genitalien verfasst.
und de fistulis cap. III, wo der Mastdarm Spiegel xaxomrjQ er-
wähnt wird. An ersterer Stelle heisst es nach der Uebersetzung
von Robert Fuchs (III, 304): „Wenn aber die Feigwarze (;<ovdyAcom?)^)
weiter oben sitzt, so muss man mit dem Mastdarmspiegel unter-
suchen und sich dabei durch den Spiegel nicht täuschen lassen ;
denn dadurch, daß er sich öffnet, macht er die Feigwarze eben,
während er sie andererseits, wenn er sich wieder zusammenschließt,
von Neuem gut hervortreten läßt" -). In Kapitel III von „de fistulis"
ist von einem Aufsuchen der inneren Mündung der Mastdarmfistel
mit dem xaTomrjQ die Rede ^).
Was nun das Scheidenspeculum betrifft, so findet sich die
erste literarische Erwähnung bei Soran (zur Zeit des Trajan und
Hadrian). Es geht aber aus der Stelle hervor, daß der diojnQiajuög,
die Anwendung des Mutterspiegels, schon lange bekannt war'^), ob-
gleich sie merkwürdiger Weise ein Autor wie Aretaeus nicht zu
kennen scheint. Dieser macht nämlich bei der Diagnose des Uterus-
carcinoms die interessante Bemerkung, dass Erfahrene das Uebel
durch Touchieren erkennen, auf eine andere Weise sei es gar
nicht zu diagnostisieren^).
Soran behandelte die Anwendung des Mutterspiegels in einem
besonderen Kapitel (II, 34), von dem uns nur der Titel tisoI öioti-
Toiojuov erhalten ist. Es enthielt, wie wir aus der lateinischen Ueber-
setzung des Muscio ersehen eine sehr interessante Beschreibung der
Technik des Dioptrismus ^). Wesentlich auf ihr beruht wohl auch
i) Hierunter wird, wie sich aus Kap. IV ergibt, ein feigwarzenähnlicher Hämorrhoidal-
knoten verstanden.
2) 'Hv de dvcozegog fj ^ xovdvkcoaig, reo xaxouTfJQi axEmead-ai xai fxi] i^aTtaräo&ai
VTio xov xaroJixfJQog. Sirjyovfisvog yäg of.ia}.vvEi t)jv xovSv^.coow. ^vvayofisvog Öe Tiähv
SeiHvvoiv dodöjg.
3) ... y.al ai'dig 8ia zfjg rpvoiyyog vjitiov xazaxXivag xov avd^qomov, xaxonxi]oi
xaxidwv x6 öiaßeßQOJfjJvov xov dg^ov, xavxi] xr]v q>voiyya disTvai ....
4) Das beweisen die in Pompeji aufgefundenen Specula matricis. Vgl, Haeser,
a.a.O. I, 499 und E. Guhl und W. Koner, Das Leben der Griechen und Römer, 2. Aufl.,
Berlin 1864, S. 650. Soran hat vielleicht von Archigenes, den er benützt hat (vgl.
Well mann, Pneumatische Schule, S. 8) die bei Aetios (XVI, 90) erhaltene Beschreibung
des Mutterspiegels entlehnt.
5) Aretaei Cappadocis de causis et signis diuturnorum morborum Hb. II cap. XI,
ed. Kühn, Leipzig 1828, S. 166: eaxi de Jiejivvjuivoiai ovx äatj/nov xf] dqpij ov ydo
ü/./.cog dij/^ov. —
6) Gynaecia Muscionis ex Graecis Sorani in Latinum translata sermonem Lib. II
cap. 34 ed. Valentin Rose, Leipzig 1882, S. 117 — 118: Qua disciplina organo
aperiendae sint mulieres. — Scio me retro ad inspiciendam altitudinem mulieris
frequentius organi mentionem fecisse quod graecitas dioptran vocat. et quoniam nisi
insinuata fuerit disciplina quatenus hoc ipsud fieri possit, occurrente necessitate obstetrices
— 713 —
die Schilderung des Paulus von Aegina (Lib. VI c. 73), die wir
im griechischen Originale \) und nach der Uebersetzung von Haeser^)
wiedergeben :
„Um zu operieren, wird die Frau auf einen hohen Stuhl gesetzt, die Beine gegen
den Unterleib gezogen, die Schenkel ausgespreizt. Die Anne werden in die Kniekehle
gelegt, und dort mit Binden befestigt, welche um den Hals geschlungen werden. Der
Operateur sitzt auf der rechten Seite, und gebraucht das Speculum (ÖiojixqiCet(o) , ange-
messen dem Alter der Kranken. Der das Speculum Anwendende muss mit einer Sonde
die Tiefe der weiblichen Scheide ausmessen, damit nicht etwa, wenn der Kanal (Xcozög) des
Speculums zu gross (lang) ist, der Uterus gedrückt werde. Und wenn sich findet, dass der
Kanal des Speculums grösser (länger) ist als die Scheide, so müssen Compressen auf die
grossen Schamlippen gelegt werden, damit sich das Speculum auf dieselben stütze. Man
muss dasselbe aber so einführen, dass der Theil, an welchem sich die Schraube befindet,
nach oben gerichtet ist. Das Instrument wird vom Operateur gehalten, die Schraube aber
vom Gehülfen gedreht, so dass die Branchen (eAaa/zara) sich voneinander entfernen und die
Scheide erweitern."
Eine wörtlich hiermit übereinstimmende Beschreibung findet
sich bei Aetios (XVI, qo nach Archigenes) ^).
faccre non audent, idcirco placuit nobis ut etiam hoc gynaeciis adderemus, ut ex rebus huic
corpori necessarüs nihil dimisisse videamur.
itaque supinam iactans eam quae inspici habet, accipies fasciam longam et in media
parte eins duobus laqueis factis, ita ut inter se cubitum unum habeant laquei illi, duabus
vero manibus mulieris missis, medietatem quae interest cervici eius inducis. deinde reliqua
fasciae sub anquilas missa ad manus adligabis, ita ut patefacti pedes ventri eius cohaereant.
deinde accepto organo et uncto priapisco, quem Graeci loton dicunt in aliquantum ad prunas
calefacere «debes», deinde sine quassatione priapiscum inicere, susum scilicet axe posito,
jubere etiam ministro ut aperiendo organo axem torquere incipiat, ut paulatim partes ipsae
aperiantur. cum vero post visum Organum tollere volueris, ministro jubere ut iterum axem
torqueat quo Organum claudi possit, ita tarnen ut cum adhuc in aliquantum patet sie aufe-
ratur, ne universa clusura aliquas teneat et nocere incipiat.
i) Chirurgie de Paul d'Egine. Texte grec avec traduction fran<;ais en regard par
Rene Brian, Paris 1855, S. 296 — 298: 'Ev b'e uo ivEQysTv o/_t],uaTi^eodco 1) yvvij i:zl
Si(pQov vnzia, avv7]y^h'a eyovaa rä ay.s).rj Jioog x6 ejir/äaigiov xal rovg firjoovg äsi aV.rjXcov
SisoTCJoag. 'Y:!ioßeßh'jado}oav de avrijg 01 nrjyEi? vjto Tag lyvvag xal ßgöyoig toTg y.axa).}./]-
Xotg ävEiXrjcpßwaav TiQog zov avyEvo.. 'O öe ivsQyöjv ix tcov Se^icöv /nsgcöv xai&ECofiEVog,
SiojItqiCetco jfj TTQog zijv rjAixiav xazaXXtpM SioTizoa.
Aei 6e 8io:TzoiQovza 8ia /in'j/.tjg avai^iEZQEioßai ro zov xo/.nov zov yvvaixEiov ßdi&og,
iva fit], jXEi^ovog or'zog zov zfjg diojizoag /.ojzov, O/ußsodai av/i(ßaivi] zip' voxEQar. Kav
evQEdfj zov x6X:jov fisi^wv ä)v, za Tczvyfxaza sTzizißEO&co xaza zäiv jizEq^vycofidzcov, iva xaz
avzmv rj 8i6jiz§a EÖQa^rjzai. Aei 8e xa^isvai xov XmxÖv eig z6 äva> fisQog xov xoyXiav
Eyovxa, xal XQaxEiodai /xh' zijv diöjzzgav vtio xov ivEgyovvxog, azQEcpEodai 8e zov xoyXiav
öl vsii]Q£zov, iva düoxafiEvcov zwv iXaafxäzoiv xov Xwxov öiaozaXf] 6 x6).:iog.
2) H. Haeser, Lehrbuch der Geschichte der Medizin, Bd. I, S. 473.
3) Geburtshülfe und Gynäkologie bei Aetios von Amida, übersetzt von Max Weg-
scheider, Berlin 1901, S. 117.
— 714 —
In einer nur in der Ausgabe des Soranus von Dietz (aap. 119)
sich findenden Stelle werden kondylomatöse Wucherungen und
schwielige Auswüchse der Scheide mit dem Speculum untersucht^).
Für die Diagnose von Genitalblutungen und beginnendem Car-
cinom erwähnt der Talmud ein Speculum in Form einer bleiernen
Röhre, von der der 257 n. Chr. verstorbene Mar Samuel ver-
langt, dass sie an der Mündung nach innen umgebogen sei, um nicht
die Schleimhaut zu verletzen 2).
Bei Verengerung und Atresie der Vagina aus verschiedenen
Ursachen empfiehlt Paulus von Aegina die xd&eoig diojiroag (Lib.
VI c. 72). — Auch der Katheterismus kommt schon im Corpus
Hippocraticum vor und zwar in der Schrift mal vovocov (Lib. I,
cap. 6 ed. Kühn II, 173), wo der Verfasser die Unfähigkeit, den
Katheter {avXioxog) in die Blase einzuführen, tadelt (jur]d' elg xvoriv
avXioxov xad^ievTa övvao'&ai xa^ievai).
Die alexandrinische Chirurgie bildete die Technik des Katheteris-
mus sorgfältig aus, wie die Schilderung des Celsus (VII, 26, i) be-
weist. Als Indikationen nennt er Retentio urinae durch Alter (Pro-
statahypertrophie), Blasensteine, Blutgerinnsel und Entzündung (Go-
norrhoe, Cystitis). Der Arzt muss fünf bronzene Katheter von
verschiedenem Kaliber, drei für das männliche und zwei für das
weibliche Geschlecht vorrätig halten, in der Länge von 15, 12, g Zoll
für Männer und 9 und 6 Zoll für Frauen. Die männlichen Katheter
haben eine stärkere Krümmung. Der Kranke liegt hierbei rücklings
auf einer Bank oder einem Bette, der Arzt steht auf der rechten
Seite, fasst mit der linken Hand das Glied und führt mit der rechten
den Katheter in die Harnröhre ein. Ist er bis zum Blasenhals ge-
kommen, so wird der Katheter mit dem Gliede nach unten gesenkt
und dann in die Blase geschoben und nach Entleerung des Urins
wieder herausgenommen. Bei der Frau ist die Harnröhre kürzer
und grader, weshalb bei ihr der Katheterismus sehr leicht auszu-
führen ist^).
i) 'O de x^i^QO^Qyo? öiä rrj? diöjtzgag jiqÖxeqov xaxavoitjoag, ojioiöv iari xö dvaio-
xiag al'riov, ol'ov dvfKOv ixtpvasig t] zvkcödsig vjisQoyai, I] exeqÖv xt, xiäv nQoeiQrjiJ.evoi%', bei
Haeser I, 317.
2) J. Preuss, Materialien zur Geschichte der biblisch-talmudischen Medicin. XVI.
Die weiblichen Genitalien. In: AUg. Med. Centralzeitung 1905, No. 5 ff.. S. A. S. 25 — 26.
3) Res vero interdum cogit emoliri manu urinam, cum illa non redditur. aut quia
senectute iter ejus coUapsum est, aut quia calctilus vel concretum aliquid ex sanguine intus
se opposuit: ac mediocris quoque inflammatio saepe eam reddi naturaliter prohibet. Idque
non in viris tantummodo, sed in feminis quoque interdum necessarium est. Ergo aeneae
fistulae fiunt; quae, ut omni corpori ampliori minorique sufficiant, ad mares tres; ad feminas
— 715 —
Der Katheterismus wurde also nach Art der Tour du ventre
der französischen Chirurgen ausgeführt. Noch genauer schildert
Paulus von Aegina, offenbar auf Grund häufiger selbstständiger
Ausführung die Einführung des Katheters (Lib. VI, cap, 5g). Zu-
nächst schiebt er mit Hülfe eines Holzrohrs ein an einem Leinen-
faden befestigtes Stück Wolle in den Katheter bis zur Mündung und
führt dann den Katheter in zwei Touren ein, die eine senkrecht mit
einer Wendung zum Nabel, die andere nach Eintritt in die pars
membranacea mit einer Senkung nach unten gegen den Damm.
Der Wollfaden soll eine Saugwirkung ausüben nach Art eines Siphon
und den Abfluss des Urins noch mehr befördern i).
Ruf US widerrät bei Cystitis des Mannes (hvoxeok (pXey juiovrj) die
Anwendung des Katheters, man gebrauche ihn dann nur bei der
Frau, bei der seine Anwendung wegen der Kürze und geraden
Richtung der Harnröhre weniger schmerzhaft sei -). P^erner erwähnt
er den Katheterismus bei Blasenlähmung {naQakvoK; nvoxewg) •^).
duae medico habendae sunt: ex virilibus maxima decem et quinque digitoruni; media duo-
decim; minima novem : ex muiieribus major novem; minor sex. Incurvas vero esse eas
paulum, sed magis viriles oportet, laevesque admodum; ac neque nimis plenas, neque nimis
tenues. Homo tum resupinus, super subsellium aut lectum coUocandus est. Medicus autem
a dextro latere sinistra quidem manu colem niasculi continere, dextra vero fistulam demittere
in iter urinae debet: atque ubi ad cervicem vesicae ventum est, simul cum cole fistulam
inclinatam in ipsam vesicam compellere, eamque, urina reddita, recipere. Femina brevius
urinae iter, simul et rectius habet; quod mammulae simile, inter imas oras super naturale
positum, non minus saepe auxilio eget, aliquanto minus difficultatis exigit. — Celsus VII,
26, I ed. Daremberg, S. 306 — 307.
i) Aaßöt'reg ovv JiQog ri}.ixiav xal yivog ägfiö^ovra xadsrilga, svodidoofiev avzov.
'O de. zov svoöiaofiov rgönog joiovrög ioziv. "Eqiov ofiiy.Qov Uvco drjoavzsg xazä zrjv /usaözTjra,
z6 Uvov ZE öC o^vo^oirov Siayayövzsg 8iä zfjg zov xa^errjQiov ovQiyyog, z6 kqiov s(paQfi6-
oofisv zöi zQrjuazi zco Tioög zfö Tzvgiivi zov xa&sziJQog. Kai x^'aUanvzEg za s^eyovza zov
sQiov, xa&ioo/iisi' Etg e)miov zov xadEzfjga. Tov Sk x&jxvovza a/jjfiazt'aofier Eig xadidgiov, tzqo-
xazaiovrjoavzeg, sl (.irfzi xoiXvoi. Aaßovzeg ds zov xaßeziJQa, xa&iao/.i£v In Evßsiag jzqwzov
ä^Qi ßäascüg zov xavXov' xaJiEiza z6 aldoTov dvax?.äao/:i£v cog JZQog zov d/n(pal6v, xal ya.Q
djid zovzov zov (lEQOvg axo).i6g {mdoysi zfjg xvozsatg o TiÖQog' xäjzsid' oihco zov xa&Ezijga
jiQoaoioo/nEV. 'EjiEtddv dk xazd z6 jzEQivaiov jikrjaiov zfjg sSgag yEvrjzai, ndXiv zo alSoTov,
syxEtfievov zov ogydvoi', xazaxdifjofiev slg z6 xazd cpvoiv i.-ravdyoj'ZEg oj^fjixa' otzo ydg
TiEgtvaiov zfjg xvozECog 6 Txögog ävoy zstvet. IIgooßtßdaof.ih' ze zov xadszfjga ea>g slg zi]v
xi'oziv xsvE/iißazfjor). Mszd 8e zovzo ijziajzaaofisda ro iyxEiiisvov zw xa&szfjgi /uvov, Iva zw
igico ovve<p£Xx6fiEV0V z6 ovgov inaxo/.ovd-tjot/, xa&dnEg inl zcör öKpojvojv yivEzai. Paul.
Aeg. VI, 59 ed. Briau S. 248.
2) Oeuvres de Rufus d'Epliese ed. Daremberg-Ruelle, Paris 1879, S. 40:
[Ti]v 8e zov av'/.lgjxov xddEoiv drdgl fiiv dnodoxifid^W 8id ydg zo [igyadöjg iyxaj
■&i£a&ai zag odvvag iigoonago^vvac yvvaifxl dk Öoxw ovx äjjio zgöjzov Eirai xa&ievar
ßgayvg ze ydg 6 [ovgrjzijg xal xajzd svßv TzicpvxEV, coore dvwdvvwzEgov diaysigiCsaßat.
3) Ibid. S. 60: Udoxovai dk zdSs' zo ovgov zoig fi'ev ov Svvazai ngoycogsTv, ei firj
xa&Ezfjga EVEirjg' zöig 8e jzgo/wgEi fikv, d?,kd dvalo'&rjzov.
Bloch, Der Ursprung der Sypliilis. 4b
— ']\6 —
Sehr interessant sind die Angaben des Hi ppokrates^), Dios-
kurides-) und Galen, dass man Ulcerationen der Blase, des Anus,
der weiblichen Genitalien und des Uterus durch Ausspülungen [Öia-
y.lv'Ceiv) und Medikamente behandelte, die man vermittelst der Mutter-
spritze oder des Katheters applizierte^).
Blutungen aus der Harnröhre behandelt Rufus teils mit
direkten medikamentösen Injektionen in die Urethra, teils mit kalten
Klystieren ins Rectum^). Auch Galen erwähnt die häufige Not-
wendigkeit, durch die Urethra Medikamente in die Blase zu bringen '").
Paulos benutzt zu Injektionen bei Cystitis entweder die Ohren-
spritzen oder einen mit Ballon {öeQ/^ia oder x vor ig ßoeia) versehenen
Katheter''), als diuretische Mittel empfiehlt Antyllos medikamentöse
Injektionen bei Retentio urinae '') und verschiedene Injektionen zur
Behandlung der Vagina und des Uterus**). Urethralsteine extrahiert
Rufus'*) mit einer kleinen Pinzette {Xaßig).
Was nun die Therapie der geschwürigen und entzünd-
lichen Affektionen der Genitalien betrifft, so zogen die antiken
Aerzte hierfür äussere und innere Medikamente, Kataplasmen,
1) Hippocrates de natura muliebri Kühn II, 588: t<ü olrcp diaxXvi^eadoj tu
aiöoTa (bei eXxsa fv zoTotv alöoioiai). — Ibid. II, 591: //1' Iv xoTaiv uldoioioiv tXusa yh'tjzai.
. . . xal rfjg /nvQoivtjg tv ol'vco äq^syöJv Siaxkvaai.
2) Dioskur. I, 140, Kühn I, 135: EyxXvo^iä rs sdga xal aidow) xal fitjXQaig
EÜ.xoii^iEvaig iori yorioij.iov.
3) Galen de compos. medicamentor. sec. locos I, c. 8 (Kühn XIII, 3/6): ai 8e
xaxa xrjv (j,rjXQav kkxöiosig i] xvaxiv x&v avxwv deöfiEvai (paQ/itdxcov, oqyävoiv xQ?]Covoi xü>v
el'oo} jiagajiEfXTiovxcov avxä, dia xöiv fjrjxgeyxvxcöv xal xa&sxrjQOiv xalovfiivcov.
4) Rufus ed. Daremberg-Ruelle, S. 44: 7a? Se ex xov xavXov aifioggayiag xal
E7il^Ei.i[a xjwxxrjQiov] xal k'y/vxov xi x&v slgruuEvcov läxai. Et fds xi xwv lo^aJi/Licov äXXo
fikv 8ia xov avXioxov ky^soig, äkXo Öe xXvoxfjQi Eig xo evxeqov jusya, xal xovxo ovivt]oi xäg
aifioQQayiag. XQV ^^ ^^*' o.vXiaxov xa jukv aXXa Eivai ojioiög saxiv, s^ uxqov 8e e'x^iv i^tjQ-
xtjfiEVOv äaxoJixa (Blasebalg).
5) Galen Meth. medendi IV, 7 (Kühn X, 301): Kai fiijv xal öia xov xavXov
(päQfj.axov iviEvai JioXXäxig slg xijv xvaxiv avayxaXöv iozi.
6) Paulus Aegineta ed. Briau, S. 250: 'Ejisiörj 8e noXXäxig EXxco&sToav xvaxiv
8£6/iis{^a xXvaai, ei fihv d>xixol xXvaxfjgsg Svvaivxo jiaQOJisfijiEiv x6 EVE/^a, ixsivoig XQt]aö-
f^sßa xaxa xov eiQij/itivov xgönov naQa3XEfJ,novxEg avxovg- si S'e (irj övvaxov sit], x<p xaOExfjQi
jiQoaaQ/xoaavxEg x6 dsQixa, rj xvaxiv ßosiav, 8ia x^g xov xad'SxfJQog iveoECog iyxXvao/xev.
7) Antyllos bei Oribas. II, 189: Tcöv 8e Siovqtjxixcöv xa [xev 8ia oxofiaxog
XafißävExai ji6xi/iia, xa 8k xfj ßaXdvq) jiQoaäyExar ;i^^co^<£j9a 8k fidXiaxa xovxoig, EnEi8ar
v.-iE07iXt]i&£taa ^ xvaxig xal 8iä xovxo fii] 8vva/^£vr] jiEQioxEXXeaßai xal xevovv xo ovqov.
'Evxl&EfiEV Eig xi]v ßdXavov vixgor vSaxi 8iEifxsvov, äXfirjv, dXog äv&og, x^^"*'' f<vxXd/nivov,
xÖQiv xo ^cpov.
8) Oribas. II, 442 — 443: Ilsgl iyxvjnaxioficöv.
9) Rufus ed. Daremberg-Ruelle, S. 27.
— 717 —
Cauterien (ferrum candens und chemische Aetzmittel), Operationen
mit dem Messer u. a. m. in Anwendung, wobei sie zum Teil auch
nach unserer modernen Anschauung durchaus rationell verfuhren.
Sie waren dabei keineswegs von jener blinden „Brenn- und Schneide-
wut" besessen, die ihnen Rosenbaum zur Stütze seiner Hypothese,
dass die Kranken sich damals lieber an Kurpfuscher als an Aerzte
gewendet hätten, fälschlich imputiert.
Gerade die von Rosenbaum (a. a. O. S. 407) angeführte Stelle des Galen
(Method. med. IV, 2 ed. Kühn X, 238): „Wenn aber die Ränder des Geschwürs nur
niissfarben und callös sind, so muss man sie bis auf das gesunde Fleisch abtragen; hatte
diese Beschaffenheit aber weiter um sich gegriffen, so entsteht die Frage: ob man alles
Krankhafte ausschneiden oder eine langwierige Kur vornehmen soll. Es ist natürlich, dass
man hierzu die Gesinnung des Kranken erforschen muss; denn einige wollen lieber ohne
Schnitt sich einer langwierigen Behandlung unterwerfen, andere dagegen sind zu allem bereit,
wenn sie nur geheilt werden" (snsidar ta xsih] fim'a x&v iXxwr etci ji/Jov u/got'ag >}
axh}o6z))zog Sjxoi, aeouf^irsiv avrä ygt] fiexQi Tijg ijiovg oagy.ög- ijisiduv ds xal fis^Qi
nXiovog 1) dtädsoig FXTSirtjTui, ayJij'ig kviavßa yirezai nÖTsoa jrsQiy.ojrzEOv ü.-zav z6 Tiagu
(/rvaiv iaziv. Pj dsoa.-zsvzsor iy /goVa), xal öfjkov cbg y.al zij zov xäjurovzog, Eig xovzo
jzQooxgfjodat öeT :igodv^iia- ziveg fiiv yäg iv XQ'^^'V ^^siovi degcuzevsaßai ßovlovzai jjfwptc
zo^rjQ- evioi 8e jzäv öziovv vjiofih'Eiv Eiolv Ezoi/noi zov d^ärzov vyiävai X'^Q'-'^)^ beweist doch,
dass erstens viele Patienten um der raschen Heilung willen sich gerne operieren Hessen
und dass zweitens auch die messerscheuen sich doch einer langwierigen ärztlichen
Behandlung unterwarfen und nicht etwa zu Kurpfuschern liefen. Wenn ferner Rosen-
baum als Beispiele dafür, dass die , .vollblütigen Römer" aus Furcht vor dem Verlust der
Gebrauchsfähigkeit jener Theile lieber jedes andere Mittel versucht hätten, ehe sie sich den
Aerzten anvertraut, die folgenden drei Epigramme des Martial anführt:
Curandum penem commisit Baccara Raetus
Rivali medico. Baccara Gallus erit. .^^t _ \
Quae tibi non stabat praecisa est mentula, Glypte.
Demens, cum ferro quid tibi? Gallus eras.
(11. 45)
Abscisa est quare Samia tibi mentula testa,
Si tibi tarn gratus, Baetice, cunnus erat?
(Ill, 81)
so haben die beiden letzten überhaupt nichts mit einer zu kurativen Zwecken unternommenen
ärztlichen Operation zu thun — es handelt sich lediglich um zu Unzuchtszwecken ver-
schnittene Individuen — und das erste Epigramm ist doch nur eine scherzhafte Anspielung
auf die Nebenbuhlerschaft des Arztes, der sich bei der Behandlung des Genitalleidens
seines Gegners im Sinne der Castration bethätigen könnte. Es handelt sich um einen
seltenen Spezialfall, der dem Satiriker den Stoff zu einem Epigramm mit einer witzigen
Pointe liefert, den man doch aber nicht, wie Rosenbaum es thut, ohne weiteres für alle
Aerzte verallgemeinern kann! Auch in dem von Rosenbaum (a. a. O. S. 408) als Beweis
für die Messerscheu der mit venerischen Affektionen Behafteten angeführten Carmen
Priapeum 37, das wir oben auf S. 521 mitgeteilt haben, kann ich nur die Schilderung eines
individuellen Falles sehen, der keine Allgemeingültigkeit besitzt. Gewiss fürchtete der den
Priapus anflehende Patient das Messer des Chirurgen. Das ist allgemein menschlich.
Auch heute noch giebt es viele messerscheue Patienten, die zuerst andere Behandlungs-
46*
— 71« —
methoden versuchen. Endlich spielt Rosenbaum noch auf eine Stelle in den Briefen des
jüngeren Plinius an, die seine These von der Aerztescheu der antiken Genitalkranken be-
weisen soll. Da ausserdem dieselbe Stelle sogar noch von neueren Autoren — nomina sunt
odiosa — als Schilderung eines „Luesfalles" angesprochen worden ist, so sei sie in extenso
mitgetheilt:
C. Plinius Macro suo S. Quam multum interest a quo quidque fiat! Eadem
enim facta claritate vel obscuritate facientium aut toUuntur altissime aut humillime deprimuntur.
Navigabam per Larium nostrum, cum senior amicus ostendit mihi villam atque etiam cubi-
culum quod in lacum prominet: 'ex hoc' inquit 'aliquando municeps nostra cum marito se
praecipitavit'. Causam requisivi. Maritus ex diutino morbo circa velanda corporis
ulceribus putrescebat. Uxor ut inspiceret exegit ; neque enim quemquam fidelius
indicaturum possetne sanari. Vidit, desperavit: hortata est ut moreretur comesque ipsa
mortis, dux immo et exemplum et necessitas fuit. Nam se cum marito ligavit abiecitque
in lacum. (C. Plini Caecili Secundi Epistularum Hb. VI, cap. 24 ed. H. Keil, Lipsiae
1868, S. 124—125.)
Die Erzählung betrifft den freiwilligen Tod eines Ehepaares — eine heroische That,
wie sie im Altertume nicht selten war und aus seinem Geiste begriffen werden muss — , weil
der Gatte an einer langwierigen Krankheit, durch das Auftreten fauliger Geschwüre an den
Genitalien erkrankt war, die bereits soweit vorgeschritten waren, dass die sie inspizierende
Gattin sie als unheilbar erkannte, ihm den gemeinsamen Selbstmord vorschlug und sich dann
mit ihm vom Fenster ihres an dem See gelegenen Landhauses ins Wasser stürzte. Der
ganzen Schilderung nach, die ja sehr unbestimmt ist, kann man an zwei Affektionen denken,
entweder an einen gangränösen Schanker, der bereits grosse Partien des Genitale zerstört
hatte, oder an ein Carcinom mit ähnlichen Folgen. Für Syphilis liegt gar kein Anhaltspunkt
vor. Was nun gar diese Stelle mit der angeblichen Aerztescheu jener Zeit zu thun hat,
auf die Rosenbaum daraus schliesst, ist unerfindlich, da doch von Aerzten oder irgend
einer Behandlung gar nicht die Rede ist. Es ist ja sehr gut möglich, dass der Be-
treffende von Aerzten behandelt wurde, die eine etwaige krebsige Natur des Leidens
zu spät erkannten bezw. das Umsichgreifen trotz Operation oder sonstiger Therapie nicht
hindern konnten. Für vorherige ärztliche Behandlung spricht ja die Erklärung der Frau,
dass „Niemand ihm mit mehr Aufrichtigkeit sagen würde, ob er heilbar sei", da vielleicht
ein humaner Arzt diese Auskunft bereits verweigert hatte.
Wenn schliesslich Rosenbaum noch die beiläufige Bemerkung des für die Pharmako-
therapie begeisterten Scribonius Largus heranzieht, dass im Anfang die Kranken sich
nicht gerne dem Messer und Feuer überliefern, sondern erst noch andere unblutige und
weniger schmerzhafte Heilmittel versuchen ^), so ist das nur ganz natürlich für das „timidum
genus mortalium" und auch heute noch gang und gäbe.
In der That ersehen wir denn auch aus den Angaben des
Celsus (z. B. VI, 18, 2), Galen (z. B. ed. Kühn X, 381) und der
anderen Autoren, dass die Aerzte keineswegs in der Behandlung der
Genitalleiden gleich zum Messer und Glüheisen ihre Zuflucht nahmen,
sondern fast immer zuerst die medikamentöse Therapie in Anwendung
i) Siquidem verum est antiquos herbis ac radicibus earum corporis vitia curasse,
quia timidum genus mortalium int er initia non facile se ferro [ignique] committebat. Quod
etiam nunc plerique faciunt, ne dicam omnes, et nisi magna compulsi necessitate speque
ipsius salutis non patiuntur sibi fieri, quae sane vix sunt toleranda. (Scribonii Largi
Compositiones ed. G. Helmreich, Lipsiae i88", S. 2.)
— 719 —
zogen. Erwies sich dann doch ein operatives Eingreifen als not-
wendig, so verfuhren sie auch dann sehr sorgsam und waren unter
Berücksichtigung der Bedeutung jener Teile auf ein möglichst kos-
metisches Resultat bedacht. Das zeigt deutlich die Erörterung des
Antyllos über die Schnittführung bei Operationen an den Geni-
talien, für die nach ihm als Hauptgesichtspunkte die Sicherheit der
Therapie und die Erhaltung der Form in Betracht kommen i).
Wir sehen denn auch, dass in diesem Sinne zahlreiche Operationen
an den Genitalien von den Aerzten bis in die spätbyzantinische Zeit
hinein ausgeführt wurden und dass die Klientel dafür eine recht
umfangreiche gewesen sein muss, wie sich aus den Darstellungen bei
Celsus, Galen, Oribasius, Paulos, Aetius ergiebt.
2. Terminologie und vSymptomatologie der venerischen
Krankheiten und der Genitalaffektionen. — Wenn wir nun-
mehr zu einer genaueren Terminologie der einzelnen venerischen und
Genitalaffektionen übergehen, so werden wir stets dabei das bereits
oben (S. 709) gekennzeichnete formaHstische Prinzip der antiken
Klinik der äusseren Leiden-) berücksichtigen müssen, das die ein-
zelnen Affektionen nach ihren Formen benannte und trennte. Das
galt z. B. vor allem von den warzen ähnlichen Auswüchsen, wie das
Celsus (V, 28, 14) ausspricht: Sunt vero quaedam verrucis similia;
quorum diversa nomina, ut vitia sunt. Ferner von den Bläschen und
Pusteln, die rein symptomatologisch nach Form, Farbe, Verbreitung,
Veränderung und Ursache unterschieden werden ohne den Versuch
einer Zusammenfassung zu scharf abgegrenzten Krankheitsbildern,
wie z. B. die Schilderung des Celsus (V, 28, 15) beweist. Da die
einzelnen Dermatosen unter den allgemeinen ätiologischen Begriff
des Blühens, Ausschiagens, Herauswachsens, der Ablagerung sub-
sumiert wurden, musste sich ganz von selbst eine rein formalistische
Auffassung herausbilden und Farbe, Form und Formveränderung eine
ausschlaggebende Rolle ^) für die Terminologie der Hautleiden und
der Affektionen der Genitalien spielen.
1) Oribasius III, 574: IlrsQvyojuarog 8s im yvvaixEiov alöoiov ra fzh ävco
diaiQsia^co, za 8e jigog zij sSga avrwr .leQiaigsia&o). 'Em 8s ooyjov xal xavXov T.of.iaT?
evdvrevEOi xq^otsov, xal x6 avvolov si8svai /QV <'^' ^" oxrj^ara tmv SiaiQsoscor 8i8aox6fisßa
ix rfjg ijitßlsy^'sojg iijg .igoadsv Jioog x6 aocpalsg xal xb svfioQcpov.
2) Leider ist die diese speziell behandelnde Schrift des Rufus tisqI xiöv ixxog :ra&MV
verloren gegangen. V^gl. Wellmann, Pneumatische Schule, S. 65, Anm. 5.
3) Auf die Farbe deuten igvßij/^ia, Xevxrj, igvoinskag etc., auf die Form und
P"orm Veränderung Xenga, SQjiijg, oaxvQiaoig u. a. m.
— 720 —
Allerdings findet sich i\uch bereits in einigen Bezeichnungen
ein Ansatz zu einer symptomatologischen, auf den Krankheitsprozess
bezüglichen Terminologie. Einzelne Namen deuten die hauptsäch-
lichsten und auffälligsten Erscheinungen des betreffenden Leidens an^).
Die erwähnten Gesichtspunkte finden sich bereits in der Ter-
minologie der Hippokratiker, eine reichere Ausbildung erfuhren sie
in der alexandrinischen Medizin, deren Anschauungen wir be-
sonders in dem Werke des Celsus niedergelegt finden, das den grossen
Fortschritt der Systematik der Hautkrankheiten deutlich erkennen
lässt. Auch pathologische Gesichtspunkte werden hier bereits ver-
treten, wie in der Darlegung der Beziehungen des bei Celsus be-
schriebenen „Erythema multiforme" (Epinyktis) zu rheumatischen
Affektionen und in der Unterscheidung des symptomatischen (bei
Krankheiten und im Alter) und genuinen Haarausfalls.
Im grossen und ganzen aber wird die gesamte antike Dermato-
logie und Venereologie vom Prinzipe des Formalismus beherrscht,
das ganze Gruppen verschiedener Hautleiden unter Sammel-
namen zusammenfasst, wie Scabies [ipd'jQa], Impetigines {Xety^rp'),
Papulae u. s. w., die nur das hervorstechendste Symptom der Efflores-
zenzenbildung bezeichnen. Galen behandelt die Hautleiden des
Kopfes für sich in dem Kapitel Tlegl tcov ex Tog rfjg KE(paXf}g nadaiv
(Introduct. c. XVII = Kühn XIV, 777 — 779) und trennt davon die
eigentlichen Dermatosen, in dem Kapitel jieqI xon> rov degfiaTog nadötv
(Introd. c. XVIII = Kühn XIV, 779—780). Auch er legt schon
Wert auf die Pathogenese, lässt manche Hautleiden genuin, manche
auf Grund von Arthritis und Podagra entstehen 2). Hier sind die
ersten Anfänge der berühmten Lehre vom Arthritismus in
der Dermatologie zu suchen, die bis in die neueste Zeit nament-
lich in der französischen Schule eine so grosse Rolle gespielt hat.
Sie ist nur ein Teil der Doktrin von der humoralpathologischen
Aetiologie der Hautkrankheiten, deren Wesen und Bedeutung für die
spezielle Lehre von den venerischen Krankheiten schon oben (S. 672
bis 674) gekennzeichnet wurde. Acuität und Chronicität, Grösse,
Form und andere klinische Symptome der Exantheme werden auf
die verschiedenen Humores, auf deren kalte und warme Beschaffen-
heit, auf die mehr oder weniger grosse Fähigkeit der Haut zur
ExxQimg (Ausscheidung) oder zur nnödeoig (Ablagerung) zurückgeführt.
Die bedeutsamste Stelle für diese Auffassung findet sich bei Galen
i) Z. B. cpXvxzaiva, yjvdgdxiov, tfüga, idgtöa, xvrjafxög, dkcojisxia.
2) Ol fifv ix Jiodäyoag xai oLQ&Qiridog, ol de xal xa{^' mvTOvg. Galen XIV, 780.
72 1 —
(im Kommentar II zu Buch VI der Epidemien des Hippocrates
(Kap. 33)'). Einen ähnlichen Einfluss des yvi^^^^ d^eg/udg und yv^Qog
auf die verschiedene Gestaltung der Hautefflorescenzen nimmt Galen
im Kommentar zu Aphor. VI, 9 an 2).
Es handelt sich bei dieser Auffassung der Haut- und venerischen
Krankheiten nicht um eine „konstitutionelle" Erkrankung im modernen
Sinne. Denn bei den Alten werden die lokalen Affektionen auf die
Humores zurückgeführt, letztere sind das Primäre. Bei uns werden
seit Morgagni, Bichat und Virchow auch die sogen, konstitutio-
nellen Leiden auf ursprüngliche lokale Erkrankungen zurückgeführt.
Nur unter Berücksichtigung aller dieser Voraussetzungen kann
man zu einer unbefangenen Deutung der Krankheitsnamen der antiken
Terminologie der venerischen Krankheiten gelangen, die bisher allzu
weitgehend für die Lehre von der Existenz der Syphilis im Altertume
ausgenutzt wurde, aber bei kritischer Verwertung der oben erwähnten
Punkte und der früher ausführlich dargestellten pseudosyphilitischen
Hautkrankheiten keinerlei Anhaltspunkte für diese Hypothese
darbietet.
Wir geben im folgenden die alphabetisch geordnete Termino-
logie der venerischen bezw. der zu ihnen in Beziehung stehenden
Hautleiden und werden für die Erklärung und Symptomatologie nur
die wichtigsten und den Sinn erschöpfenden Stellen aus den an-
tiken ärztlichen Schriftstellern heranziehen, da eine Aufzählung sämt-
licher, oft wörtlich übereinstimmenderstellen eine ermüdende Wieder-
holung sein würde.
I. 'Ad/]gojfta, 'A&eQOjjua.
Soran ed. Rose, S. 379: Jrept aßegco/Lidzü)}' sv roTg yvvaixeioig aldoioig. —
Galen, Method. medendi XIV, 12 =^ Kühn X, 985: a&rjQOJfia y.ai f^iehxijQlg xal aied-
1) Galen ed. Kühn XVII A, S. 959 — 960: 'Qg sm (pvjudzcov sI'jio/liev 00a vjio
deQixov yivovTai x^vfxov, ra^v XQioifiä ze sirai xai ijxiaza jiXazea, zd 8k vjzo yvxQov nlazea
xai ;|^ßoVta. xazd zov avzöv Xöyov eniozaadai ygr] xal jtsqi zcöv i^avßtjf^idzcov. ov ydg
oXoi zw yevei öiacpegei, zöiv (pv/J.dzcov , d?J^d zfj jioiöztjzi zov yevvöivzog avza ](^viJ.ov.
yevvöjvzai 8k xadaiQovorjg z6 ßd'&og zov oo'jfxazog zfjg q?voecog, a>o:T£g ivioze 81' ixxQiaswg,
oi'zo} xal 81'' d.jio'd'Easwg im z6 8eQfia. zovg fikv ydg ksnzozsgovg ze xai v8azo38saxsQovg
Xi'/iiovg 8ia(poQsT Xsjizvvovoa. zcöv 8k jiaxvzsQoyr ifiJT?iazzoßsv<üv zw 8£Q^iazi xal ixüDmv
xazd zrjv s7ii8eQfii8a nvxvrjv ovaav, i^avdrj/iiaza yivovzai. xal zovzo ovfißalvEi fiäD.ov
ixeivoig, oaoig jivxvözeQOv zs xal oxkrjgozsQÖv iazi z6 8sQfia. Svoxegrjg ydg rj 81' avzov
ylvezai zwv naxvzsgwv zs xal yhaxQozsgwv ;fu^c5j' 8is^o8og.
i) Galen ed. Kühn XVIII A, S. 19: Td /xkv ovv vt{Jt}X6zega (pv/j,aza xal s^av^iq-
/iiaza &sg/:i6zsgog kgydQszai x'^l^^^ > ^^ ^^ zasieivözega xpvxgötegog , wozs 8id 8izzt/v zi]v
aiziar ov ndvv zi xvr]o/iiu)8sa yivszai zd jiXazfj. 8iajiveTzai ydg sig Jildzog sxzeza/iisva xal
zov igyaCö/Lievov avzd x^f^^"^ rjzzov e'xei Sgifwv.
722
Tcofia, d.i6 rfjg ofioiörrjTog zön' Jisgie/Ofievcov ovauov xata xovg oyxovg. eoti yaQ avröiv
fj /iih' rig oiov tieq t6 oziao, i) öe olor fifJu, aal xtg ddi'jgq JiagaJiki^oiog. —
Pseudogalen, Defin. med. 375 = Kühn XIX, 440: 'Adegcoiiid Ion yixdiv vsvQcödrjg
dd^EQ° vyQor jiEQieyov. Vgl. auch Act. XV, 7 und Paul. Aeg. VI, 36.
Unter d^iJQcojiia ist nach der unzweideutigen Beschreibung des
Galen unser heutiges Atherom, die typische Breigeschwulst oder
Grützbeutel zu verstehen (von ädegt] oder ädaga = pultum, Weizen-
mehlbrei) 1). Bekannt ist ihr häufiges Vorkommen am Scrotum ^)'
Soran beschrieb ihr Vorkommen an den weiblichen Genitalien.
2. 'AxQO](OQda)v.
Hippocrates Aphor. III, 26 = Kühn III, 725: IJoEaßvTEQOiai 8e yEvo/xivoiai . . .
ay.QoxoQÖövsg , oaxvQiaafxol, OTQayyovgiai, yoigdÖE? xai raXla (pviiaia — Celsus II, i
(ed. Daremberg, S. 30): At ubi aetas paulum processit . . . verrucarum quaedam genera
dolentia, d^Qo^ogSovag Graeci appellant, et plura alia tubercula oriuntur — Cels. V.
28, 14 (Dar. 2i6j: Sunt vero quaedam verrucis snnilia; quorum diversa nomina, ut vitia
sunt. 'Apigoyogdöva Graeci vocant, ubi sub cute coit aliquid durius, et interdum paulo
asperius, coloris ejusdem; supra latius, ad cutem tenue: idque modicum est, quia raro
fabae magnitudinem excedit. Vix unum tantum eodem tempore nascitur; sed fere
plura maximeque in pueris: eaque nonnumquam subito desinunt, nonnunquam medio-
crem inf lammationem excitant; sub qua etiam in pus convertuntur — Heliodorus bei
Oribas. IV, 21 : 'AxgoyogöövEg xal /.ivgixrjHiai yivovrai fisv iv jiavxi fiEgsi xov aöifxaxog
avvEX^oxaxa Se ev xoTg (iaxxv?.oig. ^'Eoxi de rj d^go^ogSaiv oagxfodtjg vnsgoyi] lEia,
GXEvfj ßdoEi XEy^grjfiEviy rj bi fivgiurjxca xgaysta vjiEgoyi] ivEggi^cofisvi] xcö ocöfiaxi —
Pseudogalen, Defin. med. 400 (= Kühn XIX, 444): ' Apcgoyogöcöv iaxiv Exqpvaig
TiEgicpEgfj XE xai diäoxevov eyovoa ßdoiv — Paul. Aegin. VI, 87 (ed. Briau,
S. 346): 'H 8e dxgoyogdwv sjiavdoxaoig ioxi fuxgd xfjg ejiKpavEiag, äjcovog, xvXwdrjg,
nEgicpegfjg xatd xb jiXeToxov, r^j' de ßdoiv Eyovoa oxevtjv (bg öoxeTv exxgE^iäa&ai.
Ksxlrjxai 8e ovxcog djio xov äxgoj jiagEoixivai yogdrjg. — Pollux IV, 195: dxgoyogdcov
djio ixev xijg gi^t]? XsJixt] sxtpvoig, nsgl de x6 äxgov jiayvvo/LiEvr] , fidkioxa eni :xat8ioiv.
Die äxQOxoQÖdiv genannte Warzenart ist ganz offenbar unsere
gestielte Warze jugendlicher Individuen, da sie nach Hippo-
crates, Celsus und Pollux hauptsächlich im Knabenalter vorkommt,
in der Mehrzahl und meist an den Händen auftritt, doch auch am
übrigen Körper, bisweilen entzündliche Reizung zeigt, von rundlicher
Form und Bohnengrösse ist. Jedenfalls haben die Alten also unter
dem „Akrochordon" unsere Verruca vulgaris verstanden und nicht,
wie Virchow^^) anzunehmen scheint, eine Art von aus Comedonen
sich entwickelnden Hautpol3'pen , die nach ihm am häufigsten am
Halse und an den Augenlidern vorkommen. Das Akrochordon
i) Vgl. Schol. zu Oribas. IV, 527, 3: A^^gcojua xakEio^ai (pr]acv (seil. 'ÄvxvUog)
djio xov x6 nEgiEyöfievov EoixEvai xfj jiagd xoTg Alyvnxioig XEyofievf] ddrjga- Eyjtjfxa
S'iaxl yn'öfMEVov Trag' avxovg ex jivgirov Xevxov dkEvgov.
2) Vgl. R. Virchow, Die krankhaften Geschwülste, Bd, I, S. 228, Berlin 1863.
3) R. Virchow, a. a. O. I, 223.
— 723 —
wurzelt nicht so tief in der Haut wie die breite, flache „Myrmecia"
genannte Warze (Heliodor), kann also radikaler beseitigt werden i)
und verschwindet nicht selten von selbst (per se finiuntur Celsus
V, 28, 14).
3. "Avßga^, ävd orlxcooK;.
Hippocrates, Epidem. III, Sect. 3, cap. 7 = ed. Kühn III, 487: äv^gaxeg
jioXXol xara ^igog, y.ai ciXka a oi]ip na/Jerai — Epidem. 11, Sect. I, cap, i = Kühn
III, 428: "Avdgaxsg sv Kgarwri &eQirol, ve7' iv xavfiaoiv XavQOi di' oXov, Fyevexo 8e
fiäXXov vöroi xal vjisyivovro fisv er' toj dsQßarc lyöJQsg. iyxazaXafißarofiEvoc 8s
E'&SQfJ.aivovTO xal xvrjOf.i6v evsjioieoi', slra <pX.vxraividsg, ojojisq nvQa'jxai'aroi diavlararro
xal vjio t6 dsQfia xaiea&ai iSoxEOv. — Hippocr., Epid. III, Sect. III, cap. 3 = Kühn
III, 482: ITjCüh 8e tov rjQO? äjiia zoToi yEvo/.iEvoioi ipvxsoiv EQvatsre/.ara JtoXXa, zoToi xal
/.lEza JiQocpaoiog , roToi S'ov' xaxotj&sa jioXXmvc ExxEivav. noXXol (pägvyyag EJtövrjoav,
(pojval xaxovfXEvoi, xavaoi qpQEvizixol, azof^iaza dcp&codEa , atdoioig cpvfiaza, ocpd^aXfiiai,
OLvd^gaxEg , xoiXiai zagax(ö8E£?, anöaixoi, 8iy'a)8Esg, 01 fikv, 01 8'ov. ovga zaQajiw8Ea,
JTOvX^Xa xaxä. xMfiazcödeeg, ixl novXv xal jidXir äygimt'oi. dxQaoi'ai jioitXXal, 8vaxQira,
vdQCOjiEg, (p&ivcoÖEEg jiovXXoi. za [xkv E7zi8r]/ii^aavza vovorjfiaza zavza. ixdazov
8e zcöv v7ioyEyQafifi£V<ov eiScöv rjoav ot xdfivovzeg xal k'&vtjoxov jioXXoi.
^vvEJiiTizE 8e iy' ixdazoioi zovr£0)v wSe. (Folgt Schilderung der einzelnen epi-
demischen Krankheiten, zuerst des EQvamEXag und später dann in Kap. 7 die oben gegebene
Notiz über äv&gaxsg.) — Scribonius Largus 25 (ed. Helmreich, S. 15): Ad sordida
ulcera ocuiorum crustasque habentia, quas ia^dgag vocant, item [ad] carbunculos, quos
äv'doaxag dicunt, facit bene et per se mel Atticum py.\ide Cyprii aeris conditum et
repositum mensibus duobus nee minus. — Philo (ed. Mangey II, 211); "Ev /iiEv )[aXEnfjg
vöaov xal 8vaidzov jzd'&ovg ojiaXXayrjv, rjv ävd^gaxa xaXovaiv, djzo zov xalsiv ei'zv-
(fö/LiEvov , CO? oifiai, zavzrjg zfjg TZQOOTjyogiag zvxovzog, ijzig ov xoXwzEgor zoTg zag
dxgojcoa^iag k'/ovoiv iyytvszo. — Aretaeus de morbis acutis I, 9 (ed. Ermerins,
S. 15): • • • Ev xvxXq} 8£ zfjg eaydgrjg igv'&r) fia y lyvEzai xagzEgov xal (pXEy/iiovr],
xal Tiövog (pXEßcöv, co? £^' avß gaxog. — Galen, Method. med., Lib. II, cap. i =
Kühn XI, 76: rö fisv ovv dxoißsg igvaiJiEXag avzov zov Sig^tazog juövov Ttüdog ioziv.
ov [A.7]r rj ys (pXEyfiovi] /wvojv zö)v vjioxsifiEvwv zc3 digfiazi fiogicov, dXXa (idXiaza iliev
zovxcov, EviozE Se xal zov Ssg^iazog. xal foziv avzrj zäXXa /xev oSvvtjgd zfjg izigag ov8ev
Tjzzoi', obtsozi 8' avzfjg 6 aqpvyfiög. ozav 8e x6 Eniggiov alf^a ßsgfiov ixavcög f] xal
TzayV) yaß' Sri av fiögiov d&göov ejziggvfj, zovzo xavaav i'Xxog koydgav syov
Eigydoazo. rö jzsgi^ 8' avzov jzäv Eig (pXEyfiovrjv i^aigsi, ^sovadv ze xai
8Eivcog £jia)8vvov. ovofid^Ezai 8k z6 zoiovzot' Tiädog äv&ga^. ozav 8e zo
EJtiggiov alfia fisXav fj xal nayv xal lXv(ö8£g xal ^eov, oiöv TiEg z6 jigosigrj-
fiivov, äfxa 8e xal iywgäg zivag Xsjzzovg fiefiiyfisvovg Eyiit <pXvxzalvag ejzi-
noXfjg zov 8£gfiatog dviazrjoiv, o/noiag raig ützo nvgog &v ixgijyvvfiEvojv
z6 iayagöiSEg vjr' avzaig iXxog EvgiaxEzaf xal k'oziv äv&ga^ ij8t] xal zovzo.
— Galen, de compos. medicament. sec. genera V, c. 15 = Kühn XIII, 854: '0 äv&ga^
iXxog Eozlv, Eoydgav zayv noiovv, fiEzd cpXEy jxovfjg layvgäg zov Tiigi^ /zogiov
jzavzog, woze xal nvgEzovg ijZKpigEod^ai o<po8govg xal xiv8vvovg kaydzovg.
(Vgl. noch Galen XVI, 461 und XIX, 442 und Galen bei Orib. IV, 519—520.) —
Galen, Introductio 16 = Kühn XIV, 777: dvd^gdxoioig 8e eoziv sXxog iayagcödEg
l) Geis. V, 28, 14: Acrochordon, si excisa est, nullam radiculam relinquit, ideoque
ne lenascitur quidem.
— 724 —
ILiera vo/i?]g xal QF.vfiarog xal ßovßioi'oz fvlore >cni jTi'Qercör yivo/ifvwv jieqI
TO äX).o Jiäv awfia, eozi Se oxe xal jieqI oqp&alfiovg. — Galen, Commentar. I in
Hippocrates üb. I, Epidem. c. I = Kühn XVIT A, 36: .... xadänEQ rj Kgai'cov kv
xoiXo} xal fiEoi] ^ß Qirri) yjOQio) xei/iev?], y.al diä lovro fiäXiOTn orjTtEdovcödEOi
vonrjixaoi, rote äv&Qa^n' älovoa. — Herodot. bei Oribas. IV, 617: Ol äv&qaxeg
vjtayöfiEvoi. xara ysvog zotg £§avdi]f/.aai7' Efi<pEQEtg eioi zaig vjiö xavxrjQOJv
y ivofjiEvaig löy^ägaig ovv rm jigooEyEo&ai raig ßdoeai xal Toojiot' riva jiQoorjXwa&ai'
yivovzai Sk /äeto. vof.ifjg. 'Akla 01 (liv jieqI t>) oagxl m'ozärzEg oi'fzof^ioyg jiEQiyQCicpovzai,
Ol 8e xaza ziör vevqcov r) töjv v^ihnov yivofiEvoi fiEyol noXXov cpEQOvzai xal xaza or>/nji(x-
deiav zoTg vjioxEifisj'Oig xoiXotg zojioig djiozt&Evzai, xal 01 filr tteoI xEcpaXijv ovozdvzsg
zoTg jTQog zw tQayi^Xco (ieqeoi oxXrjgiag sjnq?FQovoiv . . . oi (ik jieqI alöoTa xal
oxeXeoi xal zoTg Jisgl rovg ßovß&vag. Ovx öXiyoi 8e xal zq, Jiegixsi/UEva (xsQrj
eig Siajtvtjaiv äyovoiv . . . sjitylvovxai 8k avzoTg jiövoi. fisil^ovEg zov yEvo/iiEvoj'
/lEys&oi'g, zial 8e xal iQiovjisXaza ijzifir'jx)], zotg 8f TiAEiazoig xal jivqszoI, zd 8e
aviijiaßrjoavza ,UEot], ei fitj >i:aA(5? ^EgaTZEvÜEirj, 8ianv'toxEi. . . . rivovzai 8h xal xazd zivag
EJziSrj nov g alziag xazd zovg nXEiazovg xal djro i&cör Etg E&7] fiE'&iazavzai. (Vgl.
auch Oribas. V, 343 — 344-) — Paliadii Lausiaca histona, c. 39 ed. Paris 1644, c. 2b
ed. Cambridge 1904: zovzcov oi'zcog 8iajZQazzo/L(£rcov ysyarsv dvdga^ xaz' avzfjg zfjg
ßaXdvov , xal etzI zoaovzo7' Er6at]<iEv i^afiiji'iaiov ygörov cog xazaoa^f/vai avzov zd
/itÖQia xal dnojieoEir' (vgl. oben S. 696 — 699).
Unter o ärdga^, fj ärdgrixcooig haben die alten Aerzte ganz offen-
bar verschiedenartige mit Gangrän und Nekrose einhergehende
Affektionen der Haut verstanden. Das Wort äv&ga^, das nach dem
oben mitgeteilten Zeugnis des Scribonius Largus von den Römern
mit „carbunculus" genau dem Sinne des griechischen Wortes ent-
sprechend übersetzt und so auch von Celsus und allen späteren
Autoren gebraucht wird, bedeutet „Kohle", wohl wegen der Schwarz-
färbung der gangränös-nekrotischen Stelle, nach Philo wegen des
heftigen Brennens an der affizierten Stelle, nach Hippocrates und
und Galen wegen der Zerstörung der Flaut durch Verbrennen
{nvQnqxavoroi). Es ist ein h'lxog soxc^gcödeg, juerd vojtifjg, das entweder
direkt oder aus vorhergegangenen Blasen und Pusteln {(pXvKxaivai)
bezw. einem Erysipel entsteht, entweder nur die Haut betrifft oder
auch das Unterhaützellgewebe in Mitleidenschaft zieht, in der Mehrzahl
über den ganzen Körper verstreut oder auch an einzelnen Teilen
vorkommt, bisweilen epidemisch auftritt, von heftigen Schmerzen, von
Fiebern und Anschwellungen der benachbarten Drüsen begleitet sein
kann. Das gemeinsame Merkmal dieser verschiedenen x\ffektionen
ist das primäre oder sekundäre gangränöse Geschwür. Zweifel-
los wird sowohl unser gewöhnlicher Karbunkel, ferner die echte
Milzbrandpustel (pustula mala) ^), die erysipelatöse Gangrän, die dia-
i) So heisst es in der alten lateinischen Uebersetzung der Synopsis des Oribasius
(ed. Bussemaker et Daremberg VI, 143): Carbunculi autem quos Greci antracas vocant,
rustici pustellas malas adpellant.
— 7 25 —
betische Gangrän, der g-angränöse Schanker der Genitalien, endlich
epidemische Hautkrankheiten mit Eruption von Hautblasen mit
sekundärer Geschvvürsbildung ') zu verstehen. Nach den durchaus
klaren, von Galen (XVII A, 36) in jeder Beziehung bestätigten An-
gaben des Hippocrates kamen solche gangränösen Hautgeschwüre
besonders häufig in der heissen Jahreszeit und bei einem die sep-
tischen Prozesse {r/^cogeg, oljy, o^]JiFSov(o6ea voo)'jf(aTn Hippocrates,
Galen) begünstigenden Klima vor, wie das z. B. für die geschilderte
Epidemie in Kranon (Hipp. Epid. III, 3 cap. 7) zutraf. Uebrigens
sei ausdrücklich darauf hingewiesen, was die Verteidiger der Lehre
von der Altertumssyphilis durchweg übersehen, dass die Schilderung
der hippokratischen Epidemien (III, 3 cap. 3 ff.) eine ganze Reihe
verschiedener epidemischer Krankheiten und Krankheitsarten um-
fasst, wie ja auch klipp und klar gesagt wird {rd /(h ijnd7]fn]aavTa
}'Ovn)'j/iaTa Tavra. ixdorov dl töjv imoyeygajii/ievwv etöcov fjoav 01 xdfi-
rovTeg xai edyrjoxov noXXoi ^vvkjtiTiTe de ecp' exdoroioi rovikov cbde), dass
diese, nachdem sie in Kapitel III summarisch aufgezählt worden
sind, dann in den folgenden Kapiteln ausführlich einzeln geschildert
werden und zwar fast genau nach der Reihenfolge ihrer Aufzählung
in Kapitel 3, nämlich: Erysipel mit Gangrän (Kap. 4), Schling-
beschwerden und Stimmbandaffektionen (Kap. 5), Brennfieber {xavaoi)
und „Phrenitis" (Kap. 6), Aphthen im Munde (Kap. 7), Ophthalmien
(Kap. 7), Anthrakes und andere septische Affektionen (Kap. 7), Ver-
dauungskrankheiten (Kap. 8). Alle diese Affektionen treten in epi-
demischer Weise auf. Keinesfalls handelt es sich hier um ein ein-
heitliches Krankheitsbild, sondern um viele verschiedene {jtoXXoi)
Patienten mit den respektiven verschiedenen Leiden! Das ist für
den unbefangenen Leser unbestreitbar.
Sehr klar ist auch die Schilderung des Pneumatikers Herodot,
der die epidemischen und die nicht epidemischen ävd'gaxeg von
einander unterscheidet, die benachbarte Drüsenschwellung, z. B. die
der Inguinal- und Oberschenkeldrüsen bei Genitalanthrax
erwähnt. Schliesslich wird dann dieser letztere als isolierte Erschei-
nung von Philo und Palladius derart geschildert, dass, wie schon
oben (S. 6g6 — 69g) dargelegt wurde, an der Diagnose eines gangrä-
nösen und serpiginösen Schankers nicht zu zweifeln ist.
4. "A(p'&a, ätpd^ai.
Hippocrates Aphor. III, 24 = Kühn III, 725: xoiai f^sv o[xix(}oloi xal vsoyvoioi
naidloioiv ä<p&ai .... — Hippocrates Epidem. III s. III, c. 3 = Kühn III, 482 :
i) Häser vermutet z. B. in diesen epidemischen äv&gaxeg die Blattern (Lehrbuch
der Geschichte der Medizin, 3. Aufl., Bd. III, S. 22 — 23).
— "] 2b —
. . . OTOfiaTa dqpß'mdsa . . . (vgl. die ganze Stelle unter Nr. 3 av&ga^). — Hippocr. ib.
c. 7, Kühn III, 486 = Kühlewein I, 227 — 228: i^aav ös xal dkkol JtvQsrol jieqI a>v
ysyQdtpsrai. ozöfiata nokXoiaiv dcfdojSsa, Elxdjösa. gev^iaza tisqI xd alöoia noXXd.
Hxcofiata, (pvjxaxa, e^cod'sv, eaw&sv tu jisqI ßovßwva?. oq^&aXfiiai vygai, fiaxgoxßdvioi
/Lierd Jtövoiv etc. — Hippocr. de natura muliebri, c. 60 = Kühn II, 586: t^v dcpd'rjorj
ra aidoTa, [jLVQza Eiprjoai; iv oivto öiaxlvCsoßo) alöoia . . . (vgl. auch c. 86 = Kühn II,
591). — Hippocr. de nat. muliebri, c. 100 ^ Kühn II, 596: t/}' jiaiöiov dip'&ä xd
alöoia, d/iivyöaka XsTa XQixpag etc. (vgl. auch Hippocr. de morbis mulierum I, c. 34 =
Kühn II, 656). — Hippocrat. Praenotiones Coacae 518 = Kühn I, 324: rfjoiv sjti-
(poQoiaiv 7]ör] dfpd'coösa Qsvfiaxa sjicoövva jiovi]q6v (vgl. auch Praenot. Coac. 528 =
Kühn I, 326). — Hippocr. de morbis II, c. 50 = Kühn II, 263: rjv d(pd^rjorj rj avgiy^
xov jiXev fj.ovog , Jtvgexog i'a/ei ß?L?])(Q6g, xal oövi't] fiiaor z6 azfj-dog, xal xov acofxaxog
xvt]o/ii6g, xal t) (pcovi] ßgayxoiötjg xal xd aialov, hygor xal Aejixdv 7ixi<ei, ivioxs ös na^v
xal oiov nxiadvrjg ^vXov . . . — Celsus II, c. 1 ed. Dar., S. 30: Tum si qua imbecillitas
oritur, proximum est, ut infantes, tenerosque adhuc pueros serpentia ulcera oris,
quae acp&ag Graeci nominant . . . exerceant (Uebersetzung von Hippocr. Aphor. III,
24). — Celsus VI, c. 11 (de oris ulceribus) ed. Dar., S. 249: Verum ea longe peri-
culosissima ulcera sunt, quas d(p&ag Graeci appellant; sed in pueris: hos
enim saepe consumunt. In viris et mulieribus idem periculum non est. Haec ulcera
a gingivis incipiunt. deinde palatum, totumque os occupant: tum ad uvam
faucesque descendunt; quibus obsessis, non facile fit ut puer convalescat. Ac
miserius etiain est, si laclans adhuc infans est; quo minus imperari remedium aliquod potest.
— Erotianos ed. Klein, S. 42: d<pdojÖ£a' drpßa leysxai i^ar&tjiiidzcor fiöog jisgl xd xmv
naiöioiv oxö/^axa fidhoxa yivofzsvwv. — Arelaios, De morb. acut. I, c. 9 ed. Ermerins,
S. 15: "EXxEa iv xoTot jtagioi^/^i'oioi yi'yvsxai, xd j^ikv ^vvrjd'Ea, Evrjd^Ea xal daivsa' xa ös
^Eva, XoijuwÖEa xal xxsh'orxa. — AofficjÖEa ös 6x60a nkaxia, xolXa, gvjiaga,
EJiinayü) Xevxoj, l) jisXiövol, 1) /.liXai'i ovve}[6 /iiEva' urpßai xovvo/A,a xoTai
sXxEOi. rjv ös xal 6 ijiijiayog 'loyi] ßddog, F.oydgi] xd nd&og xal eaxi xal xaXsExai . ■ .
Tjv öe Eg xov &a>g7]xa VE/Lit]xai öid xijg dgxrjghjg, xal avxfjfxag djiEJivi^E . . . öta xoöe
Jiaiöla /iidXiaxa Jida/si dygig ijßrjg' ycogr} Öe xIxxei AXyviixog fA-äXioxa . . . xixxsi ös xai
rj Evgh] fidXioxa xoiXr], o'dsv Alyimxia xal 2vgiaxd sXxsa xdös xixXrjoxovai. — Pseudo-
Galen, Defin. med. 381 = Kühn XIX, 441: "Acpßa sazlr sXxcooig sjiiTiöXaiog iv
axdjuaxi yiyvofiivrj, ijiiTioXd^Ei Öe avxr] 1) f'Xxomig imXioxa Jiaiöloig. — Galeni Commentar.
in Hippocratis Aphorism. III, 24 =; Kühn, XVII B, S. 627: im ovv xcöv Jiaiöimv xcöv
vEoyvön' äfpdag (prjal yiyvsodui. xaXMvoi ök ovxojg t«? ijiiJioXfjg EXxcoasig xaxa xo oxofta,
öia iiaXaxöxrjxa ixdXioxa xcöv ogydvcov yiyvofisvag, fit] <psg6vxoiv fxrjxs xrjv
noiöxrjxa xov yäXaxxog s/ovxog ovx oXiyov oggtöösg iv avxcö. — Galen, de compos.
medicamentor. sec. locos lib. VI, c. 9 = Kühn XII, 988: Tdg imjioXrIg sXxo'iosig iv x(p
oxofiaxi yivojusvag ovoßd'Qovoiv a^pd-ag, iyoi'oag xi xal ■&Egiu6xt]xog jivgcaöovg. yivovxai ös
xovTiinav avxai xocg ßgicpsoiv, oxav rjxoi /uoyßrjgdv e'u] xd ydXa xfjg xix^fjg ^ /irj
xaXöyg avxd Jiävv Jisxxr] xd Jiaiöiov. sviaxoi ö' slol xovjtijiav stiI roTg fisxgimg
axvrpovoi xa&iaxdfiEvai, Jtoxs ys firjv xal ygovl^ovoi xal övoXvxoi xai x(ä
Xgdvcp arjTZBÖovcöösg Eyovoi xd xaXovjiisvov vjid xcöv laxgöjv vofirjv. — Galen,
Commentar. III in Hippocrat. Epidem. III, 12 = Kühn XVII A, 662: ac fikv ovv äcf&ai
xaxa xd axdfia yivovxai ovvsycög xoTg Jiaiöioig, sXxcooig ijiiJioXfjg ovoai, ötdxi xs fiaXa-
xcoxaxa xd fidgia ndvx'' saxlv avxcöv xal crTov ßgvcdörj xal Jigdg xovxoig sxi
xo axdfia navxÜTiaoiv ärj'&sg dfxiXiag iöeofidxojv xe xal jtofxäxcov. oxav ovv
xo ydXa xfjg xix&rjg i'/rj xivd ögi/ut'xtjxa, xdg äcp&ag igyd'QExai jiavofiivag
gaöicog, idv /xsxgiojg oxixpr] xig xd oxdf^ia xov ßgicpovg. oxav Öe xig ijiiggvfj
— 727 —
uoyd^tjoog yvuoi;, dsl xay.orj&eig äqdai ovviOTavTat. (Vgl. dazu Oribas. III, 93;
V, 148 — 149; VI, 585 — 587; Aetius Telrab. II, Senn. IV, c. 39; Paul. Aegin. I, 10;
III, 4 — 5). — Aetius Tetrab. II, Sermo IV, c. 4Ö: JIsol kTjv ev jiaoio&idoig iaxaQCoöcöv
xal Xoifxwbwv iXxcöv . . . ejtI 8e zcör aatSUor <bg J.Tt'.Tar ä<p&tjg jtQ07]yt]aafiev7]g
a:xor£?.EiTai rö Tiä&og. — Cassius Felix, c. 36 (ed. Rose, S. 78): est iteium alia
ulceratio praeter febreni acutam, quae inter acra oris spatia efficitur alba vel nigra aut carte
cinericio colore fuscata, quam tefroden vocant, et appellatur a Graecis consuete aptha, quam
nos oris coctionem dicimus. et est deterior vel mortifera in infantibus brevissimis lactantibus
ob teneritudinem aetatis illa quae fuerit alba in similitudinem granorum minutorum siliginis,
maxime si et Caput linguae obiinuerit.
Unter „Aphthen", die etymologisch nach Kraus i) entweder
mit äjiTco, anzünden, äinouai, entzündet sein, brennen, zusammenhängen
oder von d- priv. und qddw = nicht zerstören abgeleitet werden,
haben nach den mitgeteilten, für die Bedeutung des Leidens wesent-
lichen Stellen die Alten in der That zwei gänzlich verschiedene
Krankheiten der Mund- und Rachenhöhle bezw. der Genitalien ver-
standen, nämlich i. die relativ harmlosen Aphthen und wohl auch
den Soor und 2. die Diphtherie.
Schon bei den Hippokratikern wird das Vorkommen der Aphthen
bei Kindern, hauptsächlich Neugeborenen, im Munde und an den
Genitalien, unter fieberhaften Erscheinungen erwähnt. Aber auch
die so typische aphthöse Erkrankung der Genitalien bei schwangeren
Weibern '^) war ihnen schon bekannt (de natura muliebri c. 60). End*
lieh erwähnen die Hippokratiker schon das Hinabsteigen der Aphthen
in die Luftröhre (de morb. II, 50), Vielleicht handelt es sich hier
schon um eine Andeutung der Diphtherie, die von den späteren
antiken Autoren ausdrücklich mit den Aphthen in Zusammenhang
gebracht wird.
Da wir heute wissen, dass die g-ewöhnlichen Aphthen eine ganz
harmlose Erkrankung sind, so müssen wir die Schilderung des Celsus,
der von ihrer eminenten Gefährlichkeit spricht, von ihrem Fortschreiten
nach unten und dem hohen Prozentsatz der Todesfälle, auf Diphtherie
beziehen. Dies wird durch die Angaben des Aretaios, Galen,
Aetius und Cassius Felix bestätigt. Galen unterscheidet aus-
drücklich zwei Arten von Aphthen, eine harmlose oberflächliche, die
rasch heilt, und eine nach seiner Theorie durch Mi Ich Verderbnis her-
vorgerufene schwere Form von gangränösem und progressivem Cha-
i) Ludwig August Kraus, Kritisch-etymologisches medizinisches Lexikon, 3. Aufl.,
S. 115, Göttingen 1844.
2) Ernst Ziegler, Lehrbuch der speziellen pathologischen Anatomie, 8. Aufl.,
S. 476, Jena 1895. (,,Doch kommen sie bei Erwachsenen ebenfalls vor, namentlich bei
Frauen während der Menses und der Schwangerschaft, sonst im Wochenbett.")
— 728 —
rakter. Aretaios schildert die typische Diphtherie der Tonsillen mit
ihrem weissen, lividen oder gar schwarzen Belage und bezeichnet sie
ebenfalls ausdrücklich als eine schwere Form der Aphthen, die er
von der leichten unterscheidet. Aetius lässt endlich die Diphtherie
der Kinder aus den Aphthen hervorgehen [u(pßrig jiQor]yr]oajiievi]g).
Indem ich noch auf meine früheren Ausführungen (vgl. oben
S. 439 und S. 456) über die Aphthen und über ihr gleichzeitiges
Vorkommen im Munde und an den Genitalien, namentlich bei Frauen,
verweise ^), möchte ich die hiermit vollständig parallel gehende vor-
zügliche Schilderung der alten Aerzte hervorheben, die sich aus-
schliesslich auf die Aphthen und ihre vermeintliche Abart, die
Diphtherie, bezieht und jede andere Vermutung gegenstandslos er-
scheinen lässt.
5. Bov ßcüv.
Hippocrates de glandulis, c. 8 = Kühn I, 496: p^ar« zavTa öh iv xoloi ßov-
ßöjair D.HEi rrjv ano twj' vjieQXsifitvcor vyguoüjv »y u^ijv ukXwg st jtXfjßog kdßoi,
ßovßciJVovTui y.ul diajTvioxEzai xal (p key fia ir t: i Ixf-koig ftaoyäXrjol
TE xal X Quy^rjlo). — Hippocr. Aphor., Sect. IV, no. 55 = Kühn III, 735: Ol
EJil ßovßojai jivQEZol n:üvzE<; y.uy.ol, jilrjv zojv iqprjfieQCOV (vgl. Hippocr. Epideni.
II, .Sect. III, c. 5 und Cels. III, 5). — Hippocr. de natura pueri, c. 4 :=: Kühn I, 390:
Eozi ()e fjot y.ul y.uza zov ßov ß öJru wg (fjv/iu yivEzai, xdxEi jivov yEvöfiEVOv
E'^TjXdE. aal uX/.d jioXXa xaxa zfjoi yvrai^l zoiovzozQona yivovzai, öxözav /ni] ano-
xuduiQOivzai zd xaza/ir'ivia. — Hippocr. Epid. VI, Sect. 7, c. 2 ^ Kühn III, 619:
'Eßov ßcovovzo zd. jiXeXaza, Öiuzi rjjrazTzig. — Hippocr. de articulis 58 = Kühle-
wein II, 203: dvayxdCstOLi fiEvzot io}(VQÜ)g ovyxdttnzcov xazd zovg ßov ß(x>vag (vgl.
Hippocr. vectiarius, c. 23 = Kühlew. II, 257, 258). — Aristophanes Vesp. 275
bis 279:
»y jigooExoip' EV
z(ö axözcp zov ödxzvAov ttov,
eiz' iipkEyfiijVEV avzov
t6 ocpvQov yEQOvzog oriog ;
y.ul zdy' dv ßov ßojviMt].
Galen method. medend. VIII, 6 = Kühn X, 580: 01 ydg ejiI ßovßöJoi
oiVQE^avzEg ovÖe jivvB dvovzai zojv luzfjojr ö zi XQtj tioieTv dXld zov iP eXxovs
£ cp' oinEO dv 6 ßovßojv uvzoTg eI'ij yEy£V7'?]/nErog, avzov ze zov ßov ßcövog
TTOOvorjodfCEvoi, Xovovzui xazd zrjv jiaQaxfirjV zov yEvo/iEvov jiaQO^vofiOV. —
Galen method. medendi XIII, 5 ^= Kühn X, 881: oi'zwg oi'v xal di' sXxog ev
SaxzvXcp yEi'6/LiEvov i]zoi 71086g t) %Eio6g 01 xazd zov ßovßcöva xal zrjv
/xaaxdXijv ddsvEg i^aiQovzai ze xal cp Xsyfiaivovot , zov xaza^^iorzog etc' dxgor
zd xwXmv aXpiazog djioXaßövxEg siQWzoi. xal xazd zgäy^if/MV Öi- xal jrag' wza noXXdxig
E^7jQßt]oav dÖEVsg, kX.xdJv yEVOfXEvoiv rjzoi xazd zi]v xscpaXijv J) zov zQÜxrjXov ij zi zcöv
i) Nachzutragen wäre hier noch eine interessante Beobachtung eines solchen Falles
beim Manne, den mir Herr Dr. Bruno Sklarek in Charlottenburg mitgeteilt hat. Er sah
gleichzeitig Aphthen im Munde und in der Fossa navicularis der Urethra und konnte die
Diagnose durch den negativen Ausfall der Wasser mann 'sehen Reaktion besiätigen.
— 729 —
nirjoicov ftooicov ovofiauovoi Öf rov? ovrcog itao&srrag dSsvag ßovßcövag . . .
sjisidav yao syyvg dgrrjQiag uEyälrjg 7} (plsßog sXxog ysvtjiai, räxtOTu fisv 01 ßovßcjvsg
dviazavzai. — Galen, Introductio, c. 17 = Kühn XIV, ""9: jtsqI 8e ßovßdivag
ßovßcövsg aJt).ol, (pviiara i>:jzv'i'axoyTa (vgl. auch Oribas. V, 376 — 378). — Galen
de different. febr. I, 7 ^ K. VII, 296: xal fxev 8rj xai oi sjil ßovßwoi ^ivgeroi TtävTsg
xaxol, TrXrjV rmv iqpTjfisQcov, ' l7i-Toy.Qdz)]g jiov q)r]Oi, xaixoi xal 6 ßovßwv ix tov
ysvovg iozl zoJr (fley fiovoiv xal Gi'fKfij/d xazä ye zovzo zw zfjg orjyjswg Xöycp, 8iä
zovTO yuQ sjil zatg (pley fiovaig :t:v gszzovair. ov)(^ d)g 'EgaGiazQarog vJisXd/jßavsv. —
Galen, de locis affeclis I, c. 3 = Kühn VIII, 31: cjajzeg ozav iyj' ekxei yevofievov
(lEydXov ßov ßcövog iv jiXrjßoigixcS aojuazi, zö fikv slxog slg ovXifv dyd^fj, nev)j
ö' 6 ßovßcov , Tjzoi y' slg (p)^ey i.iovi]V exTtv'iaxo fi kvrjv (xezaßd}.)^(av , 1} slg
oxiQQCüdi] Öiäd eair , P/v jigoaayogsvovaiv y^oigäda. — Rnfus bei Oribas ins III, 607
bis 608 : Bovßdiv 6 fisv em zaig zvyovaaig alziatg cpm'sgwg jraga. zgdytj^Mv xal fiaoyä/.ag
xal fiTjOOvg dviaräfxsvog ävsv ze izvgEzov xal ovr :TvgEzcö . . . 01 6e /.oif^codsig
xaXov ^lEvoi ßovßwvEg ßavazwÖEozazoi xal o^vxazoi , o? /id/.iaza jiEgl Aißvjjr
xal Aiyvjzzov xal 2vgiav ogwvzai ytvofisi'Of wv f.iEfi7>)]ftor£vxaaiv oi -teqI zov
Aiovvoiov zov xvgzöv. Aiooxogi<it]g Sk xal IJoasidcoviog TiXsToza die?.rj?u'&aaiv iv zcö jxeqI
TOV xazd avzovg y£vo/>£vov /.oif.iov iv Aißvi]' jiagaxokovdEiv Öe scpaoav avzrp jrvgszov
o^vv, xal oövvijv ÖEivi/v, xal avGzaon' oXov zov aw/xazog, xal jiagacpgoavvtp', xal ßov-
ßcüvcov ETiavdozaoiv uEyäXwv ze xal oxXrjgütv xal dvEXJivrjzwv , ov fioyov iv zoTg
EißiofiEvoig zöjioig, dXXd [xal] xazd lyvvag xal dyxiövag, xaizoi ivzav&a fii] sidvv ri
yivo/n£va>r ziov zoiovzcov (pÄEyfioväJv. Tdya dk xal z6 :jagu 'IjijioxgdzEi ßovßovwÖEg jrüdog
zi]V £ig7]^i£Vtjv diä&Eoir SijXoT. rivoizo ök äv jioze xal ijtl aidoioj 6 zoiovzog
ßovßwv, d)o.T£0 xal zu i'Xxog z6 Xoificöösg, xal 6 .ivgEzog ov Xoifidjöi]
xaXovoiv z6 tiXeiozov ^lirzoi ijnö/jfua zoiavzd iazi, cjoze xoivd sivai ijXixiiöv xal
(fvoEOiv Ev ziotv ügaig i^aigsTiog djiavzcövra. 'H 8e lozogia Jiavzog zov zoiovzov
XQV^^f^^h *'*'<^ ^öv fiEv avvi'jd)] ßovßcöva ■&Egaji£va>fXEV co? ovökv 8 v 0x0X0 r
iyovza' zov 8k /.oificö8tj fiEzu cigoayogEvoEwg xal Jigoooyjjg axgcßsozigag.
Unter „Bubo" verstanden die Alten i. die Leistendrüsen
und 2. allgemein eine Lymphdrüsenanschwellung mit oder
ohne Entzündung der Drüse, mit oder ohne Fieber; 3. speziell die
Entzündung der Inguinaldrüsen. Schon den Hippokratikern war
diese Bedeutung des Wortes ßovßojv bekannt. In dem zitierten Verse
aus den „Wespen" des Aristophanes haben wir wohl die früheste
Kenntnis eines genetischen Zusammenhanges des Bubo mit vorher-
gegangenen Geschwüren bezw. Verletzungen zu erblicken, welche
Kenntnis dann bei Galen, Herodot und Rufus wissenschaftlich nieder-
gelegt worden ist. Galen zählt den Bubo zur Gattung der cpXey f,iovai, der
Entzündungen und schildert sehr richtig, wie er noch weiter bestehen
kann, wenn das ihn veranlassende Geschwür längst vernarbt ist, und,
wenn er nicht resorbiert wird, entweder in eine abscedierende Ent-
zündung oder in eine chronische Verhärtung übergeht. Galen (X, 881)
erwähnt nur die Geschwüre an den Fingern und an den Füssen als
Ursachen der Bubonen der Achselhöhlen und der Inguinalgegend.
Eine deutliche Erwähnung der häufigsten Ursache der Inguinal-
— 730 —
bubonen, der Genitalgeschwüre, vermissen wir bei ihm, so dass
Rosenbaum an die angebliche Thatsache, dass bei den alten Aerzten
dieser Zusammenhang nicht erwähnt worden sei, allerlei seltsame Schluss-
folgerungen knüpfte, wie z. B. die, „dass die Aerzte die sympathischen
Bubonen selten oder nie zu Gesicht bekamen, da die Kranken das
Geschwür selbst behandelten und die Bubonen dann von selbst ver-
schwanden".
Weder Rosen bäum noch Proksch haben die oben (S. 724 u.
725) wiedergegebenen sehr interessanten Ausführungen des Herodot
und die des Rufus von Ephesus über den Bubo benutzt, in denen
von einem solchen Zusammenhang- zwischen Genitalgeschwür
und Bubo deutlich die Rede ist. Wir geben die ganze Stelle des
Rufus hier nach der deutschen Uebersetzung von Haeser^) wieder:
„Aus den Bemerkungen des Rufus über den Bubo. Derjenige Bubo, welcher
aus zufälligen Ursachen in der Gegend des Halses, der Achseln und Schenkel bemerkbar
sich erhebt, verläuft mit oder ohne Fieber. Notwendig ist das zum Bubo sich gesellende
Fieber mit Frost verbunden. Und wenn nichts anderes im Spiele ist, so löst es sich leicht
ohne Gefahr. Ueber diesen Bubo sagt Demokriliis, dass er durch Auflegung von Blei
mit Phönikion entweder ganz seinen entzündlichen Charakter verliere, oder sich doch sehr
verbessere. Dagegen sind die sogenannten Peslbubonen im höchsten Grade lebensgefahrlich
und rasch verlaufend. Sie entstehen vorzüglich in der Gegend von Libyen, Aegypten und
Syrien. Ihrer erwähnt Dionysius der Bucklige. Hiervon erzählen Dioskorides und
Posidonius sehr viel in der Schrift über die zu ihrer Zeit in Libyen herrschende Pest.
Sie sagten aber, dass sich zu derselben hitziges Fieber, Schmerz und Aufregung des ganzen
Körpers, Geistesverwirrung und Ausbruch grosser und nicht in Eitenuig übergehender
Bubonen hinzugeselle, nicht blos an den gewöhnlichen Stellen, sondern auch in den Knie-
kehlen und in der Armbeuge, obschon an diesen Stellen sonst niemals solche Entzündungs-
geschwülste vorkämen. Jedenfalls möchte das bubonenartige Leiden des Hippokrates
auf die in Rede stehende Diathese hindeuten. Es möchte auch wohl einmal in der Scham-
gegend diese Art des Bubo auftreten, wie auch der pestartige Schwären {slxog [Karbunkel?])
und das sogenannte Pestfieber. Solche Ereignisse sind meistens epidemischer Art, so dass
sie bei allen Altersklassen und Konstitutionen in gewissen Zeiten begegnen. Die Kenntnis
dieses ganzen Gegenstandes aber ist nützlich, damit wir den gewöhnlichen Bubo als
einen durchaus ungefährlichen behandeln, den pestartigen aber mit grösserer Umsicht und
Sorgfalt."
Wir ersehen hieraus, dass man sehr genau den gewöhnlichen
Bubo und also auch den Bubo venereus von dem Pestbubo unter-
schied, und zwar sah man jenen, wie es ja der Fall ist, als relativ
harmlos an in Vergleichung mit dem Bubo der Pest. Sehr interessant
ist nun die zweifellose Erwähnung von Bubonen bei Genital-
leiden, die ja auch, wie wir schon sahen. (S. 724 u. 725), von dem Pneu-
matiker Herodot (bei Oribas, IV, 617) klar und deutlich beschrieben
l) Haeser, Lehrbuch der Geschichte der Medizin, 3. Aufl., III, 17 — 18.
— 731 —
werden. Von Haeser ist die betreffende Stelle des Rufus dem Sinne
nach nicht genau übersetzt worden, dagegen scheinen mir Busse-
maker und Daremberg das Richtige getroffen zu haben, wenn sie
die Stelle folgendermassen wiedergeben: „Parfois cette espece de
bubon pourrait bien survenir ä l'occasion d'une affection des parties
genitales, de meme que Tulcere pestilentiel et la fievre qu'on nomme
pestilentielle; le plus souvent, cependant, ces affections sont epi-
demiques." In der That wird durch den Satz rb jrXeToTov /iievroi sjii-
örj/Lua eine neue Gattung der epidemischen Bubonen der Leisten-
gegend von der vorher beschriebenen unterschieden, so dass wir
einen nichtepidemischen Bubo mit Ulceration und Fieber und
einen epidemischen hier erwähnt sehen. Bei dem ersteren handelt
es sich dann wohl um einen Bubo bei gangränösem, serpiginösem
Schanker mit begleitendem Fieber. Von Interesse ist es auch, dass
Rufus in dem ßovßcovcodeg jxddog bei Hippokrates {Tragu 'IjijroxQaxEi,
nicht des Hippokrates, wie Haeser irrtümlich übersetzt) schon die
Bubonenpest vermutet ^).
5. Foröggoia (und Verwandtes).
Hippocrat. Aphor, IV, 82 = Kühn III, 738: 'Oxoaoiaiv ev zf/ ovQrj§Qr] qrvfiaza
fpvsrai, zovTSOioi diaJivijaavTog nai engayerrog kvaig (vgl. auch Aphor. VII, 57 = K.
III, 763). — Hippocratis Coac. praenot. 463 = Kühn I, 312: Oioi de (pvfia jisqi
rt/r xvoTiv eatl ro jraQS/ov tIjv övoovQÜp', rrarioi'cjg a/ijftazio&svzsg oyXiovzai. Ävaig de
zovzoi' yivezai jtvov gay erzog. — Hippocr. de morb. muHerum I, 2 = Kühn II, 614:
ijy de fil) 01 zä xaza z6 atSoiov /(Oßj;ö»; zä ejzif.ir]via diÜMva yevofieva ig za
vyteg zov ßovßwvog ^vfißtjoerai xazä zijv lajrdQtjv gayrjvai, äieg qpvfxazog, äze zov
Jtvov diaggayevzog, xai xelrtj ](^ojgif]aei Jtvcodea od/iiakea. — Hippocrat. de inorbis II,
51 = Kühn II, 265: qdioig vcoziag. f) vcoziag (pßiaig djio zov fxvekov yivezai. Xafißdvec
äe ßdkioza 7-eoydfxovg xai cpiXoldyvovg . . . xal tjv egwzäg avzöv, <pt]oei 01 dvoider djrö
zfjg xeq)akiig xazct zr}v gdyiv xazegyeadai doxeiv oior fivg^itjxag, xai ejzrjv ovgei] rj
uJTOJiazei], JiQoegyezai 01 dogog jiovlvg xai vygog, xai yeverj ovx iyyivezai, xai ovei-
gcöaaei, xav ovyxoijur/dfj yvvaixi, xqv j.ir]. — Celsus II, 8 ed. Dar. 47: Quibus in fistula
urinae minuti abscessiis, quos (fvuaza Graeci vocant, esse coeperunt, iis, ubi pus ea
parte profluxit, sanitas reddilur. — Cels. IV, 28 (21) = Dar. 155; Est etiam circa
naturalia vitium, nimia profusio seminis, quod sine venere, sine nocturnis imaginibus sie
fertur, ut, interposilo spatio, tabe hominem consumat. Rufus ed. Daremberg-Ru e l le ,
S. 70 — 71: 81J1I0VV de ar xai ä)J.<ag eit] ro yovoggoi'xov Jid&og' xai [ydg] em Jtaga-
kvoei geoi äv z6 ojzegua, xai z^g &ogfjg diaXejizvv&eiotjg, [rj zfjg] diaiztjg zgojrov dgifiv-
zegag t] xazaipvyofievijg' z6 ydg y.>vyg6v vdazoi [ozi] fidXiaza .... S. ~8: el'&e ydg
TW yovoggo't'xcö yeveodai evzaoiv, xai ijiidv/iiiar fii^ecog dli]§iriig, xai ezi
ai'zov xogeo&fjvai fiioy6f.ievov, xai ygövco djiakkd^ai' zovzo ydg oaqpetg xai
ygr^azdg ek:zidag itagsyei zfj Idoei .... S. 82: jietpvldydai ydg xdrzav&a /iitj
i) W. Ebstein (Ueber das Alter der Bubonenpest. In: Janus 1902, Bd. VII,
S. 139 — 142) schreibt die erste Kenntnis der Bubonenpest den alexandrinischen Aerzten
des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zu.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 47
— 732 —
}iaxaoxrj'H''t] Fig yovÖQ^oiav 6 aaivgiaofiog. — Aretaeus de morbor. chronicor.
Symptom. Hb. II, c. 5 = Kühn I, 143 — 145: IIsqI yovoQQoiag. 'Avwh&gov fisv »/
yovoQQoia, äzEQjihg ds xal drjdeg /usatpi axofjg. rjv yag axQaah] xal jidgeaig tu
vygd layjj xal yövi/bia fisQsa, oxcog did ywxQtöv qsei ^ Sogrj, ovde ijiia/eTv iorl avTeijr
ov8k iv vjivoiai. ä'/i-Xa. yäg rjv ze ei'di], rjv xe iyQi]yoQ£t], dv en ioxEx og rj qpoQr/,
dvaio&rjxog 8s rj gorj xov yovvov yiyvexai' voosovai de xal yvvaTxsg xrjvöe xrjv
vovaov, akV im xvtjOfioToi tmv fiogiwv xal TJSovfj sigoysexai xf/ot 7) dogi). dxag xal Tigog
arSgag o/uMt] dvaioxvvxcp' ävdgeg ds oi'd' o/.cog odd^ovxac x6 ds gsov vygov Xsnxov,
jpvygov, äygovv, äyovov. Tiwg ydg l^woyövov ixjisfitpai OTisgfia xpvygrj ovoa rj (pvaig.
7]v 8s xal vsoi Tidoycoai, yt]ga?.sovg ygtj ysvso'&ai Jidvxag rijv s^iv, voi&coSsag, sxXvxovg,
dipvxovg, oxvsovxag, xcoqiovg, da§svEag, gixvovg, djigrjxxovg, s:xdiygovg, Xsvxovg, yvvai-
xwdsag, djioolxovg, xpvygovg, /lie?Jcov ßdgea, xal vdgxag oxeXecov, dxgaxsag, xal ig Tidvxa
jiagsTOvg. tjös 1) vovoog 686g ig TiagäXvoiv jiolXoiai yiyvszai. — Aretaeus de sign, chron.
morb. II, II = K. I, 164: äX'Kog goog /.svxog rj ijii/ii7]Viog xäßagoig Isvxi] 8gifiETa, xul
u8a^ojdi]g ig rj8ov7'jv im 8e xoToi xal vygov Xsvxov , Jiaysog , yovoEi8Eog TcgöxXrjaig.
x68e x6 Ei8og yovöggoiav yvi'atxEi'av EXE^aj.isv saxi 8e xrjg v ox s grj g yjv^ig,
ovvsxsv uxgax7]g xiöv vygcör yiyvsxai ' uzdg xal x6 aiiia ig ygoiijv Xsvxijv d/Lisißst. —
Athenaeus bei Oribas. III, 108: xal ngog xovxoig EvxaxzEixoi xal xdo8E xal tu?
Efijigoa&E7' -^jUEgag, ojicog ixavov xs xal JtE::iE/tf.ih>ov vjzdgy]] z6 ovvrjyfxsvov ojisgfia, xal
6gfi7] xal vjio/iivrjotg xafj ys Tisgl xfjg f.ii^EOjg, ögywvxog xov ocjfiaxog' 01 ydg avvs^^öjg
jiXtjaid^ovxsg oifxd xal äaiga xgvywoi za GJisgfiaza, xa&d qnjaiv 'Av8gEag. —
Soranos II, 12 = ed. Rose 341 — 342: Tlsgl yovoggoiag. Ovx iTil ^övcov dv8gibv
dXXd xal inl yvvaixwv dnozsXslzai yovöggoia. i'ozi 8£ ojisg/nazog sxxgiaig
ycoglg Jigo'dvf/.iag xal ivzdoswg ix fiixgöiv (psgovaa 8iaox7]fidxcov &azs xov oyxov
ibygah'sodac xal ddvva^sTv xal ovvzrjxsadai ' yaXäzai ydg >-/ firjxga xal dSvvaf^iia Jiag-
i.-TEzai xal avvzrjxszui xd acofzaxa xard ßgayv. ovggst ydg ngog xrjv firjxgav xax' dXi'yor
fj ujrd xov o(i>(xaxog vXt] dXXoimoiv ßgaysiav iv xoTg xoTzoig vjrofiEvovoa, xa&djisg im xöJv
d(pdaXfU(x>vxo3v x6 8dxgvov. ygoviCscv 6« sl'oj&s x6 Jtd&og xc5 ysvsi goä)8sg vndgyov. —
Galen de locis affectis VI, 6 = Kühn VIII, 438 — 439: xö ys fii/v al8oTov avxd
jisjiov^Evai yvoigiasig ix x<öv8s. xfjg /xkv sXxcöascog avxov yvwgio^ia oaqysg
7/ oSvvT] xax' avzo ysvofisvt], (Mszd xov xazd zdg ovgrjosig ixxgii'sa&ai xi
zöjv ovvsdgsvövxoiv xcu i'Xxsi, xal 8iuxgivsxai ys xavxa zöjv ix xvozswg
(psgofiEvwv x(p q}'d'dvEiv avxd xaxd xrjv Jigüixrjv £^o8ov ijii<paivsa'&ai, xd
8' ix xfjg xvoxswg dvafxsfiiy&ai xoig ovgoig' dXXd xal ddxvsxai xard röc
ovg7]osig avvsycög xd iv xoTg al8oioig sXxrj, xal ftäXXov ox' äv d7ioXv&eia7]g
i(psXxi8og, 7] gvjiov, xad^agd ysv7jxai' jioXv 8e ^älXov ai xs (pXsy/iioval xal xd
xoiavxa yoyglg oij^siov dtayiyvcooxExai. nsgl 6e yovoggoiag xs xal 7igia.-Tiafiov
disX.ßsTv im nXsov äf^isivov. rj fisv ovv yovöggoia ojisg/naxog djiöxgioig iaxiv
dxovaiog , s'^soxi 8e xal dyioaigsxov dvo/j.d^Eiv, wojisg xal aacpsaxsgov, dno-
xgiaiv ojisg/Liaxog avvsycög yiyvopisvTjv, ywglg xfjg xaxd x6 al8oiov ivxdoEcog.
6 8k jigia:iioi.idg av^rjoig slg /.ifjxög ze xal xvxXov ioxlv oXov xov atdoiov, ;^<wßtV d(pgo8taiov
jigoßv/Liiag . . . . xd 8s xfjg yovoggoiag ovopia jigoq?avwg iazi ovvd sxov s'x xs
xfjg yovfjg xal xov gslv dvofid^sxai ydg xd ojisg/Lia xal yovrj xal yövog. (Vgl.
Pseudo-Galen, Defin. med. 288 = Kühn XIX, 426.) — Galen bei Rufus ed.
Bussem.-Dar. 121: Ilsgl yovoggoiag .... yivsxai 8s x6 Jid'&og 8id do& sv siav xfjg
xa'&sxxixfjg iv xoZg ansgpiaxixoTg dyysioig 8vvdjiiEcog .... Fovöggoia [xsv ovy
xüjv ansgfiaxixwv dyysicov iaxl jzd&og, ov xov al8oiov .... AnozsXsTxai 8e ivioxs xul
sx gsvfxaxiofiov xcjv ajisgfiaxixüv dyysicov, eoxi 8s oxe xal oaxvgtdoscog Jigo7]yrjoa-
fisv7]g sjiiyivszai 7) yovöggoiu. ^v ti ßat'vEi 8e zd jtädog xoig :igoo7}ß<x)Oi
— 733 —
fiäklov , Toig JtEQi t6 TsoaaQsoxaidexatov erog' tJSt] di- xal xal? äXXaig
riXixiaig .... Ov uovo^' ds dvdgäaiv, dXkä xai yvvai^l lovzo ovfißaivei, xal
EOTiv im tü>v yvvaixcöv SvaajiaXlaxtov. (Vgl. auch Galen, de symptomatum causis
II, 2 =: K. VII, 150; Galen, de sympt. caus. III, 1 1 ^ K. VII, 267; Galen, de
usu partium XIV, 10 = K. IV, 188; Aet. XI, 33—34; Paul. Aegin. III, 55;
Theodor. Priscianus III, 10.) — Galen, de compos. medicament. sec. loc. IX, 8 =
K. XIII, 315: ITgog rag tov aldoiov diad'sasig. Trjg xov aidoiov iXxcöoscog 1]
Siäyvcooig sx tov ou<pcög oövväa&ai xar' avxo (iBza xov xal xaxä xäg ovQrjastg sxxoivsod^ai
XI xwv avveSgsvovTcov xcö e'Xxsi. diaxQi'vsxai ds xavxa xcöv ix xvoxecog cpegofisvcov xco
cpß-ävEiv avxixa xaxä xip' jtqcoxijv e^o8o%' (fatvEodai " xa 8e ix xijg xvoxEcog äva/^iE/iujüai
xoTg ovgoig. (Vgl. ferner Galen, de sanitaie tuenda VI, 14 = K. VI, 443 — 444-) —
Caelius Aurelian., acutor. morbor. III, 18: .... differt autema satyriasi gonorrhea,
quam nos seniinis lapsum vocamus, siquidem sine tensione veretri fit seminis involimtaria
atque jugis elapsio. — Cael. Aurel. chron. morbor. V, 8: Milesius debilitate fieri dixit
seminalium viarum, vel sequi in usu venereo pro seniine sanguinis emissionem. Sed hoc
commune est etiam iis, qui osculo vesicae, quam urethram vocant, ulcus habuerint. Et
est harum manifesta discretio. In iis eniin, qui ulcus habuerint, cum mictum fecerint,
sanguis fluet attestanle mordicatione et dolore et aliquando egestione corpusculorum,
quae £q)Ekxv8ag Graeci vocaverunt. — Alex. Trallian. XI, 7 = Puschmann II,
495 • yovÖQgoia yivExai jioxe fisv vjto jiXt'j&ovg ajtEgjiiaTog ßagvvovxog xtjv Svvajuir xi]v
xu&Exxixljv zt/r ovoav iv xötg ajiEQfianxoig dyysioig, (bg /nij xazE^Eiv im jiXeov hi dvvao&ai
x6 XE^'&EV ajiEQfia, Eoxiv oxE xal 8id dgifivxrjxa xal XEJixöxrjxa xov OTtsg/Liaxog. igcoxäv ovv
Xgij xal jiEgl xfjg XQ*^^^ ^^^ amg/biaiog xal xijg ovaxäoEiog avxov xal xd Jtgorjyijoa/xh'a
al'xia xrjv xe diaixav xal xov ngoXaßövxa ßiov. ei f^ikv ydg fjv Eicoß'cog dcpgodioidCEiv xai
tiXeiooi XExg>}o&ai fii^Eoi, vvv 8e fiExsßaXsv im t6 o<jü<pgov£aTEgov xal xa&dgiov, öfioXoyov-
fiEvoig vjio jiXij&ovg xovxo imofiEVEi xwv fiogt'oiv fiij dvvufiEvon' (psgEiv x6 jrXfjßog. eI 8e
(JirjÖEV Sit] toiovxov, ^oXcodioTEgov ds xal dgifivxEgov fiäXXov (f^aivoixo slvai z6 ixxgivofiEVOV
OJisg/ua, yivcooxE fiäX.Xov igE&i^Eodai tIjv yort/v xal (figeadai 8id Xsnxöxrjxa, (hg im x6 jioXv
ÖS xal Si' da^EVEiav avxoTg EJisxai zi'jg xaßEXzixfig di'vd/HECjg. — Theodor. Priscian. III, lO
ed Rose 247: Effusione aliquando etiam spermatis spontane! et importuni feminae fatigantur,
quod in graecis nostris gonorrhoean appellavinuis. — ■ Paul. Aegin. III, 59: ei Öe xazd
zov xavXov Evdov zijg zov aidoiov zg/josuig dq:>avEg i'Xxog yh'rjzai, yiviöaxszai ix zov
jivovfj aifia xEvova&ai xci>gl? oigt/ascog. OsganEVEzai 8e Jigöizov /xkv vöagsl ^sXixgdzoi
xXv^öfiEvov, Ejtsiza dk ydXaxzi, xäjiEiza fu^avzsg T<p ydX.axzi z6 zov daxijgog xoXXvgiov, jy
xov Xevxov zgoyjoxov, >} zov 8iu Xo)zagi(öv iv fioXvß8aivt] &vta jiagajiijuJiEiv, fjyovv xal
jizsgov ßdipavTEg 8iaxgiEiv, slza Xejizov ojigsTizov ygiaavzEg iv&fjrai' xdXXiozov 8e iazi
xal x6 Xafißävcov xtjxiöog xal JZOficpöXvyog , d/itvXov ze xal dX6t]g loa, Xsim&ivza go8ivco
xal Xv}m dgvoyXoiooov . — Joannes Aktuarios, Method. medend. IV, 8 ed. Paris. 155^-
Caeterum non est ignorandum, nonnumquam in interna penis parte exiguum tuberculum
oboriri, quam dum disrumpitur, sanguinem aut exiguum puris effundit; quare quidam
arbitrantur ex profundo ea prodire, citraque rationem meluere coeperunt. Verum res ex
penis dolore deprehenditur. Venae autem sectione sola, victuque frigidiusculo aegrum a
molestia vindicavimus. Quod si vitium moram traxerit et vulnus altius pervenerit,
a n e m a t a m ( ) r s u s e x p e r t i a , q u a 1 i b u s in 1 i p p i t u d i n e u t i m u r , i n f u n d i m u s. B a 1 n e o
ac omni mordenti evidenterque calefaciente tum cibo tum potione abstine-
mus, ita namque promptius aeger valetudinem recipit.
Was die Alten unter dem Ausdrucke „Gonorrhoe" verstanden,
hat Galen mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit definiert,
47*
— 734 —
indem er sagt, dass das Wort yovoQQoia sich aus yovr] = Samen
und geh' = fli essen zusammensetze und dass der vSame bald yovij,
bald yovog genannt werde. Es unterliegt also keinem Zweifel, dass
die Alten unseren Samenfluss, Spermatorrhoe, als „Gonorrhoe"
bezeichneten. Es fragt sich nur, ob die Symptome dieser antiken
Gonorrhoe ausschliesslich auf den Samenfluss passen, oder ob dieser
Name auch für andere Ausflüsse mitgebraucht wurde, die von
den Alten irrtümlich als Samenausflüsse angesehen wurden. Zur
Entscheidung dieser Frage müssen gleich hier auch alle jene Stellen
berücksichtigt werden, die auf eine Kenntnis bezw. Beobachtung
wirklicher eitriger Entzündung der Harnröhre hinzudeuten
scheinen.
Wenn wir nun im voraus das von den alten Aerzten über-
lieferte klinische Material nach dieser Richtung prüfen, dann kommen
wir zu dem Ergebnis, dass die Alten die .Spermatorrhoe, Pro-
statorrhoe und chronische Gonorrhoe nicht von einander
unterschieden und dass sie alle drei Affektionen mit dem gleichen
Namen „Gonorrhoe" bezeichnet haben, dass andererseits aber bereits
die Hippokratiker und wohl alle späteren Aerzte den akuten,
schmerzhaften, entzündlichen Tripper beobachtet haben, wenn
sie ihn auch, eben wegen seiner Acuität und seines inflammatorischen
Charakters, nicht unter der Rubrik „Gonorrhoe" verzeichnet haben.
Hecker, Rosenbaum, Proksch und andere Autoren ver-
muten mit Recht unter den mit Dysurie und Schmerzen einher-
gehenden (pvjuara der Urethra bei den Hippokratikern, den „minuti
abscessus" der Urethra bei Celsus, die schliesslich in Eiterung aus-
gehen, unseren akuten Tripper. Das ist um so sicherer, als schon
von den Hippokratikern das für die akute Urethralgonorrhoe so be-
zeichnende Symptom erwähnt wird, dass mit dem reichlicheren
Ausflusse von eitrigem Sekret auch die anfänglich so
grosse Schmerzhaftigkeit beim Urinieren geringer wird und
verschwindet. Wie bei der Ruhr, so führten auch beim Tripper
die Alten den eitrigen Ausfluss auf circumscripte, durch innere Ur-
sachen entstandene Geschwüre zurück *). Galen (VIII, 438; XIII,
315) kennt bereits die Differentialdiagnose zwischen Urethritis und
Cystitis. Nach ihm wird eine entzündliche Urethralaffektion durch
Schmerz charakterisiert und durch das Erscheinen des Urethral-
eiters mit dem ersten Harnstrahl, . während der aus der Blase
stammende Eiter erst dem weiteren Urin beigemischt sei. Ausser-
I) Vgl. J. F. C. Hecker, Geschichte der Heilkunde, Bd. H, S. 204, Berlin 1829.
— 735 —
dem bewirke eine Urethralaffektion heftiges Brennen bei der
Miktion und oft lösen sich Eiterpartikelchen (iq^ekxig) dabei los. Von
dieser akuten entzündlichen Affektion unterscheidet Galen dann
die Gonorrhoe als einen unwillkürlichen, kontinuierlichen Samenfluss
ohne Erektion. Auch Caelius Aurelianus erwähnt Schmerzen,
Blutung und Absonderung der ecpekyAdeq bei der Miktion als
Symptome eines „ulcus" der Harnröhre. Die Vermutung, dass es sich
hierbei um unseren Tripper bezw. einen eitrigen Harnröhrenausfluss
handelt, wird durch die noch genauere, sehr interessante Schilderung
des Paulus von Aegina bestätigt. Er zuerst spricht von
einem eitrigen oder blutigen Ausflusse aus der Harn-
röhre, der unabhängig \-om Urinieren erfolgt und mit
einer Affektion der Urethra zusammenhängt und mit Ein-
spritzungen aus Honig und Milch und mit medikamentösen
Bougies behandelt werden muss. Joannes Aktuarios gar spricht
von einem Fortschreiten der Entzündung nach der hinteren Harn-
röhre (altius pervenerit) und erachtet dieses als Indikation für die
Einspritzungen.
Diese Thatsachen berechtigen uns zu dem Schlüsse, dass die
akute eitrige Harnröhrenentzündung des Mannes den alten
Aerzten von den Hippokratikern bis auf die Byzantiner bekannt
war und wenigstens in späterer Zeit ziemlich rationell behandelt
wurde.
Was die chronische Gonorrhoe betrifft, so ist sie offenbar
mit den anderen chronischen Ausflüssen aus der Harnröhre, unserer
heutigen Spermatorrhoe und Prostatorrhoe sowie der chro-
nischen Urethritis simplex aus anderen Ursachen zusammen
unter einer Rubrik, eben der „Gonorrhoe", abgehandelt worden, wie
sich das sehr deutlich nachweisen lässt, wenn man nur die ver-
schiedenen Angaben unbefangen und zugleich kritisch betrachtet.
Wer da weiss, welche schwere und intensive Rückwirkungen hart-
näckige chronische Tripper und Samenausflüsse, sowie Prostatorrhoen
auf das körperliche Allgemeinbefinden und die Ps3^che ausüben
können, der wird die thatsächliche Grundlage in den teilweise über-
treibenden Schilderungen der Folgen der yovöggoia anerkennen
müssen.
Schon bei Hippokrates tritt uns ein derartiges Faktum ent-
gegen, das wir heute zwanglos deuten können und das wohl die
Quelle aller derartigen pessimistischen Schilderungen gewesen ist. Es
ist die Beschreibung der cpdioig voniag (de morbis II, 51), der soge-
nannten „Rückenmarksschwindsucht", deren Symptome Hippokrates
— 736 —
(nach der Uebersetzung von Robert Fuchs II, 443) folgender-
massen schildert:
„Die Rückenmarksschvvindsucht rührt von dem Rückenmarke her. Sie befällt vor
allem Jungverheiratete und dem Geschlechtsgenusse Ergebene. Die Kranken
haben kein Fieber, sie essen tüchtig und magern ab. Wenn man einen solchen ausforscht,
wird er sagen, es komme ihm vor, wie wenn ihm Ameisen vom Kopfe aus am
Rückgrate entlang hinabkröchen. Wenn er den Urin gelassen oder zu Stuhle
gegangen ist, tliesst wässeriger Samen in reichlicher Menge ab. Es kommt bei einem
solchen nicht zur Zeugung, und er hat wollüstige Träume, mag er nun bei seiner Frau
ruhen oder nicht. Wenn er einen Marsch unternimmt oder läuft, zumal eine steile Höhe
hinan, so bekommt er Atembeschwerden und Schwächezustände, der Kopf wird ihm
schwer und die Ohren klingen ihm. Wenn einen solchen, nach gewisser Zeit, heftige
Fieber heimsuchen, so stirbt er an Lipyrie."
Das ist das typische und klassische Krankheitsbild der chro-
nischen Prostatorrhoe als Folge der chronischen Prostatitis, die
meist auf Gonokokkeninfektion zurückzuführen ist, aber auch nicht
selten ohne solche vorkommt. Die letztere Form tritt nach August
Socin^) nach der Pubertät auf. meist bei Männern mit vorwalten-
dem Geschlechtstrieb (Onanie, sexuelle Exzesse). Die weitere
Schilderung So ein 's zeigt eine überraschende Aehnlichkeit mit der
hippokratischen :
,,Das Hauptsymptom der Krankheit ist die sogenannte Prostatorrhoe, der Abfluss
einer gewöhnlich klaren, seltener milchartig trüben, schleimigen, fadenziehenden Flüssigkeit,
in Menge von einigen Tropfen bis zu 5 und 10 Grammen in 24 Stimden. Die reichlichste
Absonderung erfolgt beim Stuhlgang. Konstant ist damit eine lästige, kitzelnde Empfin-
dung in der Harnröhre verbunden und nach dem Abgang ein Gefühl grosser Mattigkeit
und Abspannung. Viele dieser Kranken klagen auch über ein Gefühl von Schwere im
kleinen Becken, häufige, krankhafte Erektionen und lascive Träume. Sehr charakteristisch
ist auch bei allen die deprimierende Rückwirkung auf Geist und Gemüt, welche bis zur
tiefsten Melancholie sich steigern und die Kranken aller geistigen und körperlichen
Kraft berauben kann . . . Die übrigen Symptome der chronischen Prostatitis sind
wechselnd, und da es sich in der Regel um gemütlich deprimierte Kranke handelt, welche
sehr geneigt sind, ihre subjektiven Empfindungen zu übertreiben, ist auf dieselben
kein grosses Gewicht zu legen."
Wenn man diese beiden Schilderungen vergleicht, so fällt die
Uebereinstimmung in die Augen (jugendliches Alter, sexuelle Ex-
cesse, Abfluss eines Sekrets von geringerer Konsistenz als der ge-
wöhnliche Samen, hauptsächlich bei der Defäcation, wollüstige Träume,
consecutiver Schwächezustand) und man bewundert wieder einmal die
geniale Beobachtungskunst der Hippokratiker, wenn man sieht, dass
sie die Schilderung eines Meisters der modernen Klinik, dem diese
Stelle gewiss nicht bekannt gewesen ist, bereits in allen wesentlichen
l) August Socin, Die Krankheiten der Prostata. In: Handbuch der Chirurgie von
V. Pitha und Billroth, Bd. HI, 2. Abt., 8. Lief., S. 23.
— 737 —
Punkten anticipiert haben. Sogar der nicht seltene Exitus an Prostata-
abscess mit hohem Fieber war bereits in dem Schlusssatze von den
Hippokratikern angedeutet, auch an consecutive Tuberkulose der
Genitalorgane hat man dabei zu denken. Endlich beseitigt die so
charakteristische Erwähnung der Spinalirritation („als ob Ameisen
vom Kopfe aus am Rückgrate entlang liefen") jeden Zweifel, dass es
sich hier thatsächlich um eine schwere sexuelle Myelasthenie bei
Prostatorrhoe handle. Fürbringer ^), neben Socin der erfahrenste
Kenner dieses Krankheitsbildes, registriert als ein charakteristisches
Symptom bei Prostatorrhoe und Spermatorrhoe „mannigfache
Parästhesien im Bereiche des Rückens und Kreuzes.
Formicationen" und sogar „Kopf druck" und „Ohrensausen"
(„der Kopf wird ihm schwer und die Ohren kHngen", bei Hippo-
c r a t e s) !
Damit ist wohl der stringente Beweis geliefert, dass die „Tabes
dorsalis" der Hippokratiker nichts weiter war als eine chronische
Prostatorrhoe mit schw^erer consecutiver Neurasthenie. Sie ist das
Vorbild für alle späteren Schilderungen geworden, die wir nunmehr
viel besser verstehen können und in denen die „tabes" als Folge
übermässiger Pollutionen, chronischer Gonorrhoen und Spermatorrhoen
eine Hauptrolle spielt. So sagt schon Celsus (IV. 28) von der
„seminis nimia ex naturalibus profusio" (übermässigen Pollutionen),
dass sie „tabe hominem consumat".
Wenn wir nun den Krankheitsbegriff der yoröggoia, der wohl
erst in der alexandrinischen Zeit schärfer abgegrenzt wurde, ins Auge
fassen, so wird es uns gelingen, doch einige Anhaltspunkte dafür zu
eruieren, dass die alten Aerzte trotz der Einheitlichkeit des Krank-
heitsbegriffes „Gonorrhoe" doch bei den Ausflüssen selbst ge-
wisse Differenzen feststellten, wenn sie auch nicht zu der Er-
kenntnis sich durchgerungen haben, dass ein Teil des abgesonderten
„Samens" nicht Sperma war, sondern das Sekret des chronischen
Trippers. Es scheint, dass die talmudische Medizin hier wirkhch
weiter vorgeschritten war als die hellenische ihrer Zeit.
Denn nach J. Preuss") „konstatiert die Tosefta (zabim II, 4) zunächst den Funda-
mentalunterschied des zob (abnormer Ausfluss aus den Genitalien) vom Sperma: „z6b kommt
aus totem, Sperma aus lebendem Fleisch (schlaffem, erigiertem Penis); z6b gleicht dem
Wasser von Gerstenteig, ist hell und gleicht dem Weissen von bebrütetem Ei; Sperma ist
i) Fürbringer, Die Stönmgen der Geschlechtsfunktionen des Mannes, 2. Aufl.,
S. 65, 67, Wien 1901.
2) J. Preuss, Die männlichen Genitalien und ihre Krankheiten nach Bibel und
Talmud, a. a. O. S. 25 — 26.
— 738 —
gebunden und gleicht dem Weissen vom nicht bebrüteten Ei." Trotz der Unsicherheit der
Lesarten in dem letzten Teile dieses Citates steht soviel zweifellos fest, dass man den Aus-
fluss bei der Gonorrhoe — wenn anders unsere Deutung von Zibah richtig ist — niclit als
yövog, als Sperma, sondern als von diesem verschieden betrachtet hat. Diese Erkenntnis ist
dann Jahrhunderte lang selbst bei Aerzten nicht zu finden."
Bei den griechisch-römischen Aerzten wurde, wie gesagt, der
akute Tripper unter der Rubrik „Geschwür der Harnröhre" be-
schrieben, der chronische aber grösstenteils zur „Gonorrhoe" gerechnet,
weil man sein schleimig-eitriges Sekret für wirklichen Samen,
wenn auch für einen veränderten, hielt. Allerdings werden wir weiter
unten noch eine dritte Affektion zu besprechen haben, die wohl auch
zum grossen Teile als Symptom des chronischen Trippers aufgefasst
werden muss, nämlich die von Rufus und Alexander von Tralles
geschilderte ^'OQia)m]g xi'orecog.
Für die Definition der yovoggoia des Mannes kommen hauptsäch-
lich die Aeusserungen des Rufus, Galen, Aretaeus in Betracht.
Rufus (ed. Daremberg-Ruelle 70 — 71) unterscheidet zwei Arten
von „Samenfluss", eine paralytische und eine auf Konsistenz Ver-
minderung durch zu scharfe und kalte Diät beruhende, da nichts
„wässeriger" mache als die Kälte. Da er ausserdem angiebt, dass
der Gonorrhoiker keinerlei Erektionen habe, und ihm zur Herbei-
führung solcher den Coitus empfiehlt (S. 78), endlich auch von einem
Uebergange der Satyriasis in Gonorrhoe spricht (S. 82), so ist es
sehr wahrscheinlich, dass Rufus bei seiner Schilderung nur die
wahre Spermatorrhoe bezw. Prostatorrhoe im Auge gehabt hat.
Hierfür spricht auch die Thatsache, dass er sich offenbar ebenso wie
Galen und vielleicht mit noch mehr Kritik mit dem Modus der
Spermabildung und der Ejakulation beschäftigt hat. So möchte er
zwar der Prostata nicht jeden Anteil an dem Zustandekommen der
Begattung absprechen, ist aber der Ansicht, dass die eigentliche
Zeugungsfähigkeit des Samens sich in den Hoden befinde, von
wo dieser zeugungskräftige Teil des Sperma in die Urethra gelange,
während die Prostata ein Sekret liefere, das durch seinen Zustand
der vollkommenen „Kochung" eine vorzügliche „Nahrung" (rgocpr))
des Samens sei, dem es beigemischt werde. Deshalb endigten
die Ausführungsgänge der Prostata auch an der Wurzel des Gliedes ^).
i) Oi) fjtjv [ovde] acpaiQovfiai ovdi zcov TiagaoTaTcöv t6 ovvegyov slg tolq fii^sig,
aAAä fi.oT 8oxeT rj [xkv dgx^ toü oneQ/nazo? rj yevvrjtixrj iv xoTg og^eoi ylyveo'&ai, [a>?]
F.vsTvai elg rö aldoTov XQO<pr] de tig t<p OTcegfiari olxeia rcp ioxo-TCoe Jtsjieq^&ai
■doQixr) ano sxeivcov rf]XO/x.evt] ov/n/xiayeo^ai ' Ö[i6 ^yov/xaij xdxsTva reXevräv xazä ä
TigcÖTOv £xq)VExai x6 vnöazrjixa [xov xavXov] . — Walker (vgl. Nagels Handb. der Physiologie
1906, Bd. II, S. 64) spricht ganz wie Rufus von einer ,, ernährenden Substanz" im Prostatasaft.
— 739 —
Hier liegt die wahrhaft bewunderung-svvürdig"e, offen-
bar aus eigener Beobachtung gewonnene (älXd /not öoxel und
dio 7]Yovjiiai) Erkenntnis eines der genialsten Aerzte des
Altertums vor, dass das Prostatasekret das belebende Ele-
ment des Samens ist, eine Erkenntnis, die seitdem voll-
ständig verloren ging und erst in unseren Tagen auf Grund
scharfsinniger Experimente und Beobachtung und natürlich
völlig unabhängig von Rufus von dem bedeutenden Sexual-
pathologen Paul Fürbringer^) wieder entdeckt worden ist!
Diese Stelle reiht sich würdig der ebenfalls zuerst von mir ') mitgeteilten aus den
,,Aerztlichen Fragen" des Rufus an, wo er die ebenfalls erst in unserer Zeit wieder ent-
deckte Aetiologie der Guineawurm-Krankheit durch den Genuss von Trinkwasser mitteilt.
Galen, der sich auch ziemlich eingehend mit der von Hero-
philos zuerst beschriebenen Prostata und ihrem Sekrete beschäftigt
hat, erblickt seinen Zweck nur darin, dass es die Urethra schlüpfrig
mache, da es dünner sei als der Same, und dass es die Wollust in
coitu erhöhe'^). Auch hierin bekundet sich eine Ahnung des richtigen
Sachverhaltes, insofern Fürbringer^) nachgewiesen hat, dass bei der
Ejakulation ein Teil des Prostatasekrets die „Vorhut" des Ejakulats
bildet, und so sehr wohl die von Galen angenommene Funktion der
präparatorischen Schlüpfrigmachung der Urethra ausüben könnte.
Bei solchen exakten Beobachtungen der antiken Autoren ist es
um so verwunderlicher, dass das Krankheitsbild der yoroggota, abge-
sehen von Rufus, im ganzen doch von den anderen Ausflüssen der
Urethra nicht gesondert, und dass vor allem das immerhin doch so
verschiedene Trippersekret mit dem Sperma verwechselt worden ist,
woran, wie wir sehen werden, nicht zu zweifeln ist.
Dies tritt uns schon in der Schilderung der yovoggoia bei Are-
taeus entgegen, er führt dieses zwar nicht lebensgefährliche, aber
„ekelhafte" Leiden auf Erschlaffung der Säfte und der Geschlechts-
i) Paul Fürbringer, Die Störungen der Geschlechtsfunklionen des Mannes, 2. Auil.,
S. 10, Wien 1901 : ,,Die Bedeutung der Funktion der Prostata war bis vor 15 Jahren
dunkel. Wir wollen nicht behaupten, dass wir die volle Bestimmung erschlossen haben;
doch glauben wir einiges Licht darüber durch den Nachweis verbreitet zu haben, dass der
Prostatasaft in hervorragender Weise das in den starren Spermatozoen
schlummernde Leben auszulösen vermag."
2) Iwan Bloch, Ein neues Dokument zur Geschichte und Verbreitung des Guinea-
wurms (Filaria.medinensis) im Altertum. In: Allgemeine medizinische Centralzeitung 1899,
Nr. 60, S. 279.
3) Galen de usu partium XIV, c. 9 und XIV, c. 1 1 = Kühn IV, 182 u. 190:
. . . oxi 8e ov ßövoj' ejisysi'oei jzQog a(pQoöioia zovxi rö vygor, a/A' t'jdsi ze äfia xara zijv
EXJtzfoaiv aal zov jiöoov Ejzizsyyei, ix zmvS' av fxähoza fiä&oig.
4) Fürbringer, a. a. O. S. 7.
— 740 —
teile zurück, so dass sich der Same aus den gleichsam leblosen Teilen
ergiesse und sowohl im Schlaf als auch im Wachen unaufhörlich
abfliesse, zuletzt sogar ohne subjektive Empfindung des Patienten.
Das Sekret ist dünn, farblos, unfruchtbar. Im Laufe der Zeit tritt
bei den jungen Männern ein allgemeiner anämischer und paralytischer
Zustand und sogar eine Effemination ein. Eine vorher bestehende
oarvQiaoig hört nach dem Eintritt von yovoQQOia auf.
Wenn auch Aretaeus einige Symptome der übermässigen
Pollutionen und der Spermatorrhoe ganz richtig andeutet, wie die
Erschlaffung und Insufficienz der Ductus ejaculatorii, die verminderte
Konsistenz des Sperma, die consecutive Anämie und Kachexie und
die fatale Rückwirkung auf die Geschlechtskraft und die männliche
Energie, so trifft doch die Beobachtung des „unaufhörlichen" Ab-
flusses bei Tag und bei Nacht viel mehr für den echten Tripper als
für die Spermatorrhoe zu, bei der solche Zustände zu den grössten
Seltenheiten gehören und eigentlich nur bei schweren Rücken-
markstraumen ^) vorkommen. Dieses beständige Abfliessen als allge-
meines Vorkommnis erweckt doch sehr stark den Verdacht auf echten
Tripper.
Galen definiert (De loc. affect. VI, 6) die yovÖQQoia als einen
beständigen, unwillkürlichen Samenfluss ohne Erektion des Penis,
während zum Unterschied davon der Priapismus eine permanente
Vergrösserung des Membrum nach Länge und Umfang ohne sexuelle
Erregung darstellt. Die Gonorrhoe ist eine Affektion der Samen-
gefässe, nicht des Penis, und zwar nimmt er an (De usu partiurn
XIV, lo), dass bei dem Ausfluss des Samens entweder der Spasmus
der Samengefässe eine gewisse Rolle spiele oder die Gonorrhoe eine
Folge ihrer Erschlaffung sei (de symptom. causis II, 2, K. VII, 150;
ib. III, II, K. VII, 267), besonders nach voraufgegangener Satyriasis.
Zweifellos deutet er aber an einer schon früher (S. 702) erwähnten
Stelle unseren Tripper an (de sanitate tuenda VI, 14, K. VI, 443),
wo er von dem schmerzhaften Ausflusse eines reichlichen und
hitzigen Samens mit nächtlichen Pollutionen, Harndrang und all-
gemeiner Schwäche spricht 2).
i) Fürbringer, a. a. O. S. 46.
2) 27isQfj,a TioXi) xal ■&eo(ji6v svioc yn'vojnw, ijisiyei yaQ avzovg eis ujiÖxqioiv, ov
fieza trjv sxxgiaiv sxXvroi ts yiyvovxai tm ozöfiazi zi]? xoüuag, — do'&svETg yiyvovzai, xai
^fjQoi xal Xsjzzol, xal mj^qoI, xal xoikofpdaXi-uibvzeg 01 ovzoi öiaxelfxevoi • ei ös ex zov
zavza Jiäayeiv sjil zaig avvovoiaig OLTiByoivzo fil^Ewg-acpQobiaiwv 6vo<poQ0i /uev zrjv xE<paXr]v,
övacpoQoi öe xal za> ozo/nä/o), xal äocöösig' ov8h> 8e ixiya bia zrig hyxQazEiag wfpEXovvxai'
ovfißaivEi yüg avxoTg i^ovEigojzzovoi naQOJiXrjaiag yivEodai ßXdßag, äg mao^ov Eni zali
ovvovaiaig. (Schluss siehe S. 702.)
— 741 —
Es ist wohl sicher, dass es sich bei diesem scharfen und beizen-
den Ausfluss um echtes Trippersekret gehandelt hat, das Galen für
krankhaft veränderten Samen hielt. Die übrigen Symptome: Schmerzen
beim Urinieren, häufiger Harndrang, die sexuelle Erregung bei Nacht,
die verschiedenen Anzeichen der allgemeinen Abgeschlagenheit
sprechen deutlich für Urethritis blennorrhoica. Es scheint auch, dass
Galen selbst die Affektion nicht zur yorögoota rechnete, da er diesen
Namen nicht gebraucht und nur mit den die Krankheit allgemein
bezeichnenden Worten beginnt: Mo^t'^ygoraTi] öe oojfiajog Iotl xai fj
Toidde. Weshalb auch an dieser Stelle von einer Kenntnis der Con-
tagiosität des Trippers keine Rede sein kann, wurde bereits oben
(S. 702 — 703) ausgeführt. Auch die merkwürdige und bisher nicht
beachtete Mitteilung des Athenaios (bei Oribas. III, 108), dass
nach Andreas^) diejenigen, welche allzu häufig den Coitus aus-
üben, einen „rohen und unreifen" Samen bekommen-), deutet
zwar höchstwahrscheinlich auf Tripper, aber nicht auf irgend eine
Kenntnis seiner Ansteckungsfähigkeit.
Wie Andreas und Galen, schildert später auch Alexander
von Tralles^) die abnorme Beschaffenheit des „Samens" in einer so
deutlichen Weise, dass ohne weiteres die Diagnose „Tripper" gestellt
werden kann:
,,Der Samenfluss entsteht zuweilen dadurch, dass die Samenmenge auf die in den
Samengefässen herrschende, zurückhaltende Kraft einen schweren Druck ausübt, so dass die-
selben den vorhandenen Samen nicht mehr bei sich zu behalten vermögen, manchmal aber
auch infolge einer scharfen und dünnen Beschaffenheit des Samens. Man muss die Farbe
und Zusammensetzung des Samens prüfen und sich nach den vorausgegangenen
Schädlichkeiten, nach der Nahrung und dem früheren Lebenswandel des Kranken erkundigen.
Denn wenn der Kranke z. B. an den Liebesgenuss und häufigen geschlechtlichen Umgang
gewöhnt war, jetzt dagegen vernünftiger und sittlicher lebt, so beruht das Uebel offenbar
auf dem Ueberfluss an Samen, welchen das Organ nicht mehr ertragen kann. Ist dies nicht
der Fall, scheint jedoch der abfliessende Samen ziemlich gallig und scharf zu sein, so
geht daraus hervor, dass es die dünne Beschaffenheit des Samens ist, welche den Zeugimgs-
trieb reizt und den Samenverlust herbeiführt. Doch meistenteils wirkt auch hier die
Schwäche der hemmenden Kraft mit*)."
1) Es ist wohl nicht Andreas von Karystos, sondern nach Daremberg (Histoire
des sciences medicales 1, 167) wahrscheinlich ein Zeitgenosse des N Ileus und Nympho-
doros (um 260 v. Chr.).
2) Ol yoLQ ov%'S'j(^(äg jiXt]oiä^ovzsg wfxa xai äcoga zgvycöoi za ajisQfiaza, xa&d tprjoiv
'AvdQea?.
3) Alexander von Tralles, Original - Text und Uebersetzung von Theodor
Puschmann, Bd. II, S. 494 — 495.
4) FovÖQQOia ylvBtai nozs fxkv VJio Jih]&ovg ojceg/iiarog ßaQVVOVZog, zrjv dvvafin' ztjv
ita^exTixijV xrjv ovoav iv zoTg OJieofiaxixoig dyysioig, mg firj xazexsiv im Ji?Jov e'zi dvvaadai
x6 zs'/^ßh' OTteQfia, eoziv ö'zs xai 6iä dQifivzTjza xai ksjtzözrjza zov ojiSQfxazog. igwzäv oitv
— 742 —
Es geht aus dieser Schilderung hervor, dass Alexander sehr
grossen Wert auf die Prüfung der Farbe und Zusammensetzung des
„Samens" legte und nach deren Verschiedenheit auch verschiedene
Arten von Gonorrhoe annahm, die wohl auf verschiedenen „voraus-
gegangenen Schädlichkeiten" beruhten, die in der Nahrung und dem
„vorausgegangenen Lebenswandel" zu suchen seien. Unter letzterem
aber versteht er hauptsächlich den häufigen Geschlechtsverkehr
mit nachfolgender längerer Abstinenz, wodurch sich nach seiner
Theorie ein Ueberfluss an Samen bilde. Eine andere Art der
Gonorrhoe („ist dies nicht der Fall") rührt von der dünnen Beschaffen-
heit des Samens her, die den Zeugungstrieb reizt und einen Samen-
ausfluss herbeiführt, den er „gallig" und „scharf" nennt. Offenbar ist
hier das grünlich-gelbe Trippersekret gemeint.
Von grosser Bedeutung ist endlich die von Galen (K. XIII,
315) mitgeteilte Differentialdiagnose zwischen Cystitis und
eitriger Urethritis faidoiov elxcooig). Die Urethralaffektion
manifestiert sich durch Schmerz und durch Beimischung von
Eiter zum Urin. Dieser aus der Harnröhre stammende Eiter er-
scheint mit dem ersten Urinstrahl, der aus der Blase stammende ist
dem zweiten Urin beigemischt. Auch hier ist die Diagnose des
Trippers offenbar.
Die yovoQQoia der Frauen kann ja nur auf die verschieden-
artigen Genitalausflüsse bezogen werden, unter denen wohl auch der
Tripperausfluss zu verstehen ist, wenn dieser auch, wie wir sehen
werden, hauptsächlich unter der Rubrik „Qovg yvvaixeiog" abgehandelt
wurde. Dass allerdings die yovoQQoia der Frauen für viel seltener
gehalten wurde als die der Männer, ergiebt sich aus dem Anfangs-
satze des betreffenden Kapitels bei Soranos (II, 2): „Die Gonorrhoe
kommt nicht nur bei Männern, sondern auch bei Frauen vor."
Nach So ran ist „die Gonorrhoe der Frauen eine Samenentleerung, welche ohne
Geschlechtslust und Blutwallung erfolgt und welche in kleinen Zwischenräumen auftritt,
wobei der Körper Farbe und Kraft verliert und abzehrt. Denn auch die Gebärmutter wird
schlaff, die Kräfte nehmen ab und der Körper magert ab. Es fliesst nämlich allmählich
der Stoff aus dem Körper zur Gebärmutter und erleidet in den Geschlechtsteilen eine kleine
yot] xai Tieni zijg XQoag tov ojisQ/biarog xai rifc owraaeo)? avzov aal xa 7iQ0t]yi]aai.iEva
aiTia trjv re diaizai' xal tov jiooXaßövxa ßiov. f.i jmv yag 1)%' eicoüd>g dcfQoSiaid^sn' xai
nXsloai xeyQfjadai fii^eai, vvv 8s nExsßaXsv Im x6 amcpQovEaxEQOv xal xa'&ägiov, ofxoXoyov-
f.iErü)g vjio nkrjdovg xovxo VTrofisvEt xwv /hoquov fii] 8t)vafiEva)v (pEQEiv x6 nXfj'doi;. ei Öe
fitjOEP Eirj xoiovxov, yoX^oyÖEOXEOOV 8e xal ^gifwxEooi' jLiäXdov (paivoixo Eivai xö exxqivÖ^ievov
ojisofia, yivtooxE fiä/j.ov iosdii^Eadai xtjv yoi'ijv xal rfEOEadui bia X.EJxxoxrjxa, 01g ijii xo
noX.v 8e xal 81' dodsvEiav avxolg EjiExai xijg xadExxixfjg 8vväfj.EU)g.
— 743 —
Veränderung, wie bei Augenkranken die Thräne. Auch ist die Krankheit ihrer Art nach
ein Ausfluss (QocödsgJ und pflegt langwierig zu sein ^)."
Empfohlen wird eine typisch antisexuelle Therapie (adstringierende Bäder, Applikation
von Bleiplatten in der Hüftgegend, kühles Lager, Vermeidung sexueller Aufregung usw.) und
später allgemein roborierende Behandlung.
Ganz abweichende und, wie es scheint, selbstständige Ansichten
über die Natur der yovoQQsia yvvaixEia äussert Aretaeus. Im Gegen-
satze zu Soranos hebt er als Kennzeichen dieses Leidens Jucken
der Geschlechtsteile und iVbfluss des „Samens" mit einem g-e-
wissen Wollustgefühle und gleichzeitiger schamloser Be-
gierde nach Beischlaf hervor. Er erklärt jedoch, dass er den
besonderen Namen yovöggeia yvraiy.eia für eine bestimmte Form
des weissen Flusses gewählt habe, diejenige nämlich, bei der die
monatliche Reinigung weiss und scharf sei und ein wollüstiges
Jucken errege, und bei der zugleich eine weisse, dicke, samen-
ähnliche Flüssigkeit abgehe. Diese weibliche Gonorrhoe werde
durch eine Erkältung- des Uterus hervorgerufen, durch die er seinen
Einfluss auf die Säfte verliere. Das Blut bekomme dann eine weisse
Farbe, weil das zum Röten nötige Feuer fehle.
Bei Soran wird man vielleicht an eine Leukorrhoe chloro-
tischer junger Mädchen, bei Aretaeus an einen Fluor albus als
Folge von Masturbation bei hochgradiger sexueller Erregung zu
denken haben.
Endlich gedenkt auch Theodorus Priscianus (IIl, lo) der
„spermatis effusio" der Weiber, deren selteneres (aliquando) Vor-
kommen, spontanen und unangenehmen Charakter er hervorhebt.
Der eigentliche Frauentripper wird wohl unter der Rubrik
Qovg yvvaiHslog zu suchen sein, der schon bei den Hippokratikern in
seinen verschiedenen Arten geschildert wird. So heisst es über den
goüg levxög (De nature muliebri 15):
„Wenn sich aber ein weisser Fiuss einstellt, so sieht dieser wie Eselsurin aus, es
stellt sich Schmerz im untersten Teile des Leibes, in den Lenden und in den Weichen ein,
die Beine und Arme schwellen auf, die Vertiefungen unter den Augen schwellen an, die
Augen werden feucht, die Haut verfärbt sich so wie bei der Gelbsucht und wird weiss, und
wenn die Betreffende geht, bekommt sie Atembeschwerden. Die Krankheit kommt aber
dann zu Stande, wenn die Betreffende, welche eine schleimige Konstitution hat, in Fieber
verfällt und die in Bewegung geratene Galle nicht entleert wird; wenn dann nun der Leib
sauer ist, so entstehen Durchfälle, wendet sich dagegen (der Schleim) nach der Gebärmutter,
so entsteht der Fluss." (Uebersetzung von Robert Fuchs)').
i) Die Gynäkologie des Soranus von Ephesus übersetzt von H. Lüneburg, kommen-
tiert von J. Ch. Hub er, S. 127, München 1894.
2) Kühn n, 543 : oxöxav de XtvHÖi 6 govg iyysvijiai, oiov örov ovqov (paiveiai,
y.al döi'i'tj e/ei zip' vsiaiQav yaoisga xai rag i^vag y.al zodi xevewvag^ y.ul oidy/iiaza ztov
— 744 —
An anderer Stelle (de niorbis mulierum II, 8) wird ein weisser
Fluss geschildert, dessen Symptome zum Teil stark an Tripper er-
innern, wie besonders das Brennen beim Urinieren:
„Die Behandlung eines (anderen) weissen Flusses. Es werden weisse, leicht gelb
gefärbte Massen entleert. Wenn die Betreffende Urin lässt, macht sich ein
beissender und wie ein Lanzenstich empfundener Schmerz bemerkbar, die
Gebärmutter verschwärt, es sucht die Kranke akutes Fieber, grosse Hitze, Durst und Schlaf-
losigkeit heim, und die Betreffenden verfallen in Delirien. .Sowie die Frau etwas eilig ver-
richtet, bekommt sie Atembeschwerden und sind ihre Glieder wie zerschlagen." (Ueber-
setzung von Robert Fuchs)').
Es ist hier ziemlich genau der Zustand einer akuten blenor-
rhoischen Metritis gezeichnet, die den weiss-gelblichen Ausfluss als
Tripper charakterisiert.
An einer dritten bemerkenswerten Stelle (de morbis mulierum
II, i) wird gesagt, dass der weisse Fluss sich mehr bei älteren Frauen
als bei jüngeren einstelle, rotgelber (tivqqoq) bei beiden und roter
Fluss (EQvdqog) bei jüngeren -). Auch hier scheint der Versuch einer
Differentialdiagnose der verschiedenen Genitalausflüsse gemacht worden
zu sein.
Soranos (II, ii) hat den Stand der Forschung über den Qovq
yvvaixeloQ zusammengefasst, woraus wir erkennen, wie schwankend
und unklar dieser Begriff während des ganzen Altertums gewesen
ist. Nach der älteren Definition, wie sie Alexander Philalethes^)
in dem ersten Buche seiner Gynäkologie überliefert, war der weib-
liche Fluss ,,der Erguss einer grösseren Menge Blut durch die
Gebärmutter während einer längeren Zeit", nach der Definition des
Demetrios^), des Anhängers des Herophilos, dagegen „der Erguss
von Flüssigkeiten durch die Gebärmutter während einer längeren
Zeit, denn es flössen nicht nur Blut, sondern zu verschiedenen Zeiten
ze OKtXkwv xal rojv. xtiQMV, xal ru xoiXa al'(jETui xal oi u(i ßalfiol vyQoi., xai ■)) X9^"l
IxTSQOjdtjg y.al Xevxi/ yirszai, y.ai Sy.üzav jiOQsvtjrai, uod/iui'rei- y Öi; vovoog yin-rai, >]v
(pvoEi iouaa <^j?.F.yfiaza)Stjg Tivgezaivr], xal x^^'-V >iivr]§ETöa fii/ xadagdf/. tjv /ii-r ovv ij
xoilit] o^er], didygoiai yh'oviai ' rjv ds sjtI zag vazsgag ZQdjiijzai, QÖog ylvezcu. — Die
gleiche Schilderung de morbis mulierum 11, 7 = Kühn II, 773.
i) Kühn II, 774: Qoov Xsvxou de^UTtsirj' xaßaifjszai hvxov vjiöyXoiQOv, xal öiav
ovfjh], ödxvEi xal d/ivaoEi, xal kXxol zl/v i'ozEgtp' xal jivQEzog E^ei d^vg, xal {)E(j/Lti] noXXij,
öixjia, dyQVJii'irj, xal l'xfiiQovEg yivovzai, xul ozar oJTovÖdo)/, uod/iid fiEv e'xei, xal zu yvTa
Xvovzai.
2) Kühn 11, 761: 'Pdog XEvxdg ev zf/oi yEQaizEQtjGi zöjv yvvaixöJv /iiäXXiOV yivEzai rj
SV zf/ai VEOJZSQrjOi • ^dog jiVQQog ev d/.iffOZEQ}]ot ' ^dog igvßgog ev zfjai VEtozsgijoc.
3) Nach Hermann Diels im „Hermes" 1893, Bd. XXVIIl, S. 412, soll er um
Christi Geburt herum gelebt haben.
4) Ueber ihn Wellmann im „Hermes" 1888, Bd. XXIII, S. 566.
— 745 —
auch ganz verschiedene Stoffe aus". Soranos selbst definiert
den weiblichen Fluss als „einen chronischen Ausfluss (§€ujiiano/nög)
aus dem Uterus, wobei die Aussonderung einer grösseren Quantität
Flüssigkeit wahrgenommen wird" ^).
Er stellt dann als Merkmale des Flusses auf: andauernde Nässe
an den Geschlechtsteilen, wobei die Feuchtigkeit verschiedene
Farben aufweist, Blässe, Abmagerung- und Appetitlosigkeit der
Kranken, häufig auftretende Atembeschwerden beim Gehen, x\n-
sch wellung der Füsse. Auch ist das Leiden verschieden, je nach-
dem es ohne Schmerzen oder mit Schmerzen, ohne Ge-
schwür (Ulceration) oder mit Geschwür auftritt, welch' letz-
teres mit einer Entzündung verbunden, jauchig oder rein
sein kann 2).
In den pseudogalenischen Definitionen (K. XIX, 429) wird ein
weisser, schwarzer, roter und gelber §odg yvvaixetoQ unterschieden.
Galen selbst (De symptomatum causis III, c. 11 =^ Kühn VII, 256)
betrachtet ihn als Symptom einer „Reinigung" des ganzen Körpers
von den verdorbenen Säften, während Demetrios (bei Soran S. 339)
nur einen Teil des Fhisses aus dem ganzen Körper kommen, einen
anderen auf krankhafte Veränderungen des Uterus selbst
zurückführte.
Es ist sicher, dass unter diesen verschiedenen Ausflüssen ausser
Leukorrhoe, Metritis, Uteruscarcinom u. s. w. auch der Tripper sich
befunden hat, wenn wir ihn in den Schilderungen auch nicht so
deutlich nachweisen können, wie das bezüglich derjenigen des männ-
lichen Harnröhrentrippers der Fall ist.
Der letztere kann auch mit Sicherheit aus den Schilderungen
gewisser Begleit- und Folgeerscheinungen erschlossen werden.
i) Uebersetzung von Lüneburg, S. 124 — 125. Griechischer Text (ed. Rose
S. 338): 'O xaXoviiEvog yvxaixtXog Qovg xazu fih' rovg agyaiovg, wg 'AXs^arSoog 6 ^i?m-
h'i^}]g £v zc5 jigojTU} ksyei xcöv yin'aixeiwv , TtXsiovög soTtr al'uaxog (pogä 8iä /.irjxQag fiExä
TiaQSXxäasoig yoöt'ov, xaxa de ArjiirjXQiov xov 'HQOcpü.Eiov (poga vygdjv 8ia /mjxgag fiexä
7iaQexxuG£u>g ygorov, xco filj aifiaxioS?] fiorov dklä xai ä/J.oxs u/JmTov y.axa yQovov yiyvsad'ai
Qovv. xa{y fjiiäg 8s ^EVfiaxio/^tog ioxlv voxEgag ygovi^cov aiodt]T(bg ujioxoirofiEvov jiXeI-
ovog vygov.
2) Soran ed. Rose, S. 339: rjftEtg 8k xaia xoivov GtjfiEiwoo/iiE&a xov qovv ex tov
ovvEycög xadvygai'vEoßai xovg xönovg 8ia(p6Q0tg xaxä XQ^'^'^ vyQocg, xi/v «5t" xdfirovaav
dygoEiv xai uxQorpEiv xal dvoQEXxEiv xdv xoTg TtEQiJtdxoig :To)J.dxig 8vonvoEiv xal xaxfp8t]-
xöxag Eysiv xovg Tiodag. — xaxd 8e xö jiQOOsykg Sioiast x6 jid&og avxov xco xov fikv yoiglg
Ttövov vjidgxsiv, xov 8e fXExd Jiovov, xal [xov f^kv] yotgig kXxdjoEmg , xov 8e fiE&' sAxihoEOtg
rjxoi qpXEyfiaivovatjg rj Qvnagäg rj xa&agäg. (Vgl. auch die ähnliche .Schilderung bei Ori-
basius IV, 636: Ufidg govv ywuixEior.)
— 746 —
wie der schon früher erwähnten dvoovgia (vgl. oben S. 703), der
ioyovQia, der Harnverhaltung, die Galen i) u. a. auch auf ein (pvfia
(Abscess oder Geschwür) der Harnröhre zurückführt und oxQayyovQia,
des Harnzwanges, des schmerzhaften Abtröpfelns des Urins, nach
Hippokrates^j bei seniler Prostatahypertrophie, nach Galen^) bei
Entzündung des Uterus, des Rectums und der Nieren, Alle drei
Zustände bringt Heliodoros mit der Harnröhre nstriktur, der
ovoouQKwdeiorj ovQfj'&Qa in Verbindung. Nach ihm verengert sich
die Harnröhre infolge einer Ulceration und zwar nicht in ihrer ganzen
Länge, sondern nur an einem bestimmten Punkte. Entweder wird
der Kanal partiell oder komplet durch eine Wucherung verschlossen.
Bei partiellem Verschluss tritt Dysurie oder Strangurie ein, bei
totalem Ischurie^). Die Behandlung geschieht durch Incision und
Einführung von Bougies.
Ferner werden die Tripperfäden sehr deutlich unter der Be-
zeichnung xpcüQiworjq oder iijcugiaoig xvoxewQ von Hippokrates ^),
Rufus*^) und Alexander von Tralles') beschrieben:
„Man erkennt die Blasenkrätze daran, dass sich kleienartige Substanzen in der
Urinfiüssigkeit zeigen, welche man aber von denen, die aus den Blutadern kommen, wohl
unterscheidet. Denn manchmal bekommen die Adern im ganzen Körper, wie dies häufig
i) Galeni Comment. IV in Aphorismos Hippocratis 82 = Kühn XVII B, 788:
h'dsysxai yag ioxovQiav 8^ xiva ysreodai xai 8iu x6 zoioviov qv^ia xal fiivzoi xai &g zo
(pv/xa Qaykv iäoezai ztjv la/ovgiav sv8t]kov.
2) Hippocrates Aphor. III, 31 = Kühn III, 726: zoToi Öh JiQEoßvzrjOi azgayyovQiai,
övaovQiai (bei alten Leuten, d. h. bei Prostatahypertrophie); Celsus II, I (Dar. 29):
urinae difficultas, quam ozgayyovgiav appellant.
3) Galeni Comment. V in Hippocr. Aphor. 58 = K. XVII B, 855: im ugycö
fplsyfiaivovzi xal im vozegi] q)?,eyfiairova)] ozgayyovgh] i:nyiyvEzai.
4) Heliodor bei Oribas. IV, 472: Tis gl avooagxco-dEiotjg ovgrj'dgag.
Sagxovdai 1) ovgrjdga eXxojoso)? jigorjyrjaafiEr^-jg ' aagxovzai Se ovy oXrj, aXXa xaxä xi
fiigo?, i] djzo fxigovg exsvoyuigovf^iEvov zov jiögov, tj ökov zfj oagxi nXrjgov/Aivov. "Oxav
ovv ano /xigong yivrjzai avoodgxcoaig, dvoovgEi, i) azgayyovgEi o jidoxcov S/.ov 8k zov
jiugov jiÄrjgco&ivzog xazä z6 xfjg svgvyMgiag 8iäaxrjfia, laxovgia yivEzai.
5) Hippocrat. Aphor. IV, yy = K. III, y^S: 'Oxöaoioiv iv zäi ovgoj jiayeT
iövzi mzvgd}8EU owE^ougsExai, rovzEoioir 1) xvaxig yjcogiä (vgl. auch Galen XVII B, 772).
6) Ruf US ed. Daremberg-Ruelle, S. 422; mit ihr stimmt die Beschreibung bei
Alexander von Tralles II, 491 wörtlich überein.
7) Alexander von Tralles ed. Puschmann II, 491: AiayivcooxE zip' ^'wgiaocr
xfjg xvaxEcog ix xov mxvga)8f] xivä fiögia xazd zo yvfia zoiv ovgwv (paivso'&ai. 8iaxgivETg
8e avzä ujio ZMV (pEgofiEvoiv auio zibv (f/.eßwv xai yäg xal ai <p?Jߣg iazlr öze xa^'
oXov x6 oöjfia jioXläxig wajieg ziva yiojgiaaiv vTiofxsvovoir iv zoTg dfiEzgoig xavaoig xal
(pegexai i$ avxöjv jiizvgwöij. ei fikv ovv zo ovgov Xetizov sirj xazd zyv ovozaaiv xai
fiä?dov 8gifiv, yivwaxE mzvgcööij ix xöJv (pksßwv sivai. (Vgl. auch Galen Comment. IV
in Hippocr. Aphor. 77 = Kühn XVII B, 772 — 773.)
— 747 —
bei heftigen Brennfiebern der Fall ist, gleichsam die Krätze, und dann gehen kleienartige
Teilchen ab. Wenn also der Urin eine dünne Beschaffenheit und mehr Schärfe besitzt, so
rühren die kleienartigen Bestandteile aus den Adern her; hat dagegen der Urin eine dicke
Beschaffenheit, so sitzt die Krätze in der Blase." (Uebersetzung von Theodor Pusch-
ni a n n.)
Die Epidymitis gonorrhoica, die als öiÖvijlcjov (pXey ^lovri
bei Dioskurides (I, 155) nur angedeutet ist, wird in unverkennbarer
Weise von Celsus (VII, 18) als „testiculi inflammatio" geschildert,
mit ihrer Begleiterscheinung, der Entzündung des Samen-
stran g e s ^).
Die schon von Proksch-) mit Recht ziemlich skeptisch be-
trachtete Stelle der hippokratischen Schrift de morbis mulierum I, 2
(== Kühn II, 614), wo von dem Abgehen eitrig gewordener Regel-
massen durch die Scheide bezw. von ihrem Durchbruch in der Weiche
oberhalb der Leiste die Rede ist, kann sich ebenso gut auf eine
akute infektiöse Parametritis nichtgonorrhoischen Ursprungs beziehen,
wie auf eine solche gonorrhoischer Provenienz. Denn eitriger Aus-
fluss und Abscessbildung kommen natürlich auch bei anderen In-
fektionen vor.
Wenn, wie wir sahen, die yovooQOia, um zum Ausgangspunkte
unserer Betrachtung zurückzukehren, ausser der Spermatorrhoe und
Pollutionen auch wohl den echten Tripper mitumfasst hat, so muss
noch darauf hingewiesen werden, dass auch andere Sexualausflüsse
von den Alten erwähnt, z. B. angedeutet werden. So schildert
Carmen Priapeum 48 zweifellos die Urethrorrhoea ex libidine:
Quod partem madidam mei videtis
per quam significor Priapus esse,
non ros est, mihi crede, nee pruina,
sed quod sponte sua solet remitti,
cum mens est pathicae memor puellae.
Die sexuelle Erregung der Erau bei ähnlicher Gelegenheit und
ihre typische Wirkung auf die Blase schildert Juvenal (VI, Ö3 — -65):
Chironomon Ledam molli saltante Bathyllo,
Tuccia vesicae non imperat; Appula gannit,
Sicut in amplexu, subidum et miserabile . . .
i) Celsus VII, 18 ed. Daremberg, S. 297: Interdum etiam ex inflammatione turnet
ipse testiculus, ac febres quoque affert; et, nisi celeriter ea inflammatio conquievit, dolor ad
inguina atque ilia pervenit, partesque eae iutumescunt; nervus ex quo testiculus dependet
plenior fit, simulque indurescit.
2) Proksch, Geschichte der venerischen Krankheiten I, 128.
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 4o
— 748 -
Rufus') erwähnt nächtliche Pollutionen eines 22jährigen
milesischen Jünghngs, der beim Coitus Aspermatismus hatte, dagegen
im Schlafe den Samen verlor. Bekannt ist auch die drastische Schil-
derung einer nächtlichen Pollution bei Horaz-).
Der Terminus technicus für die nächtliche Pollution mit ero-
tischen Träumen ist dveigoyovog oder öveiQcoyjuog (Aristoteles,
Histor. animal. X, 6; Rufus ed. Ruelle, S. 76; Cael. Aurelian.
Morb, chron. I, 4 u. V, 7; Oribas. V, 768) oder öveigco^ig (Rufus,
S. 123), nächtliche Pollutionen haben heisst t^oveigcoTTSiv (Galen VI,
446) oder oreigcoTTEi}' (Schol. Aristoph. Nubes 16; Hippocr. de
morb. II, 51; Oribas. V, 76g). Galen erklärt, dass Frauen ebenso
wie Männer an nächtlichen Pollutionen leiden (Galen IV, 601) und
Caelius Aurelianus widmet diesem Leiden (lateinisch „Somnus
venereus") ein eigenes Kapitel (Morb. chron. V, 7) und betrachtet
es als einen Vorläufer der Epilepsie, Manie und Gonorrhoe, welch'
letztere sich dadurch unterscheidet, dass der Samen auch am Tage
abfliesst. Er führt auch noch an, dass man den blossen erotischen
Traum ohne Samenabfluss als dvfiQOJioltjoig von der mit solchem
verknüpften nächtlichen Pollution unterschieden habe.
6. "EgvoineXag.
Hippocrates, Epidem. III s. III, c. 4 ^ Kühlewein I, 225 — 226: IJoXXdioi [.liv
tÖ igvoiTieXag fisza Jiqoqmoiog sjrl roToi zvyovat xal Jidvv im ofiiXQoTai rgco^iarioi';
E(p' o).fo TM OMfiazi, /mkioia 8s zolai mgl e^i^xorra STsa [xal] jisqI xscpaktjv, si xal
afuxQor ufiElrj-dfit]. jioXXotai 8s xal h> dsgaTZEiTj iovai /isydX.ai q^Xsyfioval Eyivovro, xal jo
EQvomsXag jioX^v xay^v jiavio&EV EJisvEfiSTO. roToi fj.EV ovv jiXeigtoioiv aviMv djiooTaotEg ig
ifijcvrjfiara avvEJUTiJOV oaQxwv xai vEVQon' xal uotecoi' ixTixwoiEg fiEyuXai. i]v 8k xal tu
QEVfia xo avvioxdfiEvov ov tivm i'xsXor, dXXci oi]yiE8ä)v rig uXXt] xai gEVf^ia tioXv xal Jioi-
xiXov .... fjv 8e TidvTcov x^XEJicöxaxa xmv xoiovtcov, oxe tieqi yßtjv xal al8oTa
yEvoiaxo. t« j^iev jieqI i'XxEa xal fiera TtQotpdaiog xoiavTa.
Nach der ganzen Schilderung unterliegt es keinem Zweifel, dass
das EQvoijielaq der Hippokratiker unser heutiges Erysipel, der echte
Rotlauf ist. Hierfür spricht vor allem die Erwähnung des so
charakteristischen Ausganges der Krankheit von sehr kleinen Ver-
letzungen der Haut, ihr häufigstes Vorkommen am Kopfe und
1) Rufus bei Oribasius I, S. 550 — 551: 'O 8s veavioxog 6 Mdrjoiog i]v /.isv df-ifpl
Ezrj 8vo xal sl'xooiv sXeyE 8e, eI fisr fuayoiTO, fir/ 8vvaa&ai d<pi£vai, xad^sv8ovTi 8h oi
jioXv vTiEQyeodai xov ajiEQ/Liaxog.
2) Horatius, Sat. I, 5, 82—85:
hie ego mendacem stultissimüs usque pueliam
ad mediam nocteni exspecto, somnus tarnen aufert
intentum veneri: tum immundo somnia visu
nocturnam vesteni niaculant ventremque supinum.
— 749 —
im Frühling^), die dabei vorkommenden gangränösen und
phlegmonösen Prozesse, die relativ geringe Mortalität. Der in
dem Kapitel zweimal betonte traumatische Ursprung des Erysipels
schliesst natürlich seinen sekundären Charakter, als Hinzutreten zu
einer epidemischen Infektionskrankheit (z. B. Typhus), nicht aus. Ganz
richtig wird betont, dass das Erysipel an jeder Körperstelle auf-
treten könne. Wir werden daher bei dem Erysipel des Schamberg
und der Geschlechtsteile um so eher an ein puerperales Erysipel
zu denken haben, als der Verfasser gerade diese Form als die aller-
schwerste bezeichnet. Dass ferner das primäre Erysipel der Geni-
talien gar nicht so selten ist, wurde schon oben (S. 392) hervor-
gehoben. Ich selbst habe an anderer Stelle '-) einen von mir be-
obachteten Fall von typischem Erysipel der Dorsalfläche des
Penis mitgeteilt, das fast in unmittelbarem Anschluss an einen
Coitus im pur US auftrat, bei dem wohl eine kleine Kontinuitäts-
trennung der Haut des Dorsum penis die Übertragung der Strepto-
kokken aus der Vagina der Puella publica erleichtert hatte. Unter
heftigen Allgemeinerscheinungen (hohes Fieber, Erbrechen) endete
die Affektion bei geeigneter Therapie (Eisblase, Bepinseln mit Ichthyol)
nach IG Tagen mit Heilung.
Dass in Epidem. III, 3 — 4 ganz verschiedene Arten von igvaiJisXag zusammengestellt
werden, haben auch Küster und Hugo Simon ^) hervorgehoben, welch' letzterer sie in
die Reihe der neuerdings beschriebenen Eiysipelepidemien einreiht, welche sich als aus
Diphtherie, brandigen Phlegmonen und Erysipelen zusammengesetzte Mischinfektionen charak-
terisieren, deren einheitlicher Charakter von der Hand gewiesen werden muss.
7. 0r]Qiov (d)jQia), ßi]Qi(jojua (und Verwandtes).
Hippocr. Epidem. VI, 14 = Kühn III, 585: To &7]Qiü>8sg (fdivoTTCOQov, hierzu
Galen, Commentar. = K. XVII A, 858: Ehe zag daxaQi'dag, site rag sk/in'dag Xeyei z6
dygicüSsg , si'zs iXscpavza xal xaQxiror, eI'ts qyßlaiv cbg ziveg tjxovaav, eize jcäv z6
xaxörj&sg und Erotian. Voc. Hippocraticar. collect, ed. Klein, S. 123: z6 d^ijQtwdEg' 01
fiEV £(paaav avzur etil zcör xaxotjd-wv eXxwv zEza^ivai zl/v ks^iv, Öljieq d^rjQKOfiaza
ksyezai. ä dt) (hg im'jiav iv (fß^vomoQco av^szai 8iä ryv rov dsfjog dvMfia)dav. 01 Sk ijil
zcüv fuxQcöv £X[.iivdo3v Evo/iiioav. zöze yaQ xai avzai yEVVÖivzai' svtoi 8e zi]v cpßiaiv
EVOfuoav. — Hippocr. de locis in homine = Kühn II, 134: &t]Qiov etieq^ezui sjtI zö
acöf.ia 8id z68e. — Celsus V, 28, 3 = Dar. 207—208: Est etiam ulcus, quod dtjQioi^ia
Graeci vocant. Id et per se nascitur, et interdum uiceri ex alia causa facto supervenit.
1) Hippocrates, Epidem. III, 3 = Kühlewein I, 214: jZqcoI Se zov ygog
ä/iia zoTai yEvouEvoioi xjwy^eGiv egvoiniXaza noXXä. — Vgl. über das häufige Auftreten
im Frühling E. Küster, „Erysipelas" in Eulenburg's Realencyclopädie VII, 325
{3. Aufl., 1895).
2) Unna-Bloch, Die Praxis der Hautkrankheiten, S. 538. Wien-BerUn 1908.
3) Hugo Simon, Die Laryngologie des Hippokrates, S. 25. Inaug. - Dissert.
Berlin 1897.
48*
— 750 —
Color est vel lividus, vel niger; odor foedus; multus, et muco similis humor: ipsum ulcus
neque tactuin, neque medicamentum sentit; prurigine tantum movetur: at circa dolor est, et
inflammatio ; interdum etiam febris oritur; nonnunquam ex ulcere sanguis erumpit: atque
id quoque malum serpit. Quae omnia saepe intenduntur; fitque ex his ulcus, quod
(fayidaivar Graeci vocant, quia celeriter serpendo, penetrandoque usque ossa,
corpus vorat. Id ulcus inaequale est, coeno simile; inestque multus humor glutinosus,
odor intolerabilis, majorque quam pro modo ulceris inflammatio. Utrumque, sicut omnis
Cancer, fit maxime in senibus, vel iis quorum corpora mali habitus sunt. Curatio
utriusque eadem est; sed in majore malo major vis necessaria .... Non aeque tarnen
fame in iis, quos ffayedaiva urgebit, atque in iis, qui -dr/gioi/ia adhuc habebunt, utendiim
erit. — Dioscor. III, 9: rä (paysöaivixä sXxr] xal xa TEdtjQico^isra. — Plutarch. de
superstit. 3: q>Xsyi.ioval negl rgav/iiaTa y.ul vo^iai oagxög ■&t]Qiü)8sig. — Artemidoros
Oneirocrit., S. 102, 16: soixs yag xal t) vöoog drjQico. — Die wichtigen Stellen bei Apollo-
doros, Pollux und Hesychios sind oben, S. 693 — 694, mitgeteilt. — Hippocr.
Prorrhet. II, 13 = Kühn I, 207: AI de vofxal davazcodsorazai fiev (bv ai orjuedöveg
ßaßvTarui xai /.lEküvraTui xal ^tjQorazai. novtjgal de xal ejiixivSvvat ooai fxeXava
työJQU ävadiÖovaiv. al de Xevxal xal /:iv^o}8eeg zwv at]jis86vcov ouioxteIvovoi fiet' ijaoor,
VJioozQetpovoi 8e fiäXXov, xal /goinonegai yivovzai. ol ö' EQjirjzeg dxivdvvozuzoi
navzoiv i?.xeo)v oaa vefiezai. dvoanäXXaxxoi de [lalioza, xazä ye zovg
XQvnzovg xaQxivovg. im Jiäoi de zoloc zoiovzeoioi jivqezÖv ze ijityevea&ac ^VftqjSQei
ixirjv fjfiEQTjv xai jivov wg Xevxözazov xai nayvzazov. XvoizeXei xal o<paxeXioix6g vevgov,
r) xal oozeov, y xal uficpoTv, ejii zs zfjoi ßadeüjoi or]jced6oi xal fieXatv7]ai, Jivov yag iv
zoToi otpaxeXiafioioi qei jiovXv xai Xvsi zag otjJiEdövag. — (Vgl. Epidem. V, 4 vo/iiy der
Wange.) — Galen method. medend. V, 4 = K. X, 326: xaXeizai d' ovx oid' ojicog
ajtaoiv i]dri zöig tazgoTg rj zoiavzt] diädeoig vo/iiij, diözi vefieadai av [ißsßrjxEv avzijv
djio zwv TtETZovßözMV f^iOQicüv EJil X ä xazo. (pvaiv Exovza xal xovxcov dei zi
ngooejiiXafißdvEiv , wg dno zov ov ^ßsßrjxöxog , ovx dnb zijg ovoiag zov
drjXov fievov ngäyf-iazog , e&evxo xi]v jigooijyogiav. — Galen de compos. medicam.
sec. genera V, 14 = Kühn XIII, 851: jigog vofiug. zu otjTTsdovMd?] xwv eXxcor,
oxav ejiivefitjzai zovg Tiegi^ zojiovg, 6vo/:idCovaiv idiojg vo/iug. — Dioscor.
V, 5 ^^ Sprengel I, 690: xai vofiwv zü>v iv aldoioig; Dioscor. V, 128 = Spr. I,
796: IJoiei de jtgog za xaxor'jdrj xal (payedaivixd l'Xx?] xal vofidg rä? iv aidoico.
— Paulus Aeginet. III, 59: Td iv aidoioig eXxy) xal zd xaxd zijv i'dgav ytoglg
(pXsy/xovfjg ovza . . . . vo/iifjg de ovarjg xazojiXMOzEov q^axi] uezu aidicov xai z(p
xogdxcp dl' o^vfiiXixog jigooayogevofiEvco ygrjoxsov xw ze ßißvvM .... ngög xe gayddag
xai rd negi zrjv azscpdvr}v gvjiagd eXxr] (Cels. V, 20: ulcera sordida) xai fidXiaza
oxav dnoovgEiv /<»/ Svvavzai. — Cassii Felicis Problemata 2 = Physici et Medici
Graeci minores ed. I. L. Ideler, Berolini 1841, Vol. I, p. 146: Aid zi inizrjdEia zd
uxga fiigi] xov atofiaxog ngdg vo/.ii]v, ößoicog ds xal xd xoiXm; 1} ijieidt] rj vofii]
vixgcoaig xig iaxi xal afjxing, EVJiEgiij'Vxza de zd äxga di' evdeiuv vXrjg, tag did zovzo
Z7]v VExgoioiv vjtofieveiv . . . — Hippocr. Aphor. III, 21 = K. III, 724: Tov de d'sgeog
Evid ZE zovzeoiv . . . xal ojzoiv növoi xal ozo/Lidzo)v kXxoioiEg xal oysiedövEg aldoioiv
xai i'dgoia. — Galen method. medend. V, 4 ^ K. X, 325: xal xazd zovzo in' atdoioiv
xai edgag elg xr/v zoiavxrjv dq)ixvovfis§u JioXXdxig, ozi gadiatg otjjiezai zd fiogia did
ze xfjv ovfi<pvxov vygöxrjxa xai Szi jiegixxo/iidzwv sialv diEzai. — Galen,
Commentar. in Hippocr. de humoribus III, 13 -= K. XVI, 414: dXXd xal 1) qpvaig
xcöv xönoiv ov fiixgov Jigog xd dixEO&ai ojjjisdövag noiel' xal ydg x6 oxöfia
xal xd aidoia jioXXr/v vygoxyxa xfj (pvaei XExxtjxai' xal ngoakzi zovg ddkvag
eyovaiv iyyvg, üjieg jidvza zd jiegizzd ElodkyEoßai .-zEcpvxaoiv. — Galen, meth. med. X,
— 751 —
9 = K. X, 702: >cara tcov iv cudoioig (pXey/iiovöiv iv äo/Jj, :iolv VTZoqpairsoßai rira
vo(xo)8ri oTjJTsöova. — Celsus VI, 18, 4 — 5 = Dar., S. 256 — 257 (De obscoenarum partium
vitiis): Nonnunquam etiam id genus ibi cancri, quod (paysdau'a a Graecis nominatur,
oriri solet. In quo minime differendum, sed protinus iisdem medicamentis, et, si parum
valent, ferro adurendum. Quaedam etiam nigrities est, quae non sentitur, sed serpit,
ac, si sustinuimus, usque ad vesicam tendit; neque succurri postea potest . . . Cetera eadem,
quae in aliis cancris, facienda sunt. Occallescit etiam in cole interdum aliquid;
idque omni paene sensu carel; quod ipsum excidi debet. Carbunculus autem ibi natus,
ut primum apparet, per oricularium clysterem eluendus est: deinde ipse quoque medicamentis
urendus, maximeque chalcitide cum melle, aut aerugine cum cocto melle, aut ovillo stercore
fricto et contrito cum eodem melle. Ubi is excidit, liquidis medicamentis utendum est, quae
ad oris ulcera componuntur. — Galen in Hippocr. de humor. III, 26 = K. XVI, 460:
vvv Se ksysi (payF.öaivag ra g'Xyet] rä diaßiß Q(oox6/.ieva, äjisQ äjiavza dsi /^lei^co
xai x^^Qo yivETai. xal ovzcog ixdXovv avrä oc jia?Miot. vozsqov äs svcoi ijisxsiQijoav
jiQoatjyoQiacg eaaazov diogi^EO'&ai , zä fisv avzcöv y^eigdivia xaXovvzeg, za 8s ztj-
Xstpia, <pays8aivag ds äXXa. rjixsTg 8s zag (paysdaivag ovofxdCofisv 00a zmv sXxmv
xrjv v7toxEiii'svrj%' 8ia(f&siQsi oäoxa' ozav dk EJimoXiig f] xal xaz^ avzo zo
dsQ/iia, EQ TT 7] zag. ävdga^ 8e xaX.sTzai sXxog io/agöiSsg ä/iia jioXXfi zij zmv tisqi^ ow-
(xäzmv (pkoyojOEi. (Vgl. auch Galen de tumoribus praeter nat. 13 = K. VII, 717, wo
noch hinzugefügt wird: olqxeI yäg äjiavza xoirfj xaxoi]&7] jiQOoayoQEVsiv.) —
Galen bei Oribas. III, 655 — 657: IIsqI EQjtijzog xal (pays8aiv7]g xal zojv ofioiojv.
2vvlazazai 8e xal 6 EQjirjg ex yv/iov dgi/tisog' snsl 8k avzov zov 8QiiiEog 6 (isv fjzzov, 6
8s /icäXXor vjiägyEi zoiovzog, lazsov vjio fikv zov 8qi/^ivzsqov zov sa&i6fxsvov EQjirjza
ovviazäfiEj'ov, vjio ■&azEQOV 8s zov ezeqov ov xsyxQiav EVioi zcüv /liezo. 'IjiJioxgdzrjv zom'O^ia
E&svTO, 8i6zi xsyygoig ofioiag i^oydg djiozsXsi xaza z6 8sQf.ia . . . Tovzov zov ysvovg
iozl xal fj (payE8aiva xal 01 eXxov fisvoi zcov xaQxivcov, sjil wv aTiävzcov 1)
fiEv xoivi] ß^sQajisia xcoXvaavza zov sjtiQosovza yvfiov täaßai z6 i'Xxog, 7) 8£ i8ia xaza
sxaozov EX zs zrjg zov ^oqiov (pvoscog svQioxszat xal zfjg I8sag zs xai noao-
xrjzog zov yv^ov. — Hippocr. Aphor. V, 22 = K. III, 741 — 742: T6 ßsQfwv
EXJivrjzixov , ovx sjtl navzl i'Xxsi, fisyiazov atj/iiEiov ig doq^aXshp' . . . zovzemv 8s /.idXioza
zoiaiv iv xBcpaXfj s'Xxsa syovoi, xal 6x60a vjto yv^iog d-i-rjaxEi 1] sXxovzat, xal sgiioioiv
ia&to^Evoioiv, e8q]], ai8oicp, vax'sQ't], xvazsi, xovzkoiai z6 fisv {^eq[.i6v cpiXiov xal
XQivov, z6 8e ipvygov jioX.Efiiov xal xzsTvov. — [Servius ad Vergil. Georg. I, 151 (bei
Rosenbaum, a. a. O. S. 268 A. i): Robigo genus est vitii, quo culmi pereunt, quod a
rusticanis calamitas dicitur. Hoc autem genus vitii ex nebula nasci solet, cum nigrescunt
et consumuntur frumenta. Inde Robigus deus et Sacra ejus septimo Kalendas Maias
Robigalia appellantur. Sed haec abusive robigo dicitur; nam proprie robigo est, ut
Varro dicit, vitium obscoenae libidinis, quod ulcus vocatur: id autem abundantia
et superfluitate hu m oris solet nasci, quae Gra.eceaazi'Qiaaig dicitur.].
Wir fassen unter der Rubrik di]Qiov, d}]Qio)/i(a alle Geschwürs-
formen zusammen, die wir heute als phagedänische, gangränöse,
nekrotische und bösartige, d. h. carcinomatöse (und wohl auch
tuberkulöse) Geschwüre bezeichnen; die alten Aerzte nannten diese
ganze Klasse xaxorj&ea ekxea (Galen VII, 727; Erotian, S. 123),
für die eine xoiv/] degaTieia aufgestellt wurde (Galen bei Orib. III,
656), und rechneten zu dieser Gruppe ausser dem schon unter Nr. 3
abgehandelten ävdqa^ folgende Affektionen: d}]QUoiua, o^xj) oder
— 752 —
oi]7ieöo)v, vo/jh), (pay e^aiva, eQjryg eadio f^ievog , xaQy.Tvog und alles
das, was als QvnaQo. tXxi-j, als ulcera sordida, Cancer, carbun-
culus, yeiQcovia oder ti]XE(pia eXxr] bezeichnet wurde, während die
von Rosenbaum (a. a. O. S. 268) hierher gerechnete „robigo", wie
wir sehen werden, nicht dazu gehört.
Für diese ganze Gruppe der y.axo)]ßea e'Xxea, der bösartigen Ge-
schwüre werden folgende Charakteristika angeführt, die bei den einen
mehr und bei den anderen weniger hervortreten und offenbar als
Grundlage einer Terminologie a potiori gedient haben: Gangrän
und Nekrose (yayygaiva, vexQcooig, ocpaxehofiog), Fäulnisprozesse
(orjxii, orjipig), das Weiterkriechen und rapide Umsichgreifen der
Ulceration {vejueadai, serpere, wovon vojw^ und eQm]g ihren Namen
haben), die Schwarzfärbung (nigrities, äv&Qa^, carbunculus), das
in die Tiefe Fressen des Geschwürs, die Corrosion und Erosion
der Haut und des unterliegenden Gewebes (diaßißQd)oxeiv bei (paye-
daiva, eQJT7]g eodiöjuevog, xagxTvog, Cancer etc.), die Anästhesie der
abgestorbenen Partien.
Es ist um so weniger möglich, aus den einzelnen rein sympto-
matischen Krankheitskeimen bestimmte moderne Krankheitsbilder
mit Sicherheit zu erschliessen, als z. B. das drjQuofia und die (paysöaiva
von Celsus (V, 28, 3: sicut omnis Cancer, und VI, ig: genus cancri)
als „Cancer", Krebs bezeichnet werden, während ebenso von Galen
(bei Orib. III, 657) q)ayedaiva, eQnrjg eo'&iojuEvog und xaQxivog zu der-
selben Gattung (yh'og) gerechnet werden. Die Trennung der soge-
nannten ,, chironischen" und „telephischen" Geschwüre erklärt er da-
gegen für unberechtigt.
Sicher gehen wir nicht fehl, wenn wir alle die genannten
Krankheitsprozesse als progrediente, serpiginöse, destruktive
mit Ulceration, Blutung, Gangrän und Nekrose verbundene
Erkrankungen der Haut auffassen und, soweit sie an den Geni-
talien lokalisiert sind, wohl hauptsächlich als phagedänische und
serpiginöse Schanker und als Carcinome zu klassifizieren
haben, denn Celsus erklärt in letzterer Beziehung ausdrücklich, dass
ih]Qi(o/ua und cpayedaiva „wie jeder Krebs" am häufigsten bei alten
Leuten vorkommen. Man wird im übrigen auch an er3^sipelatöse
bezw. diabetische Gangrän der Genitalien zu denken haben, wie denn
überhaupt die Möglichkeit der grösseren Häufigkeit phagedänischer
Prozesse an den Genitalien in damaliger Zeit, die Hippokrates,
Galen und Cassius Felix auf die sommerliche Hitze und auf die
grössere Neigung der stets feuchten Geschlechtsteile zu solchen zurück-
führen, durchaus zugegeben werden muss. Ferner kommt es auch
— 753 —
heute noch \^or. dass Ulcerationen bei Herpes genitalis, bei den
verschiedenen Formen von Balanitis mit ihren zum Teil tiefen
Erosionen, bei Aphthen und Diphtherie der weiblichen Geni-
talien einen phagedänischen Charakter annehmen. Den eomjg ioiho-
jiierog halte ich nach der Beschreibung des Galen für eine Form des
flachen Hautkrebses, da die von anderen Autoren gestellte
Diagnose „Lupus" für Blase und Uterus, wo nach Hippokrates dieses
Leiden ebenfalls lokalisiert ist, nicht in Betracht kommt und Galen
ausdrücklich angiebt, dass der Herpes Esthiomenos nicht in die Tiefe
frisst wie cpayeöaira und y.agyJvog. Der harmlose Beginn eines Penis-
krebses als schmerzlose Verhärtung wird von Celsus vorzüglich ge-
schildert, und es liegt gar kein Grund vor, in den Worten: „Bis-
weilen verhärtet sich auch eine Stelle am Penis, die dann fast jeder
Empfindung entbehrt und auch im ganzen (quod ipsum) ausge-
schnitten werden muss", als eine „syphiHtische" Initialsklerose zu
deuten, selbst wenn die ganze Stelle als Schilderung des Initialstadiums
eines Geschwüres, des weiter geschilderten „Carbunculus" aufgefasst
werden müsste, was ich doch nach wiederholter Lektüre bezweifle.
Es wird mit „Carbunculus autem ibi natus etc." die Schilderung einer
neuen Krankheit eingeleitet. Im übrigen kommen, wie bereits oben
(S. 372 — 378) dargelegt wurde, so viele mit Induration einhergehende
Affektionen am Penis vor, dass die Behauptung, hier liege die Schilderung
eines typischen Primäraffekts vor, vollständig in der Luft schwebt. Die
Bemerkung, dass diese bisweilen (also nicht oft) vorkommende Ver-
härtung excidiert werden muss (debet), spricht doch wohl am meisten
für Carcinom, zumal wenn man sie auf die kurz vorhergehenden Sätze
bezieht, an die sich dieser Satz ganz natürlich anschliesst ').
Endlich hat Rosenbaum (a. a. O. S. 268 A. i) noch eine sehr
interessante Stelle aus dem Kommentar des Grammatikers Servius
zu Vergils „Georgica" mitgeteilt, in der er die Schilderung einer
gangränösen Affektion der Genitalien erblickt. Es handelt sich um
das Wort „Robigo" (Rubigo), das ja zweifellos auch „Rost" oder
„Brand" des Getreides bedeutet. Dies sei aber, wie Servius erklärt,
die un ei gentliche Bedeutung des Wortes. Denn nach Varro sei
„Robigo" eigentlich das „Laster einer obscönen Geschlechts-
lust" (vitium obscoenae libidinis), das auch Geilheit, sexuelle Hyper-
ästhesie (ulcus) genannt werde. Diese aber werde durch einen Über-
i) Ich verweise auch noch auf die Aeusserungen von Hebra und Kaposi über die
oft täuschende Aehnlichkeit von Peniscarcinom und Inilialsklerose und die von ihnen mit-
geteilten Beobachtungen (F. Hebra und M. Kaposi, Lehrbuch der Hautkrankheiten,
Stuttgart 1876, Bd. H, S. 523 — 524).
— 754 —
fluss an Feuchtigkeit (huraor) hervorgerufen, was die Griechen als
oarvQiaoig bezeichneten.
Dass „ulcus" so und nicht, wie Rosenbaum es will, mit „Ge-
schwür" übersetzt werden muss, schloss ich erstens aus der Gesamt-
bezeichnung des Zustandes als Satyriasis, die ein „Geschwür" sehr
schwer verständlich machen würde, und ersah ich zweitens aus einer
handschriftlichen Bemerkung des Verfassers in Rambach's „Thesau-
rus Eroticus linguae latinae" (Stuttgart 1833 zu S. 298)^). Hier heisst
es: „Ulcus. Öbscoeno sensu, pro latente prurigine," und es wird
zum Beweis hierfür auf Martial XI, 60 verwiesen, welches Epi-
gramm folgendermassen lautet:
Sit Phlogis an Chione Veneri magis apta, requiris ?
Pulchrior est Chione; sed Phlogis ulcus habet,
Ulcus habet Prianii quod tendere possit alutam
Quodque senem Pelian non sinat esse seneni,
Ulcus habet quod habere suam vult quisque puellam,
Quod sanare Criton, non quod Hygia potest:
At Chione non sentit opus nee vocibus ullis
Adiuvat, absentem marmoreamve putes.
Exorare, dei, si vos tam magna liceret
Et bona velletis tam pretiosa dare,
Hoc quod habet Chione corpus faceretis haberet
Ut Phlogis, et Chione quod Phlogis ulcus habet.
Es wird hier die hässliche, aber sehr libidinöse Phlogis der
schönen, aber frigiden Chione gegenübergestellt und der starke Ge-
schlechtstrieb, das Liebesfeuer der ersteren direkt mit dem Worte
bezeichnet „ulcus habet". In derselben Bedeutung begegnet uns
„ulcus" auch bei Lucrez (De rerum natura IV, 1055 — 1064), wo
sogar auch der „humor" des Servius in ganz ähnlicher Bedeutung
für den „Reiz zur Geschlechtslust" gebraucht wird:
Sed fugitare decet simulacra et pabula amoris
absterrere sibi atque alio convertere mentem
et iacere umorem conlectum in corpora quaeque,
nee retinere, semel conversum unius amore,
et servare sibi curam certumque dolorem :
ulcus enim vivescit et inveterascit alendo,
inque dies gliscit furor atque aerumna gravescit,
si non prima novis conturbes volnera plagis
volgivagaque vagus Venere ante recentia eures
aut alio possis animi traducere motus.
i) Das Handexemplar dieses seltenen, schon von Rosenbaum gesuchten Werkes
(übrigens in dem gedruckten Teile eine wörtliche Copie von P. Pierrerugues, Glossarium
eroticum linguae latinae, Paris 1826) gelangte durch einen glücklichen Zufall in meinen
Besitz. Es ist mit zahlreichen handschriftlichen Zusätzen versehen.
— 755 —
„Robigo" ist das Liebesfeuer, der mit äusserer Röte einher-
gehende innere Brand des Eros, und nicht, wie Rosenbaum will,
ein äusserer Brand oder ein phagedänisches Geschwür. Das würde
zur oaTVQiaoig, die von Caelius Aurelianus (Acut. morb. III, i8)
als „vehemens veneris appetentia" definiert wird, in keiner Weise
passen. Unsere Auffassung wird durch diesen Autor vollauf bestätigt,
indem er von einer heftigen Spannung, Schmerzhaftigkeit und Brand
(„incendio", also nicht etwa Gangrän!) der Genitalien bei Satyriasis
spricht. Es ist also die durch die geschlechtliche Aufregung- hervor-
gerufene Hitze und Röte an den Genitalien, die plastisch mit
„Robigo" bezeichnet wurde, während man später diese Bezeichnung
auf eine Erkrankung des Getreides „abusive" übertrug. Die „robigo"
als äussere Röte des inneren Liebesbrandes ist eben völlig identisch
mit dem „rubor", den Caelius Aurelianus als charakteristisches
Symptom der Satyriasis anführt ^).
8. 0vfiog, §vfiiov (und Verwandtes).
Hippocr. de vulner. et uicer. 14 = K. III, 319: >/ la ßvfiia rä cuto rov
Jioa&iov dqyaiQet. — Cels. V, 28, 14, Dar. 217: At d^vixiov nominatur, quod super
corpus quasi verrucula eminet, ad cutem latius, supra tenue, subdurum, et in sumnio
perasperum: idque summum colorem floris thymi repraesentat, unde ei
nomen est; ibique facile finditur, et cruentatur; nonnunquam aliquantum sanguinis
fundit; fereque citra magnitudinem fabae aegyptiae est, raro majus, iiiterdum perexiguuni.
Modo autem unum, modo plura nascuntur vel in palniis, vel in inferioribus pedum par-
tibus: pessima tarnen in obscoenis sunt; maximeque ibi sanguinem fundunt.
— Soran II, 27 ed. Rose, S. 370: nsgl d'v/ii(ov tcöv iv yvvdixsioig /Liegsoiv. —
Soran II, 18, 59 ed. Rose, S. 359: tovrcov ovv yevofievon' st zo fie/Ln'Hog Sia ziov /Lta^.ax-
Tixwv }.iJiaofiär(ov dvscoye, Sei aTiev&vveiv rov rgdxij^.ov ei oy.ohög ioii, naQaorsXksiv Se
fiExa Xuiaofiov tov oyxov ei jtaQaxEifiEvo^ sitj, sl ds firj, öiä •/[eiooi'gyiag Exy.6n:Teiv eite
&Vfiog iotlv EiTE HOvdi'Xog djio ijiavaazdoECog eite öta(pQdzzcor vfiijv ij oagxog jisQi(pvaig
rj äXXo XI x<öv zoiovzwv i/miodiCov. — Leonidas, Heliodoros, Antyllos") bei Oribas.
IV, 19: Ovfiog eXxoq Eoziv vjtsoaagxovv zgay^Eia xai rpa&VQn aagni. yivEzai
Se ev ze idga aal alSoioig xal zoTg a.).?.oig röjioig jiäoiv. Kai z6 /ikv EVi]&eg
Tiavzdjiaoi xal noXXdxig avzo/iiazov djioniTizov, z6 de ei djioxöjitoig, xaxotj&iozEQÖv
ZE xal 6dvvi]v jzaQsyov, xal yoQrjyov^svoi' aifiazoiÖEi lywgi' eozi 8k oTg xal djio-
ZEfivöfiEva zoiavza (pvEzai jidXiv, (og xq/)C^<-^' V xni'oscog, f] q^agfidxov xavozixov' za
Se xal dviaza wq^dij. "Oaa 8e xaQxivcodrj zqojiov avviozazai yaX.EJicözsQa, xal za
ExcpvofiEva zfjg ßaXdvov yaXsJtwzEQa zwv ix zfjg JioaOrjg, xal zd ev zfj Edgq
1) Caelius Aurelianus acutor. morbor. lib. III, c. 18. Sequitur autem aegrotantes
vehemens genitalium tentigo, cum dolore, atque incendio, cum quodam pruritu immodico
in veneream libidinem cogente ... At si febres non fuerint, ex ceteris accidentibus, quae
Graeci symptomata vocant, cum ea indulgentiora viderimus, ut ruborem, fervorem, pru-
ritum, vel in usum venereum cupiditatem, ant genitalium tentiginem, vel bis similia.
2) Nach "Wellmann, Pneumatische Schule, S. 78, hat Oribasius die Definition
von §v/Liog aus Heliodor und Antyll, für die wieder Leonidas die Quelle ist.
- 756 -
ta ßaßvreoa rcov jtqo/fi noTegcor. "Qrfi%] ^f jrore ett irs^io^ieva ix rfjg eSgac
JiQog x6 aidoTov zfjg yv%'aix6g' rä ^s xal avTodev ß).aatävovTa. 21vi.ißaivsi de xal
EJil e}^XEOi, xal ävsi' kXxwaecog, 7iQOtjyt]oa/iier)]g aagxog Ix ßoXrjg, oi'ag eiQfjxafJSV
yE%'ea&ai. (Vgl. auch Orili. IV, 470 — 4/1-) — Galen de tumor. praeter natur. 17 = K.
VII, 731: d^vf^ioi xal zuDm öoa Toiavza aagxojdi] ßlaozi'jfiaTa. — Pseudo-Galen
definit. med. XIX, S. 444: 0v/iog ioth' Exqavoig oagxög rgay^Eiag ofioia roTg iöoo-
Sifioig {fv/iioig jtEQi aldoifo xal eSoo. yivo/iht]. — Philumenos bei Aelius Sermo XVI,
108 ed. Zervos Lips. 1901, S. 154: IIeqI i)vfio)7' er vazEQq xal fivQfirj xioiv xal dxgo-
XOqÖovojv, 'PiXovfiEvov. Svviazaxai ^vfiog tjoze (.iev jteqI za jzzEQvyojfiata, jzozk de
sieqI x6 yvvaiXEiov al8oiov, tzoze Se jieqI z6 ozo/iiiov zfjg vazEga; 1} zo%'
TQO.X'fjXov. vjzEQoytj dk iazl zgayEia xsy/QCoötjg xoov/A.ß(p ■&{) (X(n naganlijoia.
im zivoiv [xiv ävo'}8vvog, i<p^ ezeqwv 8e xaxorj&rjg xal ivEQEV&tjg xal aifiaooo/nivt]
(xäkkov xaza zag ovvovoiag xal zovg jiEQiJzdzovg , oze xal fiögto jiETie^fiEvqy
rjzoi WQifiq) TiQOOEOiXE. xazaXaixßävEzai ds did zfjg ogäoEwg i] avzößt, ^ fXEzd Sioji-
ZQiofiov. &EQanEV£iv Se zag VJzsQoydg zavzag jzqootjxei xaz' agyctg fiivzot, <x>g ettI zwv
IxvQfxrjximv xal axgcxogSövcov, xoivcög ygoviCövzwv 8e dg/jo8i<og xeiqü^eiv .... Es folgt
dann später ein Verzeichnis von medikamentösen Mitteln, darimter: älXo , (o iy^grjoäi-iijv
iirl zijg ifiavzov avfj.ßiov , aigsi ydg avzag ix giCoav ... — Pollux, Onomast.
IV, 194: dvfiog, vjiEgigvßgog Exfpvoig, zga/sTa, fvaiiiog, ov 8vaa(paigEzog, fidkioza Jisgl
aidoTa xal daxzvXiov xal naga^irjoia' s'azi (5' oze xal inl Tigoocöno). — Vgl. Paul.
Aegin. VI, 58 ed. Brian, S. 246.
Hippocr. de natur. muliebr. = Kühn II, 587 — 588: rjv iv toTg alöoioia i
dvooofxir} ^ xal xiojv iyysvrjzai xal odvvrj syi], zr]V [xev odvvrjv navoEi etc., zrj%' Se
dvooojxirjv ävvrjooi' . . . z6v 8s xiora XQV djiozdfivEiv. — Hippocr. de mulier. morb.
II, 103 = K. II, 879: rjv xUov ir zoioiv alboloioiv iyyh'rjzai.
' Hippocr. de haemorrhoidibus, c. 4 u. 5 =^ Kühn III, 343 — 344: itgoaqn'Ezai
Tzgog rfj aifxazcöc zfj xoj'di'/.ioÖEi olov ovxafiivov xdgjzog, xal ei jmv e^co o<p68ga
i] fj xovövXoioig , jisgiTzscpvxEV avzfj xaXvjizrjg 6 zfjg oagxog. xadiaag ovv zov ävßgco-
710V oxXd^ EJzl oXfioiv ovo oxÖjzei. EvgrjoEig ydg TiEfpvorj^Eva rä /nsotjyv zwv yXovzwv
jiagd zTjv iögrjv. zd 8e ai/ua ixyoigsEiv evSo&ev. i]v yovv ivdidoi tmo zcd xaX.imifjgi,
rj xd xovdvXwfia xrö SaxzvXo) d(p£XsTv. ovSsv ydg yaXEnoiXEgov ijjzEg Tigoßdxov ftsigo-
fiEvov xdv ödxzvX.ov /tsza^v zov Sigf^azog xal zfjg oagxog nsgaivEiv. xal xavza diaXsyö-
fiEvog d[i,a XAv&avs tzoiecov. ejz7]v Se drpsXTjg zd xovdvXoofia dvdyxrj gsEod-ai dg6fiot>g
ai'/j,axog and Jidorjg xfjg dqpaigEoiog. xdya ygi] dnonXvvai olvco avoztjgrn xtjxiSag
ivojzoßgs^ag, xal rj zs aifiaztzig olyrjOEzai ovv zot xovdi'Xto/iiazi , xal zd xaXviifia
xazaozrjöEzai xal oaro äv naXaiözEgov f] , gifCbioig sazai fj Yrjoig. — 'i/j' 8e dvdiZEgog fj r/
xovövXojoig, zoJ xazojzzfjgi oxEJzzEodai xal fiij i^ajiazäoßai vjzd zov xazojzzrjgog. dirjyov-
/xEvog ydg dfiaXvvEi zijv xovSi'jXwoiv . . . — ovzco xal zrjv iv xfj Edgj] aifioggo td a ,
i]v fiEv ävojßsv 7] xdxcoßEv xdfijjg xfjg dcpaigsaiog zov xovdvXojfiazog, ai(.ia gFvoEzai'
ijv ök avzrjv drpsX^rjg zi]v xovdvXoioiv iv zfj ngoocpvoEi, ov gEvaszai. — Cels. VIT, 30, 2
Dar. 319: (De ani vitiis) ... At tubercula, quae xovdvXo') fxaza appellantur, ubi
induruerunt, hac ratione curantur: Alvus ante omnia ducitur; tum vulsella tuberculum
apprehensum juxta radices praeciditur. Quod ubi factum est, eadem sequuntur, quae supra
post curationem adhibenda esse proposui: tantummodo, si quid increscit, squama aeris
coercendum est. — Cels. VI, 18, 8, 9, 11 = Dar. 258 — 259 (De obscoenarum partium
vitiis): Condyloma autem est tuberculum, quod ex quadam inf lammatione nasci
solet . . . Sed si vetus Condyloma jam induruit ... Si hoc parum in condy-
lomate proficit, adhiberi possunt etiam vehemenlius adurentia. Ubi consumtus est
tumor, ad medicamenta lenia transeundum est . . . Tertium vitium est, ora venarum
— 757 —
tamquam capitulis quibusdam surgentia, quae saepe sanguinem fundun t: aifiog-
QotSag Graeci vocant. Idque etiam in ore vulvae feminarum incidere consuevit . . .
Fungo quoque simile ulcus in eadem sede nasci solet ... Si hac ratione non
tollitur, vel medicamentis vehementioribus, vel ferro adurendum est. — Di ose. III, 29 =
K. I, 423: Uaacöv de xoivwg rj 716a xaxa7i)ModeToa ksia aifiOQQoidag ore/Aet, (pXey-
fiovdg TS za? xaza 8axrvli07' tugavvsi, xal xovdvlcö/cara. — Dioscor. V, 95 =
K. I, 760: soTt ÖE xal i'a/aifiog xai jtqq? tÖ iv reo öaxTvXio) eIx}], xordi'Xcjfxara
aifiOQQotdag. — Galen, Commentar. III in Hippocr. libr. de alimento, c. 17 = K,
XV, 32g: (bg 8s :jsot to SeQfta y.ai T6:joi'g rov olov OMf^azog Xsjiga, yxöga, Xsiyt^v,
dxQoxoßSövsg , dvfioi, fivQ(j,i]xiai, ijXoi, jiwqoi, ovtm xai jif.qI trjv eögav aifioggotSeg
xvrpXal, gaydSeg , Jigö^tzcooig, xovdvXcöfiaza, uvXideg xai äXXa jtoXXa ov/iißairsi. —
Pseudo-Galen, Defin. med. 420 = K. XIX, 446: KovSvXcojiid iazi SaxtvXiov
ozoXi8a)8i]g sjiar'dazaocg /terä (fXsyfiovijg. — Caelius Aurelian., Morbor. chron.
II, II ed. A. v. Haller II, 157: Pleninique etiam, ut Erasistratus ait, tubercula, quae
Graeci condylomata vocant, visibus occurrunt, quae sunt similia haemorrhoidis ex
quibus sanguis fertur. — Paul. Aegin. VI, 71 = Briau 292: Ilsgi xwv iv zoig yvvai-
xsioig zöjioig dvficov xai xor'dvXcofidrcov xai amoQoot8cov. Td 8s xov8vX(ö/naza
azoXi8(!)8sig sjcavaazdosig eiair, motieq ai/(OQgot8Eg jiaQajiXrjoioi zaig xaza
TTjv E8ßav. IIozE 8£ xai alfioogayovoi. (Vgl. auch Paul Aeg. III, 75.) — Paul.
Aegin. VI, 80 = Briau 328: T6 iv zm 8axtvXlco xov8vXio(i.a xazd zov zojiov
fiövov Tcöv et' roTg yvvaixEioig 8iEvi]vox£, azoXi8w8rjg ov xai avzo rijg iSgag sjiavaazaaig,
rj <pXEy fiovfjg fj Qayd8og TzooTjytjaafiivtjg. T6 /xev ovv jiqwzov, i^o/ag Jigoaayo-
QEVEzai, zvXovfiEvov 8s, xov8vX(Ofia. Ast ovv wojieq ixsTva xai xavza ^iv8ifn xoaztj-
aavza ixTSfirsiv, xai roTg ioxaga>Tixoig d:^oßEgajT£VEtv.
Hippocr. Epid. III, c. 7 ^ Kühlewein I, 228: ijzKpvaiEg ßksrpdgon' s^wdsv,
EOCo&EV, TioXXcöv (p&Eigovza zag oifiag, ä avxa iizovoßd^ovoiv. — Aristophanes Ran.
1285: wöJisg zd avx' i.-ri zoToiv 6<fdaX/iioTg E<pv. — Dioscor. Euporist. I, 218 ^
K. II, 208: Aigsi 8e xov8v?.o'}/iiaza xai zag avxag dgasvixdv iiziJtX.aodsv. — Diosc.
Eupor. I, 219 ^ K. II, 209: Tot? 8£ vjzsg/isyi&Eig avxag dnoßdXXEi etc. — Galen,
Euporist. III = Kühn XIV, 495: Tlgog iocoydSag, gayd8ag xai ovxdfiiva (seil, iv £8ga).
— Sextus Placitus de medicam. ex animal. 11, 7: Ad ficos qui in ano nascuntur. —
Oribas. V, 387: Svxa ovofidCovoi ßX.aoztjfiaza £Xxü}8i], ozgoyyvXa, V7i6oxXt]ga,
ivEgEv &fj , oig dxoXov&sl xai 68vvi]' cpvEzai 8s zavza z6 fiEV tzXeZozov iv xEqyaXfj, xav
T(p dXXqj acöfiazt. (Vgl. auch Orib. VI, 183 — 186 u. Paul. Aegin. III, 3.) — Die
poetischen Citate über fici und mariscae sind bereits oben (S. 577 — 582) verzeichnet.
Geis. VI, 18, Dar. 256: Tubercula etiam, quae (pvfiaza Graeci vocant, circa
glandem oriuntur: quae vel medicamentis, vel ferro aduruntur.
Plinius, Nat. histor. 30, 72: Verendorum f o r m i ca t i on i bus verrucisque
medetur arietini pulmonis inassati sanies; Nat. hist. 22, 100: Verrucae sedis crebriore
silphii suffitu cadunt.
Sext. Placit. I, 15: Ad callos qui in veretro nascuntur.
Scribon. Larg. 234: Ad veretri tumorem.
Soranos II, 33, Rose 379: JiEgi ߣXixi]gl8o3v xai d&Ego)/iidzxov xai azEazco-
[lazoiv iv zoig yvvaixsioig al8oioig.
Die grosse Mehrzahl der in dieser Rubrik verzeichneten Ex-
crescenzen der Genitalien, also: ißvfiog, &vjiuov, /uvgju}]xia, xiojv,
xovdvXo)oig, xovdvXcojua, ovxov, ovxtj, ovxd^ivov, fici, mariscae,
(pvjiia, Verrucae, calli etc. wurden von den Alten zur Gattung der
- 75« —
Warzen g-erechnet (Cels. V, 28, 14; Pliniiis 1. c.) und umfassen
wohl grösstenteils das, was wir „venerische Vegetationen" nennen,
deren grosse Zahl, Ueppigkeit und rasches Wachstum gerade in süd-
lichen Ländern schon von Ziermann^j nach seinen Beobachtungen
in Sizilien hervorgehoben wird. Der Reichtum an Benennungen in
der formalistischen Terminologie wird durch den Reichtum der ver-
schiedenartigsten Bildungen dieser Art vollauf erklärt. Wir verweisen
in dieser Beziehung auf die oben (S. 408 — 40g) mitgeteilte ausge-
zeichnete Schilderung der zahlreichen Varietäten der sogenannten
spitzen Feigwarzen oder Condylomata acuminata nichtsyphi-
litischer Natur, die A. Geigel gegeben hat, deren Aehnlichkeit
mit Feigen, Hahnenkämmen, Blumenkohl, Himbeeren oder Maul-
beeren, Erdbeeren oder Stachelbeeren ihre verschiedenen Benennungen
hervorgerufen hat. Man sieht sie auch in Pallisaden- und Pilzform
und als dendritische Bildungen, sowie als Papillome bis zur Grösse
einer Kindesfaust-). Ihre grosse Häufigkeit (vgl. oben S. 410 die
Angabe von Fritsch) und ihre oft überraschende Aehnlichkeit mit
den syphilitischen „breiten" Kondylomen (s. oben S. 410, 411 u. ö.)
ist von vielen Autoren hervorgehoben worden. Für nichtsyphilitische
Vegetationen spricht auch die Thatsache, dass als ihre typische
Lokalisation von fast allen Autoren Genitalien und Anus genannt
werden, während bekanntlich die breiten Kondylome hauptsächlich
die Regio analis okkupieren. Ferner ist die Schilderung der Vege-
tationen des Weibes, ihr üppiges Wuchern zwischen Anus und Vulva,
ihr Vorkommen im Lmern des weiblichen Genitale ebenfalls typisch
für das Condyloma acuminatum ^). Im Altertum kamen die Feig-
warzen in der männlichen Analregion ganz sicher ebenso
häufig vor wie noch heute (aus anderen Gründen) bei der
Frau, da sie bei der allgemein verbreiteten Männer- und
Knabenliebe, von deren Umfange wir uns heute kaum noch eine
Vorstellung machen können, und der mit ihr verbundenen Pädikation,
durch direkte Ansteckung hervorgerufen wurden.
Hierfür hat das Kapitel „Prostitution und Psychopathia sexualis"
unumstössliche Beweise gebracht.
Wir werden aber bei der Deutung der mitgeteilten Termini
technici der warzenartigen Excrescenzen an Genitalien und Anus
1) J. L. C. Ziermann, Ueber die vorherrschenden Krankheiten Siziliens u. s. w.
Ein Beitrag zur medizinischen Länder- und Völkerkunde, S. 188—189, Hannover 1819.
2) E. Lang, Der venerische Katarrh, S. Ii6 — Ii8, I20, I2i, Wiesbaden 1893.
3) Vgl. die ausgezeichnete Schilderung von Max Joseph in Mraceks Handbuch
der Hautkrankheiten, Bd. HI, S. 502, Wien 1904.
— 759 —
auch noch an verschiedene andere x\ffektionen zu denken haben,
die zum Teil durchaus nicht selten hier lokalisiert sind, wie z. B. die
Akneknoten, die namentlich in der Analregion sehr häufigen papu-
lösen, kallösen und lichenifizierten Ekzeme, die Sykosis, die pseudo-
syphilitischen Papeln der Prostituierten (Bergh), die kondylomähn-
ähnlichen Hypertrophien der Vulva (F ritsch) und des Anus, die
Elephantiasis verrucosa der Labien und des Anus, das Molluscum
contagiosum, Epitheliome i), Papillome (Albert), condylomartige
Hämorrhoiden und Vorwölbungen der Afterschleimhaut (vgl. oben
S. 431 — 432), deren Deutung als ,,Mariscae" und „Cristae" (bei passiven
Päderasten) keinem Zweifel unterliegt -) u. s. w.
Nach diesen Voraussetzungen muss man nicht nur die ohne
genauere Schilderung bloss mit Namen erwähnten Excrescenzen be-
urteilen, sondern auch die detailliert beschriebenen, wenn auch bei
letzteren eine speziellere Deutung" möglich sein wird.
Als Prototyp dieser ganzen Formen ist der Qvfiog bezw. das
d-vjuior anzusehen, eine schon von Hippokrates als am Präputium
vorkommend erwähnte zweifellose Art des Condyloma acuminatum,
was sich aus der Vergleichung mit der Thymianblüte ohne weiteres
ergiebt. Celsus beschreibt die rauhe, zerklüftete, gespaltene Ober-
fläche des Thymus und seine Neigung zum Bluten. Offenbar rechnet
er auch gewisse Warzen dazu, da er den Thymus ausser an den
Genitalien auch an den Händen und Füssen vorkommen lässt,
Leonidas erwähnt das häufige spontane Verschwinden dieser Feig-
warzen, aber auch die Neigung zu Recidiven, den carcinomatösen
Charakter mancher Thymi (besonders der im Mastdarm oberhalb des
Anus sitzenden) und ihre üppige Wucherung- bei Frauen. Philu-
menos vergleicht den Thymus mit dem Köpfchen des Thymians
oder mit einer Maulbeere, erwähnt, dass er bei der Cohabitation und
bei Spaziergängen leicht blute. Er kommt an den Labien, am In-
troitus und am Os uteri vor und wird durch Abschneiden entfernt.
Dass er nicht für ansteckend galt, beweist die naive Bemerkung des
Philumenos, dass er solche Feigwarzen bei seiner eigenen Frau
behandelt habe. Pollux erwähnt das Vorkommen des Thymus an
der inneren Seite der Oberschenkel (jraQajio'iQta) und im Ge-
sichte, was die Diagnose „Condyloma acuminatum" absolut beweist,
1) Die direkte Betonung der Bösartigkeit mancher Gebilde legt den Gedanken an
Epitheliom nahe, doch muss man sich auch an die gerade bei Feigwarzen so häufigen Rezi-
dive erinnern. Vgl. darüber auch E. Gurlt, a. a. O. Bd. III, S. 536.
2) Vgl. oben S. 432 — 433 die Aeusserungen der erfahrenen Gerichtsärzte Hof mann
und Dittrich.
— 760 —
da gerade diese Art der extragenitalen Lokalisation für die Feig-
warzen charakteristisch ist, wozu noch Conjunctiva und Mundschleim-
haut kommen ').
Der xicov an den weiblichen Geschlechtsteilen bei Hippokrates,
der schmerzhaft ist, übel riecht und die Excision erfordert, dürfte
ebenfalls zur Gattung der gewöhnlichen Feigwarzen gehören, ohne
dass eine genauere Diagnose möglich ist.
Dagegen können wir der ganzen Schilderung nach das hippokra-
tSsche KovövXw^a (xovdvXcooig) nur mit den Hämorrhoiden faljnoQ§oideg)
in Verbindung bringen, es ist ein feigwarzenähnlicher Hämor-
rhoidalknoten, jedenfalls ein Gebilde, das sich aus einem solchen
entwickelt und dann wohl, wie es deutlich geschildert wird, einen
sogen, blinden, nicht mehr blutenden Hämorrhoidalknoten
darstellt. Auch die späteren Definitionen bestätigen diesen Zusammen-
hang, für den auch spricht, dass das xoi'ÖvÄcojna fast nur am Anus,
selten an den Genitalien vorkommt. Celsus erwähnt die Entstehung
aus einer „Entzündung", wobei man an einen entzündlichen Hämor-
rhoidalknoten zu denken hat, wie denn Paulos das Kondylom als
eine Hypertrophie der Analschleimhaut infolge einer vorausgegangenen
Entzündung oder Rhagade bezeichnet. Die leichte Schleimhautvor-
wölbung nannte man t^o^tj, die längere Zeit bestehende, zum Knoten
ausgebildete Hovövko)jLia (Paul. Aeg. VI, 80). Ebenso ergiebt sich
aus der Definition des Caelius Aurelianus deutlich die Beziehung
der Kondylome zu den Hämorrhoiden. Kurz, das antike „Kondy-
lom", dessen Name so vielen die Altertumssyphilis suggeriert hat, ist
weiter nichts als die Folge der Veränderungen eines Hämor-
rhoidalknotens bezw. hämorrhoidal-entzündlicher Zustände
der Analschleimhaut. Die einfache, unbefangene Lektüre der
wichtigsten von mir mitgeteilten Stellen der genannten antiken
Autoren lässt gar keinen anderen Schluss zu. Wenn auch bei Celsus,
der blinde Hämorrhoidalknoten, das Kondylom, von den blutenden
Hämorrhoidalknoten getrennt abgehandelt wird, so ist ihr Zusammen-
hang doch klar. Für ihn trat schon Virchow-) in völlig über-
zeugender Weise ein. Er hält auch die ovxa, fici für veränderte
Hämorrhoidalknoten, und das Wort dieses erfahrenen und nüch-
ternen pathologischen Beobachters ist zu gewichtig, als dass es bei
der Beurteilung dieser antiken Bezeichnungen vernachlässigt werden
dürfte. Der Form nach können gewisse Hämorrhoidalknoten sehr
i) Vgl. Max Joseph, a. a. O. S. 502 — 503.
2) R. Virchow Die krankhaften Geschwülste, Bd. III, S. 427—428, Berlin 1867.
- 76i -
wohl ein feigwarzenähnliches, zerklüftetes Aussehen haben und bei
der rein formalistischen Auffassung der Alten mit den eigentlichen
Feigwarzen verwechselt werden i). Dass die ovxa, fici auch die Be-
deutung „Cond3'loma acuminatum" hatten, zeigt die Bemerkung des
Hippokrates und die Stelle des Aristophanes von ihrer Lokali-
sation an der Conjunctiva, wobei man allerdings auch an Trachom
zu denken hätte, und die Erwähnung des Oribasius von ihrem
Vorkommen am Kopfe.
Endlich dürfte ein Teil der nicht näher beschriebenen „(pv[.iaxa
circa glandem", der „Verrucae" und „calli" in veretro zu den Feig-
warzen gehören, während die Honiggeschwulst (fieXiH7]Qig) und die
Fettgeschwulst (oTedKOfia) an den weiblichen Genitalien weiter keine
Bedeutung für die antike Venereologie besitzen. Was unter dem
„fungus in ano" des Celsus zu verstehen sei, ist bei dem Mangel
jeder näheren Schilderung nicht mehr zu bestimmen, wahrscheinlich
Carcinom.
Die hier gegebene Uebersicht umfasst alle für die antike Vene-
reologie in Betracht kommenden Leiden. Wir haben daraus ersehen,
dass es nur rein örtliche venerische Leiden waren: Gonorrhoe
mit ihren Komplikationen, einfache örtliche Genitalgeschwüre,
weiche Schanker mit Ausgang' in Gangrän und phagedänische serpi-
ginöse Ulceration, Bubonen, venerische Vegetationen nicht-
syphilitischer Natur, ausserdem endlich das ganze Heer pseudo-
syphilitischer Affektionen der Genitalien, des Anus, des Mundes,
der Haut.
Unter diesen Affektionen hat sich die Syphilis nicht nur nicht
nachweisen lassen, sondern es haben sich auch keinerlei Anhalts-
punkte für ihre Existenz ergeben, da beinahe alle die beschriebenen
Affektionen eindeutig als nichts3^philitische gedeutet werden müssen.
Es bleibt nur noch übrig, die Spuren angeblicher ,, Knochen-
syphilis" und „hereditärer" S^'philis bei den Alten zu untersuchen.
Es ist bezeichnend, dass die Anhänger der Lehre von der Altertums-
syphilis trotz eifrigster Nachforschungen nur ein sehr dürftiges Material
dieser Formen zusammengebracht haben, eigentlich nur einen Fall
von „Knochensyphilis" und einen Fall von „Erbsyphilis"! Denn die
sogenannten ödvvai oaxoxojioi bei Galen (De locis affectis II, 8 =
K. VIII, 91, 104) konnten nur unter der Suggestion des „Wortzaubers"
i) Im ersten Teile (oben S. 92 — -93) ist eingehend nachgewiesen worden, dass die
Bezeichnung „Kondylom" für syphilitische Excresceozen erst lange nach Einschleppung
der Syphilis aufkam und von den ältesten Schriftstellern gar nicht verwendet wurde.
— -jbi —
stehende Forscher mit unseren syphihtischen „Dolores osteocopi" ver-
gleichen, da sie die von ganz anderen Dingen handelnde Stelle
gar nicht gelesen hatten und sich durch das blosse Wort ootokötioi
fascinieren Hessen. Die von Archigen es herrührende Stelle lautet
nämlich:
ITovsT 8s 7io?.Xdxig ovrco xal rj EJiKpaveia Ttal oi /nEia^v xfjg aagxog vfisvsg, oi xai
rovg dtaojiöövzag növovg ijiKpsQovai. rovg 8s ojiö rojv jisgl zä ooTsa uiQoaivjisXg svgtjasig,
(bg avrcöv 8oxeIv rcöv doiicov ovzag . . . Sri 8' oi röov nsQixsifisvcov xoTg daroTg vfisvtov
jiövoi ßv&iol t' slalv, Tovz' soziv 8ia ßuOovg zov oco/iiazog sjncpsQOVZEg al'adrjoiv, avzöJv zs
zöjv oozöjv sjiäyovaiv (paviaoiav wg dSv^'Ojfisrcor, ov8iv ■dav/.iaazov. ovofiäl^ovoi yovv
avzovg oazoxojiovg oi nXeioroi, aal yirovxai za tioXXu ^ih> sjil yvftvaoioig, soriv
ozs 8s xal 8ta yv^iv rj nXfjd'og.
Ergänzt wird diese Stelle durch eine bisher übersehene in dem-
selben Kapitel (K. VllI, io8):
'O (lEV ovv EXxd>8r)g növog ovx iv fiövco zw 8sQixazi cpalvszai owiozüfiEvog, a.kXa
xal 8ia zov ßädovg EXZEzajuircog ä)(Qi zcöv öazcjv.
Es handelt sich hier also um die Irradiation von Schmerzen
bei Muskelzerrungen infolge von gymnastischen Uebungen (im
yv/uvaGioiQ), Rheumatismus {did yw^iv) und Neuralgien [diu jihj&og)
und bei Geschwüren der Haut, bei denen, wie deutlich gesagt
wird, der Schmerz oft so intensiv wird, dass er bis zu den Knochen
hin gefühlt wird. Von irgend einer anderen Krankheit ist hier nicht
die Rede.
Wohl aber sei hier noch daran erinnert, dass den Alten der
Begriff „Neuralgie" als spezifische Affektion eines bestimmten sensiblen
Nerven fremd war, sie vielmehr die schmerzhafte Empfindung bei
Neuralgie mit Krankheiten der Gelenke, Knochen oder Muskeln in
Verbindung brachten M.
Aber selbst wenn hier wirkhch von selbstständigen „dolores
osteocopi" die Rede wäre, bewiese das nicht das geringste für
Syphilis, da wir heute wissen, dass diese nichts für Syphilis Charakte-
ristisches sind, sondern auch bei Erkrankungen der blutbilden-
den Organe, bei Typhus, Bleivergiftung und anderen schweren
Erkrankungen vorkommen.
Indem wir die von Rosenbaum (a.a.O.S. 138 — 144) weitläufig
behandelte Stelle bei Dion Chry sostomos (Orat. XXXIII, S. 403 — 4 1 2)
übergehen, wo von dem widerwärtigen „durch die Nase schnarchen"
(Qeyx^iv) a.\s einem Lockrufe der Kinäden so eingehend und deutlich die
Rede ist, dass man wirklich nicht versteht, wie jemand dabei an „Nasen-
i) Vgl. August Hirsch, Handbuch der historisch-geographischen Pathologie, Bd. HI,
S. 355, Stuttgart 1886.
— 763 —
Syphilis" denken kann, wenden wir uns nunmehr zu dem einen und ein-
zigen Fall, den die Anhänger der Lehre von der Altertumss3^philis als
scheinbar stringenden Beweis für die Existenz der tertiären Syphilis
schon in hippokratischer Zeit anzuführen nicht müde werden, so in
neuester Zeit noch Kleinwächter ^).
Es handelt sich um die folgenden Stellen im Corpus hippo-
craticum :
Hippocr. Epidem. IV, 19 = Kühn III, 520: rw jiaiSUo zw <pays8aivco&ivTi
odövrsg 01 vjioxdrcp, xai zcöv ävco xai rwv xdrco 01 ifiTigoa&iov, dvsjiXsor'. syxoi?.ov
si^ov, oazicov &v fisv ix zfjg v ji s q ro t] g ajisQ^sT^ai^, fieotj l'Csi >/ Qi?- lov 8s 01
ävco odovTsg 01 sfiJiQoo'&sv, Jilazsta dxQi],
,,Bei dem Knaben, welcher ein fressendes Geschwür hatte, fielen die unteren
Zähne und die oberen Vorderzähne aus, und er hatte einen hohlen (Kiefer-)Knochen. Bei
denjenigen, bei welchen (ein Knochen) aus dem Gaumen in Verlust kommt, sinkt die Nase
mithin ein, bei denjenigen hingegen, bei welchen die oberen Vorderzähne ausfallen, plattet
sich die Nasenspitze ab."
(Uebersetzung von Robert Fuchs II, 200.)
Hippocr. Epidem. VI, i, 3 = K. III, 583: "Oooig oazsor ojid vjieQMtjg djirjX&e,
zovzioiat f^isot] l'^si >/ Qig. oioiv 8s oOsv 01 686vzsg, äxgtj oi/uovzai.
„Bei denjenigen, bei welchen ein Knochen vom Gaumen abgegangen ist, sinkt die
Nase mitten ein, bei denjenigen hingegen, bei welchen ein Knochen da abgegangen ist, wo
die Zähne (sitzen), plattet sich die Spitze ab."
(Uebersetzung von Robert Fuchs II, 253.)
In dem ersten Falle ist das typische und ganz unverkennbare
Bild eines lupösen Geschwüres des Zahnfleisches geschildert, das
sehr häufig vorkommt 2) und die Zähne zum Ausfallen bringt und so
die geschilderte Veränderung der Physiognomie herbeiführen mag.
Dass Lupus und Tuberkulose sehr wohl eine Perforation des
harten Gaumens herbeiführen können, betont Jadassohn (a. a. O.
u. S. 241) ausdrücklich, ja ein anderer ebenso hervorragender Kenner
der Erkrankungen dieser Teile, Körn er 3), erklärt sogar diese schweren
Veränderungen der Mund- und Rachenhöhle für viel häufiger
tuberkulös als syphilitisch! Es sei auch auf die schon früher (S. 452)
i) Ludwig Kleinwächter, Einige Worte zur Streitfrage über die Herkunft der
Lues. In: Janus, S. 246 — 248, 1905.
2) Vgl. J. Jadassohn, Die Tuberkulose der Haut in Mraceks Handbuch der
Hautkrankheiten, Bd. IV, i, S. 190, Wien 1907.
3) O. Körner, Lehrbuch der Ohrenheilkunde, S. 65, 1906: „Für jeden Arzt, der
folgenschwere diagnostische Irrtümer vermeiden will, ist es nötig, zu wissen, dass die an-
geblich für Lues charakteristischen, weisslichen, strahligen Narben am weichen Gaumen und
an der hinteren Schlundwand, sowie Gaumendefekte und Verwachsungen des weichen
Gaumens mit der hinteren Schlundwand viel häufiger eine Folge von Tuberkulose als
von Lues sind."
Bloch, Der Ursprung der Syphilis. 49
— 764 —
mitgeteilten Aeusserungen von Hutchinson und Lang über die
häufig große Aehnlichkeit der lupösen Defekte der Nase und des
Gaumens mit den syphilitischen Defekten hingewiesen (Sattelnase bei
Lupus). Wir sind um so weniger berechtigt, hier ausschliesslich an
Syphilis zu denken, als die Schilderung des Ausfallens der unteren
Zähne und der Vorderzähne durch das fressende Geschwür typisch
ist für die lupöse Erkrankung dieser Gegend, nicht aber für die
syphilitische. Man wird endhch auch die traumatische Entstehung
eines Gaumendefektes in Betracht ziehen müssen. Da aber sowohl
Perforation des Gaumens als auch Sattelnase bei Lupus bezw.
Tuberkulose gar nicht so selten beobachtet worden ist, da ferner
das an dieser Stelle beschriebene Ausfallen der Zähne viel häufiger
bei Lupus vorkommt als bei der hier selteneren Lokalisation syphi-
litischer Gummata, so können wir mit viel größerem Rechte sagen,
dass die hippokratische Schilderung sich auf Tuberkulose bezieht.
Hier sind wirkHch die Worte des Simon Pistoris^) am Platze: Non
deberes utique Hippocratem, quem recte laudas, tuis facillimis con-
jecturis inquinare.
Was nun zum Schlüsse den einzigen Fall von angeblicher heredi-
tärer Syphilis betrifft, so hat Haeser^) eine Stelle bei Oribasius
(ed. Bussemaker - Daremberg III, 188— 1 8g) in diesem Sinne aufge-
fasst. Sie lautet:
"Ooa dk Tf/7 Jiaiöio) k^avdeZ xaxa xo fiegfia, yivovTai jxsv ra nolXa rij xaxia zov
yd?MXTog' yivszai öe xal t]v avxo [xi] i^ijisy^i]- xa ös Jiov xai a.7iö zcöv vax eqcöv
ijveyxe xrjv ßkdßtjv.
„Die Hautausschläge beim Kinde rühren meistens von der schlechten Beschaffenheit
der Milch her, bisweilen aber auch wenn das Kind diese nicht verdaut, endlich aber bringen
sie auch die Kinder mit auf die Welt."
Es wird hier nichts von einer gleichen Erkrankung der Mutter,
nichts von einer Vererbung gesagt, sondern nur die Thatsache mit-
geteilt, dass die Kinder bei der Geburt mit Ausschlägen behaftet
waren. Vielleicht hat der Verfasser die Erkrankung der Mutter nicht
ausdrücklich erwähnt, weil er diesen Zusammenhang als allgemein
bekannt voraussetzte. Aber selbst wenn es sich um eine Erkrankung
beider Teile handelte, braucht diese doch ganz gewiss nicht syphilitischer
Natur zu sein. Man hat ja Fälle von kongenitalem Pemphigus
bei Neugeborenen mit und ohne Erkrankung der Mutter beob-
achtet (vgl. oben S. 473), ferner Kinder mit Varicellen zur Welt
i) Bei Fuchs, Die ältesten Schriftsteller über die Lustseuche in Deutschland, S. i6o.
2) Haeser, a. a. O. Bd. I, S. 526.
— 765 —
kommen sehen (eben dort), endlich giebt es eine Impetigo neona-
torum, gonorrhoische Exantheme der Neugeborenen u. v. a.
Wenn die Erbsyphilis, dieses gewissem! assen mit Händen zu
greifende Paradigma der Uebertragung einer Krankheit, von den
Eltern aufs Kind im Altertum existiert hätte, dann hätte sie Galen i)
gewiss an jener Stelle genannt, wo er von der Entartung und Schädigung
der Kinder durch eine leichtfertige Zeugung im Alkoholrausch,
nach üppigen Gelagen und anderen Genüssen spricht und dagegen
wettert, daß die Frucht schon bei der Zeugung verdorben wird {Sore
f] juev ägx^] Tfjg oxcogäg ev'dvg ovxco nXrjixixEXrjg).
Aber weder hier noch an irgend einer anderen Stelle in der
antiken Litteratur finden wir eine solche Erwähnung oder einen
sicheren Anhaltspunkt, der geeignet wäre, die Eehre von der Existenz
der Syphilis im Altertume zu stützen. Wer sich das sechste Kapitel
dieses Werkes, die Darstellung der pseudosyphilitischen Krankheiten,
vergegenwärtigt, der wird auch den blossen Verdacht, der in einer
früheren Zeit vielleicht noch einige Bedeutung hatte, fallen lassen
müssen. Die Zeit für leere Hypothesen ist vorüber. Denn auch die
blosse Möglichkeit der Existenz der Syphilis im Altertum lässt sich
vor dem Forum der Wissenschaft und angesichts der Fortschritte in
der historischen und dermatologischen Forschung nicht mehr aufrecht
erhalten, weil sie weder in den medizinischen noch in den ebenso
bedeutsamen kulturgeschichtlichen Thatsachen und Zusammenhängen
eine Begründung findet.
l) Galen, De usu partium XI, 10 = Kühn III, 885—886.
Druck von Ant. Kampfe in Jeua.
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