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Full text of "Der Ursprung der Syphilis : eine medizinische und kulturgeschichtliche Untersuchung"

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^"^^'Ty 


Der 


Ursprung  der  Syphilis 


Eine  medizinische  und  kuHurgeschichtliche 
Untersuchung 


Von 


Dr.  med.  IWAN  BLOCH 


in  Berlin 


Zweite  Abteilung 


Hier  ist  kein  luftiges  Reich  vergäng- 
licher   Vermutungen,    die    Thatsachen 
reden  selbst  in  tausend  Erinnerungen. 
J.  F.  C.  Hecker. 


JENA 

Verlag  von  Gustav  Fischer 
1911 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 


Dem  Andenken 

seines  Verlegers 

des  Herrn  Dr.  Gustav  Fischer  sen, 

in  Verehrung  und  Dankbarkeit 

der  Verfasser. 


Inhaltsverzeichnis  zur  zweiten  Abteilung. 


Vorwort 


Seite 
VII 


Zweites   Buch. 

Kritik  der  Lehre  von  der  Altertumssyphilis. 

Fünftes  Kapitel.  Die  Knochenfunde  aus  prähistorischer  und  präcolumbischer  Zeit     317- 

§    21.      Allgemeine  Vorbemerkungen 

§  22.  Zur  Geschichte  der  Funde  prähistorischer  Knochen  mit  krankhaften 
Veränderungen 

§    23.      Postmortale   Veränderungen  der  Knochen 

§  24.  Ueber  die  Aehnlichkeit  der  krankhaften  Veränderungen  bei  nicht- 
syphilitischen  Knochenleiden  mit  denen  bei   Knochensyphilis  . 

§    25.      Die  wichtigsten   Kennzeichen  der  Syphilis  am  isolierten   Knochen     . 

§    26.      Die  angeblichen   Funde   prähistorischer  syphilitischer   Knochen 

Sechstes  Kapitel.      Die  pseudosyphilitischen   Hautkrankheiten 3C'5- 

§   27.      Allgemeine  Bedeutung  der  pseudosyphilitischen  Affektionen  der  Haut 
§    28.      Die  pseudosyphilitischen  Affektionen  der  männlichen  und  weiblichen 

Geschlechtsteile 

§    29.      Die  pseudosyphilitischen   Affektionen  des   Afters 

§   30.      Die  pseudosyphilitischen  Affektionen    der  Mundhöhle,    des   Rachens 

und  der  Nase 

§   31.      Pseudosyphilitische  Affektionen,   die  zugleich   an   den   Genitalien,   am 

Anus,   in   der  Mundhöhle  und  an  anderen   Körperteilen  auftreten 
§   32.      Pseudosyphilitische   Hautaffektionen   der  Neugeborenen 

Siebentes   Kapitel.      Die  ,, Altertumssyphilis"   im   Orient 475" 

§    33.      Charakter  der  altorientalischen  Medizin 

§   34.      Die   Krankheit  des  Gilgamis  und  die  Uchedu  des  Papyrus  Ebers    . 


J64 


3iy 

323 

326 
332 
339 

-474 
3Ö5 

372 
41(1 

434 

454 
472 

-507 
475 
479 


VI  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

§   35.      Kritische  Analyse  der  „Syphilis"fäile  in   Bibel   und  Talmud    .      .      .  483 

§  36.     Die  indischen  „Giftmädchen" 498 

Achtes   Kapitel       Die  Nichtexistenz  der  Syphilis  im   klassischen   Altertum       .      508 — 765 

§    37'      Wesen  der  antiken    Liebe 508 

§   38.      Die  sexuellen  Phänomene   im   öffentlichen   Leben   der  Alten     .      .     .  513 

§    39.      Prostitution   und   Psychopathia  sexualis 545 

§   40.      Begünstigende    und    hemmende    Faktoren    für    die    Veibreitung    der 

venerischen   Krankheiten   im   Altertum 624 

§   41.      Allgemeine  medizinische  Anschauungen  der  Alten  über  die  venerischen 

Krankheiten 665 

§   42.      Die  antike  Venereologie 708 


Vorwort  zur  zweiten  Abteilung. 


Das  Erscheinen  der  zweiten  Abteilung  dieses  Werkes,  die  an 
Umfang-  die  erste  noch  bedeutend  übertrifft,  hat  sich  zu  meinem 
eignen  grössten  Bedauern  über  Gebühr  verzögert.  Wenn  sogar  das 
„nonum  prematur  in  annum"  dabei  überschritten  worden  ist,  so  muss 
ich  als  Entschuldigung  teils  äussere  Verhältnisse  anführen,  teils  die 
Notwendigkeit,  all  den  neuen  Problemen  und  Fragestellungen  nach- 
zugehen, die  sich  während  der  Ausarbeitung  des  bereits  bei  Erscheinen 
der  ersten  Abteilung  von  mir  zum  grössten  Teile  zasammengetragenen 
Materials^)  aufdrängten  und  besonders  im  achten  Kapitel  zahlreiche 
Excurse  und  Nebenuntersuchungen  erforderten,  die  zur  endgültigen 
Klärung  der  Frage  nach  der  Existenz  der  Syphilis  im  Altertum  un- 
erlässlich  erschienen.  Denn  es  handelt  sich  dabei  nicht  nur  um  eine 
kritische  Prüfung  der  angeblichen  Syphilisschilderungen  in  der  antiken 
Literatur,  sondern  um  eine  Durchdringung  des  ganzen  Geistes  der 
antiken  Medizin  und  ihres  Zusammenhanges  mit  der  Kultur,  aus  dem 
allein  das  Problem  der  „Altertumssyphilis"  richtig  begriffen  und  gelöst 
werden  kann.  Vorbedingung  für  eine  solche  Lösung  ist  die  Lektüre 
der  klassischen  Autoren  im  ganzen  und  die  ständige  Berücksichtigung 
der  neueren  philologischen  und  archäologischen   Forschung. 

Ferner  sah  ich  mich  genötigt,  den  anfänglich  nur  kurz  gedachten 
Abschnitt  über  die  pseudosyphilitischen  Hautkrankheiten  zu 
einer  umfassenden  Darstellung  von  7  Bogen  zu  erweitern,  weil  eine 
solche  Arbeit  noch  niemals  geleistet  worden  ist  und  ihre  ganz  enorme 
Bedeutung  für  die  Frage  der  Altertumssyphilis  mir  von  Tag  zu 
Tag  mehr  einleuchtete.  Ich  stehe  nicht  an,  dieses  sechste 
Kapitel  für  das  allerwichtigste,  für  den  Kern  und  den  Mittel- 
punkt der  ganzen  Kritik  der  Lehre  von  der  Altertums- 
syphilis zu  erklären,  weil  es  der  erste  systematische  Versuch 
einer  Verwertung    aller  Fortschritte   der    modernen  Dermatologie 


i)  Vgl.  die  Vorrede  zu  Teil  I,  S.  X. 


VIII  Vorwort. 

für  die  Lösung  dieses  alten  Problems  ist  und  weil  die  Kenntnis  der 
zahlreichen  und  zum  Teil  häufigen,  in  ihrem  Ensemble  imponierenden 
syphilisähnlichen  Krankheiten  erst  die  wahre  und  exakte  Grund- 
lage für  die  Beurteilung  der  „Syphilis"-Fälle  des  Altertums  liefert, 
die  bisher  völlig  gefehlt  hat.  Denn  es  gab  keine  solche  ein- 
gehende, kritische  und  zusammenhängende  Darstellung  der  pseudo- 
syphilitischen Hautkrankheiten,  die  auch,  wie  ich  glaube,  für  die 
praktische  Dermatologie  einigen  Wert  besitzt. 

Durch  die  umfassende  Darstellung  der  Kapitel  VI  und  VIII  ist 
nicht  nur  die  Herausgabe  dieser  zweiten  Abteilung  zum  Teil  verzögert, 
sondern  auch  ihr  Umfang  derart  vergrössert  worden,  dass  ich  mich 
entschlossen  habe,  noch  eine  dritte  Abteilung  hinzuzufügen,  welche  das 
Mittelalter,  die  dringend  notwendigen  Nachträge,  einen  Index 
graeco-latinus  sowie  das  ausführliche  Namen-  und  Sachregister 
enthalten  wird.  Da  nämlich  die  vorliegende  Abteilung  bogenweise 
und  successive  in  den  Jahren  1902 — 191 1  gedruckt  worden  ist,  so 
dass  vor  allem  im  fünften  Kapitel  (,,Die  Knochenfunde  aus  prä- 
historischer und  präcolumbischer  Zeit")  die  Forschung  nur  bis  zum 
Jahre  1902  berücksichtigt  werden,  und  die  wichtigen  Untersuchungen 
aus  den  letzten  Jahren  (Elliot  Smith,  Tello  u.a.)  dort  noch  keinen 
Platz  finden  konnten,  ebenso  auch  für  den  1901  erschienenen  ersten 
Teil  inzwischen  manches  wertvolle  neue  Material  beigebracht  worden 
ist  —  ich  erinnere  nur  an  Franz  Bolls  ebenso  einfache  wie  ingeniöse 
Aufklärung  über  die  Bedeutung  des  Wortes  „Syphilis"  —  so  werden 
alle  diese  und  viele  andere  Arbeiten  in  den  Nachträgen  eingehende 
Erörterung  finden,  wobei  auch  noch  viele  eigene  Funde  zu  Teil  I 
und  II  mitgeteilt  werden  sollen.  Auch  ist  es  meine  Absicht,  dann 
auf  alle  Kritiken  und  Anregungen  zu  antworten,  die  sich  hoffentlich 
in  reicher  Zahl  an  das  Erscheinen  des  nunmehr  vorliegenden  zweiten 
Teiles  anknüpfen  werden,  der  ja  bereits  die  wesentlichsten  Punkte 
der  Kritik  der  Lehre  von  der  Altertumssyphilis  enthält.  Ich  vertraue 
dabei  auf  eine  objektive  Kritik  und  auf  ein  aus  der  zusammen- 
hängenden Lektüre  des  Ganzen  geschöpftes  Urteil,  wie  sie  erfreu- 
licherweise dem  ersten  Teile  in  der  überwiegenden  Zahl  der  Fälle 
zu  Teil  geworden  sind.  Es  ist  mir  eine  besondere  Genugtuung,  an 
dieser  Stelle  darauf  hinzuweisen,  dass  die  Beweisführung  des  ersten 
Bandes  fast  überall  und  von  den  hervorragendsten  Medizinern  und 
massgebenden  Autoritäten  auf  dem  Gebiete  der  Syphilisforschung 
anerkannt  worden  ist.  Ich  nenne  nur  A.  Bayet,  A.  Blaschko, 
Alfred  Fournier,  Edmund  Lesser,  F.  von  Luschan,  Albert 
Neisser,    d'Arcy    Power,    P.    G.    Unna,    Rudolf    Virchow, 


Vorwort.  IX 

W.  Waldeyer,  die  mir  brieflich  oder  mündlich  oder  in  der  Litteratur 
ihre  volle  Zustimmung  ausgesprochen  haben.  Leider  hat  Virchow, 
dem  der  erste  Teil  gewidmet  war,  das  Erscheinen  des  zweiten  nicht 
mehr  erlebt. 

Am  meisten  erfreute  mich  die  Thatsache,  dass  mein  Buch  die 
Anregung  zu  anderen  wissenschaftlichen  Arbeiten  gegeben  hat,  von 
denen  folgende  namhaft  gemacht  seien:  die  vorzügliche  Rostocker 
Dissertation  (unter  der  Aegide  von  Wolters)  „Ueber  Syphilis  im  Alter- 
tum, speziell  in  China  und  Japan"  (1903)  von  Tokujiro  vSuzuki, 
jetzigem  Generalarzt  der  japanischen  Marine,  ferner  das  Büchlein  von 
Joseph  Pellier  (Oberarzt  der  medizinischen  Klinik  in  Toulouse) 
„Les  origines  de  la  S3'philis"  (Toulouse-Paris  igo8),  endlich  die  grössere 
Abhandlung  von  A.  von  Notthafft  (Privatdozent  an  der  Universität 
München)  „Die  Legende  von  der  Altertumssyphilis"  (Leipzig  1907). 
Da  ich  bereits  im  Jahre  1896  gleichzeitig  mit  den  Untersuchungen 
über  den  amerikanischen  Ursprung  der  S3"philis  und  die  mittelalter- 
lichen Chroniken  auch  diejenigen  über  die  „Altertumssyphilis"  be- 
gonnen und  bei  Erscheinen  des  ersten  Bandes  im  Jahre  1901  zum 
grössten  Teil  abgeschlossen  hatte,  wie  dies  aus  meiner  Erklärung  in 
der  Vorrede  Seite  X  deutlich  hervorgeht  und  sich  bei  dem  einheit- 
lichen Aufbau  des  ganzen  Werkes  von  selbst  versteht,  für  das  schon 
1901  als  Grundlage  28,  den  Inhalt  von  Teil  I,  II  und  dem  noch  in 
Aussicht  stehenden  Teil  III  in  buntem  Durcheinander  enthaltende 
Manuskripthefte  vorlagen,  so  habe  ich  in  demjenigen  Teile  des 
sechsten  Kapitels,  wo  es  sich  um  die  auch  von  v.  Notthafft  vorge- 
nommene Nachprüfung  der  angeblichen  Fälle  von  Altertumss^^philis 
handelt,  absichtlich  nur  meine  Ansichten  und  Ergebnisse  mit- 
geteilt, die  ich  längst  vor  von  Notthafft  gewonnen  hatte,  der  ja 
überhaupt  nur  einen  kleinen  Bruchteil  des  von  mir  in  Teil  II  vor- 
gelegten Materials  bearbeitet  hat.  Da  ausserdem  meine  Forschungs- 
methode eine  gänzlich  andere  ist  (vgl.  oben),  so  wird  der  Leser  sich 
sogleich  überzeugen  können,  dass  meine  Darstellung  etwas  ganz  Neues 
und  Unabhängiges  bietet.  Es  ist  aber  erfreulich,  dass  ein  zweiter 
Dermatologe  bei  Nachprüfung  der  „AltertumssN'philis"  ebenfalls  ihre 
Nichtexistenz  erwiesen  hat  und  nach  Erscheinen  von  Teil  II  wird 
ja  in  den  im  dritten  Teile  zu  erwartenden  Nachträgen  Gelegenheit 
gegeben  sein,  auf  von  Notthaffts  Abhandlung  näher  einzugehen.  Die 
Philologen  und  die  für  das  klassische  Altertum  interessierten  Aerzte 
erlaube  ich  mir  auf  die  folgenden  neuen  Ergebnisse  in  Kapitel  VIII 
hinzuweisen:  Erklärung  des  Terminus  technicus  :rTove7i'  (S.  574),  Er- 
klärung  von    „ficus"  (S.  576  ff.),   Entwickelung   der   Terminologie    der 


X  Vorwort. 

Lepra  (592 — 595),  die  neue  Erklärung  der  'ßijXeia  vovaog  (601 — 610), 
die  Bedeutung-  der  Legionsversetzungen  für  die  Verbreitung  an- 
steckender Krankheiten,  insbesondere  des  Aussatzes  (633 — 635),  die 
Abhandlung  über  das  Mentagra  (639 — 646),  der  Zusammenhang 
zwischen  sexuellen  Excessen  und  Krankheiten  (675  —  679),  die  antike 
Lehre  von  den  ansteckenden  Krankheiten  (684  —  688),  die  Erklärung 
des  Begriffes  dia&eoig  (691- — 692),  die  Entdeckung  der  Prostatafunktion 
durch  Rufus  von   Ephesus  (S.   738 — 739). 

Indem  ich  mich  der  Hoffnung  auf  eine  recht  fruchtbare  und 
die  Wissenschaft  fördernde  Kritik  von  selten  der  Aerzte,  Philologen 
und  Kulturforscher  hingebe  und  das  Erscheinen  der  dritten,  der 
Schlussabteilung-,  für  Mitte  nächsten  Jahres  in  Aussicht  stelle,  möchte 
ich  zum  Schlüsse  allen  denjenigen  meinen  herzlichsten  Dank  sagen, 
die  das  Zustandekommen  dieses  Werkes  mit  Rat  und  That,  direkt 
und  indirekt  gefördert  haben.  Li  erster  Linie  ist  hier  der  Verleger 
des  Buches,  Herr  Dr.  Gustav  Eischer  jun.  zu  nennen.  Ihm  und 
seinem  zu  früh  dahingeschiedenen  Herrn  Vater,  dem  um  das  medi- 
zinische und  naturwissenschaftliche  Schrifttum  so  hochverdienten 
Dr.  Gustav  Eischer  sen.  sei  inniger  Dank  g"esagt  für  ihr  immer 
wieder  bewiesenes  Wohlwollen  und  Entgegenkommen,  die  ich  bei 
der  langen  Verzögerung  der  Herausgabe  doppelt  angenehm  empfunden 
habe.  Eerner  habe  ich  der  Königl.  Gesellschaft  der  Wissen- 
schaften zu  Göttingen  und  dem  Curatorium  der  Puschmann- 
stiftung  an  der  Universität  Leipzig  an  dieser  Stelle  aufrichtigen 
Dank  abzustatten  für  die  Bewilligung  namhafter  Unterstützungen  zur 
Vollendung  dieses  Werkes,  das  ja  nicht  bloss  eine  rein  geschichtliche 
Untersuchung  darstellt,  sondern  auch  der  Förderung  der  Krankheits- 
und Seuchenlehre  dienen  will,  wie  das  am  Schlüsse  der  Vorrede  zur 
ersten  Abteilung  ausgesprochen  wairde.  Endlich  ist  es  mir  eine  an- 
genehme Pflicht,  allen  denjenigen  Forschern  und  Freunden  hier  öffent- 
lich zu  danken,  die  durch  lehrreiche  Demonstrationen  von  pathologisch 
veränderten  Knochen,  durch  Hinweisungen  und  Mitteilungen  medi- 
zinischer, litterarischer  und  philologisch-kritischer  Natur  dieses  Werk 
gefördert  haben.  Es  sind  das  die  Herren  Dr.  A.  S.  Ashmead  in  New 
York,  Prof,  A.  Bayet  in  Brüssel,  Prof.  Gustav  Behrcnd  in  Berlin, 
Prof.  C.  Binz  in  Bonn,  Prof.  A.  Blaschko  in  Berlin,  Prof.  Franz 
Boas  in  New  York,  Prof.  Franz  Boll  in  Heidelberg,  Prof.  H.  Cursch- 
mann  (f)  in  Leipzig,  Dr.  Erich  Ebstein  in  Leipzig,  Prof.  W.  Ebstein 
in  Göttingen,  Dr.  E.  Fonahn  in  Kristiania,  Prof.  Alfred  Fournier 
und  Dr.  Edmond  Fournier  in  Paris,  Prof.  W.  His  sen.  (f)  in  Leipzig, 
Prof.    Edwin    Klebs    in    Berlin,    Dr.    Gerhard    Kropatscheck    in 


Vorwort.  XI 

Frankfurt  a.  Main,  Prof.  Robert  Lehmann-Nitsche  in  I.,a  Plata, 
Dr.  Nicolas  Leon  in  Mexico,  Prof.  Lortet  in  Lyon,  Prof.  Felix 
von  Luschan  in  Berlin  (Museum  für  Völkerkunde),  Prof.  A.  Maca- 
1  ister  in  Cambridge,  Prof.  E.  Manouvrier  in  Paris,  Prof.  Felix 
Marchand  in  Leipzig-,  Dr.  Ciaren  ce  B.  Moore  in  Philadelphia, 
Prof.  Albert  Neisser  in  Breslau,  Prof.  Hermann  Oncken  in 
Heidelberg,  Dr.  H.  T.  Orton  in  Philadelphia,  A.  Otten  in  Lima, 
Prof.  Julius  Pagel  in  Berlin,  Dr.  Ricardo  Palma  jun.  in  Lima, 
Dr.  M.  Eden  Paul  in  Parkestone  (Dorset),  Prof.  Edmond  Perrier 
in  Paris  (Jardin  des  Plantes),  Dr.  W.  Pflug"  in  Berlin,  Dr.  d'Arcy 
Power  in  London,  Dr.  Julius  Preuss  in  Berlin,  Dr.  Charles 
FL  Reade  in  London  (British  Museum),  Dr.  Paul  Richter  in  Berlin, 
Prof.  W.  H.  Röscher  in  Dresden,  Dr.  Ernst  Rothschuh  in  Aachen, 
Dr.  M.  A.  R  uff  er  in  Alexandria,  Prof.  B.  Scheube  in  Grei;^, 
Dr.  W.  Schonack  in  Berlin,  Prof.  Eduard  Seier  in  Berlin  (Museum 
für  Völkerkunde),  Prof.  Georg  Sticker  in  Bonn,  Prof.  Otto  Stoll 
in  Zürich,  Prof.  Karl  Sudhoff  in  Leipzig,  Dr.  Julio  C.  Tello  in 
Lima,  Dr.  Armin  Tille  in  Leipzig,  Prof.  P.  G.  Unna  in  Hamburg, 
Prof.  M.  Verworn  in  Bonn.  Dankbar  gedenke  ich  auch  der  viel- 
fachen Anregungen,  die  mir  aus  den  Diskussionen  über  lueine  beiden 
Vorträge  ,,Der  Ursprung  der  S3'philis"  (auf  dem  14.  Liternationalen 
Amerikanisten  -  Kongress  in  Stuttgart,  4.  August  1904)  und  „La 
pretendue  syphilis  prehistorique"  (in  der  Societe  d' Anthropologie  de 
Paris,    19.  April    190Ö)  zu  Teil  geworden  sind. 

Berlin-Charlottenburg,  den   24.  März    191  i. 

Der  Verfasser. 


Zw^eites  Buch. 


Kritik  der  Lehre  von  der 
Altertumssyphilis. 


Bloch,  Per  T^i-sprung  der  Syphilis.  21 


FÜNFTES  KAPITEL. 


Die  Knochenfunde   aus   prähistorischer  und   präcolum- 

bischer')  Zeit. 


§  2  1.    Allgemeine  Vorbemerkungen. 

Die  zuerst  vor  25  Jahren  (1877)  von  dem  französischen  Arzte 
Parrot  angeregte  Idee,  die  prähistorischen  und  präcohmibischen 
Funde  krankhaft  veränderter  Knochen  für  die  Frage  nach  dem  Alter 
der  Syphihs  zu  verwerten ,  war  an  sich  eine  sehr  glückhche.  Wir 
wissen,  dass  die  Syphihs  besonders  im  tertiären  Stadium,  und  vor 
allem  bei  ungenügender  oder  gar  keiner  Behandlung,  das  Knochen- 
system in  Mitleidenschaft  zieht  und  verschiedenartig"e  patholo- 
gische Veränderungen  an  demselben  hervorbringt.  Da  nun  die 
Knochen  die  einzigen  Teile  des  menschlichen  Körpers  sind,  welche 
nach  dem  Tode  unter  günstigen  Umständen,  die  Unbilden  der  Zeit  \-/CTyut^ 
überdauernd,  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt  sich  erhalten  können  — 
weshalb  ihnen  auch  von  jeher  primitive  Völker  eine  Art  von  gött- 
licher Verehrung  zollten  2)  —  so  lag  es  nahe,  diese  stummen,  aber 
unter  Umständen  untrüglichen  Zeugen  für  den  Nachweis  der  Existenz 
der  Syphilis  in  prähistorischen  und  präcolumbischen  Zeiten  zu  ver- 
werten. 

In  der  That  würde  ein  einziges  im  Bereiche  der  alten  Welt  ge- 
fundenes Skelett,    das    mit    Bestimmtheit    der    Zeit    vor   1493  zuge- 


i)  Unter  präcolumbischcr  Zeit  ist  hier  die  Zeit  vor  der  Entdeckung  Amerikas  durch 
Cokimbus  ganz  allgemein  verstanden.  Der  Ausdruck  bezieht  sich  daher  als  reines  Zeitmass 
auch  auf  die  alte  Welt. 

2)  „Die  Verbindung  des  Lebens  mit  den  Knochen",  sagt  Bastian,  „ist  eine  viel- 
fach wiederkehrende,  imd  zeigt  sich  als  natürliche  Folge  der  mechanischen  Anschauung,  die 
beim  Tode  die  Seele  gespenstisch  fortleben  lässt  und  in  ihrer  Verknüpfung  mit  dem  am 
längsten  der  Zerstörung  widerstehenden  Teil  des  Körpers  die  weit  verbreitete  Verehrung 
der  Reliquien  im  Ahnenkultus  hervorgerufen  hat."  Verhandlungen  der  Berliner  Anthropo- 
ogischen  Gesellschaft   18;  i,  Bd.  III,  S.   59. 

21* 


—      3  T  '"^      — 

wiesen  werden  könnte  und  unzweifelhafte  Spuren  syphilitischer 
Erkrankung  an  sich  trüge,  mit  einem  Schlage  der  ganzen  Diskussion 
über  Alter  und  Ursprung  der  Lustseuche  ein  Ende  machen.  Und 
es  war  nach  den  Behauptungen  der  Anhänger  der  Theorie  der 
Existenz  der  Syphilis  im  Altertum  zu  erwarten ,  dass  nicht  nur 
wenige,  sondern  zahlreiche  mit  S3'phili tischen  Veränderungen  behaftete 
Knochen  in  der  alten  Welt  gefunden  werden  würden.  Welch  eine 
Menge  solchen  Beweismateriales  müssten  nicht  die  kolossale  Unzucht 
des  kaiserlichen  Rom,  die  Ausschweifungen  des  Mittelalters  geliefert 
haben ,  da  die  nach  der  Meinung  jener  Forscher  damals  existierende 
Syphilis  in  ihrem  Wesen  nicht  erkannt  und  vor  allem  nicht  rationell 
behandelt  wurde,  und  da  ja  auch  die  schwersten  Knochenaffek- 
tionen an  Xase  und  Gaumen  infolgedessen  von  den  Vertretern  dieser 
Theorie  angenommen  und  g'eschildert  wurden! 

Wie  steht  es  in  Wirklichkeit?  Die  seit  hundert  Jahren  eifrig  be- 
triebenen Ausgrabungen  haben  Tausende  von  menschlichen  Skeletten 
aus  den  verschiedensten  Gegenden  der  alten  Welt  und  aus  allen 
Epochen  vor  1493  zu  Tage  gefördert,  das  antike  Pompeji,  das  mittel- 
alterliche Paris,  also  Stätten,  an  denen  die  Syphilis  sicher  enorm  ver- 
breitet gewesen  sein  musste,  falls  sie  dagewesen  wäre,  haben  zahl- 
reiche Knochen  ihrer  menschlichen  Bewohner  g'eliefert.  In  den 
Museen,  anatomischen  Sammlungen,  Naturalienkabinetten  sind  ganze 
Geschlechter  der  Urzeit,  des  Altertums  und  Mittelalters  versammelt, 
ja  man  darf  sagen  wieder  auferstanden.  Und  unter  diesen  Tausenden 
und  Abertausenden  von  Ueberresten  des  menschlichen  Skeletts  sind 
es  nur  einige  wenige,  die  einigen  Forschern  den  Verdacht  auf 
S3'philis  erweckt  haben.  Ganz  abgesehen  davon ,  dass  auch  dieser 
Verdacht  bei  der  weiter  unten  erfolgenden  näheren  Prüfung  sich 
nicht  aufrecht  erhalten  lässt ,  ist  es  doch  gewiss  sehr  auffällig,  dass 
ein  derartiges  Missverhältnis  besteht,  das  dadurch  noch  drastischer  zu 
Tage  tritt,  wenn  wir  sehen,  dass  die  meisten  angeblich  syphilitischen 
Knochen  aus  der  sogenannten  „prähistorischen"  Zeit  stammen,  während 
Altertum  und  Mittelalter  so  gut  wie  gar  nicht  vertreten  sind. 
Virchow  hat  wiederholt  erklärt,  dass  ihm  niemals  ein  präcolum- 
bischer  bezw.  prähistorischer  Knochen  aus  der  alten  Welt  bekannt 
geworden  sei,  und  es  ist  ganz  sicher,  dass  weder  die  englischen  noch 
die  deutschen  Sammlungen  und  Museen  solche  Knochen  enthalten. 
Dies  wirft  schon  ein  bezeichnendes  Licht  auf  die  angeblichen  Funde 
syphilitischer  Knochen  in  Frankreich. 

Es  ist  daher  begreiflich ,  dass  mehrere  Forscher ,  wie  z.  B. 
Isidor    Xeumann,    auf    die    Heranziehung    dieses    Argumentes    für 


—     319     — 

den  Beweis  der  Existenz  der  Syphilis  im  Altertum  gänzlich  ver- 
zichtet haben.  Selbst  Proksch  hat  wenig  Gewicht  auf  dasselbe  ge- 
legt, da  er  den  Knochenfunden  nur  eine  ganz  kurze  Besprechung^), 
wesentlich  in  Anlehnung  an  die  Schrift  von  Buret,  widmet.  Da 
aber  eine  eigentliche  kritische  Untersuchung  der  ganzen  Frage  von 
anderer  Seite  bisher  nicht  vorgenommen  wurde,  so  halte  ich  eine 
ausführlichere  Erörterung  aller  hier  in  Betracht  kommenden  Punkte 
für  erforderlich  und  beginne  mit  einem  historischen  Ueberblick  über 
die  ersten  Bestrebungen ,  die  Funde  prähistorischer  pathologischer 
Knochen  für  die  Geschichte  der  Krankheiten  der  Vorzeit  zu  ver- 
werten. 

'^  2  2.    Zur  Gescliielite  der  Funde  prähistorischer  Knochen  mit 
krankhaften  Veränderungen. 

Schon  die  Alten  richteten  ihr  Augenmerk  auf  fossile  Knochen, 
wie  aus  einer  Bemerkung  des  Theophrast  bei  Plinius  (Xat.  hist. 
XXXVI  c.  i8)  hervorgeht-).  Im  Talmud  findet  sich  sogar  die  über- 
raschende Angabe,  dass  man  an  den  Knochen  die  Lebensweise  ihres 
Trägers  erkennen  könne.  ^)  Das  Mittelalter  scheint  keinerlei  Inte- 
resse an  den  in  der  P>de  gefundenen  Knochenresten  von  Menschen 
und  Tieren  gehabt  zu  haben.  Erst  im  i6.  Jahrhundert  regte  sich 
dasselbe  wieder. 

Felix  Plater  beschäftigte  sich  mit  den  Gebeinen  eines  ig  jährigen' 
„Riesen",  die  aber  nichts  weiter  als  Knochen  eines  fossilen  —  Elephanten 
waren  ^).  Auch  J.  J.  Scheuchzer's  (1672 — 1733)  berühmter  „Homo 
diluvii  testis"  war  leider  ein  Riesensalamanderskelett  ^),  so  dass  noch 
1788  Petrus  Camper  an  dem  wirklichen  Vorhandensein  fossiler 
Menschenknochen  zweifelte ''). 


i)  J.  K.  Pioksch,  „Geschichte  der  venerischen  Krankheiten",  Bonn  1895,  Bd.  I, 
S.  1-7. 

2)  Vergl.  G.  R.  Treviranus,  „Biologie  oder  Philosophie  der  lebenden  Xatur'', 
Göttingen   1805,  Bd.  III,  S.    12t. 

3)  Der  Totengräber  Abba  Saul  behauptet:  ,,Wer  bei  Lebzeiten  ungemischten  AVein 
getrunken  hatte,  dessen  Gebeine  sehen  verbrannt  aus,  hatte  er  den  Wein  zu  staik  ge- 
wässert, so  waren  sie  schwarz  (oder  fettlos,  trocken),  bei  richtiger  Mischung  von  Wein  und 
AVasser  waren  sie  fettig.  Bei  jedem,  der  mehr  trinkt,  als  er  isst,  sind  die  Gebeine  ver- 
brannt, beim  Ueberwiegen  des  Essens  fettlos,  bei  richtigem  Verhältnis  fettig  (Xidd.  24  a)." 
Vergl.  J.  Preuss,  „Materialien  zur  Geschichte  der  talmudischen  Medizin.  Der  Tote  und 
seine  Bestattung."     S.-A.  aus   ,.Allg.  Med.  Central-Zeitung"    1902,  Nr.   25  ff.,  S.   14. 

4)  Vergl.   Treviranus  a.  a.   O.,   III,   S.    166. 

5)  J.   Ranke,   ,, Diluvium  und  Urmensch",   Leipzig  o.  J.,  S.   5. 

6)  ,,Numquam  enim  hucusque,  nee  in  ullo  museo,  videre  mihi  contigit  verum  os  hu- 
manum  petrefactum  aut  fossile."     Nov.  Act.  Petropol.    1788,  T.  II,  p.   251. 


—       320       — 

Der  Erste,  welcher  einen  krankhaft  veränderten  Knochen  aus 
prähistorischer  Zeit  erwähnt,  ist  wohl  E.  J.  C.  Esper  (1742—1810), 
Professor  in  Erlangen,  der  1774  die  traumatischen  Veränderungen 
des  Femur  eines  diluvialen  Säugetieres  beschrieb,  die  nach  seiner 
Ansicht  durch  eine  P'raktur  hervorgerufen  waren  ^),  während  S.  Th. 
V.  Soemmering  das  Trauma  einem  Bisse  zuschrieb'-). 

Soemmering  beschäftigte  sich  in  einer  längeren  Abhandlung 
mit  der  g"eheilten  A^erletzung  eines  fossilen  Hvänenschädels'^),  des- 
selben, den  schon  vorher  Cuvier  erwähnt  hatte ^). 

Als  der  eigentliche  Entdecker  der  prähistorischen  Knochen- 
krankheiten, als  der  Erste,  welcher  auf  die  eminente  Bedeutung  der- 
selben für  eine  Urgeschichte  der  Krankheiten  hingewiesen  hat,  ist 
der  berühmte  Chirurg  Ph.  Er.  v.  Walther  zu  nennen. 

Der  Naturforscher  Sack  hatte  im  Jahre  1824  in  den  Sund- 
wichs-Höhlen bei  Iserlohn  zahlreiche  Knochen  des  Höhlenbären  (Ursus 
spelaeus)  gefunden,  unter  denen  sich  auch  solche  mit  krankhaften 
Veränderungen  befanden.  Letztere,  auf  die  auch  Xöggerath  auf- 
merksam machte^),  wurden  dann  v.  Walther  zur  genaueren  Unter- 
suchung übergeben.  Die  Resultate  derselben  hat  v.  Walther 
in  einer  klassischen,  form\-ollendeten,  noch  heute  bemerkenswerten 
Abhandlung  veröffentlicht'').  Die  pathologischen  Veränderung'en  der 
einzelnen  Knochen  waren  sehr  verschiedenartige.  U.  a.  konstatierte 
V.  Walther:  Nekrose  eines  Oberschenkels,  Ankylose  der  Rücken- 
wirbel, Caries  eines  Unterkiefers,  Verdickung  des  Processus  alveo- 
laris  des  Unterkiefers  mit  rauher  cariöser  Oberfläche  und  mit 
stacheligem  Ansatz  von  neugebildeter  Knochenmasse,  Caries  eines 
Lendenwirbels,  einer  Rippe.  An  einem  Unterkiefer  war  die  Spitze 
des  Kinns  sehr  verdickt,  mit  schwammiger,  schuppiger  Knochen- 
masse äusserlich  besetzt,  in  welche  zahllose  kleine  Kanäle  eindrangen; 


i)  E.  J.  C.  Esper,  ,, Ausführliche  Schriften  von  neuen tdecklen  Zoolithen  unbekannter 
vierfüssiger  Tiere",  Nürnberg   1774,  S.   74. 

2)  S.  Th.  V.  So  m  nie  ring,  ,,Ueber  die  geheilte  Verletzung  eines  fossilen  Hyänen- 
schädels", in :  Verhandlungen  iler  Kais.  Leopold. -Carolin.  Akademie  der  Naturforscher, 
Bonn   1828,  Bd.  VI,  Abteil,    i,  S.  9. 

3)  Ibidem,  S.  3—44. 

4)  G.  Cuvier,   „Recherches  sur  les  ossemens  fossiles",  Paris  1823,  Bd.  IV,  S.  39(1. 

5)  Nüggerath  in:  Kastner's  „Archiv  für  die  gesamte  Naturlehre",  Bd.  II, 
Heft  3,  Nürnberg  1824,  S.  323:  ,, Meines  Wissens  ist  man  bis  jetzt  noch  nie  auf  der- 
gleichen krankhafte  Zustände  der  urweltlichen   Knochen  aufmerksam  gewesen." 

6)  Ph.  Fr.  von  Walther,  ,,Ueber  das  Altertum  der  Knochen-Krankheiten"  in: 
,, Journal  der  Chirurgie  und  Augenheilkunde"  von  C.  F.  Gräfe  und  Ph.  v.  Walther» 
Berlin   1825,  Bd.  VIII,  S.    i  — 16. 


ein  Radius  war  mit  einem  g'aiizen  Riffe  von  Exostosen  und  stache- 
ligen Prominenzen  besetzt,  seine  Rindensubstanz  war  sehr  dünn  und 
die  spongiöse  Substanz  von  derselben  Beschaffenheit,  wie  man  sie  an 
arthritischen  Knochen  antrifft.  Aehnliche  Veränderungen  wies  ein 
Halswirbel  auf.  v.  Walther  verglich  diese  beiden  Knochen  mit 
sogenannten  arthritischen  ]\[enschenknochen  sehr  sorgfältig  und  fand 
eine  auffallende  Uebereinstimmung'. 

„Also  schon  die  Höhlenbären",  sagt  er,  „litten  an  Knochen- 
krankheiten, sie  litten  am  Beinfrass,  am  Knochenbrand,  an  Zahn- 
krankheiten, welche  mit  Caries  des  Processus  alveolaris  endeten,  an 
Gelenkübeln,  welche  Ankylose  etc.  zur  P'olge  hatten"  ^).  Er  führt  die 
meisten  Befunde  auf  äussere  g'ewaltsame  Verletzungen  und  die  kon- 
sekutiven „höchst  langwierigen  organisch-vitalen  Reaktionen"  zurück. 
Diese  mechanischen  Verletzungen  können  zur  Entstehung  der  Nekrose, 
der  Caries,  der  Exostosen  etc.  Veranlassung  geben.  „Auch  heute  zu 
Tag'e  sehen  wir  nicht  selten  bei  Menschen,  welche  übrigens  gesund  sind 
und  an  keiner  konstitutionellen  Krankheit  leiden,  Xekrose  der  lang-en 
Röhrenknochen  von  ganz  übereinstimmender  Form  aus  dergleichen 
Ursachen  entstehen"  -).  Die  Caries  der  AVirbelsäule  kann  nach 
V.  Walther  auch  durch  mechanische  Ursachen  entstehen,  ist  aber 
meist  das  Produkt  innerer  konstitutioneller  Krankheitsursachen^). 

Sehr  wichtig  ist  auch  v.  Walther 's  Hinweis  auf  die 
Arthritis  der  Höhlenbären,  die  nach  ihm  mit  Sicherheit  aus  der 
„äusserst  dünnen  Rinde,  der  porösen,  spongiösen  Substanz  und  der 
ungemein  grossen  Fragilität"  der  Knochen  zu  erschliessen  ist^).  Die 
Richtigkeit  dieser  Beobachtungen  hat  später  \^irchow  durch  seine 
Aufstellung  des  Krankheitst3^pus  der  „Höhlen gi cht"  bestätigt. 

v.  Walther  zog'  aus  seinen  scharfsinnigen  Untersuchungen 
bereits  beachtenswerfe  Schlussfolgerungen  für  die  Beurteilung  patho- 
logischer Knochen  der  \"orzeit.  Er  betrachtet  es  als  sicher,  dass  die 
Nekrose,  Caries,  Exostose,  Arthritis  jener  prähistorischen  Knochen 
in  Beziehung  auf  Pathogenese  und  Symptomatologie  völlig  den 
durch  dieselben  Ursachen  hervorgerufenen  krankhaften  Prozessen 
an  den  Knochen  unserer  Zeit  entsprechen  und  gleichen.  Diese  Ueber- 
einstimmung der  Form  gewährt,  abgesehen  \'on  ihrer  Ueberzeugungs- 
kraft,  dem  „unterrichteten  Schauer  sogar  ein  gewisses  ästhetisches 
Vergnügen",    welches    er    in    die    schönen   Worte   kleidet:    „Nicht  nur 


i)  A.  a.  O.,  S.  6. 

2)  A.  a.  O.,  S.   9. 

3)  A.  a.  O.,  S.    II. 

4)  A.  a.  O.,  S.    II. 


—       322        — 

die  Individuen  vergehen  und  unterliegen  dem  allgewaltigen  Wechsel 
der  Dinge;  ganze  Tiergeschlechter  sterben  aus:  —  aber  die  Form 
ihrer  Krankheiten  ist  ewig,  so  wie  jene  ihrer  äusseren  Gestalt"  ^). 

Da  Knochenkrankheiten  fast  immer  mit  Krankheiten  der  Weich- 
teile verbunden  sind,  so  lassen  sich  nach  v.  Walther  aus  jenen 
Schlüsse  auf  diese  ziehen  und  es  ergiebt  sich  von  diesem  Stand- 
punkte aus  eine  „grauenerregende  Ansicht  auf  das  hohe  Altertum 
der  Krankheit  selbst".  Diese  sei  wohl  ebenso  alt,  oder  nicht  viel 
jünger  als  das  Menschengeschlecht-). 

Nach  V.  Walther  beschrieben  H.  v.  Meyer  (1826),  S.  Nilsson 
(1848),  Figuier  (1870),  Prunieres  (1876)  krankhafte  Veränderungen 
an  vorgeschichtlichen  Knochen,  die  meist  traumatischen  Ursprungs 
waren,  durch  Fraktur  oder  Pfeilschuss  oder  Biss  hervorgerufen.  In 
einem  Grabe  aus  der  Steinzeit  bei  L'Aumede  fand  Prunieres  ein 
ankylotisches  Talo-Cruralgelenk  mit  ausgeheilter  chronisch-eitriger 
Entzündung  und  Nekrose  am  unteren  Ende  der  Tibia ;  offenbar  handelt 
es  sich  um  einen  Fall  von  Gelenktuberkulose  ^). 


1)  A.  a.  o.,  S.  16. 

2)  A.  a.  O.,  S.  8.  —  Sehr  bemerkenswert  ist  der  Skeptizismus,  mit  welchem  ein 
so  geistreicher  Autor  wie  Quitzmann  die  Ideen  v.  Walther 's  betrachtete.  Zunächst 
zwar  meint  er  auch,  dass  die  ^Menschen  der  Vorzeit  dieselben  gewesen  seien  wie  heute  (was 
nach  den  neuesten  Ergebnissen  der  Forschung  über  die  sogenannte  ,,Neanderthalrasse" 
sicher  unrichtig  ist).  Er  sagt:  ,, Wollte  man  selbst  ein  Gewicht  auf  die  Belehrung  legen, 
welche  die  Universal-Anthropologie  zu  ziehen  vermöchte  aus  den  Katakomben  von  Rom 
und  Paris,  aus  dem  nächtlichen  Aufenthalte  jahrtausendalter  Mumien,  aus  den  Eingeweiden 
der  mütlerlichen  Erde,  wo  am  Granikus  und  Indus,  in  den  katalaunischen  Gefilden  und  an 
der  unteren  Donau  ganze  Generationen  vermodert  sind ;  welche  Schlusssätze  könnte  der  Em- 
piriker daraus  ibigern,  dass  er  den  einen  Schädel  dicker  als  den  andern,  die  eine  Zahnkrone 
breiter  als  die  andere,  eine  Knochenröhre  länger,  die  andere  kantiger  vorfindet  ?"  Mit  Be- 
ziehung auf  V.  Walther 's  Untersuchungen  bemerkt  er  aber:  „Dass  man  auch  aus  den 
stummen  Ueberresten  des  Todes  redende  Zeugen  für  die  Verhältnisse  früherer  Jahrtausende 
machen  könne,  haben  geistreiche  Forscher  bewiesen;  doch  werden  all'  diese  Ueberbleibsel 
aus  den  Saikophagen,  wie  die  Ueberliefenmgen  aus  dem  Leben,  die  Zustände  der  Vorzeit 
nur  ahnen  lassen."  Deshalb  kann  nach  ihm  die  wahre  Empirie  auf  diese  Dinge  verzichten. 
,,Sie  forscht  nicht  mehr  nach  antediluvianischen  Menschenknochen,  um  sie  mit  den  Gerippen 
späterer  Jahrhunderte  zu  vergleichen,  oder  stört  die  Grabesrulie  untergegangener  Länder,  um 
die  Zeugen  des  Todes  reden  zu  machen,  wie  es  am  Ende  ihr  beliebt.  Nein !  sie  geht  hin- 
weg über  diesen  Schutt  der  Verwesung  und  greift  grossartig  mitten  ins  Leben  selbst  hinein, 
um  über  das  Leben  Aufschluss  zu  erhalten."  E.  A.  Quitzmann,  „Die  Geschichte  der 
Medizin  in  ihrem  gegenwärtigen  Zustande",  Karlsruhe   1843,  Abteil.   2,  S.   5  —  6  und  S.  16. 

3)  Vergl.  Xehring,  ,,Ueber  die  letzten  Aasgrabungen  bei  Thiede,  namentlich  über 
einen  verwundeten  und  verheilten  Knochen  vom  Riesenhirsch",  Verband!,  der  Berl.  Anthro- 
pologischen Gesellsch.  1882,  Bd.  XIV,  S.  177  —  180  und  Diskussion,  S.  416 — 419;  Pru- 
nieres im   „Bulletin  de  la  Societe  d'Anthropologie  de  Paris    1876,  S,    155. 


—      323      — 

Endlich  hat  Virchow  den  pathologischen  Knochen  der  Vorzeit 
zahlreiche  wertvolle  Untersuchungen  gewidmet,  in  denen  er  das  A^or- 
kommen  von  Caries,  Nekrose,  Arthritis  deformans  (entsprechend  der 
„Arthritis  cavernarum"  des  Höhlenbären),  Exostosen,  H_yperostosen 
u.  s.  w.  an  denselben  nachwies,  ohne  jemals  bei  seinen  un- 
zähligen Untersuchungen  bisher  auf  einen  syphilitischen 
Knochen  aus  präcolumbischer  Zeit  zu  stossen.  Virchow, 
der  die  meisten  Museen  der  alten  Welt  durchforscht  hat,  dem  wohl 
kein  Eund  dieser  Art  in  Deutschland  und  den  angrenzenden  Ländern 
unbekannt  geblieben  ist,  hat  noch  bis  heute  keine  krankhafte  Ver- 
änderung an  einem  Knochen  aus  der  Vorzeit,  dem  Altertum  und 
Mittelalter  wahrgenommen,  die  er  als  syphilitisch  hätte  deuten  können. 
Weiter  unten  werden  seine  Untersuchungsbefunde  und  Urteile  über 
angeblich  syphilitische  Knochen  ausführlich  mitgeteilt  werden  ^}. 

Auch  Tillmanns-)  und  Lehmann-Xitsche''),  welche  ebenfalls 
dieses  (jebiet  bearbeiteten,  haben  keinerlei  Spuren  von  Syphilis  an  den 
von  ihnen  beschriebenen  krankhaften  Knochen  gefunden. 

Im  Gegensatze  zu  den  genannten  angesehenen  Anthropologen 
und  Pathologen  haben  einige  französische  Forscher  syphilitische  Ver- 
änderungen an  prähistorischen  Knochen  feststellen  zu  können  geglaubt. 
Sie  waren  dabei,  besonders  in  differential-diagnostischer  Beziehung, 
mit  wenig  Kritik  zu  Werke  gegangen.  Klarheit  und  Gewissheit  kann 
auf  diesem  Gebiete  nur  gewonnen  werden,  wenn  man  stets  alle  Eehler- 
quellen  vor  Aug'en  hat,  die  hier  in  Betracht  kommen  können.  Wir 
müssen  also,  um  über  jene  Funde  richtig  urteilen  zu  können,  diese 
Fehlerquellen  genau  untersuchen. 

Sehr  bedeutungsvoll  sind  zunächst  gewisse 

§  23.    Postmortale  Veränderungeii  der  Knochen. 

Die  Frage,  welche  Veränderungen  die  Knochen  bei  langer 
Lagerung  im  Erdboden  erleiden,  ist  auch  für  unser  Thema  nicht  un- 
wichtig, wobei  die  rein  mechanischen  Alterationen  von  grösserer 
Bedeutung  sind  als  die  chemischen. 


i)  Bezüglich  der  zahlreichen  Arbeiten  Virchow's  über  prähistorische  pathologische 
Knochen  sei  auf  J.  Schwalbe's  „Virchow-Bibliographie",  Berlin  1901,  verwiesen,  welche 
die  gesamte  Litteratur  bis  1901  enthält,  ferner  auf  R.  Lehmann-Nitsche,  „Beiträge  zur 
prähistorischen  Chirurgie  nach  Funden  aus  deutscher  Vorzeit",  Buenos  Aires   1898. 

2)  H.  Till  man  ns,  „Ueber  prähistorische  Chirurgie"  in:  v.  La  n  gen  b  eck 's  Archiv, 
Bd.  XXVIII,  S,  775  —  800. 

3)  A.  a.  O.  und  „Ein  Beitrag  zur  prähistorischen  Chirurgie"  in:  Archiv  für  klin. 
Chirurgie,   Bd.   LI,   Heft  4. 


—     324     — 

Nur  kurz  sei  in  Beziehung  auf  die  letzteren^)  bemerkt,  dass  durch 
den  Einfluss  der  Atmosphärilien  alhnählich  die  org-anische  Substanz 
des  Knochens  zerstört  wird,  was  eine  starke  Zunahme  der  Porosität 
des  Knochens  zur  Folge  hat.  Von  den  anorganischen  Substanzen 
wird  besonders  der  kohlensaure  Kalk  durch  die  kohlensäurehaltige 
Bodenflüssigkeit  zersetzt  und  aufgelöst.  Auch  der  phosphorsaure 
Kalk  unterliegt  gewissen  Veränderungen,  welche  bisweilen  bei  Gehalt 
des  Erdbodens  an  Schwefelsäure  durch  Umsetzung  von  Thonerde- 
sulfaten  mit  dem  phosphorsauren  Kalk  zu  wahren  Versteinerungspro- 
zessen führen,  wie  diese  besonders  oft  bei  fossilen  Knochen  beobachtet 
werden  -).  Bisweilen  wird  auch  die  Bildung  von  Vivianitkrystallen 
in  menschlichen  Knochen  beobachtet.  Die  in  Pfahlbauten  gefundenen 
Zähne  sind  oft  durch  Vivianit  blau  gefärbt-^). 

Da  diese  chemischen  Einwirkungen  auf  die  Knochen  die 
äussere  Form  derselben  kaum  beeinträchtigen  und  höchstens  durch 
Konsistenzveränderungen  einen  indirekten  Eintluss  ausüben,  so  kommen 
sie  für  die  Vortäuschung  krankhafter  Zustände  kaum  in  Betracht. 
Dagegen  vermögen  gewisse  Alterationen  mechanischer  Natur  letzteres 
zu  bewirken.  In  den  Pfahlbauten  und  Höhlen  finden  wir  ausserordent- 
lich häufig  gespaltene,  benagte,  zerklopfte  Knochen'').  Liebe  bezog  zu- 
erst einzelne  geglättete  Stellen,  Gruben  und  scharf  randige  Löcher  an 
Knochen  auf  die  Einwirkung  von  Schneckenzungen  (Zonites)  und  auf 
das  Einbohren  von  Larven  einer  Annobium-Art^).  In  einem  Bericht  über 
die  Bärenhöhle  von  Aggletek  in  Oberungarn  erwähnt  Virchowan  der 


1 )  Für  das  nähere  Studium  der  postmortalen  Einwirkungen  chcnn'scher  Natur  sei 
auf  folgende  Schriften  verwiesen:  E.  v.  Bibra,  ,, Chemische  Untersuchungen  über  die 
Knochen  und  Zähne  des  Menschen  und  der  Wirbeltiere  mit  Rücksichtnahme  auf  ihre  phy- 
siologischen und  pathologischen  Verhältnisse",  Schweinfurt  1844,  S.  333  —  385;  E.  Wibel, 
„Die  Veränderungen  der  Knochen  bei  langer  Lagerung  im  Erdboden  u.  s.  w.",  Wissensch. 
Abhandl.  zum  Osterprogramm  des  Akadem.  und  Real-Gymnasiums,  Hamburg  1869,  4", 
45  S.;  C.  A.  Aeby ,  „Ueber  die  unorganische  Metamorphose  der  Knochensubstanz",  Bern  1870. 

2)  Vergl.  O.  Olshausen,  ,, Chemische  Beobachtungen  an  vorgeschichtlichen  Gegen- 
ständen, 1.  Ersatz  von  Kalk  in  Knochen  durch  Thonerde"  in:  Verband!,  der  Berliner  Ges. 
für  Anthropologie   1884,  S.   516 — 518. 

3)  Correspondenzblatt  der  deutschen  anthiopolog.   Gesellsch.   1872,  Nr.   7,  S.   56. 

4)  Vergl.  R.  Virchow,  ,, Pfahlbauten  im  nördlichen  Deutschland",  Zeitschrift  für 
Ethnologie  1869,  Bd.  I,  S.  414.  Vgl.  ferner  Lehmann-Nitsche,  „Altpatagonische  Schädel 
mit  eigenthümlichen  Verletzungen,  wahrscheinlich  Nage-Spuren"  in:  Vcrh.  der  Bcrl.  Anthrop. 
Gesellsch.  1900,  S.  547  —  552;  F.  v.  Luschan,  ,, Schädel  mit  Narben  in  der  Bregma-Gegend; 
ibidem  1896,  S.  65 — 69;  R.  Virchow,  ,,Osteol<3gische  Funde  aus  der  Bilsteiner  Höhle", 
ibidem    1895,   S.   682. 

5)  Virchow  und  Liebe,  ,,Die  Lindenthaler  Hyänenhöhle'',  Verhandl.  d.  Berliner 
Gesellsch.  f.  Anthropologie   1875,   S.  127. 


Oberfläche  benagte  Knochen,  worin  Baron  Nyary  die  Einwirkung- 
anderer Tiere  erbhckte.  „In  der  That  erkennt  man  nicht  selten 
längere,  breite  Furchen,  die  von  der  nag'enden  oder  schabenden  Ein- 
wirkung der  Zähne  eines  Raubtieres,  oder  rundliche  Eindrücke,  wie 
sie  durch  das  Beissen  einer  starken  Bestie  hervorgerufen  werden. 
Ein  nicht  geringer  Teil  der  Gruben  und  Furchen  der  Oberfläche 
erinnert  mich  jedoch  an  Erscheinungen,  auf  welche  zuerst  Herr  Liebe 
an  Knochen  der  Lindenthaler  Höhle  bei  Gera  anfmerksam  gemacht 
und  welche  er  auf  das  Aushöhlen  der  Schnecken  und  das  Einbohren 
gewisser  Larven  bezogen  hat.  Nachdem  ich  im  vorigen  Jahre  in  der 
schönen  Geraer  Sammlung  diese  Erscheinungen  studiert  habe,  glaube 
ich  mit  vieler  Wahrscheinlichkeit  auch  an  Knochen  von  Aggletek 
ähnliche  Veränderungen  in  grosser  Zahl  aufgefunden  zu  habend." 

Dass  unter  LTmständen  derartige  rein  mechanische  Veränderungen 
der  Knochen  Syphilis  vortäuschen  können,  beweist  ein  in  einer  Höhle 
auf  Portorico  gefundenes  menschliches  Schädeldach,  das  jetzt  im  ana- 
tomischen ]\Iuseum  zu  Stockholm  aufbewahrt  wird.  Virchow  unter- 
zog dasselbe  einer  eing'ehenden  Untersuchung,    die   Folgendes    ergab. 

„Es  zeigt  sowohl  an  seiner  äusseren  als  an  seiner  inneren  Ober- 
fläche eine  Masse  von  Löchern  und  grösseren  Erosionen,  die  in  un- 
regelmässig verästelte,  weite  Kanäle  mit  zerfressenen  Rändern  führen, 
von  denen  das  ganze  Stück,  auch  in  der  Tiefe,  durchzogen  ist. 
Dieser  „wurmstichige"  Zustand  ist  innen  stärker  als  aussen."  Er 
glich  auffallend  einer  syphilitischen  Nekrose  des  Schädels. 
Trotzdem  blieb  Virchow  ein  Bedenken,  zumal  da  die  den  Zer- 
störungen benachbarten  Oberflächen  keine  Erscheinungen  von  Ver- 
dickung oder  Eburnation  zeigten.  Bei  genauerer  Untersuchung  fand 
er  nun,  dass  ,,in  verschiedenen  Erosionen,  die  in  die  Knochen  hinein- 
reichen, bald  in  Form  von  Gängen,  bald  von  Buchten  und  Höhlen, 
eine  schwärzliche,  erdige  Masse  steckte,  an  der  hier  und  da  Pflanzen- 
wurzeln und  kleine  Schnecken  klebten.  Als  ich  ein  Stück  davon 
herausnahm  und  es  mikroskopierte,  fand  ich  in  der  Erde  kleine  Eier, 
die  zum  Teil  schon  cmbryoniert  waren  und  die  den  Eiern  gewisser 
die  Erde  bewohnender  Würmer,  die  wir  auch  bei  uns  treffen,  glichen, 
und  die  zur  Zeit,  als  die  Trichinen  die  allgemeine  Aufmerksamkeit 
erregten,  von  manchen  Sonntagsforschern  für  Trichinen  gehalten 
wurden.  Sowohl  Pflanzen  wurzeln  wie  kleine  Tiere  erzeugen 
in  Knochen  allerlei  Löcher  und  Gänge,  besitzen  also  ge- 
wissermassen  fressende  Eigenschaften."     So  ist  nach  Virchow 

i)  R.  Virchow,  „Die  Bärenhöhle  von  Aggletek  in  Obeiungarn"  in:  Verhandl.  d. 
Berl.   GescUsch.   f.  Anthropologie    1877,  S.   312. 


—     326     — 

die  Veränderung  des  Schädeldaches  von  Portorico  nicht  als  eine 
SA'philitische,  sondern  als  eine  postmortale,  durch  Pflanzen  unter 
Mitwirkung  von  Schnecken  und  Würmern  hervorgebrachte  anzusehen  ^). 
Hiernach  müssen  prähistorische  Knochen  mit  angeblichen  syphilitischen 
Veränderungen  stets  auf  diese  Möglichkeit  hin  untersucht  werden, 
und  es  ist  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  dass  bisweilen  auch  jene 
von  Virchow  noch  nachgewiesenen  tierischen  Reste  in  den  Knochen- 
löchern im  Laufe  der  Zeit  verschwunden  sein  können,  so  dass  der 
Untersucher  leicht  geneigt  sein  wird ,  die  Veränderungen  als  syphi- 
litische zu  betrachten.  Jedenfalls  belehren  uns  die  interessanten  Be- 
funde Virchow's  bereits  über  dieSchwierigkeit  einer  sicheren  Diagnose 
der  Natur  krankhafter  Veränderungen  von  Knochen,  die  lange  Zeit 
im  Erdboden  oder  in  Höhlen  gelagert  haben. 

§  24.    lieber  die  Aehiilichkeit  der  krankhaften  Veränderungen 

bei  nichtsyphilitischen  Knochenleiden  mit  denen  bei 

Knochensyphilis. 

Mehr  als  jedes  andere  Organ  des  menschlichen  Körpers  neigt 
das  Knochensystem  dazu,  auf  verschiedene  krankhafte  Zustände  in 
derselben  Weise  zu  reagieren.  Periostitische  Prozesse,  Exostosen, 
Hyperostosen,  Caries,  Nekrose  können  bei  der  denkbar  verschieden- 
artigsten Aetiologie  doch  dieselbe  Form  darbieten,  so  dass  unter 
Umständen  schon  in  vivo  die  aetiologische  Diagnose  eine  unsichere 
sein  kann.  Gerade  am  meisten  beim  Knochen  ist  es  „nicht  zulässig, 
aus  der  Natur  der  einzelnen  Produkte  einen  Rückschluss  zu  machen 
auf  die  besondere  Qualität  der  Dyskrasie  2)."  Bei  Lebzeiten  des 
Kranken  wird  es  fast  immer  möglich  sein,  aus  zahlreichen  Symptomen 
in  anderen  Organen,  aus  der  Anamnese,  dem  Krankheitsverlauf  u.a.m. 
die  richtige  Diagnose  der  Natur  des  betreffenden  Knochenleidens  zu 
stellen.  Wenn  aber  nur  noch  die  Knochen  selbst  übrig  sind,  dann 
wird  die  DifFerentialdiagnose  äusserst  schwierig,  ja,  sie  ist  wohl  das 
Schwierigste  überhaupt  in  der  Wissenschaft  der  Diagnostik.  Das 
kann  nicht  deutlich  genug  betont  werden  im  Hinblick  auf  die 
Schnelligkeit,  mit  welcher  manche  Autoren  mit  der  Diagnose  „Syphilis" 
bei  einem  prähistorischen  Knochen  bei  der  Hand  sind. 


i)  Vergl.  R.  Virchow,  ,, Beitrag  zur  Geschichte  der  Lues"  in:  Dermatologische 
Zeitschrift,  Berlin  1896,  Bd.  III,  S.  5 — 6.  Auch  "\yasserthiere  vermögen  Löcher  und  Furchen 
im  Knochen  hervorzubringen,  vgl.  R.  Virchow,  ,, Pfahlbauschädel  des  Museums  in  Bern"  in: 
Verh.  der  Berliner  Anthropol.   Gesellsch.    1885   S.   286. 

2)  R.  Virchow,   „Die  krankhaften  Geschwülste",  Berlin    1863,  Bd.  I,  S.   77. 


—     327      — 

Zur  Illustration  dieser  These  wird  es  genüg-en,  bei  der  Durch- 
musterung der  einzelnen  Knochenaffektionen  auf  gewisse  Ueberein- 
stimmungen  mit  syphilitischen   Prozessen  hinzuweisen. 

Da  die  Phosphornekrose  eine  verhältnismässig  neuere 
Knochenkrankheit  ist,  so  kommt  sie  für  unseren  Zweck  nicht  in  Be- 
tracht. Immerhin  ist  es  von  Interesse  zu  erfahren,  dass  Virchow 
die  Phosphorerkrankung  der  Knochen  sowohl  in  ihrer  periostealen  als 
in  ihrer  medullären  Form  als  die  der  Knochensyphilis  am  meisten 
ähnliche  Affektion  bezeichnet  i). 

Sehr  gross  ist  das  Gebiet  der  nichtsyphilitischen  Knochen- 
auswüchse  und  Knochenneubildungen,  die  sehr  häufig  weder 
durch  ihren  Sitz  noch  durch  ihr  Aussehen  von  den  syphilitischen  zu 
unterscheiden  sind.  Die  Vorgäng^e  der  Osteosklerose,  Hyper- 
ostose und  Exostose  können  die  verschiedenartigste  Aetiologie 
haben. 

Als  Ursachen  der  Craniosklerose  führt  Virchow  nicht  bloss 
die  Syphilis,  sondern  auch  die  Rachitis  und  Traumen  an,  ja  Huschke 
wollte  nur  die  Rachitis  als  aetiologisches  Moment  bei  Craniosklerose 
gelten  lassen  -). 

Noch  mannigfaltiger  ist  die  Aetiologie  der  Hyperostosen  und 
Exostosen.  Marchand ^)  bemerkt:  Bei  der  Bildung  vieler  periostealen 
und  parostealen  Knochen  Wucherungen  spielen  chronisch-entzünd- 
liche Prozesse  eine  grosse  Rolle.  Die  übermässige  Knochen- 
produktion ist  bekanntlich  eine  gewöhnliche  Erscheinung  bei  chronisch- 
entzündlichen Prozessen,  welche  den  Knochen  im  ganzen  oder  das 
Periost  betreffen.  In  der  Regel  führt  diese  zu  einer  mehr  oder 
weniger  diffusen  Verdickung  (Periostose,  Hyperostose)  des  Knochens 
in  der  Umgebung  des  Entzündungsherdes,  z.  B.  eines  cariösen  Ge- 
lenkes oder  eines  osteomyelitischen  Abscesses.  Mit  dem  Ablauf  der 
Entzündung  fällt  die  Verdickung  nicht  selten  der  Resorption  anheim, 
sie  kann  jedoch  auch  persistieren  und  also  eine  bleibende 
Ex-  oder  Hyperostose  liefern.  Eines  der  deuthchsten  Beispiele 
dieser  Art  ist  die  schildförmige  Hyperostose  oder  Exostose  der  Tibia 


i)  R.  Virchow,    ,, Beitrag  zur  Geschichte  der  Lues",  a.  a.  O.,  S.  8. 

2)  J.  Neumann,  „Syphilis",  Wien  1896,  S.  750.  Hierher  gehört  auch  die  von 
Le  Den  tu  beschriebene  „Peiiostite  diffuse  non  syphilitique  des  os  de  la  face  et  du  crane" 
in:  Revue  niensuelle  de  medecine  et  de  Chirurgie  1879,  Nr.  11.  Nach  Billrolh,  ,,Allg. 
Chirurg.  Pathol.  u.  Therapie",  4.  Aufl.,  BerHn  1889,  S.  608  sind  sogar  die  meisten  Osteo- 
sklerosen nichtsyphilitischer  Natur. 

3)  F.  Marchand,  Artikel  ,,Exostosis"  in:  Real-Encyklopädie  der  gesamten  Heil- 
kunde''  von   Alb.   Eulenburg,   3.   Aufl.,   Bd.   VII,   Wien    1895,   S.   409 — 410. 


—        32Ö  -- 

und  Fibula  bei  chronischem  Unterschenkelg'eschwür  und  mehr  noch 
die  diffuse,  mit  zahlreichen  spitzen  Stacheln  besetzte  Hyperostose  der 
Unterschenkelknochen  bei  Elephantiasis  ^).  Aus  demselben  Grunde 
haben  für  die  Entstehung  dieser  Exostosen  traumatische  Ursachen 
eine  grosse  Bedeutung-,  und  zwar  können  deiraus  sowohl  die  rein 
periostealen  als  die  parostealen  Formen  hervorgehen  (Reitknochen, 
Exerzierknochen).  Das  beste  Beispiel  dieser  Art  liefert  der  Callus 
luxurians  bei  Frakturen,  namentlich  den  komplizierten,  wobei  es  sich 
zunächst  um  die  Bildung  eines  anfangs  weichen,  teils  knorpeligen, 
teils  osteoiden  Gewebes  aus  dem  Periost  handelt,  durch  dessen  Xcr- 
knöcherung  nach  allen  Seiten  hin  starrende  Knochenvorsprünge  sich 
bilden,  welche  in  der  Regel  mit  der  Zeit  resorbiert  werden,  häufig 
genug  aber  als  wahre  Exostosen  zurückbleiben"-).  Aber  auch 
anderweitige  Traumen,  Quetschungen  u.  dergi.  können  Anlass  zur 
Bildung  von  Exostosen   geben". 

Auch  die  sogenannten  , .multiplen  Exostosen"  werden  viel  häufiger 
durch  andere  Ursachen  (Heredität,  Gicht,  rheumatische  und  neuro- 
tische Einflüsse)  hervorgerufen.  Für  die  meisten  Fälle  wird  der  Ein- 
fluss  der  Lues  zurückgewiesen  ^). 

Sehr  bemerkenswert  sind  die  Aeusserungen  Alfred  Fournier's, 
des  hervorragenden  französischen  Syphilidologen  und  eines  der  besten 
Kenner  syphilitischer  Knochenaffektionen,  über  die  grosse  Aehnlich- 
keit,  ja  Identität  nichtsyphilitischer  Hyper-  und  Exostosen  mit  den 
durch  das  syphilitische  Virus  hervorgebrachten  Knochenauswüchsen. 
Gegenüber  Zambaco  Pascha,  der  geneigt  war,  gewisse  Exostosen 
an  Knochen  aus  dem  alten  Aegypten  als  syphilitische  zu  deuten, 
betont  Fournier  die  Möghchkeit  und  grössere  Wahrscheinlichkeit 
einer  anderen  Aetiologie: 


i)  Hieraus  ersieht  nican  schon,  wie  irrig  die  Ansicht  derjenigen  Autoren  ist,  nach  wclclien 
alle  Knochenauswüchse  der  Tibia  als  sj-philitische  zu  betrachten  sind.  Auch  an  die  Exostosen 
des  Oberschenkelknochens  als  Folge  von  Senkungsabscessen  sei  erinnert.  Vgl.  R.  Virchow, 
„Pilhecanthropus  erectus"  in:   Veih.  der  Berliner  Gesellsch.  f.  Anthropologie,    1895   .S.  439. 

2)  Nach  E.  Lesser,  „Lehrbuch  der  Geschlechtskrankheiten",  10.  Aufl.,  Leipzig 
1901,  S.  204  gleichen  die  syphilitischen  Knochenauftreibungen  an  der  Clavicula  und  den 
Vorderarmknochen  ,,äusserlich  oft  völlig  der  Callusbildung  nach  einer  Fraktur". 

3)  Birch-Hirschfeld,  Artikel  ,, Osteom"  in  F-ulenburg's  Real-Encyklopädie, 
3.  Aufl.,  1898,  Bd.  XVIII,  S.  102;  Marchan.d,  a.  a.  O.,  S.  410;  Pcrls-Neelsen, 
,, Lehrbuch  der  allgemeinen  Pathologie",  Stuttgart  1894,  .S.  295.  —  Multiple  Exostosen- 
bildung  hat  man  z.  B.  an  den  Knochen  alter  Peruaner  gefunden.  Vergl.  R.  Virchow, 
,,Ueber  krankhaft  veränderte  Knochen  alter  Peruaner",  Sitzungsbcr.  der  Kgl.  Preuss.  Akad. 
der  Wissenschaften   1885,  S.  1135  — 1139. 


—     329     — 

„D'autant  que  l'experience  nous  a  appris  ceci;  que  nombre  de 
maladies  peuvent  determiner  sur  les  os  des  lesions  tres  voisines 
comme  aspect  macroscopique  de  Celles  qui  derivent  de  la  syphilis. 
Ainsi,  un  simple  traumatisme  suffit  parfois  ä  produire  des 
exostoses  tont  ä  fait  comparables  aux  exostoses  speci- 
fiques.  De  meine  la  fievre  typhoide  realise  des  intumescences 
ossenses,  circonscrites  ou  diffuses,  qu'il  est  souvent  bien  difficile, 
pour  ne  pas  dire  impossible,  de  differencier,  cliniquement 
au  moins,  des  exostoses  issues  de  la  verde.  De  meme,  au 
voisinage  des  ulceres  variqueux,  il  se  constitue  frequemment  des 
hyperostoses  tibiales  que  je  ne  me  chargerais  certes  pas  de 
distinguer  d'hyperostoses  de  meme  siege,  mais  d'origine 
specifique.  Souvent  encore  des  lesions  diverses  du  Systeme  nerveux 
determinent  des  osteopathies  des  plus  variees,  dont  plusieurs  ne  sont 
pas  Sans  analogie  avec  les  osteopathies  specifiques.  J'ai  vu  par 
exemple  (et  j'en  conserve  plusieurs  exemples  photographies) 
des  exostoses  tabetiques  simuler  absolument  des  exostoses 
specifiques.     Et  ainsi  de  suite"  i). 

Nicht  anders  steht  es  um  die  car lösen  Prozesse  an  den 
Knochen.  Auch  diese  können  durch  zahlreiche  nichtsyphilitische 
Affektionen  hervorgerufen  werden  und  sind  sogar  in  den  meisten 
Fällen  tuberkulöser  Natur.  E.  Kirchhoff  bemerkt  über  die  Aetio- 
logie  der  Knochencaries:  „In  der  That  können  ausser  der  Tuber- 
kulose und  Syphilis  fast  sämtliche  andere  Infektionskrankheiten ,  wie 
Typhus,  Scharlach,  Masern,  Pocken,  ja  selbst  Diphtherie.  Malaria  und 
Erysipelas  gelegenthch  zu  Affektionen  der  Knochen  führen,  welche 
nach  ihrem  Verlauf,  sowie  nach  dem  anatomischen  Befund  als  cariöse 
bezeichnet  werden  müssen.  Ja  selbst  Knochen  wunden  können  infolge 
chronischer  Sepsis  zu  unzweifelhaften  cariösen  Prozessen  Veranlassung 
geben.  Jedoch  ist  die  Caries  oder  chronische  Ostitis  aus  den  eben 
angegebenen  Ursachen  an  und  für  sich  seltener  als  die  tuberkulöse 
Caries  .  .  .  Die  tuberkulöse  Caries  ist  die  weitaus  häufigste 
Form  der  Caries""-)  xVuch  Rotz,  Noma  und  Aktinomykose  ver- 
mögen Caries  der  Knochen  zu  erzeugen.  Die  aktinomykotische 
Caries  des  Unterkiefers,  der  Wirbelsäule,  Rippen,  Beckenknochen, 
der   Oberkiefer   und  anderer   Skelettteile   kann    nach   Kirchhoff  am 

i)  A.  Fournier  in  der  Diskussion  über  Zambaco's  Vortrag  „De  quelques  lesions 
palhologiques  datant  des  temps  des  Pharaons"  in:  Bulletin  de  l'Academie  de  Medecine, 
1900,  3?  Serie,  tome  XLIV,  S.  65. 

2)  E.  Kirchhoff,  Artikel  „Ostitis"  in  Eulenburg's  Real-Encyklopädie  1898, 
Bd.   XVIII,  S.    135  —  136. 


—     330     — 

ehesten  mit  syphilitischen  Erkrankungen  verwechselt  werden ! ')  Auch 
das  phagedänische  Geschwür  der  Tropen  greift  auf  die  Knochen 
über '). 

Auch  die  atrophischen  und  osteoporotischen  Processe  im 
Knochen  sind  keineswegs  etwas  der  Syphilis  allein  Eigentümliches. 
Sie  sind  sogar  nach  Kirchhoff  für  die  Syphilis  nicht  einmal  so 
charakteristisch  wie  die  Hyperostose  und  Osteosklerose  •^).  Bei  allen 
chronischen  Knochenentzündungen  kommt  es  schliesslich  teils  zu  Osteo- 
porose, teils  zu  Hyperostose  des  Knochens^),  und  besonders  kommt 
hier  die  sogenannte  „senile  Osteoporose"  in  Betracht,  welche  am 
Schädel  und  anderen  Skelettteilen  der  syphilitischen  Osteoporose 
sehr  ähnliche  Zustände  erzeugt.  Da  hier,  wie  bei  der  Syphilis, 
gleichzeitig  neben  den  rareficierenden  auch  sklerosierende  Vorgänge 
in  den  Knochen  sich  abspielen,  so  kann  unter  Umständen  die  Unter- 
scheidung sehr  schwierig  oder  unmöglich  werden.  Wenn  Virchow 
bemerkt:  „Der  senilen  Atrophie  fehlt  jener  aktive,  entzündliche 
Charakter,  \velcher  die  syphilitische  Atrophie  regelmässig  begleitet; 
die  Hyperostose,  die  Sklerose  und  Gefässneubildung,  wenn  sie  wirk- 
lich vorhanden  sind,  finden  sich  doch  nicht  im  nächsten  Umfange 
der  atrophisierenden  Stelle,  sondern  in  grosser  Entfernung^.  So  kann 
z.  B,  bei  der  Atrophie  der  Tubera  ossis  bregmatis  gleichzeitig  Hyper- 
ostose, Sklerose  und  Gefässneubildung  am  Stirnbeine  bestehen,  aber 
an  dem  Orte  der  Atrophie  selbst  ist  der  Prozess  so  wenig  aktiv,  dass 
häufig  sogar  die  Markhöhlen  der  Diploe  offen  bleiben"  5),  so  lässt 
Ziegler  gerade  in  der  Diploe  neben  der  Osteoporose  auch  eine  Ver- 
dickung des  Knochens  durch  Apposition  neuer  Knochenanlagen  an 
die  alten  vor  sich  gehen  '"').  In  Wirklichkeit  dürfte  es  schwierig  sein, 
an  dem  blossen  Knochen  stets  mit  Sicherheit  die  syphilitische  Osteo- 
porose von  der  senilen  zu  unterscheiden. 

Wir  sehen  also,  dass  die  wichtigsten  durch  die  Syphilis  am 
Knochen  hervorgerufenen  Veränderungen  unter  Umständen  auch  durch 
andere  Leiden  und  Dyskrasieen  erzeugt  werden  können.    Verdickung, 


i)  Ibidem,  S.    145. 

2)  J.  Brault  in:  IMonatshefte  für  prakt.  Dermatologie  von  Unna  und  Tänzer   1897, 
Bd.  XXIV,  S.  637. 

3)  Kirchhoff,  a.  a.  O.,  S.    132. 

4)  E.  Ziegler,   „Lehrbuch  der  spezieller;  pathologischen  Anatomie",    8.  Aufl.,   Jena 
1895,  S.    144. 

5)  R.   Virchow,    „Uebcr   die  Natur    der    konstitutionell -syphilitischen  Affektioiien" 
in  seinem  Archiv   1858,   Bd.  XV,  S.   247. 

6)  E.   Zieglcr,   a.  a.   O.,  S.    115. 


—     331      — 

Eburnation,  Anschwellungen  und  Höcker,  Erosionen  und  Caries 
charakterisieren  keineswegs  die  Knochensyphilis.  Virchow  kon- 
statierte an  den  Knochen  der  mit  „Höhlengicht"  behaftet  gewesenen 
Höhlenbären  Hyper-  und  Exostosen  der  verschiedensten  Form  und 
sogar  traumatische  Knöchengeschwüre  mit  „tiefer  Zerstörung  und 
grossen  Knochenwucherungen  im  Umfange",  welch  letzterer 
Umstand  immer  als  für  die  syphilitische  Caries  charakteristisch  her- 
vorgehoben wird.  So  kommt  der  grosse  Kenner  der  prähistorischen 
Knochen  zu  dem  Schlüsse:  „Wenn  man  als  sicher  voraussetzen  darf, 
dass  die  Bären  der  Vorzeit  keine  specifische  Infektion  gehabt  und 
doch  solche  Krankheiten  erduldet  haben,  so  wird  man  auch  die  Alög- 
lichkeit  zugestehen  müssen,  dass  vielleicht  beim  Menschen  der  A^or- 
zeit  gelegentlich  etwas  Aehnliches  wie  beim  Bären  eingetreten  ist 
und  dass  nicht  jede  derartig'e  Anschwellung  und  Zerstörung,  nicht 
jede  Form  von  Caries  und  Wucherung  den  Verdacht  der  Syphilis 
erregen  muss"  ^). 

Bevor  wir  daher  uns  zu  der  Besprechung  der  wichtigsten  Kenn- 
zeichen der  Knochensyphilis  wenden,  betonen  wir  nochmals,  dass 
selbst  diese  an  fossilen  und  prähistorischen  sowie  überhaupt  sehr 
alten  Knochen  wohl  kaum  jemals  mit  absoluter  Sicherheit  festzu- 
stellen sind,  wenn  auch  aus  gewissen  näher  zu  erörternden  Merk- 
malen die  Diagnose  der  syphilitischen  Xatur  der  betreffenden  Knochen 
mehr  Wahrscheinlichkeit  hat  als  die  eines  anderen  Leidens.  Ich  bin 
mir  wohl  bewusst,  dass  hieraus  die  Anhänger  der  Lehre  von  der 
Altertumssyphilis  den  Schluss  ziehen  könnten,  dass  dann  auch  bei 
den  in  Frage  kommenden  Knochen  der  alten  Welt  die  Syphilis  nicht 
ohne  weiteres  ausgeschlossen  werden  könnte,  (iewiss  nicht.  So  lange 
wir  aber  die  bisher  gefundenen  krankhaften  Veränderungen  ebenso 
einleuchtend  durch  eine  nichtsyphilitische  Aetiologie  erklären  können 
wie  dies  Virchow,  Fournier,  Bayet  u.  A.  thun,  ist  also  für  die 
Lehre  von  der  Altertumssyphilis  mit  der  blossen  Möglichkeit  nichts 
gewonnen.  Wir  wollen  Gewissheit.  Und  die  ist  bisher  auf  diesem 
Gebiete  noch  nicht  erreicht  worden.  Wird  sie  jemals  erreicht  werden? 
Kaum,  wenn  man  v.  Zeissl  glaubt,  dessen  „unmassgebliche  Meinung 
dahin  geht,  dass  es  dem  geübtesten  Anatomen  nach  dem  heutigen 
Standpunkte  des  Wissens  sehr  oft  schwer  fallen  dürfte,  mit  positiver 
Gewissheit  die  Natur  der  Knochenerkrankung  an  einem  ihm  isoliert 
dargebotenen  Knochen  zu  diagnostizieren;  der  Anatom  v.'ird 
sich     höchstens     zu     einem     Wahrscheinlichkeitsschlusse    herbeilassen 


i)  Virchow,  „Beilrag  zur  Geschichte  der  Lues",  a.  a.  O.,  S.   5. 
Bloch,  Der  Ursprung  di-r  Syphilis.  -'-• 


—     33-^      — 

können;  der  Kliniker  iedoch  wird  bei  der  Diagnose  des  Knochen- 
leidens ebensogut  an  eine  gewisse  Mehrheit  von  Symptomen  appel- 
lieren müssen,  so  wie  er  dies  bei  den  syphilitischen  Erkrankungen 
der  allgemeinen  Bedeckung  und  der  Schleimhaut  zu  thun  bemüssigt 
ist.  So  wie  der  Dermatolog  ausser  stände  wäre  aus  einem  mit  syphi- 
litischen Papeln  oder  Pusteln  besetzten  aus  der  Haut  herausge- 
schnittenen Lappen  die  Qualität  der  Erkrankung  zu  erkennen  ^) ,  so 
wird  auch  der  Anatom  nicht  immer  in  der  Lage  sein,  gewisse  Ver- 
änderungen eines  Knochens  -)  gewissen  Dyscrasieen  zuzuschreiben. 
Am  Krankenbette  aber  wird  die  Diagnose  durch  den  Verlauf,  durch 
die  Antecedentien,  Concomitantien .  ja  sogar  aus  den  Adjuvanten 
und  endlich  per  exclusionem  ermöglicht"  ^). 

Wie  gross  aber  auch  immer  Zweifel  und  Unsicherheit  sein  mögen, 
so  müssen  wir  jedenfalls  die  wichtigsten  Charakteristica  der  Knochen- 
syphilis untersuchen  und  an  dieser  Stelle  verzeichnen,  schon  um  eine 
weitere  Grundlage  für  die  Beurteilung  der  angeblichen  Funde  prä- 
historischer syphilitischer  Knochen  zu  gewinnen. 

§  25.     Die  wichtigsten  Keniizeicheii  der  Syphilis  am  isolierten 

Knochen. 

Es  kann  nicht  meine  Aufgabe  sein,  an  diesem  Orte  die  g'anze 
Symptomatologie  und  Pathogenese  der  Knochensyphilis  wiederzu- 
geben, wie  dies  in  den  Lehrbüchern  der  vSyphilidologie  und  der  patho- 
logischen Anatomie  ausgiebig  geschieht.  Hier  können  nur  jene  Ver- 
änderungen ins  Auge  gefasst  werden,  welche  sich  an  dem  isolierten 
Knochen  zeigen  müssen ,  die  also  ganz  allein  für  das  Studium  der 
prähistorischen  Skelettteile  in  Betracht  kommen.  Nur  die  End- 
resultate, die  nach  Ablauf  der  syphilitischen  Knochenaffektionen  am 
Knochen  zurückbleibenden,  krankhaften  Veränderungen  interessieren 
uns.  Und  auch  diese  reduzieren  sich  auf  sehr  wenige,  wenn  man  be- 
rücksichtigt, dass  es  sich  bei  den  prähistorischen  Funden  um  den 
macerierten  oder  sonstwie  entblössten  trockenen  Knochen 
handelt, 

Virchow  bezeichnet  als  „einzig  sichere  und  pathogno- 
monische  Erscheinung"  der  Knochensyphilis,  welcher  er  persönlich 
einen  ganz  besonderen  diagnostischen  Wert  beilege,    die   nach    einer 


i)  Dies  wäre  sogar  durch  die  histologische  Untersuchung  unter  Umständen  möglich. 

2)  Die  gummösen  Erkrankungen   ninunt  v.   Zeissl   dabei  aus,    unseres  Erachtens  mit 
Unrecht. 

3)  H.  Zeissl,  „Lehrbuch  der  konstitutionellen  Syphilis",  Erlangen    1864,  S.   263. 


gummösen  peripherischen  Ostitis,  der  sogenannten  „Caries  sicca" 
zurückbleibende  Knochennarbe ^). 

In  seiner  berühmten  Abhandkmg  „lieber  die  Natur  der  kon- 
stitutionell-syphilitischen Affektionen"  charakterisiert  er  die  syphili- 
tische Knochennarbe  durch  den  folgenden  kurzen  Satz:  „Jede  syphi- 
litische Narbe  im  Knochen  zeichnet  sich  durch  Mangel  an 
Produktivität  im  Mittelpunkte,  durch  Uebermass  derselben 
im  Umfange  aus"-).  Bezüglich  der  Pathogenese  dieses  Zustandes 
sei  auf  die  lichtvollen  Ausführungen  an  jener  Stelle  verwiesen.  Eine 
ausführlichere  Schilderung  der  syphilitischen  Narben  des  Knochens 
giebt  er  dann  an  der  ersterwähnten  Stelle:  „Wenn  man  diese  Form 
zurück  verfolgt  zu  den  kleinsten  Narben,  so  zeigen  sie  stets  die 
gleichen  Eigenschaften.  Ich  weiss  keine  andere  Krankheit,  welche 
solche  Veränderungen  macht,  und  ich  möchte  das  recht  stark  hervor- 
heben. Es  ist  leicht,  solche  Stellen,  so  leicht  sie  auch  sein  mögen, 
zu  erkennen;  aber  wenn  man  sagen  soll,  worin  gerade  ihre  Ver- 
schiedenheit von  anderen  Knochendefekten  liegt,  so  ist  das  ziemlich 
schwer.  Am  häufigsten  erregt  die  Aufmerksamkeit  eine  eigentüm- 
lich zackige,  nicht  selten  sternförmige  Vertiefung,  deren  Mittelpunkt 
den  stärksten  Defekt  bildet  und  deren  Ränder  verhältnismässig  glatt, 
gerundet,  nirg'ends  höckerig  oder  zerfressen  aussehen.  Es  ist  also 
das  Ensemble  der  Erscheinungen,  welches  die  Diagnose  ergiebt.  Man 
muss  wahrnehmen  können,  wie  die  Veränderungen  sich  um  einen 
Mittelpunkt  gruppieren,  von  da  ausstrahlen,  unter  einander  zusammen- 
treten und  doch  den  Gesamteffekt  eines  einheitlichen  Herdes  machen. 
Das  ist  das  Entscheidende.  Gleichgiltig-  ist,  ob  der  Defekt  ein  wenig 
mehr  in  die  Tiefe  geht  oder  sich  flach  ausbreitet.  Immer  sind  das 
Formen,  die  durch  keine  Art  von  wirklicher  Caries  (Eiterung-),  von 
Lupus  oder  von  Lepra  hervorgerufen  werden"  ^). 

Auch  A.  P'oerster  unterscheidet  die  Veränderungen  nach  syphi- 
litischer Caries  von  den  durch  einfache  Caries  bedingten.  „Ein 
syphilitisches  Knochengeschwür  heilt  meist  so,  dass  im  Knochen  eine 
tiefe  Depression  zurückbleibt,  welche  mit  einer  glatten  Rinde  über- 
zogen und  von  einem  über  das  Niveau  des  normalen  Knochens  her- 
vorragenden Knochenwulst  umgeben  ist.  Ausgebreitete  cariöse  Zer- 
störung der  äusseren  Rinde  hinterlässt  eine  tiefe  Lücke  im  Knochen, 
in  deren    Umgebung    dieselbe    hyperostotisch    und    sclerotisch    bleibt; 


i)   Virchow,  „Beitrag  zur  Geschichte  der  Lues",  a.  a.  O.,  S.   7. 

2)  Virchow 's  Archiv   1858,  Bd.  XV,  S.  257. 

3)  Virchow,   „Beitrag  u.  s.  w.",  a.   a.  O.,   S.   7. 

22^ 


—     334      — 

waren  zwischen  cariösen  Stellen  Brücken  und  Inseln  des  Knochens 
frei  geblieben,  so  erscheint  nach  der  Heilung  der  Knochen  sehr 
höckerig,  indem  jene  Inseln  hyperostotisch  weit  über  die  tiefen  De- 
pressionen vorragen,  in  welche  sie  mit  flach  abfallenden  Rändern 
übergehen  ^)." 

Nach  E.  Kirchhoff  haben  die  syphilitischen  Knochennarben 
eine  „rein  weisse  Farbe  und  ein  strahliges  Gefüge  und  führen  in  der 
Mitte  zu  einer  vertieften  Knochenstelle,  während  die  Umgebung  in 
der  Form  eines  dunklen  Knochenwalles  erhoben  ist"  -).  Diese  Er- 
scheinungen genügen,  um  eine  „syphilitische  Knochennarbe  auf  den 
ersten  Blick  mit  voller  Deutlichkeit  zu  erkennen"^). 

Bei  meiner  Untersuchung  der  reichhaltigen  Sammlung  syphili- 
tischer Knochen  des  Royal  College  of  vSurgeons  zu  London  habe  ich 
nur  in  wenigen  Fällen  diese  Narben  finden  können,  dagegen  war  bei 
den  meisten  syphilitischen  Geschwüren  und  Zerstörungen  die  Hype- 
rostose und  Sklerose  der  Umgebung,  die  sogenannte  „lesion  de 
voisinage"  sehr  deutlich  ausgesprochen.  Auch  ein  neuerer  hervor- 
ragender Pathologe,  E.  Ziegler,  übergeht  in  seinem  Lehrbuch  der 
speciellen  pathologischen  Anatomie^)  die  syphilitische  Knochennarbe 
mit  Stillschweigen.  Nach  Michaelis  glätten  sich  sogar  die  Narben 
bald  ab,  so  dass  sie  in  späterer  Zeit  schwer  zu  entdecken  sind^). 
Endlich  muss  man  bedenken,  dass  es  in  vielen  Fällen  von  starker 
Zerstörung  der  Knochen  überhaupt  nicht  zur  Narbenbildung  kommt. 
Dann  dürfte  sich  die  Hyperostose  und  Osteosclerose  der  Umgebung 
der  zerstörten  Partien  nicht  immer  von  der  durch  tuberculöse  Caries 
hervorgerufenen  unterscheiden  lassen,  da  auch  diese  Reaktion  Osteo- 
sclerosen  in  der  Nachbarschaft  hervorruft '0.  Alles  dies  wäre  aber 
nicht  ausschlaggebend,  wenn  man  jemals  an  einem  krankhaft  verän- 
derten bezw.  für  syphilitisch  erklärten  Knochen  der  prähistorischen 
oder  präcolumbischen  Zeit  eine  solche  charakteristische  Narbe  ge- 
funden hätte,  die  von  Virchow  für  das  einzige  wahre  Merkmal 
abgelaufener  Syphilis  erklärt  wird.  Bisher  ist  dieselbe  an  keinem  in 
der  alten  Welt  aufgefundenen  Knochen  konstatiert  worden. 


i)  A.    P'oerster,    „Handbuch    der    speziellen    jialhologischen    Anatomie",    2.    Aufl., 
Leipzig   1863,  S.  956—957- 

2)  E.  Kirchhoff,  a.  a.  O.,  S.    131. 

3)  Ibidem, 

4)  8,  Aufl.,  Jena    1895,  S.    156—158. 

5)  A.   C.  J.   Michaelis,    ,,Compendiuni    der  Lehre  von  der  Syphilis",    Wien    1859, 
S.    299. 

6)  E.   Ziegler,   a.  a.   O.,  S.    151. 


—     335     — 

Dass  die  Osteoporose,  die  „wurmstichige"  Beschaffenheit  des 
Knochens  nicht  nur  durch  S}'philis  bedingt  zu  sein  braucht,  haben 
wir  oben  gesehen.  Doch  sei  erwähnt,  dass  nach  H.  Oeffinger  die 
Ostopeorose  bei  Syphihs  sieh  meist  durch  eine  ganz  eigentümhche, 
braune,  dunklere  Färbung  der  vielfach  und  oft  äusserst  fein  siebförmig 
durchlöcherten  Knochensubstanz  markiert,  sodass  letztere  an  manchen 
Stellen  geradezu  dem  Querschnitt  eines  Meerrohrs  oder  einer  Wasser- 
binse gleicht^). 

Was  die  syphilitischen  Hyperostosen  betrifft,  so  genügt  der 
Hinweis  auf  das  Urteil  Virchow's,  dass  sie  „nicht  so  patho- 
gnomonisch  sind,  dass  sie  ohne  Anamnese  an  einem  einzelnen  oder 
auch  an  mehreren  macerierten  trockenen  Knochen  die  Diagnose 
sichern  können.  Wir  kennen  kein  Merkmal,  um  die  periosteale 
Hyperostose  traumatischen  Ursprungs  oder  die  medullären  Herde  mit 
allgemeiner  Hyperostose  tuberculösen  Ursprungs  von  der  S3^philitischen 
bestimmt  unterscheiden  zu  können"  -).  Es  ist  deshalb  belanglos,  auf 
gewisse  Praedilectionsstellen  der  syphilitischen  Hyperostosen  (Crista  tibiae, 
Clavicula,  Ulna,  Aussenfläche  des  Schädels)  hinzuweisen,  da  gerade 
diese  oberflächlich  gelegenen  Knochen  auch  am  ehesten  traumatischen 
Einflüssen  unterliegen.  Ob  die  von  Broca  für  pathognomonisch 
erklärten  isolierten  und  jäh  absetzenden  Hyperostosen  bezw.Osteosklerosen 
des  Stirnbeines  bezw.  der  Nasenbeine  und  der  Stirnfortsätze  des 
Unterkiefers  mit  Ergriffensein  von  Teilen  der  Wand  des  Antrum 
Highmori  mit  Sicherheit  auf  Syphilis  deuten,  vermag  ich  nicht  zu 
entscheiden.  Herr  Professor  v.  Luschan  zeigte  mir  einen  japanischen 
Schädel  (Nr.  S.  478  des  Museums  für  Völkerkunde  in  Berhn)  mit 
einer  über  i  Centimeter  (statt  normal  y.,—  i  Millimeter)  dicken 
Hyperostose  des  Nasenbeins,  die  er  als  für  Syphilis  pathognomonisch 
ansah.  Trotz  des  Schweigens  der  Lehrbücher  der  pathologischen 
Anatomie,  Syphilidologie  und  Chirurgie  über  diese  isolierten  Hyperos- 
tosen^) muss  diese  Anschauungder  beiden  hervorragenden  x\nthropologen 


i)  H.  Oeffinger,  „Beschreibung  zweier  Fälle  von  Knochensyphilis"  in  Virchow's 
Archiv,  Berlin   1868,  Bd,  43,  S.  473. 

2)  R.  Virchow,  , .Beitrag  u.  s.  w.'",  a.  a.  O.,  S.  6.  Dagegen  möchte  Virchow 
die  medullären  osteomyelitischen  Herde  der  platten  Knochen  mit  tiefen  Zerstörungen  ohne 
Hyperostose  als  für  Syphilis  pathognomonisch  ansehen. 

3)  Virchow  spricht  von  der  Hyperostose  der  Nasenbeine  bei  Ozaena  syphilitica 
mit  bleibenden  Zerstörungen.  ,,Die  eingesunkene  Nase  wird  durch  dicke,  oft  elfenbeinerne, 
an  ihrem  unteren  Ende  wie  abgescliliffene  Nasenbeine  gestützt,  ja  nicht  selten  bildet  sich 
eine  liefe  Rinne  über  dem  Nasenrücken,  gegen  welche  die  Nasenbeine  umgekehrt  dach- 
förmig zusammengehen  und  deren  Fläche  mit  zahlreichen,  radial  gestellten  Gefässfurchen  be- 
setzt ist.  —  Zuweilen  setzt  sich  dieser  Process   der  Sklerose  und  Hyperostose 


-     336     - 

bei  künftigen  Untersuchungen  und  Funden  beachtet  werden,  wobei 
allerdings  die  Frage  beantwortet  werden  muss,  ob  es  sich  nicht 
eventuell  um  eine  Teilerscheinung-  der  sogenannten  „Leontiasis  ossea 
faeiei"  handelt. 

Die  rein  cariösen  Zerstörungen  der  Nase  und  des  Gaumens 
können  am  macerierten  Knochen  in  Beziehung  auf  ihre  Aetiologie 
kaum  voneinander  unterschieden  werden.  Insbesondere  kommen  hier 
Rotz  und  Tuberkulose  in  Betracht,  welche  zu  schweren  Zerstörungen 
der  Knochen  in  der  Nasenhöhle  und  im  harten  Gaumen  führen,  die 
am  macerierten  Knochen  einander  sehr  ähnlich  sind  ^). 

Bezüglich  der  syphilitischen  Spina  ventosa  bemerkt  E.  v. 
Düring:  „Diese  Atfektionen  sehen,  besonders  an  den  Knochen  des 
Hand-  und  Fussskelettes,  tuberkulösen,  cariösen  Knochenentzündungen 
sehr  ähnlich,  und  hinterlassen  nach  der  Ausheilung  Verkürzungen 
des  Skelettes  ganz  wie  die  tuberkulösen  Prozesse"  2). 

Die  bekannten  Veränderungen  der  Zähne,  welche  J.  Hut- 
chinson als  sichere  Zeichen  der  hereditären  Syphilis  betrachtet^), 
nämlich  die  rundlichen  Erosionen  und  Strichelungen  der  Zahnfläche 
und  vor  allem  die  halbmondförmigen  Defekte  der  unteren  Kante  der 
mittleren  oberen  Schneidezähne,  sind  nach  den  Erfahrungen  der  her- 
vorragendsten Kinder-  und  Zahnärzte  durchaus  nicht  für  Syphilis 
pathognomonisch. 

So  sprachen  sich  der  Zahnarzt  Busch  und  der  Syphilidologe 
G.  Lewin  ganz  entschieden  gegen  eine  solche  Bedeutung  dieser 
Zahndefekte  aus*),  ebenso  der  Syphilodologe  Isidor  Neumann^). 
Unter  den  Pädiatern  erhoben  sich  die  gewichtigen  Stimmen  von 
E.  Henoch  und  H.  Neu  mann  dagegen.  Ersterer  bemerkt:  „Den 
von  Hutchinson  stark  betonten  Symptomenkomplex,  eigentümliche 
Beschaffenheit  der  Zähne  (kurze,  schmale,  auseinanderstehende  und 
gekerbte  obere  Incisoren),  Keratitis  und  Taubheit,  möchte  ich  um  so 


auf  die  ganze  Umgebung  weithin  fort,  z.  B.  auf  die  Knochen  des  Schädelgrundes." 
So  beobachtete  er  eine  Sklerose  des  Keilbeines  bei  einem  66jährigen  Individuum.  Virchow, 
„Ueber  die  Natur  der  konstitutionell-syphilitischen  Affektionen",  a.   a.   O.,  S.   259. 

i)  Vergl.    E.  Kirchhoff,    a.  a.  O.,    S.    144;    E.  Ziegler,    a.  a.  O.,    S.  624;    A. 
Focrster,  a.  a.  O.,  S.  335 — 336. 

2)  E.  V.  Düring,    „Klinische  Vorlesungen    über    Syphilis",    Hamburg    und  Leipzig 
i8c)5,  S.   140. 

3)  Brit.  med.  Journal  vom   2.   Oktober    1858. 

4)  Monatshefte   für  prakt.  Dermatologie  von  Unna  und  Tänzer,    1896,  Bd.  XXIII, 
Nr.  8,  S.  450—451. 

5)  J.  Neumann,    ,, Ueber    einige  Erscheinungen    der    hereditären  Syphilis",    Wiener 
klinische   Rundschau    1900,   Nr.    15. 


—     337      — 

weniger  als  sicheres  Zeichen  einer  tardiven  Syphilis  betrachten,  als 
gerade  solche  Schneidezähne  sich  auch  bei  Kindern  finden» 
welche  von  Lues  absolut  frei  sind"^). 

H.  Neumann  kommt  in  seinem  auf  der  Frankfurter  Natur- 
forscherversammlung (1896)  gehaltenen  Vortrage  über  die  „Beziehungen 
von  Krankheiten  des  Kindesalters  zu  Erkrankungen  der  Zähne"  zu 
dem  Schlüsse,  dass  der  Hutchinson 'sehe  Defekt  durchaus  nicht 
immer  auf  Syphilis  beruht,  sondern  bei  allen  pathologischen 
Zuständen  vorkommen  kann,  in  welchen  die  Gesamtent- 
wickelung des  Körpers  eine  mangelhafte  ist,  wobei  vor  allem 
die  Rachitis  in  Betracht  kommt  -). 

Aehnliche  Anschauungen  vertreten  die  Pädiater  Hochsinger^), 
A.  Baginsky  und  L.  Bernhard^),  ferner  die  Syphilidologen  M.  v. 
ZeissP),  E.  Lang  und  E.  Welander^),  die  Odontologen  Baume, 
P.  Ritter^)  und  Quinet^). 

Interessante  Diskussionen  über  die  Bedeutung  dieser  Zahnver- 
änderungen fanden  in  den  Sitzungen  der  Pariser  Anthropologischen 
Gesellschaft  vom  21.  Juni  1881,  19.  April  1883  und  18.  Januar 
1894  statt. 

M.  J,  Parrot,  der  im  Jahre  1881  sehr  energisch  für  die  Be- 
rechtigung der  Hutchinson'schen  Behauptungen  eingetreten  war^), 
hatte  auch  gewisse,  transversale  Strichelungen  an  Zähnen  prähisto- 
rischer Skelette,  die  von  Le  Baron  ausgegraben  worden  waren,  als 
solche  syphilitischer  Natur  bezeichnet.  Der  berühmte  Odontologe 
Magitot  widersprach  dem  ganz  entschieden,  und  Le  Baron  selbst 
schloss  sich  Magitot's  Anschauung  an,  indem  er  miteilte,  dass  er 
an    den    Zähnen    eines    Ochsen    dieselben  Erosionen    gesehen  habe  ^^). 


i)  E.  Henoch,  ,, Vorlesungen  über  Kinderkrankheiten",  7.  Aufl.,  Berlin  1893,  S.  114. 

2)  Referat  in:  Deutsche  Medizinal-Zeitung   1896,  Nr.  84,  S.  892. 

3)  Hochsinger,    „Beiträge  zur  Kinderheilkunde",  Wien   1890,  S.    157. 

4)  A.    Baginsky    und    L.    Bernhard,     Artikel     ,, Rachitis"     in:     Eulenburg's 
Realencyklopädie,  3.  Aufl.,   1899,  Bd.  XX,  S.    158. 

5)  M.  V.  Zeissl,  Artikel  „Syphilis",  ibidem    1900,  Bd.  XXIII,  S.  672. 

6)  E.  Lang,    „Vorlesungen    über    Pathologie  und  Therapie    der  Syphilis",    2.  Aufl., 
Wiesbaden   1896,  S.  696. 

7)  P.   Ritter,    ,,Zahn-    und    Mundleiden    mit    Bezug     auf    Allgemeinerkrankungen", 
Berlin   1897,  S.   201 — 202. 

8)  Quinet  im  Bulletin  de  l'Acad.   Royale  de  medecine  de  Belgique    1879,   Nr.   i. 

9)  M.  J.  Parrot  in:  Gazette  des  höpitaux   1881,  Nr.   74,   78,  80. 

10)  Diskussion  über  den  Vortrag  von  Le  Baron,   ,,Sur  les  lesions  osseuses  prehisto- 
riques"     in:     Bulletin    de    la    Societe    d'Anthropologie    de    Paris",   36  serie,     1881,    Bd.   IV, 

s.  597—598- 


-     338     - 

Auch  Capitan  beschrieb  später  ganz  ähnhche  Erosionen  an  Hunde- 
zähnen, die  nach  Pietrement  durchaus  nicht  selten  seien  i).  Im 
Anschkiss  an  den  Vortrag  Capitan's  bemerkte  Magitot  ganz 
richtig,  dass  Hunde  und  Ochsen  nicht  syphilitisch  werden  können. 
„On  voit  quelles  conscquences  nous  sommes  force  de  tirer  de  ce  fait 
au  point  de  vue  de  la  doctrine  de  M.  Parrot".  Er  hat  diese  Zahn- 
defekte besonders  bei  Kindern  beobachtet,  die  an  Konvulsionen 
litten,  womit  übereinstimmt,  dass  auch  Hunde  und  Herbivoren  in  den 
ersten  Lebensjahren  oft  von  Konvulsionen  heimgesucht  werden  2). 
Parrot  glaubte  sich  dadurch  aus  der  Affäre  zu  ziehen,  dass  er  sich 
für  inkompetent  in  Beziehung  auf  seine  Kenntnisse  der  Zahnver- 
änderungen beim  Hunde  erklärte-^),  worauf  ihm  Magitot  ironisch 
erwiderte:  „Maintenant  M.  Parrot  nous  dit  qu'il  ne  connait  pas  l'evo- 
lution  des  dents  chez  le  chien:  je  lui  en  demande  pardon;  il  la 
connait  tres  bien,  car  eile  ne  differe  en  rien  chez  tous  les  mammi- 
feres  en  general.  Ce  sont  les  memes  tissus  constituants  et  le  meme 
mecanisme  de  developpement,  d'oü  il  suit  que  les  memes  perturba- 
tions  d'evolution ,  l'erosion  entre  autres,  y  doivent  reconnaitre,  la 
meme  origine.  On  peut  des  lors  conclure  d'un  mammifere  ä 
l'homme.  II  faut  donc  prendre  parti  entre  les  deux  hypotheses: 
Celle  de  M.  Parrot,  qui  rattache  l'erosion  ä  la  syphilis  hereditaire, 
et  Celle  que  je  soutiens  et  ä  laquelle  s'etait  rallie  Broca,  ä 
savoir  que  l'erosion  est  la  consequence  de  l'eclampsie  infantile"*). 

Adolphe  Bloch  veröffentlichte  1892  eine  Abhandlung  „Patho- 
genie  des  erosions  et  autres  anomalies  dentaires",  in  welcher  er  die 
ganze  Geschichte  der  Zahnerosionen  behandelt  und  nachweist,  dass 
die  Syphilis  durchaus  nicht  die  häufigste  Ursache  derselben  sei,  son- 
dern dass  man  diese  Zahndefekte  am  häufigsten  bei  Kindern  neuro- 
pathischer,  tuberkulöser  und  alkoholistischer  Eltern  antreffe^). 

Henoch  erklärt  die  von  Parrot  als  syphilitisch  angesehenen 
Zahnveränderungen  für  solche  rachitischer  Natur*'). 


Das  Hauptergebnis  der  Betrachtung  der  Kennzeichen  der 
Syphilis  am  isolierten  Knochen  ist  die  Erkenntnis  der  grossen 
Schwierigkeiten,  welche  sich  einer  sicheren  Feststellung  der  syphi- 


i)  M,  Capitan,  „Erosions  dentaires  chez  le  chien",  ibidem,  3c  serie,    1883,  Bd.  VI, 
S.  342—348. 

2)  Magitot,  ibidem,  S.   346. 

3)  Parrot,   ibidem,  S.   346.  ' 

4)  Magitot,  ibidem,  S.  347. 

5)  A.   Bloch,   ibidem,   4«  serie,    1894,   Bd.   V,   S.    70. 

6)  E.  Henoch,  a.  a.  O,  S.   114, 


—     339     — 

litischen  Natur  einer  x\ffektion  der  Knochen  aus  prähistorischer  bezw. 
präcolumbischer  Zeit  entgegenstellen.  Wir  sind  über  die  durch 
Parrot  inaugurierte  Epoche  einer  vorschnellen,  allzu  enthusiastischen 
Diagnostik  der  Knochensyphilis  längst  hinaus.  Männer  wie  Virchow, 
Fournier,  Hunt,  Blake,  Bayet  haben  ihre  warnenden  Stimmen 
gegen  solche  Deutungen  erhoben,  und  wir  werden  jetzt  und  künftig 
gut  thun,  auf  sie  zu  hören. 


§  26.    Die  angeblichen  Funde  i)rähistoi'isclier  syphilitischer 

Knochen. 

Wenn  auch  die  eigentlichen  Bestrebungen  und  Anregungen, 
syphilitische  Veränderungen  an  prähistorischen  Knochen  aufzufinden, 
mit  dem  Namen  von  Parrot  verknüpft  sind,  der  seit  1877  bis  zu 
seinem  Tode  unermüdlich  auf  diesem  Gebiete  thätig  war,  so  ist  doch 
schon  vor  ihm  diese  Frage  in  einer  gelehrten  Gesellschaft  diskutiert 
und  bezeichnenderweise  verneint  worden. 

Es  dürfte  wenig  bekannt  sein,  dass  bereits  im  Jahre  186.4,  »^^so 
13  Jahre  vor  Parrot,  eine  Diskussion  über  angebliche  syphilitische 
Affektionen  prähistorischer  Knochen  in  der  Londoner  Anthropo- 
logischen Gesellschaft  stattfand.  Es  geschah  dies  im  Anschlüsse 
an  einen  Vortrag  von  Bollaert^). 

Hier  machte  der  Präsident  James  Hunt  die  sehr  wichtige  Be- 
merkung, dass  er  niemals  an  einem  alten  Schädel  Spuren  von 
Syphilis  getroffen  habe,  während  er  solche  bei  modernen  Schädeln 
aus  der  Zeit  nach  der  Entdeckung  Amerikas  sehr  häufig  gefunden 
habe!-)  Auf  seine  Anfrage,  ob  noch  andere  Mitglieder  der  Gesell- 
schaft Kenntnis  von  präcolumbischen  Schädeln  mit  syphilitischen  Ver- 


1)  William  BoUaert,  „On  the  alleged  introduction  of  syphilis  from  the  new 
World.  Also  some  notes  on  the  Local  and  iinported  diseases  into  America"  in:  Journal  of 
the  Anthropological  Society  of  London  1864,  S.  CCLVI — CCLXVIII  und  Diskussion 
S.  CCLVIII— CCLIX. 

2)  „In  no  ancient  skull  that  he  was  aware  of  had  there  been  found  any  trace  of 
Syphilis,  but  it  was  easily  discoverable  in  many  modern  skulls,  the  bone  of  the  skull  or 
the  teeth  being  more  or  less  affected  by  the  disease  .  .  .  They  might,  perhaps,  arrive  at 
some  satisfactory  result  by  the  examination  of  ancient  skulls,  for  if  marks  of  the  disease 
could  be  found  on  skulls  of  persons  who  died  before  the  discovery  of  America,  such  evi- 
dence  would  be  conclusive.  In  the  examination  of  most  modern  skulls  of  soldiers  it  had 
been  ascertained  that  ihere  was  scarcely  one  skull  of  men  who  died  in  the  army  that  was 
not  affected  by  syphilis,  and  some  were  in  a  frightful  State.  Even  some  of  the  beauti- 
fuUy  white  prepared  skulls  on  the  table,  which  had  been  presented  to  the  Society  by  Pro- 
essor  Hyrtl,    showed  marks  of  the  disease."     A.  a.  O.,  S.  CCLXVII. 


—     340     — 

änderungen  hätten,  berichtete  Carter  Blake  über  einen  angeblich 
aus  der  Zeit  Richard's  III.  oder  noch  früherer  stammenden  Schädel, 
an  dem  er  Spuren  von  Syphilis  gefunden  haben  wollte.  Doch  war 
es  sehr  zweifelhaft,  ob  der  Schädel  wirklich  jenes  Alter  besass  ^). 

Eine  ähnliche  Diskussion  fand  am  i6.  März  1876  in  der  Pariser 
Anthropologischen  Gesellschaft  statt.  Hier  demonstrierte  Broca 
Schädel  aus  den  Dolmen  von  L'Aumede  mit  Exostosen  am  Occi- 
pitale,  die  er  aber  für  „loin  d'etre  caracteristiques"  für  die  wSyphilis 
erklärt.  „La  premiere  presente  toutefois  quelque  ressemblance  avec 
certaines  exostoses  syphilitiques ;  si  cet  os  etait  moderne,  on  con- 
sidererait  la  lesion  dont  il  est  le  siege  comme  un  indice  probable  de 
la  Syphilis  tertiaire.  Une  pareille  conclusion  serait  ici  peu 
justifiee".  Trotz  dieser  sehr  berechtigten  Zweifel  über  die  syphili- 
tische Natur  der  Exostosen  sprach  sich  Broca  doch  im  Hinblick 
auf  die  litterarischen  Nachrichten  (Morbus  Campanus,  Annalen  des 
Petrus  Olaus  u.  s.  w.)  für  die  Annahme  einer  Existenz  der  Syphilis 
im  Altertum  aus.  Er  erwähnte  dann  noch,  dass  er  eine  grosse  Zahl 
syphilitischer  Veränderungen  an  den  Knochen  eines  zu  einer  alten 
Eeproserie  gehörigen  Kirchhofs  gefunden  habe,  der  vor  ungefähr 
1 5  Jahren  in  der  Rue  Bruxelles  zu  Paris  aufgegraben  worden  sei  2). 
Gegenüber  Broca  trat  de  Quatrefages  sehr  energisch  für  den 
amerikanischen  Ursprung"  der  Syphilis  ein ,  die  in  den  Traditionen 
der  präcolumbischen  Indianer  klar  und  deutlich  beschrieben  werde. 
Andererseits  plädierte  Hure  au  de  Villeneuve  für  die  Ricord'sche 
Hypothese  vom  Ursprünge  der  Syphilis  aus  dem  Coitus  von  Menschen 
mit  rotzkranken  Pferden  und  verstieg  sich  zu  der  ungeheuerlichen 
Behauptung,  dass  Amerika  1495,  bei  der  Belagerung  von  Neapel, 
noch  nicht  entdeckt  gewesen  sei!  Topinard,  offenbar  ein  Anhänger 
der  Lehre  vom  neuzeitlichen  Ursprung  der  Lustseuche,  glaubte  doch 
bei  dieser  Gelegenheit   daran  erinnern    zu   müssen,    dass   es  drei  ver- 


i)  „Mr.  Carter  Blake  stated  that  about  two  years  ago  a  skull  was  submilted  to 
liim ,  which  was  absurdly  alleged  to  be  the  skull  of  Richard  III.,  but  it  proved  to  be  the 
skull  of  a  female,  and  exhibited  Symptoms  of  having  been  affected  with  Syphilis.  The 
skull  was  Said  to  have  been  associated  with  bones  of  the  extinct  Bos  priniigenius,  but 
that  sort  of  evidence  was  of  a  very  doubtful  kind.  That  was  the  only  skull  of  reputed 
antiquity  in  which  he  had  observed  traces  ot  Syphilis."     Ibidem. 

2)  Sollten  diese  Knochen  wirklich  syphilitische  Veränderungen  aufgewiesen  haben, 
so  würden  sie  nicht  das  Geringste  für  die  Altertumssyphilis  beweisen,  da  es  feststeht,  dass 
die  Friedhöfe  der  Aussätzigen  in  späterer  Zeit  auch  zur  Beerdigung  von  Armen  gedient 
haben,  weil  die  meisten  „Siechenhäuser"  nach  Verschwinden  des  Aussatzes  in  Armenhäuser 
umgewandelt  wurden. 


—      341      — 

schiedene  venerische  Krankheiten  gebe,  nämhch  den  Tripper,  den 
weichen  Schanker  und  die  Syphilis  ^). 

Der  Erste,  der  den  Versuch  machte,  die  Existenz  der  Syphihs 
in  23rähistorischer  Zeit  durch  S3'stematische  Untersuchungen  von 
Skelettfunden  zu  erhärten,  war  Parrot,  der  hervorragende  fran- 
zösische Pädiater.  Er  hielt  seine  ersten  Vorlesungen  über  prähisto- 
rische Syphilis  im  Jahre  1877  im  „Hopital  des  Enfants-Assistcs"  und 
wiederholte  dieselben  im  Laufe  des  Jahres  in  der  Pariser  Anthro- 
dologischen  Gesellschaft  und  auf  dem  Kongresse  zu  Havre'^).  Ein 
im  Jahre  1882  in  der  „Revue  scientifique"  erschienener  Aufsatz  fasst 
alle  Ergebnisse  der  Parrot'schen  Untersuchungen  zusammen^). 

Parrot  beschäftigt  sich  zunächst  darin  mit  den  Ansichten  des 
Lyoner  Syphilidologcn  Rollet,  der  die  Existenz  der  Syphilis  in 
Europa  vor  dem  Ende  des  15.  Jahrhunderts  leugnete  und  das  damit 
begründet:  „que  les  fouilles  faites  dans  les  terrains  d'alluvions  et 
dans  les  anciens  cimetieres,  bien  qu'ayant  mis  ä  jour  un  graad 
nombre  de  cränes,  qui  remontent  soit  aux  epoques  prehistoriques, 
soit  aux  temps  les  plus  recules  de  notre  histoire,  n'ont  fait  de- 
couvrir  sur  aucun  d'eux  des  lesions  caracteristiques  de  la 
Syphilis."  Rollet  erwähnt  dann  das  1872  von  dem  Abbe  Ducrost 
bei  Solutre  im  Departement  Saone  et  Loire  ausgegrabene,  an- 
scheinend der  merowingischen  Epoche  angehörige  Skelett  einer 
Frau ,  deren  Tibien  mit  Exostosen  besetzt  waren,  die  angeblich  von 
Broca,  Ollier,  Parrot  und  Virchow  (??)  für  sichere  syphilitische 
Veränderungen  erklärt  worden  seien.  Aber  der  Abbe  Ducrost 
hege  selbst  starke  Zweifel  über  das  wirkliche  Alter  dieses  Grabes. 
Rollet,  der  geneigt  ist,  diese  Exostosen  als  syphilitische  zu  betrachten, 
legt  mit  Recht  auf  Ducrost's  Zweifel  an  der  merowingischen  Her- 
kunft des  Skelettes  von  Solutre  so  viel  Gewicht,  um  die  Annahme 
einer  prähistorischen  Syphilis  zu  verwerfen.  Aber  auch  die  Knochen- 
veränderungen an  sich,  lediglich  Exostosen  der  Tibia,  während 
das  übrige  Skelett  weiter  keine  Veränderung'en  zeigt,  sind  für  die 
Diagnose  der  Syphilis  absolut  unzureichend ,  und  ganz  gewiss  ist 
Virchow,  der  wiederholt  gegen  Parrot's  und  Broca's  Befunde 
Stellung  g'enommen  hat,  nicht  unter  denjenigen  gewesen,  die  die 
„syphilitische"  Natur  dieser  Exostosen  bestätigt  haben. 


i)  Vergl.  Bulletin    de    la  Societe   d'Anthropologie   de    Paris   1876,    Bd.  XI,    S.    154 
bis   159. 

2)  F.  Buret,    „La  Syphilis  aujourd'hui  et  chez  les  Anciens",  Paris   1890,  S.  44. 

3)  J.  Parrot,  „Une  maladie  prehistorique"  in:    La  Revue  Scientifique,  Paris   1882, 
S.    HO — 113. 


—      342      — 

Parrot  stellt  dann  die  nach  seiner  Ansicht  massgebenden  dia- 
gnostischen Merkmale  der  hereditären  Syphilis  am  Schädel  zusammen. 
Vor  allem  kommt  hier  zunächst  nach  ihm  die  1843  von  Elsässer 
beschriebene  Craniotabes  in  Betracht.  Parrot  unterscheidet  zwei 
Arten  von  Craniotabes.  Die  eine  findet  sich  symmetrisch  auf  den 
Frontalia  und  Parietalia  längst  der  Sagittalnaht  und  soll  intrauterin 
entstehen.  Es  ist  die  „Craniotabes  con genital  peribregmatique".  Die 
andere  nimmt  die  hintere  Gegend  der  Scheitelbeine  und  des  Occiput» 
entsprechend  den  Fossae  cerebrales,  ein  und  tritt  erst  nach  der  Geburt 
auf.  Parrot  sieht  die  erste  Art  für  rein  syphilitisch  an,  während 
die  zweite  durch  komplizierende  Rachitis  verursacht  werden  soll. 
Lang  hält  die  Craniotabes  der  hereditär-syphilitischen  Kinder  über- 
haupt für  eine  solche  rachitischen  Ursprungs i).  Auch  Lesser, 
der  die  Craniotabes  gar  nicht  erwähnt,  konstatiert  das  häufige 
Auftreten  rachitischer  Prozesse  bei  Heredosyphilitikern  2).  Ebenso 
bemerkt  Henoch,  dem  ebenfalls  jene  von  Parrot  beschriebene  Form 
einer  syphilitischen  Craniotabes  unbekannt  ist,  dass  die  Craniotabes 
sogar  innerhalb  der  Grenzen  der  physiologischen  Entwickelung  ohne 
eine  krankhafte  Aetiologie  vorkommen  könne  •'^).  Dasselbe  gilt  von 
den  übrigen  deutschen  Autoren,  wie  denn  auch  Heubner  in  seiner 
erschöpfenden  Bearbeitung  der  Syphilis  im  Kindesalter*)  dieser  Art 
der  Craniotabes  nicht  gedenkt. 

Weiter  bezeichnet  Parrot  Hyperostosen  und  Osteophyten  auf 
den  Stirn-  und  Scheitelbeinen  (bosses  parietales),  besonders  die  so- 
genannte „deformation  natiforme"  (Knochenbuckel,  die  um  die 
grosse  P'ontanelle  angeordnet  sind),  als  charakteristisch  für  hereditäre 
Syphilis.     Das  ist  durchaus  unzutreffend. 

Diese  „Vierhügelform"  des  Schädels  an  der  grossen  Fontanelle 
ist  nach  A.  Baginsky  gerade  typisch  für  Rachitis^),  und  Couth 
bemerkt,  dass  die  Knochenbuckel  der  Rachitis  leicht  mit  jenen  der 
hereditären  Syphilis  zusammengeworfen  w^erden.  Die  Gegend  der 
Stirn-  und  Scheitelbeine,   welche    Parrot  als  den  typischen  Sitz  der 


i)  E.  Lang,   „Vorlesungen  über  Pathologie  und  Therapie  der  Syphilis",  Wiesbaden 
1896,  S.  628. 

2)  E.  Lesser,    ,, Lehrbuch    der    Geschlechtskrankheilen",     lo.    Aufl.,    Leipzig    1901, 
S.   276. 

3)  E.  Henoch,  a.  a.  O.,  S.   871—872. 

4)  O.  Heubner,  ,, Syphilis  (Hereditaria  acquisita,   tarda)  im  Kindcsalter",    Tübingen 
1896,  8»,   135  S. 

5)  A.    Baginsky,     Artikel     „Rachitis"     in:     Eulenburg's     Encyklopädie      1899, 
Bd.  XX,  S.    157. 


—      343     — 

syphilitischen  Knochenbuckel  bezeichnet,  ist  nach  IMacnamara 
gerade  immer  bei  syphilitischer  Schädelerkrankung  frei.  Dadurch 
lässt  sich  die  Schädelsyphilis  von  der  Schädelrachitis  unterscheiden. 
Auch  dauern  syphilitische  Knochenbuckel  selten  über  das  erste  Lebens- 
jahr hinaus  und  hinterlassen  keine  Spur  ihrer  früheren  Anwesenheit, 
während  rachitische  Buckel  persistenter  sind  ^). 

Die  von  Parrot  neben  dem  Hutchinson 'sehen  Zahndefekte 
beschriebenen  Deformitäten  der  Zähne,  welche  angeblich  nur  bei 
hereditärer  vS3"philis  vorkommen  sollen,  die  sogenannte  „Atrophie 
cupuliforme"  (napfförmig'e  Erosionen,  die  kreisförmig  um  die  Krone 
angeordnet  sind,  in  einer  oder  zwei  Etagen),  die  „Atrophie  sulciforme" 
(durch  Verschmelzung  der  „cupules"  zu  Furchen),  die  „Atrophie  cus- 
pidienne"  (Zweiteilung  der  Krone  an  den  Canini  und  ersten  Alolaren) 
und  die  , .Atrophie  en  hache"  (konsekutive  Caries  der  vier  oberen 
Incisivi  bei  der  ersten  Dentition)  sind  von  keinem  anderen  Autor 
als  Folgen  der  SN'philis  beobachtet  worden.  Lang  beobachtete 
einen  Fall  von  „Atrophie  cupuliforme"  der  Zähne  bei  einem  20jährigen 
Burschen-),  der  aber  an  frisch  acquirierter  Syphilis  litt,  während  die 
Zahnveränderungen  schon  viel  älter  waren.  Er  bemerkt  darüber : 
„Ueber  die  Ursachen  dieser  Alteration  sind  wir  nicht  genügend 
orientiert.  Alanchmal  fanden  sie  sich  bei  Individuen  vor,  die  voll- 
kommen gesund  und  bei  denen  auch  nicht  die  Spur  eines  Anhalts- 
punktes für  Vererbung  irgend  einer  Krankheit  vorliegt;  so  war  auch 
der  Bursche,  dessen  Zähne  in  Figur  96  photographiert  erscheinen, 
sehr  gut  konstituiert;  in  der  Kindheit  soll  er  an  Rachitis  gelitten 
haben,  doch  fehlte  bei  ihm  jedes  Indicium  für  hereditäre 
Syphilis.  Indessen  mag  in  vielen  Fällen  mangelhafte  Ernährung 
im  allgemeinen  auch  an  der  fehlerhaften  Entwickelung  der  Zahn- 
keime die  Schuld  tragen;  diese  Annahme  gewinnt  einige  Berech- 
tigimg', wenn  wir  bedenken,  dass  genau  die  gleichen  Verände- 
rungen oft  genug  neben  Skrofulöse  oder  anderen  depravie- 
renden  Konstitutionsbedingungen  einhergehen.  Demgemäss 
lässt  sich  also  nur  behaupten,  dass  die  Lues  durch  Herabsetzung  der 
Ernährungsbedingungen  auf  die  Entwickelung  der  Zahnkeime  wohl 
einen  verschlechternden  Einfluss  zu  nehmen  vermag,  dass  aber  andere 
Dyskrasien  in  gleich  ungünstiger  Weise  einwirken  können". 


i)  J.  A.  Couth,  „The  Hunterian  Lechires  on  infantile  Syphilis"  in:  The  Lancet 
vom  II.,  18.  und  25.  April  1896  (Referat  in:  Archiv  für  Dermatologie  und  Syphilis, 
herausgegeben  von  F.  J.  Pick,   1898,  Bd.  XLII,  S.  307). 

2)   E.   Lang,  a.  a.   O.,  S.   695 — 696  und  Fig.   96. 


—      344      — 

Wir  werden  also  die  von  Parrot  als  syphilitische  Erkrankung 
gedeutete  „atrophie  sulciforme"  der  Unterkieferzähne  eines  Franken- 
schädels der  merowingischen  Zeit  aus  dem  Friedhof  von  Breny  durch- 
aus nicht  als  erstere  anerkennen  können.  Ebenso  zweifelhaft  sind 
seine  übrigen  Deutungen.  An  dem  Occipitale  dieses  menschlichen 
vSchädels,  den  mit  anderen  Knochen  Dr.  Prunieres  in  den  Höhlen 
der  Lozere  (Dolme  von  Cauquenos)  gefunden  hatte,  konstatierte  Parrot 
zwei  Perforationen  „identiques  ä  Celles  que  produit  le  craniotabes 
syphilitiquc",  fügt  aber  hinzu:  „Autour  d'elles,  la  table  interne  est 
un  peu  poreuse,  comme  il  est  habituel  de  la  trouver  chez  les 
rachitiques."  An  dem  Rest  der  hinteren  Hälfte  dieses  kindlichen 
Parietale  (Dolme  von  Boujassac)  fluid  er  an  der  Aussenfläche  eine 
unregelmässig  begrenzte  krankhafte  Stelle  (couche  pathologique)  mit 
sehr  zahlreichen  Oeffnungen  und  Kanälchen.  Er  steht  nicht  an, 
diesen  Osteophyten  für  syphilitisch  zu  erklären.  Aehnlich  waren  die 
Veränderungen  an  einem  anderen  Stücke,  die  er  folgendermassen  be- 
schreibt: „Un  autre  fragment,  plus  curieux  que  les  precedents,  ä  cause 
de  la  nettete  de  ses  caracteres,  est  encore  celui  d'un  parietal  d'enfant, 
trouvc,  comme  ceux  dont  je  viens  de  parier,  dans  un  dolmen  de  la 
Lozere.  Haut  de  55  millimetres  et  large  de  44,  de  forme  irregu- 
lierement  triangulaire,  sa  face  interne  est  normale;  sur  presque  toute 
l'etendue  de  la  table  externe  existe  une  couche  morbide  dure,  poreuse, 
identique  aux  osteoph3^tes,  que  Ton  rencontre  generalement  sur  les 
cränes  des  enfants  atteints  de  syphilis  hereditaire.  Dans  les  points 
oü  il  es  conserve,  son  bord  est  arrondi  et  tranche  nettement  sur  les 
parties  saines.  Son  epaisseur  varie  de  2  ä  3  millimetres.  Les  petits 
orifices  qui  couvrent  sa  surface  sont  assez  reguherement  distribues. 
11  est  forme  de  trabecules  perpendiculaires  ou  legerement  obliques 
ä  la  surface  du  parietal." 

Auch  aus  diesem  Befunde  ergiebt  sich  nicht  der  geringste  An- 
haltspunkt dafür,  dass  es  sich  um  Syphilis  handelt.  Dieselben  Ver- 
änderungen können  durch  Rachitis  und  Tuberkulose  hervorgebracht 
werden.  Dieser  ganz  isolierte  Osteophyt  besagt  gar  nichts,  zumal  da 
wir  leider  den  Zustand  der  übrigen  Skelettteile  nicht  kennen. 

Es  ist  daher  sehr  bemerkenswert,  dass  Parrot  am  Ende  seiner 
Abhandlung  zugiebt,  dass  die  prähistorische  .Syphilis  in  Europa  an- 
gesichts dieser  unbedeutenden  Knochenbefunde  einen  sehr  milden 
Verlauf  gehabt  haben  müsse,  und  dass  es  wahrscheinlich  sei, 
dass  die  Gefährten  des  Columbus  ein  „exotisches  Gift  mit 
mehr  toxischen  Eigenschaften"  eingeschleppt  hätten.  Wie 
stimmen  aber  dazu   die  Hinweisungen  der  Verfechter  der  Altertums- 


—      345      — 

Syphilis  auf  so  schwere  Knochenzerstörungen  wie  die  der  Nase  und 
des  Gaumens,  die  angeblich  durch  Syphilis  hervorgerufen  sein  sollen? 

Selbst  Ruret,  der  sonst  die  Deutungen  Parrot's  anerkennt, 
macht  am  Schlüsse  des  betreffenden  xVbschnittes  seines  Buches  dem- 
selben den  Vorwurf,  dass  er  überall  Syphilis  wittere,  wo  ganz  andere 
Ursachen,  z.  ß.  die  Rachitis,  im  Spiele  seien.  „D'apres  lui,  toutes  les 
deformations  osseuses  que  nous  connaissons  comme  rachitiques,  ont 
pour  origine  la  Syphilis  hereditaire;  et,  chose  plus  grave,  il  va  jus- 
qu'ä  ecrire  que  le  rachitisme,  chez  les  enfants,  est  uniquement  du  a 
la  Syphilis  de  leurs  parents"  ^). 

Der  „crane  nati forme  par  hypertrophie  des  bosses  parietales", 
wjrde  noch  einmal  Gegenstand  der  Diskussion  in  der  Sitzung  der 
Pariser  Anthropologischen  Gesellschaft  vom  ig.  März  1885.  Parrots 
Hypothese  einer  syphilitischen  Aetiologie  des  Knochenbuckels  wurde 
nicht  anerkannt.  Xach  Manouvrier  ist  die  Aetiologie  ganz  dunkel; 
Topinard  schloss  sich  dem  an,  wies  aber  auf  die  Möglichkeit  der 
Entstehung'  einer  derartigen  Veränderung  durch  Hydrocephalus  hin-). 

Eingehende  Studien  über  krankhafte  Veränderungen  an  vor- 
geschichtlichen Knochen  stellte  J.  Le  Baron  in  seiner  Pariser  Dok- 
tordissertation vom  Jahre  1881  an^),  über  deren  Ergebnisse  er  auch 
der  dortigen  Anthropologischen  Gesellschaft  Mittheilung  machte-*). 
Le  Barons  Ausführungen  zeichnen  sich  durch  eine  gesunde  Kritik 
aus,  welche  Buret  ganz  mit  Unrecht  auf  die  Aengstlichkeit  des 
Doktoranden  und  seine  Furcht,  bei  seinen  Lehrern  durch  Mitteilung 
seiner  wahren  Anschauungen  Anstoss  zu  erregten,  zurückführt^).  Im 
Gegenteil  sind  die  Gründe,  mit  welchen  er  Parrots  Hypothesen 
über  die  Xatur  gewisser  Knochenveränderungen  widerlegt,  durchaus 
stichhaltig  und  schlagend. 

Es  ist  nun  sehr  bemerkenswert,  dass  Le  Baron  unter  121  pa- 
thologischen Knochen  der  Vorzeit  nur  einen  einzigen  fand,  an  dem 
er  syphilitische  Veränderungen  wahrzunehmen  glaubte!  Die  übrigen 
120  Knochen  boten  nur  Hyperostosen,  Exostosen,  atrophische,  ent- 
zündliche, cariöse,  arthritische  Veränderungen  dar,  die  Parrot  z.  T. 
mit  Unrecht  als  syphilitische  gedeutet  hatte.     Xur  an  dem  Fragment 


i)  Buret,  a.  a.  O.,  S.  64. 

2)  Bull,  de  la  Soc.  d'Anthrop.  de  Paris   1885,  3t'  serie,  Bd.  VIII,  S.   223  —  226. 

3)  J.  Le  Baron,    ,, Lesions    osseuses    de    l'homme    prehistorique    en    France    et    en 
Algerie",  These  de  Paris,    1881,  8",    118  Seiten. 

4)  „Sur    les    lesions    osseuses    prehistoriques"    in    der    Sitzung    vom    21.  Juli    1881, 
Bulletin  etc.   1881,  Bd.  IV,  S.  596—598.     Vergl.  auch  Buret,  S.  51  —  55. 

5)  Vergl.  Buret,  a.  a.  O.,  S.  55. 


—     346     — 

einer  Tibia  aus  dem  Dolmen  von  Lery  (Eure)  glaubte  Le  Baron  Sy- 
philis konstatieren  zu  können.  Seine  Beschreibung  des  Knochens 
lautet:  „Vers  le  milieu  de  la  crete  de  ce  tibia,  il  existe  une  hyper- 
trophie  considerable  de  la  moitie  anterieure  de  la  diaphyse.  II  en 
resulte  que  le  bord  anterieur  presente  une  courbure  tres  marquee 
ä  convexite  anterieure.  Cette  hypertrophie  a  la  forme  d'un  ovoide 
tres  allonge  et  sa  surface  est  aussi  lisse  que  le  reste  de  l'os.  Elle 
s'ctend  sur  une  hauteur  de  85  millimetres.  En  cet  endroit,  le  tibia 
est  de  24  millimetres.  Une  section  longitudinale,  pratiquee  sur  une 
tumeur,  montre  qu'elle  est  entierement  formee  de  tissu  compact. 
Le  canal  medullaire  a  conserve  ses  dimensions  normales. 

Faut-il  attribuer  cette  hypertrophie  ä  un  ulcere  variqueux  ou 
autre?  Je  ne  le  crois  pas,  ä  cause  de  la  surface  polie  de  la  tumeur. 
J'aime  mieux  y  voir  une  alteration  syphilitique  de  l'os.  C'est 
d'ailleurs  un  des  points  oü  la  syphilis  porte  de  preference  ses  ravages." 

Diese,  übrigens  sehr  schüchtern  vorgebrachte  Annahme  von 
dem  syphilitischen  Charakter  der  Hyperostose  der  Tibia  von  Lery  ist 
durchaus  zweifelhaft.  Die  „glatte  Obertläche"  der  Hyperostose  genügt 
wahrlich  nicht,  um  andere  Ursachen  als  Syphilis  auszuschliessen,  da 
auch  rein  traumatische  Hyperostosen  dasselbe  zeigen  und  postmortale 
Einflüsse  eine  solche  Glättung  hervorbringen  können.  Es  handelt 
sich  eben  um  weiter  nichts  als  eine  einfache  Hyperostose,  deren 
Aetiologie  die  allerverschiedenartigste  sein  kann  ^). 

Nur  beiläufig  sei  eines  Schädels  der  Merowingerzeit  von  dem 
Kirchhofe  von  Breny  (Aisne)  gedacht,  den  de  Mortillet  in  der 
Sitzung  der  Pariser  Antropologischen  Gesellschaft  vom  18.  November 
1880  demonstrierte-),  an  dessen  Zähnen  sich  die  bereits  oben  er- 
wähnten horizontalen  Furchen  fanden,  die  nach  Parrot  für  Syphilis 
charakteristisch  sein  sollen,  in  Wirklichkeit  aber  es  durchaus  nicht 
sind,  worüber  die  obigen  Ausführungen  zu  vergleichen  sind. 

Ich  vermute,  dass  A.  F.  Le  Double  in  seiner  Schrift  „La 
medecine  et  la  Chirurgie  dans  les  temps  prehistoriques"  (Tours  1889, 
8^,  24  S.)  auch  über  angebliche  syphilitische  Veränderungen  an  prä- 
historischen Knochen  sich  äusserte,  konnte  aber  leider  dieser  Abhand- 
lung nicht  habhaft  werden. 

Nach  längerem  Intervall  ist  die  Frage  der  Syphilis  prähisto- 
rischer   Knochen     wieder    aktuell    geworden    durch   die    Funde    von 


1)  Charakteristisch  ist  die  Erklärung  Le  Baron 's,  dass  die  Syphilis,  „relative- 
ment  rare  dans  les  temps  anciens",  erst  mit  dem  15.  Jahrhundert  eine  so  grosse  Ver- 
breitung erlangte. 

2)  Buret,  a.  a.  O.,  S.  55  —  56. 


—      347      — 

Fouquet  und  Zambaco.  Wieder  waren  es  zwei  französische 
Forscher,  welche  die  prähistorische  Syphihs  mit  Hilfe  der  Knochen 
erweisen  zu  können   glaubten. 

Zuerst  hat  Dr.  Fouquet,  Arzt  in  Kairo,  seine  darauf  sich  be- 
ziehenden Beobachtungen  veröffentlicht ').  Er  wollte  an  mehreren 
Schädeln  der  altägyptischen  Xekropolen  von  Negadah,  Karwamil,  El- 
Amrah  u.  a.  krankhafte  Veränderungen  entdeckt  haben,  welche  auf 
die  Existenz  der  S3^philis  und  Tuberkulose  zu  jener,  8000  Jahre  zu- 
rückliegenden Epoche  hinwiesen.  Ueber  Fouquet's  Funde  und  Deu- 
tungen hat  dann  der  bekannte  Dermatologe  Zambaco  am  3- Juli  igoo 
in  der  Pariser  „Academie  de  Medecine"  einen  Vortrag  mit  Demon- 
stration von  Photographien  der  betreffenden  Knochen  gehalten  -),  in 
welchem  er  die  Deutung'cn  des  Dr.   Fouquet  acceptiert. 

Die  von  Zambaco  an  einem  vSkelette  aus  der  Nekropole  von 
Karwamil  festgestellten  krankhaften  \'eränderungen  werden  von  ihm 
folgendcrmassen  geschildert : 

„Le  ciiine  presente,  sur  ie  c6te  gauche  <Ui  front,  einpie  tant  sur  la  siUiire  intcr- 
ftoiitale  pcrsistantc,  et  la  depassaiU  quelque  pcu  ä  droitc,  une  siuface  inöqalc  rugueiise,  en 
ecumoire,  dcgarnie  de  la  couche  siiperficielle  de  l'os,  vennoulue.  Cette  lesion  est  plus 
sii]>erficiellc  que  celle  du  cntne  prccedont.  Elle  n'atteint  pas  la  table  vitree.  Les  bords  qui 
ciiconscrivent  ce  placard  sont  arrondis.  Ils  lemoignent  d'un  travail  reparateur,  ce  qui  eloigne 
lout  soupcou  de  degäts  artificieis  occasionncs  par  le  fouilleur.  II  s'agit  donc,  encore,  d'une 
osteite  suppuree,   destruclive. 

Les  deux  feniurs  sont  re]ii"esentes  par  leurs  faces  anterieures  et  posterieures.  Ils  sont 
absoiumcnt  normaux  ii  leurs  diaphyses  et  atteints  ä  leurs  extremites.  Ainsi,  le  femur  gauche 
[iresente  im  cnl  gonfle,  niameloiine:  son  exliemiie  infericure  est  aussi  trcs  volumineuse, 
liy|>erlrophique,  cnuvertc  de  bossehires  exostosiques  dont  plusieurs  sont  deteriorees.  Au- 
dcssus  de  celte  extreniite,  si  deformec,  se  voit  une  epine  osseuse  saillante  de  25  miilimelrcs 
i-nviron,  que  nous  croyons  physiologique.  On  rencontre,  cn  effel,  sur  plusieurs  os  anüques 
egyptiens,  de  cos  saillies,  et  surtout  des  crelcs  tres  accentuees  qui  ont  dii  donner  allache  ä 
de  puissanls  muscles. 

II  s'agit  donc  d'une  osteite  localisee  dans  la  region  diaphyso-epiphysaire,  laissant  in- 
lacte  la  diaphyse.  Cette  lesion  est  caracterisee  par  l'epaississcinent  des  diaphyses  presentant, 
par  endroits,  des  bosselures,  des  deprcssions  de  surface  rarefiee,  a  cöte  de  portions  exube- 
rantes.  Les  extremites  articuiaires  conservcnl  leur  forme  et  leurs  caracteres  normaux.  Les 
libias    et    les    perones    de    cc    nit-mc    squelette    sont,    egalement,    normaux  ä  leurs  diaphyses; 


1)  In  der  Schrift  von  Morgan,  ,,Recherches  sur  les  origines  de  l'Egypte.  Ethno- 
graphie prehistorique  et  tombeaii  roj'al  de  Negadah",  Paris  1896,  S.  377 — 379-  Abdruck 
der  betreifenden  Stelle  in:  Jean  Capart,  ,, Notes  sur  les  origines  de  l'Egypte  d'apres  les 
fouilles  recentes",   Brüssel    189S,   S.   24. 

2)  Zambaco,  a.  a.  O.,  S.  58 — 65.  Vergl.  auch  P.  Schober  in:  Die  Heilkunde 
1900,  S.    784. 

Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  '^o 


-     348     - 

mais  leurs  extremites  superieures  et  inferieures  sont,  comme  celle  des  femurs,  deformees, 
gonflees,  hypertrophiques.  De  plus,  elles  sont  sondties  en  haut  et  en  bas,  conime  on  peut 
le  voir,  tres  nettement,  sur  les  photographies.  L'extiemite  supericure  du  perone  droit  est 
unie  ä  ia  tete  du  tibia  correspondant,  demcsurernent  gonflee  et  tres  bosselee,  par  un  pont 
osseux  volumineux,  faisant  tumeur  saillante,  posterieurement  surtout  comme  une  forte  amande 
verte.  La  couche  superficielle  couvrant  ce  tison,  de  nouvelle  formation,  est  detruite,  et 
laisse  voir  une  substance  spongieuse  qui  s'emiette  facilement. 

Les  extremites  inferieures  de  ces  niemes  Os,  volumineuses,  gonflces,  hj-pertrophiees, 
sont  completement  soudees  ensemble  et  se  confondent.  Un  coup  d'oeil  jete  sur  les  photo- 
graphies feia  bien  mieux  saisir  cette  disposition  que  les  descriptions  les  plus  detaillees. 

Les  os  de  la  jambe  gauche  se  sont  detaches  par  ies  manipulations.  Mais  on  peut 
voir,  sur  les  jihotographies,  que  cette  Separation  lineaire  a  ete  accidentelle,  et  que  leur  sou- 
dure  (itait  complete  avant  la  violence  extericure  qui   l'a  detruite. 

Les  dcux  humerus  de  ce  meme  squelctte  sont  symmetriqucment  atteints ;  ils  sout 
hypertroph iques,  irregulierement  tumefies,  deformes  ä  leur  tiers  superieur,  bosseles  au  voi- 
sinage  des  tetes  des  os,  dont  les  surfaces  articulaires  restent  normales,  ainsi  que  les  dia- 
physes  et  les  extremites  inferieures. 

Le  cubitus  gauche  de  ce  sujet  presentc,  ä  son  tiers  inferieur,  plusieurs  petites  exosl- 
oses,  plus  dures,  plus  resistantes  que  Celles  des  femurs,  dejä  menfionnees.  Son  extremite 
caipienne  est,  aussi,  gonflee,  mamelonnee.  Tous  les  autres  os  du  squelette  sont  absolument 
normaux"  '). 

Wie  Zambaco  diesen  geradezu  klassischen  Fall  von  Arthritis 
deform  ans  für  S3^philis  erklären  kann,  ist  unbegreiflich.  Das  charak- 
teristische Befallensein  der  Gelenkenden  der  Extremitätenknochen 
mit  Freibleiben  der  Diaph3^sen  spricht  mit  absoluter  Sicherheit  gegen 
die  S3'philitische  Natur  der  krankhaften  Veränderungen  dieses  Ske- 
lettes. Daher  hat  bereits  M.  Gangolphe,  einer  der  anerkanntesten 
Forscher  auf  dem  Gebiete  der  s\^philitischen  Knochenkrankheiten  -), 
sich  auf  den  ersten  Blick  geg^en  die  Annahme  syphilitischer  Ver- 
änderungen an  diesem  altägyptischen  Skelett  ausgesprochen  ^). 
Dann  hat  der  bekannte  Brüsseler  Dermatologe  Dr.  Bayet  auf  die 
Bitte  seines  Freundes,  des  Aegyptologen  C apart,  die  Befunde 
Zambaco's  einer  Nachprüfung  unterzogen  und  ist  ebenfalls  zu  dem 
Ergebnis  gekommen ,  dass  es  sich  hier  keineswegs  um  S^'philis 
handeln  könne. 

Er  sagt:  ,,Si  c'etait  de  la  Syphilis,  ce  ne  pourrait  etre  qu'une 
Syphilis  tertiaire.  Or,  celle-ci  n'a  jamais  la  Symmetrie  observee  sur 
les  ossements    dont    nous    nous    occupons;  il  ne  saurait  non  plus  etre 


i)   Zambaco,  a.   a.   O.,   S.   59 — 61. 

2)  Vergl.  saine  Schrift  ,,Contribution   ä  l'etude  des  localisations  osseuses  de  la  Syphilis 
tertiaire."      Paris    1885. 

3)  J.   Capart,   a.   a.   O..   S.   24   Anmerkung. 


—      349      — 

question  d'osteomyelite  gommcnse;  enfin,  clernier  argument,  les 
Sieges  de  predilection  de  la  syphilis  osseuse  tertiaire  sont  epargnes. 
En  eifet,  ni  la  diaphyse  des  os  longs,  ni  la  crete  anterieure  du  tibia, 
ni  les  cotes,  ni  le  sternum ,  ni  la  clavicule,  ne  presentent  de  lesions 
hyperostosiqucs.  Contrairement  a  l'opinion  de  Zambaco  et  con- 
formement  ä  celle  de  Gangolphe,  je  me  prononce  contre  l'hypo- 
these  de  lesions  syphilitiques"  ^). 

Was  die  Affektion  des  Schädels  betrifft,  so  erklärt  Bavet, 
dass  sie  den  von  Virchow  am  Schädel  von  Portorico  beschriebenen 
postmortalen  Veränderungen  auffallend  gleichen.  Zambaco  hatte 
offenbar  auch  zuerst  an  die  Möglichkeit  postmortaler  Einwirkung'en 
gedacht,  da  er  sie  ausdrücklich  zurückweist.  Nach  ßayet  kommen 
hier  nur  postmortale  Veränderung"en,  wahrscheinlich  durch  die  Thätig'- 
keit  gewisser  Tiere,  in  Betracht  -). 

An  zwei  anderen  Schädeln  fand  Zambaco  noch  cariöse  Stellen, 
eine  am  rechten  Parietale,  die  andere  am  vStirnbein,  die  er  für  solche 
syphilitischer  Natur  erklärte.  Bayet,  der  in  seinen  Bemerkungen  bei 
Capart  noch  die  Möglichkeit,  dass  es  sich  bei  der  Affektion  des 
Stirnbeins  um  Syphilis  handeln  könne,  zulässt,  hat  neuerdings  mir 
g'egenüber  brieflich  seine  Ueberzeugung  ausgesprochen,  dass  in  keinem 
der  von  Zambaco  angeführten  Befunde  Syphilis  mit  Sicherheit  anzu- 
nehmen sei.  Jedenfalls  ist  es  sehr  charakteristisch,  dass  auch  die 
Extremitätenknochen  anderer  Skelette  nur  am  epiphysären  Teile  Yer- 
ändervmgen  darboten,  während  durchweg  die  Diaphysen  frei 
w  a  r  e  u . 

In  der  betreffenden  Sitzung  der  „Academie  de  Medecine"  erhob 
denn  auch  alsbald  Eournier  seine  g'ewichtige  Stimme  gegen  die 
Deutungen  Zambaco's.  Seine  Erklärung  ist  sehr  geeignet,  den 
Enthusiasmus  in  der  Diagnostik  syphilitischer  Veränderungen  an  prä- 
historischen Knochen  zu  dämpfen  und  kann  in  dieser  Hinsicht  nicht 
genug  beherzigt  werden. 

„Je  viens  d'admirer  comme  vous  tous,  Messieurs",  sagt  er,  ,,les  tres 
belles  photographies  que  nous  presente  notre  savant  collegue.  M. 
Zambaco.  Mais,  apres  avoir  reconnu  comme  vous  l'interet  qu'elles 
comportent,  je  ne  puis  partager  l'opinion  de  M.  Zambaco  sur  la  signi- 
fication  qu'il  accorde  ä  certaines  d'entre  elles  comme  demonstratives  de 
la  qualite  syphilitique  des  lesions  qu'elles  representent. 


ij  Bayet  bei  Capart,  S.   24. 
2)  Bayet,  a.  a.  O.,  S.   25. 

23^ 


—      350     — 

Aucune  de  ces  photographies ,  mc  semble-t-il  (tout  au  moins  a 
nn  premier  examen)  ne  reproduit  im  13^30  bien  authentique,  irrecu- 
sable,  de  lesions  sürement  imputables  a  la  Syphilis. 

On  sait  d'ailleurs  combien  est  difticile  d'une  fagon  generale  le 
diagnostic  de  la  S3''philis  osseuse,  alors  surtout  qu'on  ne  dispose  pour 
l'instituer  que  de  pieces  seches,  et  plus  encore  d'os  anciens  tres 
anciens,  recueillis  dans  les  cimetieres,  les  tumuli,  etc.  II  convient 
donc  d'apporter  dans  un  tel  diagnostic  les  plus  expresses  reservcs"  '). 

Fournier  machte  dann  den  Vorschlag,  die  Frage  einer  wissen- 
schaftlichen Kommission  zu  unterbreiten,  worauf  die  Academie  de 
medecine  die  Herren  Fournier,  Perrier,  Filhol,  Cornil  und 
Lannelongue  damit  beauftragte,  die  angeblichen  syphilitischen 
Knochen  aus  präcolumbischcr  Zeit  g'enauer  zu  untersuchen.  Bis- 
her ist  das  Erg'ebnis  dieser  Untersuchungen  noch  nicht  bekannt  ge- 
worden. 

Es  ist  aber  sehr  bemerkenswert,  dass  Eve  an  alten  ägyptischen 
Knochen  ähnliche,  an  den  Gelenkenden  lokalisierte  Prozesse  mit  Ex- 
und  Hyperostosen  fand,  wie  sie  an  den  von  Zambaco  untersuchten 
Skeletten  anzutreffen  waren.  Auch  Eve  spricht  sich  für  die  arthritische 
und  gegen  die  syphilitische  Natur  dieser  krankhaften  Verände- 
runo-en   aus'-'). 


i)  P'ournier  boi  Zambaco  a.  a.  O.,  S.  65.  —  Achnlich  urteilt  Herr  Dr.  Bayet 
in  einem  Briefe  an  den  Verfasser  vom  12.  Oictober  1901:  ,,Sur  les  pieces  fraiclies,  le  dia- 
gnostic anatomique  est  souvent  tres  difficile.  Qne  dire,  des  lors,  de  pieces  remontant  ä 
une  antiqiiitc  aiissi  rcculee,  iine  antitjuiLe  dont  la  patliolo^ie  nous  est  presqiie  entierement 
inconnue,  qui,  pciu-elre,  a  connu  des  maiadics  aujourd'hui  disparucs  et  dont  l'action  jiou- 
vait,   conune  la   tubcrculose  et  la  syphilis  ä   nolre  epnjnic,  amencr  des   lesions  des  os." 

2)  ,,The  cliicf  point  for  consideration  in  regard  to  tbese  specimeiis  is  thc  cause  of 
the  Periostitis.  The  co  -  existence  of  osteo  -  artbritis  of  the  articular  ends  with  Perio- 
stitis suggests  at  once  that  the  two  processes  have  a  cansal  relationship;  a  process  of  e.\- 
clusion   favoiirs   tliis  view. 

The  formation  of  new  bone  in  ils  Situation  and  distribution  diffcrs  from  that  occur- 
ring  in  syphilis.  It  is  situated  chiefly  along  the  outcr  surfacc  of  the  tibia  and  around  the 
articular  ends,  the  crest  and  inner  surface  where  syphilitic  nodes  are  observed  being  free. 
Again,  it  takcs  the  form  of  a  gcnrral  ,,frosting",  and  no  circumscribed  patches  or  nodes 
exist.  Nor  is  there  any  evldence  of  the  other  causes  of  periostitis  as  injury,  chronic  Ostitis 
and  ulcers  of  the  integuments  ,  .  .  Apart  from  their  interest  in  confirming  the  antiqiiily  of 
osteo-arthritis  these  boncs  appear  to  me  of  great  palhological  importance  as  furnishing  strong 
grounds  for  believing  that  an  osteo-plastic  periostitis  may  occur  as  a  manifestation  of  the 
same  morbid  condition  producing  the  typicai  articular  changcs  of  osteo-arthritis."  Frederic 
S.  Eve,  ,,Bones  of  ancient  Egyptians  showing  periostitis  associated  wilh  osteo-arthrilis  and 
symmetrical  atrophy  of  the  skull"  in:  Transactions  of  the  Pathological  Society  of  London 
1890,  Bd.  XLT,  S,   243  —  244. 


—     3.51      -- 

Nach  alledem  bleibt  das  Urteil  Virchow's  zu  Recht  bestehen, 
dass  bisher  kein  einziger  unzweifelhaft  syphilitischer  Knochen  aus  der 
Zeit  vor  der  Entdeckung-  Amerikas  in  dem  Bereiche  der  alten  Welt 
gefunden  worden  ist.  „Und  doch",  sagt  ebenderselbe  Virchow, 
„sehen  wir  häufig  Knochen  von  wilden  Stämmen  aus  den  verschie- 
densten Teilen  der  Welt,  welche  unzweifelhaft  Zeugnis  dafür  ablegen, 
dass  nach  dem  Kontakt  mit  den  Europäern  Syphilis  unter 
ihnen  verbreitet  worden  ist.  Ich  erinnere  nur  an  Knochen  von  den 
Philippinen,  von  Neu-Caledonien,  von  Australien"  M. 

Eragen  wir  nun,  wann  der  erste  Kontakt  mit  den  oben  er- 
wähnten Völkern  geschah,  so  ergiebt  sich  die  überraschende  That- 
sache,  dass  dies  erst  nach  der  Entdeckung  Amerikas  und  vor 
allem  erst  nach  dem  Ausbruche  der  g-rossen  S3'philisepi- 
demic  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  der  Eall  war.  Für 
die  Bewohner  der  Philippinen  hat  dies  Virchow  in  einer  bekannten 
Abhandlung  nachgewiesen '-). 

Es  ist  mir  nicht  g^elungen,  in  England  einen  einzigen  syphili- 
tischen Knochen  aus  präcolumbischer  und  prähistorischer  Zeit  aufzu- 
treiben. Dies  hatte  schon  die  oben  erwähnte  Diskussion  in  der  Lon- 
doner Anthropologischen  Gesellschaft  ergeben.  ]\Ieine  Nachforschungen 
haben  das  bestätigt.  Herr  Dr.  Charles  H.  Reade,  Vorsteher  der 
Ethnologischen  Abteilung  des  British  Museum,  hatte  die  Güte,  mich 
auf  die  zahlreichen  Skelette  der  Römer-,  Sachsen-  und  mittelalter- 
lichen Zeit  hinzuweisen,  welche  bei  den  Ausgrabungen  nahe  Steaford 
und  Boston  in  Lincolnshire  gefunden  wurden  und  jetzt  im  Ro^'al 
College  of  Surg'eons  aufbewahrt  werden.  jMan  hätte  annehmen  sollen, 
dass  unter  einer  so  grossen  Zahl  von  Schädeln  und  Skelettrestcn  aus 
so  verschiedenen  Epochen  wenigstens  einige  mit  S3'philitischen  Ver- 
änderungen sich  befinden  müssten,  falls  die  Syphilis  zu  jenen  Zeiten 
existiert  hätte.  Besonders  sollte  man  dies  von  den  mittelalterlichen 
Schädeln  erwarten,  welche  dem  Friedhofe  eines  Mönchsklosters  ent- 
stammen, im  Hinblick  auf  die  weiter  unten  noch  eingehender  zu  er- 
wähnende kolossale  Unzucht  der  inittelalterlichen  Mönche.  Allein 
nicht  ein  einziger  Knochen  mit  derartigen  Vcnlnderungen  ist  hier 
anzutreffen,  ebensowenig'  findet  man  einen  solchen  unter  den  übrigen 


i)  R.  Virchow  in:  Verhandlungen  der  Berliner  Anthropologischeil  Gesellschaft 
r895,  S.  306. 

2)  R.  Virchow,  „Ueber  die  Schädel  der  cältcren  Bevölkeiiing  der  Philippinen,  ins- 
besondere über  künstlich  verunstaltete  Schädel  derselben"  in:  Zeitschrift  für  Ethnologie  1870, 
Bd.  II,  S.    151  —  158. 


präcolumbischen  Knochen  des  Hunterian  Museum  (aus  Aegypten  u.  s.  w.). 
Das  Gleiche  gilt  \'om  South  Kensington  Museum  und  nach  freund- 
licher Mitteilung  des  Herrn  Professor  A.  Macalister  auch  von  den 
Sammlungen  des  Naturhistorischen  Museums  in  Cambridge.  Letzterer 
hat  alle  prähistorischen  und  präcolumbischen  Knochen  des  Museums, 
wie  er  mir  in  einem  Briefe  vom  5.  August  1901  mitteilt,  auf  etwaige 
S3^philitische  Veränderungen  hin  untersucht,  ohne  solche  zu  finden. 
Auch  einige  altägyptische  Knochen  der  Sammlung,  welche  von 
anderer  Seite  für  syphilitisch  erklärt  worden  waren,  erwiesen  sich  bei 
näherer  Untersuchung  als  nicht  syphilitisch.  Ebenso  hat  der  Cam- 
bridger Chirurg  Dr.  Griffiths  die  ganze  Sammlung  untersucht  und 
keine  Spur  einer  syphilitischen  Affektion  an  einem  prähistorischen 
Knochen  gefunden  (Mitteilung  von  Professor  Macalister). 

Somit  dürfte  Virchow's  in  den  letzten  Jahren  mehrmals  wieder- 
holte I3ehauptung,  dass  im  Bereiche  der  alten  Welt  bisher  kein  ein- 
ziger SN'philitischer  Knochen  aus  der  Zeit  vorder  Entdeckung  Amerikas 
gefunden  worden  sei,  zu  Recht  bestehen.  Wir  dürfen  es  im  Hin- 
blick auf  die  Thatsache  der  absolut  negativen  Befunde  in  Deutsch- 
land und  England  als  sicher  hinstellen,  dass  es  solche  Knochen  über- 
haupt nicht  giebt,  womit  der  unumstösslichste  Beweis  für  die  Nicht- 
existenz  der  Syphilis  in  Europa  vor  dem  Zeitalter  der  Entdeckungen 
geliefert  ist. 


Wenn  aber,  wie  ich  im  ersten  Teile  nachgewiesen  habe,  die 
S3'philis  als  ein  Urleiden  der  Neuen  Welt,  speciell  von  Centralamerika 
betrachtet  werden  muss,  so  müsste  man  auch  dort  syphilitische  Knochen 
finden. 

Aber  auch  hier  verbinden  sich  mit  den  ausserordentlichen  Schwie- 
rigkeiten der  Diagnose  noch  andere  Fehlerquellen,  die  uns  bisher  die 
sichere  Feststellung  von  syphilitischen  Knochen  der  präcolumbischen 
Zeit  erschwert  haben.  Immerhin  ist  bemerkenswert,  dass  Virchow, 
einer  der  entschiedensten  Verfechter  des  neuzeitlichen  Ursprungs  der 
Syphilis,  die  Berichte  über  P\mde  syphilitischer  Knochen  in  Amerika 
nicht  mit  demjenigen  Misstrauen  betrachtet,  wie  diejenigen  in  der 
Alten  Welt. 

Welches  sind  nun  die  hauptsächlichen  Umstände,  welche  der 
näheren  Feststellung  der  präcolumbischen  Syphilis  der  Knochen  in 
Amerika  vSchwierigkeiten  bereiten  ? 


I.  Gewisse  Gebiete,  die  gerade  besonders  in  dieser  Hinsicht  in 
Betracht  kommen,  weisen  aus  klimatischen  und  anderen  Gründen 
kaum  irgend  welche  Skelettreste  auf.  So  erklärt  Herr  Professor 
Franz  Boas,  der  berühmte  amerikanische  Ethnologe,  den  ich  am 
i8.  Juli  igoi  persönlich  darüber  befragte,  dass  in  dem  Gebiet  von 
Mexiko  nur  sehr  spärliche  menschliche  Skelettreste  gefunden  seien, 
mit  Ausnahme  des  ausserhalb  -der  Kulturcentren  gelegenen  Nord- 
westens. In  den  zahlreichen  Gräbern  der  Provinz  Chirique  in  Columbia 
fehlten  ,.fast  ausnahmlos  menschliche  Ueberreste"  ^).  Das  hängt  nicht 
bloss  mit  dem  weit  verbreiteten  Brauche  des  V erbrenne ns  der 
Leichen  zusammen,  sondern  erklärt  sich  auch  aus  klimatischen  Gründen 
(grosse  Feuchtigkeit),  wie  in  Mexiko. 

2.  Ist  es  nach  den  Berichten  von  Diaz  de  Isla,  Oviedo,  Las 
Casas  u.  A.  sicher,  dass  wenigstens  in  einigen  Gebieten  (Antillen) 
die  Syphilis  einen  sehr  milden  Verlauf  nahm,  so  dass  Knochen- 
krankheiten sehr  selten  waren. 

Unna"-)  und  Scheube^),  die  neuerdings  energisch  für  den  neu- 
zeitlichen, amerikanischen  Ursprung  der  Syphilis  eingetreten  sind,  be- 
tonen besonders  diesen  milden  \"erlauf  der  Syphilis.  Freilich  muss  man 
nach  den  mexikanischen  Schilderungen  annehmen,  dass  auch  schwere 
Fälle  von  Syphilis,  wenigstens  in  Alexiko,  vorkamen. 

3.  Ist  es  fast  immer  sehr  schwierig,  die  präcolumbische  Natur  der 
Gräber  und  Alounds  in  Nord-,  jMittel-  und  Südamerika  mit  Sicherheit 
festzustellen,  wie  auch  Autoritäten,  wie  Professor  Franz  Boas  und 
Professor  E.  Sei  er  wiederholt,  versichert  haben.  Dieselben  Bestat- 
tungsarten und  Grabformen  erhielten  sich  noch  Jahrhunderte  nach 
der  Entdeckung  Amerikas,  und  so  ist  es  fast  immer  unmöglich,  mit 
Bestimmtheit  ein  Urteil  darüber  abzugeben,  ob  ein  solches  Grab  prä- 
columbisch  ist  oder  nicht.  Virchow  bemerkt:  „Die  Frage,  ob  dieses 
oder  jenes  Grab,  das  man  eröffnet,  schon  vor  Columbus  existiert 
habe  oder  ob  es  vielleicht  erst  vor  200  oder  g'ar  erst  vor   100  Jahren 


1)  W.   H.   Holmes,    ,,Ancient  Art  of  thc  Province  of  Chirique",   Washington    1888. 
Referat  in   der  Zeitschrift  ,,Am  Urquell"    1890,   Ed.   I,   S.   93. 

2)  In  der  Besprechung    von    Teil  I    des    vorliegenden  Werkes    in :    Monatshefte    für 
praktische  Dermatologie    1902,  Bd.  XXXIV,   S.   27. 

3)  B.   Scheube,    ,,Ueber    den    Urspnmg    der  Syphilis"    in:    Janus,    Archives    inter- 
nationales pour  l'Histoire  de  la  Medecine    1902,  Bd.   VII,  S.  39. 


—      354      — 

errichtet   worden    ist.    lässt   sich   ausserordenthch    schwer  beantworten 
und  kann   immer  wieder  bestritten   werden"  '). 

4.  Kommen  auch  hier  alle  jene  Punkte  in  Betracht,  welche  die 
Diagnostik  s}-philitisclicr  Affektionen  an  Jahrhunderte  alten  Knochen 
überhaupt  erschweren   und  die  wir  oben   näher  gewürdigt  haben. 

Wir  dürfen  uns  daher  nicht  wundern,  dass  über  die  amerika- 
nischen P'unde  ebenfalls  im  allgemeinen  ein  „Noii  liquet"  ausge- 
sprochen werden  muss,  woraus  aber  nun  jene  Verfechter  der  Lehre 
von  der  Altertumss}-philis  nicht  etwa  den  Schluss  ziehen  mögen,  dass 
es  also  auch  mit  dem  neuzeitlichen,  d.  h.  amerikanischen  Ursprünge 
der  Syphilis  nichts  sei.  Nicht  wir  waren  es,  die  zuerst  aus  den 
Gräbern  die  Beweise  für  die  prähistorische  Syphilis  hervorholen  wollten, 
sondern  jene.  Männer  wie  Unna  und  Scheu be,  der  geniale  Der- 
matologe und  der  ausgezeichnete  Kenner  der  Tropenpathologie,  wie 
Fournier,  der  erfahrene  S3'phihdologe,  Lieber meister,  der  scharf 
beobachtende  Kliniker,  Binz,  der  ingeniöse  Pharmakologe  und  auf 
dem  Gebiete  der  Renaissance  erfahrene  medizinische  Geschichtsforscher 
haben  richtig  erkaimt  und  deutlich  ausgesprochen,  dass  die  wahren, 
unumstösslichen  Beweise  für  den  neuzeitlichen  Ursprung  der  vS3^philis 
auf  nosologisch-epidemiologischem  Gebiete  liegen,  wozu  die  plötzliche 
LTmwandlung  der  gesamten  medizinischen  Litteratur  am  Ende  des 
15.  Jahrhunderts  die  ausführlichste  Erläuterung  liefert. 

Kehren  wir  zu  den  Gräbern  zurück.  Parrot  war  der  Erste, 
welcher  an  peruanischen  Schädeln  im  IMusee  Broca  .Syphilis  zu  kon- 
statieren glaubte.  Zunächst  untersuchte  er  vier  Kinderschädel  aus 
Arica  in  Peru,  angeblich  ,,d'une  anciennete  non  douteuse",  was  aber 
gerade  bei  peruanischen  Gräbern  eine  sehr  unbestimmte  Bedeutung 
hat,  indem  man  nur  ganz  ausnahmsweise  entscheiden  kann,  ob  diese 
prä-  oder  postcolumbisch  sind.  Parrot  fand  an  den  Kindcrschädeln 
weiter  nichts  als  Osteophyten  an  den  Orbitalrändern  und  an  einem 
die  bekannte  Veränderung  des  ,,cräne  natiforme",  ferner  zeigte  die 
Innenseite  der  Parietalia  ,,une  couchc  mince  d'un  tissu  morbide  tres 
poreux  et  plein  de  sillons  vasculaires".  Aus  diesen  Befunden  folgerte 
er,  dass  „die  Syphilis  in  Peru  vor  der  Entdeckung  Amerikas  durch 
die  Spanier  existierte"  und  „dass  diese  Krankheit  dort  häufig  war, 
da  die  meisten  dorther  stammenden  Kinderschädel  Spuren  davon  auf- 
weisen" -). 


i)   R.   Viichow,   „lieiliag  u.   s.   w.",  n.  a.   O.,   S.   3. 
2)   Buret,  a.   a.   O.,   S.   46. 


.10  >1 


Tn  einem  Briefe  an  den  Amerikanisten  Wiener  vom  7.  Dezember 
1878  berichtet  der  Anthropologe  de  Quatrefages,  Ijekannth'ch  ein 
Verteidiger  des  neuzeithchen,  amerikanischen  Ursprungs  der  SyphiHs 
über  316  peruanische  Schädel  und  schreibt  u.  a.:  „T.cs  cränes  ont  ete 
pris  dans  vingt-trois  localites  differentes;  239  ont  appartenu  ä  des  in- 
dividus  sains,  14  ä  des  individus  atteints  de  diverses  affections.  Ces 
derniers  ont,  ä  divers  points  de  vue,  un  interet  tout  particulier. 
L'etude  de  quelques-  uns  d'entre  eux  a  permis  de  constater  definiti- 
vement  l'existence  de  la  syphilis  au  Perou  avant  la  venue  des 
Europees"  ^). 

Worauf  sich  dieser  „definitive  Nachweis"  der  Syphilis  an  prä- 
columbischen  Menschenknochen  Perus  gründet,  wissen  wir  nicht  genau, 
da  die  oben  erwähnten  Schiklerungen  Parrot's  durchaus  nicht  etwas 
für  Syphilis  Charakteristisches  darbieten.  Vielleicht  bezieht  sich  die 
Bemerkung^  Quatrefag^e's  auf  zwei  andere  von  Parrot  beschriebene 
und  als  syphilitisch  gedeutete  Schädel  des  Musee  Broca.  Der  eine 
aus  Arica  in  Peru  stammende  Schädel  eines  Ewachsenen  wies  eine 
längs  der  Sagittalnaht  sich  erstreckende  poröse  Stelle  der  beiden 
Parietalia  auf,  die  mit  zahlreichen  und  tiefen  vaskularisierten  Furchen 
verschen  war  (couche  poreuse  av'ec  des  sillons  vasculaires  nombreux 
et  profonds).  Das  Stirnbein  zeigte  in  der  Nähe  des  Bregma  eine 
ähnliche  \^erändcrung.  Ferner  war  eine  vSynostose  der  rechten  Fronto- 
Parietalnaht  vorhanden. 

Es  ist  klar,  dass  diese  Veränderungen  nichts  für  Syphilis  Cha- 
rakteristisches darstellen.  Es  fehlen  alle  Symptome  eines  destruk- 
ti\-cn  Prozesses  und  der  mit  ihm  fast  immer  verbundenen  hyper- 
plastischen Vorgänge.  Caries  sicca,  Ex-  und  Hyperostosen  sowie  die 
Osteosklerose  der  Umgebung  der  cariösen  Stelle  fehlen  gänzlich.  Die 
blosse  „Porosität"  und  „Vaskularisation"  oder  g^ar  die  S3mostose  liefern 
nicht  den  geringsten  Beweis  für  die  syphilitische  Natur  des  sie  be- 
ding'enden  Krankheitsprozesses. 

An  einem  zweiten  peruanischen  Schädel  konstatierte  Parrot 
zwei  Knochenbuckel  am  Frontale  und  Exostosen  der  Scheitelbeine, 
die  porös  und  von  Furchen  durchzogen  waren.  Ausserdem  war  eine 
deutliche  Osteosklerose  des  Knochens  im  Bereiche  der  affizierten 
Stellen  wahrzunehmen,  die  an  einzelnen  Stellen  sich  durch  eine  drei- 
fache Dicke  des  Knochens  aussprach.  Es  muss  zugegeben  werden, 
dass  diese  Befunde  mit  grösserer  Wahrscheinlichkeit  fiir  die  Diagnose 
der  Syphilis    zu    verwerten    sind    als    die    anderen.     Da  aber  über  die 

I)  Charles  Wiener,   „Perou  et  Bolivie",   Paris    1880,   S.   646. 


-      356      - 

Zeit  der  Schädel  absolut  wSicheres  nicht  feststeht,  miiss  auch  hier  die 
„präcolumbische"  Syphilis  in  dubio  gelassen  werden. 

Am  5.  Juli  1877  sprach  Thulie  in  der  Pariser  Anthropolo- 
gischen Gesellschaft  über  die  syphilitischen  Affektionen  des  vSchädels 
und  legte  dabei  einen  Indianerschädel  aus  Pernambuco  (aus  nach- 
columbischer  Zeit)  vor.  Bei  dieser  Gelegenheit  betonten  Parrot  und 
Broca  nochmals  ihre  Ueberzeugung  von  der  präcolumbischen  Existenz 
der  Syphilis  in  Peru  ^). 

Im  Jahre  1880  demonstrierte  Moreno  der  Pariser  Anthropo- 
logischen Gesellschaft  prähistorische  Schädel  aus  Patagonien,  die  nach 
Moreno  der  glacialen  Epoche  angehörten,  also  sicher  präcolumbisch 
waren.  Der  Bericht  verzeichnet  dann  die  folgenden  Aeusserungen 
über  den  einen  dieser  Schädel: 

„M.  Bordier  fait  remarquer  la  lesion  evidemment  syphilitique 
de  Tun  des  cränes  rapportes  par  M.  Moreno  .  .  . 

M.  Berti  Hon  fait  observer  que  ce  second  cräne  presente  les 
traces  profondes  d'une  osteite  de  tres  longue  duree  „et  ajoute-t-il,  je 
ne   vois  que  la  Syphilis  qui  ait  pu  la  causer." 

M.  Broca  partage  cet  avis.  „L'osteite,  dit-il,  ne  parait  ni  tuber- 
culeuse  ni  traumatique;  la  syphilis  tertiaire  peut  seule  l'avoir  produite. 
Cette  piece  est  encore  plus  demonstrative  que  les  cränes  d'enfants 
rapportes  du  Perou  et  sur  lesquels  se  constataient  des  lesions  attri- 
buees  ä  la  meme  cause"  -). 

Leider  fehlt  eine  genauere  Beschreibung  dieser  syphiHtischen 
Ostitis,  so  dass  auch  in  diesem  Falle  die  Zweifel  nicht  beseitigt 
werden. 

In  einem  Aufsatze  über  „autochthone  Syphilis  in  Bolivia  und 
Peru"  erwähnt  A.  S.  Ashmead  uralte  ausgegrabene  Schädel  der 
Aymaras  in  Peru  mit  narbigen  Vertiefungen  und  Usuren ,  die  auf 
Syphilis  hindeuten^). 

Die  eigentliche  Diskussion  über  die  präcolumbische 
Syphilis  an  Knochen  von  Urbewohnern  Amerikas  knüpft 
an  die  in  der  That  sehr  bemerkenswerten  Funde  von  Joseph 
Jones  in  den  Mounds  und  Gräbern  von  Tennessee  an.  Sie 
sind  in  der  That  von  allen  bisher  besprochenen  Knochenfunden  die 
einzigen,  die  am  meisten  auf  Syphilis  hindeuten. 


1)  Thulie,   ,,Sur  la  deformation  syphilitique  du  cräne"    in:    Bulletin    de    la    Societe 
d'Anthrop.  de  Paris,   2e  serie,  Paris   1877,  T.  XII,  p.  459 — 460. 

2)  Buret,  a.  a.  O.,  S.  50 — 51. 

3)  Referat  in  Monatshefte  für  praktische  Dermatologie    1895,  Bd.  XXI,  S.   650. 


Der  Bericht  von  Dr.  Joseph  Jones  erschien  im  Jahre  1876  i). 
Es  seien  aus  demselben  die  die  Funde  syphihtischer  Knochen  be- 
treffenden Stellen  wörtlich  angeführt. 

Bezüglich  einiger  Knochen  aus  den  Mounds  am  Cumbcrland 
River  bemerkt  Jones: 

„Several  of  the  skeletons  in  tliesc  mounds  bore  unmistakable  marks  of  the  lavages 
of  Syphilis.  In  one  skeleton,  which  appearcd  lo  manifest  in  the  greatest  degree  the  ravages 
of  ihis  fearful  disease,  the  bones  of  the  cranium,  the  long  bones  of  the  arm  (the  humerus, 
iilna,  and  radius),  and  the  long  bones  of  the  thigh  and  leg  (the  femur,  tibia  and  fibula)  bore 
deep  erosions,  nodcs,  and  marks  of  severe  inflammatory  action.  Many  of  the 
long  bones  were  greatly  thickened,  presenting  a  nodulated,  eroded  and  cnlarged  appcarance. 
When  sections  were  made,  they  presented  a  spongy  appearance,  with  an  almost  complete 
obliteration  of  the  mcdullary  cavities.  The  specific  gravity  of  the  bones  was  diminished, 
and  the  microscopical  characters  were  in  all  respects  similar  to  those  of  undoubled  cases  of 
constitutional  Syphilis,  which  I  have  observed  in  my  hospital  and  civil  medical  practice. 
Every  competent  medical  observer  to  whom  these  bones  have  lieen  sub- 
mittcd,  has  concurred  in  the  vicw  that  Syphilis  is  the  only  disease  which 
Cüuld  have  produccd  such   profound  and  universal    structural  alterations. 

.  .  .  The  grave  by  the  side  of  the  one  last  mentioned  was  about  six  feet  in  length, 
and  contained  the  skeleton  of  an  adult  male,  the  bones  of  which  were  extensively  diseased 
as  if  by  Syphilis.  The  long  bones  of  the  arms,  ihighs  and  legs  were  disfigured  by  n  o  d  e  s 
and  erosions.  .  .  . 

Towards  the  northern  boundary  of  the  mound,  in  a  stone  grave  immediately  at  the 
foot  of  the  two  principal  graves,  and  at  right  angles  with  them,  a  skeleton  was  found  with 
the  head  towards  the  setting  sun,  The  long  bones  are  strongly  niarked  by  syphilitic 
nodes.  The  skull  is  in  good  State  of  preservation.  This  cranium  had  several  Indu- 
ration s  and  nodes  on  the  bones,  as  if  they  had  been  acted  on  during  life  by  the 
syphilitic  virus.  The  external  table  of  the  frontal  bone  appears  to  have  been  especially  af- 
fected.  The  superciliary  ridge  is  very  rough  and  nodulated,  and  the  nasal  bones  are 
thickened,  roughened  and  rounded.  The  occipital  bone  shows  the  effccts  of  pressure, 
M-hich  is  much  more  marked  in  the  right  parietal  protuberance,  it  being  much  fuller  and 
thrown  further  back  than  the  lelt.  The  upper  extremities  of  the  occipital  bone  are  separated 
by  a  transverse  suture  about  one  inch  in  length. 

I  have  shown  by  careful  observalions  that  bones  taken  from  stone  coffins  and  burial 
mounds  at  Nashville,  Franklin,  Old  Town  in  Tennessee,  and  at  Hickman  in  Kentucky 
bcar  unmistakable  marks  of  the  ravages  of  Syphilis  .  .  .  The  bones  are  in  many  instances 
thoroughly  diseased,  enlarged  and  thickened,  with  the  medullary  cavity  completely  obliterated 
by  die  effects  of  inflammatory  action  and  with  the  surface  eroded  in  many  places.  These 
erosions  resemble,  in  all  respects,  those  caused  by  syphilis,  and  attended  with  ulceration  of 
the  skin  and  soft  parts  during  life  .  .  .  The  bones  of  the  cranium,  the  fibula,  the  ulna, 
the  radius ,  the  clavicle,  the  sternum,  and  the  bones  of  the  face  exhibited  immistakable 
traces  of  periostitis,  osiitis,  endostitis,  caries,  necrosis  and  exostosis. 
The  medullary  membrane  was  evidenlly  involved  in  many  cases  to  an  equal  degree  witli  the 


i)  J.  Jones,    „Explorations    of    the    Aboriginal    remains    of  Tennessee"    in:    Smiht- 
äonian  Contributions  to  Knowledge,  Washington   1876,  S.  49,  61,  65^ — 73,  85. 


—        >-)0O       — 

periosteuni ;  the  differcnce  in  ihe  appearance  of  thc  inoducls  of  tbe  syphilic  tlisease  being 
due  most  probably  to  the  great  quantity  of  fat  and  other  loosc  tissues,  among  which  the 
vessels  of  the  medullary  mcmbrane  run.  Wlien  thin  scctions  df  these  bones  were  caiefully 
examined  with  the  naked  eye,  and  by  the  aid  of  niagnifying  glasses,  portions  were  found 
rcsembling  cancellous  tissue  fiom  the  enlargement  and  irregulär  erosions  of  the  Haversian 
canals,  and  increase  in  the  number  and  size  of  the  iacunae ;  whiist  other  portions  prcsentcd 
tlie  hardened  condition  known  as  sclerosis.  I  observed  in  these  bones,  and  espc- 
cially  in  those  of  the  cranium,  the  various  forms  of  osseous  ulcera- 
t  i  o  n  s  which  h  a  v  e  li  e  e  n  d  e  s  c  r  i  b  e  d  b  y  p  a  t  h  o  1  o  g  i  s  t  s  a  s  c  h  a  r  a  c  t  e  r  i  s  t  i  c  o  f 
the  action  of  Syphilis,  viz.,  rounded  ulcerations  with  glazed  surfaces, 
and  with  m  a  r  k  e  d  h  a  r  d  e  n  i  n  g  o  r  e  b  u  r  n  i  f  i  c  a  t  i  o  n  o  f  the  b  o  n  e  b  e  n  e  a  t  h  ; 
tuberculated  ulcerations,  dependent  not  only  on  periosteal  deposit  but  upon  chronic  inflain- 
niation  of  the  compact  tissue  itself;  reticulated  ulcerations,  in  which  a  network  of  periosteal 
deposit  bad  been  fornied,  and  which  had  been  perforated  by  ulcers,  subsequcntly  forming 
and  assuming  the  annular  type.  .  .  . 

The  bones  of  another  cranium,  froni  a  slone  grave  on  the  banks  of  the  river  pre- 
sented  nodular  swellings,  and  the  long  bones  of  the  skeleton  to  which  it  belonged 
gave  unmistakable  evidences  of  the  ravages  of  Syphilis  in  the  numerous  nodcs,  and  in  the 
almost  complete  obl  Iteration  of  the  medullary  cavity  in  the  tibia." 

Auf  Grund  dieser  Befunde,  die  allerdings,  wie  jeder  l.eser  zu- 
geben wird,  sehr  starken  Verdacht  auf  die  syphilitische  Natur  der 
konstatierten  Veränderungen  erwecken,  kommt  Jon  eszu  dem  Schlüsse, 
dass  die  „diseased  bones  which  I  coUected  from  the  stone  graves  of 
Tennessee  are  probably  the  most  ancient  syphilitic  bones  in  the 
World".  Dies  sei  von  grösster  Bedeutung  für  die  Geschichte  der 
Syphilis  und  für  den  Nachweis  ihrer  Herkunft  aus  der  westlichen 
Hemisphäre. 

Da  Jones  besonders  von  den  krankhaften  Veränderungen  am 
letztgenannten  Schädel  ausdrücklich  hervorhebt,  dass  alle  für  die  sy- 
philitische Caries  charakteristischen  Befunde,  insbesondere  die  Ebur- 
nation  des  umgebenden  Knochens  vorhanden  waren,  auch  die  an 
einem  anderen  Schädel  beschriebene  Verdickung  der  Nasenbeine  für 
Syphilis  spricht,  während  allerdings  die  übrigen  Befunde  auch  bei 
anderen  Krankheiten  vorkommen  könnten  (Periostitis,  Ostitis,  Caries, 
Nekrose,  Exostose),  so  verdienen  seine  Mitteilungen  allerdings  die 
grösste  Beachtung. 

Wie  schw^ierig  es  aber  trotz  alledem  ist,  zu  einem  absolut  sicheren 
Urteile  über  die  Erdige:  Knochcns3'philis  oder  nicht?  zu  kommen, 
und  wie  berechtigt  daher  der  oben  begründete  Skepticismus  in  dieser 
Beziehung  ist,  das  geht  mit  aller  Deutlichkeit  aus  dem  Umstände 
hervor,  dass  selbst  diese  scheinbar  so  undeutlichen  Befunde  von  Jones 
die  verschiedenartigste  Beurteilung  von  Seiten  angesehener  Patho- 
logen gefunden  haben. 


—     359     — 

Virchow,  der  die  betreffenden  Knochen  nur  nach  der  Be- 
schreibung- kennt,  äussert  sich  folgendermassen  darüber: 

„Während  man  früher  sehr  achtlos  an  den  alten  Knochen  vorüber- 
ging-, ist  seit  ung-efähr  lo  Jahren  auch  in  Amerika  das  Interesse  an 
den  prähistorischen  Knochen  allmählich  gewachsen,  und  es  sind  immer 
mehr  Beispiele  angeführt  worden,  dass  man  auch  Knochen  mit  syphili- 
tischen Veränderungen  gefunden  habe.  Es  ist  das  um  so  merk- 
würdiger, als  bei  uns  in  der  alten  Welt  meines  Wissens  aus  alten 
Gräbern  keine  derartig'en  Knochen  notiert  worden  sind;  so  ist  meiner 
Erinnerung  nach  nicht  berichtet  worden,  dass  z.  B.  dieser  oder  jener 
einen  syphilitischen  Knochen  in  einem  Hünengrabe  gefunden  habe. 
Aber  in  Amerika  ist  es  nicht  g'anz  selten,  dass  man  einen  sogenannten 
Mound  anschneidet  und  nach  einiger  Zeit  einen  syphilitischen  Knochen 
daraus  produziert.  Am  meisten  sind  bis  jetzt  in  den  A'^ordergrund 
getreten  die  alten  IMounds  von  Tennessee,  zum  Teil  auch  die  von 
Kentucky,  namentlich  ist  über  erstere  eine  Reihe  von  Angaben  vor- 
handen, die  alle  darin  übereinstimmen,  dass  sie  auf  Knochensyphilis 
bezogen  worden  sind.  Wir  besitzen  solche  Berichte  von  Aerzten, 
die  als  glaubwürdig  und  sachverständig  gelten,  z.  B.  von  Joseph 
Jones.  • —  Ich  muss  nun  leider  sagen,  dass  eines  noch  immer  fehlt, 
nämlich  eine  wirklich  exakte  Beschreibung.  Es  wird  gesagt,  dass  die 
Knochen  verdickt  seien,  die  Markhöhle  mit  Knochensubstanz  gefüllt, 
dass  Eburnation ,  Anschwellungen  und  Höcker,  gelegentlich  auch 
„Erosionen"  und  geschwürige  Stellen  (Caries)  daran  vorkämen.  Aber 
keine  von  diesen  Veränderung-en  ist  so  deutlich  charakterisiert,  dass 
ich  sagten  könnte:  sie  muss  syphilitisch  sein"'). 

Noch  wichtiger  ist  das  skeptische  Urteil  von  Putnam,  der  die 
von  Jones  ausg-egrabenen  Skelette  selbst  gesehen  hat  und  auch 
das  gleiche  auf  Autopsie  beruhende  Gutachten  anderer  Pathologen 
mitteilt: 

„Several  bones  collected  in  this  mound  show  the  effect  of  di- 
sease  of  some  kind,  and  are  such  aswould  be  generally  called  syphi- 
liti(^;  but  several  pathologists  who  have  examined  them  unite  in  sta- 
ting  that  they  do  not  prove  the  existence  of  syphilis,  as  other  diseases 
than  Syphilis  might  leavc  such  effects.  —  I  am  forced  to  differ  from 
liim  in  some  of  his  conclusions.  particulary  so  in  regard  to  the  evi- 
dence  of  syphilis  prevailing  in  this  old  nation  of  Tennessee.  Undoub- 


I     R.   Virchow,    ,, Beitrag  zur  Geschichte  der  Lues",  a.   a.   O.,   S.   4. 


—     36o     — 

tedly  very  man}^  of  the  human  bones  show  the  results  of  diseasc. 
but  it  may  be  that  the  disease  was  not  syphihs,  and  that  other  di- 
seases affect  the  bones  in  a  similar  manner"  ^). 

Demgegenüber  betont  auf  der  anderen  Seite  ein  hervorragender 
deutscher  Pathologe,  Prof.  Edwin  Klebs,  der  im  Jahre  1896  die 
Sammlung  von  Jones  selbst  besichtigt  hatte,  die  syphilitische 
Natur  der  betreffenden  Knochenaffektionen.  „Indem  ich",  schreibt  er 
in  einer  Korrespondenz  der  „Medizinischen  Woche",  ,,die  bemerkens- 
werte Auseinandersetzung"  von  Scheu  be  in  Ihrer  letzten  Nummer 
lese,  welcher  sich  so  überzeugend  für  den  amerikanischen  Ursprung 
der  Syphilis  ausspricht,  erinnere  ich  mich  eines  oder  mehrerer  alter 
Gräberschädel  aus  der  Sammlung  des  Dr.  Jones  in  New  Orleans 
(Corner  of  Washington  Camp),  w'elche  der  Vater  des  jetzigen  Besitzers 
aus  Steingräbern  der  sogen.  Mound-Builders  im  Mississippithal  ge- 
sammelt hatte  und  die  unverkennbare  syphilitische  Knochen- 
erkrankungen  aufwiesen.  Es  ist  möglich,  dass  Virchow  von 
diesen  Funden  keine  Kenntnis  hatte"-).  Nach  Klebs  deutete  die 
Schädelbildung  auf  eine  dem  heutigen  Indianertypus  zeitlich  voraus- 
gehende Race  ^^). 

PVeilich  ist  der  springende  Punkt  dieser  ganzen  Diskussion  die 
Frage  des  Alters  jener  Gräber  in  Tennesse.  Ihr  präcolumbischer 
Charakter  ist  keineswegs  sicher  ermittelt.  Darüber  bemerkt  L.  Wolff : 
„Wenn  auch  die  Steinsärg"e  und  die  „Mounds"  der  Indianer  Skelette 
lieferten,  die  gewiss  verdächtige  Merkmale  der  Syphilis  zeigten,  und 
diese  Begräbnisorte  und  Behälter  als  sehr  altertümlich  geschildert 
wurden,  so  ist  nicht  ausser  Acht  zu  lassen,  dass  solche  .Sarkophage 
und  Begräbnisplätze  selbst  bis  auf  neuere  Zeiten  für  die  Beisetzung 
der  toten  Indianer  gebraucht  wurden,  und  Dr.  Brinton  sowie  auch 
andere  haben  denselben  Ornamente  und  Artikel  entnommen,  die  ent- 
schieden europäischen  Ursprungs  waren"  ■*). 


i)  F.  W.  Putnam,  ,,Arcliaeological  Explorations  in  Tennessee"  in:  Reports  of  ihe 
Peabody  Museum  of  American  Archaeology  and  Ethnology,  Cambridge  1880,  Vol.  II, 
p.   316  u.   p.   305. 

2)  Dies  ist  nicht  zutreffend,  wie  aus  der  obigen,  sclion  Ende  1895  i"  ^^^  Berliner 
Dermatologischen  Gesellscdaft  vorgetragenen  Mitteilung  Virchow's  über  die  Jones'schen 
Befunde  hervorgeht. 

3)  Die  Medizinische  Woche   1902,  Nr.  3,  S.   28. 

4)  L.  Wolff,  ,,Die  Syphilis  unter  den  Unvölkern  Amerikas  mit  besonderer  Bezug- 
nahme auf  ihr  Bestehen  daselbst  vor  der  Entdeckung  Amerikas  durch  Columbus"  in:  Der- 
matologische Zeitschrift    1894,  herausgegeben   von   O.   Lassar,   Bd.   I,   S.    230. 


—     36i      — 

Damit  entfällt  also  jeder  Grund,  noch  weitere  Untersuchung'en 
über  den  syphilitischen  oder  nichtsyphilitischen  Charakter  der  Jon  es- 
schen Skelette  anzustellen. 

Negativ  in  Beziehung  auf  die  sichere  Feststellung  von  Syphilis 
fielen  auch  die  Untersuchungen  aus,  die  Whitney  an  alten  Skeletten 
anstellte  ^}. 

Laut  pers(")nlicher  JVIitteilung  von  Professor  Franz  Boas  (vom 
i8.  Juli  igoi)  hat  Dr.  Weir  Mitchell  Prudden  eine  grosse  Zahl 
von  präcolumbischcn  Knochen  aus  Kentucky' ,  die  im  Museum  of 
Natural  History  in  Xew  York  sich  befinden,  durchforscht,  aber 
nichts  mit  Sicherheit  als  Syphilis  zu  Deutendes  gefunden,  ob- 
gleich eine  sehr  grosse  Zahl  (2o"/o)  von  Knochen  die  merkwürdigsten 
pathologischen  A'eränderungen  (Wucherungen ,  Erosionen  u.  s.  w.) 
zeigten. 

Derselbe  Dr.  Prudden  konstatierte  nach  IMitteilung  von  Dr. 
Hyde  an  zwei  Tibien  aus  einem  altertümlichen  „Indian  Mound"  in 
Colorado  eine  „chronische,  rareficierende  und  formative  Ostitis  mit 
Osteomyelitis  und  chronisch  formativer  Periostitis",  konnte  aber  die 
Frage  der  Syphilis  weder  bejahen  noch  verneinen  -). 

Nach  Putnam  und  J.  P.  ]\Iac  Lean  befanden  sich  in  der 
grossen  Sammlung  von  Indianerschädeln  in  dem  Museum  der  „Aca- 
demy  of  Natural  Science  of  Philadelphia",  wo  auch  die  berühmte 
,,Morton-Collection"  aufbewahrt  wird,  einige  Specimina  mit  krank- 
haften Veränderungen ,  die  auf  SyphiHs  hindeuten.  Jedoch  ist  auch 
in  diesem   Fall  das  Alter  fraglich  ^). 

Von  grossem  Interesse  sind  die  im  Jahre  igoi  von  Dr.  Thomas 
Gann,  Districts-Chirurg"  in  Corozal  (Britisch  Honduras)  in  einem 
Mound  der  dortigen  Gegend  gemachten  Funde  ■*).  In  einem  nahe 
dem  Städtchen  San  Andres  im  nördlichen  Britisch  Honduras  g'e- 
legenen  Indianermound  fand  Gann  ein  irdenes  (jefäss,  in  welchem 
neben    anderen    Geg-enständen   drei    Thonfiguren    sich  befanden,    von 


i)  W.  F.  Whitney,  „On  ihe  existence  of  syphilis.  in  America  before  the  discovery 
by  Columbus"  in:   Boston  Medical  and  Surgicai  Journal  vom    19.   April    1883. 

2)  J.  N.  Hyde,  ,,A  contribulion  to  the  study  of  Pre-Columbian  Syphilis  in  America" 
in  Journal  of  the  Medical  Sciences,  Philadelphia   1891,  S.   117  — 131. 

3)  L.   Wolff,  a.  a.  O.,  S.   232. 

4)  Thomas  Gann,  ,,Recent  discoveries  in  Central-America  proving  the  precolani- 
bian  existence  of  Syphilis  in  the  new  world"  in:  The  Lancet  vom  12.  Oktober  1901, 
S.  968 — 970. 


—     302     — 

denen  die  eine  in  den  Besitz  des  British  Museum  übergeg-angen  ist. 
Jede  dieser  Figuren  ist  4Y2  '^^^^  hoch  und  stellt  eine  Person  dar,  die 
nach  der  Kopfbedeckung  wahrscheinlich  ein  Maya-Priester  ist.  Der- 
selbe sitzt  auf  einem  niedrigen  vierbeinigen  Stuhle.  Die  Figuren 
sind  bemalt.  Das  AuffälHgste  waren  eigentümliche  Veränderungen 
der  Genitalien.  Die  Geschlechtsteile  sind  in  allen  drei  Fällen  unver- 
hältnismässig gross  dargestellt.  Der  Penis  hat  den  Umfang  eines 
Unterschenkels;  er  wird  an  der  Eichel  von  der  einen  Hand  umfasst, 
während  die  andere  Hand  ein  spitzes  Instrument  hält,  mit  welchem 
eine  Operation  am  Gliede  gemacht  werden  soll  oder  gemacht  worden 
ist,  wahrscheinlich  das  Letztere.  Denn  man  sieht  an  der  oberen 
Fläche  der  enorm  vcrgrösserten  Eichel  mehrere  Incisionen. 

Neben  diesen  bemalten  Figuren  fand  Ga nn  noch  das  imbe- 
malte  Modell  eines  menschlichen  Penis  in  natürlicher  Grösse  und  im 
Zustande  der  halben  Erektion  und  mit  drei  länglichen  Incisionen  an 
der  Oberseite  der  Glans,  die  offenbar  mit  einem  scharfen  Messer  auf 
den  noch  weichen  Thon  eingeritzt  waren. 

Was  aber  das  Merkwürdigste  war,  in  einer  Steinkammer  des- 
selben Mound  entdeckte  Gann  die  Knochenreste  eines  männlichen 
Individuums  von  mittlerer  Grösse.  vSie  waren  sehr  fragil,  einige 
Knochen  waren  ganz  verschwunden.  Die  übriggebliebenen  zeigten 
keine  Spuren  teilweiser  Verbrennung-  und  mit  Ausnahme  der  Tibien 
keinerlei  Abnormitäten. 

Die  Veränderungen  der  Tibien  beschreibt  (iann  folgcnder- 
massen :  „The  upper  articular  surfacc  of  the  right  tibia  had  dis- 
appeared.  The  shaft  instead  of  being  triangulär  was  rounded  in 
section ,  the  proeminent  angles  at  the  fronts  and  sides  being  obli- 
terated;  it  was  slightly  bowed,  with  the  convexity  anteriorly,  and 
was  a  g-ood  deal  enlarged,  especially  in  its  upper  two-thirds,  wdiich 
were  composed  chiefly  of  friable  spongy,  cancellous  tissue,  which 
rendered  the  böne  much  lighter  than  it  appeared.  The  surface  was 
exceedingl}^  rough,  especially  in  the  upper  part  of  the  bone,  being 
covered  with  a  number  of  small  nodular  outgrowths,  between  which 
were  .small  pits  or  depressions.  The  bone  was  not  examined  micro- 
scopically.  Of  the  left  tibia  only  small  fragments  remained,  but  as 
far  as  could  be  judged  from  these  a  change  somewhat  similar  to 
that  undergone  b}^  the  right  bone  had  also  taken  place  here,  though 
not  to  such  a  marked  extcnt". 

Die  Fibulae  waren  nicht  mehr  vorhanden.  Gann  bemerkt  weiter, 
dass  er  gegen  100  alte  Mounds  in  Central-Amerika  geöffnet  habe. 
Aber    nur    in    diesem    einzigen    Falle    hätten    die    Knochen    keinerlei 


-     363      - 

Spuren  von  vorhergegangener  Verbrennung  dargeboten.  Nach  den 
Berichten  von  Sahagun,  Torquemada  u.  A.  sei  diese  nur  bei 
Leuten  unterlassen  worden,  die  an  Syphilis  verstorben  waren.  Daher 
schliesst  Gann  auch  hier  auf  das  Vorhandensein  derselben,  obgleich 
er  zugiebt,  dass  auch  Caries  oder  andere  nichtsyphilitische  Prozesse 
die  Veränderungen  verursacht  haben  könnten.  Hierzu  komme  nun 
aber  noch  die  bildliche  Darstellung  einer  Affektion  des  Penis  an 
demselben  Individuum,  sowie  der  Umstand,  dass  beide  Tibien 
afficiert  waren.  Daraus  könne  man  mit  Sicherheit  auf  Syphilis 
schliessen. 

Da  mir  dieser  Bericht  auf  den  ersten  Blick  etwas  abenteuerlich 
erschien,  so  bat  ich  den  auf  dem  Gebiete  der  centralamerikanischen 
Kultur  am  meisten  erfahrenen  deutschen  Gelehrten,  Herrn  Professor 
Eduard  Seier,  um  Nachprüfung  der  Angaben  von  Gann.  Der- 
selbe hatte  die  Güte,  in  einem  Briefe  vom  26.  April  1902  sich 
folgendermassen   darüber  zu  äussern: 

,,Ich  muss,  nachdem  ich  den  Artikel  genau  gelesen,  doch  sag'en, 
dass  mir  der  ganze  Bericht  einen  vertrauenerweckenden  Eindruck 
macht  und  ich  zunächst  keine  Veranlassung  habe,  an  der  Richtigi-ceit 
des  P\mdes  und  den  Einzelheiten  zu  zweifeln.  Die  Thonfigürchen 
scheinen  allerdings  furchtbar  roh  zu  sein.  Auch  scheint  mir,  wenn 
man  erwägt,  dass  bis  in  das  18.  Jahrhundert  hinein  in  dem  benach- 
barten Peten  ununterworfene  heidnische  Ma3^a-Reiche  bestanden,  der 
präcolumbische  Charakter  des  Grabes  nicht  ausser  Zweifel  zu 
stehen.  Die  an  den  Figuren  und  an  dem  Penismodell  zur  An- 
schauung gebriichte  Handlung  scheint  mir  weniger  eine  Operation 
als  eine  religiöse  Handlung,  Blutentziehung  am  Penis,  wie  sie  in 
der  That  wiederholt  berichtet  wird,  darstellen  zu  sollen". 

Dieses  massgebende  kritische  Urteil  lässt  die  Bedeutung  des 
Gann 'sehen  Fundes  für  unsere  Frage  ids  sehr  gering  erscheinen, 
wenn  er  auch  ein  erhebliches  kulturg-eschichtliches  Interesse  darbietet. 

Da  sich  in  ganz  Amerika  nach  den  Urteilen  eines  Sei  er, 
Brinton,  Boas,  v.  Euschan  u.  A.  eine  Kontinuität  zwischen  prä- 
und  postcolumbischer  Indianerkultur  nachweisen  lässt,  so  dürften  auch 
spätere  ähnliche  Funde  wie  die  von  Jones,  bei  denen  man  mit 
grosser  Wahrscheinlichkeit  auf  Syphilis  schliessen  darf,  dieselben 
Schwierigkeiten  der  chronologischen  Beurteilung-  mit  sich  bringen  wie 
alle  bisherigen. 

Anders  steht  es  mit  der  alten  Welt.  Hier  kennen  wir  ganz 
genau  das  hohe  Altertum  der  Hünengräber,  der  Pfahlbauten,  der 
Sieinkammern,  der  altg'ermanischen,  altslavischen   Grabhügel,  ja  sogar 

Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  24 


—    364    — 

der  Begräbnisstätten  aus  dem  Mittelalter,  und  in  allen  diesen 
wurde  bisher  niemals  ein  einziger  syphilitischer  Knochen 
gefunden. 

Wenn  man  also  auch  in  Beziehung  auf  Amerika  zu  einem  „non 
liquet"  kommt,  so  scheint  mir  doch  dieser  Unterschied  zwischen  der 
neuen  und  der  alten  Welt  gebührend  herv^orgehoben  werden  zu 
müssen,  und  die  unerbittliche  Forderung  an  die  Gegner  des  neuzeit- 
lichen Ursprunges  der  Syphilis  bleibt  bestehen,  dass,  wenn  sie  nun 
einmal  auf  die  präcolumbischen  Knochenfunde  einen  so  grossen 
Werth  legen,  sie  zunächst  für  die  alte  Welt  solche  beibringen 
müssten ,  was  ihnen  bisher  noch  nicht  gelungen  ist  und  niemals  ge- 
lingen  wird. 


SECHSTES  KAPITEL. 

Die  pseudosyphilitischen  Hautkranl<heiten. 

§27.    Allgemeine  Bedeutung'  der  pseudosypliilitisclien  Affektionen 

der  Haut. 

Die  erstaunliche  Entwickelung"  der  Dermatolog"ie  in  der  zweiten 
Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  hat  besonders  die  klinische  Dia- 
gnostik der  Hautkrankheiten  in  reichstem  Masse  gefördert.  Indem 
einerseits  eine  Meng"e  von  reinen  Sammelbegriffen  der  älteren  Derma- 
tologen, wie  „Ekzema",  „Krätze",  „Impetigo",  „Porrigo",  ,, Liehen"  u.  s.  w. 
in  viele  einzelne,  klinisch  und  pathogenetisch  scharf  von  einander  ge- 
trennte Krankheitsformen  aufgelöst  wurden,  andererseits  eine  schärfere, 
nach  wissenschaftlichen  (jrundsätzen  verfahrende  Beobachtung  eine 
grosse  Zahl  neuer  Hautkrankheiten  zu  Tage  förderte,  erfuhr  die 
dermatologische  Diagnostik  eine  ausserordentliche  Bereicherung  ihres 
Inhaltes^)  und  eine  immer  mehr  sich  verfeinernde  Ausbildung"  ihrer 
Methode.  Hieraus  ergaben  sich  zwei  Notwendigkeiten  in  Beziehung 
auf  die  Stellung  der  Dermatologie  innerhalb  der  klinischen  Medizin. 
Erstens  musste  dieselbe  als  eine  eigene  Disciplin,  welche  sowohl  in 
wissenschaftlicher  als  praktischer  Hinsicht  die  Lebensarbeit  des  ein- 
zelnen Forschers  vollkommen  in  Anspruch  nimmt,  von  der  inneren 
Medizin  bezw.  Chirurgie  abgetrennt  werden  -),   so    dass  auch  die  Der- 


1)  Sehr  fein  bemerUt  Rille  im  Vorwort  zu  seinem  Irefflichen  „Lehrbuch  der  Haut- 
und  Geschlechtskrankheiten"  (Jena  1902,  S.  3):  „Bekanntlich  ist  das  Material  an  Haut- 
krankheiten  gerade  dort  am  grössten,    wo  es  am  besten  diagnostiziert  wird."     • 

2)  Deshalb  hat  W.  v.  Leube  mit  Recht  die  Maut-  und  Geschlechtskrankheiten  in 
sein  klassisches  Werk  über  die  spezielle  Diagnose  der  inneren  Krankheiten  nicht  mit  auf- 
genommen, hat  aber  Unrecht  mit  der  Begründung  dieses  Verfahrens.  Denn  nach  ihm 
kommen  bei  den  Hautkrankheiten,  die  er  fälschlich  immer  noch  als  ,, integrierende  Bestand- 
teile der  inneren  Medizin'-  auffasst,  der  ,, diagnostische  Calcül,  die  Zusammenfassung  von 
Symptomenkomplexen,  die  Abwägung,  welche  von  den  gefundenen  Erscheinungen  aus  der 
diagnostischen  Verarbeitung  des  einzelnen  Krankheitsbildes  auszuschalten  sind,  nur  in  unter- 
geordnetem Maasse  in  Betracht",  während  die  Kenntnis  der  äusseren  Form  das  allein  Maass- 
gebende   sein    soll.      {W.     von     Leube,     „Spezielle    Diagnose    der    inneren    Krankheiten", 

24* 


-     366     - 

matolog-ie,  trotz  ihrer  vielfachen  Beziehungen  zur  inneren  ]\Iedizin 
und  Chirurgie,  als  ein  selbständiger  Zweig  der  Medizin  mit 
eigenen  wissenschaftlichen  Aufgaben  betrachtet  werden 
muss.  Zweitens  aber  musste  im  Gegensatze  zu  dieser  'JVennung  die 
innige  Verknüpfung  der  Dermatologie  mit  den  venerischen  Leiden, 
insbesondere  der  Syphilidologie,  immer  deutlicher  zu  Tag'e  treten. 
Hebra's  bekanntes  Wort,  dass  nur  der  ein  guter  Syphilidolog-e  sei, 
der  zugleich  als  guter  Dermatologe  sich  erweise,  drückt  die  Un- 
möglichkeit einer  Trennung'  der  Dermatologie  von  der 
S3"philidologie  deutlich  aus. 

Nichts  aber  illustriert  dies  letztere  besser  als  die  Thatsache, 
dass  die  neuere  Dermatologie  eine  grosse  Zahl  von  sogenannten 
pseudosyphilitischen  Krankheiten  der  äusseren  Decke  zu  Tage  ge- 
fördert hat,  d.  h.  solche  Teiden,  die  mit  S}'philis  zu  verwechseln  sind 
und  gewiss  nicht  nur  in  der  früheren  Zeit  fast  immer  für  syphilitisch 
gehalten  wurden,  sondern  auch  heute  noch  oft  g'enug  mit 
Syphilis  verwechselt  werden,  sogar  von  specialistisch  ausge- 
bildeten Dermatologen. 

Es  betrifft  dies  einerseits  Affektionen  der  männlichen  und  weib- 
lichen Geschlechtsteile,  der  Regio  analis,  der  Alund-  und  Rachenhöhle, 
der  Nase  u.  s.  w. ,  andererseits  aber  jene  wichtige  Kombination,  bei 
welcher  krankhafte  nichts\philitische  Veränderungen  zugleich  an 
Genitalien  und  After,  an  Genitalien  und  Mundschleimhaut,  an  Anus 
und  Mundschleimhaut,  am  übrigen  Körper  und  den  Genitalien ,  end- 
lich am  ganzen  Körper,  den  Genitalien,  der  Regio  analis  und  den 
oberen  Luftwegen  vorkonunen.  Schliesslich  kommen  noch  jene  Krank- 
heiten in  Betracht,  die,  ohne  syphilitisch  oder  venerisch  zu  sein  oder 
sich  durch  jene  Lokalisation  auszuzeichnen,  doch  nach  einem  Bei- 
schlaf bezw.  durch  geschlechtlichen  Verkehr  auftreten  und  so  als 
scheinbar  venerische  Leiden  imponieren  können. 

Die  Litteratur  über  die  syphilisähnlichen  Hautkrankheiten  ist 
eine  verhältnismässig  spärliche.  Da  erst  die  neueren  Fortschritte  in 
der  Dermatologie  eine  schärfere  Differenlialdiagnose  ermöglichten  und 
die  Erkenntnis,  dass  z.  B.  ein  Symptomenkomplex  von  „breiten  Con- 
dylomen"   am  Anus,    Geschwüren    und    Plaques   im  Munde  oder  von 


5.  Aufl.,  Leipzig  1898,  Bd.  11,  S.  544.)  Dies  ist  meines  Erachtens  völlig  unzutreffend,  da 
der  „diagnostische  Calcül"  ,  die  klinische  Kombination  in  der  heutigen  Dermatologie 
mindestens  eine  ebenso  grosse  Rolle  spielen  wie  m  der  Diagnose  der  inneren  und  chirur- 
gischen Krankheiten.  Man  denke  z.  B.  an  ein  so  vielgestaltiges  und  doch  in  klinischer 
Hinsicht  so  scharf  umgrenztes  Krankheitsbild  wie  das  des  von  Unna  entdeckten  sebor- 
hoischen  Ekzems,  welches  dem  diagnostischen  Calcül  reichste  Gelegenheit  bietet,  sich  zu  belhätigen. 


-      367      - 

Papeln  am  Penis,  am  Körper  und  im  ^Munde  durchaus  nicht  S3'phili- 
tischer  Natur  zu  sein  braucht ,  so  werden  wir  begreifen ,  dass  in 
früherer  Zeit  diese  und  viele  andere  pseudosyphilitische  Hautaffek- 
tionen der  Syphilis  zug'erechnet  wurden.  Indessen  fehlt  es,  obgleich 
eine  eigentliche  grössere  Monographie  über  die  pseudosyphilitischen 
Hautkrankheiten  bis  heute  noch  nicht  \-erfasst  worden  ist,  nicht  an 
einzelnen  PTinweisungen  auf  das  ^"orkommen  und  die  Wichtigkeit 
derselben. 

Schon  1685  bemerkte  der  Züricher  xVrzt  Johannes  Aluralt,  dass 
sehr  oft  den  venerischen  ähnliche  Geschwüre,  ohne  venerische  An- 
steckung-, am  männlichen  Gliede  entstehen  können  ^).  Aehnlich  heisst 
es  in  einem  alten  gerichtlich -medicinischen  Gutachten  vom  Jahre 
17 12:  „Warum  kan  denn  in  pcne  nicht  so  wohl,  als  in  andern 
Corporis  partibus  ohne  V^enere  impura  ein  Geschwüre  und 
Xarben  werden?  Man  findet  ohnzehliche  Casus,  da  einer  Cicatrices 
in  hac  vel  ista  parte  Corporis  bekoemt  und  hat,  da  die  Ursachen 
verborgen  seyn.  Und  kan  denn  nicht  auch  ex  ruptura  praeputii  etiam 
in  congressu  cum  uxore  dergleichen  erfolgen  ?  Sequitur  ergo ,  dass 
Gegentheils  ex  Cicatrice  genommene  Argumentum  g^ar  weit  herge- 
hohlet  sey"  2).  Von  besonderem  Intel  esse  ist  diese  Stelle,  weil  sie 
beweist,  dass  bereits  in  alter  Zeit  die  grosse  forensische  Bedeutung 
der  pseudosyphilitischen  und  pseudovenerischen  Hautaffektionen  er- 
kannt wurde,  auf  welche  ich  noch  öfter  zurückzukommen  Gelegenheit 
haben  werde. 

Im  Jahre  174g  beobachtete  Dr.  Xicolau  in  Sempe  (Bigorre) 
in  Frankreich  eine  eigentümliche  in  epidemischer  Weise  auftretende 
Krankheit,  deren  hauptsächliche  Symptome  Geschwürsbildungen  im 
Munde  und  an  den  Genitalien,  verbunden  mit  Dysurie,  waren.  Die 
Pariser  Aerzte,  welche  sich  eingehend  mit  dieser  merkwürdigen 
Krankheit  beschäftigten,  kamen  zu  dem  Ergebnis,  dass  dieselbe  nicht 
syphilitischer  Natur  sei,  obgleich  in  so  verdächtiger  Weise  Alund- 
höhle  und  Geschlechtsteile  gleichzeitig  befallen  seien  ^).  Dieses  Urteil 
macht    ihnen    alle    Ehre,    und    wir    werden    in    der    That    zahlreiche 


1)  J.  M uralt,  „Observ.  Cancer  penis.''  In:  MisccU.  medico-phys.,  Nürnberg  1685, 
S.  259,  citiert  nach  C.  Gir  tanner,  „Abhandlung  über  die  Venerische  Kränkelt",  Göttingen 
1789,   Bd.  II,  S.  336. 

2)  Älartin  Schurig,   ,,Gynaecologia  historico-inedica",   Dresden    1730,  S..  263. 

3)  ,,Sur  une  maladie  epidemique  caracterisee  par  des  uiceres  ä  la  bouche,  et  aux  parties 
genitales,  avec  ardeur  d'urines,  douleurs  de  reins,  et  autres  symptomes  veneriens"  in:  Con- 
sultations  choisies  de  plusieurs  medecins  celebres  de  l'universite  de  Montpellier  sur  des 
maladies  aigues  et  chroniques",   Paris    1755,   -ß*^-   -^i   S-    ^'° — -'5- 


-     368     - 

Krankheitsbilder    kennen    lernen,    die    sich    durch    eine    gleichzeitige 
Lokalisation  an  jenen  Körperteilen   auszeichnen. 

Am  Anfange  des  ig.  Jahrhunderts  waren  es  vorzüglich  eng- 
lische Aerzte,  welche  auf  das  häufige  Vorkommen  pseudosyphilitischer 
Hautleiden  hinwiesen,  so  John  Abernethy^),  Richard  Car- 
michael-')  und  William  Judd^).  Teils  beschäftigten  sich  diese 
Autoren,  wie  Carmichael  mit  den  nichtsyphilitischen,  aber  syphilis- 
ähnlichen Geschwüren  der  Geschlechtsteile  —  wie  denn  Carmichael 
vier  infektiöse  Genitalulcerationen  unterschied  —  teils  richten  sie  ihr 
Augenmerk  auf  die  mehr  allgemeinen  Erscheinungen  solcher  syphilis- 
ähnlichen Krankheiten,  wie  dies  Abernethy  und  Judd  thun. 
Ersterer  konstatierte  z.  B.  in  einem  Falle  die  Coincidenz  von  Gaumen- 
geschwüren und  einer  Corona  Veneris-ähnlichen  Affektion  der  Stirn- 
haut bei  einem  nichtsyphilitischen  Individuum. 

Recht  bemerkenswert  ist  auch  die  Arbeit  des  Hamburger  Arztes 
V.  Embden  (eines  Verwandten  des  Dichters  Heinrich  Heine)  aus 
dem  Jahre  1819  ■*),  eine  Abhandlung,  die  uns  durch  die  darin  sich 
offenbarende  scharfe  Beobachtung  und  kritischen  Geist  als  ganz 
modern  anmutet,  v.  Embden  handelt  darin  u.  a.  bereits  von  dem 
oft  so  trügerischen  Symptome  der  Induration  venerischer  Geschwüre, 
von  den  traumatischen  Ulcera  der  Genitalien,  von  denen  bei  Herpes, 
bei  Gravidität,  von  den  leukorrhoischen  und  aphthösen  Affektionen 
der  weiblichen  Genitalien ,  von  den  ziihlreichen  nichtsyphilitischen 
Affektionen  des  Afters,  von  den  nichtvenerischen  Bubonen,  den  ver- 
schiedenartigen nichsyphilitischen  Geschwüren  der  Mundhöhle,  den 
nichtsyphilitischen  Knochenschmerzen  u.  s.  w. 

Mit  Beziehung  auf  die  Frage  der  Existenz  der  Syphilis  im 
Altertume  äusserte  sich  der  berühmte  Kliniker  Carl  Canstatt-^) 
über  die  Bedeutung  der  pseudosyphilitischen  Affektionen  der  Geni- 
talien : 


1)  J.  Abernethy,  „Von  den  Krankheilen,  die  dem  venerischen  Uebel  ähnHch  sind", 
in:  Sanimhmg  auserlesener  Abhandhingen  zum  (iehrauche  praktischer  Aerzte,  Leipzig  1806, 
S.   524—589. 

2)  R.  Carmichael,  „An  essay  on  the  venereal  diseases  which  havc  been  con- 
founded  with  Syphilis  etc.",   Dublin  18 14. 

3)  Friedrich  J.   Behrend,    ,,Syphilidologie",   Leipzig    1839,   Bd.   I,   S.    288. 

4)  V.  Embden,  „Versuch  über  die  der.  Lustseuche  gleichenden  Krankheiten", 
in:  Magazin  für  die  gcsammlc  Heilkunde  von  J.  N.  K  u s t ,  Berlin  18 19,  Bd.  V,  S.  368 
bis  467. 

5)  C.  Canstatt,  „Handbuch  der  medizinischen  Klinik",  Erlangen  1841,  Bd.  I, 
S.   830-837. 


—    369    — 

„Leiden  der  Geschlechtsteile  haben  ohne  Zweifel  von  jeher  existiert,  und  will  man 
jedes  Leiden  dieser  Organe,  sofern  es  infolge  von  Beischlaf  entstanden,  für  venerisch  be- 
trachten, so  hat  man  allerdings  auch  im  frühesten  Altertiimc  die  verschiedenartigsten  Affek- 
tionen beobachtet,  die  eine  gewandte  Darstellung  teils  mit  der  Tripper-,  teils  mit  der 
Schankergruppe  der  Syphilis  analog  erscheinen  wird  lassen  können.  Hensler,  Weather- 
liead,  Rosenbaum  haben  für  die  Verteidigung  dieser  Ansicht  mit  bewimdernswertem 
Sammlerfleisse  die  Beweisstellen  zusammengetragen.  Von  der  Richtigkeit  derselben  bin  ich 
aber  ebensowenig  als  Astruc,  Gibert,  Gauthier  u.  A.  überzeugt  worden.  Dass 
Leiden  der  Geschlechtsorgane  von  uralten  Zeiten  her  beobachtet  wurden,  ist  sehr  natürlich  ; 
ebenso  begreiflich  ist,  dass  diese  Genitalaffeklionen  in  ihren  örtlich-formellen  Charakteren 
mit  den  heutzutage  herrschenden  aufifallende  Aehnlichkeit  darbieten.  "Wir  wissen  ja,  dass 
die  lokalen  Elementarformen  der  Krankheit  überhaupt  sich  in  ihrer  Erscheinungsweise  gleich 
oder  <ähnlich  sein  können,  wie  verschieden  auch  das  sie  bedingende  Moment  sei.  Und  sehen 
wir  nicht  heute  noch,  ebenso  wie  im  Altertume,  Ausfluss  aus  den  Geschlechtsteilen,  Exco- 
riationen,  Geschwüre  an  denselben  unter  Umständen  entstehen,  wo  ein  spezifisches  Virus 
nicht  miigewirkt  hat  ?  Will  man  aber  den  Begriff  der  Syphilis  nicht  so  weit  ausdehnen, 
dass  man  ohne  Unterschied  alle  nach  geschlechtlichem  Umgange  entstandenen  Affektionen 
der  Genitalien  darunter  zusammenfasst,  wie  einige  generalisierende  französische  Aerzte  ohne 
grossen  Gewinn  für  die  Wissenschaft  geihan  haben,  —  beschrankt  man  vielmehr  den  Begriff 
der  Syphilis  auf  jene  Krankheiten,  welche  ihren  Ursprung  aus  einem  spezifischen,  durch 
Uebertragung  von  Generation  auf  Generation  fortpflanzbaren  Virus  nehmen,  so  wird  der  Be- 
weis unmöglich,  dass  wahre  Syphilis  bereits  im  Altertume  geherrscht  habe.  Nirgends 
ist  klar  dargethan,  dass  jene  damals  beobachteten  Affektionen  der  Sexualorgane  sich  ähnlich  wie 
heutzutage  durch  ein  sich  immer  wiederzeugendes  Contagium  fortgepflanzt  haben,  —  überall 
sind  jene  antiken  pseudovenerischen  Krankheiten  denen  ähnlich,  wie  man  sie  auch  in  unseren 
Tagen,  z.  B.  nach  Coitus  mit  menstruierenden  oder  mit  dem  Lochicnflusse,  einfacher  Leu- 
korrhoe, aber  nicht  syphilitisch  affizierten  Frauen  entstehen  sieht,  —  nirgends  ist  davon  die 
Rede,  dass  auf  diese  Lokalaffcktionen  so  konstant  jene  konsekutiven  allgemeinen  Zufälle 
folgten,  welche  einen  integrierenden  Bestandteil  der  wahren  Syphilis  ausmachen.  Würde 
man  wohl  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  so  über  die  plötzlich  auftauchende,  über  alle 
Länder  rasch  sich  verbreitende  Lues  so  verwundert  gewesen  sein  und  sie  als  neue  Krankheit 
bezeichnet  haben,  wenn  man  von  Alters  her  mit  ihren  Erscheinungen  vertraut  gewesen  wäre? 
Aehnlichkeit  stellt   noch    keine  Gleichheit   her." 

Auf  das  häufige  Vorkommen  von  pseudosyphilitischen  Affek- 
tionen bei  Prostituierten  lenkte,  nachdem  schon  H.  Lippert  der- 
selben gedacht  hatte  i),  besonders  J.  B.  Venot,  Chefarzt  des  Hospitals 
Saint -Jean  in  Bordeaux,  in  einer  kleinen  diesem  Gegenstande  ge- 
widmeten Schrift  die  Aufmerksamkeit  der  Aerzte-).  Ueber  den  Zweck 
dieser  Schrift  äussert  er  sich  in  dem  \^orworte  u.  a.  folgender- 
massen : 

,,I1  existe,  chez  les  fciumes  inscrilcs  au  cadic  de  la  prnstilulion,  une  notable  Serie  de 
lesions  des  organes  genitaux  (jui  n'ont  aucun  caractere  special,  et  dont  le  siege,  la  forme  et 
l'aspect  peuvent  devenir  d'incessantes  causes  d'errcnr.  —  De  prinie-abord,  ces  alterations  de 
tissu  survenues    apres    des    fatigues,    des    efforts    fonclionnels,    des    couches    laborieuses    etc.. 


1)  H.   Lippert,   ,,Die   Prostitution    in   Hamburg",   Hamburg    1847,  S.    100 — loi. 

2)  J.  B.  Venot,    ,,De  la  pseudo-syphilis  chez  les  jirostiiuees",  Bordeaux   1859. 


occupant  divers  points  d'un  appareil  expose  ä  toutes  les  vicissiludes  de  la  contagion,  se  prc- 
sentent  au  diagnostic  avec  la  prevention  de  l'origine  syphilitique.  II  faut,  en  effet,  connaitre 
de  longue  main  la  physionomie  de  ccs  accidents,  pour  en  dislinguer  de  piano  la  nature  et 
le  degre  d'innocuite. 

Mais  si  l'assiietude  et  l'analyse  experimentaie  de  ces  faits  manqiient  au  praticien,  son 
jugemenl  fera  inevitablement  fausse  route,  et  ses  appieciations  seront  entachees  d'inexactitude 
et  d'hesitation"  '). 

In  der  allerneuesten  Zeit  waren  es  vor  allen  zwei  hervorragende, 
durch  die  Schärfe  und  Subtilität  ihrer  klinischen  Beobachtung"  sich 
auszeichnende  Dermatologen ,  welche  die  Wichtigkeit  der  pseudo- 
S3'philitischen  Hautleiden  erkannt  und  ausgesprochen  haben.  Es  sind 
dies  Rudolph  Bergh  in  Kopenhagen  und  Heinrich  Köbner 
in  Berlin. 

Wer  einen  Blick  in  die  in  ihrer  Art  klassischen,  bei  aller  Präg- 
nanz des  Stiles  eine  Fülle  von  interessanten  Beobachtungen  und  Er- 
fahrungen darbietenden  Jahresberichte  von  Bergh  über  die  vene- 
rische Abteilung  des  Allgemeinen  Hospitals  in  Kopenhagen  (von 
1866 — 1884)  und  in  die  Berichte  über  das  unter  seiner  Leitung  stehende 
Vestre  Hospital  (von  1885 — 1900)  geworfen  hat,  dem  wird  sogleich 
der  umfangreiche  Abschnitt  mit  dem  Titel  „Pseudo venerische 
Affektionen"  auffallen,  auf  dessen  reichen  Inh^dt  im  Folgenden 
oft  Bezug  genommen  werden  wird  -). 

Einen  Ueberblick  über  eine  Reihe  der  wichtigsten  syphilisähn- 
lichen Hautkrankheiten  gab  H.  Köbner,  veranlasst  durch  die  ,, all- 
täglich e  Verwechselung  der  blasenbildenden  Prozesse  auf  den 
vSchleimhäuten  und  der  äusseren  Haut  mit  s}'philitischen  Affektionen". 
Diese  Abhandlung-')  stellt  einen  höchst  gedieg'enen  Beitrag  zur  Lehre 
von  den  pseudosyphilitischen  Krankheiten  dar.  Wir  entnehmen  daraus, 
wie  häufig,  selbst  von  Spezialisten,  jene  Leiden  fälschlich  der  Syphilis 
zugerechnet  werden. 

Diese  häufige  Aehnlichkeit  der  syphilitischen  Hautaffektionen 
mit  anderen  Hautkrankheiten ,  welche  im  stände  i.st  „to  perplex  the 
inexperienced",  hebt  auch  Malcolm  Morris  hervor-*),  und  bringt 
Chotzen  im  Titel  und  Inhalt  seines  Atlas  zum  Ausdruck^). 


i)  Venot,   a.  a.  O.  S.  3 — 4. 

2)  Leider  standen  mir  nur  die  Jahresberichte  über  das  Vestre- Hospital  7Air  Verfügung, 
von   denen  ich  die  Jahrgänge    1886  bis    1900  einsehen   konnte. 

3)  H.  Köbner,  ,,Ueber  Pemphigus  vegetans,  nebst  diagnostischen  Bemerkungen  über 
die  anderen  mit  Syphilis  verwechselten,  blasenbildenden  Krankheiten  der  Schleimhäute  und 
der  äusseren   Haut,"   in:  Deutsch.  Arch.  f.  klin.   Med.,  Bd.  LHI,  Leipzig   1894,  S.  61 — 89. 

4)  Malcolm  Morris,   „Diseases  of  the  Skin,"    London    1899,   S.   37. 

5)  M.  Chotzen,  „Atlas  der  Syphilis  und  der  syphilisähnlichen  Hautkrankheiten," 
Hamburg    1898. 


—     371     — 

Hiernach  erschien  es  mir  an  der  Zeit,  eine  möghchst  vollständige 
Uebersicht  über  die  Quellen  der  auf  diesem  Gebiete  möglichen 
Täuschungen  und  diagnostischen  Irrtümer  zu  g'eben,  zumal  da  meines 
Wissens  noch  keine  derartige  monographische  Bearbeitung  der  pseudo- 
syphilitischen Hautkrankheiten  existiert. 

Ich  betrachte  dieselben: 

1.  mit  Rücksicht  auf  ihre  praktische  Bedeutung. 
Hierher    gehören    vorzüglich    jene  Affektionen ,    die    auch    heute 

noch  mit  syphilitischen  verwechselt  werden,    wie   an  zahlreichen  Bei- 
spielen gezeigt  werden  wird. 

2.  mit  Rücksicht  auf  die  litterarische  Ueberlieferung 
der  älteren    Zeit. 

Unter  diesem  Gesichtspunkte  müssen  im  folgenden  auch  zahl- 
reiche Hautleiden  als  „pseudosyphilitische"  herangezogen  werden,  die 
heute  gar  nicht  mehr  oder  doch  nur  unter  ganz  besonderen  Um- 
ständen zu  Verwechselungen  mit  syphilitischen  Affektionen  Anlass 
geben.  Da  indessen ,  wie  in  einem  späteren  Abschnitt  eingehender 
dargelegt  werden  wird,  die  dermatologische  Diagnostik  und  Klassi- 
fikation der  Alten  an  der  blossen  Form  der  krankhaften  Verände- 
rungen der  Haut  haften  blieb,  während  Aetiologie  und  Pathogenese 
fast  ganz  ausser  Spiel  blieben ,  mithin  die  Beschreibung  der  Haut- 
leiden eine  rein  formalistische  war,  so  mussten  dieselben  in  Be- 
ziehung auf  die  Form  übereinstimmenden  Produkte  verschiedener 
Dermatosen  als  der  gleichen  Krankheit  angehörige  aufgefasst  werden, 
so  dass  es  z.  B.  unmöglich  wäre,  aus  der  rein  formalistischen  Be- 
schreibung einer  Acne  des  Penis  zu  erkennen ,  dass  es  sich  um 
diese  Affektion  und  nicht  etwa  um  eine  P'orm  des  Primäraffekts 
handle. 

Von  ungeheurer  Wichtigkeit  ist  diese  Seite  der  Betrachtung 
der  pseudosyphilitischen  Hautkrankheiten  für  die  Frage  nach  der 
Existenz  der  Syphilis  im  Altertum.  Nachdem  wir  nämlich  alle  jene 
Affektionen  kennen  gelernt  haben,  kann,  wenn  wir  die  Beschrei- 
bungen der  antiken  Aerzte  prüfen,  mit  Evidenz  gezeigt  werden, 
dass  die  meisten  (von  den  dermatologisch  nicht  vorge- 
bildeten Syphilishistorikern)  als  „S3'philis"  gedeuteten  Haut- 
affektionen sich  als  solche  „pseudosyphilitische"  Haut- 
krankheiten   entpuppen. 

Dies  wird  noch  dadurch  bekräftigt,  dass  die  Zahl  dieser  pseudo- 
syphilitischen Dermatosen  eine  sehr  grosse  ist,  sowohl  mit  Rück- 
sicht auf  Punkt  i  wie  auf  Punkt  2.  Gewiss  kommen  einzelne  Leiden 
nur  selten  vor,    aber    das  Ensemble  dieser  verschiedenen,    seltenen 


—     372     — 

pseudosyphilitischen  Affektionen  ist  ein  sehr  statthches,  und  ihm  ge- 
sellen sich  mehrere  sehr  h  ä  u  f  i  g  e  syphilisähnliche  Hautleiden  zu. 
Man  denke  nur  an  das  ausserordentlich  häufige  Vorkommen  der  eine 
Sklerose  vortäuschenden  Veränderungen  der  Geschlechtsteile! 

Im  Hinblick  auf  die  hier  in  Frage  kommenden  mannigfaltigen 
Schwierigkeiten  urteilt  der  hervorragende  Syphilidologe  H.  Zeissl: 
„Der  syphilitische  Krankheitsprozess  in  seiner  Totalität  bietet  von 
seinem  Beginne  bis  zu  seiner  Kulmination  und  vollendeten  Invo- 
lution solche  diagnostische  Schwierigkeiten ,  welche  dem  minder  ge- 
übten Praktiker  unglaublich  erscheinen" ').  Dass  dieser  Ausspruch 
sehr  wahr  ist,  wird  aus  der  nunmehr  folgenden  Betrachtung  der  ein- 
zelnen pseudos3'philitischen  Affektionen  hervorgehen. 

§28.    Die  pseiidosyphilitischeii  Affektioneii  der  iiiäiinlirheii  uiid 
weibliclieii  Geschlechtsteile. 

Die  zahlreichen,  syphilisähnlichen,  krankhaften  Veränderungen 
an  den  Geschlechtsteilen  des  Mannes  und  des  Weibes  können  in 
Beziehung  auf  ihre  Aetiologie  in  folgende  Gruppen  geschieden 
werden. 

Sie  treten  sehr  häufig  als  direkte  oder  indirekte  Folgen 
eines  Beischlafes  oder  sonstigen  geschlechtlichen  Verkehrs  auf, 
wobei  ihre  Entstehung  auf  Ansteckung  oder  auch  auf  rein 
mechanische  Einflüsse  (mit  eventueller  sekundärer  Infektion)  zu- 
rückzuführen ist. 

Zweitens  können  sie  ohne  geschlechtlichen  Verkehr  absichtlich 
oder  unabsichtlich  durch  mechanische  und  chemische  Einflüsse 
hervorgerufen  werden. 

Drittens  giebt  es  lokale  pseudosyphilitische  Affektionen  der 
Genitahen,  die  ohne  die  Mitwirkung  der  eben  erwähnten  Ursachen 
rein  spontan  entstehen. 

Viertens  treten  solche  lokalen  Veränderungen  infolge  anderer 
nichtsyphilitischer  Allgemeinleiden  auf. 

Mit  stetiger  Beziehung  auf  diese  ätiologischen  Momente  be- 
trachten wir  zunächst 

a.  Die  mit  Induration  einhergehenden,  eine  Initialsklerose  vortäuschen- 
den pseudosyphilitischen  Affektionen  der  Genitalien. 

Jeder  Arzt  weiss,  dass  gleich  das  erste  Symptom  der  begitmen- 
den  Syphilis,  der  sogenannte  ,, Primäraffekt",   die  „Initialsklerose",  der 


i)  H.  Zeissl,    „Ueber   die    Schwierigkeiten,    welche    sich    der    Diagnostik    luetischer 
Affektionen  entgegenstellen,"  in:  AUgem.  Wiener  med.  Zeitung   1878,  No.   19,  S.    177. 


—     373     — 

harte  Schanker  in  zahlreichen  Fällen  kaum  mit  Sicherheit  zu  dia- 
gnostizieren ist  und  den  Arzt  in  die  Notwendigkeit  versetzt,  den 
nach  Gewissheit  drängenden  Patienten  auf  später  zu  vertrösten.  Es 
passiert  das  nicht  nur  dem  allgemeinen  Praktiker,  sondern  auch  dem 
spezialistisch  ausgebildeten  Dermatologen,  der  ehrlich  genug  ist,  es 
zu  gestehen.  Geistreich  sagt  der  erfahrene  Zeissl:  „Die  Syphilis 
ist  nämlich  schon  in  ihrem  Beginne  so  hinterlistig,  dass  sie  gleich  an 
ihrer  Schw'elle,  das  heisst  an  der  Eintrittsstelle  des  syphilitischen 
Giftes,  eine  oft  schwer  zu  erkennende  krankhafte  Veränderung  er- 
zeugt, welche  A^eränderung  ich  als  einen  wahren  Druidenfuss 
bezeichnen  möchte.  Diese  Veränderung  wird  heutzutage  von  den 
Pathologen  mit  dem  Namen  der  syphilitischen  Initialsklerose  be- 
zeichnet" ^). 

In  der  That  kann  das  hauptsächliche  pathognomonische  Merk- 
mal des  syphilitischen  Primäraffektes,  die  Verhärtung,  Sklerose, 
Induration,  seines  Grundes  und  seiner  Ränder  von  anderen,  nicht- 
syphilitischen Lokalaffektionen  der  Geschlechtsteile  täuschend  nach- 
geahmt werden.  Schon  v.  Embden  hat  auf  das  häufige  Trügerische 
des  Symptomes  der  Induration  hingewiesen  und  betont,  dass  nicht- 
syphilitische  Geschwüre  sehr  leicht  nach  „reizenden  Applikationen"  eine 
Härte  und  Verdickung  erlangen  können-).  Aber  erst  E.  Finger 
hat  in  einer  sehr  gediegenen  Arbeit  ^'')  den  Nachweis  erbracht,  dass 
die  Induration  ein  sehr  unsicheres  Merkmal  des  S3'philitischen  Schankers 
sei,  da  sie  in  genau  derselben  Weise  bei  anderen  Geschwüren  der 
Genitalien   vorkommt^). 

Zunächst  giebt  es  gewisse  Stellen  an  den  Genitalien  (und  am 
übrigen  Körper),  an  welchen  geschwürsartige  Prozesse  stets  mit  In- 
duration einhergehen  und  auch  einfach  entzündliche  Affektionen  eine 
auffallende  Derbheit  zeigen.  Solche  Stellen  sind  nach  Finger  der 
Rand  des  Präputiums,  der  Sulcus  coronarius,  besonders  die  Umgebung 


1)  H.   Zeissl,    a.   a.   O.  S.    177. 

2)  V.   Embden,    a.  a.   O.   S.   378. 

3)  E.  Finger,  „Die  Diagnose  der  syphilitischen  Initialsklerose  und  der  lokalen  con- 
tagiösen  Helkose,"  in:  Vierteljahrsschrift  für  Dermatologie  und  Syphilis  1885,  Bd.  XVII, 
S.   261  —  273. 

4)  ,,Es  ist  uns  eine  Reihe  verschiedener,  von  der  Initialsklerose  differenter  Prozesse 
bekannt,  die  eine  Induration  darbieten  können,  die  auch  der  geübteste  Finger  von  der  des 
syphilitischen  Initialaffektes  nicht  zu  unterscheiden  vermag  .  .  .  Nichtsyphilitische 
Affektionen  gesunder,  nichtsyphilitischer  Individuen  können  oft  eine  auf- 
fallende Derbheit  annehmen,  die,  wenn  noch  Ulceration  und  der  Sitz  am  Genitale 
hinzukommen,  die  Differentialdiagnose  vom  syphilitischen  Initialaffekt  wesentlich  erschweren 
oder  unmöglich   machen."     E.   P'inger,  a.  a.   O.   S.    261    u.    263. 


—      374      — 

des  Frenulums,  das  Orificium  urethrae;  bei  Weibern  der  Rand  der 
grossen  und  kleinen  Labien;  bei  beiden  Geschlechtern  die  Mundlippen 
und  die  Interdigitalfalten  ^). 

Da  nun  an  den  erwähnten  Stellen  der  Geschlechtsteile  sehr 
häufig  nichtsyphilitische  Geschwürsformen,  insbesondere  weiche  Schanker 
und  herpetische  bezw.  balanitische  Ulcerationen  vorkommen,  so  ist 
denn  die  Verhärtung  derselben  ebenfalls  ein  sehr  häufiges  Ereignis, 
welches  nur  allzuleicht  zur  Diagnose  eines  syphilitischen  Primär- 
affektes verleitet. 

Darüber  giebt  Finger  bemerkenswerte  Aufschlüsse:  „Auch 
anderweitige  Ulcerationen ,  Erosionen  und  entzündliche  Infiltrate 
können  an  diesen  Stellen  auffallend  derbe  Basis  besitzen.  Herpes 
progenitalis  und  Erosionen  bei  Balanitis  im  sulcus  coronarius  sitzen 
oft  derber  Basis  auf;  wir  beobachteten  im  Laufe  der  letzten  zwei 
Jahre  einen  Patienten,  der,  ein  ziemlich  vernachlässigtes  Lidividuum, 
dreimal  mit  Balanitis  und  consekutiver  Phimose  aufgenommen  wurde. 
Alle  drei  Mal  war  der  Margo  des  Präputiums  so  derb  infiltrirt,  dass 
man  leicht  hätte  an  Indurationen  denken  können,  welche  Dia- 
gnose übrigens  bei  dem  Patienten  von  einigen  unsere 
Klinik  besuchenden  Fachkollegen  in  der  That  gestellt 
wurde.  Die  irrtümliche  Diagnose  ,, Sklerose"  bei  weichem  .Schanker 
im  Sulcus  coronarius  habe  ich  unzählige  Male  von  sehr  tüch- 
tigen Spezialisten  stellen  sehen.  Ebenso  bietet  bei  recenter 
acuter  Urethritis  das  orificium  urethrae  oft  eine  Derbheit  dar,  die 
zur  Diagnose  „Sclerosis  in  orificio  urethrae"  verleitet.  Geschwüre 
und  furunculöse  Infiltrate  der  Mundlippen  sind  oft  so  derb,  dass  sie 
insbesondere  bei  konsekutiver  Drüsenschwellung  Sklerosen  der  Mund- 
lippen auf  das  täuschendste  simulieren,  wie  mir  einige  Fälle  aus 
meiner  Erfahrung  bewiesen  haben"  -). 

Das  Auftreten  der  Induration  an  diesen  Prädilektionsstellen  er- 
klärt sich  aus  der  reichlicheren  Vaskularisation  derselben  und  aus 
dem  Umstände,  dass  es  sich  meist  um  doppelte  Infiltrate  zweier 
Randflächen  und  Ecken  handelt. 

Neben  der  Lokalisation  kommen  in  zweiter  Linie  traumatische 
und  chemische  Läsionen  für  die  Ausbildung  einer  Induration  in  Betracht. 

Dass  äussere  Verletzungen  der  Genitalien  mitunter  eine  s}'phili- 
tische  Induration  vortäuschen  können,  lehrt  die  folgende  von  Dr. 
Alquie  erzählte  Geschichte^): 

1)  Ibidem  S.   268. 

2)  Ibidem  S.   269  u.   270. 

3)  Alquie,  ,,Ueber  die  Experimentalinokulation  der  venerischen  Krankheiten,"  in: 
F.  J.  Behrend,    „Syphihdologie,"  Leipzig   1839,  Bd.  I,  S.   209  u.   210, 


—     375     — 

j.Bei  einem  Mittagsmahle  fiel  die  Unterhaltung  auf  venerisclie  Krankheiten  und  auf 
die  Ideen  der  Neueren  über  diesen  Gegenstand.  Als  wir  die  Behauptung  aussprachen,  dass 
man  sich  über  die  eigentliche  Natur  der  an  den  Geschlechtsorganen  befindlichen  Ulcerationen 
sehr  wohl  täuschen  könne ,  und  dass  eine  grosse  Anzahl  unter  ihnen  nicht  syphilitischer 
Natur    wäre,    erhob    sich    ein    fast    allgemeines    Geschrei    gegen    uns,    und    einer    der    Gäste, 

M.   B ,  meinte  sogar,   dass   man   mit  etwas   Uebung  nie  irre  gehen  könne.      Vierzehn 

Tage  waren  verflossen,  als  ein  Militär,  38  Jahre  alt,  der  an  Krätze  und  an  einer  Ver- 
wachsung der  Vorhaut  mit  der  Eichcikrone,  infolge  von  vor  5  Jahren  gehabtem  Schanker, 
litt,  ims  bat,  die  Verwachsung  zu  lösen,  was  wir  mit  einem  scharfen  Bisturi  alsbald  ihaten. 
Die  daiaus  entstehende  Wunde  war  sehr  einfach,  aber  die  Basis  derselben  ward  drei  Tage 
nachher  der  Sitz  einer  sehr  merklichen  Verhärtung.  Wir  gingen  deshalb  sogleich  zu 
M.  B  .  .  .  .,  dessen  Meinung  der  unsrigen  so  sehr  entgegengesetzt  war,  und  baten  ihn,  seinen 
Ausspruch  über  eine  zweifelhafte  Ulceration  abzugeben.  ,,Es  ist  ganz  klar,"  antwortete  er, 
nachdem  er  die  Teile  untersucht  hatte,  „es  ist  ein  Schanker,  der  durch  Merkurialmittel  be- 
handelt   werden    muss''.    —     ,,Wir    müssen    Ihnen    nur    gestehen,"    sagten    wir    darauf    zu 

M.   B ,    ,,dass    diese  Ulceration    nur  das   Resultat  einer  kleinen   Operation   ist,    welche 

wir    vor    ungefähr    vier    Tagen    gemacht,    inn    eine  Verwachsung  der   Vorhaut  mit  der  Eichel 

zu   lösen."   —   Nachdem   B von  seinem   Erstaunen  zu  sich  gekommen  war,   sagte  er: 

„Da  diese  Verwachsungen  aber  die  Folge  von  Schau kergeschwüren  waren,  so  habe  ich 
mich  doch  nicht  geirrt."  —  „Diese  Schanker,"  erwiderten  wir,  „sind  schon  seit  fünf  Jahren 
geheilt."  —  ,,Das  diut  nichts,"  fügte  er  hinzu,  „ich  behaupte  dennoch,  dass  dieser  Kranke 
am  Schanker  leidet  und  einer  merkuriellen  Behandlung  unterworfen  werden  muss."  —  Um 
zu  einer  sicheren  Ueberzeugung  zu  gelangen,  machten  wir  darauf  die  Inokulation  der  von 
diesen  Wunden  abgesonderten  kleinen  Quantität  Eiter,  und  weder  Schanker  noch  die  ge- 
ringste Ulceration  war  die  Folge  davon.  Natürlich  vernarbten  die  Wunden  an  der  Rute 
ebenso  rasch  wie  ganz  gewöhnliche  "Wunden." 

Nicht  selten  sieht  man  auch  infolge  der  rituellen  Beschnei- 
dung-  solche  pseudosyphilitischen  A^erhärtungen  am  Glied  auftreten. 
H.  und  ]\I.  V.  Zeissl  bemerken  darüber:  „Zu  wiederholten  Malen 
haben  wir  an  Kindern,  welche  nach  orthodox  jüdischem  Ritus  cir- 
cumcidiert  wurden,  in  dem  zurückg-ebliebenen  Teile  der  Vorhaut  und 
in  der  Glans  selbst  deutlich  in  ZerfiiU  begriffene  Indurationen  be- 
obachten können,  wobei  die  benachbarten  Lymphdrüsen  hochgradig 
hyperplastisch  vergrössert  und  zuweilen  in  Vereiterung  begriffen 
waren,  ohne  dass  aber  selbst  nach  längerer  Beobchtung  der  betreffen- 
den Kinder  konsekutive  Syphilis  ausgebrochen  war.  Es  scheint  uns 
somit,  dass  derartige  Indurationen  dem  rohen  Operationsv^ erfahren, 
namentlich  dem  Einreissen  des  inneren  Blattes  des  Präputiums  zuge- 
schrieben werden  müssen"  ^). 

Sehr  auffallend  ist  die  grosse  Aehnlichkeit  von  Brandwunden 
an  den  Geschlechtsteilen  mit  indurierten  Geschwüren.  Diese  That- 
sache  ist  selbst  den  Laien  so  bekannt,  dass  sie  oft  dieselbe  benutzen, 
um  syphilitische  Schanker  zu  simulieren,  wie  dies  besonders  von  Ge- 


l)  Prof.   Dr.   Herrn,  v.  Zeissl,   Grundriss  der  Pathologie  und  Therapie  der  Syphilis. 
Zweite  Auflage,  bearbeitet  von   Dr.   Maximilian   v.   Zeissl,   Stuttgart    1884,   S.    140. 


—     376     — 

fangenen  und  Militärpflichtigen  berichtet  wird.  Brocq  erzählt,  dass 
einige  Rekruten,  um  v^om  Militärdienste  befreit  zu  werden,  sich 
mittelst  heisser  Cigarren-  und  Pfeifenasche  Verbrennungen  an  der 
Glans  beibrachten.  Es  bildeten  sich  danach  elevierte,  äusserst 
derbe  Geschwüre,  die  ganz  harten  Schankern  glichen  und  auch  für 
solche  so  lange  gehalten  wurden,  bis  man  die  wahre  Ursache 
entdeckte.  Manchmal  schwoll  nun  die  eine  oder  die  andere  Drüse 
in  der  Seite  schmerzhaft  an  ^).  Aehnliche  Erfahrungen  machte 
O.  V.  Petersen 2). 

Nicht  selten  beobachtet  man  Cig'arrenbrandwunden  an  den 
Genitalien  von  Prostituierten,  die  teils  durch  Fahrlässigkeit  entstanden 
sind,  teils  ihnen  von  sadistischen  Liebhabern  beigebracht  werden  und 
als  typische  Primäraffekte  imponieren  ^). 

Auch  chemische  Aetzungen  \'on  Excoriationen  und  Ge- 
schwüren der  Geschlechtsteile  bewirken  oft  eine  typische  Induration 
solcher  Ulcerationen.  Oesterlen  weist  darauf  hin,  dass  gewisse 
Caustica  und  Escharotica  auch  auf  ganz  einfachen  oberflächlichen 
Geschwüren  und  Excoriationen  die  Charaktere  syphilitischer 
Geschwüre  erzeugen  können  ^).  Besonders  gilt  das  von  den 
früher  ja  fast  ausschliesslich  bei  Genitalgeschwüren  angewandten 
Quecksilberverbindungen.  vSchon  Bonorden  hob  die  auffallende  Aehn- 
lichkeit  von  Sublimatätzgeschwüren  mit  dem  Hunter'schen  Schanker 
hervor^).  William  Acton  bemerkt:  „Wetui  nun  aber  auch  ein  pri- 
märes syphilitisches  Geschwür  allerdings  eine  eigentümliche  Physio- 
nomie  darbietet,  so  ist  doch  nicht  zu  leugnen,  dass  auch  andere  Ge- 
schwüre, die  nicht  syphilitisch  sind,  ganz  wie  wirkliche  Schanker  aus- 
sehen; man  darf  nur  z.  B.  etwas  »Sublimat  zwischen  Vorhaut 
und  Eichel  bringen,  so  wird  ein  Geschwür  entstehen,  wel- 
ches dem  Ansehen  nach  vom  Schanker  gar  nicht  zu  unter- 
scheiden ist*')".  Aehnliche  Beobachtungen  machten  Carmichael, 
Desruelles,    Robert,  Ricord,    Bumstead  und  Bäumler,    welche 


i)   Brocq    in:    „Annales    de  Dermatologie  et  de  Sypliiligraphie,"     1880,    citiert  nach 
Finger,   a.  a.   O.   S.   267. 

2)  O.   V.   Petersen,   ,, Ulcus  molle"   in:   Archiv   für   Dermatologie  und  Syphilis    1895, 
Bd.   XXX,   S.   393   u.   394. 

3)  Vergl.   A.   Dron,    „Pseudovenerische    Läsionen"   in:    Lyon  medical    1900,  Nr.   44 
(Referat  in  Monatshefte   für  prakt.   Dermatologie    1901,   Bd.   XXXIII,   S.   241.) 

4)  Finger,  a.  a.   O.   S.    264.  • 

5)  Ibidem   S.    263. 

6)  W.    Acton,    ,,Ueber    die    venerischen    Krankheiten    u.   s.   w."    bei:    Behrend, 
,,Syphilidologie,"  Leipzig   1841,   Bd.   III,  S.   520. 


—     377      — 

alle  konstatierten,  dass  Caustica  wie  vSublimat,  Chromkali,  Plumbum 
aceticum,  Tannin,  Alaun,  Alkohol  Indurationen  und  indurierte  Ge- 
schwüre an  den  Geschlechtsteilen  hervorbringen  können ,  die  von 
syphilitischen  nicht  zu  unterscheiden  sind^). 

Endlich  können  einzelne  nicht  syphilitische  Affektionen  der 
Genitalien  das  Symptom  der  Induration  darbieten. 

Bei  Carcinomen-  und  Epitheliomen  hat  schon  oft  das 
Eintreten  einer  Verhärtung  zur  falschen  Diag'nose  des  harten 
vSchankers  geführt.  Geber  berichtet  über  zwei  sehr  interessante  Fälle, 
in  denen  Epitheliome  Initialaffekte  vortäuschten  -).  Noch  bemerkens- 
werter ist  ein  von  Ihle  mitgeteilter  Fall,  in  welchem  sog-ar  ein  Uni- 
versitätsprofessor die  richtige  Diagnose  „Carcinom"  verwarf, 
nachdem  dieselbe  bereits  von  Ihle  gestellt  worden  war  und  den 
Krebs  für  einen  harten   Schanker  erklärte-^)! 

Weiche  Schankergeschwüre  zeigen  bei  der  oben  erwähnten 
Lokalisation,  nach  Aetzung,  Irritation  u.  s.  w.  sehr  gewöhnlich  eine 
typische  Induration,  so  dass  sie  von  Initialsklerosen  kaum  zu  unter- 
scheiden sind''). 

Am  meisten  aber  wird  eine  besondere  Form  des  weichen 
.Schankers  mit  dem  syphilitischen  Primäraffekt  verwechselt.  Das  ist 
das  sogenannte  Ulcus  molle  folliculare.  „(Gelangt  nämlich",  sagt 
Petersen,  „das  Virus  in  einen  Follikel  und  bewirkt  nicht  raschen 
Zerfall  desselben ,  so  entsteht  eine  Perifolliculitis  und  infolgedessen 
erhält  man  das  Bild  eines  kleinen,  tiefen  Geschwürs,  welches  von  einem 
geröteten,  härtlichen  Ringe  umgeben  ist,  der  etwas  hervorragt.  Der- 
artige Fälle  bieten  leicht  die  Möglichkeit  der  Verwechselung  mit 
Sklerosen,  umsomehr,  da  sie  sehr  hartnäckig  sind  und  sich  lange  der 
Therapie  widersetzen"  ^). 

Erosionen  bei  Flerpes  und  Balanitis  können  bei  Vernach- 
lässigung- oft  eine  knorpelig-e,  der  syphilitischen  täuschend  ähnliche 
Derbheit  aufweisen  ^). 


i)  Finger,  a.  a.   O..  S.    265   u.    266. 

2)  Geber,   ,, Differentialdiagnose  zwischen  Syphilis  und  Epitheliom''   in:    W"iener  med. 
Presse,    1871,   bei  tinger,  a.   a.   O.  S.    261. 

3)  AI.   Ihle,   ,,Z\vei  operativ  behandelte  Fälle  von  Carcinom  des  Penis"   in:  Monats- 
hefte für  praktische  Dermatologie    1890,   Bd.   XI,  S.   384 — 388. 

4)  Vergl.   die   Litteratur    über  solche  Beobachtungen  und  Täuschungen   bei   Finger, 
a.  a.  O.  .S.    267. 

5)  O.   Petersen,    „Ulcus    molle"    in:    Archiv  für  Dermatologie    1894,    Bd.   XXIX, 
S.   431. 

6)  P'inger,   a.   a.   O.   S.    267. 


-     37»     - 

Auch  Akne  und  T.upus  des  Penis  täuschen  unter  Umständen 
eine  Sklerose  vor.  Ebenso  können  abscedierende  Infarkte  der  Talg- 
drüsen für  Primäraffekte  gehalten  werden. 

Periurethrale  Infiltrate  bei  Gonorrhoe,  die  „Plaque  indurative" 
des  Penis'),  l3a-nphang-oitische  Prozesse,  insbesondere  die  sog-enannten 
„Bubonuli"  oder  „Nisbeth'schen  Schanker",  Cavornitis  gehen  eben- 
falls mit  Induration  einher-). 

Nach  alledem  kr)nnen  wir  nur  dem  Resume  Finger 's  bei- 
stimmen, welches  das  Ergebnis  seiner  eingehenden  Untersuchungen 
darstellt : 

„Die  Induration  ist  kein  absolut  pathognomonisches  Zeichen  des 
syphiHtischen  Initialaffektes,  ihr  Vorhandensein  ist  ebensow^enig  ein 
sicheres  positives,  als  ihr  Fehlen  ein  sicheres  negatives  Symptom 
ist,    d.  h.   die  Induration  ist  ein  unzuverlässiges  Symptom"^). 

b.  Nichtsyphilitische  Geschwüre,  Abscesse  und  entzündliche  Affektionen 
der  männlichen  und  weiblichen   Geschlechtsteile. 

Erst  in  neuerer  Zeit  ist  man  auf  das  häufige  Vorkommen  ein- 
facher nichts^'philitischer  Geschwüre  an  den  Geschlechtsteilen  aufmerk- 
sam geworden,  die  sogar  nichts  mit  den  gewöhnlichen  weichen 
Schankern  zu  thun  haben,  trotzdem  aber  offenbar  venerischen  Ur- 
sprungs sind,  d.  h.  nach  einem  unreinen  Beischlaf  aufzutreten  pfleg'en. 
Diese  Geschwüre  haben  eine  sehr  mannigfaltige  Aetiologie,  sind 
früher  oft  mit  ähnlichen  Affektionen  syphilitischer  Natur  verwechselt 
worden  und  werden  gewiss  auch  heute  noch  häufig  genug  damit 
verwechselt.  Die  P'requenz  aller  dieser  leichteren  oder 
schwereren  ulcerativen  Prozesse  an  den  (xen Italien  ist 
eine  sehr  grosse. 

Betrachten  wir  zunächst  jene  Geschwüre,  Abscesse  oder  ent- 
zündlichen Veränderungen,  die  infolge  oder  nach  einem  Bei- 
schlaf bezw.  sonstigen  geschlechtlichen  Manipulationen 
auftreten,  also  im  eigentlichen  Sinne  „venerischer"  Natur  sind. 

Auf  rein  mechanischem  Wege  kommen  gewisse  Kontinuitäts- 
trennungen und  geschwürige  Affektionen  der  Genitalien  beim  Ge- 
schlechtsverkehr zustande.  Ein  stürmischer  gewaltsamer  Coitus,  be- 
sonders   wenn    ein    membrum   permagnum    mit    Gew^alt    in    eine  enge 


i)   Vergl.    Posner     in    Monatshefte    für    prakt.    Dermatologie    189g,    Bd.    XXVIII, 
S.   198.    Vergl.   auch  andere  Fälle  ibid.   XXVIII,   S.   470—71    u.   Bd.   XXIII,   1896,   S.  83. 

2)  Vergl.   M.   Horowitz,   ,,Ueber  Cavernitis  und  Lymphangioitis  Penis"   in:   Wiener 
medizinische  Presse   1900,  No.    10,  Spalte  438 — 443. 

3)  Finger,   a.   a.   O.   S.    273. 


—      379      — 

Vagina  introduziert  wird,  führt  häufig'  zu  Abschilferungen,  Einrissen, 
ja  Rupturen  der  männlichen  und  weiblichen  Geschlechtsteile.  Sie 
finden  sich  bei  Männern  meist  am  Praeputium  und  Frenulum  ^),  bei 
Weibern  am  häufigsten  in  der  Fossa  navicularis,  dann  im  Vestibulum, 
um  die  Mündung  der  Urethra,  an  den  Nymphen  und  grossen 
Labien  -).  Sie  werden  fast  immer  durch  sekundäre  Infektion  ge- 
schwürig, nicht  selten  gangränös  und  diphtherisch,  häufig  Sitz  von 
weichen  Schankern.  Bei  Prostituierten  sind  diese  rein  mechanischen 
Verletzungen  durch  den  Coitus  ausserordentlich  häufig.  1887  beob- 
achtete Bergh  sie  bei    135  Individuen. 

Seit  alten  Zeiten  bedienen  sich  bei  wilden  und  civilisierten 
Völkern  raffinierte  Wüstlinge  zu  eigener  und  ihrer  Partnerinnen  Er- 
götzung gewisser  künstlicher  Apparate,  welche  am  männlichen  Gliede 
befestigt  werden  und  meist  mit  scharfen  Spitzen,  rauhen  Oberflächen 
u.  s.  w.  versehen  sind,  um  in  coitu  eine  stärkere  und  wollustreichere 
Friktion  der  weiblichen  Geschlechtsteile  herbeizuführen.  Besonderer 
Beliebtheit  und  Verbreitung  erfreut  sich  der  sogenannte  „Reiz- 
condom"  (Stachelcondom),  ein  mit  Gummistacheln  besetzter  gewöhn- 
licher Condom,  oder  ein  einfacher,  im  Sulcus  coronarius  angelegter 
,,R e i z r i n g"  von  ähnlicher  Konstruktion  ^). 

Einmalige  oder  wiederholte  Anwendung  dieser  Reizcondome 
und  Reizringe  ruft  Exkoriationen  in  der  Vagina  hervor^),  die  durch 
immer  wiederholte  Irritation  sich  vergrössern ,  geschwürig  werden 
und  so  als  venerische  Ulcera  imponieren  können.  Dass  sie  dann 
auch  leicht  die  Prädilektionsstelle  für  das  Eindringen  des  syphili- 
tischen Giftes  abgeben  können,  ist  klar,  wie  dies  auch  eine  inter- 
essante Beobachtung  von  Bockhart ^)  bezeugt,  der  eine  solche 
Infektion  nach  Benutzung  eines  Stachelcondoms  beschreibt. 

Andere  Verletzungen  und  Veränderungen  der  Genitalien  (Ero- 
sionen, Wunden,  Hypertrophien  etc.)  entstehen  bei  Gelegenheit  ver- 
schiedener perverser  Bethätigungen  der  Libido  sexualis,  wie  z.  B. 
bei  Ausführung  der  Kohabitation  im  Stehen*^),  durch  Cunnilingus 
(Saugen,  Beissen  und  Kratzen  an  den  Genitalien  '),  durch  Flagellation 

i)  E.   Lang,   „Das   venerische  Geschwür,"   Wiesbaden    1887,  S.  39. 

2)  R.   Bergh,    „Vestre-Hospital  i    1887,"   Kopenhagen    1888,   S.    9. 

3)  Nach  Bergh,  ,,Veslre-Hospilal  i  1897,"  Kopenliagen  1898,  S.  8  erwähnen  die 
Goncourt  in   ihren   Tagebüchern  diese  Reizringe  als  ,,Anneaux   de  Venus." 

4)  Ibidem  S.  8. 

5)  M.  Bockhart,  ,,Ein  Fall  von  hartem  Schanker  der  Vagina/'  in:  Monatshefte 
für  praktische  Dermatologie    1885,   Bd.  IV,  S.   419. 

6)  Bergh,  „Vestre-Hospital  i    1887,  S.  12. 

7)  Bergh,    „Vestre-Höspital  i    1892,"  S.   12. 

Bloch,  ])ei'  Ursprung  clor  Syphilis.  25 


—      38o     — 

und  andere  sadistische  Manipulationen  ^),  ja  sogar  bei  zoophilen  Weibern 
durch  Hundebiss !  -) 

Meist  schhessen  sich  an  diese  Verletzungen  und  Erosionen 
sekundäre  Infektionen  mit  Eitererregern  an.  Am  häufigsten  ge- 
schieht dies  bei  Prostituierten,  deren  Geschlechtsteile  durch  den  täg- 
lichen Verkehr  mit  zahlreichen  Individuen  ständig  gereizt  werden, 
so  dass  etwaige  Verletzungen  nicht  zur  Heilung  kommen.  Die  so- 
g-enannte  „chronische  Ulceration  der  Prostituierten"  ist  fast 
immer  nichtsyphilitischer  Natur.  Es  sind  dies  jene  Geschwürs- 
bildungen an  der  Vulva,  von  denen  Fournier,  ihren  syphilitischen 
Charakter  bestimmt  leugnend,  kurz,  aber  treffend  gesagt  hat:  „Ce 
sont  des  ulcerations  et  voila  tout"  ^). 

Eingehende  Untersuchungen  über  das  chronische  Geschwür  der 
Prostituierten  hat  Jacobi  angestellt*).  Der  Lieblingssitz  der  Ulcera- 
tion ist  die  Gegend  des  Orificium  urethrae  und  die  Commissura 
posterior.  Das  Geschwür  hat  eine  grosse  Aehnlichkeit  mit  dem  ty- 
pischen Ulcus  molle,  unterscheidet  sich  aber  von  demselben  durch 
den  harten ,  oft  elephantiastischen  Untergrund ,  weniger  scharf  ge- 
schnittene Ränder  und  die  Unmöglichkeit  der  Verimpfung.  Die 
Grösse  der  Ulcera  ist  verschieden;  in  manchen  Fällen  sind  „das 
Orificium  urethrae,  der  Introitus  vaginae  und  die  kleinen  Scham- 
lippen ,  zuweilen  auch  der  Anus  durch  polypöse ,  elephantiastische 
Wucherungen,  zwischen  denen  Pissuren,  Erosionen  und  tiefe,  schmierig 
belegte  Geschwüre  sich  finden,  zerklüftet  und  zerrissen.  Die  wulstigen, 
sehr  derben  Partien  füllen  bisweilen  die  ganze  Vulva  aus,  so  dass  es 
fast  unmöglich  ist,  sich  in  diesem  Chaos  zu  orientieren." 

Für  die  Aetiologie  der  hier  geschilderten  chronischen  Verände- 
rungen kommen  hauptsächlich  die  oben  erwähnten  mechanischen 
Momente  in  Betracht.  Nach  Jacobi  liefert  für  die  Geschwürsbildung 
meist  das  Ulcus  molle  (sehr  selten  der  Primäraffekt),  dessen  Narbe 
durch  den  häufigen  Coitus  immer  wieder  aufgerissen  wird,  den  Aus- 
gangspunkt,  wozu   sich  durch  Behinderung  des  Lymph-  und  Venen- 


i)  Derselbe  S.    12   und  in  den  anderen  Jahresberichten. 

2)  Vestre-Hospital  i   1900,  S.  11. 

3)  Vergl.  Tb.  Landau,  ,,Zur  Kasuistik  der  chronischen  Ulcerationen  an  der 
Vulva,''  in:  Archiv  für  Gynäkologie,  Bd.  XXXIII,  H.  i  (nach  Monatshefte  für  praktische 
Dermatologie   1888,  Bd.  VII,  S.  1270). 

4)  E.  Jacobi,  ,,Ueber  die  sogenannte  gonorrhoische  Vulvitis  imd  über  chronische 
Ulcerationen  an  den  Genitalien  Prostituierter,"  in:  Verhandlungen  der  Dermatolog.  Gesell- 
schaft, Wien  1889,  S.  193  — 199.  —  Auch  die  ,,kraterförmigen,  erosiven  Geschwüre  der 
Vulva  und  Vagina  von  unerklärlicher  Aetiologie",  die  F'ritsch  (,, Krankheiten  der 
Frauen",    10.   Aufl.,   Leipzig   1901,   S.   55)  beobachtete,  gehören   wohl  hierher. 


-     38i      - 

blutstromes  infolge  von  Bubonennarben ,  der  bei  Prostituierten  so 
häufigen  habituellen  Verstopfung  und  der  ständigen  mechanischen 
Insulte  elephantiastische  A^eränderungen  gesellen.  Jacobi  schliesst 
bei  der  absoluten  Erfolglosigkeit  der  antiluetischen  The- 
rapie eine  Beteiligung  der  Syphilis  aus^). 

Ebenso  konnte  Landau  in  der  oben  erwähnten  Abhandlung 
Syphilis  als  ätiologisches  Moment  der  „chronischen  Ulceration"  der 
Vulva  ausschliessen '-). 

Den  erwähnten  Zustand  der  Genitalien  der  mit  chronischen 
Ulcerationen  behafteten  Prostituierten  hat  bereits  Venot  in  der  folgen- 
den klassischen  Weise  geschildert: 

,,11  est  donc  une  categorie  nombreuse  de  femmes  publiques  portant  aux  parties  geni- 
tales l'indelebile  stigmate  de  leur  ignoble  existence,  restes  impuissants  d'un  mal  incurable,  ou 
resultats  d'efforts,  de  labeurs  inherents  ä  leur  perilleuse  Industrie.  Vieilles  ou  jeunes,  mais 
egalemeut  decrepites,  ces  malheureuses  s'offrent  ä  la  visite  avec  des  lesions  qu'au  premier 
coup  d'oeil  on  est  tente  de  regarder  corame  dangereuses.  Les  unes  sont  affectees  d'ulce- 
rations  vastes,  sinueuses,  frangees,  veritables  esthiomenes  aux  anfractuosites  sans  fond,  sans 
issue.  —  D'autres,  ä  ces  incroyables  Solutions  de  continuite,  joignent  d'anorniales  hyper- 
trophies  des  grandes  et  des  pelits  levres;  des  caroncules  myrtiformes  dilacerees  ou  grossies 
hors  mesure;  des  boursoufflures  du  meat  urinaire;  des  decoupures  en  gouttiere  de  la  four- 
chette,  sortes  de  rail-way  du  plancher  vaginal,  qu'aucun  inodule  ne  parvient  jamais  ä  cica- 
triser.  —  II  en  est  encore  dont  l'epaisseur  de  la  vulve  contient  d'antiques  clapiers,  absces 
eternels  et  rebelles  ä  toutes  les  combinaisons  de  l'arl;  sources  purulentes,  lubrefiant  depuis 
plusieurs  annees  les  surfaces  oü  s'ouvrent  leur  pertuis  fistuleux.  —  Chez  certaines,  la  resi- 
stance  du  tissu  a  limite  les  desordres;  aussi  n'ont-elles  que  des  rougeurs  insolites,  des 
eraillures  de  l'epithelium,  des  excroissances  charnues.  —  Mais  quand  la  friabiüte  des  parties 
tient  aux  fatigues  d'un  coit  exagere,  aux  manoeu\Tes  imprudentes  de  la  parturition,  aux 
mille  excentricites  de  la  debauche,  alors,  et  les  circonstances  du  lymphatisme  aidant,  il  se 
produit  des  monstruosites  semblables  ä  celles  reiatees  plus  haut,  voire  meme  des  fistules 
•recto-vaginales ,  infirmites  repoussantes  dont  le  cadre  de  la  prostitution  bordelaise  possede 
deux  ou  trois  specimens."  ^) 

i)  Jacobi,  a.  a.   O.   S.    198. 

2)  Wenn  daher  Bandler  neuerdings,  sich  stützend  auf  die  Häufigkeit  der  Syphilis 
bei  Prostituierten,  dieselbe  als  hauptsächliche  Ursache  der  geschilderten  Veränderungen  an- 
spricht (V.  Bandler,  ,,Zur  Kenntnis  der  elephantiastischen  und  ulcerativen  Veränderungen 
des  äusseren  Genitales  und  Rectunis  bei  Prostituierten,"  in:  Archiv  für  Dermatologie  und 
Syphilis  1899,  Bd.  XLVIII,  S.  337—348),  so  ist  diese  Schlussfolgerung  des  „post  hoc 
ergo  propter  hoc"  ungerechtfertigt,  da  man  dieselben  Veränderungen  bei  Prostituierten 
beobachtet,  die  der  Lues  entgangen  sind  und  die  letztere  doch  höchstens  eine  besonders 
prädisponierende  Rolle  spielen  könnte,  indem  jene  elephantiastisch -ulcerativen  Veränderungen 
mit  den  häufigen  Insulten  der  Geschlechtsteile  in  Zusammenhang  stehen.  Auch  Herr  Professor 
G.  Behrend,  der  neben  Bergh  über  diesen  Punkt  gegenwärtig  wohl  die  grösste  Erfahrung 
besitzt,  hat  mir  das  häufige  Vorkommen  nichtsyphilitischer  elephantiaslischer  und 
ulcerativer  Veränderungen   bei  Prostituierten   bestätigt. 

3)  J.  B.  Venot,  ,,De  la  pseudo-syphilis  chez  les  prostituees,"  Bordeaux  1859, 
S.    14-15. 

9* 


-     382      - 

Alle  diese  auffälligen  Veränderung-en  entstehen  durch  eine  Kom- 
bination von  mechanischen  Insulten,  Verletzungen,  Einrissen  mit  nach- 
folgender sekundärer  nichtsyphilitischer  Infektion  (Streptokokken, 
Staphylokokken,  Streptobacillus  ulceris  mollis  Unna,  Gonococcus, 
Tuberkelbacillus  u.  a.;,  wozu  dann  als  drittes  ätiologisches  Moment, 
die  eine  Hypertrophie  der  Geschlechtsteile  begünstigenden,  Störungen 
der  Lymph-  und  Blutcirkulation  der  Beckenregion  sich  gesellen. 
Es  ist  ja  in  letzterer  Hinsicht  bekannt,  dass  schon  allein  perverse 
Praktiken, wie  z.  B.  das  Saugen  und  Lecken  der  weiblichen  Genitalien 
(Cunnilingus,  Sapphismus)  eine  Hypertrophie  der  betreffen-den  Partien 
herbeiführen   ( M  a  r  t  i  n  e  a  u )  ^). 

Wichtiger  als  die  aus  ursprünglich  mechanischen  Einwirkungen 
beim  sexuellen  Verkehr  hervorgehenden  Affektionen  der  Geschlechts- 
teile sind  die  ohne  solche  vorherige  Verletzungen  auftretenden  krank- 
haften Veränderungen  der  Genitalien  infolg'e  oder  nach  einem  Bei- 
schlafe bezw.  sonstiger  geschlechtlichen  Berührung. 

Dabei  müssen  wir  auch  in  dieser  Rubrik  jene  Genitalleiien  auf- 
führen, welche  sich  häufig  nach  dem  Coitus  zeigen,  ohne  bisher  in 
einen  direkten  ätiologischen  Zusammenhang  mit  demselben  gebracht 
werden  zu  können,  wie  z.  B.  den  Genitalherpes,  der  sehr  häufig  im 
Anschlüsse  an  einen  Coitus  erscheint  bezw.  recidiviert.  Ueberhaupt 
sind  von  jeher  manche  Genitalaffektionen  auf  einen  unreinen  Bei- 
schlaf zurückgeführt  worden,  ohne  dass  sie  mit  diesem  etwas  zu  thun 
hatten,  w^ährend  andererseits  die  Venus  impura  in  Gestalt  verschiedener 
nichtsyphilitischer  Infektionserreger  an  den  Genitalien  krankhafte  Ver- 
änderungen hervorruft. 

Unter  diesen  seien  zunächst  die  sogenannten  einfachen 
Genitalgesch würe  (Ulcus  genitale  simplex)  erwähnt. 

Jedem  Dermatologen  und  allgemeinen  Praktiker  in  der  Gross- 
stadt wird  es  aufgefallen  sein,  dass  neben  den  „syphilitischen"  und 
„venerischen"  Geschwüren  (Ulcus  durum  et  Ulcus  molle)  relativ  häufig 
kleine,  oberflächliche  Geschwüre  an  den  Geschlechtsteilen  nach  einem 
unreinen  Coitus  auftreten,  die  weder  durch  die  ebenerwähnten  Er- 
reger der  Syphilis  und  des  weichen  Schankers  hervorgerufen  werden, 
noch  auch  mit  einem  Herpes  oder  einer  Balanitis  zusammenhängen, 
indem  sie  die  gruppenförmige  Anordnung  und  polycyklische  Form 
der    herpetischen    Geschwüre    vermissen    lassen    und    eine  Balanitis  in 


l)  Vergl.  auch  G.   B.   Moraglia,    „Neue  Forschungen  auf  dem   Gebiete  der  Krimi 
nalistik,    Prostitution   und    Psychopathie."   Berlin    1897,   S.   41. 


—      3«3      - 

den  meisten  Fällen  fehlt.  Vielmehr  scheinen  diese  „einfachen  Genital- 
g'eschwüre"  durch  beim  Coitus  übertragene  p}'ogene  Mikroorganismen 
hervorgerufen  zu  werden  und  stellen  demgemäss  eine  eigenartige 
Form  der  venerischen  Ansteckung  dar. 

Es  sind  kleine,  oberflächliche,  scharf  abgegrenzte  Geschwüre, 
mit  nicht  unbedeutender  eitriger  Absonderung,  die  auffallend  schnell 
unter  der  Anwendung  indifferenter  Streupulver  heilen  und  seltener 
als  die  Ulcera  mollia  von  Komplikationen  (fkibo)  begleitet  werden. 

Buschke,  der  mit  zuerst  auf  diese  häufigen  emfachen  Genital- 
geschwüre hinwies  1),  bemerkt:  „Wir  müssen  die  Bezeichnung  Ulcus 
molle  reservieren  für  ein  Geschwür,  dass  dem  Ducrey' sehen  Bacillus 
seine  Entstehung  verdankt  und  ihm  gegenüberstellen  ein  Ulcus 
simplex,  unter  welcher  Bezeichnung  die  vielen  einfachen  geschwürigen 
Prozesse  an  den  Genitalien  zusammengefasst  werden,  die  unter 
anderem  auch  beim  Coitus  entstehen  und  gewöhnlichen  pyogenen 
Mikroben  ihre  Entstehung  verdanken." 

Buschke  zählt  zu  den  Ursachen  dieser  einfachen  Geschwüre 
ausser  Coitus  auch  Traumen ,  Balanitis  u.  s.  w. ,  worin  ich  von  ihm 
abweiche,  indem,  wie  ich  schon  früher  berichtete 2),  diese  einfachen 
Genitalgeschwüre  ihre  direkte  Ursache  in  einem  unreinen  Coitus  haben, 
während  ausgedehntere  balanitische  oder  herpetische  Prozesse  an  den 
Genitalien  fehlen ,  also  das  Geschwür  auf  scheinbar  ganz  intakter 
Haut  sich  entwickelt,  wie  beim  harten  und  weichen  Schanker,  von 
welchen  es  aber  toto  coelo  verschieden  ist. 

Diese  Beobachtung  von  dem  Ulcus  molle  ähnlichen,  aber  in 
ihrem  Verlaufe  von  demselben  verschiedenen  Geschwürsbildungen 
an  den  Genitalien  mag  wohl  Finger 's  bekannte  Theorie  veranlasst 
haben,  dass  überhaupt  die  verschiedenen  Eitererreger  einen 
„weichen  Schanker"  erzeugen  könnten.  Die  Ursache  dieses  Irr- 
tums ist  die  fälschliche  Identifizierung  des  Ulcus  simplex  mit  dem 
Ulcus  molle. 

Unzweifelhaft  die  wichtigste  aller  pseudosyphilitischen  Geschwürs- 
formen an  den  Genitalien  ist  das  sogenannte  venerische  Ge- 
schwür, der  weiche  Schanker  (Ulcus  molle),  welche  Affektion 
wohl  am  häufigsten  mit  einem  syphilitischen  Primäraffekt  verwechselt 
wird.  Denn  die  Multiplicität  des  venerischen  Geschwüres  ist  durch- 
aus nicht  immer  vorhanden,  dagegen  eine  „Induration"  oft  deutlich 
ausgeprägt,    wie    bereits    oben    auseinandergesetzt    wurde.     Besonders 

1)  A.  Buschke,  „Ueber  die  Pathogenese  des  weichen  Schankers  und  der  venerisclien 
Bubonen"   in:   Verhandlungen  des  V.  Deutschen  Dermatologenkongresses    1896. 

2)  J.  Bloch,  „Einige  Mitteilungen  aus  der  dermatologischen  Praxis"  in:  Allgemeine 
medizin.  Centralzeitung,   1898,  No.  99. 


-     384      - 

chronisch  verlaufende  venerische  Helkosen  können  oft  g'anz  den 
Charakter  eines  harten  Schankergeschwüres  annehmen ,  so  dass  man 
in  solchen  Fällen  aus  der  blossen  klinischen  Beobachtung  keine  ent- 
scheidende Diagnose  stellen  kann,  sondern  die  Autoinokulation  und 
die  bakteriologische  Untersuchung  zu   Hülfe  nehmen  muss. 

Unter  unseren  modernen  antiseptischen  Behandlungsmethoden 
des  weichen  Schankers  sind  die  phagedänischen  Formen  desselben 
sehr  viel  seltener  geworden,  die,  wie  auch  O.  Petersen  in  seiner 
klassischen  Monographie  über  das  Ulcus  molle  betont,  in  früheren 
Zeiten  viel  häufiger  vorkamen  ^). 

Zwei  besondere  Formen  des  Ulcus  molle  sind  am  leichtesten 
mit  syphilitischen  Affektionen  zu  verwechseln,  nämlich  der  sogenannte 
FoUikularschanker,  dessen  bereits  oben  gedacht  wurde,  und  das 
Ulcus  molle  elevatum  oder  der  einfache  papulöse  Schanker. 
Letzterer  entsteht  durch  das  Emporschiessen  üppiger  Granulations- 
wucherungen vom  Grunde  des  Geschwürs,  so  dass  ein  Gebilde  ent- 
steht, welches,  wie  Lebert  mit  Recht  hervorhebt,  „eine  solche  Aehn- 
lichkeit  mit  den  Condylomen  annehmen  kann,  dass  sie  miteinander 
leicht  verwechselt  werden"  ^).  Sitzt  der  papulöse  Schanker  in  der 
Regio  analis,  so  sehen  jene  breiten,  erhabenen  Wucherungen  dem 
breiten  Condylom  täuschend  ähnlich. 

Die  Balanitis  (Balano-Posthitis)  entsteht  zwar  in  vielen 
Fällen  ohne  direkten  Zusammenhang  mit  einem  Beischlaf,  es  giebt 
aber  eine  bestimmte  Form  der  Balanitis,  welche  häufig  post  coitum 
auftritt  und  daher  wohl  auf  eine  Infektion  zurückzuführen  ist.  Das 
ist  die  Balanitis  follicularis.  Sie  besteht  „in  dem  Erscheinen  röt- 
licher Knoten,  seltener  weisslicher  Bläschen,  nach  deren  Platzen  ein 
scharf  randiger  Substanz  verlust  des  Epitheliums  übrig  bleibt"  ^).  Diese 
follikulären  balanitischen  Abscesse  im  unmittelbaren  Anschlüsse  an 
einen  Coitus,  meist  cum  puella  publica,  beruhen  höchstwahrscheinlich 
auf  einer  Infektion  mit  pyogenen  Mikroorganismen.  ■^) 


i)  O.  Petersen,  ,, Ulcus  molle"  in:  Archiv  für  Dennatologie  und  Syphilis  1895, 
Bd.  XXX,  S.   395. 

2)  H.  Lebert,  „Handbuch  der  praktischen  Medizin,"  3.  Aufl.  Tübingen  1863, 
Bd.  I,  S.  374.  Vergl.  auch  O.  Baude,  ,, Beitrag  zum  Studium  des  einfachen  Schankers. 
Einfacher   papulöser  Schanker.''     These  de  Lille   1887. 

3)  Englisch,  Artikel  ,, Penis"  in  Eulenburg's  ,,Real-Encyclopädie  der  gesamten 
Heilkunde,"  3.  Auflage,  Berlin-Wien   1898,  Bd.  XVIII,  S.  382. 

4)  Auf  eine  solche  Infektion,  freilich  nicht  durch  Coitus,  deutet  auch  folgende 
Beobachtung  G  e  i  g  e  1  s :  „Eine  sehr  merkAvürdige  Form  von  Balanitis,  nämlich  die 
folliculär  abscedierende,  habe  ich  nur  ein  einziges  Mal  nach  artificieller  Durch- 
schneidung   des    von    Natur    kurzen    Frenulums  bei  einem    jungen,    gesunden   Manne  beob- 


-     385     - 

Aehnlich  wie  die  Balanitis  follicularis  tritt  auch  der  Herpes 
genitalis,  vorzüglich  der  Männer,  fast  ausschliesslich  nach  einem 
Beischlafe  auf.  Alle  Fälle  von  Herpes  genitalis  des  männlichen 
Gliedes,  die  ich  beobachtet  habe,  wurden  von  den  betreffenden 
Patienten  direkt  auf  einen  Coitus  zurückgeführt. 

Auch  G ei  gel  nennt  den  Herpes  praeputialis  et  glandis  eine 
„bei  vielen  Männern  häufig  und  vorzüglich  nach  dem  Coitus  auf- 
tretende" Affektion  ^);  ebenso  nimmt  Michaelis  den  Coitus  als 
hauptsächliche  Ursache  des  Herpes  genitalis  an,  welcher  als  „Folge 
der  Reibung-  bei  Missverhältnis  der  Geschlechtsteile"  aufzufassen  sei  -). 

Handelt  es  sich  dabei  um  eine  Infektion  ? 

Die  Anschauungen  über  die  Aetiologie  des  Herpes  genitalis 
sind  sehr  verschieden  und  noch  keineswegs  geklärt. 

Nach  Diday  und  Doyon  geht  dem  Genitalherpes  stets  eine 
venerische  Erkrankung  voraus  und  zwar  meist  ein  Ulcus  moUe. 

Unna  hat  diesen  Zusammenhüng  bestritten ,  da  verheiratete 
Frauen  trotz  Lues  oder  Ulcus  molle  selten  an  Herpes  genitalis  er- 
kranken ,  welcher  vielmehr  mit  Vorliebe  die  öffentlichen  Mädchen 
heimsucht.  Bei  den  Frauen  scheinen  Menstruation,  Gravidität,  Puer- 
perium mehr  in  Betracht  zu  kommen  ^^).  Neisser  beobachtete  einen 
Fall  von  Herpes  am  Finger  an  einer  Stelle,  wo  eine  syphilitische 
Initialsklerose  bestanden  hatte  ^).  Danach  scheint  es,  als  ob  die  vene- 
rischen Geschwüre  eine  Prädisposition  für  Herpes  schaffen.  Epstein 
fasst  daher  den  Herpes  genitalis  als  eine  traumatische  Herpes- 
form auf,  wofür  auch  die  häufige  Doppelseitigkeit  der  Affektion  bei 
Männern  spreche,  die  sich  nur  durch  eine  traumatische  Ursache  er- 
klären lässt°). 


achtet,  wo  unter  heftigen  Fiebererscheinungen  und  sympathischer  Anschwellung  der  Leisten- 
drüsen auf  der  geschwollenen,  hochrotglänzenden  Eichel  20 — 30  kleinerbsengrosse,  hellgelbe, 
prominierende  Follicularabscesse  in  disseminierter  Anordnung  erschienen,  welche  zum  Teil  so 
tief  in  das  Parenchym  reichten,  dass  nach  ihrer  Entleerung  drei  oder  vier  Perforationen  der 
Urethra  entstanden,  so  dass  beim  Urinieren  der  Harn  radiär  in  feinen  Strahlen  wie  aus  einer 
Giesskanne  ausströmte.  Doch  schlössen  sich  diese  Urinfisteln  und  alles  kehrte  zum  nor- 
malen Zustande  zurück."  A.  Geigel,  ,, Geschichte,  Pathologie  und  Therapie  der  Syphi- 
lis,"  Würzburg    1867,  S.   97. 

i)  Geigel,  a.  a.  O.  S.    137. 

2)  A.  C.J.  Michaiis,   „Kompendium  der  Lehre  von  der  Syphilis,''  Wien  1859,  S.  141. 

3)  Unna,  ,,0n  Herpes  progenitalis,  especially  in  woman"  im  Journal  of  cutaneous 
and  venereal  diseases,  1883,  Bd.  I,  S.  321 — 335,  citiert  nach  Ernst  Epstein,  ,,Ueber 
Zoster  und  Herpes  facialis  und  genitalis"  in :  Vierteljahrsschrift  für  Dermatologie  und  Syphilis 
1886,  Bd.  XVHL  S.   796  —  797. 

4)  Ibidem  S.   799. 

5)  „Wenn    von    einer    Wunde    der    Genitalien    aus    eine  Entzündung  oder  wenigstens 


-      386      - 

Von  grossem  Interesse  sind  die  Aeusserungen  des  erfahrenen 
Bergh  über  die  Aetiologie  des  Herpes  genitalis  bei  Männern.  Wie 
Fournier  und  Hallopeau  beobachtete  auch  er  einige  Male  die 
Affektion  bei  „sexuell  oder  wenigstens  venerisch  intakten''  Knaben 
und  ganz  jungen  Individuen  ohne  venerische  Antecedentien.  Ferner 
sah  er,  wie  Schwimmer,  den  Ausbruch  von  Herpes  progenitalis,  bei 
jugendlichen  Onanisten  kurz  nach  schnell  wiederholten  Masturbationen. 
Nach  Bergh  ist  der  genitale  Herpes  bei  Ehemännern  selten,  so  lange 
sie  „auf  eigenem  Gebiete  treu  verharren",  dagegen  kommt  er  häufiger 
vor  bei  Männern,  die  ihre  „losen  Verbindungen  häufig  variieren"  und 
dadurch  eine  gewisse  „sexuelle  nervöse  Irritabilität"  fortdauernd  unter- 
halten, weshalb  bei  dem  „grossen  und  mächtigen  Refrigerans,  dem 
Alter,  der  Herpes  vollständig  verschwindet".  Bergh  fasst  seine 
Beobachtungen  dahin  zusammen,  dass  in  der  Aetiologie  des  genitalen 
Herpes  Neurasthenie  und  Sensualität  eine  grössere  Rolle  spielen 
als  vorausgegangene  venerische  Ansteckung  und  „Herpetismus"  ^). 

Auch  Jaquet  erblickt  die  Ursache  des  Herpes  in  der  „heftigen 
Erregung  nervenreicher  Körperenden,  die  eine  vielseitige  dynamische 
Erschütterung  hervorruft"  ^). 

Demgegenüber  muss  hervorgehoben  werden,  dass  blosse  Neu- 
rasthenie und  Variation  der  geschlechtlichen  Beziehungen  nicht  aus- 
reichen ,  um  das  Zustandekommen  des  genitalen  Herpes  zu  erklären, 
worauf  schon  Bergh's  Beobachtung  von  dem  häufigeren  Vor- 
kommen der  Affektion  bei  mit  puellis  publicis  verkehrenden  Männern 
hindeutet,  sowie  die  ebenso  unzweifelhafte  traumatische  Entstehung 
des  Herpes. 

Es  scheint,  dass  bei  vorhandener  nervöser  Erregbarkeit  doch 
noch  gewisse  direkte  Schädlichkeiten  hinzukommen  müssen,  um 
Herpes   hervorzurufen.      Welcher    Natur    diese    Noxe    sei,    lässt    sich 


ein  länger  anhaltender  Reizzustand  der  in  derselben  mitgetroffenen  Nervenästchen  angefacht 
wird,  so  wird  es  selbstverständlich  nur  von  der  Lage  der  Wunde  abhängen,  ob  die  Nerven 
nur  auf  einer  oder  auf  beiden  Seiten  hineingezogen  werden  in  jenen  Reizzusland,  ob  also 
auch  der  Herpes  ein-  oder  doppelseitig  auftreten  wird.  Beim  Manne,  wo  für  die  Hautdecke 
der  äusseren  Genitalien  die  Mittellinie  nur  mehr  geometrische  Bedeutimg  hat,  wird  also 
ebenso  wenig  wie  das  Ulcus  molle  auch  der  Herpes  die  Medianlinie  zu  respektieren  brauchen. 
Anders  beim  Weibe;  hier  stellt  die  Mittellinie  noch  eine  wirkliche  Grenze  dar,  die  nur  an 
einigen  Punkten,  wie  Praeputium  clitoridis,  Damm,  überschritten  werden  kann."  Epstein, 
a.   a.  O.  S.  800,  nach  Unna,  der  zuerst  auf  diese  Verhältnisse  hingewiesen  hat. 

1)  R.  Bergh,  ,,Ueber  Herpes  menstrualis'".  in:  „Monatshefte  für  prakt.  Dermatologie 
1890,   Bd.  X,  S.    10 — II. 

2)  L.  Jacquet,  ,, Beitrag  zur  Pathogenese  des  Herpes  vulgaris''  in:  Festschrift  für 
Kaposi,  Wien  1901  (Referat  in  Monatshefte  für  prakt.  Dermatologie  1902,  Bd.  XXXIV, 
No.   9,  S.  467). 


-     387      - 

nicht  mit  Bestimmtheit  eruieren,  aber  es  ist  zweifellos,  dass  thatsäch- 
lich  der  geschlechtliche  Verkehr  als  eine  weitere  Ursache  des 
genitalen  Herpes  angesprochen  werden   muss. 

Gau  eher  betrachtet  als  Ursachen  des  Herpes  progenitalis  des 
Mannes  den  Coitus,  besonders  mit  einer  bereits  an  Herpes  der  Ge- 
schlechtsteile leidenden  Frau,  ferner  Excesse  beim  Coitus,  Absonde- 
rungen blennorrhoischer  und  schankröser  Natur  der  weiblichen  Geni- 
talien, Leukorrhoe.     Oft  kommt  er  in  den   Flitterwochen  vor  i). 

Ebenso  beobachtete  Basedow  das  häufige  Auftreten  des 
Herpes  nach  einem  Coitus,  besonders  mit  einer  an  Fluor  albus 
leidenden  Frau  ^). 

In  einem  Falle  von  Le  Für  trat  Herpes  genitalis  fast  unmittel- 
bar nach  dem  Beischlafe  mit  einer  an  Herpes  menstrualis  leidenden 
Frau  auf,  dazu  gesellte  sich  noch  eine  Urethritis  herpetica  ■''). 

Es  scheint  also,  dass  während  des  Coitus  ein  infektiöses  Agens 
eindringt  und  die  betreffenden  Xerven  reizt.  Für  solche  direkten 
toxischen  Einflüsse  spricht  auch  das  Vorkommen  von  Herpes  geni- 
talis bei  Infektionskrankheiten,  wie  z.  B.  bei  lyphus^j.  Nach 
Fuchs  wird  die  Affektion  häufig  durch  alimentäre  Schädhchkeiten 
erzeugt.  Er  sah  sie  oft  bei  jungen  Leuten,  die  an  Verdauungsstörungen 
litten  '">).  Auch  dies  deutet  auf  einen  direkten  toxischen  Einfluss  auf 
das  Nervengebiet  hin,  innerhalb  dessen  der  genitale  Herpes  auftritt. 
In  ähnlicher  Weise  müssen  wir  uns  das  Zustandekommen  des  Herpes 
nach  einem  Beischlafe  denken,  durch  welchen  das  Eindringen  einer 
infektiösen  Noxe  vermittelt  wird. 

Jedenfalls  ist  der  zeitliche  Zusammenhang  des  Herpes  pro- 
genitalis mit  dem  geschlechthchen  Verkehr  so  oft  und  von  so  vielen 
zuverlässigen  Beobachtern  konstatiert  vrorden,  dass  er  in  diesem 
Sinne  zu  den  „venerischen"  Krankheiten  gezählt  werden  muss.  Es 
ist  ferner  unzweifelhaft,  dass  die  Aerzte  des  Altertums  und  Mittel- 
alters die  herpetischen  Geschwüre  der  Genitahen  mit  einem  unreinen 
Beischlaf  in  Zusammenhang  brachten. 

1)  M.  Gaucher,  ,,Ueber  Herpes  genitalis"  in:  Independance  medicale  1899,  p.  281 
(Referat  in  Monatshefte  für  prakt.  Dermatologie   1900,  Bd.  XXX,  S.   184 — 185). 

2)  Basedow,  ,,Ueber  den  Vorhaut-Herpes"  in:  Journal  der  Chirurgie  und  Augen- 
heilkunde von  V.  Gräfe  und  v.  Walther  1825,  Bd.  VIII,  S.  612. 

3)  R.  Le  Für  in:  Annales  des  maladies  des  organes  genito-urinaires  1897,  No.  9 
(Referat  in  Monatshefte  für  prakt.  Dermatologie   1898,  Bd.  XXVI,  S.  43). 

4)  H.  W.  Webber,  ..Herpes  der  glans  penis  bei  Typhus"  in:  British  medical 
Journal  vom  18.  Mai  1895  (Referat  in  Älonatshefte  für  praktische  Dermatologie  1896, 
Bd.  XXII,   S.  381). 

5)  C.  H.  Fuchs,  „Die  krankhaften  Veränderungen  der  Haut,"  Göttingen  1840, 
S.     154. 


-     388     - 

Eine  Verwechselung  des  Herpes  genitalis  mit  syphilitischen 
Affektionen  ist  durchaus  nicht  selten.  Die  typischen  Herpesbläschen 
in  gruppenförmiger  Anordnung  machen  zwar  die  Diagnose  unzweifel- 
haft, sind  indessen  durchaus  nicht  immer  vorhanden,  da  sie  rasch  zu 
relativ  tiefen  Excoriationen  ^)  verschmelzen  können.  Die  nicht  seltene 
Komplikation  mit  einer  eitrigen  Balanitis  steigert  noch  die  Schwierig- 
keit der  Diagnose  2).. 

Nach  Köbner  wird  der  Herpes  genitalis  der  Weiber  noch 
häufiger  mit  syphilitischen  Affektionen  verwechselt  als  derjenige 
der  Männer.  Bei  beiden  Geschlechtern  wird  er  sehr  oft  mit  weichen 
Schankern  verwechselt;  der  Herpes  des  Collum  uteri  imponiert  sehr 
leicht  als  Plaque  muqueuse  ^). 

Basedow  berichtet  die  traurig-ergötzliche  Geschichte  eines  an 
einem  recidivierenden  Herpesgeschwüre  des  Präputiums  leidenden 
Patienten,  der  ihm  in  betreff  der  Diagnose  „Herpes"  nicht  Glauben 
schenken  wollte  und  von  anderen  Aerzten,  darunter  sogar  einem  Pro- 
fessor in  Halle,  auf  Lues  kuriert  wurde.  „In  einzelnen  Fällen",  be- 
merkt Basedow  weiter,  „bekommen  die  Herpesgeschwüre  auch  Ge- 
schwulst unter  sich,  sie  ahmen  dann  der  venerischen  Pustel  um  so 
mehr  nach,  indem  sie  mehr  in  die  Tiefe  gegangen  zu  sein  scheinen. 
Es  tritt  dieselbe  durch  Reibung  beim  Gehen,  durch  zu  grosse  Em- 
pfindlichkeit der  Teile  ein,  ist  aber  häufig  das  Produkt  einer  falschen 
Behandlung"  "*). 

In  unzweifelhaftem  direkten  Zusammenhange  mit  dem  Geschlechts- 
verkehr entwickeln  sich  pseudosyphilitische  Affektionen  gonorrhoi- 
scher Natur  an  den  Geschlechtsteilen  des  Mannes  und  Weibes. 

Beim  Mann  können  besonders  die  peri-  und  paraurethralen 
gonorrhoischen  Affektionen  zur  Bildung  von  Abscessen  und  Ge- 
schwüren des  Gliedes  führen.  Noch  häufiger  werden  bartholini- 
tische  Abscesse  beim  Weibe  mit  s)'philitischen  Affektionen  ver- 
wechselt, indem  sich  infolge  von  Bartholinitis  oft  Geschwüre  mit 
völlig  schankrösem  Aussehen  entwickeln^). 


i)  Das  Vorkommen  sehr  tiefer  Excorationen  beim  Herpes  der  weibliclien  Genitalien 
betont  besonders  Paul  Zweifel,  „Die  Krankheiten  der  äusseren  weiblichen  Genitalien," 
Stuttgart  1885,  S.   53—54- 

2)  Vergl.  O.  Petersen,   a.  a,  O.  S.  390. 

3)  H.  Köbner,  „Ueber  Pemphigus  vegetans,  nebst  diagnostischen  Bemerkungen 
über  die  anderen  mit  Syphilis  verwechselten  blasenbildenden  Krankheiten  der  Schleimhäute 
und  der  äusseren  Haut"  in:  Deutsches  Archiv  für  klinische  Medizin,  Leipzig  1894, 
Bd.  LIII,  S.   62. 

4)  Basedow,    ., Etwas  über  den   Vorhaut-Herpes,"  a.  a.  O.   S.   610,   612  — 13. 

5)  Vergl.  R,  Bergh,  ,, Beitrag  zur  Kenntnis  der  Entzündung  der  Glandula  vesti- 
bularis  major"    in:    Monatshefte  für  praktische  Dermatologie,    Bd.  XXI,    1895,  S.  378  und 


Nicht  selten  schliesst  sich  an  einen  Tripper  eine  Lymphangitis 
suppurativa  an  ^). 

Durch  den  Beischlaf  wird  auch  häufig'  die  Scabies  auf  die 
Geschlechtsteile  übertragen.  „An  der  Penishaut  lokalisierte  Scabies- 
eruptionen  werden  nicht  selten ,  namentlich  von  den  Kranken  selbst, 
für  venerische  Affektionen  gehalten  und  können  in  der  That  syphi- 
litischen Papeln  oder,  wenn  es  unter  den  Borken  zu  Ver- 
schwärung  gekommen  ist,  weichen  Schankergeschvvüren  ähnlich 
sehen"  "). 

Chr.  F.  Paulini's  Beobachtung 2),  dass  „einem  avisschweifenden 
Manne  das  männliche  Glied  von  Filzläusen  zernagt  und  zerfressen 
wurde",  dürfte  mit  Recht  in  Zweifel  gezogen  werden,  w^enngleich 
nicht  bestritten  werden  soll,  dass,  besonders  bei  Weibern,  an  den 
Genitalien  bei  Pediculosis  sekundär  durch  Kratzen  Excoriationen 
und  Geschwüre  entstehen  können. 

Höchst  bemerkenswert  ist  Audry's  Beobachtung  einer  Impe- 
tigo herpetiformis  der  Eichel  unmittelbar  nach  einem  Coitus. 
Der  Patient  bemerkte  bald  nach  dem  Beischlafe,  dass  sich  auf  dem 
inneren  Vorhautblatte  zwei  bis  drei  Vesicopusteln  gebildet  hatten. 
Bald  bedeckte  sich  die  Eichel  mit  Pusteln,  die  zusammenflössen  und 
eine  grosse  eitrige  Fläche  bildeten ,  in  ihrer  Anordnung  aber  das 
typische  Bild  der  Impetigo  herpetiformis  erkennen  Hessen  ^). 

Mit  der  Aufzählung  dieser  im  Anschluss  an  einen  Beischlaf 
auftretenden  Affektionen  der  Geschlechtsteile  ist  die  Zahl  derselben 
gewiss  nicht  erschöpft.  Jeder  Arzt,  der  hierauf  seine  Aufmerksam- 
keit gerichtet  hat,  dürfte  sich  solcher  Fälle  erinnern,  wo  für  gewöhn- 
lich nicht  als  „venerisch"  betrachtete  krankhafte  Veränderungen  der 
Genitalien  im  Zusammenhange  mit  dem  Geschlechtsverkehre  auftraten. 
Ich  erinnere  z.  B.  nur  an  die  unzweifelhafte  Beobachtung  eines 
Carcinoma  penis  bei  Männern ,  die  mit  ihrer  an  Krebs  der  Portio 
leidenden  Frau  fortdauernd  in  geschlechtlichem  Verkehr  gestanden 
hatten,  so  dass  es  hier  in  der  That  nahe  liegt,  an  eine  direkte  In- 
fektion und  Uebertragung  des  Leidens  durch  den  Beischlaf  zu 
denken. 


Nivet,   ,,Ulceration  consecutive  ä  un  absces  de  la  glande  de  Bartholin  simulant  un  chancre 
simple"  in:  Annales  de  Dermatologie   1886,  2e    serie,  T.  VIII,  p.  423 — 424. 

i)   Vergl.   Billard  in:   Monatshefte  für  prakt.  Dermatologie    1897,  Bd.  XXV,  S.  4. 

2)  J.  H.  Rille,    „Lehrbuch    der    Haut-    und    Geschlechtskrankheiten,"    Jena   1902, 
S.     168. 

3)  Bei  Chr.   Gir  tanner,   „Abhandlung  über  die  venerische  Krankheit",   Göttingen 
1789,  Bd.  II,  S.  340. 

4)  Vgl.   Monatshefte  für  prakt.   Dermatologie    1898,  Bd.   XXVII,   S.  410. 


—     39f>     — 

Wenn  wir  uns  nun  zu  der  Gruppe  der  mit  Geschwürsbildung 
und  Entzündung  einhergehenden  Genitalaffektionen  wenden,  die  nicht 
in  einem  direkten  Zusammenhange  mit  dem  Geschlechtsverkehr  stehen, 
so  können  wir  die  dahingehörenden  pseudosyphilitischen  Affektionen 
unterscheiden  in  solche,  die  auf  mechanischem  Wege  Zustandekommen, 
die  spontan  auftreten  bezw.  auf  Infektion  ausserhalb  des  Coitus  be- 
ruhen, und  die  im   Gefolge  von  Allgemeinleiden  erscheinen. 

Was  die  durch  mechanische  Insulte  entstandenen  Genitalaffek- 
tionen betrifft,  kommen  hier  besonders  die  Excoriationen  und 
Erosionen  nach  Kratzen  bei  juckenden  Affektionen,  insbesondere 
Pruritus  vulvae,  in  Betracht.  Aus  den  von  Bergh  in  seinen  ver- 
schiedenen Jahresberichten  (vergl.  insbesondere  Jahrgang  1887  S.  8 
und  1S88  S.  7)  aufgestellten  Tabellen  erhellt  das  überaus  häufige 
Vorkommen  der  verschiedensten  Excoriationen  rein  mechanischen 
Ursprungs  an  allen  Teilen  der  weiblichen  Genitalien,  meist  an  mehreren 
Stellen  zugleich.  Anhaltendes  Reiben  und  Kratzen  infolge  von  Pru- 
ritus pudendorum  ^)  oder  als  onanistische  Procedur  ^)  vermag  sogar 
Geschwüre  der  Genitalien  zu  erzeugen. 

Unter  den  spontan  bezw.  durch  Infektion  ausserhalb  des  Coitus 
auftretenden  entzündlichen  und  geschwürigen  Affektionen  der  Geni- 
talien seien  zunächst  die  aphthösen  Geschwüre  der  weiblichen 
Geschlechtsteile  erwähnt,  über  w'elche  neuerdings  Isidor  Neu- 
mann eingehender  berichtet  hat^). 

Neumann  betont  die  grosse  Wichtigkeit  dieser  Affektion  im 
Hinblick  auf  ihre  Verwechselung  mit  venerischen  und  syphilitischen 
Geschwüren.  Er  beobachtete  in  den  letzten  Jahren  neun  Fälle,  in 
denen  es  zu  tiefgreifenden  und  ausgedehnten  Ulcerationen  kam. 
Meist  erstrecken  sich  die  Aphthen  von  der  Vulva  bis  zum  After. 
Am  häufigsten  sah  Neumann  das  Auftreten  der  Affektion  intra 
partum.  Schon  v.  Embden^)  hatte  auf  die  prädisponierende  Rolle 
der  Gravidität  hinge.wiesen.  Nach  Neu  mann  ist  die  Differential- 
diagnose zwischen  aphthösen  und  syphilitischen  Geschwüren  oft 
schwierig. 

In  gerichtsärztlicher  Beziehung  ist  es  von  Wichtigkeit,  dass  bei 
IG  bis   12 jährigen    Mädchen    nach   allgemeinen    Infektionskrankheiten 


1)  V.  Embden,  a.  a.  O.  S.  382. 

2)  Beobachtung  Sollier's  bei  v.  Schrenpk- Notzing,   „Die  Suggestionstherapie  bei 
krankhaften  Erscheinungen  des  Geschlechtssinns,"  Stuttgart   1892,  S.   7. 

3)  J.  Xeumann,    „Die    Aphthen    am    weibHchen    Genitale"    in:    "Wiener    klinische 
Rundschau    1895,   ^'o-    ^9- 

4j  V.  Embden,  a.  a.  O.  S.  382. 


—     391      — 

(Keuchhusten,  Scharlach,  Diphtheritis)  aphthöse  Auflagerung"en  auf 
der  Vulva  sich  einstellen,  die  rundliche  Geschwüre  bilden,  welche  mit 
einem  grauen ,  pulpösen  Eiter  bedeckt  sind.  Diese  Ulcerationen 
können  sich  durch  die  ganze  Vulva,  auf  das  Perineum  und  den  Anus 
ausbreiten  und  sogar  Kontinuitätstrennungen  des  Hymen  zur 
P'olge  haben  ^). 

Auch  Soor  des  weiblichen  Genitale  ist  beobachtet  worden  -) ; 
ebenso  verdient  die  Leukoplakia  oder  Leukokeratosis  vulvo- 
vaginalis  nur  eine  beiläufige  Erwähnung^). 

Hieran  schliessen  sich  zweckmässig  die  mannigfaltigen  gan- 
gränösen Prozesse  an  den  männlichen  und  weiblichen  Genitalien 
(Gangraena,  Xoma,  Diphtherie,  Erysipelas),  die  durchaus  nicht  zu  den 
seltenen  Vorkommnissen  gehören  und,  wie  wir  aus  einem  weiter 
unten  erwähnten  von  Wilde  mitgeteilten  Falle  ersehen  werden,  eben- 
falls ein  erhebliches  forensisches  Interesse  darbieten. 

Ueber  eine  eigentümliche  Epidemie  von  akuter  infektiöser 
Gangrän  der  weiblichen  Geschlechtsteile  berichtete  der  dä- 
nische Arzt  Otto^):  „Das  Uebel  besteht  in  einer  Anschwellung  der 
weiblichen  Geschlechtsteile,  die  aber  bisweilen  mit  Geschwüren 
eigentümlicher  Xatur  verbunden  ist.  Diese  Geschwüre,  die  einen 
speckartigen  Boden  und  erhabene  Ränder  haben ,  fangen  mit  einer 
Excoriation  an  und  besitzen  dann  ein  syphilitisches  Aus- 
sehen; sie  breiten  sich  mit  einer  ausserordentlichen  Schnelligkeit 
nach  den  benachbarten  Teilen  aus  und  können  schon  binnen  24  Stun- 
den in  einen  tötlichen  kalten  Brand  übergehen".  Es  hing  diese  con- 
tagiöse  Affektion  nicht  mit  Puerperalfieber  zusammen,  da  Otto 
sie  bei  durchaus  gesunden ,  nicht  graviden  oder  geboren  habenden 
Frauen  beobachtete. 

Sehr  wichtig  in  differentialdiagnostischer  Beziehung  ist  die 
„Aidoiotitis  (sie)  gangraenosa  puellarum  Richter  und  Wie- 
gan d"  ^)    oder    die    Xoma    pudendorum,     welche    nicht    selten    mit 


i)  Kurzes  Repetitorium  der  gerichtlichen  Medizin,  Leipzig  u.  Wien  o.  J.    S.   55. 

2)  J.  Fischer,  ,,Soor  des  weiblichen  Genitale"  in:  Wiener  med.  W^ochenschrift 
1897,  Xo.    15. 

3)  Carruccio  in:  Giornale  italiano  delle  malattie  veneree  e  della  pelle  1898,  H.  3, 
nach  Monatshefte  für  prakt.  Dermatologie  1899,  Bd.  XXVIII.  S.  144,  und  Pniffe  de 
Magondeau,  These  de  Paiis   1899. 

4)  Otto,  „Ueber  die  Krankheiten  in  Kopenhagen  und  ihre  Behandlungsart"  in: 
J.   N.   Rust's  Magazin  für  die  gesamte  Heilkunde,  Berlin    1839,    Bd.  lÄV,  S.   253. 

5)  C.  H.  Fuchs,  ..Die  krankhaften  Veränderungen  der  Haut,"  Göttingen 
1840,  S.   309. 


—     392      — 

harten  Schankergeschwüren  verwechselt  wird,  da  die  stark  ödema- 
tösen  Ränder  des  Noma-Ulcus  eine  ausgeprägte  Induration  darbieten 
können.  Casper  erörtert  diese  „gefährhche  Verwechselung  des 
Schankergeschwürs  bei  kleinen  Mädchen  mit  dem  wirklichen  Noma 
pudendorum"  ausführlich  in  Band  I  §  17  seines  „Handbuches  der  ge- 
richtlichen Medizin"  und  teilt  in  den  „klinischen  Novellen"  den  folgen- 
den bemerkenswerten  Fall  des  Dubliner  Arztes  Wilde  mit. 

,,Ein  lojähriges  Mädchen  hatte  am  22.  Oktober  1857  mit  einem  Knecht  in  der 
Stube  ihrer  Eltern  in  einem  Bett  geschlafen ,  die  in  der  Nacht  nichts  Auffallendes  gehört 
hatten.  Drei  Tage  später  erkranlite  das  Kind.  Es  bildeten  sich  rasch  verbreitende  brandige 
Geschwüre  an  den  Genitalien  und  13  Tage  nach  jener  Nacht  starb  das  Kind.  Man  fand 
brandige  Zerstörung  bis  zum  Uterus  und  zur  Harnblase,  das  Perinaeum  zerstört  u.  s.  w. 
Der  der  Notzucht  angeschuldigte  Knecht  wurde  zu  lebenslänglicher  Strafarbeit  verurteilt, 
während  es  nach  Wilde's  genauer  Darstellung  unzweifelhaft  ist,  dass  hier  gar  keine  Not- 
züchtigung stattgefunden  hatte,  sondern  dass  ein  Noma  pudendi  vorlag. 
Vergebens  petitionierte  Wilde  bis  in  die  höchste  Instanz,  um  den  unglücklichen  Knecht  zu 
retten,  und  citiert  A.  Cooper,  welcher  schon  behauptet  hat,  dass  gewiss  viele  Ange- 
schuldigte aus  einem  ähnlichen  Irrtum  gehängt  worden  seien  (die  frühere  Strafe  in  England 
bei  Notzucht)!"  '). 

Auch  Rille  weist  auf  die  Häufigkeit,  Bedeutung  und  ver- 
schiedenartigen Ursachen  der  gangränösen  Prozesse  an  den  männ- 
lichen und  weiblichen  Genitalien  hin.  Der  Eintritt  der  Gangrän 
macht  die  ursprüngliche  Erkrankung  unerkennbar. 

Von  Fournier  wurde  zuerst  eine  mit  dem  Erysipelas  gan- 
graenosum penis  nicht  identische  spontane  akute  Gangrän  des 
Penis  beschrieben,  von  welcher  Sorgo  kürzlich  einen  Fall  beob- 
achtete 2), 

Auch  das  primäre  gangränöse  Erysipel  der  Genitalien  ist 
durchaus  nicht  selten  und  bildete  sicherlich  einen  Teil  der  im  Mittel- 
alter so  häufigen  „St.  Antoniusfeuer-Epidemien"  der  Genitalien.  Be- 
sonders Penis  und  Scrotum  sind  Prädilektionsstellen  für  die  erysi- 
pelatöse  Gangrän  ^). 


i)  J.  L.  Casper,  „Klinische  Novellen  zur  gerichtlichen  Medizin,"  Berlin  1863, 
S.  II,  —  Einen  ähnlichen  Fall  beschrieb  Dr.  Maximilian  Heine,  der  Bruder  des 
Dichters,  in  der  Prager  Vierteljahrsschrift   1859,  Bd.  IV,   S.    108. 

2)  Josef  Sorgo,  „Ueber  spontane  akute  Gangrän  der  Haut  des  Penis  u.  s.  w." 
in:   Wiener  klin.  Wochenschrift   1898,   No.  49. 

3)  M.  Kaposi,  „Pathologie  und  Therapie  der  Hautkrankheiten,"  4.  Aufl.,  Wien 
und  Leipzig  1893,  S.  401;  S.  Röna,  „Ein  Fall  von  primärem  gangränc'isem  Erysipel  des 
Penis"  in:  Archiv  für  Dermatologie  und  Syphilis  1896,  Bd.  XXXIV,  .S.  397 — 400; 
Hoff  mann,  ,, Demonstration  von  Erj'sipelas  gangraenosum  penis  et  scroti"  im  Verein  der 
Charite-Aerzte  in  Berlin  am  7.  März  1901,  vergl.  Monatshefte  für  praktische  Dermatologie 
1892,  Bd.  XXXIV,  S.  302, 


—      393      — 

Der  Hospitalbrand  befiel,  als  er  noch  häutiger  war,  oft  auch 
die  Regio  genito-analis  und  seine  scharfrandigen,  runden,  infiltrierten 
Geschwüre  konnten  sehr  leicht  mit  syphilitischen  Geschwüren  ver- 
wechselt werden. 

Nach  Rille  kommt  bei  Frauen  ein  gangränöser  Krank- 
heitsprozess  unter  dem  Bilde  des  feuchten  Brandes  an  der 
Vulva,  den  Genitocruralfurchen  und  der  Analgegend  vor.  „Bei  ver- 
wahrlosten, gewöhnlich  jugendlichen  und  kräftigen  Individuen  finden 
sich  ausgedehnte,  mit  schmutziggTauem  diphtheroiden,  übelriechendem 
Belage  und  infiltriertem  geröteten  Rande  versehene  schmerzhafte 
Geschwürsflächen.  Dieselben  sind  rasch  progredient  und  können  zur 
Freilegung  des  Kreuzbeines  oder  der  Oberschenkeladduktoren,  gleich- 
wie Zerstörung  des  Sphincter  ani  führen"  ^). 

Es  Hessen  sich  verschiedene  andere  gangränöse  Prozesse  an 
den  Geschlechtsteilen  hier  anführen,  und  es  sei  besonders  darauf  hin- 
g'ewiesen ,  dass  alle  diese  verschiedenartigen  phag"edänischen  und 
brandigen  Affektionen  in  der  vorantiseptischen  Zeit  unendlich  viel 
häufiger  waren  als  sie  jetzt  beobachtet  werden  und  demgemäss  auch 
oft  zu  Verwechselungen  mit  syphilitischen  Affektionen  Veranlassung 
gaben. 

Sehr  schwer  von  syphilitischen  Ulcerationen  zu  unterscheiden 
ist  der  im  ganzen  seltene  L  u  p  u  s  der  Genitalien  -),  der  an  den  weib- 
lichen Genitalien  häufiger  vorkommt  als  an  den  männlichen  ^),  in  der 
Form  des  „Lupus  hypertrophicus"  dessen  Wucherungen  sich  über 
Vulva  und  Perineum  bis  zum  After  erstrecken ,  die  sehr  leicht  mit 
syphilitischen  Schleimpapeln  verwechselt  werden  können,  oder  als  so- 
genannter „Esthiomene"  der  Vulva,  der  auch  wchl  als  eine  Art 
des  Lupus  zu  betrachten  ist.  Beim  „Esthiomene"  können  „vom  Anus 
bis  zum  Mons  Veneris  die  ganzen  Weichteile  in  eine  unförmige, 
feuchte,  festödematöse,  brüchige,  zum  Teil  ulcerierte,  eiternde,  zer- 
klüftete, fistulöse  Geschwulstmasse  verwandelt  sein,  ohne  dass  über 
Schmerzen  und  Beschwerden  geklagt  wird"  ^). 


1)  Rille,   a.   a.   O.  S.   52. 

2)  Petersen,  ,, Ulcus  molle",  a.a.O.,  1895,  S.  391 ;  über  Lupus  des  Scrotums  vergl. 
E.  Tauffer,  ,, Beitrag  zur  Pathogenese  und  Histologie  des  Lupus  vulgaris"  in  Monatshefte 
für  praktische  Dermatologie,    1898,  Bd.  XXVII,  S.   T57  ff. 

3)  Vergl.  Paul  Zweifel,  ,,Die  Krankheiten  der  äusseren  weiblichen  Genitalien'', 
Stuttgart   1885,  S.   58  —  62. 

4)  H.  Fritsch,  „Die  Krankheiteu  der  Frauen'',  10.  Aufl.,  Leipzig  1901,  S.  68. 
Vergl.  auch  Mazarakis,  „Contribution  ä  l'etude  du  traitement  et  de  l'etiologie  de  l'esthio- 
niene  de  la  region  vulvo-anale'',  These  de  Paris    1894. 


—      394      — 

Einen  eigenartigen  Fall  von  circinärer  pustulöser  Derma- 
titis der  männlichen  Genitalien  beschrieb  Morelle.  Bei  einem 
13  jährigen  Knaben  entwickelte  sich  im  Verlaufe  von  sechs  Jahren 
in  der  Gegend  der  Genitalien  eine  über  das  Hautniveau  erhabene 
Plaque  von  rotbrauner  Färbung  mit  scharfen  Rändern  und  höckriger, 
eine  serös-eitrige  Flüssigkeit  secernierender  Oberfläche.  Dabei  bestand 
heftiges  Jucken.  Allmählich  wurde  die  ganze  Haut  des  Penis  er- 
griffen. In  der  Umgebung  der  Plaque  zeigten  sich  einzelne  Pusteln. 
Die  Plaque  selbst  war  aus  einem  Konglomerat  solcher  Pusteln  ent- 
standen. Morelle  bezeichnet  diese  Affektion  als  eine  „Dermatite 
pustuleuse  en  foyers  a  progression  excentrique"  ^). 

Auch  der  Herpes  zoster  der  Genitalien  ist  nach  Köbner 
öfter  mit  syphilitischen  Affektionen  verwechselt  worden  -). 

In  der  .Sitzung  der  französischen  Gesellschaft  für  Dermatologie 
vom  12.  November  1896  stellte  Darier  einen  Fall  von  Ekthyma 
terebrans  des  Penis  vor.  Man  beobachtet  bei  dieser  Affektion  am 
Penis  und  auf  der  Glans  eitrige  Erosionen ,  die  ganz  wie  Schanker 
aussehen  können,  sich  aber  nicht  übertragen  lassen  und  leicht  nach 
einfachen  Verbänden  heilen.  Es  sind  dies  durch  Eitercoccen  herv^or- 
gebrachte  Läsionen,  d.  h.  Fälle  von  Impetigo  und  Ekthyma  terebrans 
mit  ungewöhnlicher  Lokalisation  ^). 

Wichtig  für  die  Aetiologie  von  pseudosyphilitischen  Genital- 
geschwüren ist  auch  die  Seborrhoe  der  männlichen  und  weiblichen 
Geschlechtsteile,  die  zu  einer  vermehrten  Absonderung  des  Smegma 
führt,  welches  sich  besonders  bei  Männern  mit  verengter  Vorhaut 
und  bei  Frauen  während  der  Menses  und  bei  Unsauberkeit  jener 
Teile  leicht  zersetzt  und  als  ein  intensives  Irritament  auf  die  zarte 
Schleimhaut  wirkt,  so  dass  es  bald  zur  Eiterung  und  Ausbildung 
von     scharf    umschriebenen     Geschwüren     kommt  M-      Dieselben 


1)  Morelle  in:  Presse  niedicale  beige  1898,  Nr.  44  (Referat  in:  Monatshefte  für 
prakt.  Dermatologie   1894,  Bd.  XXVIII,  S.   649). 

2)  H.  Köbner,  a.  a.  O.,  S.  63 — 64. 

3)  Monatshefte  für  prakt.  Dermatologie  1897,  Bd.  XXIV,  S.  28.  —  Wohl  identisch 
mit  dem  oben  beschriebenen  „Ulcus  genitale  simplex". 

4)  Besonders  in  tropischen  Ländern  und  bei  den  oft  erstaunlich  unreinlichen  Einge- 
borenen treten  diese  seborrhoischen  Geschwüre  der  Genitalien  sehr  häufig  auf.  Dr.  Virey 
bemerkt:  ,,iMan  denke  sich  einmal  die  schmutzigen,  unsauberen  Neger  in  ihrem  wilden  Zu- 
stand, wie  sie  mit  den  Negerinnen  der  AVoUust  pflegen,  die  noch  viel  ekelhafter  sind  als 
sie,  wenn  sie  eben  ihren  Monatsfluss  gehabt  haben,  und  sich  dabei  nicht  waschen.  Ausser- 
dem sondern  die  Schleimbälge  der  Eichel  unter  der  Vorhaut  eine  talgartige  Feuchtigkeit  ab, 
deren  Menge  und  Schärfe  die  Beschneidung  nötig  machte;  ebenso  sammelt  sich  ähnliche 
Masse  unter  den  grossen  äusseren  Schamlefzen  der  Negerinnen,  und  haucht  faule  Dünste 
aus;    zudem    kommt   noch    der  Schmutz    von    dem  Monatsblut  oder  vom  weissen  Fluss  oder 


—      395      — 

führen    häufig    die    Patienten    zum   Arzt,    weil    sie    glauben,    an    einer 
syphilitischen  Krankheit  zu  leiden. 

Der  folgende  Fall  von  Steinbacher ^)  ist  dafür  charakter- 
istisch. 

Ein  junger  Mann  von  ca.  i6  Jahren  kam  zu  mir  mit  einer  engen  Vorhaut  und  klagte 
bitterlich,  versicherte  mir  aufs  Gewissen,  nie  bei  einem  Mädchen  gewesen  zu  sein,  —  und 
doch  habe  er  20 — 30  Schankergeschwürchen  bemerkt. 

Mir  ward  sogleich  klar,  wie  seine  Leiden,  seine  viertelhundert  ihn  betrübenden  kleinen 
Schankerchen  nichts  weiter  waren  als  ebenso  viele  durch  Smegma  in  Reizzusland  versetzte 
und  eiternde  Drüschen,  deren  krankhafter  Zustand  und  Schmerzhaftigkeit  durch  fleissige 
Waschungen  und  Zurückziehen  der  Vorhaut  in  einigen  Tagen  zur  grösslen  Freude  des 
betreffenden  Patienten  vollkommen   gehoben   wurden. 

Bei  Frauen  führt  die  genitale  Seborrhoe  oft  zu  Excoriationen 
und  Geschwüren  der  kleinen  und  grossen  Labien,  der  Femoro-Labial- 
turchen  und  der  Gegend  unterhalb  des  Praeputium  clitoridis  -). 

Eine  kontagiöse  Balanoposthitis  circinata  beschrieben  1891 
Berdall  und  Bataille.  Es  handelte  sich  um  scharfrandige,  kreis- 
runde Erosionen  der  Glans,  des  Präputiums,  der  \'ulva  und  Clitoris, 
die  einen  reichlichen  stinkenden  Eiter  secernierten ,  der  als  äusserst 
infektiös  sich  erwies.  Auch  bestand  Komplikation  mit  Lymphangitis 
und  Lymphadenitis.  Csillag  beobachtete  nicht  weniger  als  sieben 
Fälle  dieser  Art  ^). 

Hieran  reiht  sich  die  sehr  wichtige  und  häufige  Folliculitis 
der  Genitalien,  welche  Neu  mann  in  seinem  grossen  Werke  über 
Syphilis  im  Anschluss  an  die  Besprechung  des  Primäraffektes  an- 
führt, weil  sie  leicht  zu  Verwechselungen  mit  syphilitischen 
Primäraffekten  führen  könne^). 

,,Die  Folliculitis  am  Genitale  ist  fast  ausschliesslich  eine  Erkrankung  des  weiblichen 
Geschlechtes  und  erscheint  vorwiegend  an  den  grossen  Labien,  an  deren  Rändern  und 
Aussenfläche,  sowie  an  der  Innenfläche  der  Oberschenkel,  den  Contaktstellen  mit  dem  Genitale 
entsprechend.  Es  sind  dies  kirschkern-  bis  erbsengrosse,  rot  gefärbte,  im  Centrum  nicht 
vertiefte ,  nicht  selten  eitrig  belegte  Efflorescenzen ,  meist  von  Haaren  durchbohrt  und 
schmerzhaft.  Diese  Erkrankung  betrifft  demnach  die  Ausmündungsstellen  der  Haare  und 
ihre  Follikel,  schwindet,  sich  selbst  überlassen,  in  einem  Zeitravune  von  zwei  Wochen  ohne 
Hinterlassung  von  Narben.  Prädisponiert  sind  hierzu  meist  fettleibige  Individuen,  ferner 
solche,    welche  an  stärkerer  Sekretion  der  Genitalschleimhaut  leiden,    bei  denen  Sekrete  und 


Ausflüssen  aus  der  Scheide,  auch  wurde  das  Weib  in  den  heissen  Ländern  während  ihrer 
Monatszeit  stets  für  unrein  gehalten,  weil  dort  schneller  als  anderswo  die  Fäulnis  um  sich 
greift."  J.  J.  Virey,  ,.Die  Ausschweifung  in  der  Liebe  und  ihre  Folgen  für  Geist  und 
Körper".     A.  d.  Französ.  von  L.   Hermann,    Leipzig   1829,   S.   64. 

1)  J.  Steinbacher,  ,,Die  männliche  Impotenz",  5.  Auflage,  Berlin   1892,  S.    17. 

2)  Bergh,   .,Vestre-Hospital  i   1897",  S.  8;    Rille,  a.  a.  O.,  S.  6. 

3)  Monatshefte  für  prakt.  Dermatologie   1898,  Bd.  XXVII,  S.    180. 

4)  Isidor  Neumann,    ,, Syphilis",   Wien    1896,   S.  79. 

Bloch,  Der  Urspnuig  der  Syphilis.  26 


—      396     — 

Exkrete  auf  die  Mündungen  der  Haarfollikel  irritierend  einwirken  ,  weiters  Individuen  ,  die 
früher  an  Syphilis  gelitten  haben  und  noch  Erscheinungen  derselben  darbieten.  Haben  diese 
Efflorescenzen  oft  mit  syphilitischen  Primäraffekten  und  mit  venerischen  Geschwüren  morpho- 
logisch eine  gewisse  Aehnlichkeit,  so  können  dieselben  andererseits,  zumal  bei  syphilitischen 
Individuen,  den  Herd  der  Infektion  für  andere  abgeben". 

Die  Häufigkeit  dieser  genitalen  Follikulitiden  wird  z.  B.  durch 
die  Zahlen  Bergh's  illustriert,  der  1887  bei  144  Frauen  im  Vestre 
Hospital  solche  beobachtete  ^). 

Baudouin  und  Gaston  2)  machen  neuerdings  auf  die  Bedeu- 
tung der  Folliculitis  der  Umgebung  der  Genitalien  bei  beiden 
Geschlechtern  aufmerksam ,  da  von  hier  aus  ständig  den  Genitalien 
die  Gefahr  einer  Infektion  droht.  Als  Beispiel  hierfür  kann  wohl  ein 
von  F  o  u  r  n  i  e  r  beobachteter  Fall  mitgeteilt  werden  ,  der  dadurch 
noch  besonders  interessant  ist,  dass  die  offenbar  von  vereiterten 
Follikeln  am  Oberschenkel  ausgehende  Infektion  des  Penis  zu 
einer  Ulceration  führte,  die  grosse  Aehnlichkeit  mit  einem  syphili- 
tischen oder  auch  gewöhnlichen  Schanker  zeigte.  Syphilis  Hess  sich 
aber  nicht  eruieren.  Impfversuche  waren  negativ.  Eine  parasitäre 
Ursache  der  Geschwürsbildung  war  aber  unverkennbar.-^) 

Baumgarten  beschreibt  einen  sehr  merkwürdigen  Fall  von 
Talgdrüsenblennorrhoe  und  Narbenkeloid  des  Penis^).  Das 
Keloid  gehört  zu  jenen  knotigen  Gebilden  an  den  Genitalien,  bezüg- 
lich deren  Hebra-Kaposi  bemerken: 

„An  den  Genitalien,  am  Schamberge,  auf  der  Mund- 
lippe kommen  knotige  Bildungen  nicht  syphilitischer  Natur 
vor,  die  mit  der  Sklerose  des  harten  Schankers  sehr  grosse 
Aehnlichkeit  haben  können.  Als  die  häufigsten  wären  zu 
erwähnen  Furunkel,  Carcinom,  Keloid,  Knoten  der  Milben- 
gänge bei  Scabies"^) 

Furunkel  sind  namentlich  an  den  weiblichen  Geschlechtsteilen 
eine  sehr  häufige  Erscheinung.  Kleine  oder  grosse,  viele  oder  wenige 
Furunkel  an  den  Schamlippen  und  der  Innenfläche  der  Oberschenkel 
können  nach  Fritsch*^)  die  Folge  der  Hautreizung  bei  Vulvitis 
bezw.    der    Infektion    der    Talgdrüsen    sein.      Hebra-Kaposi    weisen 


1)  Bergh,  „ Vestre-Hospital  i   1887",  S.  11. 

2)  Demonstration    in    der    französischen    Gesellschaft    für    Dermatologie    und    Syphili- 
graphie  am   7.  März   iqoi.     Referat  in:  Monatshefte  u.  s.   w.    1901,  Bd.  XXII,  S.   521. 

3)  Monatshefte  u.  s.  w.    1897,  Bd.  XXIV,  S.  27  —  28. 

4)  S.   Baumgarten,    ,,Ein    Fall   von    Talgdrüsenblennorrhoe    und  Narbenkeloid   des 
Penis"  in:  Wiener  med.  Wochenschrift   1895,  No.   24. 

5)  F.    Hebra    und    M.   Kaposi,    „Lehrbuch   der  Hautkrankheiten",    Stuttgart    1876, 
Bd.  II,   S.   523. 

6)  H.  Fritsch,   a.  a.  O.  S.  54. 


—     397     — 

auf  die  täuschende  Aehnlichkeit  dieser  Furunkel  mit  dem  Primär- 
affekte hin,  da  beide  Affektionen  einen  circumscripten  Knoten  inner- 
halb einer  ödematösen  Geschwulst  aufweisen^),  ßergh  hat  diese 
Furunkel  der  Anogenitalregion  (Perifolliculitis)  in  jedem  Jahresbe- 
richte verzeichnet. 

Zu    den    recht    häufigen    Affektionen    der    Genitalien     gehören 

Akne  und  Comedonen.  Die  Akne  vulgaris  des  Penis  ist  besonders 
an  der  Pars  pendula  nicht  selten  2) ;  ich  selbst  habe  auffallend  häufig 
einfache  Akneknoten  am  Penis  beobachtet,  wegen  welcher  die 
Patienten  ärztlichen  Rat  erbaten,  da  sie  die  Affektion,  welche 
übrigens  öfter,  vielleicht  infolge  eines  infektiösen  Reizes,  in  relativ 
kurzer  Zeit  sich  entwickelt,  von  einer  venerischen  Infektion  ableiteten. 
Die  knotige  Infiltration,  welche  man  oft  dabei  beobachtet,  macht  die 
Unterscheidung  von  der  syphilitischen  Sklerose  durchaus  nicht 
immer  so  leicht.  Rille  macht  besonders  auf  die  Theer-x\kne 
(Akne  picea)  aufmerksam,  die  häufig  an  der  inneren  Schenkel- 
fläche, den  Nates,  am  Scrotum  und  Penis  Knoten  erzeugt,  welche 
grosse  Aehnlichkeit  mit  syphilitischen  Papeln  haben  3). 

Eine  ebenfalls  gar  nicht  seltene  Erscheinung  ist  das  Ekzem 
der  männHchen  und  weiblichen  Genitalien.  Acton  unterscheidet  ein 
besonderes  „Eczema  praeputiale",  einen  „Bläschenausschlag  auf  ent- 
zündetem Grunde".  Aber  die  Bläschen  sind  kleiner  als  die  des  Herpes 
praeputialis,  so  gross  wie  Hirse-  oder  Mohnkörner  und  stehen  nicht 
wie  die  Herpesbläschen  in  Gruppen  neben  einander,  sondern  unregel- 
mässig. Jucken,  Hitze  und  Röte  ist  stärker;  die  Stellen  sind  ge- 
schwollen. Wird  das  Jucken  lebhaft  und  der  Kranke  kratzt  die 
Bläschen  auf,  so  fliesst  eine  dünne  seröse  Flüssigkeit  aus,  die  zu 
kleinen  Schuppen  vertrocknet  und  die  Reizung  noch  vermehrt.  — 
Bisweilen  nimmt  dieses  Ekzem  der  Vorhaut  eine  chronische  Form 
an;  dann  ist  die  Vorhaut  rot,  geschwollen,  mit  Borken  bedeckt  und 
mit  nässenden  Stellen  besetzt,  zwischen  denen  sich  Risse  durchziehen, 
während  das  Sekret  eine  mehr  purulente  Form  bekommt"'*).  Einen 
solchen  charakteristischen  Fall  von  Ekzema  chronicum  crustosum  des 
Präputiums  habe  ich  kürzlich  bei  einem  Patienten  im  Anschluss  an 
einfache  Genitalgeschwüre  beobachtet. 

Rille  äussert  sich  über  die  Genitalekzeme  folgendermassen : 
„Zu    den    häufigsten    Ekzemen    gehören    die     an     den     männlichen 


1)  Hebra-Kaposi,  a.  a.   O.   S.   523. 

2)  Petersen,  ,, Ulcus  molle",  a.  a.  O.  S.  390. 

3)  Rille,  a.  a.  O.  S.    105. 

4)  W.  Acton,    ,,Ueber  die  venerischen  Krankheiten  u.  s.  w."  bei  Behrend,    „Sy- 
philidologie",   Bd.  III,  Leipzig    1841,   S.   500. 

26* 


-     398      - 

Genitalien.  Die  Penishaut  ist  verdickt,  die  Berührungsfläche  mit 
dem  Scrotum  nässend,  gegen  das  Präputium  hin  finden  sich  cirkuläre 
Einrisse.  Bei  längerer  Dauer  wird  die  Penishaut  verdickt  und  in- 
filtriert. Die  Glans  M  und  die  innere  Präputiallamelle  sind  fast  stets 
frei  von  Ekzem;  nicht  selten  ist  Phimose  und  Paraphimose  als  Folge- 
zustand vorhanden.  Sehr  häufig  sind  die  Ekzeme  am  Scrotum,  die- 
selben sind  entweder  trocken  oder,  namentlich  wenn  stark  gekratzt 
wurde,  heftig  nässend,  und  ist  der  grösste  Teil  der  Epidermis  abge- 
stcssen.  Bei  jahrelangem  Bestände  ist  die  Scrotalhaut  infiltriert,  ver- 
dickt, die  normalen  Furchen  und  Linien  sind  mächtig  vertieft  und 
die  Raphe  ist  geschwellt.  Dabei  ist  das  Jucken  von  höchster  Inten- 
sität, geradezu  qualvoll  und  anfallsweise  auftretend"  -). 

Die  Ekzeme  der  weiblichen  Genitalien  kommen  nach 
Fritsch^)  besonders  oft  in  der  klimakterischen  Periode  vor  und  be- 
fallen vornehmlich  die  grossen  und  kleinen  Labien  und  den  Introitus 
vaginae  *). 

Auch  Favus  ist  an  den  Genitalien  beobachtet  worden.  White 
und  Hardy  sahen  denselben  an  der  Glans  penis,  ebenso  berichtete 
Glück  über  Favus  des  Penis  ^),  Leitz  beobachtete  einen  Fall  von 
Favus  scrotalis**). 

Sehr  bekannt  ist  die  Lokalisation  des  parasitären  Ekzema 
margin atum  und  der  Sycosis  in  der  Genitalregion  und  am  Mons 
Veneris. 

Nach  Rille  ist  die  Psoriasis  sehr  häufig  am  männlichen 
Genitale,  an  Scrotum,  Penis  und  Glans  lokalisiert '). 

Als  vierte  Gruppe  betrachten  wir  die  lokalen  pseudosyphili- 
tischen Geschwüre,  Abscesse  und  entzündlichen  Affektionen  der 
männlichen  und  weiblichen  Geschlechtsteile,  welche  als  Folgen 
nichtsyphilitischer  Allgemeinleiden  auftreten. 

Rokitansky  und  A.  Förster  haben  ein  meist  an  den  Geni- 
talien alter  Frauen  vorkommendes  Ulcus  phagedaenicum  corro- 
dens  (Clarke)  be.schrieben ,  das  nach  E.  K'lebs  auf  eine  lokale 
Cirkulationsstörung    zurückzuführen    ist.      Zahn   constatierte  in  einem 


1)  Doch    beobachtete    Gottheil    ein    nässendes    Ekzem    der    Glans    penis.      Vergl. 
Monatshefte  f.  prakt.   Dermatologie   1899,  Bd.  XXVIII,  S.  49. 

2)  Rille,  a.  a.  S.   78. 

3)  Fritsch,  a.  a.  O.  S.   55. 

4)  Rille,  a.  a.  O.  und  Behrend,  a.  a.  O.,   Bd.  III,  S.   501. 

5)  Monatshefte  u.  s.  \v.    1895,    Bd.  XX,  S.    115. 

6)  Deutsche  med.  Wochenschr.    1897,    No.   31. 

7)  Rille,  a.  a.  O.  S.   55. 


-      399     — 

solchen  Falle  eine  allgemeine  Arteriosklerose  \).  Das  so  häufige 
Ulcus  rotundum  simplex  vaginae  gehört  wohl  hierher. 

Ein  weiteres  konstitutionelles  Leiden,  bei  dem  Genitalaffektionen 
sehr  häufig  sind,  ist  der  Diabetes 2).  Man  hat  die  Frequenz  dieser 
diabetischen  Dermatosen  nicht  besser  auszudrücken  gewusst,  als  durch 
Beilegung  eines  eigenen  Namens,  der  sogenannten  „Diabetiden". 

Die  meistbekannten  Formen  der  Diabetiden  der  Genitalien  sind 
Furunkel  und  Balanitis.  Bei  der  diabetischen  Balanitis  ist  das 
„Präputium  ziemlich  gleichmässig  verdichtet,  nicht  besonders  gerötet, 
der  \'orhautrand  fissuriert  und  der  Präputialsack  mit  weisshchen. 
blätterigen  Partikeln  erfüllt,  welche  charakteristische  Fadenpilze 
enthalten.  In  der  Folge  kann  es  zu  sehr  schmerzhafter  Geschwürs- 
bildung  und  selbst  zu  Gangrän  kommen"  3). 

Barthelemy  hat  diese  Geschwürsbildungen  sehr  häufig  be- 
obachtet. Er  bezeichnete  auf  dem  Moskauer  Kongress  (1897)  als 
..Diabetiden  der  Genitalien":  ausgedehnte,  tiefe,  ulcerierte  konfluierende 
Flächen,  deren  Aussehen  durch  Eindringen  von  allerlei  Parasiten 
dem  der  syphilitischen  Geschwüre,  Epitheliome,  phagedänischen 
Ulcera  gleicht^). 

Die  Tuberkulose  tritt  nicht  selten  primär  oder  sekundär  an 
den  Geschlechtsteilen  auf.  aber  viel  häufiger  bei  Weibern  als  bei 
Männern. 

Nach  Fritsch  rühren  „eigentümliche,  schlaffe  Geschwüre  an  der 
Vulva"  oft  von  Tuberkulose  her^).  Genauer  beschreibt  J.  Müller 
die  tuberkulösen  Geschwüre  der  Vulva  ^).  Havas  beobachtete  bei 
einer  jungen  Prostituierten  kleine,  massig  vertiefte,  mit  gelbem 
Detritus  bedeckte,  mit  unterminirtem  Rande  versehene  Geschwüre 
am  Scheideneingange,  in  deren  Eiter  Tuberkelbacillen  nachweisbar 
waren.     Später  gesellte  sich  Phthisis  pulmonum  hinzu '). 

Wickham  berichtet  über  einen  sehr  eigenartigen  Fall  von 
pseudosyphilitischem  Geschwür  des  Penis  von  tuberkulöser  Natur. 
Es    handelte    sich   um    ein    eirundes  Geschwür   auf   dem  Rücken   des 


i)  E.  Lang,    „Das  venerische  Geschwür",  Wiesbaden   1887,   S.  42. 

2)  Vergl.    O.  Lassar,    „Die    dermatologischen    Komplikationen    des    Diabetes",    in: 
Dermatolog.  Zeitschrift   1899,  Bd.  VI,  Heft   i, 

3)  Rille,  a.  a,  O.  S.  6. 

4)  Monatshefte  u.  s.  w.   1898,  Bd.  XXVI,  S.  648. 

5)  Fritsch,    a.  a.  O.  S.   55. 

6)  Julius  Müller,  „Zur  Kasuistik  der  Hauttuberkulose".    Vergl.  Monatshefte  u.  s.  w. 
1895,  Bd.  XXI,  S.  320. 

7)  A.    Havas,    „Ulcera    tuberculotica    introitus    vaginae",    in:    Centralblatt    für    die 
Krankheiten  der  Harn-  und  Sexualorgane,  Bd.  VIII,  Heft   12. 


—      400      — 

Penis  mit  verhärtetem  Grunde.  Die  Geschwürsfläche  war  ziemlich 
glatt,  oberflächlich,  mit  scharfen  Rändern  versehen.  Da  ausserdem 
die  Leistendrüsen  geschwollen,  hart  und  unter  dem  Finger 
verschiebbar  waren,  so  lag  nichts  näher,  als  an  einen  harten 
Schanker  zu  denken.  Der  Patient,  ein  17  jähriger  Mann,  hatte 
das  Geschwür  aber  schon  seit  10  Jahren!  Es  hatte  sich  aus  einem 
weichen,  schmerzlosen  Knoten  entwickelt^).  Im  Museum  des 
St.  Bartholomew's  Hospital  in  London,  unter  No.  2887,  befindet  sich 
ein  Präparat  von  Penistuberkulose  nach  primärer  Nierentuberkulose. 
Bisweilen  tritt  die  Tuberkulose  des  Penis  in  Form  von  grossen 
Geschwüren  rings  um  das  Orificium  urethrae  auf^);  auch  können 
die  Geschwüre  in  der  Harnröhre  sitzen  und  Urethralschanker  vor- 
täuschen ^). 

Durch  die  Untersuchungen  von  Glück  sind  wir  über  die  Häufig- 
keit der  krankhaften  Veränderungen  der  männlichen  Geschlechtsteile 
bei  Lepra  unterrichtet  worden.  In  über  gs^/o  finden  sich  solche, 
und  zwar  in  Form  von  Knoten,  Infiltraten  und  Geschwüren  an  der 
Eichel,  dem  äusseren  Vorhautblatte,  am  Saume  des  Präputiums  und 
der  Haut  des  Penis,  auch  am  Scrotum.  Sie  können  schon  im  ersten 
Krankheitsjahre  auftreten  und  lange  persistieren  ^). 

Bei  akuten  Infektionskrankheiten  ist  eine  Lokalisation  des 
Krankheitsprozesses  an  den  Genitalien,  besonders  der  Weiber,  nicht 
selten.  Lartigan  beobachtete  bei  zwei  an  Typhus  erkrankten  jungen 
Mädchen  Geschwüre  an  der  Vulva,  in  denen  sich  Typhusbacillen 
nachweisen  Hessen  ^). 

Gangrän  der  Vulva  ist  nach  Fritsch  bei  Typhus,  Scharlach 
und  Masern  beobachtet  worden '5).  Rille  demonstrierte  in  der  Inns- 
brucker Aerztegesellschaft  1901  einen  Fall  von  Stenose  der  Vagina 
durch  Narbenbildung  nach  einem  gangränösen  Prozesse  bei  Masern  ^). 
Auch    am    männlichen     Genitale    kommen    gangränöse    Prozesse    bei 


i)  Wickham,  ,,Ein  Fall  von  tuberkulösem  Geschwür  des  Penis",  in:  Monats- 
hefte u.  s.  w.    1895,  Bd.  XX.  S.  609. 

2)  Malecot,  „Tuberkulose  des  Penis",  in:  Annales  des  maladies  des  organes  genito- 
urinaires    1893,  November,  nach:  Monatshefte   1895,  Bd.  XX,  S.   583. 

3)  E.  Soloweitschik,  „Tuberkulose  der  Harn-  und  Geschlechtsorgane,  Urethral- 
Schanker  simulierend",    in:    Archiv  für  Dermatologie  und  Syphilis,   1870,  Bd.  II.  S.    i  — 10. 

4)  Leopold  Glück,  „Zur  Klinik  der  Lepra  des  männlichen  Geschlechtsapparates", 
in:  Archiv  für  Dermatologie  1900,  Bd.  LVII,  Heft  2  (nach  Monatshefte  1900,  Bd.  XXXI, 
S.    102 — 103). 

5)  Lartigan,  in  British  medical  Journal  vom   14.  Oktober   1899. 

6)  Fritsch,  a.  a.  O.  S.   55. 

7)  Monatshefte   1902,  Bd.  XXXIV,  S.    loi  — 102. 


—     40I      — 

Typhus  und  Variola    vor^).      Rona   sah   Cowperitis   im  Verlaufe  von 
]\Iasern  auftreten  -). 

c.    Neoplasmen  der  Geschlechtsteile. 

Unter  den  Neubildungen  der  männlichen  und  weiblichen  Ge- 
schlechtsteile, welche  besonders  im  Hinblick  auf  die  litterarische 
Ueberlieferung  der  älteren  Zeiten  als  pseudosyphilitische  Affektionen 
in  Betracht  kommen,  steht  das  sogenannte  spitze  Condylom,  die 
spitze  P'eigwarze,  (Condyloma  acuminatum)  oder  Vegetation 
an  erster  Stelle.  Die  Wichtigkeit  und  Häufigkeit  dieser  Neubildung, 
ihre  so  verschiedenartige  Aetiologie,  die  mannig-faltigen  Formen 
ihrer  Erscheinungsweise  rechtfertigen  eine  ausführlichere  Betrachtung. 

Schon  die  Aetiologie  der  spitzen  Cond3"lome  ist  insofern  von 
grossem  Interesse,  als  dadurch  die  Schwierigkeit  einer  genauen  ur- 
sächlichen Diagnostik  dargethan  wird.  Nach  meinen  Beobachtungen 
ist  der  Tripper  durchaus  nicht  die  häufigste  Ursache  der  Bildung 
von  \"egetationen  an  den  Geschlechtsteilen,  sondern  participiert  etwa 
nur  zur  Hälfte  an  der  Zahl  der  Fälle,  die  übrige  Hälfte  wird  durch 
andere  ursächliche  Momente  geliefert,  die  man  am  besten  unter  dem 
allgemeinen  Ausdrucke  eines  auf  die  Haut  und  Schleimhaut  der 
Genitalien  wirkenden  Irritamentes  von  verschiedenartiger  Pro- 
venienz zusammenfassen  kann. 

Ich  will  an  dieser  Stelle  die  Erfahrungen  einiger  vorzüglicher 
klinischen  Beobachter  vom  Anfang  bis  zum  Ende  des  i  g.  Jahrhunderts 
anführen,  welche  sich  über  die  so  mannigfaltigen  Ursachen  der  so 
häufig  vorkommenden,  sogenannten  „spitzen"  Feigwarzen  geäussert 
haben. 

Der  ältere  Cullerier  sagt:  „Es  entstehen  Gewächse  an  der 
Eichel  und  auf  der  inneren  Fläche  der  Vorhaut,  sie  verschwinden 
auf  blosses  Waschen,  zeigen  sich  aber  zum  zweiten  und  dritten  IVIale 
wieder,  und  weichen  abermals  demselben  IMittel,  endlich  erscheinen 
sie  nicht  mehr  .  .  .  Eine  junge  Person  war  noch  niemals  der  Gefahr 
einer  Ansteckung  ausgesetzt,  sie  ist  sogar  noch  Jungfrau;  allein  sie 
weiss  sich  für  die  Genüsse,  welche  ihr  untersagt  sind,  durch  andere 
sie  ersetzende  Reizungen  zu  entschädigen.  Das  zu  starke  und  oft 
wiederholte  Kitzeln  der  Teile  macht,  dass  sie  sich  übermässig  ent- 
wickeln,  indem    das  Gefässsystem   die  Oberhand  gewinnt.      In   einem 


1)  Englisch,    Artikel    „Penis"    in    Eulenburg's    Real-Encyclopädie,    3.    Auflage, 
1898,  Bd.  XVIII,   S.  383. 

2)  S.  Rona,    „Cowperitis    im  Verlaufe   von    Masern",    in:    Archiv  für  Dermatologie 
und  Syphilis   1890,  Bd.  XXII,  S.  375—377. 


—       402       — 

anderen  Falle  bemerkt  eine  junge  kräftige,  in  der  Fülle  des  Lebens 
üppig  entwickelte  Frau,  deren  Mann  gesund  ist,  nach  den  ersten 
Monaten  ihrer  Schwangerschaft  Gewächse  in  der  Gestalt  von  Blumen- 
kohl und  Erdbeeren  an  ihren  Geschlechtsteilen;  sie  wird  darüber  un- 
ruhig und  zieht  einen  Arzt  zu  Rat;  glücklich  ist  sie,  wenn  sie  einen 
findet,  der  durch  seine  und  anderer  Erfahrung  belehrt  ist,  dass  der 
Druck,  den  der  Kopf  des  Kindes  auf  die  Gefässstämme  im  Unter- 
leibe ausübt,  ebensogut,  wie  er  zu  Krampfadern  Veranlassung  giebt, 
auch  das  Gefässsystem  zu  allerlei  anderen  Afterbildungen  bestimmen 
kann,  besonders  da  diese  Teile  so  blutreich  sind  und  in  ihnen  eine 
starke  Schleimabsonderung  statt  hat.  In  einem  solchen  Falle  muss 
der  Arzt  oft  bei  zweifelhaften  Verhältnissen  die  Klugheit  besitzen, 
die  Sache  abzuwarten.  Wie  häufig  habe  ich  bei  dergleichen  Ge- 
legenheiten den  Weibern  ihre  Ruhe  wieder  gegeben,  und  die  finsteren 
Gedanken,  den  Argwohn  und  die  Unruhe  der  Männer  verscheucht! 
Meine  Kollegen  Ane,  Baudelocque,  (xilbert  und  andere  waren 
oft  Zeugen  davon.  Welche  Unannehmlichkeiten,  welche  Gefahren 
kann  es  nicht  bringen,  wenn  man  eine  schwangere  Frau  durch  eine 
unnütze  Behandlung  belästigt  und  einen  Mann  mit  leeren  Besorg- 
nissen quält!  Denn  in  der  That,  einige  Tage  nach  der  Niederkunft 
sucht  man  vergebens  sogar  die  Spuren  solcher  Gewächse,  sie  haben 
mit  der  veranlassenden  Ursache  aufgehört,  und  erscheinen  sehr  selten 
bei  einer  zweiten  Schwangerschaft  wieder".  ^) 

Cullerier  unterscheidet  hier  also  eine  scheinbar  spontane,  eine 
durch  mechanische  Reizungen  und  eine  durch  Reizung  infolge  von 
lokalen  Stauungserscheinungen  bei  Gravidität  hervorgerufene 
Entstehung  der  Vegetationen. 

Acton  erblickt  die  Ursachen  der  spitzen  Condylome  haupt- 
sächlich in  Reizung  und  schliesst  sich  in  Beziehung  auf  die  Natur 
der  einzelnen  Irritamente  der  Ansicht  von  Ricord  an,  der  alle 
Sekrete,  welche  in  der  Regio  genito-analis  sich  bilden  und  auf  die 
Haut  einwirken,  für  fähig  erklärt,  die  Vegetationen  zu  erzeugen. 
Daher  sieht  man  diese  nicht  nur  bei  Tripper,  sondern  auch  bei  Bala- 
nitis, Phimose,  Leukorrhoe,  bei  stark  secernierenden  Schankern,  bei 
Skrophulose  ^). 


1)  Cullerier,    ,,Ueber  die  Lustseuche,    ihre  Zufälle  und  Heilmittel",    herausgegeben 
von  J.  Kl.  Renard,    Mainz    1822,  S.   96 — 98. 

2)  W.  Acton,    „Ueber  die  venerischen  Krankheiten",  in:    Behrend's  Syphilidologie, 
Leipzig   1841,  Bd.  III,  S.   497. 


—      403      — 

Eine  sehr  gründliche  Untersuchung  über  die  Ursachen  der  Con- 
dylome in  einer  speciell  diesem  Gegenstande  gewidmeten  Mono- 
graphie stellte  A.  Krämer  an^). 

Gonorrhoe  und  Balanitis  bilden  nach  diesem  Autor  die 
häufigsten  Ursachen  der  Bildung  von  Feigwarzen.  Oft  entstehen 
aber  Condylome  ohne  vorhergegangenen  oder  nachfolgen- 
den Tripper  und  ohne  nachfolgende  Syphilis  nach  einem 
einfachen  Coitus-).  Schhesslich  können  sie  auch  ohne  jeden  ge- 
schlechtlichen Verkehr  ganz  von  selbst  sich  entwickeln.  Krämer 
teilt  solche  Fälle  mit,  u.  a.  den  folgenden,  der  wegen  des  von 
Krämer  supponierten  ätiologischen  Momentes  von  Interesse  ist: 

„Mein  zweiter  Fall  betraf  einen  Stud.  med.,  bei  dem  sich  auf  der  Eichel,  im  Um- 
kreise der  ^lündung  der  Urethra,  Papillarkondylome  entwickelten,  ohne  dass  er  bislang 
jemals  sich  fleischlich  vermischt  hatte.  Der  junge  Mann  litt  gleichzeitig  an  erblichen 
Hämorrhoiden  und  zeigte  auch  an  der  Unterlippe,  entsprechend  der  Stelle,  wo  er  (ein 
starker  Raucher)  die  Pfeife  zu  halten  pflegte,  einen  kleinen  Varix.  Ich  glaube  nun  die 
Beobachtung  gemacht  zu  haben,  dass  in  der  That  Individuen  mit  Hämorrhoiden  oder 
Hämorrhoidalanlagen  zur  Produzierung  von  Papillarcondylomen  vorzüglich  geneigt  sind,  sowie 
^ie  auch  bei  ihnen  hartnäckiger  zu  sein  pflegen''^). 

Wie  man  sieht,  nimmt  auch  Krämer  eine  gewisse  Plethora 
der  Beckenregion  als  prädisponierend  für  die  Entstehung  von  Vege- 
tationen an.  Uebrigens  ist  dieses  Zusammentreffen  von  Feig- 
warzen mit  Hämorrhoiden  sehr  wichtig  für  die  Beurteilung  der 
ähnlichen  Angaben  in  der  älteren  Litteratur,  worüber  Näheres  noch 
bei  der  Besprechung  der  pseudosyphilitischen  Affektionen  des  Afters 
mitgeteilt   wird. 

Venot  bemerkt  über  die  Aetiologie  der  spitzen  Condylome: 

,,Etiologiquement  lies  ä  la  vaginite,  et  lubrefies  par  l'arrosement  muco-purulent  de  la 
blennorrhagie,  les  vegetaux  immondes  qui  ont  nom  porreaux,  choux-fleurs,  etc.,  les  cretes  de 
cocq  et  autres  excroissances  du  canal  vulvo-uterin  sont  inattaquables  par  le  traitement  mer- 
curiel;  souvent  rebelies  ä  toutes  les  medications  locales,  capricieux  dans  leur  marche,  leur 
evolution,  leiu-  recrudescence ;  mais  ne  sont  jamais,  quoiqu'on  dise  et  qu'on  pense,  les  moni- 
teurs  de  l'infection  constitutionelle.  —  Ils  sont  eux  et  rien  de  plus.'"*) 

Nach  Michaelis  ist  die  Bildung  der  Vegetationen  von  einem 
beliebigen  äusseren  Reiz,  wenn  er  anhaltend  und  intensiv  genug 
wirkt,  abhängig,  daher  man  sie  schon  bei  ganz  unschuldigen,  aber 
unreinlichen  Kindern  antrifft.  Ferner  erzeugt  Balanitis,  besonders 
bei   ihrem    Verschwinden ,    häufig    ausserordentlich    stark    entwickelte 

i)  A.  Krämer,  .,Ueber  Condylome  und  Warzen",  in:  Göttinger  Studien,  Göttingen 
1847,   Bd.   I,  S.   85  —  147. 

2)  Krämer,  a.  a.  O.  S.   98. 

3)  Ibidem  S.  99. 

4)  Venot  a.  a.  O.,  b.   'i. 


—      404      — 

Vegetationen.  Auch  Gonorrhoe,  Ulcus  molle,  ja  selbst  Syphilis 
können  durch  ihre  Sekrete  Ursachen  der  Bildung  von  spitzen  Con- 
dylomen sein  1). 

Ricord  sah  die  Vegetationen  im  Anschlüsse  an  Herpes  auf- 
treten-). Geigel  nimmt  neben  dem  Irritament  durch  krankhafte 
Sekrete  noch  fortgesetzte  ätzende  Medikamente  und  vor 
allem  die  multitudo  et  variatio  coitus  als  Ursachen  der  Feig- 
warzen an  ^). 

Eine  eigenartige  Auffassung  bezüglich  der  Aetiologie  der  spitzen 
Condylome  vertritt  Petters,  indem  er  annimmt,  dass  sehr  ver- 
schiedene Reizzustände  solche  erzeugen  können,  vornehmlich  dies  aber 
dann  thun,  wenn  die  sie  hervorrufenden  krankhaften  Sekrete  nicht 
vom  eigenen,  sondern  von  einem  fremden  Körper  stammen.  Ins- 
besondere kommt  nach  Petters  das  sich  zersetzende  Smegma 
genitalium  in  Betracht,  dessen  Quantität  und  verschieden  scharfe 
Qualität,  besonders  die  Vermengung  des  von  den  beiderseitigen,  mit- 
einander geschlechtlichen  Umgang  pflegenden  Individuen  abstammen- 
den Smegma-*). 

Diese  Anschauung  läuft  also  wieder  auf  die  Theorie  einer  In- 
fektion hinaus.  Demgegenüber  betont  G.  B ehrend  wieder  die  blosse 
„Irritation  durch  krankhafte  oder  physiologische  Sekrete", 
als  Ursachen  der  Bildung  von  Vegetationen,  als  welche  Reize  er 
Trippersekret,  Eiter  exulcerierter  Bubonen,  Absonderung  bei 
virulenten  und  nicht  virulenten  Katarrhen  der  weiblichen  Genitalien 
und  Seh  weiss  anführt^). 

Durch  eine  eingehende  Untersuchung*^)  hat  E.  Bumm  die 
wichtige  Frage  zu  klären  und  zu  beantworten  versucht.  Er  sah 
sowohl  bei  schwangeren  als  auch  bei  nichtschwangeren  Frauen  spitze 
A^egetationen  an  den  Genitalien  entstehen,  ohne  dass  ein  virulenter 
Fluss  vorhanden  war.  Bumm  verfügt  über  drei  Beobachtungen,  in 
welchen  er  bei  „sicher  konstatierter  Abwesenheit  eines  virulenten  Fluor 


i)  Michaelis  a.  a,  O.,  S.   254. 

2)  ,,Die  Pathologie  und  Therapie  der  venerischen  Krankheiten".  Nach  Philippe 
Ricord's  System  entworfen  von  H.  Lippert,  Hamburg   1852,  S.   263. 

3)  A.  Geigel,  „Geschichte,  Pathologie  und  Therapie  der  Syphilis",  Würzburg  1867. 
S.   185  —  186. 

4)  Wilhelm  Petters,  „Zur  Frage  der  Ansteckungsfähigkeit  der  Vegetationen  oder 
der  spitzen  Condylome"  in:  Vierteljahrsschrift  für  Dermatologie   1875,  Bd.  VII,  S.  274. 

5)  G.  Behrend,  „Lehrbuch  der  Hautkrankheiten",  Berlin   1883,  S.  334. 

6)  E.  Bumm,  ,,Zur  Aetiologie  und  diagnostischen  Bedeutung  der  Papillome  der 
weiblichen  Genitalien"  in:  Münchener  med.  Wochenschrift  1886,  Nr.  27,  S.  473 — 474  und 
Nr.  28,  S.  494 — 496. 


—     405      — 

spitze  Condylome  sozusagen  unter  den  Augen  hervorsprossen  sah. 
Alle  drei  Patientinnen  waren  schwanger;  die  eine  bekam  durch  eine 
Durchnässung  in  der  Waschküche  einen  profusen  milchigen  Vaginal- 
fluor und  gleichzeitig  damit  ein  Ekzem  der  Vulva  und  der  Labien, 
welches  von  massenhaften  papillären  Wucherungen  gefolgt  war.  Die 
beiden  anderen  litten,  ohne  dass  eine  besondere  Ursache  nachweisbar 
gewesen  wäre,  bereits  seit  Mitte  der  Gravidität  an  milchig  eitrigem 
Fluor." 

Als  Resultat  der  Bu mm 'sehen  Untersuchungen  über  die  Aetio- 
logie  der  spitzen  Condylome  ergab  sich,  dass  jeder  länger 
dauernde  Reiz,  sei  er  chemischer  oder  mechanischer  Natur 
Papillome  an  den  Genitalien  erzeugen  kann. 

Diese  Ansicht  wird  von  den  meisten  Gynäkologen,  wie  z.  B. 
von  Tarnier\),  Fritsch  u.  x\.  geteilt.  Decoster  freihch  macht  die 
Schwangerschaft  an  sich  für  die  Genesis  der  Vegetationen  ver- 
antwortlich, da  er  sie  auch  auf  den  äusseren  Bedeckungen  und  auf 
der  Wangenschleimhaut  auftreten  sah^). 

Die  neueren  Dermatologen  huldigen  wohl  durchgängig  der  An- 
sicht von  der  rein  irritativen  Aetiologie  der  spitzen  Condylome  3). 
Erwähnensw^ert  ist  noch  die  Ansicht  Unna's,  der  Durchfeuch- 
tung. Seborrhoe  und  Ekzem  als  die  prädisponierenden  Momente 
für  die  Bildung  der  Condylomata  acuminata  anspricht-*). 

Nach  alledem  muss  heute  der  Satz  als  feststehend  betrachtet 
werden,  dass  das  sogenannte  spitze  Condylom  die  Folge  eines  be- 
liebigen Irritamentes  auf  die  zarte  Haut  und  Schleimhaut  der  Geni- 
talien ist.  Hierfür  spricht  auch  das  schon  von  Ricord^)  betonte 
entschieden  seltenere  Vorkommen  der  Vegetationen  bei  Juden,  ob- 
gleich dieselben  doch  gew^iss  nicht  seltener  an  Tripper,  der  gewöhn- 
lich als  Hauptursache  der  Condylome  supponierten  Affektion,  er- 
kranken als  andere  IMänner.  Aber  die  nach  der  Circumsion  ein- 
tretende stärkere  Verhornung  der  Eicheloberfläche  zusammen  mit 
dem  Fortfall  der  so  überaus  zarten  Präputialschleimhaut  gew^ährt 
einen  entschieden  besseren  Schutz  gegen  irritative  Einflüsse  jeder  Art. 


1)  Tarnier,    „Vulvo-vaginale    Vegetationen    in    der    Schwangerschaft"    in:    Semaine 
medicale  vom  3.  Febr.   1892  und  Deutsche  Medizinal-Zeitung  vom   22.  Jan.   1894,  S.   77. 

2)  Decoster,    ,,Zur  Behandlung  der  Vegetationen  bei  schwangeren  Frauen'-  (These 
de  Paris   1887),  nach  Monatshefte  u.  s.  w.    1888,  Bd.  VII,  S.   1096  — 1097. 

3)  Vgl.  z.  B.  E.  Finger,    „Die  Sj^shilis    und  die  venerischen  Krankheiten",    Wien 
1896,  S.  300. 

4)  Unna,  „Histopathologie  der  Hautkrankheiten",  Berlin   1894,  S.   791. 

5)  Ricord  a.  a.  O.,  ed.  Lippert,  S.   262. 


—      4o6      — 

Sehr  wichtig  im  Hinblick  auf  die  Beschreibungen  in  der  älteren 
Litteratur  ist  die  Betrachtung  der  verschiedenen  Formen  der  Vege- 
tationen der  Regio  genito-analis,  welche  man,  wie  auch  ZeissP) 
hervorhebt,  sehr  unzweckmässig,  als  „spitze"  Condylome  be- 
zeichnet hat,  indem  sie  vielfach  durchaus  nicht  als  solche  spitze  Ge- 
bilde imponieren,  ja  sogar  oft  als  „breite"   Feigwarzen  auftreten. 

Auch  das  Wort  „Cond3'loma"  bezeichnet  nur  einen  Teil,  nur 
eine  bestimmte  Form  der  Vegetationen ;  ein  anderer  Teil  wird  durch 
das  Wort  „Ficus",  „Feigwarze"  bezeichnet;  eine  dritte  Form  geht 
auch  unter  dem  Namen  „Crista".  Weitere  Formen  der  Vegetationen 
empfingen  in  früherer  Zeit  ihre  Namen  nach  der  Aehnlichkeit  mit 
Früchten  und  vegetativen  Bildungen.  Es  ist  aber  doch  nur  eine  einzige 
Gruppe,  welche  diesen  ganzen  Formenreichtum  erzeugt,  welche  man 
am  besten  unter  dem  Namen  „Vegetationen"  zusammenfasst. 

Indem  wir  bezüglich  der  antiken  Nomenklatur  der  Vegetationen 
auf  den  betreffenden  Abschnitt  verweisen,  sollen  an  dieser  Stelle  nur 
einige  Schilderungen  neuerer  Autoren  angeführt  w^erden,  als  Beleg 
für  die  Richtigkeit  und  Notwendigkeit  der  Beseitigung  des  gänzlich 
irreführenden  Namens:  „spitze"  Condylome,  der  bei  w^eitem  nicht 
dem  Formenreichtum  der  Vegetationen  gerecht  wird. 

Der  ältere  Cullerier  äussert  sich  über  die  von  ihm  beobachteten 
verschiedenen  Arten  der  Vegetationen  folgendermassen :  „Die  Aus- 
wüchse erhalten  verschiedene  Namen  nach  der  Gestalt,  welche  sie 
besitzen.  Sind  sie  gross,  fest,  mit  einem  runden  Kopfe  und  Stiele 
versehen,  so  heissen  sie  Condylomata,  von  der  Vergleichung,  die 
man  zwischen  ihnen  und  den  Gelenkköpfen  des  Knochens  angestellt 
hat.  Zeigen  sie  im  Gegenteile  eine  Art  von  geschwürigem  Aufblühen, 
so  nennt  man  sie  Feigwarzen  (Fici).  Haben  sie  eine  längliche, 
breite  Basis  und  ist  ihr  oberer  Rand  gezähnt  und  scharf,  so  erhalten 
sie  den  Namen  Hahnenkämme.  —  Die  krumm  gefurchten,  ästigen 
und  mit  einer  dünnen  Basis  versehenen  Gewächse  heissen  Blumen- 
kohl; sind  sie  dick,  rund  und  höckerig,  Himbeeren  oder  Maul- 
beeren, je  nachdem  die  Farbe  dunkler  ist;  mit  weniger  bemerk- 
baren Unebenheiten  auf  ihrer  Oberfläche  heissen  sie  Erdbeeren; 
und  sind  sie  kleiner  und  auf  der  Oberfläche  glatt,  so  nennt  man  sie 
Stachelbeeren.  Diese  verschiedenen  Arten  von  Afterbildungen 
finden  sich  oft  zusammen  oder  teilweise  bei  einem  und  demselben 
Subjekte;   seltener  ist  nur  eine  einzige  Art  vorhanden. 


i)  M.  V.  Zeissl,  Artikel  „Condylom"  in:  Eulenburg's  Real-Encyklopädie,  3.  Aufl., 
1895,  Bd.  V,   S.  98. 


—     407      — 

Der  Sitz  der  Auswüchse  ist  mannigfaltig;  beim  Manne  sind  die 
Eichel  und  Vorhaut,  beim  Weibe  die  grossen  und  kleinen  Scham- 
lippen ,  die  myrtenförmigen  Wärzchen  am  Eingange  der  Mutter- 
scheide, das  Schambändchen,  die  Clitoris  und  ihre  Vorhaut,  und  bei 
beiden  Geschlechtern  der  After  und  das  Mittelfleisch  derjenigen  Teile, 
wo  sie  am  häufigsten  beobachtet  werden;  dann  kommen  die  ver- 
schiedenen Organe  des  Mundes,  der  Eingang  der  Nasenlöcher,  die 
Augenlider,  die  Ohren,  die  Brüste,  der  Nabel  und  die  Weichen; 
seltener  sitzen  dieselben  an  den  übrigen  äusseren  Teilen  des  Körpers 
und  auf  den  inneren  Membranen"  ^). 

Der  Leser  möge  beachten,  dass  diese  Einteilung  der  „spitzen" 
Condylome  nur  auf  der  Beobachtung  der  äusseren  Form  beruht, 
welche  bekanntlich  gerade  bei  den  Vegetationen  ausserordentlich 
variabel  ist.  Cullerier's  Schema  ist  nicht  etwa  aus  der  älteren  Litte- 
ratur  ohne  weiteres  übernommen,  sondern  es  entspricht  auch  den 
thatsächlichen  Verhältnissen.  Denn  Kraemer,  der  wirklich  in  der 
sorgfältigsten  Weise  diese  Bildungen  untersucht  hat,  gelangt  sogar 
zu  einer  Aufstellung  von  noch  mehr  Formen.  Er  unterscheidet 
folgende  Arten : 

Papilloma  Condyloma  seu  mucosum.  Papillom  der  Schleim- 
haut und  deren  Uebergangsstellen  zur  äusseren  Haut. 

1.  Papilloma  Condyloma  simplex  seu  solitare.  Einzeln 
stehende  hervorgewucherte  Papille. 

a.  Papilloma  Condyloma  simplex  filiforme.  Zugespitzte 
einzeln  stehende  Papille. 

b.  Papilloma  Condyloma  simplex  globatum.  An  der 
Spitze  kolbenförmig  angeschwollene  Papille  (ficus). 

2.  Papilloma  Condyloma  compositum  seu  vulgare.  Aus 
dicht  beisammenstehenden  Papillen  zusammengesetztes  Schleim- 
hau tpapillom  (gewöhnliche  Feigwarze). 

a.  Papilloma  Condyloma  compositum  acuminatum.  Die 
Papillen  sind  zugespitzt  (spitzes,  pfriemenförmiges  Con- 
dylom, fraise). 

b.  Papilloma  Condyloma  compositum  granulatum.  Die 
Papillen  sind  abgerundet  (framboise,  morum,  chou-fleur). 

c.  Papilloma  Condyloma  compositum  cristatum.  Die 
Feigwarze  erscheint  durch  Druck  umgelegt  und  hahnen- 
kammförmig  abgeplattet  (crista,  crete  de  coq). 


i)  Cullerier  a.  a.  O.,  S.  90 — 91. 


—     4o8      — 

3.  Papilloma  Condyloma  subcutaneum  (syphilitischer  Por- 
zellantuberkel, Fritze).  Dasselbe  kann  als  acuminatum  oder 
granulatum  erscheinen  ^). 

Ebenso  viele  Arten  von  Warzen  der  äusseren  Haut  werden 
von  Kraemer  unterschieden  und,  was  sehr  bedeutsam  ist,  er  trennt 
von  allen  diesen  Vegetationen  aufs  strengste  die  sogenannten 
„platten  Condylome",  d.  h.  unsere  heutigen  syphilitischen  Condy- 
lomata  lata^). 

Xach  Esterle  wird  die  Form  der  Vegetationen  durch  ihren 
Sitz  bestimmt.  Die  am  After,  am  Scrotum,  an  der  Haut  des  Penis 
vorkommenden  sind  die  breitaufsitzenden,  die  am  inneren  Blatte 
der  Vorhaut  vorkommenden  die  gestielten,  die  häufig  sich  zu 
ganzen  Bündeln  entwickeln;  am  Rande  der  Eichel  sitzen  die  steck- 
nadelkopfförmigen 3). 

Sehr  anschaulich  hat  A.  Geigel  den  Formenreichtum  der  Vege- 
tationen geschildert"^),  dem  er  ebenfalls  für  die  historische  Unter- 
suchung über  das  Alter  der  Syphilis  die  grösste  Bedeutung  beimisst. 
Daher  mögen  seine  genauen  Beobachtungen  zur  weiteren  Erläuterung 
hier  Platz  finden: 

„Hingegen  bieten  die  Vegetationen  oder  eigentlichen  Feigwarzen  eine  wahre  Aus- 
wahl der  mannigfaltigsten  Formen  dar,  deren  gemeinsamer  Charakter  in  dem  warzenartigen, 
in  die  Länge  wachsenden,  gelappten,  papillären  oder  dendritischen  Baue  besteht.  Meistens, 
auch  an  den  Orten,  wo  sie  beständig  in  Sekreten  gebadet  sind,  von  einer  dickeren  Epidermis 
bedeckt,  mehr  hart  als  weich,  bieten  sie  von  den  kleinsten  stecknadelkopfgrossen  Wärzchen 
bis  zu  den  grössten,  oft  mehrere  Zoll  langen,  gelappten  und  verzweigten  Excrescenzen  alle 
möglichen  Uebergänge  dar.  Bald  stehen  sie  über  grössere  Flächen  verbreitet  einzeln,  gleich 
Pallisaden  oder  Krautköpfen  da,  bald  sind  sie  auf  einen  Haufen  agglomeriert,  hier  bilden 
sie  durch  ihre  Anhäufung  und  Wucherung  ein  beerenartiges  Gewächs  von  papillärem  Bau, 
dort  selbst  vermöge  der  örtlichen  Verhältnisse  breite,  platte,  auf  den  ersten  Blick  an  echte, 
syphilitische  Kondylome  erinnernde  Erhöhungen,  von  denen  sie  sich  aber  bei  näherer  Unter- 
suchung leicht  durch  ihren  gelappten  Bau  und  durch  das  Vorhandensein  eines  Stiels  unter 
der  platt  gedrückten  -Wucherung  unterscheiden.  In  andern  Fällen,  besonders  an  den  weib- 
lichen Genitalien,  an  der  Raphe  und  um  den  After  haben  sie  bei  längerem  Bestehen  und 
grösserem  Wachstum  ihren  Stiel  eingebüsst,  sind  zu  emzelnen,  mit  breiterer  Basis  auf- 
sitzenden, grossen,  harten,  pyramidenförmigen  Tumoren  herangewachsen,  die  wieder  gar  keine 
Aehnlichkeit  mit  den  breiten  Kondylomen  besitzen.  Denn  wenn  diese  sich  nur  einige 
Linien  über  die  Haut  erheben,  an  ihrer  Oberfläche  glatt,  weich  und  stark  secernierend  sind, 
so  erreichen  diese  Warzen  eine  bedeutende  Höhe,  mit  einem  scharfen,  meistens  eingekerbten 
oder  noch  gelappten   Rande,    sind    oft    knorpelhart  und   trocken,    von  rötlichem  oder  lividem 


i)  Hierher  gehört  ein  Teil  unseres  heutigen  „Molluscum  contagiosum". 

2)  Krämer  a.  a.   O.,  S.    147. 

3)  Karl  Esterle,   „Ueber  die  Behandlung  der  primären  Syphilis''   in:    Behrend's 
Syphilidologie,   Leipzig   1840,  Bd.  II,  S.   79 — 80. 

4)  A.  Geigel  a.  a.  0.,  S.   184—185. 


—     409     — 

Aussehen,  kurz  wahre  Hahnenkämme.  Oder  endlich  sie  entwickeln  sich  bei  der  übelsteii 
Behandlung  zu  wahrhaft  kolossalen,  rissigen,  von  Geschwüren  unterminierten,  mit  hässlicher 
Sekretion  bedeckten  Geschwülsten,  die  sich  dem  äusseren  Aussehen  nach  fast  gar  nicht  von 
Epidermoidalkrebsen  und  Blumenkohlgewächsen  unterscheiden  lassen." 

Eine  ähnliche,  die  ausserordentlich  grosse  Mannigfaltigkeit  der 
Form  der  Vegetationen  zum  Ausdruck  bringende  Schilderung  giebt 
E.  Lang^). 

Von  besonderer  Bedeutung  sind  die  Vegetationsformen  beim 
weiblichen  Geschlecht.  Hier  kommen  überhaupt  die  Feigwarzen 
entschieden  häufiger  vor  als  beim  Manne  2)  und  erreichen  eine  be- 
deutendere Ausdehnung  und  einen  grösseren  Umfang.  Nach  Fritsch 
bilden  die  spitzen  Condylome  beim  Weibe  mitunter  eine  bis  apfel- 
grosse,  weisse,  warzigknollige,  runde  Geschwulst,  welche,  wenn  auch 
nicht  gestielt,  doch  deutlich  abgrenzbar  pilzförmig  an  den  kleinen 
oder  grossen  Labien  sitzt  und  dünnflüssige,  übelriechende  Sekrete 
abscheidet.  In  anderen  häufigeren  Fällen  spriessen  mehr  oder  weniger 
zahlreiche  ca.  2  bis  3  mm  dicke  und  ca.  i  cm  lange,  kleine  Zotten 
überall  zerstreut  aus  der  Haut  empor.  In  der  Rima  ani,  auf  den 
Analbacken,  ja  herab  bis  auf  die  Oberschenkel,  findet  man  Excre- 
scenzen.  Auch  sieht  man  wenige  Condylome  gerade  über  dem 
Frenulum,  in  der  Fossa  navicularis  oder  vorn  an  der  Urethral- 
mündung.  Der  Ausführgang  der  Bartholin 'sehen  Drüse  kann  so- 
wohl an  einem  Ende  von  Condylomen,  als  auch  innerhalb  seines 
Lumens  mit  einigen  Excrescenzen  besetzt  sein.  Ebenso  wie  die 
Condylome  nach  abwärts,  namentlich  nach  hinten  gehen,  findet  man 
sie  auch  oberhalb  in  der  Scheide,  selbst  auf  der  Portio.  Ich  habe 
mehrere  derartige  apfelgrosse  Geschwülste  aus  der  Scheide  Schwangerer 
heraus  — ,  auch  von  det    Portio  abgeschnitten"  ^). 

Auch  Lang  schildert  anschaulich  diese  roten,  saftigen,  bis 
kindesfaustgrossen  Papillome,  welche  die  ganze  weibliche  Regio  genito- 
analis  überziehen,  ein  unangenehm  riechendes,  reichliches  Sekret  ab- 
sondern und  zu  schmerzhaften  Rhagaden  und  Erosionen  Veranlassung 
geben.  An  der  Vaginalportion  des  Uterus  sah  Lang  sie  in  der 
niederen  Pallisadenform,  öfter  jedoch  als  dendritische  Bildungen  bis 
zur  Grösse  einer  Bohne,  Kirsche  oder  Pflaume^). 


1)  E.  Lang,    ,,Der  venerische  Katarrh",  Wiesbaden   1893,  S.   116 — 118. 

2)  G.    Behrend,    „Studien    über    das    breite    Kondylom",    Leipzig   1871,    S.   27; 
Lang  a.  a.  O.,  S.    119. 

3)  Fritsch  a.  a.  O.,  S.  63. 

4)  Lang  a.  a.   O.,  S.  120  und   121. 


—     4i<^     — 

F  r  i  t  s  c  h  konstatiert  bei  7  5  ^j^  der  von  ihm  untersuchten 
Puellae  publicae  die  Anwesenheit  dieser  nichtsyphilitischen  Vege- 
tationen ^). 

Von  grösster  Wichtigkeit  ist  nun  der  Umstand,  dass  diese 
Vegetationen,  wie  wir  ja  schon  aus  den  bisher  mitgeteilten  Schilde- 
rungen entnehmen  können,  häufig  eine  ausserordentlich  grosse 
Aehnlichkeit  mit  den  sogenannten  „breiten  Condylomen"  syphi- 
litischen  Ursprungs  aufweisen   können. 

Um  die  Aftermündung  und  an  den  Labien  blennorrhoischer 
und  schwangerer  Frauen  kommen  Vegetationen  vor,  die  durchaus 
breiten  Condylomen  in  ihrer  äusseren  Form  ähnlich  sind,  übrigens 
auch  bei  Kindern  beobachtet  worden  sind  2).  G.  Behrend  kommt 
in  seiner  interessanten  Doktordissertation  über  das  breite  Condylom 
ebenfalls  zu  dem  Ergebnis,  dass  es  diesem  ähnliche  Vegetationen 
nichtsyphilitischer  Natur  giebt  und  bringt  wichtige  Belege 
dafür   bei. 

So  berichtet  Heller  den  Fall  eines  43jährigen  verheirateten 
Mannes,  bei  dem  sich  unter  der  Vorhaut  überaus  grosse  „breite  Con- 
dylome" entwickelt  hatten,  die  man  trotz  der  Versicherung  des 
Patienten,  „sich  in  seinem  Leben  nie  einer  Ansteckung  ausgesetzt  zu 
haben",  durch  eine  Dzondi'sche  Sublimatkur  zu  bekämpfen  suchte, 
jedoch  vergeblich;  erst  als  man  nach  Spaltung  des  Präputiums  den 
alsdann  zu  Tage  gekommenen  wallnussgrossen  Auswüchsen  durch 
Argentum  nitricum  teils  in  Substanz,  teils  in  Lösung  zu  Leibe  ging, 
verschwanden  sie  gänzlich  nach  einem  viermonatlichen  Bestehen. 
Heller  hielt  „Arthritis"  für  das  aetiologische  Moment,  und  nannte 
diese  eigentümliche  Form  der  Vegetationen  „arthritische  wasch- 
schwammförmige  Condylome"  ■''), 

Wenn  man  sich  daran  erinnert,  dass  gerade  die  syphilitischen 
breiten  Condylome  zu  denjenigen  Erscheinungen  der  konstitutionellen 
Syphilis  gehören,  welche  am  -promptesten  und  sichersten  auf  eine 
Quecksilberhandlung  zurückgehen,  so  kann  über  die  nichtsyphilitische 
Natur  dieser  von  Heller  beobachteten  breiten  Abart  der  gewöhn- 
lichen Vegetationen  kein  Zweifel  bestehen. 

Behrend  zieht  aus  seinen  Beobachtungen  den  Schluss,  dass  es 
bei  Erwachsenen  eine  Klasse  von  breiten  Condylomen  in  der  Genito- 
Analsphäre  gebe,  die  mit  Syphilis  nichts  zu  schaffen  haben  "^j. 

i)  Fritsch  a.  a.  O.,  S.  64.  ' 

2)  W.  Petters,  ,,Das  breite  Kondylom"  in:  Archiv  für  Dermatologie,  Prag  1872, 
Bd.  IV,  S.  363. 

3)  G.  Behrend,  ,, Studien  über  das  breite  Kondylom",  S.  24. 

4)  Behrend  a.  a.  O.,  S.   27. 


—      4H      — 

Petters  beobachtete  breite  Vegetationen  bei  an  Diarrhöe  leiden- 
den, herabgekommenen,  unrein  gehaltenen  Säuglingen.  Einige  solche 
Kinder  geben  zu  der  irrigen  Annahme  der  Uebertragung  der  Syphilis 
durch  die  .Schutzpockenimpfung  Veranlassung^). 

Ich  selbst  sah  kürzlich  einen  Fall  von  Ekzema  papulosum 
der  Beine,  der  inneren  Fläche  des  Oberschenkels  und  der  Perineal- 
gegend,  die  ich  auf  den  erst-en  Blick  für  typische  breite  Condylome 
hielt,  indem  gerade  an  der  Innenfläche  der  Oberschenkel  und  am 
Perineum  das  Ekzem  sich  in  Gestalt  von  grossen  isolierten  Plaques 
zeigte,  die  sich  auch  um  den  Anus  gruppiert  hatten,  und  zum  Teil 
durch  den  Prozess  der  „Lichenifikation"  eine  täuschende  Aehn- 
lichkeit  mit  syphilitischen  Condylomata  lata  aufwiesen.  Die  Ana- 
mnese ergab  aber  nicht  den  geringsten  Anhaltspunkt  für  S3^philis, 
ebensowenig  die  Untersuchung  des  übrigen  Körpers.  Dag-egen  liess 
sich  der  Zusammenhang  jener  isolierten  Ekzempapeln  mit  einem  all- 
gemeinen Ekzem   nachweisen. 

Insbesondere  dänische  Aerzte  haben  zuerst  auf  die  nicht- 
syphilitischen breiten  Papeln  der  Prostituierten  aufmerksam 
gemacht,  die  eine  weitere  wichtige  Kategorie  der  pseudosyphilitischen 
Affektionen  der  Genitalregion  bilden.  Zuerst  berichtete  darüber 
Engelsted: 

„Es  kommen  bei  öffentlichen  Frauenzimmern,  seltener  bei  anderen  Frauen,  einzelne 
Erhöhungen  an  oder  in  der  Nähe  der  äusseren  Geschlechtsteile  vor,  die  bisweilen  in  einem 
gewissen  Verhältnis  zur  Menstruation  zu  stehen  scheinen,  indem  sie  sich  ungefähr  um  diese 
Zeit  einfinden,  nach  einigen  Tagen  von  selbst  oder  durch  einfache  Behandlung,  z.  B.  durch 
Waschungen  von  Bleiwasser,  leichte  Aetzung  von  Lapis  infern,  schwinden  können. 

Da  diese  Papeln  bei  öffentlichen  Frauenzimmern  vorkommen,  so  kann  man  die 
Möglichkeit  dessen,  dass  sie  in  einem  Verhältnis  zur  Syphilis  oder  Gonorrhoe  stehen,  nicht 
läugnen,  aber  schwierig  bleibt  es,  ihnen  in  der  Reihe  der  syphilitischen  Affektionen  ihren 
Platz  näher  anzuweisen;  als  primäre  Affektionen,  durch  Ansteckung  übertragen,  lassen  sie 
sich  ihrer  periodischen  Wiederkunft  wegen  nicht  gut  auffassen,  ihr  akuter  Verlauf  und  der 
Umstand,  dass  sie  auch  bei  Frauen  vorkommen  können,  die  nie  an  Symptomen  der 
konstitutionellen  Syphilis  gelitten  haben,  macht  die  Ansicht,  dass  sie  Symptome 
der  konstitutionellen  .Syphilis  oder  Recidive  sind,  auch  nicht  sehr  wahrscheinlich;  am  rich- 
tigsten scheint  es  unter  diesen  Verhältnissen,  sie  als  nichtsyphilitische  Gebilde  aufzufassen, 
die  in  einem  gewissen  Verhältnisse  zur  Menstruation  zu  stehen  scheinen  und  wahrschein- 
licherweise auch  mit  der  stetigen  Irritation  der  Geschlechtsteile  und  der  dadurch  veranlassten 
Veränderung  der  Sekrete,  die  ihren  Grund  in  der  Lebensweise  der  öffentlichen  PVauen- 
zimmer  hat,  zusammenhängen.  Unter  allen  Umständen  ist  es  von  Wichtigkeit,  das  Vor- 
kommen dieser  Papeln  und  ihre  Verschiedenheit  von  den  gewöhnlichen  durch  konstitutionelle 
Syphilis  bedingten  Schleimpapeln  erkannt  zu  haben,  da  eine  Diagnose  nach  dem  Aussehen 
dieser  Gebilde  allein  nicht  gestellt  werden  kann,  indem  selbst  geübte  Beobachter 
keine    Verschiedenheit    auffinden    können.      Man    muss    sich    durch    den    Umstand 


I)  Petters  a.  a.  O.,  S.  365. 
Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  27 


—       412       — 

leiten  lassen,    ob    sich    gleichzeitig  andere  Symptome    der  konstitutionellen  Syphilis  auffinden 
lassen  oder  nicht."  \) 

Genau  dieselben  Beobachtungen  verzeichnet  Rudolf 
Bergh  in  den  einzelnen  Jahresberichten  über  das  Vestre  Hospital. 
Auch  nach  ihm  giebt  es  verschiedene  Papelformen  bei  Prosti- 
tuierten, die  man  zu  den  pseudovenerischen  und  pseudosyphi- 
litischen Affektionen  der  Genitalien  rechnen  muss  und  zu  denen 
auch  die  als  ,,Induratio",  „Ulceratio  redux".  „.Syphilome  chancri- 
forme  I.eloir",  „recidivierende  Pseudoschanker  Fournier  -  Hut- 
chinson" von  anderen  Autoren  bezeichneten  Affektionen  gehören. 
Auch  Bergh  sah  das  häufige  Auftreten  dieser  pseudosyphilitischen 
Papeln  in  Verbindung  mit  den  Katamen ien  und  das  ebenso  un- 
zweifelhafte Vorkommen  derselben  bei  Individuen,  die  niemals 
Syphilis  gehabt  hatten.  Derartige  Pralle  werden  in  jedem  Jahres- 
bericht in  grosser  Zahl  verzeichnet  ^). 

Man  g-eht  nicht  fehl,  wenn  man  einen  grossen  Teil  dieser 
Affektion  den  gewöhnlichen  Vegetationen  zurechnet,  wofür  die  Ab- 
hängigkeit ihrer  Bildung  von  der  Einwirkung  gewisser  Irritamente, 
wie  sie  z.  B.  zur  Zeit  der  Menstruation  in  reichlicherem  Masse 
vorhanden  sind,  spricht.  Möglich,  dass  auch  der  von  Unna  be- 
schriebene recidivierende  Herpes  genitalis  der  öffentlichen  Frauen- 
zimmer sowie  der  Herpes  menstrualis  mit  diesen  Papelbildungen  in 
einem  ätiologischen  Zusammenhange  steht. 

Jedenfalls  werden  wir  nach  Feststellung  dieser  Thatsachen  die 
Schlussfolgerungen,  zu  denen  C.  v.  Hübbenet  in  seinem  merk- 
würdigen Buche  „Die  Beobachtung  und  das  Experiment  in  der 
Syphilis"  (Leipzig  1859)  gekommen  ist,  mit  ganz  anderen  Augen  be- 
trachten können  und  ihnen  einen  unzweifelhaft  richtigen  Kern 
einräumen.     Diese  Schlussfolgerungen  lauten: 

1.  Die  Schleimpapeln  treten  als  konsekutive  Erscheinung  der 
Syphilis  auf  und  das  vielleicht  am  häufigsten. 

2.  Sie  treten  auch  unstreitig  als  primitive  Erscheinung  der 
Syphilis  auf. 

3.  Sie  erscheinen  als  hereditäre  Form  der  Syphilis. 

4.  Sie  entwickeln  sich  aber  auch  unabhängig  von  der  Syphilis, 
entweder  rein  lokal  bei  vollkommener  Gesundheit,  oder  bei  anderer 
Ernährungsstörung,  aber  fern  von  anderen  syphiHtischen  Erscheinungen 
und  stellen  höchstens  hier  eine  endemische  degenerierte  Syphilis  dar, 
das  „Kleinrussische  oder  polnische  Syphiloid." 


1)  S.  Engelsted,    „Die    konstitutionelle  Syphilis    nach    klinischen  Untersuchungen". 
Aus  dem  Dänischen  übersetzt  von  C.  Uterhart,   Würzburg   1861,  S.   20  —  21. 

2)  R.  Bergh,  Yeslre  Hospitel  i    188;,  S.  1 1 ;    1891,  S.  10. 


—     4U      — 

Wenn  auch  diese  Sätze  in  ihrer  damaligen  Formulierung  sich 
nicht  mehr  aufrecht  erhalten  lassen,  so  wird  man  die  ihnen  zu  Grunde 
liegende  Beobachtung  von  breiten  Cond3domen  ähnlichen,  aber 
nicht  syphilitischen  Gebilden  durchaus  als  thatsächliche  annehmen 
können.  Das  ist  aber  wiederum  von  grösster  Bedeutung  für  die 
kritische  Beurteilung  der  Angaben  in  der  älteren  Litteratur  vor  dem 
Auftreten  der  Syphilis. 

Endlich  verdienen  auch  einige  Beziehungen  der  „spitzen"  Con- 
dylome zu  venerischen  Leiden  Erwähnung.  Petersen  hat  sehr 
häufig  Ulcera  mollia  gerade  an  den  Stellen  beobachtet,  wo  Condy- 
lomata  acuminata  sitzen  und  beim  Coitus  verletzt  worden  sind^). 
Ferner  täuschen  nicht  selten  im  Vorhautsack  sitzende  und  durch  eine 
Phimose  dem  Auge  verborgene,  entzündlich  gereizte  Vegetationen, 
einen  Primäraffekt  und  andere  syphilitische  Krankheitserscheinungen  vor. 
Ueber  einen  sehr  instruktiven  Fall  dieser  Art  berichtet  Gaither-). 
Ein  3ojähriger  Mann  kam  wegen  Anschwellung  des  Penis  und  Aus- 
fluss  aus  dem  Vorhautraum  zur  Aufnahme.  Der  Zustand  hatte 
seit  fünf  Monaten  bereits  bestanden  und  hatte  sich  stetig  ver- 
schlimmert. Das  Glied  war  um  das  Dreifache  geschwollen,  und  auf 
dem  Dorsum  fand  sich  ein  kleinbohnengrosses  Geschwür,  welches 
mit  dem  Sulcus  retroglandularis  kommunizierte.  Die  Diagnose 
schwankte  wegen  der  Infiltration  des  Gewebes  zwischen  Gumma  und 
Carcinom.  Die  Spaltung  der  Vorhaut  ergab  den  überraschenden  Be- 
fund einer  zahllosen  Aussaat  von  Condylomata  acuminata  auf  der 
Glans  und  dem  inneren   Blatte  des  Präputiums^). 

Die  Hartnäckigkeit  der  Vegetationen  gegenüber  jeder  Therapie 
verdient  auch  noch  im  Gegensatze  zu  dem  leichten  Verschwinden 
der  breiten  Condylome  hervorgehoben  zu  werden,  da  wir  jene  Eigen- 
schaft in  der  antiken  Litteratur  oft  erwähnt  finden.  Trotz  alles  Ab- 
schneidens,  Abbindens  und  Aetzens  schiessen  aus  dem  Halse  der  Hydra, 
wie  Geigel  sagt,  immer  wieder  neue  Köpfe  hervor,  bis  es  endlich 
einer  ebenso  hartnäckigen  Therapie  gelingt,  diese  Gebilde  auszurotten. 


1)  O.  Petersen,   ,, Ulcus  niolle",   Archiv  für  Dermatologie  1894,  Bd.  XXIX,  S.  433. 

2)  A.  B.  Gaitber,  „Eine  durch  das  unvennutete  Vorhandensein  von  Kondylomen 
bedingte  Phimose,   welche   Gumma  d-s   Penis  vortäuschte"   in:   Medical  News  vom   3.  August 

1895- 

3)  M.  V.  Zeissl  beobachtete  Gangrän  der  Vorbaut  durch  massenhafte  Entwickelung 
venerischer  Vegetationen  an  der  Eichel.  Artikel  ,, Kondylom''  in:  Eulen  bürg 's  Eiicyklo- 
pädie,   3.   Aufl.,   Bd.  V,  S.  99. 

27* 


—     414     — 

In  Vergleichung  mit  den  Vegetationen  sind  die  übrigen  nicht- 
s)^philitischen  Neoplasmen  der  männlichen  und  weiblichen  Geschlechts- 
teile relativ  seltener,  ergeben  aber  zusammengenommen  doch  immer 
noch  eine  recht  stattliche  Frequenz  dieser  Aftergebilde. 

Zunächst  kommen  hier  jene  Neubildungen  in  Betracht,  die  nach 
ihrer  histologischen  Struktur  sowie  ihrem  äusseren  Aussehen  den  Vege- 
tationen nahestehen,  die  Warzen,  Hauthörner,  Fibrome,  Hyper- 
trophien u.  a.  m. 

Die  wirkliche  Verruca  vulgaris  kommt  an  den  Genitalien 
nur  selten  vor.  Ein  Fall,  den  Renault  beobachtete,  ist  wegen  der 
Aetiologie  sehr  interessant.  Er  konnte  nämlich  eine  direkte  Ueber- 
tragung  von  Warzen  des  Fingers  auf  das  Präputium  feststellen^). 
Unna  beschreibt  ein  „plattenförmiges  Akanthom"  des  Penis-).  Das 
Cornu  cutaneum  kommt  häufiger  am  männlichen  Gliede  vor. 
Leber t  verzeichnet  acht  solche  Fälle ^).  Nach  ßergh  (a.  a.  O.)  und 
Englisch  kommen  sie  besonders  am  Rande  der  Eichel  vor,  seltener 
an  anderen  .Stellen  und  häufiger  bei  Erwachsenen  als  bei  jungen 
Leuten.  Sie  recidivieren  äusserst  leicht^).  Pick  sah  ein  weiches 
Cornu  cutaneum  des  Penis  aus  einem  spitzen  Condylom  hervorgehen. 
Dabei  bestand  gleichzeitig  eine  Hautaffektion  des  Körpers,  nämlich 
Psoriasis^).  Uebrigens  mag  auch  an  das  Vorkommen  syphilitischer 
Hauthörner  erinnert  werden. 

Gelegentlich  werden  auch  Fibrome  an  den  Genitalien  beobachtet, 
über  ein  solches  an  der  Clitoris  berichtet  Bourrier*^);  Haslam  sah 
ein  Fibromyom  des  Penis  ^). 

Auch  gewisse  Excrescenzen  und  Hypertrophieen  gehören 
hierher.  Die  sogenannten  „Carunkeln"  der  weiblichen  Harnröhre  ge- 
hören zu  den  häufigsten  Tumoren  der  Urethra.  IManchmal  kann  ein 
Prolaps  der  Urethralschleimhaut  solche  vortäuschen'^).  Ferner  ist 
zu  erinnern  an  die  „Genitalexcrescenz  der  äg3^ptischen  Mädchen".  Nach 


1)  Monatshefte  u,  s.  w.    1897,  Bd.  XXIV,  S.  623. 

2)  Unna,  „Histopathologie  der   Hautkrankheiten",   S.  805. 

3)  R.   Bergh,     ,, Fälle  von   Haulhörnern",    Archiv    für    Dermatologie    1873,    Bd.   V, 

S.  195. 

4)  Englisch,    Artikel    ,, Penis"    in:    Eulenburg's    ,,Encyklopädie",    Bd.  XVIII, 
S.  388. 

5)  F.  J.   Pick,    ,,Zur  Kenntnis  der  Keratosen"    in:    Archiv    für  Dermatologie    1875, 
Bd.  VII,  S.  315-323- 

6)  British  Medical  Journal   vom    16.  Septeniber    1899. 

7)  Ibidem  vom   19.  Nov.   1898. 

8)  J.  Neuberger,    ,,Ueber    die    sogenannten   Karunkeln    der   weiblichen   Harnröhre" 
in:  BerHncr  klinische  Wochenschrift   1894,  Nr.  20. 


—      415      — 

Sonnini  („Yoyage  dans  la  haute  et  basse  Egypte"  Paris  An  7, 
Tome  II,  p.  32)  sollen  die  Mädchen  ägyptischer  Rasse  eine  mit  zu- 
nehmendem Alter  sich  vergrössernde  Excrescenz  an  den  Genitalien 
haben,  welche  bei  der  Beschneidung  verkürzt  wird.  Bei  einem  acht- 
jährigen Mädchen,  das  dieser  Operation  in  seiner  Gegenwart  von  einer 
Frau  unterzogen  wurde,  „cette  excroissance  prenoit  naissance  au-dessous 
de  la  commissure  des  grandes  levres  et  eile  pendoit  d'un  demi-pouce 
le  long  de  cette  meme  commissure"^).  Andere  Condylom  ähnlichen 
Hypertrophien  der  Vulva  beschreibt  Fritsch:  „Es  kommt  sowohl 
vor,  dass  die  ganze  Geschwulst  papillomatös,  blumenkohlartig,  einem 
Klumpen  spitzer  Condylome  ähnelt  (vergl.  Fig.  34,  S.  52),  als  dass 
nur  an  einzelnen  Teilen  die  Geschwulst  warzig,  höckerig  ist".  Ge- 
wöhnlich sondern  diese  condylomartigen  Gebilde  ein  Secret  ab  und 
ulcerieren  nach  traumatischen  Einflüssen.  Die  wichtigste  Ursache  der- 
selben ist  Onanie  -). 

Auch  eine  bestimmte  Form  der  Elephantiasis,  nämlich  die 
Elephantiasis  verrucosa,  die  besonders  an  den  grossen  und  kleinen 
Labien  und  am  Anus,  namentlich  nach  Entbindungen,  auftritt,  hat 
grosse  Aehnlichkeit  mit  den  Vegetationen^). 

Die  männlichen  und  weiblichen  Genitalien  bilden  eine  Prädi- 
lektionsstelle für  das  Vorkommen  des  sogenannten  Molluscum 
contagiosum  (Epithelioma  moUuscum ,  Condyloma  subcutaneum, 
Epithelioma  contagiosum).  Dieses  contagiöse  Gebilde  kommt  sehr 
häufig  vor,  am  häufigsten  bei  Prostitutierten^),  wie  das  besonders 
aus  den  in  dieser  Beziehung  sehr  instruktiven  Jahresberichten  von 
Bergh  hervorgeht.  Daraus  ist  der  Schluss  zu  ziehen,  dass  auch  das 
Molluscum  contagiosum  in  einem  gewissen  Zusammenhange  mit  dem 
geschlechtlichen  Verkehr  steht,  jedenfalls  sich  sehr  häufig  an  denselben 
anschliesst.  Die  oft  sehr  grosse  Aehnlichkeit  der  Mollusca  conta- 
giosa mit  Formen  der  Vegetationen  ergiebt  sich  schon  aus  der 
früher  üblichen  Bezeichnung  „Condyloma  subcutaneum". 

Eine  Affektion,  die  namentlich  bei  Männern  sehr  häufig  nach 
dem  Coitus  (besonders  cum  femina  angusta)  auftritt,  ist  die  Lymph- 
geschwulst (Lymphangiectasie)  des  Penis  (Präputium),  auf  die  neuer- 


1)  Vergl.   E.   Guilt,   ,, Geschichte  der  Chirurgie",   Berlin    1898,   Bd.  I,   S.   19. 

2)  Fritsch  a.  a.  O.,  S.  51. 

3)  Vergl.    Antal     in:    Orvosi  Helilap    1883,    Nr.    8;    Woravesik    in:    Monatshefte 
u.  s.  \v.    1889,   Bd.  VIII,   S.  40. 

4)  Vergl.  Unna,    Artikel  „Molluscum"    in:    Eulenburg's    Encyklopädie,    3.  Aufl., 
Bd.  XVI,  S.  9. 


—      ^\6     — 

dings   Nobl   in    vortrefflichen  Arbeiten   die   Aufmerksamkeit    gelenkt 
hati). 

Ferner  hat  man  auch  das  Carcinom  und  Epitheliom  der 
Geschlechtsteile,  auf  dessen  häufige  grosse  Aehnlichkeit  mit  dem 
S3^philitischen  Primäraffekte  schon  oben  hingewiesen  wurde  2)  und 
dessen  contagiöse  Natur  neuerdings  wieder  Gegenstand  einer  leb- 
haften Diskussion  geworden  ist,  im  Anschlüsse  an  den  geschlecht- 
lichen Verkehr  auftreten  sehen.  Einen  dahingehörigen  Fall  berichtet 
L.  Marciere.  Ein  48jähriger  Patient,  der  vor  10  Jahren  einen  glatt 
geheilten  Tripper  acquiriert  hatte,  vollzog  vor  2  Jahren  den  Coitus  mit 
einem  jungen  Mädchen.  8  Tage  später  gewahrte  er  an  der  linken 
Seite  der  Eichel  ein  kleines  Geschwür  und  an  der  rechten  ein  Condy- 
lom. An  diesen  Stellen  entwickelte  sich  dann  allmählich  ein  Epitheliom  3). 
Natürlich  ist  es  sehr  zweifelhaft,  ob  beim  Coitus  ein  Krebskeim  direkt 
übertragen  wurde,  dagegen  hat  der  Geschlechtsverkehr  mit  seinen 
Folgen  offenbar  die  Prädisposition  für  die  Entwickelung  des  Epithe- 
lioms geschaffen.  Jedenfalls  mussten  den  Alten  solche  Fälle  als  in 
gewisser  Beziehung  zum  Coitus  stehend  erscheinen. 

Von  anderen  Geschwülsten  sind,  namenlich  an  den  weiblichen 
Genitahen,  noch  Sarkome^),  Lipome^),  Angiokeratome*^)  und  das 
sogenannte  Granuloma  fungoides')  beobachtet  worden. 

§  29.    Die  pseudosyphilitischeii  Affektioneii  des  Afters. 

Die  dermatologischen  Affektionen  des  Afters  und  die  mit  ihnen 
im  Zusammenhange  stehenden  Erkrankungen  des  Mastdarmes  sind 
erst  in  der  neuesten  Zeit  Gegenstand  einer  eingehenderen  Aufmerk- 
samkeit von  Seiten  der  Kliniker  und  Dermatologen  geworden.  Die 
Regio  anahs  ist  aus  demselben  Grunde  eine  terra  incognita  ge- 
blieben, aus  welchem  auch  die  Lehre  von  den  Faeces  bisher  arg  ver- 


i)  G.  Nobl,  „Zur  Kenntnis  der  erworbenen  genitalen  Lymphangiectasie"  in:  Wiener 
med.  Wochenschr.  1901,  Nr.  47,  S.  2194— 2196  und  Nr.  48,  S.  2253  —  2259;  vergl.  auch 
dessen  ,, Pathologie  der  blennorrhoischen,  syphilitischen  und  venerischen  Lymphgefäss- 
erkrankungen",  Wien  und  Leipzig   1901. 

2)  Vergl.  darüber  auch  G.  Behrend,  „Lehrbuch  der  Hautkrankheiten",  2.  Aufl., 
Berlin   1883,  S.  470. 

3)  Monatshefte  für  Dermatologie   1897,  Bd.  XXV,  S.  465. 

4)  Savage  in:   British  Medical  Journal  vom   27.  Mai    1899. 

5)  Graefe,  „Ein  Fall  von  Lipoma  labii  majoris"  in:  Zeitschrift  f.  Geburtsh.  1887, 
Bd.  XIV,  Heft   I. 

6)  Fordyce  in:  Monatshefte  u.  s.  w.    1896,  Bd.  XXHI,  S.  34. 

7)  Hutchinson,  ibidem   1899,  B^.  XXVIH,  S.  462. 


—     417      — 

nachlässigt  wurde,  um  erst  jetzt  durch  die  Arbeiten  von  Schmidt 
(Bonn)  u.  a.  energisch  in  Angriff  genommen  zu  werden.  Die 
Aesthetik  hat  hier  der  Medizin  einen  bösen  Streich  gespielt,  weshalb 
auch  noch  heute  sogar  erfahrenen  Praktikern,  die  jene  ästhetische 
Scheu  von  der  genauen  Betrachtung  und  Untersuchung  dieser  Gegend 
abhält,  nicht  selten  recht  verhängnisvolle  Irrtümer  begegnen  und 
harmlose  hypertrophische  Analfalten  oder  verödete  Hämorrhoidal- 
knoten für  syphilitische  Condylome  gehalten  werden.  Seit  ich  meine 
Aufmerksamkeit  auf  eine  genaue  Untersuchung  der  Regio  analis  auch 
bei  nichtsyphilitischen  Individuen  gerichtet  habe,  konnte  ich  zu  meinem 
Erstaunen  recht  oft  erhebliche  abnorme  Veränderungen  in  der  Um- 
gebung des  Anus  feststellen,  die  sichthch  einem  Teile  der  Schilderungen 
der  alten  und  mittelalterlichen  Aerzte  zu  Grunde  liegen.  Das  wird 
in  der  Darstellung  dieser  einzelnen  Affektionen  offenbar  werden. 

Jedenfalls  sollte  jeder  Arzt  die  Mahnung  des  grossen  Ricord 
in  Beziehung  auf  die  Diagnostik  der  Analaffektionen  beherzigen.  Er 
sagt:  „Die  krankhaften  Affectionen  des  Anus  geben  zu  vielen 
und  häufigen  Irrtümern  Veranlassung.  Ein  Hauptgrund  ist, 
dass  viele  Aerzte  nicht  gern  gar  zu  nah  zusehen  mögen.  Aber  hier 
muss  man  den  Grundsatz  des  Mascagni  festhalten:  es  giebt  nichts 
Schmutziges  in  der  ]\Iedizin!  Man  kann  recht  wohl  als  Arzt  gegen 
die  Aesthetik  sündigen,  und  doch  dabei  ausserhalb  des  Berufes  ein 
PYeund  von  Blumen  und  Parfüm  sein"^). 

Im  Folgenden  sollen  nur  die  Krankheiten  des  Afters  betrachtet 
werden,  so  weit  sie  nicht  mit  Hautleiden  kombiniert  sind.  Die  so 
bedeutungsvolle  Komplikation  von  Genital-  und  Analleiden  mit  einer 
Erkrankung  der  übrigen  Haut  wird  in  einem  besonderen  Abschnitte 
besprochen  werden. 

Auch  die  pseudosyphilitischen  Affektionen  des  Afters  sind  wie 
diejenigen  der  Genitalien  entweder  venerischen  oder  nichtvene- 
rischen Ursprungs. 

Die  venerischen  Erkrankungen  der  Regio  analis  treten  als 
direkte  oder  indirekte  Folgen  eines  Beischlafs  oder  einer  geschlecht- 
Hchen  Berührung  auf  und  entstehen  durch  Ansteckung  oder  auf 
mechanischem  Wege. 

Bezüglich  des  Beischlafs  muss  dann  noch  wieder  der  Unterschied 
gemacht  werden,  ob  derselbe  ein  natürlicher  oder  ein  unnatür- 
licher war.     Denn  leider  muss  an   dieser  Stelle  von  vornherein  fest- 


i)  Ph.  Ricord,   ..Pathologie  und  Therapie  der  venerischen  Krankheiten",  bearbeitet 
von   H.   Lippert,   Hamburg    1852,  S.  133. 


—      4iö      — 

gestellt  werden,  dass  der  letztere  Modus  der  Entstehung  einer  vene- 
rischen Affektion  des  Afters  auch  heute  noch  durchaus  nicht  selten 
ist,  in  früheren  Zeiten  entschieden  häufiger  war  und  sogar  gegen- 
wärtig in  bestimmten  Gegenden  sich  in  erschreckendem  Umfange 
nachweisen  lässt. 

Leider  kommt  in  der  Beurteilung  der  Aetiologie  der  venerischen 
und  pseudosyphilitischen  Affektionen  den  sogenannten  „Figurae 
Veneris"  eine  sehr  grosse  Bedeutung  zu,  wie  wir  insbesondere  bei 
der  Erörterung  der  bezüglichen  Verhältnisse  im  klassischen  Altertum 
darlegen  werden,  ein  Punkt,  auf  den  Rosenbaum  trotz  seiner  aus- 
führlichen Citate  viel  zu  wenig  Gewicht  gelegt  hat.  In  verstärktem 
j\Iasse  gilt  von  der  antiken  Welt  und  deijenigen  des  islamitischen 
Orients,  was  ganz  allgemein  Michaelis  von  den  geschlechtlichen 
Aberrationen  der  Gegenwart  sagt: 

„Die  Ausschweifungen  in  Venere  beschränken  sich  nicht  auf 
die  Kommunikation  der  Genitalien,  da  ein  ekelhafter  Missbrauch  die 
Wollüstlinge  zur  Päderastie,  zur  Benutzung-  der  zusammengehaltenen 
weiblichen  Brüste,  des  Mundes  und  anderer  sonderbarer  Mittel  be- 
wegt. Am  Munde  verworfener  Dirnen,  an  der  Conjunktiva,  am 
After,  an  den  Brustwarzen  kommen  daher  primäre  Geschwüre  vor, 
die  nicht  immer  zufällige  xVnsteckungen  sind.  Zuweilen  geben  un- 
reinliche Menschen  wohl  Anlass,  dass  ein  Genitalgeschwür  den  be- 
nachbarten After  in  Mitleidenschaft  versetzen  kann,  zumal  beim  Weibe, 
wo  die  mechanischen  Verhältnisse  förderlich  sind,  oder  sie  beschmutzen 
in  unachtsamer  Weise  mit  besudelten  Fingern  das  Auge,  die  Lippe, 
Nase,  Ohr  etc.  Jedoch  kann  man  mit  grosser  Sicherheit  auf  Abusus 
schliessen,  wenn  die  Genitalien  des  Individuums  gesund  sind,  und  das 
Geschwür  sich  an  einer  Stelle  befindet,  in  deren  Nähe  der  Wollüstling 
einen  brauchbaien  Ort  für  die  gesuchte  Erregung  findet"'). 

Als  ein  solch  „brauchbarer  Ort"  für  die  Befriedigung  perverser 
geschlechtlicher  Gelüste  muss  neben  dem  Munde  vor  allem  der  After 
bezeichnet  werden,  so  dass  man  sogar  in  Frankreich  dafür  den  un- 
geheuerlichen Ausdruck  der  „Defloration  anale"  (Lacassagne)  er- 
funden hat-).  Diese  widernatürliche  Art  des  geschlechtlichen  Verkehrs 
ist  nicht  nur  bei  den  homosexuellen  Männern  (Paederasten)  ein  sehr 
gewöhnliches  Vorkommnis,  sondern  wird  auch  von  Männern  an 
Weibern  vollzogen  (sogenannte  „Paedicatio  mulieris").    NachBergh^), 


1)  A.  C.  J.  Michaelis  a.  a.  O.,  S.  23. 

2)  E.   Hofmann    und    Dittrich,    Artilcel   ,,Paederastie"    in:    Eulenburg' s    Ency- 
klopädie,  Bd.  XVIII,  S.  205. 

3)  R.  Bergh,    ,, Bemerkungen    über    venerische    Katarrhe    bei    Frauenzimmern"    in 
Monatshefte  f.  prakt.  Dermatologie   1898,  Bd.  XXVII,  S.  395. 


—     419     — 

Venot')  und  IMartineau^)  ist  dieser  Missbrauch  des  Weibes  bei  den 
romanischen  Völkern  häufiger  als  bei  den  germanischen.  Indessen 
höre  ich  von  Herrn  Prof.  Behrend,  dass  die  Berliner  Prostituierten 
sich  ebenfalls  relativ  häufig  dem  Akte  der  Paedikation  unterwerfen 
müssen  und  nicht  selten  Veränderungen  der  Regio  analis  aufweisen, 
die  hiermit  im  Zusammenhange  stehen.  In  erschreckender  Ausdehnung 
huldigt,  wie  allbekannt,  der  gesamte  islamitische  Orient  diesen  per- 
versen Praktikenn. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  ausführlich  auf  die  sogenannten 
„Kennzeichen"  der  vollzogenen  Paederastie  einzugehen,  die  in  den 
Werken  über  gerichtliche  Medizin  einen  immer  noch  strittigen  Gegen- 
stand der  Diskussion  bilden.  Es  kann  jedoch  m.  E.  keinerlei  Zweifel 
darüber  bestehen,  dass  der  Coitus  per  anum  noch  mehr  die  Ent- 
stehung venerischer  und  pseudosyphilitischer  Affektionen  begünstigen 
muss,  als  dies  der  per  vias  naturales  ausgeübte  Beischlaf  thut,  indem 
im  ersteren  Falle  das  grosse  Missverhältniss  rein  mechanischer 
Natur  zwischen  dem  ]\Iembrum  virile  und  dem  Orificium  ani  viel 
stärkere  Frictionen  und  häufigere  Verletzungen  dieser  Gegend  ver- 
anlasst. In  der  That  sind  letztere  viel  sicherere  Kennzeichen  der 
Päderastie,  als  die  bekannte,  besonders  durch  Tardieu  zu  dem 
wichtigsten  diagnostischen  Symptom  erhobene  „trichterförmige  Ein- 
ziehung" des  Afters ,  welche  übrigens  schon  von  dem  älteren 
Cullerier^)  als  ein  untrügliches  Merkmal  des  Coitus  analis  angesprochen 
wurde,  während  bereits  Ricord  dies  ganz  entschieden  bestritt^).  Die 
genaue  Diagnose  der  Paederastie  wird  sich  besser  auf  den  Befund  von 
Affektionen  des  Afters  gründen  können,  welche  erfahrungsgemäss 
hauptsächlich  durch  diesen  Modus  des  Geschlechtsverkehrs  zustande 
kommen,  obgleich  auch  dieser  nicht  ein  ausschliessliches  ätiologisches 
Moment  für  jene  darstellt,  wie  bei  den  nunmehr  zu  erwähnenden 
einzelnenen  Affektionen  zu  Tag'e  treten  wird. 

Nach  Martin eau's  Erfahrungen^)  kommt  der  weiche  Schanker 
als  Folge  der  Paedikation  viel  häufiger  am  After  vor,  als  der  syphili- 
tische Primäraffekt,  nach  v. Petersen  findet  sich  das  Ulcus  moUe  des 


i)  Venot  a.  a.  O.,  „Ce  goüt  anti-pliysique  se  propage  d'iine  fac^on  deplorable". 

2)  C.  Martineau,  „Lecoiis  sur  les  deformations  vulvaires  et  anales",  Paris  (1885), 
S.  121  — 187.  —  Martineau  verweist  auf  die  Häufigkeit  der  Paedicatio  mulieris  in  der 
Ehe,  wo  nicht  bloss  Lüsternheit  des  Mannes,  sondern  auch  vulvovaginale  Affektionen  der 
Frau  die  Ursache  sind.     Auch  ist  die  Paedication  in  gewissen  Gegenden  Volkssitte. 

3)  Cullerier  a.  a.  O.,  S.  93. 

4)  Ricord,  ,, Pathologie  und  Therapie  der  venerischen  Krankheiten",  S.  20. 

5)  Martineau  a.  a.   O  ,   S.  158   und  S.   173. 


—      4-0      — 

Anus  öfter  bei  Weibern  als  bei  Alännern  und  fast  ausschliesslich 
durch  Coitus  analis  bedingt').  Neumann  bemerkt:  , .(Venerische) 
Geschwüre  am  After,  die  zumeist  bei  Weibern  vorkommen,  sind  ent- 
weder an  den  Afterfalten  selbst  gelegen  und  erstrecken  sich  bis  auf 
die  Rectalschleimhaut,  oder  sie  liegen  vor  oder  hinter  der  Anal- 
öffnung. Im  ersteren  Falle  erscheinen  sie  spaltförmig  dreieckig,  die 
betreffende  Afterfalte  ist  im  Beginne  gerötet,  geschwellt,  die  Ränder 
unterminiert,  der  (ürund  speckig  belegt,  Die  Infektion  erfolgt  bei 
mangelhafter  Reinigung  vom  Genitale  her,  häufiger  durch  Coitus  per 
anum.  Sie  lassen  sich  nicht  leicht  von  Sklerose  und  schwerer 
noch  von  der  zerfallenden  Papel  unterscheiden"  2).  Bemerkenswert  ist 
die  starke  Hypertrophie  der  Analfalten  im  Bereiche  des  venerischen 
Geschwürs,  welche  nicht  selten  das  letztere  überdauert  und  einen  Teil 
wenigstens  jener  antiken  „Kondylome"  und  „IMariscae"  gebildet  haben 
dürfte,  welche  als  Folgen  von  Entzündungen  und  Geschwüren  in 
jener  Gegend  auftreten. 

Durch  neuere  Forschungen  ist  festgestellt  worden,  dass  auch 
der  Anal-  und  Rectaltripper  in  grösserer  Häufigkeit  vorkommt, 
als  man  bisher  angenommen  hat.  Besonders  die  x\rbeit  von  Neu- 
berger  und  v.  Borzecki  hat  darüber  wichtige  Aufschlüsse  gegeben^). 
Nach  diesen  Autoren  kommt  die  gonorrhoische  Infektion  des  Anus 
relativ  häufig  vor,  am  mei-sten  bei  Weibern,  wo  sie  auf  dreierlei  Art 
zustande  kommt,  nämlich  erstens  durch  einen  Durchbruch  eines 
Bartholin'schen  Drüsenabscesses  ins  Rectum,  zweitens  durch  Herab- 
flicssen  des  Trippersecretes  aus  Urethra  und  Vagina  gegen  die  Anal- 
öffnung und  drittens  durch  Coitus  analis.  Bezüglich  des  letzteren 
Modus  bemerken  die  Verfasser:  „Es  ergab  sich  auch  in  unseren 
Fällen,  dass  gewiss  vorzugsweise  durch  den  Coitus  analis  das  gonor- 
rhoische Virus  auf  die  Analschleimhaut  übertrag-en  wird.  Sicherlich 
ist  diese  geschlechtliche  Verirrung  bei  den  Prostituierten  sehr 
gebräuchlich  oder  wenigstens  gebräuchlicher,  als  allgemein 
selbst  in  medizinischen  Kreisen  angenommen  wird.  In 
unseren  Fällen  hat  allerdings  nur  eine  einzige  Patientin  diesen  Akt 
zugestanden,  alle  anderen  haben  mit  mehr  oder  weniger  grosser  Ent- 
schiedenheit einen  derartigen  Vorgang  in  Abrede  gestellt,  worauf 
jedoch  naturgemäss  kein  grosses  Gewicht  zu  legen  ist". 


1)  O.  V.  Petersen,  , .Ulcus  niolle",  a.  a.- O.,  S.  434. 

2)  J.  Neumann,   ,, Syphilis",  S.  16. 

3)  J.  Neuberger    und    E.   v.   Borzecki,    ,,Ueber  Analgonorrlioe"    in:    Archiv    für 
Dermatologie    1894,   Bd.   XXIX,   S.  355 — 368. 


—     421      — 

Auf  die  häufigere  Entstehung  des  Analtrippers  durch  Pädikation 
weist  auch  dieThatsache  hin,  dass  derselbe  viel  öfters  bei  Prostituierten 
angetroffen  wird^),  als  bei  anderen  mit  Tripper  der  Genitalien  be- 
hafteten Weibern.  Deshalb  verlangt  Horand  mit  Recht,  dass  bei 
der  ärztlichen  Untersuchung  der  Prostituierten  jedes  Mal  auch  der 
Anus  sorgfältig  inspiciert  werde.  Er  fand  bei  23  analen  Ausflüssen 
in  1 1   Fällen  Gonococcen  -). 

Rollet  berichtet  über  einen  Fall  von  Analtripper  bei  einem 
Mann,  der  an  einem  Harnröhrentripper  litt  und  sich  den  Finger  in 
der  ]\Iastdarm  eingeführt  hatte  ^). 

Als  Folgezustände  der  Analgonorrhoe  nennt  Jullien  hauptsäch- 
lich Fissuren,  Condylome  und  schankröse  Geschwüre^).  Bezüglich 
der  ersteren  sei  auf  die  weiter  unten  erfolgende  Erwähnung-  verwiesen. 
Die  schankrösen  Geschwüre  theilt  Jullien  in  zwei  Formen  ein:  i.  das 
„Ulcere  mixte  blenno-chancrelleux"  und  2.  das  „Ulcere  mixte 
blenno-syphilitique".  Ersteres,  die  häufigere  Form,  verdient  als  eine 
pseudo- syphilitische  Affektion  des  Anus  Beachtung;  es  ist  nach 
Jullien  ein  durch  den  Gonococcus  und  den  Streptobacillus  ulceris 
mollis  (Unna)  gemeinschaftlich  hervorg-erufenes  Schankergeschwür. 
Jullien  hat  zahlreiche  Fälle  dieses  gemischten  Schankers  beobachtet. 

* 

Die  Fissuren  und  Rhagaden  des  Anus  müssen  auch  an  dieser 
Stelle  erwähnt  werden,  weil  sie  in  der  älteren  Litteratur  eine  grosse 
Rolle  spielen  und  in  der  That  von  vielen  Syphilishistorikern  als  Be- 
weise für  die  Existenz  der  Syphilis  im  Altertum  mit  herangezogen 
werden.  Nun  soll  keineswegs  geleugnet  werden,  dass  auch  die 
Fissuren  des  Afters  eine  Folge  der  syphilitischen  Infektion  sein 
können,  was  besonders  der  Fall  ist,  wenn  lange  bestehende  breite 
Condylome  allmählich  an  der  Oberfläche  maceriert  werden  und  die 
Haut  an  jenen  Stellen  Einrisse  bekommt.  Aber  weitaus  die 
meisten  Rhagaden  sind  nichtsyphilitischen  Ursprungs. 

Nach  Kelsey  entstehen  die  Analfissuren  nach  Verletzungen 
der  Schleimhaut  durch  harte  Kotmassen,  ferner  bei  angeborener  Enge 


i)  Vergl.  A.  Hub  er,    ,,Ueber   Blennorrhoea    recti"    in:    Wiener    med.  Wochenschr. 
1898,  Nr.  25—28. 

2)  Horand,    ,,Ueber  Blennorrhoe  beim   Weibe    und  beim  weiblichen   Kinde",    nach 
Monatshafte   1889,  Bd.  VIH,  S.  193. 

3)  Charles  B.  Kelsey,  ,, Diseases  of  the  Rectum  and  Anus",  London  1883,  S.  6g. 

4)  L.  Jullien,     ,,Considerations    ä    propos    de    la    blennorrhagie    anorectale    chez    la 
femme"    in:    Beiträge    zur    Dermatologie    und  Syphilis.     Festschrift    für    G.  Lewin,    Berlin 

1896,  s.  73—76. 


—      42-      — 

des  Orificium  ani  bei  starker  Entvvickeking  des  Sphincter  ani.  Bei 
Frauen  hat  sehr  häufig  Leukorrhoe  (durch  die  macerierende  Wirkung 
des  herabfliessenden  ^Sekretes)  Einrisse  des  Afters  zur  Folge.  Endlich 
kommen  Herpes  und  vor  allem  der  weiche,  nichtsyphilitische  Schanker 
nach  Kelsey  für  die  Aetiologie  der  Fissuren  in  der  Regio  analis  in 
Betracht,  i) 

Cullerier  beobachtete  nicht  selten  Rhagaden  des  Afters,  welche 
„durch  gewaltsame  Erweiterung  infolge  von  Vermischungen,  w^elche 
die  Natur,  die  Vernunft  und  Moral  verdammen",  hervorgebracht 
worden  waren.-) 

Da  die  chronische  Obstipation  eine  typische  Krankheit  der 
Prostituierten  ist  und  ferner  die  Pädikation  am  häufigsten  bei  den 
öffentlichen  Frauenzimmern  ausgeführt  wird,  so  dürfen  wir  erwarten, 
Analfissuren  infolge  dieser  beiden  Ursachen  häufiger  bei  dieser  Klasse 
zu  finden  als  bei  den  übrigen  Frauen.  In  der  That  v^erzeichnet 
R.  Bergh  in  jedem  Jahresberichte  über  das  Vestre-Hospital  zahl- 
reiche Fälle  von  Rhagaden  des  Afters  bei  Puellae  publicae,  die  fast 
stets  auf  habituelle  Obstipation  oder  auf  den  Coitus  analis  zurück- 
zuführen waren.  ^) 

Eine  sehr  häufig  beobachtete  Ursache  der  Fissura  ani,  besonders 
bei  Kindern,  ist  das  Ekzem  der  Regio  analis,  das  bei  Kindern  be- 
sonders nach  langandauernden  Diarrhoeen  auftritt.^) 

Die  sekundäre  Infektion  der  Analfissuren  bedingt  häufig  die 
Entstehung  von  Geschwüren  und  Absc essen  in  der  Analgegend, 
welche  durch  die  verschiedensten  Infektionserreger  hervorgerufen 
werden  können.  Besonders  kommen  hier  gonorrhoische  Prozesse  in 
Betracht.  Neuberger^)  bemerkt  über  die  Aetiologie  der  Analulce- 
rationen:  „Im  allgemeinen  neigte  man  mehr  der  Ansicht  zu,  dass  die 
Analgeschwüre  syphilitische  Prozesse  darstellen.  So  meinte  noch 
Kopp  u.  a.,  dass  ihm  „eine  luetische  Aetiologie  für  die  erwähnten 
Vorg-änge  (chronische  ausgedehnte  Ulcerationen  mit  konsekutiver  Bil- 
dung von  Narbenstrikturen)  plausibler  erscheine."  Andererseits  hat 
es  aber  auch  nicht  an  Bestrebungen  gefehlt,  die  luetische  Natur  der 
Mastdarmgeschwäire  etwas  einzuschränken.  So  hat  Ponfick  (Bres- 
lauer ärztliche  Zeitschrift  1884)  den  Coitus  praeternaturalis  für  die 
Entstehung   mancher  Anal-Ulcerationen    haftbar  gemacht,  der  wegen 


i)  Ch.   B.   Kelsey,    ,, Diseases   of  the  Recfiuii   and   Anus",   S.   i6o. 

2)  Cullerier  a.   a.   O.,  S.  64. 

3)  Vergl.  z.  B.  „Vestre  Hospital  i    1887",  S.  10  (55  Fälle). 

4)  Vergl.  Brunn  in:   Hospitals  Tidende    1892,   Bd.  VIH,  Nr.  45. 

5)  Neub erger  a.   a.   O.,   S.  365. 


—      4^3      — 

der  gefässreichen  und  infolge  der  lockeren  Befestig^ung  an  ihrer 
Unterlage  stark  gefalteten  Rektalschleimhaut  leicht  zu  Rhagaden, 
Fissuren  u.  s.  w.  führen  könne.  Vorzugsweise  war  es  aber  Poelchen 
(Virchow's  Archiv  ßd.  127  S.  189),  welcher  in  diesem  Sinne  wirkte 
und  den  Beweis  erbrachte,  dass  „Rektumverschwärung  auch  ohne 
Syphilis  vorkomme,"  und  dass  Mastdarmulcerationen  durch  Rekto- 
vaginalfisteln  und  Bartholin 'sehe  Drüsenabeesse  vermittelst  viru- 
lenten Scheidensekrets  entstehen  können."  Fink  fand  öfter  Gono- 
kokken in  Analgeschwüren.  Ebenso  Neuberger,  der  aber  annimmt, 
dass  es  sich  häufig  dabei  um  sekundäre  Infektionen  nach  Coitus 
analis  und  nach  Irritationen  durch  Kotstauungen  u.  s.  w.  handle  und 
die  Rhagaden-  und  Fissurenbildung-  stets  das  erste  Stadium  darstelle. 
Jedoch  giebt  es  auch  primäre  Fälle  von  Periproctitis  gonorrhoica. 

Der  Analrand  d.  h.  der  Uebergang  von  äusserer  Haut  in  die 
Schleimhaut  ist  überhaupt  eine  bevorzugte  Stelle  für  die  Bildung 
abscedierender  und  ulcerativer  Prozesse.  Dies  gab  Dan y au  Ver- 
anlassung zu  einer  eigenen  Monographie  über  die  Abscesse  des 
Analrandes. ') 

Was  die  eigentümlichen  Anschauung"en  Bandlers  über  die 
Aetiologie  der  meisten  Ulcerationen  der  Analgegend  bei  Prostituierten 
betrifft,  so  soll  darauf  weiter  unten  eingegangen  werden. 

Es  ist  bekannt,  dass  der  Flospitalbrand  vorzugsweise  auch 
die  Regio  analis  befällt.  Eine  andere  Art  der  Grangrän  kommt 
nach  Rille-)  bei  Frauen  in  den  Genitocruralfurchen  und  in  der  Anal- 
region unter  dem  Bilde  des  feuchten  Brandes  vor.  Hierbei  entstehen 
ausgedehnte  schmerzhafte  Geschwürsflächen  um  den  Anus,  die  zur 
Zerstörung  des  Sphincter  führen  können. 

* 

Von  anderen  entzündlichen  Affektionen  des  Afters  sei  zunächst 
des  Herpes  gedacht,  der  nicht  selten  in  dieser  Gegend  beobachtet 
wird^)  und  dann  hier  mitunter  dieselben  differentialdiagnostischen 
Schwierigkeiten  macht  wie  der  Herpes  der  Genitalien,  zumal  wenn 
er  mit  dem  letzteren  gleichzeitig  auftritt. 

Ebenso  kommen,  besonders  bei  weiblichen  Individuen,  die 
Aphthen,  oft  gleichzeitig  am  Anus  und  an  der  Vulva  vor.'*) 

Zu  den  häufigsten  Analaffektionen  g'ehören  kleinere  oder 
grössere    Furunkel   der    Perinealgegend    und    des    Analrandes.     Sie 


i)  A.   C.  Danyau,   „Des  absces  de  La  marge  de  l'anus",   Paris    1832. 

2)  Rille  a.  a.  O.,  .S.  52. 

3)  Kelsey  a.  a.  O.,  S.  162. 

4)  Siehe  oben  S.  390-391. 


entstehen  durch  Trauma  oder  eine  andere  Irritation  (Gebrauch 
unreinen  und  harten  Papiers  nach  der  Defäkation,  langes  Reiten, 
Reiz  durch  Menstrualbkit  oder  diarrhoische  und  d)^senterische  Stühle, 
Diabetes)  kommen  öfter  bei  Männern  als  bei  Frauen  und  sehr 
selten  bei  Kindern  vor.  Sie  schmelzen  rasch  eitrig  ein  und  ver- 
wandeln sich  in  kleine  Geschwüre,  i) 

Auch  Aknepusteln  sind  in  der  Regio  analis  öfter  beobachtet 
werden.  G.  Löwenbach  sah  die  „Acne  urticata"  besonders  um  den 
Anus  herum  lokalisiert. 2) 

Wichtig  als  eine  häufig  vorkommende  pseudosyphilitische 
Affektion  der  Aftergegend  ist  das  Ekzem,  besonders  in  seinen 
chronischen  Formen,  die  auffallend  breiten  Kondylomen  gleichen 
können.  Unna  bemerkt  darüber  in  seiner  grossen  Abhandlung 
über  das  Ekzem :  „Die  Diagnose  des  nässenden  Ekzems  ist  nicht 
schwer.  Doch  kann  immerhin  zuweilen  die  Unterscheidung 
von  nässenden  syphilitischen  Efflorescenzen  Schwierigkeiten 
bereiten,  besonders  wenn  die  betreffenden  Stellen  an  solchen  Orten 
vorkommen,  die  sowohl  vom  Ekzem  wie  von  der  Syphilis  bevorzugt 
werden,  wie  die  Kontaktflächen  z.  B.  der  Achselhöhle  und  der  After- 
kerbe. Zumal  wenn  beim  Ekzem  die  Akanthose  stärker  ausgebildet 
ist,  kann  die  Aehnlichkeit  mit  condylomatösen  Papeln  auf- 
fallend gross  werden".^) 

Ebenso  leicht  kann  eine  andere  erythematöse  und  papulosa 
Affektion  des  Afters  mit  Syphilis  verwechselt  werden,  die  bei  kleinen 
Kindern  vorkommt  und  auf  welche  zuerst  französische  Autoren 
(Jaquet,  Schwartz,  Sevestre,  Besnier)  die  Aufmerksamkeit  ge- 
lenkt haben:  das  sogenannte  „Syphiloide  post-erosi  ve"  oder 
„Syphiloide    infantile"    oder   „Erytheme   papuleux   fessier   post  -  erosif '. 

Jarisch  giebt  nach  den  Mitteilungen  der  französischen  Autoren'^) 
von  dieser  früher  wohl  sehr  häufig  als  syphilitisch  angesprochenen 
Affektion  folgende  Schilderung: 


1)  Kelsey  a.  a.  O.,  S.  71 — 72;  Krüche,  „Spezielle  Chirurgie",  10.  Aufl.,  Leipzig 
1899,   S.  233;   R.  W.    Ramsey  in:   Monatshefte    1895,   Bd.   XXI,   S.  99. 

2)  G.  Löwenbach,  ,,Ueber  Akne  u.  s.  w."  in:  Archiv  für  Dermatologie  1899, 
Bd.  XLIX,  H.  I. 

3)  P.  G.  Unna,  ,, Ekzem"  in:  Mracek's  Handhucli  der  Hautkrankheiten,  Wien 
1902,   Bd.   II,   S.  281. 

4)  E.  Besnier,  , .Syphilis  infantile  (Syphilides  et  syphiloidesj"  in:  Annales  de  Der- 
matologie 1887,  p.  658  ff.;  L.  Jaquet,  „De  Tery-theme  papuleux  fessier  post- erosif"  in: 
Revue  mensuelles  des  maladies  de  l'enfance  1886;  derselbe,  „Des  syphiloides  erosives, 
etude  de  pathologie  cutanee  infantile",  These  de  Paris  1888;  M.  Schwartz,  ,,Dermatoses 
liees  aux  troublcs  gastro-intestinaux  chez  les  enfants",  These  de  Paris  1892;  Sevestre, 
„Ueber  das  Erylhema  papulosum  des  Gesässes"  in  Gazette  hebdomad.    1887. 


■      —     425      — 

„Die  Affektion  entwickelt  sich  unter  dem  Einflüsse  diarrhoischer 
Stühle  und  des  Urins  in  Form  von  Bläschen,  welche  sich  successive 
entwickeln  und  platzen.  Ein  Theil  derselben  überhäutet,  ohne  zu 
weiteren  Veränderungen  zu  führen,  bei  einem  andern  Teile  verhärtet 
die  Basis  und  es  bilden  sich  blau-  bis  braunrote,  hanfkorn-  bis  bohnen- 
grosse,  harte,  glänzende,  in  ihrer  Mitte  erodierte  oder  wieder  über- 
häutete und  daselbst  leicht  deprimierte  Knoten,  deren  Epidermis  in 
der  Peripherie  leicht  gefältelt  erscheint,  und  welche  sich  in  der  Anal- 
gegend und  an  den  Nates,  dem  Mittelfleische,  Scrotum  oder  den 
Schamlippen  lokalisieren.  —  Ihr  Sitz,  ihre  zentrale  Depression,  ihr 
Glanz ,  ihre  gelegentliche  Härte  imd  der  Umstand,  dass  sie  nicht 
selten  zu  kreisförmigen  Linien  aneinandergereiht  sind,  macht  sie 
syphilitischen  Efflorescenzen  ausserordentlich  ähnlich,  und 
in  einem  Fall  meiner  Beobachtung  war  die  Diagnose  eines 
Primäraffektes  sehr  nahegelegt.  —  Die  Kenntnis  dieser,  übrigens 
unter  entsprechender  Reinlichkeit  und  entsprechender  Behandlung  in 
der  Regel  innerhalb  ein  bis  zwei  Wochen  abheilenden  Affektion  er- 
scheint demnach  von  einiger  Wichtigkeit"^). 

Von  den  bei  Allgemeinleiden  auftretenden  Affektionen  der 
Aftergegend  verdienen  nur  die  tuberculösen  Hautkrankheiten  eine 
Erwähnung,  weil  sie  zu  den  häufigeren  Hautaffektionen  dieser  Region 
gehören. 

Kelsey  unterscheidet  zwei  Formen  der  tuberkulösen  Anal- 
geschwüre; die  erste  ist  eine  direkte  Wirkung-  des  Tuberkelbacillus, 
die  zweite  ist  nur  eine  „Ulceration  bei  Tuberkulösen".  Das  echte 
tuberkulöse  Geschwür  ist  nach  Kelse}^  selten.  Es  occupiert  meist 
den  Analrand  und  bietet  alle  Charaktere  eines  chronischen  Ulcus  dar, 
die  andere,  häufigere  Form  ist  mehr  entzündlicher  Natur,  welche 
häufig  durch  traumatische  Veranlassungen  hervorgerufen  wird,  und 
gewöhnlich  sich  durch  starke  purulente  Sekretion  auszeichnet.  Als 
eine  dritte  Art  tuberkulöser  Ulcerationen  der  Analgegend  kann  man 
auch  den  sogenannten  „Esthiomene"  des  Anus  (Lupus  exedens  der 
Regio  analis)  anführen,  welcher  meist  mit  Hypertrophieen  kompli- 
ziert ist  und  vom  Perineum  ausgeht,  auch  bei  Weibern  öfter  be- 
obachtet wird  als  bei  Männern.  Gerade  diese  letztere  Art  von  Ge- 
schwüren gleicht  syphilitischen  Schankern  bisweilen  in  einer  täuschenden 
Weise  2). 

1)  A.  Jarisch,    ,, Hautkrankheiten",   Wien    1900,  S.  268  —  269. 

2)  Kelsey  a.  a.  O.,  S.  162  — 165;  Mazaiakis,  „Contribution  ä  l'etude  du  traite- 
ment  et  de  l'etiologie  de  l'esthioniene  de  la  region   vulvo-anale",   These  de  Paris    1894. 


—      4^6      — 

Die  Tuberkulose  der  Regio  analis  führt  nicht  selten  zu  starken 
Wucherungen,  die  kond3'lomartigen  Charakter  annehmen.  Ueber 
solche  Fälle  von  tuberkulösen  Papillomen  der  Aftergegend  be- 
richtete u.  a.  RiehP),  ferner  Csillag,  der  bei  einem  Patienten  nach 
tuberkulöser  Periproctitis  das  Auftreten  solcher  Wucherungen  in  der 
Perianalgegend  beobachtete-). 


Eine  sehr  grosse  Bedeutung  für  die  Lehre  von  den  pseudo- 
syphilitischen Affektionen  besitzt  die  Thatsache,  dass  die  Regio  analis 
in  einem  hohen  Masse  einen  Prädilektionsort  für  die  Entstehung  v'on 
hypertrophischen  Bildungen  der  verschiedenartigsten  Aetiologie 
bildet. 

Neuerdings  hat  Bandler  in  einer  sehr  wenig  überzeugenden 
Abhandlung  zu  erweisen  versucht,  dass  alle  diese  Hypertrophieen  der 
Analgegend,  die  „Plicae  anales  hypertrophicae"  mit  ihren  sekundären 
Geschwüren  und  Rhagaden,  wenigstens  bei  Prostituierten  auf  .S^^philis 
zurückgeführt  werden  müssten''),  wobei  er  aber  auch  die  Blutstauung 
durch  habitulle  Obstipation  und  sonstige  Irritamente  als  mögliche 
Ursachen  dieser  Hypertrophieen  anspricht. 

Man  findet  aber  dieselben  hypertrophischen  Bildung-en 
auch  bei  Individuen,  die  niemals  Syphilis  gehabt  haben,  und 
nach  den  mir  mitgeteilten  Erfahrungen  von  G.  Behrend  haben  diese 
„Mariscae"  und  „Cristae"  auch  bei  den  Prostituierten  nichts  mit 
S3'philis  zu  thun. 

Schon  Astruc^)  bringt  dieEntwickelung  der  analen  Hypertrophieen, 
die  von  den  Alten  unter  dem  Namen  „cristae",  „thymi",  „fici", 
„mariscae"  etc.  beschrieben  w^urden,  mit  dem  Vorgange  der  De- 
fäkation  und  der  passiven  Pädikation  in  Verbindung. 

„Prima  cristarum  rudimenta  in  ano  apparent,  quoties  ultra  tonum 
an  US  vi  saepius  distrahitur  vel  a  versa  venere,  vel  violenta 
duriorum  faecum   egestione;   dum    enim    diducta    cutis  sibi  denuo 


i)  G.  Riehl,  „Beiträge  zur  Kenntnis  der  Hauttuberkiilose",  Wiener  klinische 
Wochenschrift   1894,  Nr.  31. 

2)  Csillag,  „Ein  Fall  von  Tuberculosis  perinei",  Referat  in:  Monatshefte  1892, 
Bd.  XXIX,  S.  122 — 123.  Vergl.  ferner  Marianelli,  „Tuberkulöse  Hautulcerationen  am 
Perineum"  in:  Giornale  italiana  delle  malattie  veneree  e  della  pelle  1888,  Heft  i  (Referat 
in:  Monatshefte  für  Dermatologie   1888,  Bd.  VII,  S.  933 — 934). 

3)  Victor  Bandler,  „Ueber  die  venerischen  Affektionen  der  Analgcgend  bei  Pro- 
stituierten" in:  Archiv  für  Dermatologie  1898,  Bd.  XLIII  u.  XLIV  (Festschrilt  für  F. 
J.  Pick),  S.    19 — 30. 

4)  J.   Astruc,  ,,De  morbis  venereis  libri   novem",   Paris    1740,   Bd.   I,   S.   392. 


permittitur,  laxata  in  sese  concidit  atque  in  plicas  pendulas  corru- 
gatur.  Leviores  illae  plicae  sese  in  dies  paulatim  promittunt  in 
cristas,  quoniam  stagnante  lympha  uberius  nutriuntur.  Stagnat 
autem  in  iisdem  Ivmpha  causa  gemina,  i.  Visciditate,  quam  habet 
seu  ab  admixto  contagio  venereo,  seu  ab  alia  quacunque  causa, 
unde  fit  ut  aegrius  progrediatur ,  2.  Nimia  partis  ipsius  mollitie, 
unde  fit  ut  debilius  propellatur. 

Hinc  ergo  liquet  cristas  legitimas  luem  veneream  et  muliebrem 
patientiam  frequenter  quidem,  sed  non  semper  arguere." 

Hierbei  muss  berücksichtigt  werden,  dass  hier  Astruc  unter 
„Lues  venerea"  wesenthch  die  „Gonorrhoea  venerea"  versteht,  deren 
infektiöses  Sekret  bei  der  Päderastie  die  Haut  und  Schleimhaut  zu 
diesen  Bildungen,  die  er  dann  noch  weiter  in  die  obengenannten 
Formen  zergliedert,  anregt. 

Aehnlich  urteilt  Girtanner  über  die  Aetiologie  der  gewöhn- 
lichen Hypertrophien  des  Afters.  Er  sagt  beim  Abschnitte  „Aus- 
wüchse aller  Art  am  After  (fici,  mariscae,  thymi,  mora,  fraga,  cristae^ 
rhagades)":  „Fici  und  mariscae  heissen  grosse,  runde,  unebene,  auf 
einem  Stiel  aufsitzende  Warzen,  sind  sie  kleiner,  so  werden  sie  thymi, 
mora,  fraga  u.  s.  w.  genannt.  Alle  diese  Warzen  sehen  bleich  und 
weiss  aus,  wie  die  Haut,  auf  welcher  sie  sitzen.  Zuweilen  gehen  sie 
in  Entzündung  und  Eiterung  über  und  verursachen  eine  Mastdarm- 
tistel.  Cristae  werden  runde,  rauhe,  herabhängende,  lange  Zapfen 
genannt,  welche  weich  sind  und  einige  Aehnlichkeit  mit  einem 
Hahnenkamme  haben.  Auch  diese  entzünden  sich  zuweilen  und  gehen 
in  Eiterung  über.  Diese  Auswüchse  entstehen  zuweilen  von  dem  aus 
venerischen  Schankern  ausfliessendem  Eiter,  das,  bei  unreinlichen  Per- 
sonen, leicht  durch  Kleidungsstücke  an  den  After  gebracht  werden 
kann.  Zuweilen  entstehen  die  Schwielen,  ohne  alle  vorhergegangene 
Ansteckung,  blos  durch  die  Ausdehnung,  welche  harte  Excremente 
verursachen.  Aber  in  den  meisten  Fällen  sind  diese  Auswüchse  und 
Schwielen  am  After  nur  zu  deutliche  Beweise  eines  verabscheuungs- 
würdigen  Lasters,  das  ich  nicht  nennen  mag"M. 

Nach  neueren  sorgfältigen  Beobachtungen  ist  die  Päderastie  nur 
eine  Ursache  dieser  „Mariscae"  des  Afters,  welche  schon  an  der  be- 
kannten, später  zu  erörternden  Stelle  des  Juvenal  als  Zeichen  der 
erduldeten  Pädikation  gedeutet  werden.  So  hatte  der  erfahrene 
Tarnowsky  allerdings  Gelegenheit,  „an  habituellen  Kyneden,  be- 
sonders   an    prostituierten,    die    zuweilen    den    Akt   der  Sodomie    (Pä- 


I)   C.   Girtanner,   ,,Abliandluiig  über  die  venerische  Krankheit",  Bd.  I,  S.  234  —  235. 
Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  28 


—     428     — 

derastie)  mehrmals  an  einem  Tag  begehen,  die  Bildung  warzenförmiger 
Auswüchse  am  Rand  des  Orificium  ani,  an  den  radiären  Falten  der 
Haut  und  sogar  an  den  Wänden  des  Rectums  selbst  zu  beobachten. 
Doch  noch  häufiger  entstehen  solche  Gebilde  unabhängig  von  der 
Sodomie.  Bei  katarrhalischer  Entzündung  des  Rectums,  die  bei 
Kindern  durch  die  Anwesenheit  von  Würmern  bedingt  wird,  bei 
hämorrhoidalen  Leiden  Erwachsener,  bei  Pruritus  analis  im  Greisen- 
alter bilden  sich  eben  solche  Papillome"  i). 

Dem  entsprechend  sind  jene  kondylomartigen  Hypertrophien 
des  Anus  Ijei  den  verschiedensten  krankhaften  Zuständen  beobachtet 
worden,  unter  denen  natürlich  auch  solche  durch  Päderastie  hervor- 
gerufene eine  Rolle  spielen. 

Fritsch  beobachtete  bei  Hypertrophia  vulvae  lymphatischen 
Ursprungs  gleichzeitig  einen  „dicken  Kranz  rissiger  Wulstungen  um 
den  Anus",  ohne  dass  die  betreffenden  weiblichen  Personen  syphili- 
tisch waren  oder  gewesen  waren  '^). 

Ferner  bemerkt  derselbe:  „Bei  Urinfisteln  findet  man  oft  die 
Vulva  bis  zum  After  hin  entzündet,  geschwollen  und  ödematös. 
Die  Haare  sind  mit  harnsauren  Salzen  incrustiert,  und  die  Haut  kann 
so  hypertrophieren,  dass  hahnenkam  mähnliche  Geschwülste 
und  Schwarten  in  den  Falten  sich  bilden"^'). 

Was  oben  von  den  so  sehr  verschiedenen  Ursachen  der  Bildung 
der  sogenannten  „venerischen",  nichtsyphilitischen  Vegetationen  („spitze 
Condylome")  an  den  Geschlechtsteilen  gesagt  wurde,  gilt  durchaus 
auch  von  den  analogen  (jeschwülsten  der  Aftergegend.  Auch  hier 
entstehen  die  Vegetationen  und  papillomatösen  Bildungen  nach  Ein- 
wirkung verschiedener  Irritamente.  Sehr  gut  hat  Campana-*)  in 
seinen  geistreichen,  zahlreiche  wertvolle  Beobachtungen  enthaltenden 
„Frammenti  di  Dermatologia"  diese  so  sehr  differenten  aetiologischen 
Momente  für  die  Genesis  dieser  Vegetationen  des  Afters  zusammen- 
gestellt: 

„Neir  ano  si  vcrificaiio  spesso  queste  vegetazioni.  Cola  ha  luogo  soventi  Stasi  san- 
"uigna,  per  uno  stato  meccanico,  dipendente  da  feci  dure  neu'  intestino,  da  vizi  epatizi,  da 
elmintiasi,  da  alterata  niitrizione  dei  vasi  sanguigni  iiella  gotta  od  altro,  che  non  (anno  veri- 
ficare  facihnente  la  circolazione  di  rilorno  peiianale;  ciö  avviene  piu  di  tutto  nei  gottosi, 
negli  alcoolizzati,   in   (jiulli   con   distinbi   nevropatici  vasali. 


1)  P.   Tarnowsky,    „Die  kiankhaflen   Erscheinungen   des   Geschlechtssnines",    Berhn 
1886,  S.  12;. 

2)  Fritsch  a.   a.   O.,  S.  51. 

3)  Ibidem,  S.  53. 

4)  R.  Campana,  ,, Frammenti  di  Dermatologia",  Genua   1899,  S.  116. 


—      42Q      — 

Con  la  Stasi  si  ha  l'esfoliazzione  epiteliale  perianale  e  della  mucosa,  e  la  lacerazione 
deir  epitelio,  sotto  forma  di  ragadi,  formatesi  pel  distendimento  dell'  organo,  per  il  pas- 
saggio  forzato  delle  fecce;  da  ciö  iperplasia  del  tessuto  connettivo  e  dello  epitelio  rettale  ed 
anale,  ed  essudazione.  Soventi,  qiiesti  fenomeni  anatomici,  assumono  il  carat- 
tere  di  una  eruzione  condilomatosa,  a  vegetazioni  multiple  villiformi.  Si 
hanno  fatti  identici  nella  iiretra,  sul  faringe,  sulla  congiuntiva,  nella  sclineideriana,  negli  inter- 
femori,   sul  cuoio  capelluto  ecc. 

Oueste  vegetazioni,  asportate,  e  curate  le  altre  alterazioni,  che  le  complicano,  non 
lasciano  infezione,  ne  conseguenze  di  sorta.  Nella  donna  si  pun  verificare 
questa  eruzione,  accompagnata  o  non,  da  uretrite  iperplastica  diffusa,  e,  piü  di  frequente, 
accompagnata  da  essudazione  catarrale." 

Auch  aus  diesen  Beobachtungen  ergiebt  sich,  was  übrigens 
auch  Koch  und  Tschlenoff^)  in  neueren  Arbeiten  hervorgehoben 
haben,  dass  Bandler's  Ansicht  von  der  ausschhesslich  syphihtischen 
Aetiologie  der  Analhypertrophieen  unhaltbar  ist. 

Ferner  wird  diese  Anschauung  mit  aller  Sicherheit  durch  jene 
Beobachtungen  der  Entstehung  von  Vegetationen  und  Hypertrophieen 
bei  gesunden  Individuen  und  nach  rein  mechanischen  und  chemi- 
schen Eingriffen  widerlegt.  Von  Interesse  in  dieser  Beziehung  ist 
eine  Diskussion  in  der  ungarischen  dermatologischen  Gesellschaft 
vom  26.  Januar  1899,  im  Anschlüsse  an  einen  von  A.  Alpar  vor- 
gestellten Fall.  Bei  einem  42jährigen  Manne  war  die  Analöff- 
nung durch  ausgebreitete  papillomatöse  Wucherung'en  verlegt.  Vom 
Sphincter  bis  zum  Gesässrande  sah  man  zahlreiche  haselnussgrosse, 
papillomatöse  Geschwülste,  welche  stellenweise  hahnenkammähnliche 
Figuration  zeigten.  Das  Leiden  bestand  seit  drei  IMonaten.  Der 
Patient  bemerkte  damals  in  der  Analöffnung  ein  erbsengrosses  Ge- 
schwülstchen. Alpär  konnte  für  die  mächtige  Wucherung  dieser 
Papillome  in  diesem  Falle  schwer  eine  Erklärung  finden,  da  irgend- 
welche irritierenden  Produkte  sowohl  seitens  des  Darmes  als  auch 
seitens  der  perianalen  Haut  nicht  nachweisbar  waren.  Der  Patient 
hatte  nie  an  irgendwelcher  akuten  oder  chronischen  Darmerkrankung 
gelitten.  Durch  öfter  vorgenommene  mikroskopische  Untersuchung 
des  rektalen  »Sekrets  konnte  die  Blennorrhoe  ausg'eschlossen  werden. 
Auch  irgend  ein  Macerationsprocess  in  der  Perianalregion  war  nicht 
vorhanden.  In  der  Diskussion  berichtete  Weiss  über  einen  ähnlichen 
Fall  von  dunkler  Aetiologie,  wo  bei  einer  11  jährigen  gesunden  Virgo 
intacta  kopfgrosse  Papillome  des  Afters  ohne  nachweisbare  Reizung 
entstanden.  Demgegenüber  hat  Rona  bei  einem  16jährigen  jungen 
Mann     derartige    Wucherungen     gesehen,     der     eingestand,     dass    er 


i)   M.  Tschlenoff,    ,, Syphilis   und   Elephantiasis  vulvae"   in:   Med.   Obosrenje    1902, 
Nr.    II. 

28* 


—     430     — 

Päderast  sei.  Havas  suclite  die  ersten  Fälle  durch  die  Annahme 
zu  erklären,  dass  die  papilläre  H3^pertrophie  durch  die  Anhäufung- 
des  Schweisses  und  durch  Maceration  infolge  von  Intertrigo  ent- 
standen sei  ^). 

Oft  können  diese  gänzlich  unschuldigen  Vegetationen  völlig  den 
syphilitischen  Condylomata  lata  gleichen.  Einen  merkwürdigen  Fall 
dieser  Art  beobachtete  Brouardel^).  Er  sah  in  P'ournier's  Ab- 
teilung einen  jungen  Mann,  der  der  passiven  Päderastie  ergeben  war 
und  um  den  Anus  herum  aus  einem  Herpes  hervorgegangene  Herde 
hatte,  die  durchaus  wie  „Plaques  muqueuses"  aussahen,  obgleich  der 
Patient  keine  Syphilis  hatte.  Diese  eigentümhchen  Gebilde  ver- 
schwanden   sehr    schnell    nach  Applikation    einer  einfachen   Zinkpaste. 

Auch  das  sogenannte  „Papilloma  ani  der  Chirurgen"  gehört 
hierher.  Albert,  der  eine  Abbildung  davon  giebt"),  bemerkt  über 
dasselbe:  „Es  tritt  ohne  jeden  Zusammenhang  mit  einer  vene- 
rischen Infektion  auf,  und  Esmarch  sah  eines,  das  in  Erbsen- 
grösse  schon  auf  die  Welt  gebracht  wurde.  Ein  bei  Weibern  noch 
ausgebreiteteres  als  das  hier  abgebildete  sah  ich  auf  der  v.  Dumre ich  er- 
sehen Klinik;  es  war  fast  so  gross,  dass  es  auf  einer  Seite  des  Afters 
die  Fläche  einer  aufgedeckten  Hand  bedeckte,  während  es  auf  der 
anderen  Seite  eine  etwa  halb  so  grosse  Fläche  einnahm.  .  .  Häufig 
folgt  der  Abtragung  oder  Wegätzung  dieser  Gebilde  kein  Recidiv; 
ich  sah  aber  auch  schon  hartnäckige  Recidiven". 

Ferner  muss  an  dieser  Stelle  eine  die  Geschlechtsteile  und  die 
Regio  analis  gleichmässig  befallende  Krankheit  der  Tropen  erwähnt 
werden,  dass  sogenannte  „venerische  Granulom"  (groin  ulceration, 
ulcerating"  granuloma  of  the  pudenda,  chronic  venereal  sores),  welches 
besonders  in  Ostindien,  Fiji,  Melanesien,  Nordaustralien  und  Neu- 
Guinea  vorkommt. 

„Das  Leiden  stellt  sich  dar  als  eine  hellrote,  glänzende,  leicht 
blutende  Granulationsmasse  von  verschiedener  Ausdehnung,  welche 
eine  dünne,  leicht  blutig  gefärbte  Flüssigkeit  absondert  und  einen 
fötiden  Geruch  verbreitet""^). 


i)  Referat  in:   Monatshefte   für  Dermatologie    1899,   Bd.  XXVIII,   S.  413. 

2)  G.   Brouardcl,     „Lesions    lierpetiqiies    simulant     des     plaqiies     muqueuses"     in: 
Gazette  hebdomadaire  de  medecine    1897,   Nr.  8,   S.  87. 

3)  E.   Albert,   ,, Lehrbuch  der  Chirurgie",    Wien   und   Leipzig  1885,   Bd.  III,   S.  547 
(Fig.   109)   und  S.  545. 

4)  B.   Schcube,    ,,Die   Krankheiten    der    warmen   Länder",    2.   Auflage,    Jena    1900, 
S.   605. 


—     431      — 

Der  Sitz  der  Krankheit  sind  in  der  Regel  die  Genitalien  und 
ihre  Umgebung,  Pubes,  Unterleib,  Leistengegend,  Oberschenkel, 
Damm,  Umgegend  des  Afters  hinauf  bis  zum  Steissbein  und 
Gesäss.  Diese  Granulationsgeschwulst  ist  k  o  n  t  a  gi  ö  s  und  autoincolubabel, 
tritt  immer  erst  nach  der  Pubertät  auf  und  wird  demgemäss  häufig 
durch  den  Beischlaf  übertragen  i). 

Von  der  Framboesia  tropica,  welche  ja  in  der  Aftergegend 
typische  „breite"  Condylome   erzeugt,  wird  weiter  unten  die  Rede  sein. 

Dass  Hämorrhoiden  die  Entstehung  von  Analhypertrophieen 
begünstigen,  wurde  bereits  oben  (S.  403)  hervorgehoben.  Aber  auch 
der  hämorrhoidale  Zustand  selbst  bietet  sehr  häufig  eine  auffällige 
Aehnlichkeit  mit  condylomatösen  Bildungen  dar. 

Zunächst  kann  selbst  ihre  Aetiologie  eine  scheinbar  venerische 
sein.  So  pflegten  sich  bei  einem  meiner  Patienten  regelmässig  nach 
in  kurzer  Zeit  öfter  wiederholtem  Beischlaf  äussere  Hämorrhoidal- 
knoten einzustellen,  die  ebenso  reg'elmässig  bei  einer  darauf  folgenden 
geschlechtlichen  Abstinenz  von  selbst  wieder  verschwanden.  Eich- 
horst hat  ebenfalls  diese  Beobachtung  gemacht  und  erklärt  die  Ent- 
stehung von  Hämorrhoiden  durch  geschlechtliche  Excesse 
daraus,  dass  dabei  übermässige  Blutwallungen  zum  Gebiete  der  Mast- 
darmvenen zustande  kommen-). 

Besonders  im  Orient,  wo  ja  Hämorrhoiden  in  ausserordentlicher 
Frequenz  als  ein  endemisches  Leiden  auftreten'^),  wird  ihr  Auftreten 
im  Anschlüsse  an  geschlechtliche  Excesse  sehr  häufig  beobachtet, 
wie  schon  aus  den  Schriften   der  arabischen  Aerzte  hervorgeht. 

Wichtiger  aber  ist,  dass  viele  Hämorrhoiden  ein  typisches 
Warzen-  und  condylomartiges  Aussehen  darbieten. 

Der  ältere  Cullerier  bemerkt:  ,.Es  sitzen  zum  Beispiele  Hahnen- 
kämme und  Condylomata  am  After,  bestehen  eine  Zeit  lang  fort, 
werden  weich  und  verschwinden  zum  Teil  auf  den  örtlichen  Gebrauch 
erweichender  und  öliger  Mittel;  früher  waren  Hämorrhoidalknoten 
vorhanden,  und  man  sieht  keine  Spur  von  Lustseuche  mehr:  in  einem 
solchen  Falle  darf  man  nicht  mehr  zweifeln,  dass  die  Auswüchse 
nichts  weiter  als  Hämorrhoidalknoten  sind"^). 


i)  Ibidem,  S.  605 — 608. 

2)  H.  Eichhorst,  Artikel  „Hämorrhoiden"  in:   Eulenl^urg's  ,,Real-Encylclopädie", 
3.   Aufl.,   Bd.  IX,   S.  466. 

3)  A.   Hirsch,    „Handbuch    der    historisch-geographischen   Pathologie",    2.   Auflage, 
Stuttgart    1886,   Bd.  III,   S.  313. 

4)  Cullerier  a.  a.   O.,  S.  96. 


-      43  2      — 

Kelsey  unterscheidet  direkt  zwei  Formen  von  Hämorrhoiden, 
I.  den  venösen  Tumor,  2.  die  daraus  sich  entwickelte  Hauthyper- 
trophie, welche    man    auch    als    „Cond^dom"    bezeichnet^). 

Sehr  bedeutungsvoll  sind  die  Beobachtungen  des  erfahrenen  Eich- 
horst über  das  Aussehen  der  Hämorrhoiden.  Zunächt  unterscheidet  auch 
er  knotenartige,  von  normaler  Haut  bedeckte  Anschwellungen  von  den 
warzenartigen  Hämorrhoiden,  bei  denen  die  Epidermis  selbst  ver- 
dickt ist^).  Dann  aber  schildert  er  die  Umwandlung  dieser  Gebilde 
in  jene  Form  der  Hypertrophie,  welche,  wie  er  ganz  richtig  erkannt 
hat,  die  Alten  unter  dem  Namen  „Mariscae"  beschrieben  haben, 
worunter  sie  ähnliche  Hypertrophien  verschiedener  Provenienz  ver- 
standen. Eichhorst  sagt:  „In  Fällen,  in  welchen  sich  eine  bedeutende 
Hyperplasie  des  den  After  umgebenden  Bindegewebes  ausgebildet 
hat,  kann  es  sich  ereignen,  dass  die  von  ihnen  umschlossenen  Er- 
weiterungen der  hämorrhoidalen  Venen  von  der  allgemeinen  Cirkulation 
ausgeschlossen  werden  und  teilweise  nach  vorausgegangener  Throm- 
bosenbildung obliterieren  oder  sich  zum  Teil  in  kystenartige  und  mit 
blutigem  oder  mit  mehr  serösem  Inhalte  erfüllte  Räume  umwandeln. 
Man  findet  alsdann  denAfter  von  prom  ini  erenden  Wucher- 
ungen umgeben,  welche  ein  condylomartiges  Aussehen 
darbieten  und  von  den  älteren  Aerzten  als  Mariscae  be- 
nannt wurden. "2) 

Dass  diese  , .Mariscae",  diese  ,, blinden  Hämorrhoiden"^)  sich  be- 
sonders häufig  auch  bei  den  der  passiven  Päderastie  ergebenen  Individuen 
entwickeln,  ist  erklärlich,  und  dieser  Umstand  ist  ebenfalls  geeignet, 
gewisse  Stellen  bei  antiken  Schriftstellern  zu  beleuchten.  Mit  Bezug 
hierauf  sagen  die  Gerichtsärzte  Hof  mann  und  Dittrich:  „Die  Ma- 
riscae und  Cristae  der  Alten  sind  Vorwölbungen  der  Afterschleimhaut, 
welche  entweder  in  Form  von  Knoten  oder  hahnenkammartigen  Ge- 
bilden auftreten  oder  einen  prolapsartigen  Saum  (Casper)  darstellen. 
Eine  genauere  Untersuchung  dieser  Gebilde  hat  in  der  Regel  nicht 
stattgefunden,  und  es  ist  begreiflich,  dass  dieselben  ebenso  gut  nur 
Hämorrhoidalknoten  als  wirkliche  Wucherungen  der  Schleimhaut  oder 
eine  Vorstülpung  der  letzteren  gewesen  sein  konnten.  Hämorrhoidal- 
knoten sind  allerdings  für  sich  allein  nach  keiner  Richtung  beweisend, 
doch  ist  es  begreiflich,  wenn  sie   bei  habituellen  Päderasten  sich  ent- 


i)  Ktlsey  a.  a.  O.,    S.   92. 

2)  Eichhorst  a.   a.   O.,  S.   468. 

3)  Ibidem,   S.   464 — 469. 

4)  Vergl.  J.   Hyrtl,   , .Topographische  Anatomie",   "Wien    1882,   S.    155 — 156. 


433 

wickeln,  da  durch  jede  Reizung  des  Sphincter  ani  die  Venae  haemor- 
rhoidales  coinprimiert  werden.  Ebenso  muss  man  zugestehen,  dass 
der  wiederholte  mechanische  Insult  sowohl  Wucherungen  der  Schleim- 
haut als  auch  prolapsusartige  Vorstülpungen  derselben  bewirken  kann."^) 

Bisweilen  geben  Hämorrhoiden  Anlass  zu  Geschwürbildung  am 
After,  wie  dies  schon  v.  Embden  beobachtet  hat. 2) 

Von  den  eigentlichen  Neoplasmen  des  Afters  sind  u.  a.  Fi- 
brome beobachtet  worden,  die  zur  Ulceration  neigen  (Curling, 
Hovel)-^).  Franks  constatierte  bei  einem  66jährigen  Manne,  der 
lange  Zeit  an  Obstipation  gelitten  hatte,  grosse,  mehr  oder  weniger 
gestielte,  den  Anus  vollständig  umgebende  Tumoren.  Diese  Anal- 
fibroide  wuchsen  augenscheinlich  vom  Afterrande  aus  ^). 

Nicht  gar  so  selten  sind  Lipome  der  Regio  perineo-analis. 
Es  liegen  Beobachtungen  darüber  von  Esmarch,  Weiss,  Böse, 
Molliere,  Spencer  Wells,  Molk  u.  a.^)  vor.  Eine  besondere  Ab- 
handlung über  die  Lipome  des  Dammes  schrieb  Lejars,  aus  welcher 
hervorgeht,  dass  sowohl  die  perinealen  als  die  perianalen  Lipome 
manchmal  an  der  Oberfläche  verschwären ''). 

Ebenso  werden  öfter  angeborene  Cysten  in  der  Perineal-  und 
Analgegend  beobachtet  (Kelsey,  Lejars,  Danzell,  Perrin). 

Endlich  kommen  Sarkome  und  Carcinome  in  der  After- 
gegend vor,  die  nicht  selten  eine  syphilitische  Geschwulst  vortäuschen 
können.  Bezeichnend  dafür  ist  ein  von  Du  Castel  beobachteter 
Fall.  Es  handelte  sich  um  eine  junge  Frau,  die  in  der  rechten  Glu- 
täalgegend,  dicht  bei  der  Rima  ani  ein  grosses,  an  seiner  Basis  stark 
verhärtetes  Geschwür  aufwies,  welches  man  anfangs  für  ein 
ulceriertes  Syphilom  hielt,  bis  die  genauere  Untersuchung  die 
sarkomatöse  Natur  desselben  ergab  '). 


1)  E.   Hofmann  und  Dittrich,    Anikel   ,, Päderastie"   in:   Eulen  buri^ 's  ,,EncykIo- 
pädie",  Bd.  XVIII,  S.   206. 

2)  V.   Embden  a.  a.   O.,  S.   382. 

3)  Kelsey  a.  a.  O.,   S.    149. 

4)  K,  Franks,   ,, Ungewöhnlich  grosse  Analfibroide"  (British   Medical  Journal    1894, 
3.   Nov.),   Referat  in:   Monatshefte    1895,  Bd.   XXI,   S.    189. 

5)  Kelsey  a.  a.   O.,   S.    150. 

6)  Lejars  in:   Annales  des  nialadies  des  organes  genito-urinaires    1897,   Nr.   4. 

7)  Du  Castel,    „Ueber    ein    Sarkom    des    Afters''    nach:     Monatshefte    für  Derma- 
tologie  1895,  Bd.  XX,  S.  398—399. 


—      434      — 

§  3o     Die  pseudosyphilitisehen  Affektioneii  der  Mundhöhle, 
des  Rachens  und  der  Xase. 

Eine  Prädilectionsstelle  für  das  Auftreten  der  syphilitischen 
Krankheitserscheinungen  bildet  die  zarte,  mannigfaltigen  Reizungen 
ausgesetzte  Schleimhaut  der  Mundhöhle  und  des  Rachens.  „Nächst 
der  allgemeinen  Decke,"  sagt  Neumann  i),  „giebt  es  kein  Organ  oder 
Organteil,  welches  von  der  Syphilis  in  allen  ihren  Stadien  so  häufig 
ergriffen  wird  wie  die  Schleimhaut  der  Mundhöhle  und  des  Rachens. 
Die  mechanischen,  chemischen  und  thermischen  Reize,  denen  die 
Schleimhaut  dieser  Bezirke  ausgesetzt  sind,  möglicherweise  auch  der 
Einfluss  der  in  grosser  Menge  in  der  Mundhöhle  vorkommenden 
Bakterien  erklären  zur  Genüge  die  grosse  Häufigkeit  der  syphili- 
tischen Affektionen  dieser  Organe." 

Aber  ebendieselben  Eigentümlichkeiten  sind  auch  die 
Ursache  der  nicht  minder  grossen  Frequenz  syphilisähnlicher 
Erkrankungen  der  Mundhöhle,  die  hier  um  so  grössere  differential- 
diagnostische Schwierigkeiten  bereiten,  als  selbst  die  specifisch  syphi- 
litischen Affektionen  der  Mundhöhle  hier  in  anderer  Weise  auttreten 
als  an  den  übrigen  Stellen  des  Körpers.  Die  Blasen-  und  Pustel- 
formen der  Haut  erfahren  „durch  die  abweichende  Beschaffenheit  des 
Grundgewebes,  durch  äussere  Einwirkung  wie  erhöhte  Temperatur, 
permanente  Befeuchtung,  Druck  und  Reibung,  chemische  Wirkung 
der  Ingesta  und  der  Secrete  der  Mundhöhlendrüsen  sehr  beträchtliche 
Veränderungen,"  2)  durch  welche  ihr  specifischer  Charakter  mehr  oder 
weniger  verwischt  wird.  So  kommt  es,  dass  nirgends  die  Frage: 
syphilitisch  oder  nichtsyphilitisch?  schwieriger  zu  beantworten  ist,  als 
bei  den  Affectionen  der  Mundschleimhaut,  die  bei  verschiedenartiger 
Aetiologie  oft  ein  völlig  gleiches  Aussehen  darbieten.  Auch  ist  das 
Vorkommen  solcher  pseudosyphiHtischen  Affektionen  in  der  Mund- 
höhle ein  sehr  häufiges  wegen  der  oben  angeführten  Schädigungen 
und  äusseren  Einflüsse,  deren  Wirkung  durch  die  „exponierte  Lage" 
(Lieven)'')  der  Organe  des  Mundes  und  Rachens  begünstigt  wird. 
Da  für  die  primären  syphilitischen  Affektionen  der  Mundhöhle 
relativ  häufig  ein  venerischer  Ursprung  durch  widernatürlichen 
Geschlechtsverkehr    (Coitus    in    os,    P'ellatio,  Cunnilingus)   in  Betracht 


i)  J.  Neumann,  „Syphilis",  S.   287. 

2)  Neumann  a.  a.  O.,  S.   297. 

3)  A.  Lieven,    „Die  Syphilis  der  oberen  Luftwege  u.  s.  w.     Teil  II.     Die  Syphilis 
der  Mund-  und  Rachenhöhle",  Jena  1900,  .S.  38. 


—      435      — 

kommt  —  Venot^)  nennt  nach  seinen  Erfahrungen  bei  den  Prosti- 
tuierten von  Bordeaux  den  Mund  geradezu  „l'alter  eg-o  du  canal  vulvo- 
uterin"  —  so  dürfte  anch  bisweilen  für  die  Aetiologie  gewisser 
pseudosyphilitischer  Affektionen  ein  gleicher  error  loci  anzunehmen 
sein.  Der  weiche  Schanker  wird  wohl  fast  ausschliesslich  durch 
solchen  perversen  Geschlechtsverkehr  auf  die  Schleimhaut  der  Lippen 
und  der  Mundhöhle  übertragen-'),  wenn  auch  diese  Localisation  nur 
selten  zu  erfolgen  scheint^). 

Ebenso  scheint  unter  Umständen  der  Coitus  per  os  eine  gonor- 
rhoische Stomatitis  mit  Ulceration  herbeiführen  zu  können.  Von 
Menard  wurden  mehrere  derartige  Fälle  beobachtet.  Cutler  be- 
richtet über  einen  Fall,  wo  bei  einem  21jährigen  Mädchen  nach  Coitus 
per  os  schon  am  folgenden  Tage  eine  Entzündung  der  Mundhöhlen- 
schleimhaut  mit  eitriger  Secretion  sich  einstellte,  die  zu  Einrissen 
und  Geschwüren  an  Wangen,  Lippen  und  Zunge  führte,  wobei  im 
Secrete  dem  Gonokokkus  sehr  ähnliche  Mikroorganismen  gefunden 
wurden^).  Nach  Horand  soll  sogar  ein  Mann  durch  Coitus  in  os 
bei  einem  Mädchen  sich  einen  Tripper  zugezogen  haben '').  Jeden- 
falls ist  durch  Rosinski,  Dohrn  u.  a.  die  Existenz  einer  Stomatitis 
gonorrhoica  bei  Neugeborenen  sichergestellt,  und  so  dürfte  auch  wohl 
das  Vorkommen  derselben  bei  Erwachsenen  w^ahrscheinlich  sein. 

Es  ist  möglich,  dass  auch  noch  andere  Hautleiden  in  der  Um- 
gebung des  Mundes  durch  widernatürlichen  Geschlechtsverkehr  und 
durch  Küssen  übertragen  werden  können.  Hieran  muss  man  auch 
bei  Beurteilung  des  rätselhaften  „Mentagra"  der  römischen  Kaiserzeit 
denken,  dessen  Natur  später  zu  untersuchen  sein  wird.  Auch  jene 
merkwürdigen  Beobachtungen  von  Santlus'')  vom  Auftreten  einer 
Sycosis  parasitaria  nach  Cunnilingus  sollen  in  jenem  Zusammen- 
hange näher  erörtert  werden.  Die  Möglichkeit  einer  nichtsyphilitischen 
Infection    durch    Cunnilingus    ist    also    ebenfalls    ins  Auge    zu  fassen. 

Immerhin  stellen  diese  Fälle  relativ  seltene  Erscheinungen  dar 
in  Vergleichung  mit  der  grossen  Häufigkeit  der  entzündlichen 
Veränderungen  in  der  Mund-  und  Rachenhöhle,  welche  mit  syphi- 
litischen Affektionen   verwechselt  werden  können. 


i)  Venot  a.  a.   O.,   S.    i6. 

2)  J.   Neumann,    ,, Syphilis",  S.   17. 

3)  E.  Lang,    ,, Vorlesungen  über  Syphilis",  S.  298. 

4)  J.   Lang,   „Der  venerische  Katarrh",   Wiesbaden    1893,  S.    107. 

5)  Ibidem,  S.    107. 

6)  Santlus,   „Eine  Fiage  über  die  Bartfinne  (MentagraJ"  in:   Deutsche  Klinik  1854, 


s.  377. 


—      436      — 

Was  zAinächst  derartige  pseudosyphilitische  Affektionen  der  Lippen 
betrifft,  so  giebt  es  auch  hier  solche,  die  offenbar  auf  einer  Infek- 
tion (durch  Küssen  u.  a.)  beruhen,  also  sehr  leicht  eine  Verwechse- 
lung mit  syphilitischen   Leiden  veranlassen  können. 

Der  Zahnarzt  Paul  Ritter  beobachtete  häufig  akute  Oedeme 
der  Lippen,  besonders  bei  Näherinnen,  die  er  als  Folgen  einer  Lifek- 
tion  betrachtet,  bei  denen  manchmal  die  L^nterscheidung  von  einem 
syphilitischen  Primäraffekt  sehr  schwer  ist.  Bisweilen  entstehen  diese 
Lippenödeme  auch  im  Verlaufe  einer  Zahn  -  Periostitis '). 

Eine  weitere  contagiöse  Erkrankung  der  Lippen  ist  die  ulcerosa 
Rhagade  der  Mundwinkel,  die  sogenannte  „Faulecke",  die,  wie 
Lang2)  hervorhebt,  ihrem  Sitze  und  Aussehen  nach  sehr  an  eine 
syphilitische  Affektion  erinnert.  Er  beschreibt  dieselbe  folgendermassen : 

„Die  Faul  ecke  repräsentiert  sich  als  ein  kleines  Spaltgeschwür,  als  eine  uiceröse 
Rhagade  an  den  Mundwinkeln.  Man  findet  gewöhnlich  eine  mehrere  Millimeter  lange  bis 
in  das  Corium  hineinreichende,  empfindliche  Dehiscenz,  mit  belegtem  Grunde  und  weisslich 
verfärbten,  leicht  aufgelockerten  und  etwas  prominenten  Rändern;  bei  verwahrlosten  Indi- 
viduen erreicht  die  Faulecke  den  Umfang  eines  Gerstenkorns.  Dieses  Spaltgeschwür  wird 
am  gewöhnlichsten  durch  Trinkgeschirre,  gelegentlich  auch  durch  Küsse  und  andere  Be- 
rührungen übertragen ;  gemeinsame  Trinkbecher  an  öffentlichen  Brunnen  geben  häufig  ein 
Infektionsmedium  ab.  Die  Ansteckung  macht  sich  sehr  rasch,  namentlich  schon  nach 
Stunden,  bemerkbar  und  betrifft  bald  nur  einen,  bald  beide  Mundwinkel.  Uebertragungen 
auf  andere  Regionen  sind  mir  nicht  vorgekommen ;  nur  einmal  habe  ich  den  Prozess  von 
den  Mundwinkeln  gegen  die  Wange  hin,  in  einer  Linie,  die  der  Berührung  beider  Zahn- 
reihen entspricht,  sich  foitsetzen  sehen;  möglich,  dass  in  dem  Falle  Bissstellen  an  der 
Wangenschleimhaut  die  Autoinoculation  mit  dem  Sekrete  der  Mundwinkel  begünstigt  haben. 
Die  benachbarten  Lymphdrüsen  sind  in  der  Regel  in  keine  Mitleidenschaft  gezogen.  —  Die 
Faulecke  heilt,  wenn  den  gewöhnlichen  Gesetzen  der  Reinlichkeit  Rechnung  getragen  wird, 
in  wenigen  Tagen;  bei  Vernachlässigung  kann  der  Zustand  eine  unabsehbar  lange  Zeit 
dauern." 

Eine  dritte  infektiöse  Erkrankung  der  Lippen  stellt  die  eine 
auffallende  Aehnlichkeit  mit  serpiginösen  syphilitischen  Geschwüren 
darbietende  „  Katocheilitis  der  Schnitter"  oder  „serpiginöse 
mykotische  Ulceration  der  Unterlippe"  dar,  welche  Moretti 
in  den  italienischen  Marken  beobachtet  hat.  Nach  Tommasoli 
handelt  es  sich  um  eine  parasitäre  Form  des  Ekzems-') 


i)  P.  Ritter,  ,,Zahn-  und  Mundleidcn  mit  Bezug  auf  Allgemein-Erkrankung", 
Berlin  1897,  .S.  120;  „Beitiag  zur  Diagnose  und  Therapie  syphilitischer  Affektionen  der 
Mundhöhle  und  der  Kieferknochen"   in:   Zahnärztliche  Rundschau  1899,  Nr.  377,   -S.  A.,  S.  5. 

2)  E.  Lang,   ,,Das  venerische  Geschwür",'  Wiesbaden   1887,  S.  42 — 43. 

3)  Tommasoli  in:  Rivista  Clinica  di  Bologna  1887,  Nr.  3  (Referat  in:  Monats- 
hefte für  Dermatologie    1887,   Bd.  VI,  S.  630 — 631). 


—      437      — 

Auch  Lieven^)  macht  darauf  aufmerksam,  dass  die  krustösen 
Ekzeme  der  Lippen  sowohl  einer  syphilitischen  Erosion  als  auch 
einem  krustösen  Schanker  sehr  ähnlich  sehen  können.  Besonders 
durch  häufiges  Kratzen  mit  dem  Fingernagel  und  Abreissen  der 
Kruste,  auch  durch  Touchieren  mit  Höllenstein  kann  eine  völlige  In- 
duration des  Grundes  hervorgerufen  werden,  so  dass  „ein  der  spe- 
cifischen  Induration  täuschend  ähnliches  Bild  entsteht." 

In  der  „Clinical  societ_y  of  London'"  stellte  1901  Tarn  er  einen 
58jährigen  Mann  mit  einer  eigentümlichen  Affektion  der  Lippen  vor, 
die  er  als  „intraktable  LI  Iceration"'  bezeichnete.  Anderthalb 
Jahre  vorher  hatten  sich  bei  dem  Patienten  ausgedehnte  Ulcerationen 
am  Zahnfleisch  des  Oberkiefers  gezeigt,  die  die  Entfernung  fast  aller 
oberen  Zähne  erforderlich  machten.  Nach  Heilung  dieser  ülceration 
zeigten  sich  vor  6  Monaten  die  gleichen  auf  den  Innenflächen  der 
Ober-  und  L'nterlippe,  die  sich  allmählich  auch  auf  die  Aussenflächen 
ausdehnten  nnd  äusserst  schmerzhaft  waren.  Syphilis  konnte  als  Ur- 
sache ausgeschlossen  werden,  da  alle  Arten  der  specifischen  Therapie 
sich  als  gänzlich  wirkungslos  erwiesen  -). 

Volkmann^)  beschrieb  als  „Myxadenitis  labialis""  eine  Er- 
krankung der  Lippenschleimhaut,  deren  Wesen  eine  geschwulstartige 
Hypertrophie  der  Lippenschleimdrüsen  darstellt.  Solche  eigentüm- 
lichen Krankheitsformen  wurden  auch  von  Eränkel  und  Wright 
beobachtet.  Nach  Lieven^)  unterscheiden  dieselben  sich  so  wenig 
von  der  von  Thimm  und  von  v.  Düring  gegebenen  Beschreibung 
der  specifischen  Infiltration  der  Lippenschleimdrüsen,  dass  ohne  x\na- 
mnese  und  ohne  specifische  Therapie  eine  Entscheidung  über  den 
Charakter  der  Affektion  unmöglich  ist. 

* 

Unter  den  entzündlichen  pseudosyphilitischen  Affektionen  der 
eigentlichen  Mundhöhle  sind  zunächst  die  verschiedenartigen  Formen 
der  Stomatitis  zu  erwähnen. 

Nach  Lang^)  zeigt  bei  Frauen  eine  benigne  Stomatitis, 
die  in  Form  seichter  Geschwüre  auftritt,  einen  gewissen  Zusammen- 
hang mit  der  Sexualität,  indem  dieselbe  meist  während  der  Laktation 


i)  Lieven   a.  a.   O.,   S.  9. 

2)  Referat  in:   Deutsche   Medizinal-Zeitung   1901,   Nr.  23,   S.  274. 

3)  R.  Volkmann,   ,, Cheilitis  glandul.  aposlematosa"   in:  Virchow's  Archiv,   Bd.  L, 
142. 

4)  Lieven  a.   a.   O.,  S.  57. 

5)  E.   Lang,    ,, Vorlesungen   über  Sj'philis",    2.   Aufl.,   S.   298. 


—      438      - 

(„Stomatitis  materna"  der  Alten),  der  Gravidität  oder  der  Menstruation 
erscheint,  auch  öfter  pathologische  Zustände  des  Uterus  begleitet. 

Wichtiger  ist  die  eigentliche  Stomatitis  ulcerosa,  die  ent- 
weder als  idiopathische  contagiöse  Infektionskrankheit  auftritt  oder 
auch  im  Gefolge  schwerer  fieberhafter  Allgemeinleiden  erscheint  >) 
und  sich  durch  schmerzhafte  Schwellung  und  Bildung  zahlreicher  Ge- 
schwüre auf  der  Lippen-  und  Wangenschleimhaut  und  auf  der  Zunge 
auszeichnet'^). 

Die  Singhalesen  Ceylons  leiden  besonders  in  den  Kinderjahren 
vielfach  an  einer  Stomatitis  (Stomacace  simplex  vesiculosa), 
die  man  dem  Essen   unreifer  Früchte  (Ananas)  zuschreibt  ^j. 

Die  bedeutsamsten  Formen  der  Stomatitis  sind  die  durch  Herpes 
und  durch  Aphthen  hervorgerufenen. 

Die  Unterscheidung  eines  Herpes  der  Lippen  und  einer  Stoma- 
titis herpetica  von  syphiHtischen  Symptomen,  insbesondere  von  Pla- 
ques muqueusos  ist  oft  sehr  schwierig.  Nach  Lieven^)  besteht  ins- 
besondere zwischen  der  einzelnen  Herpeserosion,  welche  aus  dem 
geplatzten  Bläschen  resultiert  und  einer  erosiven  kleinen  Plaque  mu- 
queuse  oft  eine  „absolute  Aehnlichkeit".  Die  meist  als  so  charakte- 
ristisch angegebene  polycyklische  Begrenzung  der  Herpeserosion en 
ist  in  der  Tiefe  der  Mundhöhle  oft  kaum  oder  gar  nicht  zu  erkennen. 
Eine  weitere  Schwierigkeit  ist  die,  dass  der  Herpes  mit  Vorliebe 
einen  locus  minoris  resistentiae  befällt,  daher  häufig  auch  nach  einer 
syphiHtischen  Erkrankung  der  Mundhöhle  in  derselben  auftritt  und 
ähnlich  den  Plaques  muqueuses  öfter  recidi viert.  Daraus  erklärt 
sich  die  überaus  häufige  Verwechslung  der  herpetischen  Affektionen 
der  Lippen-  und  Mundhöhlenschleimhaut,  die  auch  Köbner^)  kon- 
statiert. Auf  die  für  die  Diagnose  noch  fatalere  Kombination  einer 
Stomatitis  herpetica  mit  einem  Genitalherpes  wird  im  folgenden  Para- 
graphen hingewiesen  werden.  Erwähnt  sei  nur  noch,  dass  auch  der 
Herpes  zoster  der  Mund-  und  Rachenschleimhaut  schon  oft  mit 
syphilitischen  Affektionen  verwechselt  wurde  *^). 


1)  Vergl.    darüber    Schrakamp,     „Zur    Diffcrenlialdiagnose    der    Erkrankungen    der 
Mundhöhle"   in:   Deutsehe  med.   Wochenschrift    1887,   Nr.   41,  S.   892  —  894. 

2)  Lang  a.   a.   O.,  S.   298;    A.   Hirsch,    „Handbuch  der  historisch-geographischen 
Pathologie",   2.   Aufl.,   Stuttgart    1883,   Bd.  II,  -S.  356. 

3)  A.   AVernich,   ,, Geographisch-medizinische  Studien  u.  s.  w.",   Berlin  1878,  S.  371. 

4)  Lieven  a.   a.   O.,  .S.  42. 

5)  H.   Köbner,   ,,Uaber  Pemphigus  vegetans   u.  s.  w.",   a.  a.   O.,  S.  63. 

6)  Ibidem,  S.  63 — 64. 


—     439     — 

Gewöhnlich  findet  man  in  den  dermatologischen  Lehrbüchern 
angegeben,  dass  die  vStomatitis  aphthosa  fast  ausschliesslich  bei 
Kindern  vorkomme.  Nach  den  Erfahrungen  vielbeschäftigter  Zahn- 
ärzte kommen  die  aphthösen  Geschwüre  aber  auch  sehr  häufig  bei 
Erwachsenen  vor.  Ich  hatte  selbst  Gelegenheit,  kürzlich  einen  der- 
artigen Fall  zu  beobachten,  in  welchem  auch  von  Zahnarzt  P.  Ritter 
die  Diagnose  „Aphthen"  gestellt  wurde.  Die  Unterscheidung  von 
syphilitischen  Plaques  und  Erosionen  der  Mundhöhle  ist  um  so 
schwieriger,  wenn  das  aphthöse  Geschwür,  eine  seichte  grauweise 
oder  gelbliche  Ulceration  darstellend,  nur  einzeln  auftritt,  was  bei 
Erwachsenen  öfter  vorkommt  als  eine  Ausbreitung  der  Aphthen  auf 
die  Schleimhaut  der  ganzen  Mundhöhle,  die  bei  Kindern  die  Regel 
ist.  Bei  Erwachsenen  haben  die  aphthösen  Geschwüre,  wie  auch  in 
dem  von  mir  beobachteten  Falle,  meist  ihren  Sitz  am  Zahnfleische, 
wo  sie  bald  durch  Schmerzhaftigkeit,  leichte  Anschwellung  der  nächst- 
gelegenen Lymphdrüsen  sich  bemerkbar  machen.  Sie  pfleg-en  auf 
Pinselung  mit  Jodtinktur,  Aetzung  mit  dem  Höllensteinstift  oder  auch 
blosse  vSpülung  mit  antiseptischen  Mundwässern  schnell  zurückzugehen  '). 
Auf  die  grossen  diagnostischen  Schwierigkeiten  bei  Aphthen  hat  auch 
H.  Isaac  hingewiesen.  In  einem  Falle,  wo  von  einem  Arzt  Syphilis, 
von  einem  anderen  Tuberkulose  diagnosticiert  war,  trat  entsprechend 
Isaacs  Diagnose  ,, Aphthen"  bei  Anwendung  von  Kali  chloricum 
Heilung  ein-).  Es  braucht  wohl  kaum  hervorgehoben  zu  werden,  dass 
es  sich  hierbei  fast  immer  um  Individuen  handelt,  die  niemals  syphi- 
litisch infiziert  w^orden  sind.  Recht  oft  mögen  dann  solche  aphthösen 
Geschwüre  und  Erosionen,  die  bisher  in  der  dermatologischen  Litte- 
ratur  viel  zu  wenig  gewürdigt  wurden ,  fälschlich  für  syphilitische 
Plaques  gehalten  worden  sein.  Unter  Umständen  können  durch 
Aphthen  auch  destruktive  Prozesse  hervorgerufen  werden.  So  berichtet 
v.  Embden  sogar  über  eine  Zerstörung  des  Gaumenseg'els  durch 
Stomatitis  aphthosa^).  Zu  den  aphthösen  Leiden  der  Mundhöhle  ge- 
hören auch  die  sogenannten  „Bednar' sehen  Aphthen"  der  Kinder, 
die  ihren  Sitz  gewöhnlich  am  harten  Gaumen  haben,  wo  sie  rundHche, 
wie  mit  dem  Locheisen  ausgeschlagene  Geschwüre  bilden,  die  oft 
einen  grossen  Teil  der  Schleimhaut  des  harten  Gaumens  überziehen, 
ferner  die  Stomatitis  aphthosa  epizootica,  die  Maul-  und  Klauenseuche, 


1)  Vergl.  dazu    P.   Ritler,     ,,Zahn-  und   INIundleiden",    S.    l8o,    S.    190;    ,, Beitrag 
zur  Diagnose  u.  s.  \v.'',  S.    7   u.   8. 

2)  Deutsche  Medizinal-Zeitung    1893,    Nr.  44.   S.  495. 

3)  V.  Embden  a.  a.  O.,  S.  417. 


—     440      — 

die  aber  wohl  wegen  ihres  stürmischen  Verlaufes  als  pseudos3^phili- 
tische  Affektion   nicht  in  Betracht  kommt. 

Eine  Reihe  von  Mundentzündungen,  die  durch  sekundäre  Infektion 
infolge  vernachlässigter  Mundpflege  zustande  kommen,  wobei  die 
zahlreichen  schädlichen  Pilze  der  Mundhöhle  eine  ätiologische  Rolle 
spielen,  fasst  Ritter  unter  dem  Namen  der  „Stomatitis  sordida"  zu- 
sammen'). Sie  dürfte  wohl  seltener  Schwierigkeiten  in  der  Diagnose 
machen. 

Dagegen  muss  die  Stomatitis  mercurialis  als  eine  der  wich- 
tigsten pseudosyphilitischen  Affektionen  bezeichnet  werden ,  da  sie 
„ausserordentlich  häufig  Bilder  hervorbringt,  die  nur  auf  Grund  reich- 
licher Ueberlegung"  und  reicher  Erfahrvmg"  von  der  Papulose  zu  unter- 
scheiden sind"-).  Die  merkuriellen  Plaques  und  Geschwüre  sind  oft 
durch  nichts  von  den  syphilitischen  zu  unterscheiden.  Die  oft  betonte 
Schmerzhaftig'keit  kommt  auch  bei  S3^philitischen  Erosionen  vor.  Die 
begleitenden  entzündlichen  Veränderungen  sind  nicht  immer  so  stark 
ausgeprägt,  dass  sie  eine  sofortige  sichere  Eeststellung  der  Natur  des 
Geschwüres  ermöglichten.  Erst  längere  Beobachtung  und  die  Steige- 
rung der  Erscheinungen  durch  eine  Quecksilberbehandlung  können 
dann  die  Diagnose  klarstellen. 

Als  Folgen  häufig^er  Quecksilberkuren  erwähnt  Ritter  „soor- 
artige  Infiltrationen"  im  Munde,  an  den  Tonsillen  und  auch  auf 
dem  Zäpfchen,  die  Aehnlichkeit  mit  den  glänzenden  roten  Flecken 
haben,  die  man  h;iufig  bei  »Syphilitikern  sieht •^).  Der  eigentliche 
Soor  der  Kinder  dürfte  differentialdiagnostisch  kaum  in  Betracht 
kommen. 

Auch  ohne  das  Vorhandensein  einer  eigentlichen  Stomatitis  kommen 
zahlreiche  Geschwürsformen  der  verschiedenartigsten  Aetiologie  in 
der  Mundhöhle,  vor,  die  sich  mit  Vorliebe  auf  der  Zunge  lokalisieren, 
die  ja  auch  für  syphilitische  Affektionen  einen  Prädilectionsort 
darstellt. 

Solche  Geschwüre  werden  z.  B.  bei  Glossitis  superficialis  be- 
obachtet, deren  Wesen  in  einer  hochgradigen  Verdüimung'  und 
Vulnerabilität  der  Schleimhaut  besteht,  welche  auf  Irritamente  ver- 
schiedener Art  durch  Bildung-  einer  oberflächlichen  Ulceration  reagiert. 
Diese  verbindet  sich  nach  Lieven   zuweilen   mit  einer  reaktiven  Indu- 


1)  Ritter,   ,,Zahn-  und    Miindlciden",   S.    i66. 

2)  Lieven   a.   a.   <).,   S.   43. 

3)  Ritter  a.  a.  O.,  S.   233. 


—     441      — 

ration  des  Geschwürsgrundes  und  Randes,  die  durchaus  eine  syphiH- 
tische  Sklerose  vortäuschen  kann  i). 

Eine  ähnliche  reaktive  Härte  bieten  die  traumatischen  Zungen- 
und  Wangen geschwüre  dar,  die  infolge  der  Irritation  durch  kariöse, 
scharfkantige  Zähne  sich  bilden  und  deren  Frequenz  eine  ziemlich 
grosse  ist-).  Förster^)  beschreibt  diese  ,,Reizungsg-eschwüre"  folg'ender- 
massen : 

„Diese  Geschwüre  sind  ziemlich  tief,  kraterförmig,  haben  harte 
Ränder  und  Basis,  und  nicht  selten  ist  ring-sum  durch  eine  partielle 
chronische  Glossitis   das  Zungenparenchym    angeschwollen    und    hart". 

Aehnliche  Geschwüre  entstehen  auch  durch  die  Einwirkung- 
ätzender  Stoffe  z.  B.  Schwefelsäure  und  durch  Verbrennung  mit 
heissen  Speisen.  So  beobachtete  Dron  syphilisähnliche  Plaques  am 
Gaumen  als  Folge  einer  Verbrennung'  durch  heisse  Kartoffel n'*). 
Fang  hat  in  seinem  Werke  über  Syphilis  die  Abbildung  (Fig.  55 
S.  308)  eines  eigentümlichen  ringförmig'en  Ulcus  der  Zunge,  welches 
er  als  „coccog'enes"  bezeichnet,  da  sich  bei  dem  betreffenden  Patienten 
weder  für  Tuberkulose  noch  für  Syphilis  irgendwelche  Anhaltspunkte 
gewinnen  Hessen.  Die  annuläre  P'orm  macht  diese  Ulcera  S3'phili- 
tischen  Geschwüren  täuschend  ähnlich. 

Andere  merkwürdig-e  Geschwürsformen  der  Mundhöhle  sind 
nachweisbar  neurotischen  Ursprungs.  Sibley,  der  drei  solche 
Fälle  beobachtete,  bezeichnet  dieselben  als  „vStomatitis  neurotica 
chronica".  Er  sah  diese  Ulcerationen,  welche  den  aphthösen  Ge- 
schwüren sehr  ähnlich  sind,  bei  hysterischen  oder  stark  nervösen, 
beinahe  geistesgestörten  Frauen^).  Kirk,  der  ebenfalls  solche  neuro- 
tischen Ulcerationen  beobachtete,  glaubt,  dass  sie  mit  Störungen  der 
Schilddrüsenfunktion  zusammenhängen,  da  bei  Myxödem  oft  Risse 
auf  der  Zung-e  vorkommen*^).  A.  Court  berichtete  über  den  Fall 
einer  36jährigen,  weder  an  Syphilis  noch  an  Tuberkulose  leidenden 
Frau,  die  seit   10  Jahren  mit  chronischen  Ulcerationen  im  Munde  be- 


1)  Lieven  a.  a.   O.,   S.    12. 

2)  Vergl.  B.  Collomb,  „Medizinisch-chiiiirgisclie  \Veike",  deutsch  von  W.  Harcke, 
Braunschweig  1800,  Bd.  11,  S.  339 — 341;  v.  Em  b  den  a.  a.  O.,  S.  456;  Lieven  a.  a. 
O.,  S.    12. 

3)  A.  Fürster,  ,,Handliuch  der  pathologischen  Anatomie",  2.  Aufl.,  Leipzig  1863, 
Bd.   II,   S.   38. 

4)  Dron,   ,, Lesions  pseudoveneriques"   in:   Lyon  medical    1900,   Nr.  44. 

5)  W.  K.  Sibley  in:  British  Medical  Journal  vom  15.  April  1899  (Referat  in: 
Monatshefte   für  Dermatologie    1900,    Bd.  XXX,   S.  445. 

6)  R.   Kirk,  ibidem   20.  Mai   1899. 


—     442       - 

haftet  war,  welche  sich  besonders  bei  nervösen  ErrecrunQSZuständen 
verschlimmerten  1).  Hudelo  beschrieb  Ulcera  des  Mundes  tabischen 
Ursprungs.  Sie  fanden  sich  an  der  Schleimhaut  des  Unter-  und 
Oberkiefers,  zeigten  einen  grauen  fungösen  Grund,  waren  absolut 
anästhetisch  und  nahmen  die  ganze  Dicke  der  Schleimhaut  ein,  so 
dass  sie  unverkennbare  Analogien  mit  dem  „Mal  perforant"  aufwiesen. 
In  der  Diskussion  erklärte  der  Syphilidologe  A.  Fournier  dieses  Ge- 
schwür für  ein  veritables  Mal  perforant  des  IMundes-). 

Einen  eigentümlichen  Fall  von  Geschwürsbildung  am  harten 
Gaumen    stellte  v.  Szontagh   im   ärztlichen  Verein  zu  Budapest  vor: 

,,Karl  T  .  .  .,  6  Wochen  alt,  wurde  am  9.  Dezember  1887  im  Ambulatorium  des 
Budapester  Stefani-Kinderhospitals  vorgestellt.  Am  harten  Gaumen  rechts,  etwas  nach  vorn 
von  dem  Ort,  wo  wir  die  Bednar 'sehen  Aphthen  anzutreffen  pflegen,  d.  i.  dem  hamulus 
pterj'goidevis,  war  ein  ungefähr  Fünfpfennigstück  giosses,  grünlichgelbes,  weissfarhiges  Ge- 
schwür sichtbar,  an  dessen  Peripherie  die  angrenzende  Schleimhaut  bedeutend  geschwollen 
war.  Das  Bild,  das  das  Geschw'ür  bot,  entsprach  keinem  der  ulcerativen  Prozesse,  die  am 
harten  Gaumen  im  Jünglingsalter  beobachtet  werden.  I^ues  konnte  mit  Sicherheit  ausge- 
schlossen werden,  auch  war  der  Säugling  gut  genährt,  d.  h.  nicht  atrophiert,  an  ein  Ge- 
schwür decubitalen  Ursprungs  war  auch  nicht  zu  denken.  In  dem  Geschwürsgrunde  konnte 
die  Sonde  nirgends  auf  entb!(")ssten  Knochen  stossen.  Therapie  machtlos.  Am  13.  April 
—  nach  viermonatlicher  Behandlung  — -  wurde  mittelst  Sonde  in  der  Tiefe  des  Geschwürs 
ein  resistenter  Körper  entdeckt,  der  mit  Leichtigkeit  befreit  werden  konnte,  und  zum  nicht 
geringen  Erstaunen  als  ein  wurzelloser  Molar  zahn  sich  entpuppte.  Jetzt  erfolgte 
spontane  Heilung"  ''). 

In  g-anz  hervorragendem  Masse  können  insbesondere  die  syphili- 
tischen Plaques  muqueuses  der  Zunge  und  des  Mundes  von  anderen 
Affektionen  nachgeahmt  wereen.  In  Fournier's  differentialdiagno- 
stischer Zusammenstellung^)  fig-urieren:  der  recidivierende  Herpes,  die 
Aphthen,  Hydroa  des  Alundes,  Glossitis  exfoliativa  marginata, 
die  „Perleche  (eine  in  Epidemieen  auf  den  Lippen  der  Kinder  auf- 
tretende epitheliale  Exfoliation  der  Schleimhaut  mit  einer  ulcerösen 
Furche),  die  Stomatitis  mercurialis,  die  traumatischen  Ulcerationen  der 
Mundschleimhaut  durch  kariöse  Zähne,  der  weiche  Schanker,  ulce- 
rierte  Psoriasisplaques,  Ulcerationen  des  Zungenbändchens 
bei  Keuchhusten. 


ij  Court,   ibidem   20.   Mai    1899. 

2)  Referat  in:   Deutsche  Medizinal-Zeitung    1893,  Nr.  57,   S.  637. 

3)  F.  V.  Szonthag,  ,,Ein  interessanter  Fall  von  Geschwürsbildung  am  harten 
Gaumen  bei  einem  fünfmonatlichen  Kinde"  in:  Monatshefte  für  Dermalolugie  1889,  Bd. 
VIII,  S.   188. 

4)  Foiirnier,  , .Diagnostic  diffeienlial  des  plaques  muqueuses"  in:  La  niedecine 
moderne   1900,  Nr.  47. 


—      443      — . 

Die  sogenannte  „Glossitis  exfoliativa",  die  man  früher  zur 
Syphilis  rechnete,  ist  von  Fournier  davon  abgetrennt  worden,  sie 
hängt  nach  Besnier  und  Barthelemy  mit  Verdauungsstörungen  zu- 
sammen'). Mit  ihr  dürfte  auch  die  Erscheinung  der  „wandernden 
Hecken"  und  der  ,, Plaques  benignes"  zusammenhängen.  Ueber  alle 
diese  Affektionen  bemerkt  Lang: 

„Sehr  oft  mag  folgende  an  der  Zunge  beobachtete  Veränderung  für  Syphilis  imponieren. 
Am  Zungenrande  und  an  der  Zungenspitze,  weniger  häufig  am  Rücken  und  an  der  unteren 
Fläche  dieses  Organes,  gewahrt  man  manchmal  verschieden  grosse,  einzeln  stehende  oder  in- 
einander fliessende,  rote,  nur  sehr  wenig  oder  gar  nicht  infiltrierte  Flecke,  die  von  einem 
scharf  gezeichneten,  schmalen,  schmutzigweissen  oder  lehmgelben  Epithelsaume  lungeben  sind. 
Diese  Plaques  beobachten  nach  Einigen  (Gubler,  Wilhelm  Hack)  ein  continuierliches 
Fortschreiten,  nach  Anderen  verharren  sie  selten  längere  Zeit  im  gleichen  Zustande,  sondern 
wechseln  sehr  häufig  Form  und  Sitz;  oder  sie  verschwinden  ganz,  um,  wie  ich  wiederholt 
beobachtet  habe,  nach  längerer  oder  kürzerer  Zeit  wieder  sichtbar  zu  werden;  Beschwerden 
veranlassen  sie  nicht,  ausgenommen  sie  führen  zu  Erosionen  und  UIcerationen.  Ich  habe 
solche  Flecke  an  der  Zunge  bei  Kindern  und  Erwachsenen ,  einzelne  Male  neben  Ver- 
dauungsstörungen, gesehen.  Alterationen  des  Intestinal tractes  und  herabgesetzte  Ernährung 
(Anämie)  scheinen  thatsächlich  in  den  meisten  Fällen  zu  diesen  Plaques  in  Beziehung  zu 
stehen  (Möller),  J.   Caspary,  P.  G.  Unna,  V.  Gautier."  ^) 

Eine  wichtige  pseudosyphilitische,  mit  Plaques  muqueuses  sehr 
leicht  zu  verwechselnde  Affektion  stellt  auch  die  sogenannte  Leuko- 
plakia  buccalis  dar,  die  zwar  noch  von  dem  ersten  Monographen 
E.  Schwimmer  als  selten  hingestellt  wurde 3),  aber  in  der  letzten 
Zeit  als  eine  ziemlich  häufige  Erscheinung  erkannt  worden  ist. 

Schwimmer  hat  als  ätiologische  Momente  der  nichtsyphili- 
tischen Leukoplakie  hauptsächlich  die  Einwirkung  von  Seite  des 
Verdauungstractes  und  den  Einfluss  des  Tabaks  bezeichnet^). 
In  Beziehung  auf  letztere  Ursache  sagt  schon  Ricord:  „Auch  die 
bei  Pfeiferauchern  entstehenden  „Aphthen"  sind  ins  Auge  zu 
fassen.  Die  Schleimhaut  zeigt  sich  hier  an  Wangen  und  Zunge  ver- 
dickt, vorspringend,  hart,  von  grauem  Aussehen,  wodurch  sie  oft  den 
Schleimhautplaques  ähnelt.  Bisweilen  findet  man  Kranke  mitten 
in  voller  Alercurialbehandlung',  deren  Mundschleimhaut 
nichts  zeigt  als  Pfeifensymptome!"^) 

Eine  von  den  französischen  und  englischen  Aerzten  längst  fest- 
gestellte Thatsache  ist  ferner,   dass   Gicht   sehr  häufig  Ursache   der 


1)  Monatshefte  für  Dermatologie   1898,  Bd.  XXVII,  S.    142. 

2)  E.  Lang  a.  a.  O.,  S.  301. 

3)  E.  Schwimmer,  „Die  idiopathischen  Schleimhautplaques  der  Mundhöhle  (Leuko- 
plakia  buccalis)",   Wien   1878,  S.   28. 

4)  Ididem  S.    1 1 1 . 

5)  Ph.  Ricord,    „Pathologie  und  Therapie  der  venerischen  Krankheiten",   2.  Aufl., 
Hamburg    1852,  S.    13 1. 

Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  ^ 


—      444      — 

Entwickelung  der  Leukoplakie  darstellt.  Hier  kommt  der  „Artri- 
tismus" wirklich  zu  Ehren.  Dr.  Bullin,  eine  anerkannte  Autorität 
auf  dem  Gebiete  der  Mundkrankheiten,  versicherte  Dr.  Lieven 
persönlich,  dass  die  ätiologische  Bedeutung-  der  Arthritis  urica  für 
ihn  unumstösslich  feststehe.  Sämtliche  von  G.  Petit  beobachteten 
Fälle  von  Leukoplakie  betrafen  Gichtiker  ^).  Auch  Diabetes  soll 
Ursache  von  Leuköplakia  buccalis  sein  2).  Ueber  das  Vorkommen 
dieser  Affektion  bei  Hautleiden  (Psoriasis  u.  a.)  wird  im  nächsten 
Paragraphen  berichtet  werden. 

Das  Aussehen  dieser  als  Leuköplakia,  „Lingua  geographica", 
„Papeln  der  Zunge"  u.  a.  m.  bezeichneten  Affektion  bietet  eine  sehr 
grosse  Aehnlichkeit  mit  syphilitischen  Plaques  muqueuses  dar. 
Schwimmer  sagt:  „Vermöge  der  Lokalität  der  Erkrankung  und 
ihres  äusseren  Bildes  hat  sie  gerade  mit  den  Syphiliden  der  Mund- 
höhlenschleimhaut eine  so  frappante  Aehnlichkeit,  dass  man  häufig 
in  Versuchung  kommt,  diese  Affektion  immer  nur  als  eine  specifische 
zu  betrachten.  Zahlreiche  Aerzte  begehen  in  solchen  Fällen  einen 
beklagenswerten  Irrthum,  und  da  die  Syphilis  oft  nur  durch  eine 
einzelne  Symptomengruppe  diagnosticiert  werden  kann,  so  genügt 
es,  eine  oder  die  andere  von  den  zu  beschreibenden  Veränderungen 
in  der  Mundhöhle  wahrzunehmen,  um,  auf  falscher  Diagnose  fussend, 
auch  eine  nicht  entsprechende  Therapie  einzuleiten"  ^j.  Wie  die 
syphilitischen  Plaques  muqueuses  gehen  auch  die  leukoplakischen 
Flecken  aus  einem  „erythematösen  Vorstadium"  hervor.  Noch 
schwieriger  kann  die  Unterscheidung  werden,  wenn,  was  O.  Rosen- 
thal beobachtet  hat*),  die  Lingua  geographica  zu  papulären  Er- 
hebungen führt.  Es  nimmt  daher  nicht  Wunder,  dass  sogar  in  derma- 
tologischen Gesellschaften  derartige  Befunde  zu  lebhaften  differential- 
diagnostischen Debatten  Veranlassung  geben,  wie  eine  solche  z.  B. 
am  14.  Januar  1896  in  der  Berliner  dermatologischen  Gesellschaft 
stattfand,  ohne  dass  eine  Einigung  über  die  Deutung  erzielt  werden 
konnte^).  Auch  im  Rachen  hat  man  derartige  Veränderungen  be- 
obachtet*^). 


i)  Lieven  a.  a.  O.,  S.  40. 

2)  Seegeii  bei   Lang  a.   a.   O.,   S.   300. 

3)  E.   Schwimmer,  Artikel   ,,Leukoplalcia  buccalis"   in  Eulenburg's   Encyclopädie 
1897,  Bd.  XIII,  S.  483. 

4)  Lieven  S.  46. 

5)  Vergl.  Lieven  a.  a.  O.,  S.  46. 

6)  Rosenberg,  ,, Leuköplakia  pharyngis  non  specifica"  in:  Berliner  klinische  Wochen- 
schrift   i8q8,  No.    18. 


—      445      — 

Nach  Lang  ist  sicher  ein  Teil  der  Fälle  von  sogenannter 
„Glossitis  cicatrisans"  nichtsyphilitischer  Natur,  da  er  dieselbe 
auch  bei  Individuen  beobachtete,  die  nie  eine  syphilitische  Infektion 
erlitten  hatten.  Diese  mit  Erosionen  und  Verlust  der  Papillen  ein- 
hergehende Affektion  führt  allmählich  zu  tiefen  narbigen  Einziehungen, 
wie  diese  auch  in  genau  derselben  Weise  durch  tertiärsyphilitische 
Prozesse  hervorgerufen  werden  ^). 

Unter  den  chronischen  Infektionskrankheiten  der 
Mundhöhle,  die  mit  Syphilis  verwechselt  werden  können,  ist  zunächst 
die  Aktino mykose  zu  erwähnen.  Besonders  scheint  hier  die 
Aktinomykose  der  Zunge  in  Betracht  zu  kommen.  „Die  Diagnose 
der  Aktinomykose  der  Zunge  ist  nicht  immer  leicht:  in  manchen 
Fällen  kann  man  sie  leicht  mit  einer  anderen  Affektion,  besonders 
mit  Syphilis  verwechseln,  um  so  mehr,  als  die  Behandlung  der 
Aktinomykose  und  der  SyphiHs  ein  und  dieselbe  ist  (Jodbehandlung), 
so  dass  die  aktinomykotische  Affektion,  wenn  sie  in  Folge  eines 
diagnostischen  Irrtums  als  Syphilis  gedeutet  und  dementsprechend 
mit  Jod  behandelt  wird,  unentdeckt  bleiben  und  als  Syphilis  rubriziert 
w^erden  kann""-).  Smirnow  unterscheidet  verschiedene  Formen  der 
Zungenaktinomykose,  nämlich  i.  Knoten  in  der  Zungenspitze  und 
dem  Zungenrücken,  2.  Fissuren  und  danach  Knotenbildung,  3.  schmerz- 
lose Zungenulcerationen.  Gesichert  wird  die  Diagnose  nur  durch  die 
mikroskopische  Untersuchung,  welche  die  Anwesenheit  der  charak- 
teristischen Strahlenpilze  ergiebt. 

Noma  dürfte  wohl  kaum  zu  Verwechselungen  mit  Syphilis 
Anlass  geben. 

Nach  Lang  pflegt  die  Syphilis  innerhalb  der  Alund-  und 
Rachenhöhle  „am  täuschendsten"  durch  Lupus  nachgeahmt  zu 
werden  3).  Es  ist  dies  besonders  dann  der  Fall,  wenn  es  sich  um 
reinen  „Schleimhautlupus"  ohne  Beteiligung  der  äusseren  Haut  handelt. 
Die  lupösen  Geschwüre  und  Infiltrate  können  syphilitischen  Prozessen 
äusserst  ähnhch  sein.  Sogar  die  narbigen  Schrumpfungen  in  der 
Lippe  durch  diffuse  syphilitische  Infiltration  finden  sich  genau  in  der- 
selben Weise  auch  bei  Lupus  ^).  Auch  Lupus  der  Zunge  ist  beob- 
achtet worden  ^). 

i)  Lang  a.  a.  O.,  S.  307  —  308. 

2)  W.  J.  Smirnow,  „Aktinomykose  der  Zunge  beim  Menschen"  in:  Medizinische 
Woche   1902,  Xo.    13,  S.   133  —  136. 

3)  Lang  a.   a.   O.,   S.   302. 

4)  Lieven  a.  a.   O.,  S.   56. 

5)  Darier  in:   Monatshefte   für  Dermatolotjie    1895,   Bd.  XXI,   S.    229. 

29* 


—      446      — 

Ebenso  schwierig  wie  beim  Lupus  ist  die  Differentialdiagnose 
zwischen  den  acuten  tuberkulösen  Geschwüren  der  Mundhöhle 
und  den  Erscheinungen  der  Syphilis,  besonders  dem  Primäraffekte '). 
Solche  Geschwüre  kommen  auf  der  Wangen-  und  Lippenschleimhaut 
und  der  Zunge-)  und  auf  dem  weichen^)  und  harten  Gaumen*)  vor. 
Wie  schwierig  manchmal  die  Unterscheidung  derartiger  Geschwüre 
von  Syphilis  werden  kann,  beleuchtet  folgender  am  2.  Mai  1893  von 
Heller  in  der  Berliner  dermatologischen  Vereinigung  vorgestellter  Fall. 

Die  28  jährige  Patientin,  die  hereditär  tuberkulös  belastet  ist,  machte  1890  eine 
Lungenerkrankung  durch,  die  nicht  recht  einer  typischen  Pneumonie  entsprach.  Sie  wurde 
auch  mit  Tuberkulin  behandelt,  ohne  auf  die  Einspritzungen  zu  reagieren.  Schon  vorher, 
1886,  war  sie  infolge  des  sexuellen  Verlcehrs  mit  einem  jungen  Manne  er- 
krankt; es  wurden  ihr  Vaginalausspülungen  verordnet.  Sie  selbst  hielt  sich  für  syphilitisch 
und  wandte  sich,  nachdem  im  Jahre  1891  Halsschmerzen,  die  keiner  Behandlung 
wichen,  aufgetreten  waren,  1892  an  einen  Syphilidologen,  der  die  Affektion  mit  Quecksilber- 
pillen behandelte.  Sie  entzog  sich  sehr  bald  der  Behandlung  und  suchte  ^/^  Jahre  später 
Heller  auf.  Es  wurde  (April  1893)  auf  der  Grenze  zwischen  hartem  und  weichem  Gaumen 
ein  Kranz  von  oberflächlichen  Geschwüren  konstatiert.  Auf  der  linken  Tonsille  befand  sich 
ein  fünfpfennigstückgrosses  missfarbiges  Geschwür.  Die  Uvula,  die  beiden  linken  Gaumen- 
bogen, die  linke  Tonsille  waren  von  kleinen,  gelben  Knötchen  völlig  durchsetzt,  die  ohne 
weiteres  als  miliare  Tuberkel  aufgefasst  werden  mussten.  Ulcerationen  der  Epiglottis  und 
der  Stimmbänder  wurden  nicht  konstatiert.  Obwohl  die  Kranke  ziemlich  viel  hustete, 
konnten  an  den  Lungen  nur  geringe  katarrhalische  Erscheinungen  konstatiert  werden.  Im 
Sputum  wurden  sehr  spärlich  Tuberkelbacillen  gefunden.  Ein  Zeichen  bestehender  oder  ab- 
gelaufener Syphilis  (Leukoderma,  Drüsenschwellung)  wurde  nicht  eruiert.  Zweifellos  handelt 
es  sich  um  einen  Fall  von  Tuberkulose  der  Mundschleimhaut,  die  in  ihren  ersten  Anfängen 
an  Syphilis  erinnerte  und  auch,  zumal  da  die  Anamnese  für  Syphilis  sprach,  eine  antisyphi- 
litische Behandlung  indiciert  erscheinen  Hess.  Die  Wichtigkeit  der  exakten  Diagnose  ist 
um  so  grösser,  als  die  specifische  Therapie,  die  für  andere  Kranke  unschädlich  ist,  auf 
Tuberkulöse  depotenzierend  wirkt. 

In  der  Diskussion  bemerkt  G.  Lew  in,  dass  die  primäre  Tuberkulose  der  Mund- 
schleimhaut häufiger  ist  als  man  gewöhnlich  annimmt,  und  dass  vielleicht  in  einzelnen  Fällen 
von  der  Erkrankung  der  Mundschleimhaut  auch  die  Erkrankung  der  Lungen  ausgeht,  ebenso 
wie  die  tuberkulösen  Analgeschwüre  der  Kinder  nicht  selten  die  Veranlassung  zur  Darm- 
tuberkulose geben  ^). 

Die  Lepra  ruft  häufig  auf  den  Schleimhäuten,  besonders  der 
Mundhöhle,  syphiHsähnliche  Prozesse  hervor*^),  die  besonders  als  Ulce- 
rationen  auftreten.     Ein   solches   lepröses   Geschwür,    welches    einem 


i)  Vergl.  Lieven,  a.  a.  O.,  S.   13;  Lang  a.  a.  O.,  S.  304. 

2)  Rille  in:  Monatshefte   1899,  Bd.  XXVIH,  S.    140. 

3)  Schwimmer,  ibidem   1898,  Bd.  XXyi,  S.   405. 

4)  Crocker,  ibidem   1900,  Bd.  XXXI,  S.    100. 

5)  Referat  in:  Deutsche  Medizinal-Ztg.    1893,  No.  44,  S.   494—495. 

6)  Vergl.  Lang  a.  a.  O.,  S.  305. 


—      447      — 

syphilitischen  täuschend  ähnlich  sah,  beobachtete  Wagner  an  der 
Schleimhaut  der  Unterlippe  ^). 

Das  Rhinosklerom  der  Schleimhaut  der  Mundhöhle  und  des 
Rachens  ahmt  mehr  die  Veränderungen  der  tertiären  Syphilis  nach, 
wie  dies  vor  allem  bei  der  Infiltration  und  Verunstaltung  des  Gaumens 
und  Rachens  hervortritt,  welche  nur  sehr  schwer  von  der  gleichen 
durch  Syphilis   hervorgerufenen  Veränderung   zu   unterscheiden    ist-). 

Höchst  bemerkenswert  ist  die  Thatsache,  dass  an  der  Schleim- 
haut der  Mundhöhle,  insbesondere  am  weichen  Gaumen  und  den 
Tonsillen  Papillome  und  spitze  Kondylome  unter  ähnlichen  Um- 
ständen vorkommen  wie  an  den  Genitalien,  d.  h.  als  Folgen  eines 
längere  Zeit  einwirkenden  Irritamentes.  Lang  bezeichnet  die  Mehr- 
zahl dieser  Papillome  der  Mundhöhle  als  venerische,  weil  sie  am 
gewöhnlichsten  neben  venerischen  Katarrhen  zur  Entwicke- 
lung  gelangen^).  Sie  sind  gestielt  oder  breitbasig  wie  die  ent- 
sprechenden Vegetationen  an  den  Genitalien  und  am  Anus.  Förster 
beobachtete  diese  Papillome  als  locale  Geschwülste  in  Form  kleiner 
rundlicher,  platt  aufsitzender  oder  gestielter,  beerenartiger,  körniger 
Körper  am  Zahnfleisch,  dem  Boden  der  Mundhöhle,  der  Innenfläche 
der  Wangen  und  am  Zäpfchen.  Nach  ihm  gehören  auch  die  von 
Schuh  (Pseudoplasmen  1854,  S.  64)  beschriebenen  „weissen  Aus- 
wüchse" an  der  Schleimhaut  der  Backe,  Lippe  und  des  Gaumens 
hierher^).  Ein  gutartiges  Papillom  der  Unterlippe  mit  schankerähn- 
licher Ulceration  beobachteten  Gaston  und  Henryk);  Heidingsfeld 
sah  solche  Cond34omata  acuminata  auf  der  Zunge  einer  24jährigen 
Puella  publica*^);  Albert  beobachtete  eine  fast  ausschliesslich  bei 
Frauen  vorkommende  eigentümliche  Neurose  der  Zunge,  welche  sich 
in  Anfällen  von  Brennen,  Prickeln  und  neuralgischen  Schmerzen  in 
der  einen  Zungenhälfte  äusserte.  Bei  allen  Kranken  fand  sich  am 
Zungenrande,  vor  der  Basis  des  Zungengaumenbogens  eine  kleine 
Excrescenz,  einem  Tripperkondylom  an  Gestalt  ähnlich,  welche 
auf  Druck  sehr  schmerzhaft  war  und  den  Ausgangspunkt  der  Neu- 
rose bildete.     Sie   entwickelte   sich   offenbar   aus  der  Papilla  foliata  '). 

1)  H.  L.  Wagner  in:  New  York  medical  Journal,  15.  Oct.  1898,  nach  Monats- 
hefte u.  s.  w.   1899,  Bd.  XXVIII,  S.   586. 

2)  Rille  a.  a.  O.,  S.    135. 

3)  Lang,  „Vorlesungen  über  Syphilis",  S.  306. 

4)  A.  Förster  a.  a.  O.,  S.   19  und  Lang  a.  a.  O.,  S.  305 — 306. 

5)  Monatshefte  für  prakt.  Dermatologie   1898,  Bd.  XXVII,  No.  3,  S.    141  — 142. 

6)  M.  L.  Heidingsfeld,  ,,Condylomata  acuminata  linguae  oder  venerische  Warzen 
der  Zunge",  ibidem    1901,  Bd.  XXXIII,   S.   291. 

7)  Albert,  Artikel  ,, Zungenerkrankungen"  in  Eulenburg's  Real-Encyclopädie  der 
Heilkunde,  3.   Aufl.,    1901,  Bd.  XXVI,  S.  513. 


-     448     — 

Sehr  häufig  täuschen  Carcinome  im  Bereiche  der  Mundhöhle 
eine  S3philitische  Affektion  vor.  Hier  bereitet  die  Differentialdiagnose 
zwischen  Krebs  und  einem  tertiären  syphilitischen  Neoplasma  selbst 
erfahrenen  Specialisten  oft  unüberwindliche  Schwierigkeiten.  Lieven 
bemerkt:  „Beide  Affektionen  haben  die  neoplastische  Tendenz 
und  Neigung  zum  Zerfall  der  neugebildeten  Gewebe  gemeinsam. 
Wenn  auch  das  Carcinom  durch  Vorwiegen  der  ersteren  Eigenschaft 
charakterisiert  ist,  während  beim  ausgesprochenen  Gumma  die  Er- 
weichung eine  viel  rapidere  und  umfangreichere  zu  sein  pflegt,  so 
kommen  bei  beiden  Krankheiten  dennoch  derartige  Modifikationen 
des  Verlaufs  vor,  wodurch  sie  einander  klinisch  sehr  ähnlich 
werden,  sodass  die  Schwierigkeiten  der  Diagnose  fast  un- 
überwindlich sein  können"^). 

Hauptsächlich  kommt  —  neben  den  Lippen-  und  Wangenkrebsen 
—  hier  das  Carcinom  der  Zunge  in  Betracht,  welches  häufig  eine 
täuschende  Aehnlichkeit  mit  einem  Gumma  zeigen  kann.  Langen- 
beck,  Hutchinson,  Jesset,  I^ang  u.  A.  haben  die  grossen  vSchwie- 
rigkeiten  der  Differentialdiagnose  zwischen  beiden  Affektionen  hervor- 
gehoben ~),  und  es  ist  ja  allbekannt,  wie  häufig  Chirurgen  vor  der 
Operation  eine  antisyphilitische  Therapie  einleiten  müssen,  um  selbst 
über  den  Fall  ins  Klare  zu  kommen. 

Unter  den  Rachenaffektionen  stellen  die  verschiedenen  Formen 
der  Anginen  das  grösste  Kontingent  zu  den  pseudosyphilitischen. 
Trautmann  hat  neuerdings  die  einschlägigen  Verhältnisse  zusammen- 
gestellt und  auf  die  grossen  differentialdiagnostischen  Schwierigkeiten 
auf  diesem  Gebiet  hingewiesen^).  Darnach  treffen  wir  häufig  das 
wichtigste  Allgemeinsymptom  der  nichtsyphilitischen  Anginen,  das 
Fieber,  auch  bei  den  Anginen  syphilitischen  Ursprungs  an.  Was 
insbesondere  die  so  sehr  häufige  Angina  catarrhalis  betrifft,  so 
kann  nach  Trautmann  eine  Differentialdiagnose  zwischen  ihr 
und  der  Angina  syphilitica  catarrhalis  oder  erythematosa  in  „das 
Bereich  der  Unmöglichkeiten"  gehören,  da  die  subjektiven  und  ob- 
jektiven Symptome  völlig  identisch  sein  können,  wie  dies  Fälle  von 
Moritz  Schmidt  und  Levinger  beweisen. 


1)  Lieven  a.  a.   O.,   S.   57. 

2)  Vergl.  Lang  a.  a.  O.,  S.   306 — 307. 

3)  G.  Trautniann,  ,,Zur  Differentialdiagnose  von  Dermatosen  imd  Lues  bei  den 
Schleimhauterkrankungen  der  Mundhöhle  und  oberen  Luftwege",  Wiesbaden  1903,  S.  150 
bis  161.  —  Diese  interessante  Monographie  ging  mir  erst  während  der  Drucklegung  meines 
Werkes  zu  und  konnte  nur  für  Bogen  29  und  folgende  benutzt  werden. 


—      449      — 

Bei  der  Angina  follicularis  können  die  „kraterförmigen 
Substanzverluste"  specifische  Ulcerationen  vortäuschen  ^),  ebenso  kann 
die  von  C.  König  igoi  beschriebene  „Angina  eroso-membranacea" 
mit  Syphilis  verwechselt  werden,  und  eine  von  Vincent  1898  be- 
obachtete Anginaform  erhielt  von  Raoul  und  Thiry  den  ihren 
pseudos3'philitischen  Charakter  deutlich  kennzeichnenden  Namen : 
Amygdalite  ulcereuse  chancriforme,  da  häufig  durch  dieselbe 
ein  syphilitischer  Mandelschanker  vorgetäuscht  wird.  Die  Häufigkeit 
dieser  Form  ist  eine  relativ  grosse  2). 

Endlich  beschrieb  Heryng  1890  eine  Exulceration  des  Pharjmx 
unter  dem  Namen  des  „benignen  Pharynxgeschwüres"^),  eine 
fast  immer  einseitige  und  solitäre,  seichte  Ulceration  am  vorderen 
Gaumenbogen  über  der  Mandel  mit  scharfen  Rändern  und  grau- 
weissem  Belag,  die  häufig  grosse  Aehnlichkeit  mit  syphilitischen 
Geschwüren  aufweist. 


Unter  den  Erkrankungen  der  Nase  und  der  sie  umgebenden 
Gesichtsteile  machen  die  verschiedenen  Formen  der  Acne  häufig 
Schwierigkeiten  in  Bezug  auf  eine  difFerentialdiagnostische  Abgrenzung 
von  syphilitischen  Affektionen  ähnlicher  Art. 


1)  Schon  Ricord  hat  über  diese  und  andere  pseudosyphilitische  Anginen  interessante 
Beobachtungen  mitgeteilt.  In  Lippert's  Darstellung  seiner  Lehren  (Hamburg  1852, 
S.  131 — 132)  heisst  es:  „Ebenso  findet  man  oft  Zufälle  an  den  Mandeln,  die  venerische 
oder  merkuiielle  Affektionen  simulieren  können.  Die  gewöhnliche  febrile  Angina  bietet 
keine  Anhaltspunkte  für  eine  etwaige  Verwechslung;  aber  ausserdem  giebt  es  chronische 
fieberlose  Zufälle  der  Mandeln  and  des  Velum  palatinum  ohne  allen  spezifischen  Cha- 
rakter. Den  gelehrten  Theoretikern,  die,  wie  zur  Mehrzahl,  Sypbilophoben  sind,  genügt  es 
freilich,  wenn  sie  bei  der  Inspektion  des  Halses  nur  etwas  Röte  sehen,  um  sofort  die  Ueber- 
zeugung  zu  gewinnen,  dass  die  Syphilis  bereits  in  der  zweiten  Etage  des  Organismus  ange- 
langt sei!  Eine  Affektion  bedingt  aber  wirklich  eine  täuschende  Aehnlichkeit  —  dies  ist 
die  chronische  follikuläre  Amygdalitis,  eine  Acne  sebacea  der  Mandeln.  Man  findet 
hier  an  einem  Punkte  der  Mandeln  eine  scharf  abgeschnittene  Ulceration  mit  grauem  Grunde, 
während  die  Nachbargegend  sich  ganz  kalt  verhält.  —  Bisweilen  werden  die  Geschwüre 
selbst  gangränös,  ohne  starke  Entzündung  der  benachbarten  Gewebe;  dann  findet  eine  phage- 
dänische  Zerstörung  der  Mandeln  statt,  die  ganz  die  syphihtische  Geschwürsform  simuliert. 
Man  muss  diese  Krankheitsform  in  ihrer  Reinheit  bei  Individuen  studieren,  die  frei  sind 
von  jedem  Verdacht  sj^^hilitischer  Infektion." 

2)  Vergl.  Lieven  a.  a.  O.,  S.  18;  Trautmann  a.  a.  O.,  S.  159 — 161.  —  Des 
selteneren  Vorkommens  einer  primären  Gangrän  des  Rachens  sei  nur  beiläufig  gedacht. 
Eine  solche  Beobachtung  teilt  Blume nau  (Deutsche  Med.  AVochenschr.    1896,  No.   26)  mit. 

3)  Heryng,  „Ueber  benigne  Pharynxgeschwüre"  in:  Internat,  klin.  Rundschau  1890, 
Xo.   41    u.   42. 


—      4.50     — 

Die  meisten  Schwierigkeiten  macht  in  dieser  Hinsicht  die  Acne 
varioliformis  und  die  ihr  verwandte  Acne  necrotica^).  Diese 
namentlich  an  der  Stirn  und  den  Schläfen,  zuweilen  auch  im  Gesicht, 
am  Nacken  und  an  der  Brust  lokalisierte  Acneform  zeichnet  sich 
durch  die  Bildung  von  braunroten  Knoten  in  gruppenförmiger 
Anordnung  aus,  die  zu  Pusteln  und  Borken  sich  ausbilden  und  mit 
Hinterlassung  vertiefter  Narben  heilen.  Diese  Gruppenbildung  macht 
die  Aehnlichkeit  mit  Syphiliden  oft  ausserordentlich  gross,  wozu  auch 
noch  die  specifische  Wirkung  der  Quecksilbersalben  auf  diese 
AfFektion  nicht  wenig  beiträgt,  sodass  eine  Differentialdiagnose  selbst 
für  geübte  Spezialisten  manchmal  Schwierigkeiten  darbietet. 

So  führt  Kaposi 2)  einen  Fall  von  ausgebreiteter  Acne  varioli- 
formis des  Gesichts  an,  bei  „dem  vor  vielen  Zeiten  irrtümhch  die 
Erkrankung  für  Syphilis  angesehen  worden  war.  Ebenso  wairde  ein 
Fall,  den  E.  Schwimmer  in  der  Sitzung  der  Ungarischen  dermato- 
logischen Gesellschaft  vom  5.  Dezember  1895  vorstellte,  von  mehreren 
Anwesenden  für  Syphilis  gehalten  ^j,  und  in  der  Dermatologischen 
Gesellschaft  von  Grossbritannien  zeigte  Dr.  x\braham  am  27.  November 
1895  einen  Fall  von  Acne  varioliformis  der  Wangen  und  der  Stirn, 
der  ebenfalls  eine  lebhafte  Diskussion,  ob  Syphilis  oder  Acne,  her- 
vorrief *). 

Sogar  darin  kann  die  Acne  varioliformis  den  syphilitischen 
Exanthemen  gleichen,  dass  sie  eine  universelle  Ausbreitung  unter 
Fiebererscheinungen  erlangt.  Grunewald-^)  beobachtete  einen  solchen 
Fall  mit  tödtlichem  Ausgange,  wo  lange  die  Diagnose  zwischen 
Syphilis  und  Acne  geschwankt  hatte.  Ja,  es  scheint  bei  diesen  Fällen 
sogar,  wie  bei  der  Syphilis,  eine  Ansteckungsfähigkeit  vorhanden 
zu  sein,  wie  die  merkwürdige  von  Ibotoon*')  beobachtete  Epidemie 
von  Acne  varioliformis  bezeugt,  die  unter  den  Arbeitern  einer  Fabrik 
plötzlich  ausbrach. 


i)  C.  Boeck,  Ueber  Acne  frontalis  und  necrotica  in:  Archiv  für  Dermal,  u.  Syph. 
1889,  Bd.  XXI.  37—39;  F.  J.  Pick,  Zur  Kenntnis  der  Acne  frontalis  seu  varioliformis 
(Hebra),  Acne  front,  necrotica  (Boeck),  ebendas.  S.   551 — 560. 

2)  M.  Kaposi,  Ueber  einige  ungewöhnliche  Formen  von  Acne  (Folliculitis)  in: 
Archiv  für  Dermatologie  1894,  Bd.  XXVI,  S.  87,  vergl.  auch  Vorlesungen  über  die 
spezielle  Pathologie  und  Therapie  der  Hautkrankheiten,  Wien    1893,   4.  Aufl.,  S.   529  ff. 

3)  Unna's  Monatshefte   1896,  Bd.  XXII,  No.    10,  S.   526. 

4)  Ibid.   1896,  Bd.  XXIII,  No.   i,  S.   19.. 

5)  Grunewald,  Ein  Fall  von  Acne  varioliformis  universalis  mit  tödtlichem  Ausgange 
in:  Unna's  Monatshefte   1885,  Bd.  IV,  S.  81  —  91. 

6)  G.  C.  Ibotoon,  Notizen  über  einige  Hautaffektionen  in:  Lancet  14.  Dec.  1901, 
(Referat  in:  Unna's  Monatshefte   1902,  Bd.  XXXIV,   No.   8,  S.   418). 


—     451      — 

Eine  andere  Form  der  Acne,  die  bei  schwerer  Allgemein- 
erkrankung auftritt  und  dann  oft  Schwierigkeiten  in  Beziehung  auf 
die  Unterscheidung  von  syphilitischer  Acne  darbietet,  ist  die  sogenannte 
Acne  cachecticorum  bei  skrophulösen,  tuberkulösen  und  diabetischen 
Individuen.  Zumal  wenn  die  Pusteln  und  Ulcerationen  dieser  eigen- 
tümlichen Affektion,  wie  gewöhnlich,  an  verschiedenen  Teilen  des 
Körpers  auftreten  und  wenn  nicht  selten  eine  Caries  der  Knochen 
daneben  zu  Tage  tritt,  kann  die  Unterscheidung  von  Syphilis  äusserst 
schwierig  sein.  Besonders  die  Geschwüre  bei  Acne  cachecticorum 
gleichen  oft  täuschend  den  syphilitischen  Geschwüren  ^). 

Eine  dritte  destruierende  Form  der  Acne,  die  von  Kaposi 
zuerst  beschriebene  Acne  exulcerans  nasi  führt  ebenfalls  zu 
Geschwürsbildungen  an  der  Nase  und  deren  Umgebungen,  die  mit 
syphilitischen  Ulcerationen  verwechselt  werden  können.  In  Kaposi 's 
Fällen  war  die  Aehnlichkeit  mit  Syphilis  pustulosa  sehr  gross-). 

Dass  die  Acne  rosacea  der  Nase  bisweilen  syphilisähnliche 
Formen  annehmen  kann,  hat  schon  v.  Embden  hervorgehoben^). 
In  den  späteren  Stadien  derselben  kommen  Knochen-  und  Geschwürs- 
bildungen vor,  sowie  Narben,  die  grosse  Aehnlichkeit  mit  syphili- 
tischen Prozessen  darbieten  können,  wie  z.  B.  ein  in  der  New  Yorker 
dermatologischen  Gesellschaft  am  26.  Januar  1886  demonstrierter 
Fall  bewies^). 

In  eben  derselben  fachwissenschaftlichen  Gesellschaft  fand  im 
Jahre  1888  eine  sehr  interessante  Debatte  über  einen  Fall  von  Lupus 
erythematosus  nasi  statt,  den  Bronson  demonstrierte,  und  der  von 
einer  grossen  Zahl  der  Mitglieder  für  syphilitisch  erklärt  wurde, 
während  schliesslich  die  Majorität  sich  für  die  erwähnte  Diagnose 
entschied^).  Auch  Lesser  konstatiert  die  Aehnlichkeit  der  allgemein 
ausgebreiteten  Fälle  der  diseminierten  Form  des  Lupus  erythematosus 
mit  papulösen  Syphiliden  ^).  Namentlich  wenn  beim  Lupus  erythematosus 
der  Nase  und  des  Gesichts  die  Submaxillardrüsen  geschwollen  sind, 
was  nicht  selten  vorkommt,  liegt  eine  Verwechselung  mit  S3'philis 
besonders  nahe. 


i)  Vergl.  Lang,  a.  a.  O.,  S.   223. 

2)  M.    Kaposi,    Artikel    „Acne''    in    Eulenburg's    Encyclopädie,    3.    Aufl.,    Bd.   I, 
S.  204;   vergl.   auch  E.   Lang,   Lehrbuch  der  Hautkrankheiten,    Wiesbaden    1902,   S.   257. 

3)  V.  Embden,    Versuch    über   die   der   Lustseuche   gleichenden    Krankheiten    1819, 
a.  a.  O.,  S.  448. 

4)  Monatshefte  für  praktische  Dermatologie    1887,   Bd.   VI,  S.    228  —  229. 

5)  Ibidem   1888,  Bd.   VII,  S.  395  —  396. 

6)  E.   Lesser,   Lehrbuch  der   Hautkrankheiten,   4.   Aufl.,  Leipzig    1896,   S.   79. 


—     452      — 

Bei  weitem  häufiger  als  der  Lupus  er3'thematosus  wird  der 
Lupus  vulgaris  der  Nase  und  der  Mund-  und  Rachenhöhle  mit 
Syphilis  verwechselt.  Sagt  doch  Hutchinson  von  ihm,  dass  „er 
in  allen  seinen  Formen  die  Syphilis  nachahme"  i),  so  dass  selbst  ge- 
wiegte Dermatologen  nicht  selten  über  die  Diagnose  „Lupus"  oder 
„Syphilis"  im  Unklaren  sind.  Massei  in  Neapel  wurde  ein  Larynx- 
lupus  mit  der  Diagnose  Lues  zugesandt,  die  ein  hervorragender 
Dermatologe  auf  Grund  der  Hauterscheinungen  gestellt  hatte 2). 
Lang  bemerkt,  dass  die  diagnostische  Schwierigkeit  sich  in  einzelnen 
Fällen  so  steigert,  „dass  selbst  gewiegte  Praktiker  zu  einem  Auskunfts- 
mittel griffen,  das  immerhin  nur  als  ein  Zeichen  ihrer  Verlegenheit 
angesehen  werden  musste  und  das  zur  genauen  Distinction  gewiss 
nicht  beitrug. 

Dieses  Auskunftsmittel  beruhte  darin,  dass  sie  in  zweifelhaften 
Fällen  sich  der  Bezeichnung  ,, Lupus  syphiliticus"  bedienten  und 
sich  dadurch  nach  beiden  Seiten  hin,  sowohl  gegen  Lupus,  als  auch 
gegen  Syphilis,  deckten'').  Nur  eine  längere  Beobachtung  und  die 
Erfolglosigkeit  einer  antisyphilitischen  Therapie  kann  hier  die  Ent- 
scheidung bringen,  für  die  Lang  die  besonderen  dififerentialdiagnosti- 
schen  Anhaltspunkte  im  einzelnen  angibt*). 

Auch  die  mit  Lupus  einhergehenden  zerstörenden  Prozesse 
in  der  Nasen-  und  Mundhöhle  können  den  durch  die  Syphilis  be- 
wirkten destruktiven  Veränderungen  sehr  ähnlich  sein.  Lang  be- 
richtet über  solche  lupösen  Defekte  der  Nase  und  des  harten  Gaumens, 
die  eine  ausserordentlich  grosse  Aehnlichkeit  mit  den  syphilitischen 
Perforationen  aufwiesen  ^). 

Im  Zusammenhang  hiermit  muss  auch  das  sog.  „Ulcus  septum- 
nasi  perforans"  erwähnt  werden,  eine  Geschwürsform  sui  generis, 
die  weder  mit  Lupus  noch  mit  Syphilis  etwas  zu  thun  hat,  und  analog 
dem  Ulcus  ventriculi  und  dem  „mal  perforant  du  pied"  als  selbst- 
ständige lokale  Erkrankung  am  knorpeligen  Septum  der  Nase,  auf 
der  Schleimhaut  der  Cartilago  quadrangularis  auftritt  und  bisweilen 
ähnliche  Ulcerationen  und  Perforationen  macht  wie  die  Syphilis  dies 
thut^). 


i)  Trautmann,  a.  a.   O.,  S.    137. 

2)  Ibidem. 

3)  Lang,  Syphilis,  S.  253. 

4)  Ibidem,  S.   254—255. 

5)  Ibidem,  S.  35°— 35i- 

6)  Vergl.  Trautmann,  S.  163  ff.;   Rille,  a.  a.  O.,  S.  123;   Lang,  a.  a.  O.,  S.  351 
bis  352. 


—      453      — 

Aehnliche  gutartige  nichtsyphilitische  „Geschwüre  des  Nasen- 
randes" beschrieb  SherwelP). 

Auch  die  Kälte  kann  öfter  durch  Gangrän  weitgreifende  Zer- 
störungen der  Nase  herbeiführen,  wie  dies  nach  v.  Walther  öfter 
in  Sibirien  beobachtet  worden  ist  2). 

Auf  die  Verw^echselung  des  chronischen  Rotzes  der  Nase  und 
der  übrigen  Schleimhäute  der  oberen  Luftwege  machte  schon  Ricord 
aufmerksam^).  Neuerdings  hat  Buschke  in  einer  gründlichen  Unter- 
suchung über  die  klinischen  Erscheinungen  des  Rotzes  auch  diese 
Frage  gestreift.  Er  bemerkt  u.  a.:  „Sowohl  die  visceralen  Formen 
(des  chronischen  Rotes)  als  auch  die  auf  Schleimhäuten  und  Haut 
lokalisierten  Formen  bereiten  der  Diagnose  grosse  Schwierigkeiten. 
Zumal  die  ganz  schleichenden,  ganz  chronisch  entstehenden  Rotz- 
geschwüre an  der  Nasenschleimhaut  und  an  der  Haut  haben  so  wenig 
Charakteristisches,  dass  oft  klinisch  die  Unterscheidung  von  syphi- 
litischen, tuberkulösen  Geschwüren  eventuell  Actinomykose  der 
Haut  einfach  nicht  zu  machen  ist."  Bei  Rotzgeschwüren  der  Lippen, 
des  harten  Gaumens,  der  Nase,  Oberlippe,  des  weichen  Gaumens  und 
Gaumensegels  erschien  zuerst  die  Diagnose  „Lues"  am  wahrschein- 
lichsten, bis  eine  längere  Zeit  erfolglos  fortgesetzte  antisyphilitische 
Kur  auf  die  richtige  Diagnose  hinleitete^).  In  einem  von  Neisser 
beobachteten  Falle  von  Rotz  wies  freihch  Jodkalium  eine  erfolgreiche 
Wirkung  auf^). 

Es  ist  ja  bekannt,  dass  die  gonorrhoische  Affektion  sich  auch 
auf  der  Schleimhaut  der  oberen  Luftwege  etablieren  kann,  so  nament- 
lich bei  kleinen  Kindern  in  der  Mundhöhle  (Rosinski).  Der  fol- 
gendemerkwürdige, von  Edwards  in  der  „Lancet"  vom  4.  April  1857 
mitgeteilte  Fall*^)  betrifft  sogar  einen  Fall  von  primärer  gonorrhoischer 
Infektion  der  Nase  bei  einer  Erwachsenen: 

Eine  Frau  bekam  den  Besuch  ihres  Sohnes,  welcher  am  Tripper  litt  und  da- 
bei sich  eines  Schnupftuches  als  eines  Tragbeutels  für  den  Hodensack  be- 
diente. Dieses  Schnupftuch  Hess  er  im  Zimmer  liegen;  die  Mutter  nahm  es 
auf  und  bediente  sich  desselben  einige  Tage  für  ihre  Nase.  Am  5.  Tage 
wurde  die  linke  Nasenhälfte   heiss    und  trocken    und  juckte  sehr  stark,  und  bald  stellte  sich 


i)  Unna's  Monatshefte   1899,  Bd.  XXIX,  No.  4,  S.    177. 

2)  Ph.  Fr.  V.  Walther,  Ueber  das  Alterthum  der  Knochen-Krankheilen,  a.  a.  O.,  S.  12 

3)  Ricord,  a.  a.  O.  (Ausgabe  von  Lippert),  S.    133. 

4)  A.  Buschke,    ,, Ueber    chronischen    Rotz    der    menschlichen   Haut   u.  s.  w.    in: 
Archiv  für  Dermatologie   1896,  Bd.  XXXVI,  S.  324,  328—329. 

5)  A.  Neisser,    ,,Ein    Fall   von    chronischem    Rotz"  in:  Berliner  klin.   Wochenschr. 
Bd.  XXIV,  No.    14. 

6)  Vergl.  F.  J.  Behrend,  Syphilidologie  N.  F.,  Bd.  II,  S.  143  —  144,  Erlangen  1860. 


—      454      — 

ein  gelber  Ausfluss  aus  derselben  ein;  einige  Zeit  darauf  wurde  die  rechte  Nasenhälfte  ganz 
ebenso  ergriffen  und  die  Augen  etwas  entzündet.  Diese  Symptome  waren  mit  Kopfschmerz, 
Gliederreissen  und  Frösteln  begleitet.  Anfangs  hielt  sie  es  für  einen  Anfall  von  Grippe,  die 
Nase  wurde  immer  schlimmer  und  sie  wendete  sich  an  mehrere  Aerzte,  die  ihr  verschiedene 
Mittel  verordneten.  So  dauerte  die  Krankheit  an  6  Monate  und,  als  sie  endlich  an  Herrn 
E.  sich  wendete,  bot  sich  folgender  Zustand  dar:  Das  ganze  Angesicht  geschwollen,  beson- 
ders die  Augenlider,  die  Nase  und  die  Oberlippe.  Etwas  Kongestion  in  der  Bindehaut 
beider  Augen,  am  linken  Mundwinkel  einige  kleine  Abscesse;  die  Nase  sehr  empfindlich 
beim  Drucke  und  die  Haut  darüber  rot,  gespannt,  etwas  glänzend,  mit  einigen  entzündeten 
Papeln.  Die  Haut  auf  der  Oberlippe  exkoriiert  und  zwar  deutlich  infolge  des  aus  der  Nase 
ausfliessenden  scharfen  Schleimes.  Dieser  Ausfluss  war  sehr  übelriechend  und  die  Frau  ab- 
gemagert imd  schwach.  Herr  E.  öffnete  zuerst  die  kleinen  Abscesse,  bestrich  die  Ober- 
lippe und  die  Nasenränder  mit  Glycerin  und  verordnete  häufig  wiederholte  Ausspritzungen 
der  Nase  mit  warmem  Wasser.  Innerlich  gab  er  Fernim  citratum  und  Chinin  in  Pillen  und 
später,  als  die  Entzündung  grösstenteils  vorüber  war,  machte  er  verdünnte  Einspritzungen 
von  Myrrhentinktur.     Damit  wurde  die  Kranke  vollständig  geheilt. 

Auch  spitze  Kondylome  werden  bisweilen  am  Eingang  der 
Nase  beobachtet,  wie  z.  B.  kürzlich  Reale  einen  solchen  Fall  mit- 
geteilt hat^). 

Endlich  muss  noch  die  sog.  „Nasen geschwulst  der  afrikanischen 
Westküste"  erwähnt  werden,  das  Produkt  einer  osteoplastischen  Perio- 
titis,  das  wohl  eine  syphilitische  Affektion  vortäuschen  könnte  2). 

§  31     Pseiulosyphilitische  Af'fektioiien,  die  zugleich  an  den 

Genitalien,    am   Anus,    in    der  Mundhöhle   und   an   anderen 

Körperteilen  auftreten. 

Diese  Gruppe  umfasst  diejenigen  krankhaften  Veränderungen 
der  Haut  und  der  Schleimhäute,  die  sich  durch  ein  gleichzeitiges 
Auftreten  an  den  Genitalien  und  am  After,  an  jenen  Teilen  und  in 
der  Mundhöhle  oder  an  anderen  Teilen  des  Körpers  auszeichnen. 
Der  Kombinationen  sind  viele,  und  dieser  eigenartige  Symptomen- 
komplex ist  es  vor  allem,  der  für  die  Deutung  älterer  Texte  die 
grösste  Beachtung  verdient.  Gar  viele  einfache  nichtsyphilitische 
Affektionen,  denen  die  Eigentümlichkeit  zukommt,  zugleich  an  den 
Genitalien  und  am  Anus  oder  an  den  Genitalien  und  im  Munde  u.s.  w. 
Erscheinungen  zu  machen,  galten  entweder  in  früheren  Zeiten  als 
solche  syphilitischer  Natur  oder  sie  wurden  bei  undeutlicher  Be- 
schreibung, wie  dies  in  älteren  Werken  die  Regel  ist,  von  den  Medizin- 
historikern und  Aerzten  als  Syphilis  gedeutet.  Erst  mit  der  fort- 
schreitenden Entwickelung  der   modernen  Dermatologie  ist  man  sich 


1)  Monatshefte  für  prakt.  Dermatologie   1901,  No.   5,  Bd.   XXXH,  S.   243. 

2)  B.   Scheube,     Die    Krankheiten    der    warmen    Länder,    2.    Aufl.,   Jena    1900, 
S.  616—617. 


—     455      — 

über  die  nichtsyphilitische  Natur  dieser  Art  von  Leiden  klar  geworden. 
Ich  habe  vor  allem  aus  dem  Studium  dieser  Gruppe  von  pseudo- 
syphilitischen Affektionen  die  feste  Überzeugung  von  der  Haltlosig- 
keit der  Deutungen  antiker  oder  mittelalterlicher  Krankheitsschilde- 
rungen als  syphilitische  Leiden  gewonnen.  Wer  einfach,  klar  und 
unbefangen  sich  die  hier  noch  heute  alltäglich  beobachteten  Kom- 
binationsmöglichkeiten vergegenwärtigt,  die  die  Lokalisation 
nichtsyphilitischer  Affektionen  in  täuschender  AehnHchkeit  mit  solchen 
syphilitischer  Provenienz  haben  kann,  der  wird  eine  zuverlässige 
Grundlage  für  die  richtige  Beurteilung  jener  älteren  Krankheits- 
schilderungen gewonnen   haben. 

Auch  hier  kommen  zunächst  solche  Affektionen  in  Betracht,  die 
in  einem  näheren  oder  entfernteren  Zusammenhang  mit  dem  Bei- 
schlaf oder  anderen  sexuellen  Handlungen  stehen,  also  eigentlich 
„venerischen"  Ursprungs  sind,  ohne  doch  syphilitischer  Natur  zu  sein. 

Gleichzeitig  mit  der  Lokalisation  am  Genitale  kann  beim  Bei- 
schlafe der  weiche  Schanker  durch  Berührung  auf  andere  Körper- 
stellen übertragen  werden.  Häufig  ist  namentlich  bei  Frauen  das 
gleichzeitige  Auftreten  von  Ulcus  molle- Geschwüren  an  Vulva  und 
After.  Bekanntlich  hat  man  aber  auch  solche  Schankergeschwüre 
an  anderen  Körperteilen,  wie  z.  B.  am  Sternum,  auf  der  Hand,  an 
den  Fingern,  am  Arm,  im  Gesicht,  am  Kopfe  u.  s.  w.  beobachtet  ^). 
Lifolge  widernatürlicher  Ausübung  des  Geschlechtsaktes  können  weiche 
Schankergeschwüre  auf  der  Schleimhaut  des  Anus,  der  Mundlippen, 
der  Zungenspitze  und  Tonsillen  hervorgerufen  werden  -)  und  sich  mit 
den  durch  vorher  ausgeübten  regulären  Geschlechtsverkehr  entstan- 
denen venerischen  Geschwüren  an  den  Genitalien  kombinieren.  Hoff- 
mann  demonstrierte  auf  dem  Internationalen  Dermatologenkongresse 
in  Berlin  (September  1904)  einen  Mann,  der  sich  durch  Ausübung 
des  Cunnilingus  Ulcera  mollia  gangraenosa  der  Lippe  und  Zunge  zu- 
gezogen hatte,  zu  denen  erst  einige  Wochen  später  sich  syphilitische 
Primäraffekte  gesellten  ^),  und  es  scheint  keinem  Zweifel  zu  unter- 
liegen, dass  Fälle  vorkommen,  in  denen  gleichzeitig  an  den  Geni- 
talien, den  Lippen  und  auf  der  Mundschleimhaut  schankerartige  und 


i)  Vergl.  Rudolf  Krefting,  ,, Extragenitale  Ulcera  mollia"  in:  Norsk  Magazin  for 
Laegevidenskaben,  Februar  1896  (Referat  in:  Unna's  Monatsheften  1897,  Bd.  XXIV, 
S.  46);  J.  Csyllag,  „Vier  Fälle  von  extragenitalem  weichem  Schanker"'  in:  Archiv  für 
Dermatologie   1899,  Bd.  XLVIII,  Heft  3. 

2)  M.  V.  Zeissl,  Artikel  „Schanker"  in:  Eulenburg's  Encyclopädie  1899,  Bd. 
XXI,  S.   519. 

3)  Monatshefte  für  prakt.   Dermatologie    1905,   Bd.  XL,   S.    124. 


—     456      — 

echte  venerische  Geschwüre  vorkommen,  die  durch  Kombination  per- 
verser Praktiken  (CunniHngus,  Coitus  in  os)  mit  dem  regelrechten 
Coitus  entstanden  sind. 

Hierher  gehört  auch  das  Auftreten  von  Aphthen  der  Vulva 
und  des  Mundes  nach  Coitus.  In  einer  Inauguraldissertation  „Ueber 
Stomatitis  und  Vulvitis  aphthosa"  (Würzburg  1895J  berichtet  Otto 
Christlieb  über  das  gleichzeitige  Auftreten  aphthöser  Geschwüre 
an  der  Vulva  und  der  Mundschleimhaut  bei  einer  24jährigen  Patientin, 
im  Anschluss  an  einen  Coitus!  Es  fanden  sich  Geschwüre  an  den 
äusseren  Genitalien,  rote  Flecke  am  Unterschenkel  von  kreisförmiger 
Anordnung.  Auffällig  war  der  knorpelharte  Rand  der  Geschwüre. 
An  der  Gingiva  des  Unterkiefers  sass  ein  aphthöses  Geschwür,  ebenso 
befanden  sich  an  der  Uvula  kleine  Geschwüre.  „Die  ausgedehnte 
Geschwürsbildung  an  der  Vulva,  die  geschwollenen  Leistendrüsen, 
das  Exanthem  und  die  Geschwüre  in  der  Mundhöhle  sprachen  sehr 
für  Syphilis."  Aber  diese  konnte  mit  Sicherheit  ausgeschlossen  werden. 
Es  handelte  sich  um  das  gleichzeitige  Auftreten  einer  aphthösen 
Vulvitis  und  Stomatitis. 

Eingehend  hat  Isidor  Neumann  die  Aphthen  am  weiblichen 
Genitale  studiert^)  und  auf  ihre  leichte  Verwechselung  mit  venerischen 
Geschwüren  aufmerksam  gemacht.  Es  kommt  nämlich  recht  häufig 
bei  den  aphthösen  Affektionen  der  weiblichen  Geschlechtsteile  zu 
tiefgreifenden  und  ausgedehnten  Ulcerationen,  und  die  Aphthen  er- 
strecken sich  von  der  Vulva  oft  bis  zum  After,  so  dass  die  Diffe- 
rentialdiagnose zwischen  ihnen  und  den  syphilitischen  Ulcera  recht 
schwierig  ist.  Neu  mann  sah  Auftreten  der  Aphthen  jedesmal  intra 
partum.  Das  Interessanteste  und  in  Bezug  auf  Deutung  alter  Schil- 
derungen Bemerkenswerteste  ist  das  gleichzeitige  Auftreten  von 
Anomalien  der  Hautdecke  neben  der  aphthösen  Erkrankung  der 
Genitalien.  So  beobachtete  Neumann  zwei  Mal  ein  Erythema  multi- 
forme, ebenso  oft  ein  Erythema  nodosum  dabei;  auch  andere  toxische 
Exantheme  (pustulöse  Formen  u.  s.  w.)  können  sich  mit  Aphthen  der 
Geschlechtsteile  vergesellschaften  und  so  Syphilis  vortäuschen.  Ferner 
sah  Neumann  bei  einer  26jährigen,  früher  gesunden  Magd  nicht 
bloss  auf  der  Mund-  und  Gaumenschleimhaut,  sondern  auch  an  der 
Innenfläche  der  Labia  minora,  der  Vulva,  Vagina  und  Vaginalportion 
des  Uterus  aphthöse  Geschwüre.  Diese  vermehrten  sich  unter  Stei- 
gerung des  Fiebers  gleichzeitig  mit  „linsen-  bis  kreuzergrossen,  derben, 


l)  J.  Neumann,    ,,Die    Aphthen    am    weiblichen    Genitale"     in:     Wiener    klinische 
Rundschau    1895,   No.    19. 


—     457      — 

lividroten  Knoten  an  den  unteren  Extremitäten,  von  welchen  einzelne 
im  Centrum  mit  miliaren  gelben  Punkten  besetzt  waren"  ^). 

Seltener  als  Aphthen  kommen  kondylomatöse  Wucherungen 
gleichzeitig  an  den  Genitalien  und  an  anderen  Körperstellen  vor.  So 
beobachtete  Thevenin  solche  Kondylome  an  der  Vorhaut  und  am 
behaarten  Kopf '-). 

Auch  das  venerische  Granulom,  bei  dessen  Entstehung  geschlecht- 
liche Beziehungen  eine  offenbar  begünstigende  Rolle  spielen  (s.  S.  431), 
etabliert  sich  bisweilen  ausser  an  den  Genitalien,  dem  After  und  Um- 
gebung auch  in  der  Mundhöhle,  an  der  Innenfläche  der  Wangen, 
Lippen,  am  Zahnfleische  und  der  Zunge  ^). 

Von  grösstem  Interesse  ist  es,  dass  derselbe  Coitus  impurus,  der 
eine  Gonorrhoe  zur  Folge  hat,  als  weitere  indirekte  Folgen  das 
Auftreten  von  Exanthemen  hervorruft,  die  neuerdings  besonders  von 
Buschke^)  studiert  worden  sind.  Es  handelt  sich  um  einfache  Ery- 
theme, urticarielle  und  Erythema  nodosum-ähnliche  Affektionen,  hämor- 
rhagische und  bullöse  Hauteruptionen  und  Keratodermien  als  „Haut- 
manifestation" der  Gonorrhoe.  Sie  stehen  in  direkter  ätiologischer 
Beziehung  zu  dem  durch  den  Beischlaf  übertragenen  gonorrhoischen 
Virus.  Ohne  Zweifel  hätte  man  einen  neuerdings  von  Orlipki^) 
mitgeteilten  Fall,  in  dem  ein  Mann  drei  Mal  hintereinander  an  einer 
Quaddeleruption  der  Haut  erkrankte,  sobald  er  sich  gonorrhoisch 
inficierte,  als  „Syphilis"  gedeutet,  wenn  er  etwa  in  der  primitiven 
Beschreibung  der  alten  Aerzte  mitgeteilt  worden  wäre. 

Einen  höchst  merkwürdigen  pseudosyphilitischen  S3'mptomen- 
komplex  boten  vier  Tripperpatienten,  die  Menard  im  Jahre  1889 
beobachtete.  Es  handelte  sich  bei  allen  Patienten  um  Harnröhren- 
gonorrhoe, die  mit  Orchitis,  Arthritis  und  mit  Auftreten  von  Ge- 
schwüren im  Munde  kompliziert  war*'). 


i)J.  Neumann,  „lieber  die  klinischen  und  histologischen  Veränderungen  der  er- 
krankten Vaginalschleimhaut"  in:   Archiv  für  Dermatologie    1899,  S.   635. 

2)  Journal  des  maladies  aitanees  1898,  No.  i,  Referat  in  Monatshefte  XXVII, 
1898,  S.  407. 

3)  B.  Scheube  a.  a.  O.,  S.  605—608. 

4)  A.  Buschke,  Ueber  Exantheme  bei  Gonorrhoe  (Verhandl.  d.  Berl.  derm.  Ge- 
sellschaft vom  21.  März  1899),  Referat  in  Monatshefte  f.  pr.  Derm.  1899,  Bd.  XXVIII, 
S-  515  —  518,  Archiv  für  Dermatologie   1899,  Bd.  XLVIII,  S.    181—204;  385—398. 

5)  In  Münchener  med.  Wochenschr.  1902,  No.  40,  citiert  nach  M.  v.  Zeissl, 
Diagnose   imd   Behandlung    der    venerischen    Krankheiten,    Berlin   und  Wien  1905,  S.    192. 

6)  L.  Jullien,  Seltene  und  weniger  bekannte  Tripperformen.  Deutsch  von  G.  Merz- 
bach,  Wien  vuid  Leipzig   1907,  S.   22. 


-     458     — 

Baudoin  und  Gastou  konstatierten  bei  einem  mit  Tripper 
behafteten  jungen  Manne  zugleich  einen  ganzen  Kranz  von  Pyo- 
dermatitiden  auf  der  Innenfläche  der  Oberschenkel,  in  denen  man 
Gonokokken  nachweisen  konnte  ^). 

Dass  natürlich  auch  ein  zufälliges  gleichzeitiges  Zusammen- 
treffen von  Hauterkrankung  und  Gonorrhoe  einen  ursächlichen  Zu- 
sammenhang zwischen  beiden  vortäuschen  kann,  ist  klar.  So  hat 
man   Coincidenz  von  Furunkulose  und  Gonorrhoe  gesehen  ^). 

Auch  die  bei  einem  Beischlaf  acquirierte  Scabies  kann  zu 
gleicher  Zeit  an  den  Genitalien  und  dem  übrigeu  Körper  lokalisiert 
sein  und  so  den  Verdacht  einer  syphilitischen  Affektion  erwecken. 
Eduard  Lang  berichtet,  dass  er  mehr  als  einmal  in  die  Lage  ge- 
kommen sei,  Patienten  mit  an  den  Genitalien  sitzenden  Scabiespusteln 
und  Borken  zu  untersuchen,  die  von  Praktikern  für  venerisch  ange- 
sehen und  behandelt  worden  waren  und  am  übrigen  Körper  ähnliche 
Efflorescenzen  aufwiesen  ^). 

Auch  das  seborrhoische  Ekzem  kann  durch  den  Beischlaf 
übertragen  werden.  L.  Perrin  beobachtete  das  besonders  bei  Ehe- 
leuten. In  zwei  Fällen  trat  einen  Monat  nach  erfolgtem  Coitus  ein 
typisches  seborrhoisches  Ekzem  bei  dem  gesunden  Teile  auf,  das  von 
der  Leistengegend  des  kranken  Teiles  übertragen  worden  war^^). 

* 
Unter  den  Affektionen,  welche  unabhängig  vom  Beischlafe  sich 
am  Körper,  der  Schleimhaut  des  Mundes  und  in  der  Genitalregion 
zu  gleicher  Zeit  etablieren  können,  erwähnen  wir  zunächst  das  Ery- 
thema  exsudativum  multiforme.  Namentlich  die  Kombination 
der  Schleimhauterytheme  mit  denjenigen  der  Körperfläche  und  speciell 
der  Genitalien  kann  zur  Verwechselung  mit  syphilitischen  Exanthemen 
Veranlassung  geben.  Es  seien  nur  einige  besonders  augenfällige 
Beispiele  genannt,  die  das  Erythema  multiforme  zu  einer  pseudo- 
syphilitischen Hautaffektion  par  excellence  stempeln.  So  beobachtete 
Rosenthal  die  gleichzeitige  Lokalisation  eines  Erythema  bullosum 
im  Munde  und  an  den  Genitalien^),  und  nach  H.  Köbner'')  tritt 
besonders   die   als    „Herpes  Iris"   bekannte   Form    des   Erythema   ex- 


i)  L.  Jullien,  ibidem  S.  65. 

2)  B.  Tarnowsky,  Vorträge  über  venerische  Krankheiten,  Berlin    1872,  S.  104. 

3)  Eduard  Lang,  Das  venerische  „Geschwür",  Wiesbaden   1887,  S.  38 — 39. 

4)  L.   Perrin,    „Contagiosität    und   Uebertragbarkeit    des    Eczema   seborrhoicum    der 
Leistengegend",  Archiv  f.  Derm.    1899,  Bd.  LX,  S.  459 — 460. 

5)  Verhandlungen  der  Deutschen  dermatologischen  Gesellschaft   1894,  S.   564. 

6)  lieber  Pemphigus  vegetans  etc.,    1894  a.  a.  O.,  S.  65 — 66. 


—      459     — 

sudativum  multiforme  zugleich  an  den  Lippen,  in  der  Mund- 
höhle, den  Genitalien,  dem  Perineum,  um  den  Anus  und  zer- 
streut auch  auf  den  Hinterbacken  auf. 

„Ich  habe",  sagt  er,  „einen  solchen  Fall  1887  demon- 
striert, welcher  8  Jahre  hindurch  antisyphilitisch  (notabene 
von  modernen  Spezialisten!)  behandelt  worden  war,  am  an- 
greifendsten  in  Aachen  und  Wiesbaden,  und  der  damals  gerade 
einen  seiner  heftigeren  Ausbrüche  an  den  Beugeseiten  der  Finger, 
den  Handtellern,  auf  dem  Nagelbett  einiger  Fingernägel,  dem  Penis, 
Scrotum,  die  Raphe  entlang  sich  steigernd  bis  um  die  Analöffnung 
herum  und  auf  einer  Hinterbacke,  nur  wenig  an  der  einen  Fusssohle, 
dagegen  höchst  intensiv  in  der  Mundhöhle  darbot. 

An  der  Vorderseite  der  Genitalien  meistens  schon  in  runde 
Excoriationen  verwandelt  und  nur  an  der  Hinterseite  des  Scrotum 
bis  um  den  Anus  gleichwie  an  den  Handtellern  noch  als  Bläschen- 
ringe konserviert,  erschien  der  massenhafte  Ausbruch  derselben  im 
Munde  als  zahllose,  wie  zum  Teil  mit  einem  dünnen,  grauweißen  oder 
graugelblichen,  nicht  fest  haftenden  Belag  bedeckte,  von  geschwellten, 
lebhaft  roten,  schmerzhaften  Höfen  halbmondförmig  umsäumte,  con- 
fluierte  Erosionen  der  Lippen-,  Wangenschleimhaut  und  des  Mund- 
bodens neben  dem  Frenulum  linguae,  welche  weiter  die  Pallisaden 
des  Zahnfleisches  sämtlicher  Unter-  und  Oberkieferzähne  als  con- 
tinuierliche,  halbkreis-  oder  kranzförmige  Bläschengrenze  umsäumten 
und  sich  am  harten  und  etwas  zerstreuter  am  weichen  Gaumen  und 
dem  Gaumenbogen  bis  zur  Epiglottis  und  der  hinteren  Rachenwand 
erstreckten." 

Als  eine  Form  des  Erythema  multiforme  ist  wohl  auch  die  von 
Eduard  Lang^)  als  „lokal  recidivierender  Blasenausschlag"  be- 
zeichnete Affektion  anzusehen,  die  „bald  an  der  Zunge,  bald  an  den 
Lippen,  Wangen  und  Gaumen  linsengroße  und  noch  größere 
Erosionen  hervorruft,  welche  auf  schwach  infiltrierter  Basis  ruhend, 
lebhaft  rot  oder  mit  einem  weißlichen  Belage  behaftet  waren  und  um 
so  eher  zur  Annahme  von  erodierten  Papeln  verlockten,  als  die 
ganz  gleichen  Veränderungen  auch  am  Genitale  (Glans,  Prä- 
putium, Scrotum)  zu  sehen  waren;  nur  ließen  sich  am  Rande  einzelner 
Erosionen  (des  Scrotum)  nebenher  Blasenreste  konstatieren." 

Auch  Rille^)  weist  auf  die  „oftmals  recht  schwierige" 
Unterscheidung    des  Erythema  multiforme    von    .syphilitischen  Papeln 


i)  E.  Lang,  Vorlesungen  über  Syphilis   1896,   2.  Aufl.,  S.   297. 
2)  J.  H.   Rille,  Lehrbuch  der  Haut-  und  Geschlechtskrankheiten,  Jena  1902,  S.  30. 
Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  ^^ 


—      460     — 

hin,  da  „insbesondere  chronisch  recidivierendes  Erythema  iris  ausser 
an  der  Mundschleimhaut  auch  noch  atypisch  an  den  Handtellern 
(statt  an  den  Handrücken)  vorkommt  und  so  wegen  der  naheliegenden 
Verwechselung  mit  einem  Palmarsyphilid  die  Schwierigkeit  erhöht 
wird".  Besondere  diagnostische  Schwierigkeiten  bietet  nach  Rille 
eine  „bei  schlecht  menstruierenden  oder  sterilen  Frauen  vorkommende, 
sehr  chronische,  an  den  Händen  und  namentlich  an  der  Stirn  e 
lokalisierte  Form,  die  aus  gruppierten  braunroten,  derben,  etwa  erbsen- 
grossen  Knoten  besteht  und  kutane  Gummen  resp.  Corona  venerea 
vortäuschen  kann". 

Endlich  hat  man  noch  eine  merkwürdige  Kombination  von 
Erythema  multiforme  mit  Angina  beobachtet^). 

Gleich  dem  Erythema  multiforme  wird  auch  der  chronische 
recidivierende  Herpes  der  Mundhöhle  oft  mit  syphilitischen 
Plaques  muqueuses  verwechselt,  um  so  mehr,  wenn  er,  wie  sehr  häufig, 
abwechselnd  oder  gleichzeitig  mit  Herpes  genitalis  auftritt. 

Besonders  eklatante  Beispiele  hierfür  beobachteten  Sabrazes^), 
Th.  S.  FlatauS)  und  Köbner*). 

Der  Herpes  zoster  (Zoster)  der  Genitalien  und  der  Mund- 
und  Rachenschleimhaut  ist  ebenfalls  schon  sehr  oft  mit  syphilitischen 
Affektionen  verwechselt  worden. 

Von  großem  Interesse  sind  auch  die  von  Köbner  (a.  a.  O. 
S.  64 — 65)  geschilderten  akuten  Ausbrüche  grösserer  zahlreicher 
Blasen  auf  der  Zunge  und  einzelner,  meistens  kleinerer  auf 
dem  Penis,  Scrotum  oder  auch  in  der  Regio  ani,  denen 
Pruritus  vorauszugehen  pflegt. 

., Einmal  habe  ich  eine  gleichfalls  noch  nicht  sicher  zu  systematisierende  Phlyktänose 
fast  nur  der  Schleimhäute  bei  einem  40jährigen  Manne  beobachtet,  deren  kleine  Blasen  und 
Bläschen  auf  der  Conjunctiva  oder  wenigstens  mit  der  Conjunctivitis  begonnen  haben  und 
sich  zunächst  auf  die  Nasen-,  dann  die  Rachen-  und  Mundschleimhaut,  gelegentlich  auch 
auf  den  Kehlkopfeingang,  später  auf  die  Glans  penis  und  endlich  auf  die  Haut  von 
Hämorrhoidalknoten  verbreitet  haben  sollten,  und  deren  oberflächliche,  linsengroße,  leicht 
blutende  und  schmerzhafte  Erosionen ,  welche  während  mehrerer  Jahre  am  häufigsten  nur 
auf  der  Nasen-  und  Rachen-Mundschleimhaut  wiederkehrten,  für  Syphilis  gehalten 
worden  waren." 

Eine  wichtige  Rolle  unter  den  pseudosyphilitischen  Blasen- 
erkrankungen der  Haut  spielt  der  Pemphigus,   an    erster  Stelle  die 


1)  C.  Boeck  in  Vierteljahrsschrift  f.  Derm.  u.  Syph.    1883,   Bd.  XV,  S.  481—490. 

2)  Sabrazes,    Herpes   recidivant   de   la   bouche    et   de   la   verge   (seit    9  Jahren),  in 
Annales  de  la  Policlin.  de  Bordeaux   1890,  p.    1S8. 

3)  Th.  S.  Flatau,  Deutsche  med.  Wochenschr.    1891,  No.   22. 

4)  Köbner   a.    a.    O.,    S.  63.      Vergl.    auch    die   Monographie   von    P.    Diday    und 
A.   Doyon,   ,,L'herpes  recidivant  des  parlies  genitales." 


—     4^1      — • 

als  „Pemphigus  vegetans"  1886  von  J.  Neumann  beschriebene  Form 
desselben,  die  früher  nach  seinem  Zeugnis  nicht  bloss  von  Dermato- 
logen ersten  Ranges  wie  Hebra,  Kaposi  und  J.  Neumann 
selbst  stets  als  „Syphilis  cutanea  papillomiformis  s.  vegetans" 
behandelt  worden  war,  sondern  nach  Köbner  auch  heute  noch  „fast 
überall"  mit  Syphilis  verwechselt  wird.  Köbner  (a.  a.  O. 
71 — 89)  teilt  mehrere  Beobachtungen  dieser  Pemphigusform  mit. 

In  dem  einen  Falle  handelte  es  sich  um  einen  Epithelverlust  der  ganzen 
Mundschleimhaut,  flache  Ulcerationen  am  Naseneingang,  auf  den  Conjunctivae  bulbi, 
um  Condylom  ähnliche  Bildungen  am  After  und  Hau  tcondy  lome  und  nässende 
Wucherungen  unter  der  Unterlippe  und  in  der  Achselhöhle,  zwischen  Scrotum  und 
Schenkel.      Dabei  bestand  widerlicher    Foetor  ex  ore. 

Ein  Patient  war  wegen  ,, Halsbeschwerden  und  weisser  Bläschen  auf  Zunge  und 
Wangenschleimhaut''  und  ,,Condylomata  intra  nates"  sogar  antisyphilitisch  behandelt  worden. 
Diese  ,, Kondylome"  widerstanden  aber  hartnäckig  allen  antisyphilitischen 
Kuren.  Später  traten  neue  Ausbrüche  im  Munde  auf,  Erosionen  der  Schleimhaut,  Blasen 
zwischen  den  Schenkeln  und  am  Perineum  und  Scrotum,  die  sich  zum  grossen  Teil  in  rund- 
liche, flache,  breiten  Condylomen  ähnliche,  nässende  und  sehr  juckende  Er- 
hebungen umwandelten  und  trotz  Calomel-Streupulver  immer  höher  und  dichter  empor- 
wucherten imd  eine  kolossale  Ausdehnung  am  Scrotum  und  den  inneren  Oberschenkeiflächen 
über  die  Inguinalgegenden  hinweg  bis  auf  den  Mons  pubis,  sowie  von  der  Wurzel  des 
Scrotum   über  das  ganze  Perineum  bis  nahe  an  den   Anus  erreichten. 

In  einem  dritten  Falle  traten  bei  einer  45jährigen  Frau  zuerst  Halsbeschwerden, 
Erosionen  der  Mucosa  buccalis  sinistra,  Blasen  an  der  Zunge  und  in  der  ganzen  Mundhöhle 
und  Rachen  auf.  Antisyphilitische  Behandlung  trotz  jeden  Fehlens  eines  Anhaltspunktes. 
Schliesslich  ergab  sich  folgendes  Bild:  Der  Mund  war  voll  von  aus  Blasen  entstandenen 
Excoriationen,  der  Naseneingang  mit  Borken  besetzt,  desgleichen  fanden  sich  zwei  thalergrosse 
Stellen  am  Mittelkopf.  Am  Nabel  und  den  Genitalien,  der  Clitoris  und  den  Nymphen 
zahlreiche  teils  mit  graulich  weissen  Epithelien  bedeckte  oder  imirandete,  teils  tiefrote,  rund- 
liche, isolierte  und  confluierende  Excoriationen,  stellenweise  mit  knopfförmigen  Erhaben- 
heiten besetzt.  An  der  Innenseite  der  rechten  grossen  Scham  lefze  luid  der 
kleinen  ein  etwa  erbsengrosses  oberflächliches,  gelb  belegtes  Geschwür.  An  der  Innen- 
seile des  rechten  Oberschenkels  eine  Gruppe  von  condylomartigen  Wucherungen. 

Auch  Rille  betont  (a.  a.  O.,  S.  96)  nachdrücklich  die  „größte 
Aehnlichkeit"  der  Pemphigus  vegetans- Wucherungen  mit  breiten 
Condylomen.  Hierfür  spricht  auch  die  interessante  Thatsache,  dass 
der  ältere  Hebra  die  Krankheit  noch  als  „Syphilis  cutanea 
papillomiformis"  bezeichnet  hat,  während  schon  Sauvages  diese 
Fungi  der  Achselhöhle  und  der  Genitahen  als  besondere  Krankheit 
beschrieben  hat^). 

Wenn  also  einem  so  hervorragenden  Diagnostiker  wie  Hebra 
dieser  Irrtum  am  lebenden  Menschen  passiert  ist,  wie  will  man  sich 
da    vermessen,    aus    den   doch    viel   unklareren    vSchilderungen    dieser 


i)   Vgl.  J.  Neumann,   „Ueber  Pemphigus  vegetans"  in:    Vierteljahrsschr.  f.  Dermat. 

i886,  Bd.  XVIII,  S.    157,    158. 

30* 


—      4^2      — 

Art  in  der  älteren  Literatur  mit  Sicherheit  auf  Syphilis  zu  schliessen 
und  ähnhche  nichtsyphilitische  Leiden  wie  das  eben  geschilderte  aus- 
zuschliessen  ? 

An  den  Pemphigus  vegetans  reiht  sich  in  Bezug  auf  ihre 
Syphilisähnlichkeit  die  tropische  Framboesie  (Yaws,  Plans,  Bubas, 
Patek  etc.),  an,  eine  in  Afrika,  Niederländisch-Indien,  der  Südsee  und 
den  Antillen  endemische  Krankheit;  die  ihrem  Wesen  nach  von  der 
Syphilis  durchaus  verschieden  ist,  wie  schon  die  Beobachtungen*) 
der  älteren  Autoren  ergeben  haben,  die  erwiesen,  dass  die  Framboesie 
auch  ohne  medikamentöse  Therapie  heilt,  gegen  Quecksilber  sich 
refraktär  verhält  und  öfter  neben  der  Syphilis  an  demselben  Indi- 
viduum beobachtet  wird.  Aus  diesen  Gründen  sprechen  sich  auch 
neuere  Autoren,  wie  G.  Lewin-)  und  B.  Scheube'^)  gegen  die  syphi- 
litische Natur  der  Framboesie  aus.  Sehr  wertvoll  ist  das  Urteil 
unseres  bedeutendsten  Venereologen,  der  beide  Krankheiten  an  Ort 
und  vStelle  genau  studieren  konnte.  Herr  Professor  Albert  Neisser 
schrieb  mir  nach  seiner  Rückkehr  von  der  ersten  Tropenreise,  auf 
meine  Anfrage,  unter  dem   23.  Januar    igo6: 

„Meiner  Ansicht  nach  kann  nicht  der  geringste  Zweifel 
bestehen,  daß  die  tropische  Framboesie  und  die  S3'philis  zwei  ganz 
verschiedene  Krankheiten  sind.  Es  ist  zwar  ganz  sicher,  daß 
sehr  viele  Fehldiagnosen  nach  beiden  Richtungen  hin  gemacht 
worden  sind  und  auch  zur  Zeit  noch  gemacht  werden  —  ich  selbst 
z.  B.  würde  mich  nicht  getrauen,  in  allen  Fällen  eine  sichere 
Differentialdiagnose  zu  stellen  —  aber  dadurch  wird  die  Frage 
nach  der  Aetiologie  ebenso  wenig  berührt,  wie  etwa  in  früheren  Zeiten 
die  ätiologische  Beurteilung  des  sog.  Lupus  syphiliticus. 

Dass  die  beiden  Krankheiten  absolut  verschieden  sind,  geht  hervor: 

1.  Aus  den  alten  in  den  8oer  Jahren  von  Charlouis  gemachten 
Impf  versuchen ,  veröffentlicht  im  Archiv  für  Dermatologie  und 
Syphilis  und 

2.  aus  meinen  eigenen  Affen- Versuchen. 

Man  kann  sehr  wohl  mit  Framboesie  behaftete  Menschen  und 
Tiere  nachträglich  mit  S)'philis  und  zwar  mit  positivem  Erfolge 
impfen  und  ebenso  umgekehrt." 


")  Vgl.     August    Hirsch,     Handbuch     der    historisch -geographischen     Pathologie, 
2.  Aufl.,  Stuttgart  1883,  Bd.  H,  S.  71. 

2)  In  der  Diskussion  zu  einem  von  O.  Lassar   vorgestellten  Falle   von  Framboesie. 
Berliner  khn.  Wochenschr.   1887,  Nr.  47. 

3)  B.  Scheube,     Die    Krankheiten    der     warmen    Länder.      2.    Aufl.,   Jena    1900, 
S.   325 — 333  und  Eulenburg's  Realencyclop.,  3.   Aufl.,  Bd.  XXVI,    1901,  S.   291. 


—      4^3      — 

Wie  die  S3^phiHs  hat  auch  die  Framboesie  einen  Primäraffekt  an 
der  Stelle,  wo  das  spezifische  Framboesiegift  i)  eingedrungen  ist,  und 
sekundäre,  nach  einigen  Autoren  sogar  auch  tertiäre  Symptome.  Das 
Hauptcharakteristikum  des  Leidens  sind  himbeerartige,  rote  verrukös 
zerklüftete  Papeln  im  Gesicht,  an  den  Lippen,  Nacken,  Extremitäten 
und  den  Genitalien.  Eine  besondere  Form  der  Framboesie  stellen 
die  brasilianischen  „Boubas"  dar,  die  nicht  bloss  an  Haut  und  den 
schleimhautbedeckten  Orificien  lokalisiert  sind,  sondern  auch  andere 
Partien  der  Lippe,  des  Gaumens,  des  Zungenrückens,  des  Pharynx, 
ferner  den  Larynx  und  die  Trachea  ergreifen  2). 

Vielleicht  eine  nur  durch  Komplikation  mit  Malaria  und  den 
Einfluß  der  hohen  Lage  komplizierte  Form  der  Framboesie  ist  die 
sog.  ,, Verruga  peruviana",  eine  contagiöse  chronische  Infektions- 
krankheit mit  Fieber,  Anämie  und  warzenartigen  Hauttumoren''). 

Nach  Geber  wird  ferner  die  sog.  „endemische  Beulen- 
krankheit" oft  mit  Syphilis  verwechselt.  Es  handelt  sich  bei  ihr  um 
Knötchen,  die  sich  in  Geschwüre  umwandeln  und  beim  Sitz  an  den 
Genitalien  einen  Schanker  vortäuschen.    Das  Leiden   ist  ansteckend*). 

Auch  die  „Kro-Kro"  genannte  infektiöse  Hautkrankheit  der 
Kamerunküste  gehört  hierher.  Sie  tritt  teils  in  Form  einer  Derma- 
litis  nodosa  der  Oberschenkel,  des  Scrotum,  der  Glutäal-  und  Ingui- 
nalgegend  auf  und  repräsentiert  sich  dann  in  beetartigen,  flachen, 
harten  Auflagerungen  von  höckeriger  Oberfläche,  teils  zeigt  sie  sich 
als  ulceröse  Dermatitis  in  Form  von  multiplen  Geschwüren  an  den 
unteren  Extremitäten,  dem  Fußrücken,  der  Glutäalgegend,  den  Nates 
und  am   Anus^). 

Als  eine  pseudosyphilitische  Affektion  muß  ferner  die  von  Hallo- 
peau*')  beschriebene  „Pyodermitis  vegetans"  erwähnt  werden, 
Eiterbläschen,  die  sich  zu  polycyklischen  Herden  vereinigen,  im 
Centrum  abblassen,  in  der  Peripherie  sich  stetig  vergrößern  und  nach 


i)  A.  Castellani  fand  als  Erreger  der  Framboesie  eine  Spirochätenform  (Sp.  per- 
tenuis  seu  pallidula),  die  sehr  grosse  Aehnlichkeit  mit  dem  kürzlich  entdeckten  Erreger  der 
Syphilis,  der  Sp.  pallida  hat,  aber  auch  verschiedene  Unterscheidungsmerkmale  aufweist. 
Deutsche  med.  Wochenschr.    1906,  Nr.  4. 

2)  A.  Breda,  Beitrag  zum  klinischen  und  bakteriologischen  Studium  der  brasiliani- 
schen Framboesie  oder  „Boubas".     Archiv  f.  Dermat.    1895,  Bd.  XXXIII,   S.  3  —  28. 

3)  Vgl.  Scheube  a.  a.  O.,  S.  334—343;  Hirsch  a.  a.  O.,  Bd.  II,  S.  78  —  83. 

4)  Scheube  a.  a.  O.,  S.  597  —  604. 

5)  Scheube  a.  a.  O.,  S.  585—587. 

6)  H.  Hailopeau,  ,,Pyodermite  vegetante",  ihre  Beziehungen  zur  Dermatitis  her- 
petiformis  und  dem  Pemphigus  vegetans.  In:  Archiv  f.  Dermat.,  Bd.  LXIII/LXIV,  1898, 
S.    289 — 306  und  ßd.   LXV,  S.   323 — 328. 


—    464    — 

ihrer  Rückbildung  keine  anderen  Spuren  hinterlassen  als  stark  pigmen- 
tierte Flecke.  Das  Leiden  zieht  auch  ganz  regelmäßig  die  Schleim- 
haut des  Mundes  in  Mitleidenschaft. 

So  hatte  eine  Patientin  derartige  Krankheitsherde  an  den  Händen,  den  behaarten 
Hautstellen,  dem  Nacken,  in  den  Achselhöhlen,  an  der  Vulva  und  Umgebung,  in  inguine, 
am  Perineum,  Nates,   Rücken,   Lippen-,   Mund-  und  Gaumenschleimhaut. 

Bei  einem  Manne  fanden  sich  solche  multiplen  Herde  pustulöser  Dermatitis  an  der 
Wange,  den  Lippen,  der  Zunge,  der  Wangenschleimhaut,  den  Tonsillen,  dem  Gaumensegel, 
in  den  Achselhöhlen  und  am  Penis. 

Bei  einem  zweiten  Patienten  entwickelten  sich  schliesslich  Protuberanzen  mit  roter, 
drüsiger,  wuchernder  Oberfläche  am  Rücken,  Arm,  Kopfhaut,  Mund-  und  Nasenschleimhaut, 
Genitalien  und  Anus. 

Lieblingsstellen  der  Pyodermitis  vegetans  sind  die  Geschlechts- 
organe und  ihre  Umgebung,  der  Anus  und  seine  Umgebung,  die 
Achselhöhlen,  Lippen,  die  Mundschleimhaut,  die  Nasenhöhlen. 
Die  eigentümliche  Neigung  zur  Wucherung  läßt  an  Pemphigus 
vegetans  denken,  von  dem  aber  die  AfFektion  durch  die  günstigere 
Prognose  sich  unterscheidet. 

Als  „Pustulosis  acuta  varioliformis"  beschrieb  Fritz  Julius- 
berg i)  eine  Affektion,  bei  der  Pusteln  am  Kopf,  Rücken  und  um 
den   Anus,  sowie  rote  Flecke  an  den  Beinen  auftraten. 

Unter  Umständen  sind  auch  gewisse  Acne-Formen  leicht  mit 
dem  entsprechenden  pustulösen  Syphilide,  der  sog.  „Acne  syphilitica" 
zu  verwechseln.  Besonders  gilt  das  von  der  sog.  Acne  varioli- 
formis seu  necrotica-),  weil  sie  gleich  der  syphilitischen  Acne  zu 
ulzerativen,  mit  Narben  endigenden  Prozessen  führt.  Auch  die  Lokali- 
sation an  der  Stirnhaargrenze  kann  zu  Verwechselungen  mit  der 
ebenso  lokalisierten  „Corona  venerea"  Veranlassung  geben.  Wenn 
sich  gar,  wie  in  einem  von  F.  J.  Pick  (a.  a.  O.  S.  53)  beobachteten 
Falle,  die  Acne  varioliformis  mit  Halsentzündungen  kompliziert, 
so  ist  die  Gefahr  einer  Verwechselung  mit  Syphilis  noch  viel  größer^). 

Die  bei  marantischen  Individuen  vorkommende  „Acne  cach- 
ecticorum"  macht  namentlich  dann  differentialdiagnostische  Schwierig- 
keiten, wenn  gleichzeitig  multiple  Lymphdrüsenschwellungen  und 
Karies  an  Knochen  und  Gelenken  vorhanden  sind.    Nicht  selten  ent- 


i)  Fritz  Juliusberg,  Ueber  Pustulosis  acuta  varioliformis.  In:  Archiv  f.  Dermal. 
1898,  Bd.   LXVl,  S.   21  —  28. 

2)  Vgl.  C.  Boeck,  Ueber  Acne  frontalis  s.  necrotica.  Archiv  f.  Dermat.  1889, 
Bd.  XXI,  -S.  37 — 49.  F.  J.  Pick,  Zur  Kenntnis  der  Acne  frontalis  seu  varioliformis. 
Ibidem,  S.   551 — 560. 

3)  Ein  Fall  von  Acne  necrotica,  den  Schwimmer  in  der  .Sitzung  der  ungarischen 
dennatologischen  Gesellschaft  vom  5.  Dezember  1895  vorstellte,  wurde  von  Anderen  für 
Syphilis  gehalten!     Monatsh.  f.  prakt.  Dermat,    1896,  Bd.  XXII,  S..526. 


—    465    — 

steht  durch  gleichzeitiges  Auftreten  von  Angina  cachectica  und 
Glossitis  cachectica  ein  noch  augenfälligeres,  syphilisähnliches  Krank- 
heitsbild, Trautmann  1)  vermutet  sogar  einen  Kausalnexus  zwischen 
diesen  drei  Krankheitsformen.  Der  in  Frage  stehende  Symptomen- 
komplex bietet  jedenfalls  große  differentialdiagnostische  Schwierig- 
keiten. Beiläufig  sei  hier  überhaupt  auf  das  gewiß  nicht  seltene  rein 
zufällige  Zusammentreffen  von  Angina  und  Haut-  bzw.  Genital- 
affektionen  hingewiesen,  das  selbst  heute  noch  gelegentlich  den  Ver- 
dacht auf  S3^philis  erwecken  kann,  in  den  älteren  literarischen  Be- 
richten aber  wohl  häufig  als  solche  gegolten  hat  bzw.  heute  so  ge- 
deutet wird. 

Doch  gibt  es  auch  gleichzeitige  infektiöse  Entzündungen  der 
Genitalien  und  anderer  Teile,  die  in  einem  kausalen  Zusammenhange 
stehen  und  vom  rein  literarischen  Gesichtspunkte  unter  den  pseudo- 
syphilitischen Affektionen  kurz  erwähnt  werden  müssen.  Dahin  ge- 
hört die  bekannte  merkwürdige  Komplikation  der  Parotitis  mit 
Orchitis  und  Urethritis  (bzw.  Vaginitis  und  Ödem  der  Labien),  ferner 
eine  1749  zuerst  beobachtete,  eigentümliche  epidemische  Erkrankung, 
die  sich  durch  Ulcerationen  im  Munde  und  an  den  Genitalien 
sowie  durch  Dysurie  und  Nierenschmerzen  charakterisierte  und  zuerst 
für  Syphilis  gehalten  wurde-),  dann  die  gangränösen  Affektionen 
der  Vulva  bei  Rachendiphtherie,  Morbilli,  Scarlatina,  Typhus,  die 
Gangrän  des  Scrotums  bei  Pocken  und  Varicellen,  die  Ulcerationen 
der  äußeren  Genitalien  gleichzeitig  mit  der  „Mundseuche"  oder 
Stomatitis  epidemica  durch  Uebertragung  der  Maul-  und  Klauen- 
seuche auf  den  Menschen  (vgl.  Köbner  a.  a.  O.  S.  62). 

Eine  pseudosyphilitische  Affektion  par  excellence  ist  die  Im- 
petigo herpetiformis,  die  zuerst  die  Genitocruralgegend,  dann 
Rumpf,  Extremitäten,  Kopf  ergreift,  gelegentlich  auch  auf  der  Mund- 
und  Rachenschleimhaut  und  in  der  Vulva  und  Vagina  sich  zeigt. 

„Der  den  Schleinihautpusteln  folgende  eitrige  oder  aus  schmierigen  grauen  Massen 
bestehende,  fötide  Belag  dieser  einzelnen  linsen-  bis  bohnengrossen  Plaques,  z.  B.  der 
Zungen-,  Lippen-  oder  Wangenschleimhaut,  hat  namentlich  dann  zu  Irrungen  geführt,  wenn, 
wie  bei  einer  von  mir  beobachteten  Frau,  enorm  grosse,  bogenförmig  begrenzte 
Flächen  der  Un  terbauch-  und  der  ganzen  Genitocruralgegend  mit  zusammen- 

i)  G.  Trautmann,  Zur  Differentialdiagnose  von  Dermatosen  und  Lues  etc.  Wies- 
baden  1903,  S.    157. 

2)  ,,Sur  une  maladie  epidemique  caracterisee  par  des  ulceres  ä  la  bouche,  et  aux 
parties  genitales,  avec  ardeur  d'urines,  douleurs  de  reins  et  autres  symptomes  veneriens." 
In:  Consultations  choisies  de  plusieurs  medecins  celebres  de  l'universite  de  Montpellier  sur 
des  maladies  aigues  et  chroniques,  Paris   1755,  Bd.  X,  S.   210 — 219. 


—      4^6     — 

hängenden   Beeten    hoher,    spitzen   Condylomen    völlig    gleichender   Wärzchen 
mit  schmierigem  höchst  fötiden  Belag  bedeckt  sind."') 

Nach  Du  Mesnil  und  Marx  treten  bei  diesem  Leiden  ver- 
einzelte kleine  Wärzchengruppen  sogar  auf  der  Wangen-  und  Ton- 
sillenschleimhaut  auf'). 

Die  Impetigo  vulgaris  kann  ebenfalls  außer  der  Haut  auch  die 
Schleimhaut  der  Lippen,  Zunge,  des  Rachens  und  (jaumens  befallen. 
Unna  und  Schwenter-Trachsler  beobachteten  7  solche  Fälle •*). 
Manchmal  kann  die  Differentialdiagnose  zwischen  Lnpetigo  und 
Syphilis  recht  schwierig  sein,  w'ie  ein  von  H.  Isaac^)  beschriebener 
Fall  beweist  in  dem  ein  impetiginöses  Ulcus  an  der  Vulva  neben  der 
Hauteruption  vorhanden  war.  Als  Teilerscheinung  einer  Impetigo  cor- 
poris kann  ferner  b'ei  Kindern  eine  diphtheroide  impetiginöse  »Stomatitis 
auftreten  ^). 

Verschiedene  lokale  entzündliche  Hyperämieformen  der  Haut 
können  eine  syphilitische  Roseola  vortäuschen.  So  gibt  es  eine 
chronische  Form  des  Erysipels,  das  ohne  Fieber  in  bogenlinigen 
Eruptionen  auftritt  und  einer  ringförmigen ,  syphilitischen  Roseola 
auffallend  ähnlich  ist*').  Nicht  häufig  wird  die  Pityriasis  rosea 
(Herpes  maculosus)  wegen  der  Aehnlichkeit  der  Efflorescenzen  und 
der  Gleichheit  der  Lokalisation  mit  Roseola  syphilitica  verwechselt, 
seltener  mit  dem  circinären  Syphilid.  Ueber  eine  syphilisähnliche 
,,papuloerythematöse  Eruption"  sui  generis  berichtete  Eudlitz''), 
und  Gastou  beschrieb  sogar  eine  syphilisähnliche  exfoliative 
Erythrodermie  mit  doppelseitiger  Iritis^). 

In  der  Sitzung  der  Berliner  Dermatologischen  Gesellschaft  vom 
6.  Februar  1900  stellte  Heller'*)  einen  Fall  von  Lupus  erythema- 
todes acutus  vor,  der  einem  S3'philitischen  Exanthem  sehr  ähnlich 
war,  weshalb  auch  zuerst  eine  antisyphilitische  Therapie  vorgeschlagen 
wurde.     Einen  gleichen  Fall  teilt  Kantorowicz  mit^°).    Genauer  hat 


1)  Köbner  a.  a.  O.,  S.  67—68. 

2)  Einen  Fall  von  Impetigo  herpeliformis  mit  Beteiligung  der  Zunge,  Lippe  und  des 
Zahnfleisches   teilt  auch   Rille  mit.      Monatsh.  f.  prakt.  Dermat.  1890,   Bd.  XXVIII,   S.   141. 

3)  Vgl.    Unna-Blnch,     Die    Praxis    der    Hautkrankheiten,    Berlin-Wien     1908,    S. 

414—415- 

4)  H.  Isaac,  Impetigo  oder  Lues?     Monatsh.  f.  Dermat.    1896,  S.   243. 

5)  Deguy,   Journal    des  Praticiens    1899,    Nr.  31.     Referat    in    INIonatsh.    f.    prakt. 
Dermat.    1900,  Bd.  XXX,  S.   554. 

6)  Rille  a.  a.  O.,  S.    11. 

7)  Monatsh.  f.  Dermat.    1898,  S.  399 — 400. 

8)  Monatsh.  f.  Dermat.   1896,  Bd.  XXII,  S.   O49. 

9)  Monatsh,  f.  Dermat.    1900,  Bd.  XXX,  S.  324. 
10)  Ibidem   1898,  S.   173. 


—    467    — 

Trautmanii ')  die  Verwechselungsniöglichkeiten  zwischen  Lupus 
erythematosus  und  Syphilis  erörtert.  Seine  interessanten  und  wichtigen 
Ausführungen  seien  im  Wortlaut  wiedergegeben: 

„I.  Die  Scheibenform  (L.  e.  discoides)  ist  manchmal  unregehnässig  und  kann  die 
Gestalt  von  Kreisbögen  und  eine  serpiginöse  Conf iguration  annehmen.  Bei  Ge- 
sichtslokalisalion  kann  es  auch  zu  Anschwellung  der  .Submaxillardrüsen  kommeH.  Kaposi 
spricht  von  der  Verwechslungsmöglichkeit  mit  einem  Syphilid.  Die  disseminierte  Form 
kann  nach  Kaposi  und  Joseph  Knoten  aufweisen,  die  den  syphilitischen  Papeln 
täuschend  ähnlich  sein  können.  Dazu  kommt  noch,  dass  solche  Efflorescenzen  auf  der 
Palma  manus  (Kaposi)  und  Planta  pedis  (Du  Castel)  aultreten  können  und  dass  nach 
Kaposi,  allerdings  nur  zuweilen  und  dann  unter  einer  acuten,  fieberhaften  Eraption,  sich 
nächtliche,  bohrende  Knochenschmerzen  und  Intumescenz  der  Lymphdrüsen 
einstellen  können.  Hallopeau  erwähnt  auch  das  Vorkommen  der  Lokalisation  am  Penis 
und  Henri  Piffard  hat  einen  solitären  Fall  von  Lupus  erythematodes  des  Penis  beschrieben, 
der  in  Form  mehrerer  Kreisflecken,  einem  Herpes  tonsurans  circinatus  sehr  ähnelnd,  auf 
der  Glans  sich  befand.  Die  Verwechslung  mit  einem  annulären  Syphilid  dürfte  in  einem 
solchen   Falle  nicht  zu  den  Unmöglichkeiten  gehören.  .  .  . 

Im  obigen  Falle  Du  Castel's  (generalisierter  L.  e.)  bestanden  am  Stamme  teilweise 
papulo-squamöse  Eruptionen,  ferner  eine  Cervicailymphdmsenanschwellung  in  Form  einer 
langen  Kette,  deren  einzelne  Drüsenglieder  indolent  waren  und  unter  dem  Finger  rollten. 
Eine  spezifische  Behandlung  war  ohne  Nutzen. 

2.  Um  so  mehr  Faktoren  für  die  Annahme  einer  Lues  können  gegeben  sein,  wenn 
die  Schleimhäute  der  Mundhöhle  und  der  oberen  Luftwege  in  syphilisähnlichen  Formen 
ebenfalls  befallen  sind,  ganz  besonders  aber  bei  primärem  oder  sogar  solitärem  Sitz 
auf  denselben. 

Ueberblicken  wir  unsere  Litteraturfälle,  so  sehen  wir  bei  einer  Reihe  derselben,  dass 
die  Diagnose  Lues  thatsächlich  teils  vermutet  und  gestellt,  teils  ex  juvantibus 
erwartet  worden  ist. 

Im  Falle  Lassar' s  legte  die  Affektion  im  Halse  den  Verdacht  auf  Lues  nahe,  in 
demjenigen  von  Dubreuilh-Audry  lässt  die  Zungen erkrankung  an  Syphilis  denken 
und  man  giebt  der  Patientin  ein  traitement  mixte. 

Im  Falle  von  Gros  war  die  Erkrankung  des  Gesichts  zweifellos  als  Lupus  erythe- 
matodes zu  bezeichnen,  dagegen  boten  die  ulcerierten  Plaques  auf  der  Zunge  mit  ihrem 
weisslichen,  pseudo-membianösen  Ueberzug  ganz  das  Bild  von  syphilitischen  Plaques. 
Dazu  kamen  noch  die  Anschwellungen  der  Submaxillar-  und  C€r\'icaldrüsen,  in  der  Gegend 
der  Parotis,  sowie  der  Halsdrüsen  in  der  Tiefe  dem  Muse,  sterno-kleido-mastoideus  endang. 
Dieselben  rollten  unter  dem  Finger,  waren  hart,  nicht  adhärent,  ohne  jegliche  Fluktuation, 
von  der  Grösse  einer  Haselnuss  bis  Taubenei.  Eine  antisyphilitische  Behandlung  war 
erfolglos. 

Im  Falle  Sherwel,  in  welchem  Tonsillen,  Pharynx  und  Larynx  ergriffen  waren, 
wurde  ebenfalls  resultatlos  eine  spezifische  Kur  eingeleitet. 

Im  Falle  Feulard  wurde  die  Affektion  an  der  Unterlippenschleimhaut  von  anderer 
Seite  für  eine  Plaque  muqueuse  angesehen  und  Feulard  selbst  sagt,  dass  man  glauben 
könnte,  eine  sekundäre  syphilitische  Affektion  vor  sich  zu  haben,  welcher  Meinung 
sich  auch  Fournier  anschliesst.  Die  betreffende  Patientin  war  von  einem  Arzte  dem 
Krankenhaus   mit   der  Diagnose  Syphilis   überwiesen    worden.     Capelle    weist   auf    die 

i)  A.  a.  O.,  S.    124 — 125. 


—      468      — 

Moulage  Nr.    1862    des  Museums    St.  Louis,    Paris,    hin,    welche    einen    Zungenschanker 
darstellt  und  ein  frappantes  Beispiel  für  die  Verwechslungsmöglichkeit  darbietet. 

Kurz,  die  diagnostischen  Schwierigkeiten  der  Lues  gegenüber  sind  beim  Lupus  ery- 
thematodes der  Schleimhäute  bei  der  ersten  Untersuchung  grosse,  manchmal  unüberwindliche." 

Eine  exquisit  pseudosyphilitische  Affektion  ist  der  Liehen  ruber, 
besonders  der  Liehen  ruber  planus,  da  er  bereits  bei  blossem 
Vorkommen  am  Stamme  mit  jener  Form  des  kleinpapulösen  Syphilids 
verwechselt  werden  kann,  die  schon  durch  ihre  Bezeichnung  als  „Liehen 
syphiliticus"  darauf  hinweist.  Noch  schwieriger  wird  die  Diagnose, 
wenn,  wie  sehr  häufig,  sich  Lichenpapeln  und  Erosionen  auf  der 
Schleimhaut  des  Mundes  oder  an  den  Genitalien  finden  bzw. 
an  beiden  Teilen  zugleich.  Auch  Anus,  Urethra,  die  Palmar- 
bzw. Plantarfläche  von  Hand  und  Fuss  können  von  der  Lichen- 
eruption  ergriffen  werden.  Hieraus  ergeben  sich  die  merkwürdigsten 
syphilisähnlichen  Bilder.  Nur  einige  besonders  drastische  Fälle  seien 
erwähnt. 

So  demonstrierte  Jadas söhn ')  einen  Liehen  ruber  planus  mit  gleichzeitiger  Lokali- 
sation an  Scrotum,  Penis  und  Mundschleimhaut.  Ebenso  berichtet  S.  Röna^)  über  einen 
Liehen  der  Wangenschleimhaut  und  am   Penis  bei  demselben  Individuum. 

Lang^)  stellte  einen  Fall  vor,  der  infolge  seines  Sitzes  und  seiner  Configuration 
leicht  ein  serpiginöses  Syphilid  des  Penis  und  der  Scrotalhaut  vortäuschen  konnte.  Am 
übrigen  Körper  sehr  wenige  und  undeutlich  ausgeprägte  Efflorescenzen.  Das  Ganze  besteht 
5 — 6  Monate.  Vor  dieser  Zeit  soll  der  Patient  auch  nach  einem  Coitus  einen  Urethral- 
ausfluss  bemerkt  haben,  den  er,  nachdem  nach  14  Tagen  keine  Sistierung  eintrat,  eigen- 
mächtig mit  Injektionen  behandelte,  worauf  Verschlimmerung  eintrat.  Die  Urethra  lieferte 
ein  eigenthümliches  Sekret,  in  dem  keine  Gonococcen  nachweisbar  waren.  Lang  nahm 
Liehen  der  Urethra  an. 

Wenn  ausser  den  Genitalien  auch  noch  die  Mundschleimhaut  in  Fonn  von  Plaques, 
Erosionen  und  sogar  Ulcerationen  ergriffen  ist,  so  liegt  die  falsche  Diagnose  „Syphilis"  erst 
recht  nahe.  So  berichtet  Lang'')  über  einen  19jährigen  Mann  mit  ausgedehntem  Liehen 
planus  corporis,  Liehen  penis,  L.  der  Wangenschleimhaut;  Bender^)  sah  folgenden  selt- 
samen Fall:  Beginn  an  den  Händen,  gleichzeitig  weisse  Plaques  in  der  Mundhöhlen- 
schleimhaut und  auf  der  Zunge.  Die  Inguinaldrüsen  und  Auro-occipitaldrüsen 
multipel  geschwellt,  nicht  schmerzhaft,  Exanthem  am  Penis!  Welch  eine 
Kombination !  Würden  wir  das  bei  einem  alten  Schriftsteller  lesen,  dann  würde  das  selbst 
dem  erfahrenen  Kenner  als  Syphilis  imponieren.  Und  doch  ist  es  nur  eines  der  vielen 
Syphilis  vortäuschenden   Krankheitsbilder,    deren    wir    schon    so    viele    kennen    gelernt  haben. 

In  einem  von  Audry  beobachteten  Falle  entstanden,  während  sich  die  primären 
Plaques  auf  der  Schleimhaut  der  Wange,  der  Lippen  und  auf  dem  Zungenrücken  innerhalb 
3  Wochen  vergrösserten,  kleine,  rote,  wachsartige,  glänzende  Knötchen  auf  der  Glans,  der 
Penishaut  und  dem   Handrücken. 


i)  Monalsh.  f.  prakt.  Dermat.    1899,  Bd.  XXIX,  S.   482. 

2)  Ibidem    1889,  Bd.  VIII,  S.   255—256. 

3)  Archiv  f.   Dermat.    1893,  S.   873,  cit.   nach  Trautmann  a.  a.   O.,  S.   33. 

4)  Trautmann  1.   c. 

5)  Ibidem. 


—    469    — 

Page  sah  gleichzeitige  Lokalisation  in  Mundhöhle,  Anus  und  Urethra,  Stobwasser 
in  der  Mundhöhle  und  auf  der  Analschleimhaut. 

Gleichzeitigen  Eruptionen  des  Liehen  auf  der  Haut,  der  Palma  manus  im  Verein  mit 
Drüsenanschwellungen  legen  den  Verdacht  auf  Syphilis  sehr  nahe. 

In  der  Sitzung  der  Berliner  Dermatologischen  Gesellschaft  vom 
6.  Juni  189g  stellte  Berger ')  einen  Fall  von  „Liehen  ruber  verru- 
cosus" des  behaarten  Kopfes  vor,  der  für  ein  tuberkulöses  Syphilid 
gehalten  worden  war. 

In  einem  Falle  von  Liehen  ruber  acuminatus,  in  dem  der  ganze 
Körper  und  auch  Handfläche  und  P\isssohle  betroffen  waren,  be- 
obachtete Unna^)  eine  erosive  Glossitis: 

,,Ich  fand  die  Oberfläche  der  Zunge  dicht  besetzt  mit  hirsekorn-  bis  erbsengrossen 
Erosionen,  die  zum  Teil  wie  mit  dem  Locheisen  ausgeschlagen  und  sämtlich  von  einem 
weisslichen  Rande  unregelmässig  abschuppender  Hornschicht  umsäumt  waren." 

Auch  andere  lichenoide  Eruptionen  können  mit  S3'philis  ver- 
wechselt werden.  So  berichtet  Brück may er ^j  über  einen  Fall  von 
„Liehen  scrophulosorum"  bei  einem  13jährigen  Mädchen,  der 
anfangs  als  Liehen  syphiliticus  aufgefasst  wurde.  Körper,  Mons  Ve- 
neris,  und  Labien  waren  mit  Knötchen  und  conylomähnlichen  Plaques 
besetzt. 

Als  „lichenoides  Vaccinalexanthem"  beschreibt  Rille  (a.  a.  O., 
S.  25)  einen  nicht  seltenen  Impfausschlag,  der  aus  über  die  ganze 
Hautoberfläche  disseminierten  hirsekorn-  und  stecknadelkopfgrossen, 
braunrot  glänzenden,  bisweilen  an  der  Spitze  eine  kleine  Vesikel 
tragenden  Knötchen  von  ziemlich  derber  Konsistenz  besteht,  die  immer 
erst  nach  voller  Entwickelung  der  Impfpusteln  entstehen  und  Aehn- 
lichkeit  mit  dem  kleinpapulösen  Syphilid  besitzen,  jedoch  nicht  die 
Neigung  zur  Gruppenbildung  mit  demselben  teilen. 

Auch  der  sog.  „Liehen  urticatus",  eine  Varietät  der  Urticaria, 
ist  bisweilen  schwer  von  syphilitischen  Papeln  zu  unterscheiden,  zumal 
wenn  er  auch  die  Handteller  befällt. 

Recht  grosse  Aehnlichkeit  mit  syphilitischen  Plaques  und  Papeln 
kann  endlich  die  sog.  „Lichenification"  des  Ekzems  (L.  chronicus 
Simplex)  aufweisen.  Ein  von  mir  beobachteter  Fall  zeigte  das  deut- 
lich, in  dem  einige  solche  isolierte  Plaques  an  den  Oberschenkeln 
und  am  Damme  vorhanden  waren,  die  man  bei  oberflächlicher  Be- 
trachtung für  syphilitische  Papeln  hätte  halten  können,  wenn  sie  nicht 


1)  Monatshefte   1899,  Bd.  XXIX,  S.    171. 

2)  P.  G.   Unna,    Ueber    die    Mundaffektion    bei    Liehen    ruber.      In:    Monatshefte  f. 
Dermal.    1882,  Bd.  I,  S.   257-261. 

3)  Ibidem    1899,  Bd.  XXIX,  S.    122. 


—     470     — 

mit  einem  allgemeinen  typischen  Ekzeme  des  übrigen  Körpers  deut- 
lich in  Verbindung  gestanden  hätten. 

Hier  ist  noch  der  „Morbus  Jadassohni"  zu  erwähnen,  ein 
„psoriasiformes  und  lichenoides  Exanthem",  das  vS.  Rona^)  in  einem 
Falle  auf  dem  Penis,  dem  Gesäss,  den  Handtellern  und  Fusssohlen 
beobachtete. 

Weniger  häufig  als  der  Liehen  ruber  wird  die  Psoriasis  mit 
S3^philis  verwechselt.  Das  gilt  besonders  von  der  sog.  „Psoriasis 
rupioides",  von  der  Mackenzie-)  und  Wallsch^)  Fälle  mitteilten, 
und  von  der  Lokalisation  der  Psoriasis  im  Munde  in  Form  der  „Leuko- 
plakia  psoriatica"^),  am  Nacken  in  Form  des  „Leukoderma  psoriaticum"^) 
und  am  Genitale.  Li  der  Sitzung'  der  Venerologisch-Dermatologischen 
Gesellschaft  zu  Moskau  vom  5.  April  igoi  stellte  Krasnoff  einen 
Fall  von  Psoriasis  vulgaris  vor  mit  Efflorescenzen  an  der  Wangen- 
schleimhaut und  an  Handteller  und  Fusssohlen*'). 

Sehr  eigentümlich  ist  die  multiple  Warzenbildung,  die  Gass- 
mann') nach  vorangegangener  Psoriasis  am  ganzen  Körper  und  auch 
auf  den  Nates  und  am  Penis  auftreten  sah. 

Auch  seltenere  Hautaffektionen,  wie  die  von  Mibelli  ^)  beschriebene 
„Porokeratosis",  wie  die  teils  am  Körper,  teils  an  den  Genitalien 
lokalisierte,  nicht  selten  in  condylomartigen  Vegetationen  auftretende 
Psorospermosis    von    Darier^),    wie    die    von    Pollitzer   und  Ja- 


i)  Monatshefte  f.  Dermal.    1898,   Bd.   XXVII,  S.    180. 

2)  Ibidem   1897,  Bd.  XXV,  S.    131. 

3)  Ibidem    1898,  Bd.  XXVII,  S.  583. 

4)  J.  Schütz,  ,,Leukoplakia  oris  bei  Psoriasis  und  anderen  Dermatosen".  Archiv 
f.   Dermal,  u.  Syphilis   1898,    Bd.  XLVI,    S.  433 — 446.  —    Lang  a.  a.  O.,    S.  302 — 303. 

5)  Rille  a.  a.  O.,  S.  58. 

6)  Monatshefte  f.  Dermal.    1901,  Bd.  XXXIl,  S.   524. 

7)  A.  Gassmann,  Casuislische  Beiträge  zur  Psoriasis.  Archiv  f.  Dermal.  1897, 
Bd.   XLI,  S.  362—366. 

8)  Victor  Mibelli,  Ueber  einen  Fall  von  Porokeratosis  mit  Lokalisation  im  Munde 
und  an  der  Gians.  In:  Archiv  f.  Dermal,  u.  Syph.  1899,  Bd.  XL VII,  S.  3 — 14  (Erup- 
tionen an  der  Glans,  dem  Präputium,  auf  den  Lippen,  am  harten  Gaumen  und  Alveolar- 
rande,  an  der  ganzen  Körperhaut).  Ausserdem  berichtete  der  68  jährige  Patient,  dass  Mutter, 
Grossmuller,  der  Bruder  und  die  drei  Kinder  des  letzteren  an  derselben  Hauterkrankung 
litten.  Also  zugleich  eine  exquisit  hereditäre  Affektion!  Welch  ein  Fund  wäre  das  für 
die  Verfechter  der  Altertumssyphilis  gewesen.  Ein  Leiden,  das  im  Munde,  an  den  Geni- 
talien und  am  Körper  lokalisiert  und  zugleich  hereditär  ist.  Das  kann  doch  nur  Syphilis 
sein!  Fälle,  wie  der  von  Mibelli  mitgeteillp,  die  übrigens  auch  bei  anderen  Haulleiden 
vorkommen  können,  sind  lehrreich  hinsichtlich  der  Beleuchtung  der  zahlreichen  Irrtümer,  die 
aus  der  rein  literarischen  Diagnose  der  „Altertumssyphilis"  ervvachsen  können. 

9)  Annales  de  dermalologie,  Julihefl  1888;  T.  de  Amicis,  Klinische  und  patho- 
logisch-anatomische Beiträge    zur  Psorospermosis  cutanea  vegetans.     In:    Bibliolheca   medica. 


—     471      — 

novsky^)  zuerst  beschriebene  am  Halse,  den  Achselhöhlen,  der  Mam- 
mar-,  Anal-  und  Genitalregion  lokalisierte  „Akanthosis  nigricans", 
müssen    unter   den  pseudosyphilitischen    Hautleiden    erwähnt   werden. 

Endlich  können  auch  die  verschiedenen  Formen  der  Haut- 
tuberkulose Syphilis  vortäuschen.  Die  Miliartuberkulose  kann 
sowohl  die  Haut  als  die  angrenzenden  Schleimhäute  in  Mitleiden- 
schaft ziehen  und  z.  B.  am  Anus  kondylomartige  papilläre  und 
fungöse  Wucherungen  erzeugen.  Kaposi-)  berichtet  über  22  Fälle 
dieser  Art.  Besonders  syphilisähnlich  war  die  Erkrankung  bei  einem 
53jährigen  Mann,  der  nie  an  S3'philis  gelitten  hatte,  bei  dem  ausser 
der  Haut  auch  die  Schleimhaut  der  Wangen,  des  harten  und  weichen 
Gaumens,  des  Larynx  und  die  Umgebung  des  Anus  von  tuberku- 
lösen Geschwüren  ergriffen  waren.  Auch  die  Ohren,  Nasenrücken, 
Nasenflüg'el ,  Nasenspitze,  das  Septum  narium  cutaneum,  Oberlippe, 
Unterlippe,  Mundwinkel,  Kinn,  Nates  und  Ellenbogen,  Zunge,  Nasen- 
schleimhaut, Vulva  und  Vagina,  Urethra  und  Blase  können  Sitz 
miliartuberkulöser  Geschwüre  sein,  die  nach  Kaposi  viel  häufiger 
vorkommen  als  man  bisher  geglaubt  hatte. 

Dass  auch  die  „Tuberculosis  verrucosa"  der  Haut  mit 
Syphilis  verwechselt  werden  kann,  beweist  ein  von  A.  Blaschko  in 
der  Sitzung  der  Berliner  Dermatologischen  Gesellschaft  vom  7.  Januar 
1902  vorgestellter  FalP). 

Es  bandelt  sich  um  einen  6jährigen  Knaben,  der  seit  2  Jahren  an  einer  verrukösen 
Affektion  am  Rücken,  beider  Handgelenke  und  am  Knie  leidet.  Die  Erkrankung  scheint 
auf  den  ersten  Blick  eine  Tuberculosis  verrucosa  cutis  vorzustellen.  Mit  Rücksicht  auf  die 
kreisbogenförmige  Anordnung,  die  Multiplizität  der  Herde,  die  stellenweise  Abheilung  mit 
glatter  Narbe  ohne  restierende  Lupusknötchen,  den  Allgemeinstatus  (schwächliches  Kind  mit 
Zeichen  von  Hydrocephalus  chronicus,  Zahnanomalien)  und  die  Ascendenz  (Vater  vor  der 
Verheiratung  mit  Syphilis  infiziert  und  mehrfach  behandelt,  Grossmutter  mit  grossem  serpi- 
ginösem  Syphilid  am  Kopf)  diagnostiziert  Blaschko  „Syphilis  verrucosa". 

Jedoch  ergab  die  spätere  mikroskopische  Untersuchung,  dass  es 
sich  trotz  der  syphilitischen  Ascendenz  um  Tuberkulosis  verrucosa 
cutis  handelt. 


Abteilung  für  Dermatologie,  Cassel   1894,  Heft  3;  vgl.  ferner  einen  Fall  von  Psorospermosis 
des  Körpers  und  der  Genitalien.     In:  Journal  of  cutaneous  diseases   1896,  S.  309. 

i)  Pollitzer  und  Janovsky,  im:  „Internationalen  Atlas  seltener  Hautkrankheiten" 
von  P.  G.  Unna,  Hamburg   1890,  Heft  4. 

2)  M.  Kaposi,  Ueber  Miliartuberkulose  der  Haut  und  der  angrenzenden  Schleim- 
häute. In:  Archiv  f.  Dermat.  1898,  Bd.  XLIII/XLIV,  S.  384  ff.  —  Von  grossem  In- 
teresse ist  auch  das  relativ  häufige  Vorkommen  ano-genitaler  ^Miliartuberkulose  bei  jugend- 
lichen Prostituierten  (Jesionek).  Vgl.  Jadassohn  in  Mracek's  Handbuch  der  Haut- 
krankheiten,  Wien   1907,  Bd.  IV,  S.   241 — 242. 

3)  Monatshefte  f.  prakt.  Dermat.   1902,  Bd.  XXXIV,  S.    128  u.  579. 


—      47  2      — 

Wichtig  sind  ferner  die  sog.  „chankriformen  tuberkulösen 
U Icerationen",  die  Schanker  zum  Verwechseln  nachahmen  können. 
Nach  J.  Jadassohni)  scheinen  diese  Formen  besonders  in  der  Mund- 
höhle (speziell  Lippen  und  Zunge)  und  an  den  Genitalien  (speziell  am 
Penis)  vorzukommen,  und  machen  häufig  ganz  den  Eindruck  einer 
erodirten  syphilitischen   Sklerose. 

Der  unkompHzierte  Lupus  vulgaris,  besonders  in  der  dissemi- 
nierten Form,  bei  gleichzeitiger  Lokalisation  an  den  Schleimhäuten, 
kann  die  tertiäre  Syphilis  nachahmen,  und  der  sog.  „Lupus  syphiliti- 
cus" ist  oft  genug  ein  echter  tuberkulöser  Lupus. 

Zum  Schlüsse  sei  erwähnt,  dass  auch  die  Arzneiexantheme 
Syphilis  vortäuschen  können.  Besonders  gilt  das  von  Antipyrin, 
SaHpyrin  und  Migränin-),  für  die  hauptsächlich  gleichzeitige  Eruptionen 
in  der  Mundhöhle  und  an  den  Genitalien  charakteristisch  sind.  Für 
die  Frage  der  „Altertumss3^philis"  kommen  wohl  nur  die  vesikulösen 
Eruptionen  nach  dem  Genüsse  von  Morphium  in  Betracht. 

§  32.  Pseiulosyphilitische  Hautaffektioneii  der  Neugeborenen. 

Die  gleich  oder  kurze  Zeit  nach  der  Geburt  bei  Neugeborenen 
auftretenden  krankhaften,  nicht  syphilitischen  Hautveränderungen,  die 
als  „hereditär"  imponieren  können,  falls  sie  auf  Ansteckung  von 
Seiten  der  Mutter  zurückzuführen  sind,  sind  von  grosser  Bedeutung 
für  die  Beurteilung  ähnlicher  Fälle  in  der  antiken  und  mittelalterlichen 
Literatur,  die  mit  Vorliebe  von  den  Verfechtern  der  „Altertumssyphilis" 
herangezogen  werden,  um  die  Existenz  der  „Erbsyphilis"  in  jenen 
Zeiten  zu  erweisen. 

Demgegenüber  kann  nur  nachdrücklich  betont  werden,  dass  noch 
heute,  wo  die  Differentialdiagnostik  der  einzelnen  Hautleiden  so  ge- 
waltige Fortschritte  gemacht  hat,  nicht  selten  bei  Neugeborenen 
„Syphilis  diagnosticiert  wird,  wo  sie  nicht  vorhanden  ist".  ^) 

In  dieser  Beziehung  erwähnen  wir  zunächst  die  pemphi gus- 
artigen Erkrankungen,  die  sowohl  morphologisch  genau  den  Pemphi- 
gus syphiiticus  neonatorum  voi täuschen  als  auch  scheinbar  hereditär 
sein  können.  So  hat  man  nichtsyphilitischen  Pemphigus  wenige  Tage 
nach  der  Geburt  in  Fällen  beobachtet,  wo  die  Mütter  selbst  daran  ge- 


i)   J.    Jadassohn,    Die    Tuberkulose    der    Haut.      In:    Mracek's    Handbuch    der 
Hautkrankheiten   1907,  Bd.  IV,  S.   249 — 250. 

2)  Vgl.  C.  Berliner,    Zur    Differentialdiagnose    der    Syphilis    und    syphilisähnlicher 
Arzneiausschläge.     In:  Monatshefte  f.  Dermat.    1902,  Bd.  XXXV,  S.    137  — 147. 

3)  H.  Finkelstein,  Lehrbuch  der  Säuglingskrankheiten,  Berlin   1905,  Bd.  V,  S.   143. 


—     473      — 

litten  hatten^).  Es  sind  aber  auch,  z.  B.  von  C.  F.  MarshalP),  Fälle  von 
kongenitalem  Pemphigus  bei  Neugeborenen  beobachtet  worden,  ohne 
dass  dabei  die  Mutter  erkrankt  war.  Hierher  gehört  auch  die  „Der- 
matose bulleuse  hereditaire  et  traumatique"  von  Hallopeau, 
die  auch   Rona  gleichzeitig  bei   Mutter  und   Kind  beobachtete. 3) 

Der  sog.  „Pemphigus  neonatorum  ist  nach  Unna  mit  der  „Im- 
petigo neonatorum"  identisch^),  einer  contagiösen  BlasenafFektion 
der  Haut,  die  natürlich  auch  von  der  Mutter  auf  das  Neugeborene 
übertragen  werden  kann.  So  beobachtete  Matzenauer  einen  Fall, 
wo  eine  an  Impetigo  contagiosa  leidende  Frau  während  der  Erkran- 
kung ein  Kind  gebar,  das  ebenfalls  dieselbe  Afifektion  bekam.  ^)  Fälle 
solcher  Art  in  der  alten  Literatur,  die  bisher  als  „hereditäre  Syphilis" 
gedeutet  wurden,  erklären  sich  so  zwanglos,  z.  B.  jene  später  zu  er- 
örternde bei  Oribasius. 

Kurze  Erwähnung  verdienen  auch,  weniger  wegen  einer  Mög- 
lichkeit der  Verwechselung  mit  Syphilis,  als  wegen  unklarer  Be- 
schreibung in  der  älteren  Literatur,  die  septischen  Erkrankungen  der 
Neugeborenen,  wie  das  Erysipelas  neonatorum,  die  Dermatitis 
exfoliativa  neonatorum,  die  Dermatitis  gangraenosa  neona- 
torum (sog.  „Pemphigus  gangraenosus"). 

Von  höchstem  Interesse  ist  eine  Beobachtung  von  J.  Grindon^). 
Er  sah  ein  voll  ausgetragenes,  gut  gebautes,  sonst  gesundes  Kind 
mit  Varicellen  zur  Welt  kommen.  Syphilis  konnte  ausgeschlossen 
werden.  Die  Mutter  aber  hatte  kurz  vorher  ebenfalls  Varicellen  durch- 
gemacht! Es  handelte  sich  also  um  t3'pische  Ansteckung  in  utero, 
um  echte  hereditäre  Varicellen.  Die  Schilderung  eines  solchen 
Falles  in  antiken  oder  mittelalterlichen  Schriften  würde  sicher  heute  von 
den  Verfechtern  der  Altertumssyphilis  gerade  in  ihrem  Sinne  gedeutet 
werden,  wenn  man  sie  nicht  sogleich  durch  den  Hinweis  auf  die  er- 
wähnte moderne  Beobachtung  ad  absurdum  führen  könnte. 

Wie  die  Varicellen  können  natürlich  auch  die  echten  Pocken 
schon  in  utero  auf  das  Kind  übertragen  werden. 


1)  Monatsh.   f.  prakt.  Dermal.    1899,   Bd.  XXVIII,   S.  463.   —   Vgl.   ferner  Jarisch 
O.,  S.   201. 

2)  Monalsh.  f.  prakt.  Dermat.    1900,  Bd.  XXXI,  S.  570. 

3)  Ibidem   1900,  Bd.  XXX,  S.   244  u.   296. 

4)  Vgl.  Unna-Bloch,  Die  Praxis  der  Hautkrankheiten,  Berlin-Wien  1908,  S.  401,  420. 

5)  Monatsh.  f.  Dermat.    1901,  S.  85. 

6)  Monatsh.  f.  Dermat.    1901,  Bd.   XXXIII,  S.   292. 


—     474      — 

Sehr  bedeutsam  ist  das  Vorkommen  gonorrhoischer  Ex- 
antheme bei  Neugeborenen').  Sie  treten  nicht  blos  als  Metastasen 
der  Augenentzündung  auf,  sondern  kommen  auch  als  primäre  Infek- 
tionen nicht  ganz  selten  vor,  da  Paulsen  in  einem  halben  Jahre 
nicht  weniger  als  12  Fälle  beobachtete.  Es  handelt  sich  meist  um 
gonokokkenhaltige  Papeln  und  Bläschen  am  Körper  der  Neuge- 
borenen, au('h  an  den  Extremitäten  und  am  Kopfe,  während  die 
Mütter  Symptome  einer  gonorrhoischen  Peri-  und  Parametritis  bzw. 
eines  Cervixkatarrhes  aufweisen.  Jedenfalls  sind  gonorrhoische  Haut- 
erkrankungen bei  Neugeborenen  weit  häufiger  als  solche  im  An- 
schlüsse an  genitale  Gonorrhoe  Erwachsener.  Sie  kommen  durch 
direkte  Infektion  von  selten  der  Mutter  zustande. 

Zu  den  hereditären  Hautleiden  gehören  auch  gewisse  Fälle  von 
Psoriasis.  Man  hat  dieses  Leiden  gleichzeitig  bei  Mutter  und  Kind 
beobachtet.  Rille  sah  Psoriasis  schon  am  6.  Lebenstage  bei  Neu- 
geborenen auftreten  ^). 

Ebenso   kommt    Herpes   tonsurans   bei    Neugeborenen    vor^). 

Andere  Hautleiden  der  Neugeborenen,  wie  Ichthyosis  con- 
genita, Fibrome,  Naevi,  Angiome  etc.  kommen  wohl  auch  rein 
literarisch  nicht  in  Betracht,  wo  es  sich  um  die  Frage,  ob  Alter- 
tumsyphilis oder  nicht,  handelt. 

i)  J.  Paulsen,  Über  gonorrhoische  Exantheme  bei  Neugeborenen.  In:  Münchener 
mediz.  Wochenscbr.    1901,  Nr.   25,  S.    10 11  — 1012. 

2)  Monatsh.  f.  Dermat.    1898,  Bd.  XXVI,  S.  328. 

3)  S.  Toch,  Ueber  Herpes  tonsurans  bei  Neugeborenen.  In:  Archiv  f.  Dermat. 
1895,  Bd.  XXXIl,  S.   365—368. 


SIEBENTES  KAPITEL. 

Die  ,,Altertumssyphilis'^  im  Orient. 

§  33.    Charakter  der  altorieiitalischeu  3Iedizin. 

Der  Orient,  dessen  Geschichte  dank  den  modernen  Forschungen, 
speziell  den  Ausgrabimgen  in  Mesopotamien  und  Aegypten,  bis  zum 
Beginn  des  dritten  Jahrtausends  vor  Christo  verfolgt  werden  kann, 
stellte  damals,  wie  in  g'ewissem,  historisch  allerdings  ganz  anders  be- 
dingtem Sinne  noch  heute,  ein  zusammenhängendes  Kultur- 
gebiet   dar,    das    wesentlich    unter  babylonischem  Einflüsse  stand. 

Die  Kultureinheit  des  alten  Orients  auf  babylonischer  Grundlage, 
die  besonders  Hugo  Winckler^)  ins  rechte  Licht  gesetzt  hat, 
kommt  hauptsächhch  durch  die  Weltanschauung  zum  Ausdruck,  die 
sich  im  gesamten  geistigen  Leben  wiederspiegelt  und  von  derjenigen 
des  Occidents,  speziell  des  sog.  klassischen  Altertums  (Griechen- 
land und  Rom)  grundsätzlich  verschieden  ist.  Der  orientalischen 
Anschauung  war  die  Quelle  alles  Wissens  die  Gottheit.  Die  Wissen- 
schaft war  Offenbarungskunde.  Dieser  theocentrischen  Auf- 
fassung stand  die  anthropocentrische  der  Griechen  diametral  gegen- 
über. Das  berühmte  Wort  „Der  Mensch  ist  das  Mass  aller  Dinge" 
erleuchtet  diesen  Gegensatz  vollkommen.  Gegenüber  der  göttlichen 
Offenbarung  wurden  die  von  Älenschen  beobachteten  Erfahrungs- 
thatsachen  in  den  Vordergrund  gestellt  und  damit  die  empirische 
Wissenschaft  begründet,  die,  wie  sich  gerade  bei  den  Anfängen  der 
griechischen  ^Medizin  sehr  instruktiv  verfolgen  lässt,  durch  eine  all- 
mähliche Emancipation  von  theurgischen  Einflüssen  und  OfFen- 
barungsheilkunde  sich  entwickelte. 

Wenn  „alles,  was  dort  oben  geschieht,  das  wiederspiegelt,  was 
auf  der  Erde  geschehen  muss"  (Win ekler),  so  musste  bei  den  Alt- 
orientalen die  x\stronomie  die  wichtigste  Wissenschaft  werden.  In 
ihrer  Anwendung  auf  das  praktische  Leben,  also  auch  auf  die  Heil- 
kunde, wurde  sie  zur  „x\strologie",    dieser   Urform    des   ]\Iedizinal- 


I)  Hugo  Winckler,  Die  Weltanschauung  des  alten  Orients.     Leipzig  1904. 
Bloch,   Der  Ursprung  der  Syphilis.  ^'- 


-      476     - 

abergiaubens.     Ihren  ausschliesslichen  Einfluss  auf  das  ganze  Geistes- 
leben schildert  Winckler  (a.  a.  O.,  S.   8)  sehr  anschaulich: 

„Wie  tief  und  gewaltig  ihr  Einiluss  aber  auf  die  Menschheit  der  vormodernen  "Welt 
gewesen  ist,  wie  sie  alles,  was  diese  dachten,  durchdrungen  hat,  in  einer  Weise,  wie  es 
keine  moderne  Lehre  bis  jetzt  auch  nur  vorübergehend  vermocht  hat,  wie  alles,  was  man 
im  Leben  that,  was  man  beobachtete,  die  Art,  wie  man  das  Beobachtete  beurteilte  und  in 
einer  etwaigen  Darstellung  zum  Ausdruck  brachte,  wie  alles  diesem  System  eingefügt  wurde, 
was  überhaupt  eine  Aeusserung  des  geistigen  Lebens  des  alten  Orients  ist,  das  vermag  man 
erst  zu  ermessen,  wenn  man  an  sich  selbst  erfährt,  wie  einem  die  Augen  geöffnet  werden, 
wenn  man  das  scheinbar  ungereimte  Zeug,  von  dem  die  Ueberlieferung  des  Altertums 
strotzt,  plötzlich  seinen  tiefen  Sinn  erhalten  sieht.  Freilich  einen  falschen  Sinn  für  uns, 
aber  keinen  abgeschmackten  mehr,  denn  auch  wir  haben  das  Weltenrätsel  noch  nicht  gelöst, 
und  über  manches  triumphierende  Dogma  der  Gegenwart  lächelt  schon  die  nächste  Generation." 

Dass  bei  solcher  Anschauung  von  einer  medizinischen  Wissen- 
schaft in  unserem  Sinne  nicht  die  Rede  sein  kann  und  eine  Beur- 
teilung der  spärlichen  und  völlig  fragmentarisch-incohärenten  medi- 
zinischen Ueberlieferungen  von  unserem  modern-wissenschaftlichen 
Standpunkte  nicht  nur  lächerlich  ist,  sondern  avich  zu  ganz  falschen 
Urteilen  führen  muss,  liegt  auf  der  Hand.  Ich  stehe  allen  Deutungs- 
versuchen in  Bezug  auf  bestimmte  Krankheitsbilder  der  altorien- 
taHschen  Medizin  ungläubig  gegenüber.  Der  astrologische  Aber- 
glaube, der  die  Vorgänge  im  Makrokosmos  und  Mikrokosmos  paralleH- 
siert,  konnte  nur  Unklarheit  und  Mystik  hervorbringen,  aber  keine 
Wissenschaft.  Daher  gab  es  nach  v.  Oefele  keine  strenge  Scheidung 
zwischen  Arzt,  Traumdeuter,  Seher  und  Astrologe  i). 

Unter  diesem  Gesichtspunkte  muss  die  altorientalische,  speziell 
semitische  Medizin  beurteilt  werden,  ebenso  nach  Albrecht  (vgl. 
V.  Oefele  a.  a.  O.,  S.  55)  die  altchinesische  und  ihr  Ableger,  die 
altjapanische  Medizin,  während  wir  bei  Aegyptern  und  den  alten 
Jndern  bereits  eine  teilweise  Emancipation  von  der  Offenbarungsheil- 
kunde antreffen. 

Dass  der  Charakter  der  altorientalischen  Medizin  keinerlei  Diagnostik  im  modernen 
Sinne  zuliess,  hat  neuerdings  Hugo  Magnus-)  in  geistvoller  Weise  ausgeführt. 

„Solange",  sagt  er,  „unter  dem  strengen  Walten  des  Theismus  in  der  Äledizin  wie 
in  den  Naturwissenschaften  das  Kausalitätsbedürfnis  auf  den  erdenklich  niedrigsten  Grad 
herabgedrückt  wurde,  hatte  der  Heilbeflissene  kein  Interesse  daran,  die  Einzelwahrnehmung, 
welche  er  an  seinen  Klranken  machte,  durch  Zuordnimg  anderer  Wahrnehmungen  zu  einer 
Diagnose  auszugestalten.     Denn    mit    dem  Glauben ,    dass  die  Krankheit  unmittelbar  aus  der 


i)  F.  v.  Oefele,  Vorhippokratische  Medizin  Westasiens,  Aegyptens  und  der  medi- 
terranen Vorasier.  In:  Neuburger-Pagel,  Handb.  der  Geschichte  der  Medizin.  Jena  1901, 
Bd.  I,  S.  59. 

2)  Hugo  Magnus,  Kritik  der  medizinischen  Erkenntnis.  Breslau  1904,  S.  8 — 11 ; 
derselbe.    Die   Entwickelung   der    Heilkunde   in    ihren  Hauptzügen.     Breslau   1907,  S.  58. 


—      477      — 

Hand  der  Götter  hervorginge,  musste  ja  doch  der  Arzt  jedes  Interesse  an  der  Wesenheit 
des  krankhaften  Prozesses  verlieren.  Ja  in  den  Augen  der  Gläubigen  mag  sogar  jede  Be- 
trachtung der  pathologischen  Natur  der  Krankheit  als  Ueberhebung,  als  unbefugte  Kritik 
der  göttlichen  EntSchliessungen  übel  genug  vermerkt  worden  sein.  Die  ersten  christlichen 
Jahrhunderte  liefern  hierfür  sogar  noch  ein  schlagendes  Beispiel.  .  .  . 

Auf  diesem  Standpunkt  dürfte  sich  der  Erkenntnisgang  der  Medizin  lange  genug  be- 
wegt haben,  und  wir  besitzen  einschlägige  Quellen  noch  in  genügender  Anzahl.  So  bespricht 
z.  B.  der  neueste  von  Küchler')  veröffenthchte  assyrische  Text  verschiedene  Krankheiten 
in  der  Weise,  dass  irgend  ein  Hauptsymptom,  etwa  Leibschmerz,  und  das  dagegen  anzu- 
wendende Mittel    einfach  nebeneinander  gestellt  werden.  .  .  . 

So  war  denn  also  die  Medizin  in  dieser  ihrer  Entwickelungsperiode  noch  nicht  im 
Besitz  dessen,  was  man  später  unter  Diagnose  verstanden  hat,  sondern  sie  kannte  niir  ein- 
fache oder  reichhaltigere  Symptomgruppen,  welchen  man  allenfalls,  um  ihnen  eine  charakte- 
ristische Eigenartigkeit  zu  sichern,  mit  irgend  welchen  symbolischen  Namen  belegte;  so 
finden  wir  z.  B.  im  Papyrus  Ebers  Krankheitsnaraen ,  wie  aufsteigendes  Wasser  im  Auge, 
Krokodilskrankheit  u.  dgl.  m.  Verhältnismässig  einfache  Symptomgruppen  treten  uns  in 
der  bisher  erschlossenen  Keilschrift-Literatur  entgegen,  während  in  der  altägyptischen  Medizin 
bereits  die  Versuche  zu  einer  Diagnosenstellung  ganz  klar  hervortreten ,  denn  hier  sind  die 
Symptomengruppen  nicht  allein  oft  recht  charakteristische  und  reichhaltige,  sondern  sie  be- 
ziehen sich  auch  auf  ganz   bestimmte  Organe." 

Auch  letzteres  ist  natürlich  noch  lange  keine  Diagnose  im 
modernen  Sinne  oder  auch  nur  eine  solche  im  Sinne  der  späteren 
wissenschaftlichen  griechischenMedizin.  Ausserdem  waren  jene  Symptome 
nicht  Ausdruck  einer  Störung  des  Organismus,  sondern  das  Werk  von 
bösen  Geistern,  die  Krankheiten  waren  auch  nach  Ansicht  der  ägyp- 
tischen Medizin  rein  dämonischer  Natur-).  Diese  religiöse  Auffassung, 
die  sogar  bis  zur  Schöpfung  von  Specialdämonen  für  die  einzelnen 
Körperteile  sich  verstieg,  hinderte  durchaus  eine  genaue  anatomische 
Lokalisierung  und  die  Zurückführung  einfacher  wie  komplizierter 
Symptomgruppen  auf  einzelne  Körperorgane.  Die  überirdische  Auf- 
fassung der  Krankheitserscheinungen  bedurfte  einer  irdischen  Er- 
klärung nicht  weiten  Beschwörungen  und  Zauberformeln  standen  im 
Vordergrunde  des  medizinischen  Wissens.  Heilanstalt  war  identisch 
mit  Heiligtum,  Medizinschule  mit  Priestertempel. 

Wenn  wir  mit  dieser  theurgischen  Symptomatologie  und  Therapie 
vom  Standpunkte  unseres  ärztlichen  Wissens  so  gut  wie  nichts  an- 
fangen können,  so  muss  noch  eine  weitere  Schwierigkeit  erwähnt 
w^erden,  die  selbst  unter  der,  wie  wir  sahen,  nicht  zutreffenden  Vor- 
aussetzung umschriebener  Krankheitsbilder  in  der  mesopotamischen 
und   ägyptischen    Medizin    eine   zuverlässige  Deutung  dieser  Bilder 


1)  Friedrich  Küchler,    Beiträge  zur  assyrischen  Medizin  (Dissertation).     Marburg 
1902;  derselbe,  Beiträge  zur  Kenntnis  der  assyrisch-babylonischen  Medizin.    Leipzig  1904. 

2)  Vgl.    Alfred    Wiedemann,    Magie   und   Zauberei   im    alten   Aegypten.     Leipzig 
1905,  S.   21  ff. 

31* 


-      478      - 

unmöglich  macht.  Das  ist  die  sprachliche  Schwierigkeit.  Ich 
berufe  mich  hier  auf  die  Erklärung  eines  ausgezeichneten  Kenners 
der  Keil-  und  Hieroglyphenschrift,  des  geistvollen  Felix  v.  Oefele^). 
Er  sagt: 

„Unüberwindliche  Schwierigkeiten  tauchen  auf,  sobald  wir  zu  einer  Besprechung 
der  rein  medizinischen  Einzeldisciplinen  übergehen.  Es  ist  hier  zu  bedenken,  dass  wir  eine 
Sprache  vor  uns  haben,  die  Jahrtausende  tot  und  unverständlich  war  und  deren  Verständnis 
aus  sich  selbst  entwickelt  werden  muss.  Zu  der  Menge  von  anatomischen  Begriffen ,  die 
erst  bestimmt  werden  müssen,  kommt  die  weitere  Schwierigkeit  einer  grösseren  Zahl  ver- 
schiedener Bezeichnungen  für  denselben  Körperteil  einerseits  und  anderseits  der  gleichlauten- 
den Bezeichnung  für  verschiedene  Körperteile.  So  wird  mit  gleichem  Worte  Magen  und 
Herz,  lingua  und  uvula  frons  und  umbilicus,  os  und  vulva,  Xasenmuschel  und  Ohrmuschel  etc. 
bezeichnet.  .  .  .  Einzelne  Krankheiten  sind  schwer  anzuführen,  da  auch  die  vielen 
Krankheitsnamen  noch  nicht  über  philologische  Vorarbeiten  herausge- 
kommen sind." 

Dieses  Urteil  v.  Oefele's  über  die  ägyptische  medizinische  Ter- 
minologie gilt  beinahe  in  noch  höherem  Grade  von  der  babylonischen. 
Da  ist  wirklich  der  Versuch,  irgend  eine  Symptombezeichnung  mit 
unseren  medizinischen  Termini  wiederzugeben,  lächerlich,  wenn  z.  B. 
selbst  ein  so  hervorragender  Ass3Tiologe  wie  Jensen  nicht  weiss,  ob 
an  einer  Stelle  des  Gilgamis-Epos  die  Bezeichnung  „Häute"  sich  auf 
Kleidung  oder  eine  Hautkrankheit  bezieht  und  ersteres  für  wahr- 
scheinlicher hält.  Und  gerade  aus  dieser  Stelle  hat  man  Syphilis 
herauslesen  wollen! 

v.  Oefele,  der  doch  gewiss  vor  kühnen  Konjekturen  nicht 
zurückschreckt,  warnt  davor  (a.  a.  O.,  S.  98),  ,,in  der  Kultur  des 
Zweistromlandes  in  höherem  Masse,  als  es  Altgriechenland  besass, 
scharf  umschriebene  Krankheitstypen  im  Rahmen  moderner  Termi- 
nologie finden  zu  wollen".  Er  meint,  dass  gerade  die  erhöhte  Schwie- 
rigkeit der  Selbstlesung  gegenüber  griechischen,  indischen,  hebräischen 
und  selbst  ägyptischen  Texten  Philologen  und  Medicohistoriker  sich 
dabei  gegenseitig  in  Fehler  hineintreiben  lässt,  deren  Kor- 
rektur nachträglich  fast  unmöglich  wird. 

Erst  nach  jahrzehntelanger  Zusammenarbeit  von  Philologen  und 
Medizinern  werde  eine  Klärung  möglich  sein. 

Wenn  also  schon  die  einzelnen  Symptome  höchst  unsicher  sind, 
ja  in  vielen  Fällen  es  nicht  einmal  sicher  ist,  ob  es  sich  überhaupt 
um  Krankheitserscheinungen  handelt,  so  ist  es  völlig  phantastisch, 
auf  solcher  Basis  die  Diagnose  eines_  Krankheitsbildes  und  Symp- 
tomenkomplexes, wie  desjenigen  der  Syphilis  aufbauen  zu  wollen. 
Leider  hat  man  es   doch    versucht,    und   so   sieht   sich    der   Verfasser 

i)  F.  V.  Oefele,  a.  a.  O.  S.   84. 


—     479      — 

genötigt,  auf    die    beiden   berühmten    Syphilisdiagnosen   der   altorien- 
tahschen   Medizin  näher  einzugehen. 

§  34.    Die  Krankheit  des  Gilgamis  und  die  Uchedu  des 
Papyrus  Ebers. 

Das  1S54  entdeckte  babylonische  Gilgamis-Epos,  dessen  neueste 
und  zuverlässigste  Ausgabe  und  deutsche  Uebersetzung  von 
P.  Jensen  1)  stammt,  soll  im  wesentlichen  über  Leben  und  Tod  und 
über  das  Jenseits  belehren.  Es  erzählt  die  Geschichte  des  Helden 
Gilgamis  und  seines  Freundes  Ja-bani,  der  jenem  durch  die  Ver- 
lockungen einer  Buhldirne  gewonnen  wird  und  gleiche  Schicksale 
mit  ihm  teilt,  als  der  Fluch  der  von  Gilgamis  verschmähten  und  von 
Ja-bani  durch  Tötung  des  „Himmelsstiers"  verhöhnten  Liebesgöttin 
Istar  sie  beide  trifft.  Ja-bani  erkrankt  und  stirbt.  Gilgamis  wird  von 
demselben  „Leiden"  befallen,  aber  durch  die  Fahrt  zum  Herrn  der 
Unterwelt  üt-napistim  und  Reinigung  in  den  dortigen  Gewässern 
„geheilt". 

Nach  Jensen  (a.  a.  O.,  S.  421 — 423)  stellt  „die  Heimat  des  Gilgamis,  die  Königs- 
stadt Erech,  mit  ihren  "  ,, Innenräumen"  die  7  Innenräiime  des  Totenreiches  dar,  und  der 
König  Gilgamis  war  Oberrichter  im  Tolenreiche.  Mit  dem  Charakter  des  Werkes  als 
Schilderung  von  Leben,  Tod  und  Jenseits  hängt  zusammen  der  darin  berichtete  Mauerbau 
der  Bau  an  der  ^Nlauer  von  Erech,  welche  derjenigen  der  Unterwelt  entspricht,  die  Schil- 
derung der  ausgelassenen  Liebes-  und  Lebenslust  Ja-banis  (in  dem  sehr  drastisch  geschil- 
derten, 6  Tage  und  7  Nächte  währenden  Geschlechtsverkehr  mit  einer  Hure),  sein  Traum 
von  dem  Totenreiche  und  seinem  Eintritt  darin,  die  Vorbereitungen  zum  Zuge  nach  der 
von  Humbaba  gehüteten  hohen  Ceder  des  Bei,  gewiss  dem  Lebensbaume  des  [biblischen 
Paradieses,  und  dieser  Zug  selbst,  vermutlich  eine  P'olge  jenes  beängstigenden  Traumes,  die 
Liebe  der  Istar  zu  dem  wohl  durch  den  Lebensbaum  verjüngten  und  mit  üppiger  Lebens- 
kraft erfüllten  Gilgamis  und  die  Sendung  des  gewiss  Tod  hauchenden  himmlischen  Sturm- 
dämons (alii),  die  wohl  damit  zusammenhängende  mysteriöse  Erkrankung  Ja-banis,  die  Reise 
Gilgamis'  zu  seinem  Ahn  Ut-napistim,  um  durch  ihn  das  Leben,  d.  h.  die  Unsterblichkeit 
zu  erlangen,  die  Geschichte  seiner  Errettung  und  Apotheose,  die  Auferstehung  des  Ja-bani 
und  Höllenfahrt  Gilgamis'  am  Schlüsse  des  Epos. 

Dieses  scheint  in  grossen  Zügen  das  ewig  auf  und  nieder  flutende  Leben  und  Sterben 
im  Jahre  wiederzuspiegeln,  also  dessen  Geschichte,  individuell  zugespitzt,  darzustellen.  Ist 
doch  sein  Held,  der  König  Gilgamis,  höchstwahrscheinhch  zugleich  ein  Sonnengott  und  sein 
Freund  Ja-bani,  der  auf  dem  Felde  geboren  ist,  der  Schützer  der  Tiere,  vermutlich  ein  Gott 
der  tierischen  Fruchtbarkeit  oder  ein  Feld-  und  Flurengott.  Und  nun  bringt  die  Legende 
gleich  im  Anfang  die  Erzählung  von  dessen  Schöpfung  und  kraftvoller  geschlechtlicher  Be- 
thätigung,  dann  seinen  Bund  mit  Gilgamis  —  Sonne  und  Erdenkraft  im  Bunde  erzeugen  das 
Leben  auf  der  Erde  —  dann  Ja-bani's  Tod  —  Aufhören  der  tierischen  Zeugungsfähigkeit 
oder    der    Fruchtbarkeit    überhaupt    — ,    dann    das    Jagen    des    immer    mehr    verelendenden 


i)  P.  Jensen,  Assyrisch-Babylonische  Mythen  und  Epen.    Berlin  1900,  S.  117  —  273 
(Das  Gilgamis  [Nimrod]-Epos). 


—     48o     — 

Gilgamis  nach  dem  Leben ,  dessen  Verlust  er  fürchtet  —  vergleichbar  dem  "Wandern  der 
immer  schwächer  werdenden  Herbst-  und  Wintersonne  —  endlich  sein  Eingehen  in  die 
Unterwelt  und  die  Auferstehung  Ja-bani's,  gewiss  entsprechend  dem  Sonnentode  am  Jahres- 
ende und  dem  Wiedererwachen  der  tierischen  Geschlechtslust  oder  Zeugimgs-  imd  Lebens- 
kraft überhaupt." 

Man  ersieht  aus  dieser  sehr  ansprechenden  und  einleuchtenden 
Erklärung  des  Gilgamis-Mythus,  dass  es  sich  hier  um  eine  rein  alle- 
gorische Darstellung  handelt,  bei  der  von  Krankheiten  nur  in  einem 
ganz  allgemeinen  Sinne  die  Rede  ist,  wenn  —  überhaupt  von  ihnen 
die  Rede  ist. 

Damit  komme  ich  zu  der  Stelle,  die  von  Proksch,  Buretu.  A. 
allen  Ernstes  als  Schilderung  der  Syphilis  aufgefasst  worden  ist. 

Es  spricht  der  Herr  der  Unterwelt,  Ut-napistim,  zum  Schiffer 
Ur-nimin  folgendermassen :  ^) 

„Der  Mensch  (Gilgamis),  vor  dem  du  hergingst, 

von  dessen  Leibe  eine  .  .   .  .  t  hat 

dem  Häute  die  Schönheit  seines  Fleisches  vernichtet  haben, 

nimm  ihn  mit,  Ur-nimin,  und  bring'  ihn  zum  Waschort, 

sein  (en)  .   .  .  wasche  er  mit  Wasser  rein  wie  Schnee, 

er  werfe  ab  seine  Häute  und  das  Meer  bringe  sie  fort! 

(Als)  gut  werde  sein  Körper  ge  .   .  t 

Erneuert  werde  die  Binde  seines  Hauptes! 

Er  mög'  bekleidet  werden  mit  einem  Gewände,  seinem  Schamtuch! 

Bis  dass  er  zu  seiner  Stadt  hinkommt, 

bis  dass  er  zu  seinem  Wege  gelangt, 

soll  das  Gewand  nicht  ,, graues  Haar  abwerfen",  sondern  neu  verbleiben. 

Nehmen  wir  einmal  an,  diese  Schilderung  bezöge  sich  wirklich 
auf  eine  Krankheit,  also  in  diesem  Falle  eine  Hautkrankheit,  eine 
universelle  Dermatose,  wie  etwa  Psoriasis,  Lepra  oder  ähnliches,  die 
auch  die  Genitalien  ergriffen  hat,  so  ist  damit  noch  lange  nicht  die 
Diagnose  „Syphilis"  gegeben,  selbst  in  dem  doch  bei  Gilgamis  nicht 
erwiesenen  Falle  einer  Infektion  bei  dem  Freudenmädchen.  Die  ganz 
allgemein  gehaltene  Schilderung  lässt,  falls  sie  sich  auf  ein  Hautleiden 
bezieht,  alle  möglichen  Diagnosen  nichtsyphilitischer  Dermatosen 
zu,  die  hier  überhaupt  in  Betracht  kommen  können  und  die  in  dem 
vorhergehenden  Kapitel  zur  Genüge  gekennzeichnet  worden  sind. 
Wer  kann  z.  B.  die  rein  willkürliche  Diagnose  ,, Lepra''  oder  „Pso- 
riasis" oder  „universelles  Ekzem"  u.  dgl.  m.  widerlegen?  Ebenso 
schwebt  die  Diagnose  ,, Syphilis"  völlig  in  der  Luft  und  ist  offenbar 
durch  die  Thatsache  suggeriert  worden,  dass  Ja-bani,  nicht  GilgamLs, 
die    Gunst   einer    Buhldirne   in    überreichlichem    Masse    genossen    hat 


i)  Jensen,  a.  a.  O.  S.    249. 


und    später    von    Istar    verflucht   und    mit   tödlicher    Krankheit    heim- 
gesucht wird  1). 

Nach  dem  Kommentar  Jensens  zu  der  oben  mitgeteilten  Stelle 
über  die  Reinigung-  des  Gilgamis  ist  es  aber  sehr  wohl  möglich,  dass 
es  sich  gar  nicht  um  eine  Krankheit,  sondern  bloss  um  die,  bei 
den  die  Vorschriften  der  Reinlichkeit  und  Körperh3^giene  aufs  ge- 
naueste befolgenden  Babyloniern  als  solche  empfundene  äusserliche 
Verwahrlosung  und  Verschmutzung  handelt. 

Nach  Jensen  nämlich  bedeutet  in  der  zweiten  Strophe  („dessen 
Leib  eine  (Hau)t  hat")  die  „Haut"  =  malü  so  viel  wie  „vSchmutz, 
schmutziges  Kleid"  (S.  515).  Auch  die  „Häute"  =  masku  in  der 
dritten  Strophe  übersetzt  Jensen  mit  „Haut,  Tierhaut,  Fell",  nicht 
mit  ,, Hautkrankheit  (a.  a.  O.,  S.  401).  Und  sogar  das  „Schamtuch" 
(subat  bulti)  der  9.  Strophe  bedeutet  nach  Jensen  (S.  398)  nicht 
bloss  Schamtuch,  sondern  wirkliches  Kleid.  Auch  die  Schlussstrophen 
lassen  darauf  schliessen,  dass  es  sich  um  die  Anlegung  neuer  Kleider 
handelt,  die  vor  dem  Schicksal  der  alten,  „graues  Haar  abzuwerfen", 
d,  h.  verschmutzt  zu  werden  und  so  abzufasern,  durch  das  Gebot  des 
Ut-napistim  geschützt  werden  sollen. 

Von  Syphilis  ist  also  in  dem  Gilgamis-Mythus  nicht  nur  keine 
Spur  zu  finden,  sondern  kann  auch  mit  dem  besten  Willen  nicht 
hineinkonstruiert  werden, 

* 

Ein  klassisches  Beispiel  für  die  eigentümliche  Methodik  gewisser 
Verfechter  der  Lehre  von  der  Altertumssyphilis,  aus  einem  einzelnen 
Symptom  gleich  einen  Symptomenkomplex  zu  machen  und  gar 
einen  so  komplizierten  wie  den  der  Syphilis,  liefert  das  berühmte  „u;^d" 
des  Papyrus  Ebers,  das  wirkHch  und  wahrhaftig  Syphilis  bedeuten 
soll.  So  erklärt  ein  hervorragender  SyphiHshistoriker -) ,  dessen  un- 
bestreitbaren Verdienste  auf  einem  ganz  anderen  Gebiete  liegen  als 
auf  dem  der  philologisch-medizinischen  Interpretation.  Dagegen  weist 
der  verdienstvolle  Uebersetzer  des  Papyrus  Ebers,  H  e  i  n  r  i  c  h  Jo  a  c  h  i  m  3), 


1)  „asakku",  das  Ja-bani  trifft,  bedeutet  nach  Jensen  (S.  433)  die  verschiedensten 
Arten  von  menschlichen  Leiden  oder  ganz  allgemein  Unglück.  —  Uebrigens  ist  das  Freuden- 
mädchen eine  sogen.  ,,Tempeldime"  (vgl.  über  deren  bedeutsame  Rolle  in  Babylon  das 
Gesetzbuch  Hammurabis  und  die  bekaimte  Stelle  bei  Herodot),  eine  der  Istar  Geweihte, 
durch  deren  Vermittelung  die  Göttin  den  Ja-bani  dem  Gilgamis  zuführen  will.  Das  geschieht 
durch  die  sexuelle  Lockspeise,  die  hier  ganz  ohne  Zusammenhang  mit  irgend  einer  Erkran- 
kung dargeboten  und  geschildert  wird. 

2)  J.  K.  Proksch,  Geschichte  der  venerischen  Krankheiten.  Bonn  1895,  ^d.  I, 
S.  63—69. 

3)  H.  Joachim,  Die  u;f;du  im  Papyrus  Ebers.  Virch.  Arch.  1892,  Bd.  CXXVIII, 
S.   140 — 160. 


-     482      - 

ein  Arzt  und  Aegyptologe  zugleich,  in  überzeugender  Weise  nach, 
dass  die  ,,U;^du",  die  übrigens  so  ziemlich  an  allen  Körperteilen  vor- 
kommen können  (was  gerade  Proksch  für  besonders  syphilisverdächtig 
erklärt!)  weiter  nichts  bedeutet  hat  als  eine  fieberhafte  oder  heisse 
schmerzhafte  Anschwellung. 

Ebers  selbst  sagt  über  u;<du:  „Das  Wort  bedeutet  gewöhnlich 
die  Schmerzen,  doch  ist  es  auch  als  das  Schmerzliche,  Krankhafte  im 
allgemeinen  zu  fassen."  ^) 

Joachim  führt  verschiedene  Stellen  an,  die  eine  Identificierung 
der  u;fdu  mit  Syphilis  ganz  unmöglich  machen,  z.  B,  die  Empfehlung 
von  Mitteln,  um  das  Wachsen  der  U;^du  an  den  Zähnen  zu  vertreiben 
(offenbar  schmerzhafte  Anschwellungen  des  Zahnfleisches),  u;fdu  im 
Auge,  im  Herzen  u.  a.  m.  U;^^du  in  der  Seite  sind  wohl  Bubonen, 
u;^du  in  allen   Gliedern  deutet  Joachim  als  Gichtknoten. 

Chabas  definierte  die  U;^du  als  ,,inflammation  intestinale"  und 
„engorgement    des    articulations",    Loret    als    „une   sorte   d'absces"  2). 

Die  Deutung  von  Joachim  dürfte  die  richtige  sein,  zumal  da 
in  der  That  „schmerzhafte  Anschwellung"  an  ganz  verschiedenen 
Körperstellen  etwas  ganz  Verschiedenes  bedeuten  kann. 

Wenn  Proksch  schliesshch  das  ägyptische  „Uchet"  mit  dem 
angeblichen  Namen  der  oben  erwähnten  Hure  im  Gilgamis-Epos  in 
Beziehung  bringt,  so  muss  auch  diese  Kombination  zurückgewiesen 
werden,  da  der  von  Jeremias  als  ,,Uchat"  übersetzte  Name  nach 
Jensen  keineswegs  feststeht,  sondern  von  ihm  als  sam-hat  gelesen 
werden  muss. 

Ich  halte  die  rein  symptomatologische  Auffassung  von  u;^du, 
wie  sie  von  Joachim  vertreten  wird,  für  die  einzig'  richtige  und  aus 
den  Texten  sich  ganz  natürlich  ergebende.  Deshalb  kann  ich  auch 
der  uns  hier  weniger  interessierenden  Hypothese  von  Ebbeil  ^),  dass 
das  Wort  die  Pocken  bezeichne  und  mit  dem  hebräischen  „schechin" 
identisch  sei,  nicht  zustimmen.  Es  handelt  sich  nicht  bloss  um  eine 
akute,  inflammatorische  Hautkrankheit,  wie  Ebbeil  annimmt,  sondern 
um  ein  auch  die  Zähne  und  innere  Organe,  wie  Herz,  Drüsen  etc., 
betreffendes  Symptom^). 

1)  Papynis  Ebers.  Die  Masse  und  die  Kapitel  über  die  Augenkrankheiten.  Ab- 
handl.  der  philologisch-historischen  Klasse  der  Kgl.  Sachs.  Gesellschaft  der  Wissenschaften, 
Bd.  XI,  No.  II  u.  III,  S.   201;  cit.  nach  Joachim,  a.  a.  O.,  S.    150. 

2)  "Vgl.  auch  James  Finlayson,  Ancient  Egyptian  Medicine.  A  Bibliographical 
Demonstration  etc.     Glasgow   1893,  S.  47 — 48:'Clinical  Sketch  of  Ouchet,  Uh'tu  or  Uha. 

3)  B.  Ebbeil,  La  variole  dans  l'ancien  testament  et  dans  le  papyrus  Ebers.  In: 
Nordisk  Medicinskt  Arkiv   1906,  Afd.  11,  Heft  4,  No.    11,  S.    i — 58. 

4)  Vgl.  auch  Wilhelm  Ebstein,  Bemerkungen  über  den  angeblichen  Ursprung  der 
Variola.     Janus,  Dezember   1907. 


-      483      — 

§  35-    Kritische  Analj^se  der  „Syphilis"fäUe  in  Bibel  und  Talmud. 

Die  altjüdische  Medizin  ist  uns  nicht  in  irgend  welchen  rein 
ärztlichen  Schriften  erhalten,  wie  dies  bei  der  ägyptischen  Medizin 
der  Fall  ist,  sondern  sie  kann  nur  aus  den  Stellen  rekonstruiert  werden, 
die  sich  in  Bibel  und  Talmud  darüber  finden.  Diese  aber  sind  in 
erster  Linie  Gesetzbücher,  die  im  allgemeinen  medizinische  Dinge 
nur  von  der  legalen  Seite  behandeln.  Ausserdem  finden  sich  zahl- 
reiche zerstreute  Mitteilungen  über  medizinische  Dinge,  die  von 
Männern  der  Wissenschaft  und  von  Laien  stammen. 

Es  ist  das  grosse  Verdienst  von  Julius  Preuss,  der  in  sich  die 
drei  Eigenschaften  eines  tüchtigen  ärztlichen  Praktikers,  gründlichen 
Hebraisten  und  Talmudforschers  und  ausgezeichneten  Kenners  der 
g-esamten  älteren  und  neueren  medizin-  und  kulturgeschichtlichen 
Literatur  vereinigt,  zum  ersten  Male  eine  kritische  Bearbeitung  der 
biblisch-talmudischen  Medizin  vom  modernwissenschaftlichen  Stand- 
punkte unternommen  zu  haben,  die  sich  über  beinahe  zwei  Decennien 
erstreckt  und  so  reiche  Ausbeute  g-ehefert  hat,  dass  die  Zahl  seiner 
grösseren  Monographien  aus  diesem  Gebiet  bereits  zwei  Dutzend 
beträgt. 

Preuss  ist,  da  er  ein  genauer  Kenner  der  hebräischen  Original- 
schriften und  ein  scharfsinniger  und  vorsichtiger  Kritiker  ist,  gegenwärtig 
der  einzige  wirklich  zuverlässige  Gewährsmann  für  die  richtige 
Deutung  der  einzelnen  Termini  technici,  Schilderungen  und  Andeutungen 
in  den  biblisch-talmudischen  Schriften.  Der  nicht  ärztliche  Uebersetzer, 
und  sei  er  ein  noch  so  ausgezeichneter  Hebraist,  kann  niemals  Sinn  und 
Bedeutung  der  medizinischen  Ausdrücke  und  Schilderungen  in  dem 
Masse  ergründen,  wie  ein  zugleich  die  hebräische  Sprache  und  die 
vergleichende  medizingeschichtliche  Methode  beherrschender  Arzt. 

Die  Arbeiten  von  Preuss  haben  uns  in  die  glückliche  Lage 
versetzt,  bei  der  Analyse  gewisser  als  Syphilisschilderungen  ange- 
sehener Stellen  der  Bibel  endlich  auf  sicherem  Boden  zu  stehen.  Die 
zahllosen  früheren  Streitigkeiten  über  diese  Stellen  mussten  unfruchtbar 
und  ergebnislos  bleiben,  weil  jener  sichere  Boden  durchaus  fehlte. 
Es  ist  zwecklos,  alle  Meinungen  und  Hypothesen  noch  einmal  zu 
beleuchten.  Erst  mit  Preuss  —  ich  wiederhole  es  nachdrücklich  ^ 
beginnt  die  eigentliche  wissenschaftliche  Erforschung  der 
biblisch-talmudischen  Medizin.  Mag  es  auch  interessant  sein,  die 
Ansichten  bedeutender,  aber  des  Hebräischen  nicht  kundiger  Kliniker, 
wie  z.  B.  Wilhelm  Ebstein,  zu  hören  —  die  eigentliche  Grundlage 
für  die  kritische  Beurteilung  ist  uns  jetzt  einzig  und  allein  durch  die 
Arbeiten  von  Preuss  gegeben. 


-     484     - 

Die  altjüdische  Medizin  stand  teils  unter  babylonischem  Ein- 
flüsse, wie  der  Glaube  an  Krankheitsdämonen,  der  Einfluss  der  Astro- 
logie und  sonstiger  Aberglaube  („böses  Auge")  beweisen,  teils  unter 
dem  Einflüsse  der  griechischen  Heilkunde,  aus  der  namentlich  in 
der  talmudischen  Zeit  manche  Anschauungen  und  auch  Namen  über- 
nommen wurden. 

Gehen  wir  nun  zu  einer  Besprechung  der  angeblichen  Erwäh- 
nungen der  ., Syphilis"  in  Bibel  und  Talmud  über^). 

I.  Baal  Peor.  —  J.  Rosenbaum  hat  der  „Plage  des  Baal 
Peor"  eine  ausführliche  Untersuchung  gewidmet-),  in  der  er  den 
Nachweis  zu  erbringen  sucht,  dass  es  sich  um  eine  Epidemie  von 
Syphilis  handle.  Preuss  hat  diese  Hypothese  endgültig  widerlegt. 
Ich  folge  durchweg  seinen  scharfsinnigen  Ausführungen  ^). 

Die  betreffende  Stelle  findet  sich  Numeri  25,  3  ff.  und  besagt 
nach  Preuss  folgendes: 

Als  Israel  in  Sittim  lagerte,  begann  das  Volk  zu  buhlen  mit  den  Töchtern  Moabs. 
Diese  luden  das  Volk  zu  den  Opfern  ihrer  Götter.  Und  Israel  hing  dem  Baal  Peor  an,  so 
dass  der  Zorn  Gottes  über  Israel  entbrannte.  Die  Anführer  des  Volkes  werden  standrecht- 
lich gehängt,  die  Richter  verurteilen  (die  übrigen),  die  den  Baal  Peor  verehrt,  zum  Tode. 
Es  entsteht  eine  Pest,  maggepha,  die  24  000  Menschen  wegrafft. 

Nach  Preuss  giebt  die  Bibel  keinerlei  Auskunft  über  den 
Kultus  des  Baal  Peor.  Rosen  bau  ms  Behauptung^),  dass  ,,die  Rab- 
binen  den  Namen  von  pecor,  aperire  sc.  hymenem  virgineum  herleiten", 
ist  nicht  wahr.  An  der  von  ihm  citierten  Stelle  des  Targ.  Jonathan, 
einer  aramäischen  Bibelübersetzung  aus  der  Zeit  vor  Chr.  Geb.,  steht 
nichts  davon.  Und  selbst  wenn  hier  derartiges  stände,  so  würde 
die  Auffassung  eines  Uebersetzers  für  den  Bibeltext  nichts  beweisen. 
Nach  der  Ueberlieferung  der  Rabbinen  handelt  es  sich  vielmehr  bei 
diesem  Kult  um  ein  aperire  anum,  d.  h.  um  eine  Entblössung,  viel- 
leicht soofar  um  eine  Defäkation  vor  dem  Götzenbild.  Trotzdem 
es  sich  hier  offenbar  nach  dem  Empfinden  Andersgläubiger  eher 
um  eine  Verhöhnung  handelt,  wird  diese  Thatsache  von  den  Tal- 
mudisten  als  ein  Beispiel  von  „Götzendienst"  angeführt,  der  auch  in 
dieser  Form   verwerflich  sei. 


1)  Die  Reihenfolge    der   aufgezählten  Krankheiten   ist,    soweit   das  möglich    ist,    eine 
chronologische. 

2)  Julius  Rosenbaum,  Geschichte  der  Lustseuche  im  Alterthume,   6.  Aufl.    Halle 
1883,  S.   76—87. 

3)  J.  Preuss,  Prostitution  und   sexuelle  Perversitäten  nach  Bibel  und  Talmud.     In: 
Monatshefte  f.  prakt.  Dermat.    1906,  Bd.  XLIII,  S.   28 — 30. 

4)  Rosenbaum,  a.  a.  O.,  S.    77. 


—     485      — 

Erst  der  Kirch vater  Hieronymus  identifizierte  den  Peor  mit 
dem  Priapus;  die  Frauen  hätten  ihn  verehrt,  ob  obscoeni  magnitudinem. 
„Peor"  heisse  er,  weil  er  „idohim  tentiginis  (des  Penis)  haberet  in  ore, 
ein  Bild  des  Penis  im  geöffneten  Mund  habe  (wie  der  indische 
Schiwa). 

Sickler^)  und  nach  ihm  Rosenbaum  haben  die  Plage  des  Baal 
Peor  für  eine  venerische  Krankheit,  speziell  für  SyphiHs  erklärt,  weil 
die  Verführung  zum  Götzendienst  von  den  Frauen  ausgegangen  sei 
vnid  weil,  als  die  Israeliten  im  Kriege  gegen  Midian  alle  Männer 
töteten,  die  Frauen  aber  am  Leben  Hessen.  Moses  ihnen  zürnend 
sagt:  „Gerade  die  Frauen  waren  die  Ursache  euerer  Sünde  gegen 
Gott  (d.  h.  der  syphilitischen  Infektion)  wegen  des  Peor,  und  so  kam 
die  Pest  in  die  Gemeinde  Israel.  Nun  tötet  alle  Frauen,  die  beieits 
den  Beischlaf  eines  Mannes  kennen"  (weil  sie  syphilitisch  infiziert 
sind).  ,,Nur  die  weiblichen  Kinder  dürft  ihr  für  euch  am  Leben 
lassen.  Und  nun  lagert  ausserhalb  des  Lagers  sieben  Tage  (zur 
Desinfektion,  vielleicht  zur  klinischen  Schmierkur,  bemerkt  Preuss 
ironisch)  jeder,  der  einen  Menschen  getötet  oder  einen  Erschlagenen 
berührt  hat,  und  entsündigt  auch  am  dritten  und  siebenten  Tage  ihr 
und  euere  Gefangenen.  Und  jedes  Kleid,  alles  was  von  Leder  oder 
Ziegenhaar  gemacht  ist,  und  alles  Holzgerät  müsst  ihr  entsündigen." 
(Numeri  31,  16  ff.)  Zur  Zeit  Josuas  wirft  ihnen  Pinehas,  der  Augen- 
zeuge jener  Epidemie,  vor:  „Dass  wir  von  der  Misse that  Peors  uns 
nicht  gereinigt  bis  auf  diesen  Tag"  (Jos.  22,  17).  Das  gilt  als  Be- 
weis für  die  Fortdauer  der  Krankheit.  Auch  der  Verfasser  der  Apo- 
kalypse spricht  von  der  damaligen  Hurerei  (noqvEvom,  Apoc.  2,  14), 
Zieht  man  nun  doch  die  Thatsache  in  Betracht,  dass  das  in  der 
Wüste  geborene  Geschlecht  unbeschnitten,  die  Gefahr  der  venerischen 
Infektion  also  besonders  gross  war,  so  ist  die  Diagnose  „S3^philis"  fertig. 

Aber  selbst  Proksch^)  hat  diese  verlockenden  Stellen  sehr 
kritisch  beurteilt,  da  sich  „in  der  weitläufigen  Beschreibung  von  Schuld 
und  Sühne  nicht  ein  einziges  Wort  über  die  x\rt  der  »Plage«  finde". 
Preuss  giebt  folgende  durchaus  stichhaltige  und  einleuchtende  Er- 
klärung. Da  die  Verführung  zum  Götzendienste  nach  dem  Sprich- 
worte „cherchez  la  femme"  von  den  Frauen  ausging,  wurden,  um 
weitere  Anreizungen  unmöglich  zu  machen,  alle  Verführerinnen  aus- 
gerottet (die  Männer  waren  ja  bereits  getötet).  Jeder  aber,  der 
einen    Leichnam    berührt,    ist    nach    mosaischem    Gesetz    unrein     und 


i)  W.   E.   C.  A.  S ick  1er,    Dissertatio  inauguralis  exhibens   novum  ad  historiam   luis 
venereae  additamentum.     Jena   1797. 

2)  Proksch  a.  a.  O.,  Bd.  L  S.  89. 


—      486     — 

muss  sich  entsündigen.  Die  Verfehlung  ist  eine  so  schwere,  dass 
Pinehas,  als  man  wieder  anfängt,  gegen  das  Gesetz  Altäre  zu  bauen, 
meint,  sie  sei  moralisch  noch  nicht  gesühnt.  Der  Krankheitsname 
des  Textes,  maggepha,  heisst  weiter  nichts  als  Epidemie  (Pest, 
Seuche),  das /^taa/ia  Phil os,  der  Aot/io?  des  Josephus(Ant.  IV,  c.  6,  12). 
Die  Epidemie  entsteht  durch  den  Zorn  Gottes  (Xum.  25,  3)  und  rafft 
24000  Menschen  dahin,  was  doch  schon  ohne  weiteres  S3^philis  aus- 
schliesst.  Durch  die  Energie  des  Pinehas,  der  ein  besonders  freches 
Buhlerpaar  niedersticht,  wird  der  Seuche  endlich  Einhalt  gethan.  Um 
welche  Seuche  es  sich  hier  handelt,  bleibt  ganz  im  Dunklen.  Für 
Syphilis  spricht  nicht  das  Geringste. 

2.  Die  gara'"ath  (Zaraath)-K rankheit.  —  Ueber  die  seltsame 
Zaraath-Krankheit  im  13.  Kapitel  des  dritten  Buches  Moses  sind  un- 
zählige Hypothesen  aufgestellt  worden ,  unter  denen  natürlich  die 
Syphilis  nicht  fehlt,  die  Final}^^)  für  erwiesen  hält,  Proksch-)  „nicht 
ausschliessen  kann".  Münch^)  hat  bekanntlich  die  Zaraath  für  Viti- 
ligo,  Kazenelson  und  Sack-*)  haben  sie  für  eine  Art  von  Tricho- 
ph3^tie  erklärt,  Ebstein'^)  für  einen  Sammelnamen  für  verschiedene 
nicht  diagnostizierbare  Hautleiden.  Ohne  Frage  ist  das  Zaraath-Kapitel 
das  allerschwierigste  bezüglich  einer  genaueren  medizinischen 
Interpretation.  Preuss^')  erklärt  am  Beginn  seiner  wertvollen  Arbeit 
über  Zaraath,  dass  er  sich  von  all  seinen  Vorgängern  darin  unter- 
scheide, dass  er  zahlreiche  Einzelheiten  des  Zaraath-Kapitels  nicht  ver- 
stehe, dass  er  von  manchen  sogar  glaube,  dass  sie  uns  unlösbare 
Aufgaben  stellen.  Vor  allem  protestiert  Preuss  gegen  die  u.  a.  von 
Münch  vertretene  Meinung,  als  sollte  in  der  Bibel  ein  Krankheitsbild 
in  allen  seinen  Stadien  gezeichnet  werden.  Die  Bibel  ist  kein  Lehr- 
buch der  Aledizin,  sondern  ein  religiöses  Gesetzbuch,  das  Normen 
für  die  Bestimmung  der  Reinheit  oder  Unreinheit  giebt,  deren  Beur- 
teilung in  der  Hand  sachv^erständiger  Priester  lag.  Jeder  zweifellos 
mit  der  Zaraath  Behaftete  war  unrein  und  wurde  isoliert.    Und  zwar 


1)  S.  Finaly,  Ueber  die  wahre  Bedeutung  des  Aussatzes  in  der  Bibel.  In:  Archiv 
f.  Dermat.  u.  Syph.,  Bd.  II,  S.    125  —  132,  Prag   1870. 

2)  Proksch  a.  a.  O.,  Bd.  I,  S.   84. 

3)  G.  N.  Münch,  Die  Zaraath  (Lepra)  der  hebräischen  Bibel.     Hamburg   1893. 

4)  Arnold  Sack,  Was  ist  die  Zaraath  (Lepra)  der  hebräischen  Bibel?  Virchow's 
Archiv  1896,  Bd.  CXLIV,  S.  202 — 223  (deutsche  Bearbeitung  einer  russischen  Schrift 
Kazenelsons). 

5)  Wilhelm    Ebstein,    Die  Medizin  im  Alten  Testament,  S.   89.     Stuttgart   1901. 

6)  J.  Preuss,  Materialien  zur  Geschichte  der  biblisch-talmudischen  Medizin.  Die 
Erkrankungen  der  Haut.     Sep.-Abdr.  aus  Allg.  med.  Central-Zeit.  1903,  Xr.  21  ff.,  S.  i  — 19. 


—    487    — 

ist  sowohl  von  den  ersten  Anfängen  wie  von  „veralteter  garaath" 
die  Rede.  Die  Symptome  betreffen  in  beiden  Fällen  die  äussere 
Haut. 

Vor  der  IMitteilung  der  die  Zaraath  betreffenden  Bibelstellen, 
wie  sie  jetzt  in  der  neuen  kritischen  Uebersetzung  von  Preuss  vor- 
liegen, müssen  wir  die  Auffassung  des  letzteren  über  die  wichtigsten 
an  diesen  Stellen  vorkommenden  Termini  technici  kennen  lernen. 

1.  Das  Wort  „garaath"  (Zaraath)  wurde  früher  von  J.  PageU) 
mit  dem  Stammwort  „Zar'a"  =  säen,  kombiniert  und  als  eine  „Aus- 
saat", eine  Dissemination  auf  der  Haut  aufgefasst.  Dagegen  spricht 
nach  Preuss,  dass  in  Vers  38  gerade  diejenige  Form,  die  durch  das 
Auftreten  multipler  Flecke  charakterisiert  ist,  nicht  ,,caraath",  sondern 
„Bohaq"  heisst.  Dass  „Zaraath"  sich  auf  eine  bestimmte  Krankheit 
bezieht,  hält  Preuss  für  sicher  und  er  stimmt  der  Meinung,  die 
bis  vor  einigen  Jahrzehnten  fast  alle  Forscher  vertraten,  zu,  dass 
darunter  der  Aussatz  (Lepra)  zu  verstehen  sei. 

2.  „Bahereth"  von  bahar,  glänzen  =  ein  glänzender,  heller 
Fleck;  „seeth",  ein  Infinitum  von  nasa,  erheben  =  eine  Erhebung  auf 
der  Haut;  „sappachoth",  eine  Schuppenkrankheit,  transponiert  von 
chasaph,  abschälen,  abschuppen  (vgl.  Exod.  16,   14). 

Preuss  glaubt,  dass  hiermit  drei  Formen  der  „Lepra"  unter- 
schieden würden,  nämlich  die  Fleckenlepra  (bahereth),  der  Knoten- 
aussatz (seeth)  und  die  einst  von  Willan  als  „Lepra  vulgaris"  be- 
zeichnete Schuppenfiechte,  die  Psoriasis.  Angesichts  der  Thatsache, 
dass  bei  der  echten  Lepra  Abschuppung  selten  ist,  jedenfalls  kein 
charakteristisches  Svmptom  bildet,  ist  die  letztere  Deutung  annehm- 
bar, wenn  auch  nicht  sicher. 

3.  j.neg'a"  von  „nag'a  =  berühren  ist  das  lateinische  contagium, 
das  griechische  owacpeia  und  entstammt  der  alten  Anschauung,  nach 
der  ein  Mensch  von  einem  ausserhalb  seines  Körpers  befindlichen 
Agens  „berührt"  und  dadurch  krank  wird.  Den  Gegensatz  zu  nega 
bildet  „machla",  „die  Krankheit  nach  dem  Laufe  der  Welt".  x\uch 
„deber".  das  Wort  für  die  Pest,  die  viele  Menschen  schnell  weg- 
raffende Seuche,  ist  von  nega  verschieden.  Dieses  ist  ein  allgemeiner 
Begriff:  Kontagium,  der  erst  durch  einen  weiteren  Zusatz  näher  be- 
stimmt wird,  z.  B.  nega  garaath  =  das  Kontagium  des  Aussatzes,  der 
ansteckende  Aussatz,  Den  neuerdings  von  Sachs  gemachten  Ver- 
such, einen  Gegensatz  zwischen  nega  und  nega  ^araath  zu  kon- 
struieren, hat  Preuss  schlagend  widerlegt. 


i)  Deutsche  Medizinal-Zeitung    1893,   S.   683. 


—     488     — 

Ob  auch  in  der  Bibel  der  nega  als  kontagiöse  Krankheit  in 
unserem  Sinne  aufzufassen  ist,  wissen  wir  nicht.  Die  „mispachath" 
ist  ein  nega,  aber  rein   (3.  Mose   13,  6). 

Der  Bibeltext  (3.  Mose  13  V.  2  ff.)  lautet  nach  Preuss'  Ueber- 
setzung  folgendermassen : 

,,(2)  Ein  Mensch,  auf  dessen  Leibeshaut  seelh  oder  sappachath  oder 
bahereth  entsteht,  soll,  wenn  es  (sc.  eine  dieser  Erkrankungen  nach  Laienmeinung) 
zur  nega  <;araath  auf  seiner  Leibeshaut  geworden  ist,  zum  Priester  gebracht 
werden  (da  et  freiwillig  schwerhch  kommen  wird).  (3)  Der  Priester  soll  den  nega 
auf  der  Leibeshaut  betrachten:  ist  Haar  in  dem  nega  weiss  geworden  und 
der  nega  sieht  tiefer  aus  als  die  Leibeshaut,  dann  ist  es  (wirklich)  nega  9ara- 
ath,  und  wenn  das  der  Priester  sieht,  so  soll  er  ihn   für  unrein  erklären. 

[(J^araath  auf  vorher  normaler  Haut.      A.   Die   Bahereth.] 

Bei  der  Besichtigung  findet  sich:  (4)  Die  Bahereth  ist  (zwar)  weiss  auf  der 
Leibes  haut,  sieht  aber  nicht  tiefer  aus  als  die  Haut  und  ihr  Haar  ist  nicht 
weiss  geworden,  so  schliesse  der  Priester  den  nega  sieben  Tage  ein.  (5)  Ist 
nach  Ablauf  dieser  Zeit  der  nega  in  seinem  Aussehen  (oder:  ,,nach  des  Priesters 
Augenmaass")  stehen  geblieben,  hat  sich  nicht  auf  der  Haut  verbreitet,  so 
schliesse  ihn  der  Priester  zum  zweiten  Male  sieben  Tage  ein.  (6)  Ist  bei 
der  Besichtigung  am  siebenten  Tage  der  nega  matt  (blass,  geworden  oder  ge- 
blieben) und  hat  sich  nicht  auf  der  Haut  ausgebreitet,  so  erkläre  er  ihn  für 
rein;  es  ist  die  mispachath.  (7)  Wenn  sich  aber  (später)  die  mispachath  auf 
der  Haut  ausbreitet,  nachdem  der  Kranke  dem  Priester  behufs  Reinspre- 
chung  vorgeführt  war,  so  soll  er  dem  Priester  nochmals  gezeigt  werden. 
(8)  Wenn  dieser  die  Ausbreitung  bestätigt,  soll  er  ihn  für  unrein  erklären: 
es  ist  9araath. 

[B.  Die  Seeth.] 

(9)  Ein  Mensch  wird  wegen  nega  (jaraath  zum  Priester  gebracht.  (10) 
Es  findet  sich  eine  weisse  seeth  auf  der  Haut,  die  das  Haar  in  weiss  ver- 
wandelt hat  und  in  der  seeth  ist  eine  Stelle  lebenden  Fleisches:  (11)  es  ist 
eine  inveterierte  9araath  der  Leibeshaut,  eine  weitere  Beobachtung  nicht 
nötig.  (12)  Blüht  die  (jaraath  auf  der  Haut  und  bedeckt  die  ganze  Haut 
des  nega  von  Kopf  bis  Fuss,  so  weit  der  Priester  sieht,  (13)  so  spreche  er 
den  nega  rein;  ist  er  ganz  in  Weiss  verwandelt,  so  ist  er  rein.  (14)  Aber 
am  Tage,  da  sich' lebendes  Fleisch  darin  zeigt,  ist  er  unrein;  das  lebende 
Fleisch  ist  unrein,  es  ist  9araath.  (16)  Verwandelt  das  lebende  Fleisch  sich 
wieder  in  Weiss,  so  erkläre  der  Priester  den  nega  für  rein. 

[Lepra  auf  vorher  veränderter  Haut.] 

(18)  Auf  der  Haut  eines  Menschen  war  ein  schechin  und  ist  geheilt. 
Nun  findet  sich  an  der  Stelle  des  schechin  eine  weisse  seeth  oder  eine  weiss- 
rötliche  bahereth,  so  soll  er  dem  Priester  gezeigt  werden.  (20)  Sieht  der 
Priester,  dass  es  flacher  aussieht  als  die  Haut  und  dass  sein  Haar  in  Weiss 
verwandelt  ist,  so  erkläre  ihn  der  Priester  für  unrein,  es  ist  der  nega  der 
^araath,  die  in  dem  schechin  blüht.  (21)  .Ist  kein  weisses  Haar  darin,  nicht 
flacher  als  die  Haut  und  blass,  so  verschliesse  ihn  der  Priester  sieben  Tage. 
(22)  Verbreitet  es  sich  auf  der  Haut,  so  erkläre  ihn  der  Priester  für  unrein, 
es  ist  ein  nega.  (23)  Steht  aber  die  bahereth  an  ihrer  Stelle  still  und  verbreitet 
sich  nicht,    so    ist  es  die  carebeth  der  schechin  und  rein.     (24)     Oder   auf   der 


—    489    — 

Haut  eines  Menschen  war  ein  Feuerbrand  (Brandmal).  Nun  wird  die  Brand- 
stelle eine  bahereth,  weiss-rötlich  oder  (rein)  weiss.  (25)  Findet  der  Priester 
bei  der  Besichtigung  Haar  in  der  bahereth  weiss  geworden,  und  ihr  Aus- 
sehen tiefer  als  die  Haut,  so  ist  es  caraath  in  dem  Brande  blühend.  Der 
Priester  erkläre  ihn  für  unrein,  es  ist  nega  (jaraath.  (26)  Findet  er  aber  in 
der  bahereth  kein  weisses  Haar,  und  es  sieht  nicht  flacher  aus  als  die  Haut 
und  ist  matt,  so  schliesse  er  ihn  sieben  Tage  ein.  (27)  Hat  er  sich  bei  der 
erneuten  Besichtigung  ausgebreitet,  so  erkläre  er  ihn  für  unrein,  es  ist  nega 
caraath.  (28)  Steht  die  bahereth  aber  an  ihrer  Stelle  still,  hat  sich  nicht 
ausgebreitet  und  ist  matt,  so  ist  es  „seeth  der  Brandwunde".  Der  Priester 
erkläre  ihn  für  rein;  denn  es  ist  9arebeth  der  Brandwunde. 

[Lepra  an  Kopf  und  Bart.] 

(29)  Wenn  Mann  oder  Frau  einen  nega  an  Kopf  oder  Bart  haben  (30) 
und  der  Priester  findet  ihn  (den  nega)  tiefer  aussehend  als  die  Haut  und  es 
ist  kurzes  goldgelbes  Haar  darin,  so  ist  er  unrein,  es  ist  der  netheq,  die 
(jaraath  des  Kopfes  oder  des  Bartes.  (31)  Ist  aber  der  nega  des  netheq  nicht 
tiefer  als  die  Haut  und  auch  kein  schwarzes  Haar  darin  (sondern  dieses  — 
Normalhaar  —  ist  ausgefallen),  so  verschliesse  der  Priester  den  nega  des  netheq 
sieben  Tage.  (32)  Hat  sich  der  netheq  am  siebenten  Tage  nicht  ausgebreitet, 
goldgelbes  Haar  ist  nicht  darin  und  tiefer  als  die  Haut  sieht  der  netheq 
auch  nicht  aus,  (33)  so  lasse  er  sich  scheeren  (damit  eine  etwaige  Ausbreitung  nicht 
durch  das  Haar  verdeckt  wird),  den  netheq  aber  scheere  er  nicht  und  der  Priester 
isolire  ihn  nochmals  sieben  Tage.  (34)  Hat  sich  dann  der  netheq  auf  der 
Haut  nicht  ausgebreitet  und  sieht  nicht  tiefer  aus  als  die  Haut,  so  erkläre 
er  ihn  für  rein.  (35)  Wenn  aber  nach  der  Reinsprechung  der  netheq  sich 
ausbreitet,  (36)  so  braucht  man  nach  dem  unterscheidenden  goldgelben  Haar 
nicht  zu  sehen,  er  ist  unrein.  (37)  Stand  aber  der  netheq  in  seinen  Augen 
still  und  schwarzes  Haar  sprosst  darin,  so  ist  der  netheq  geheilt,  er  ist  rein 
und  der  Priester  spreche  ihn  rein.  (38)  Sind  an  der  Leibeshaut  eines  Mannes 
oder  einer  Frau  beharoth  (und  zwar)  weisse  beharoth,  (39)  so  soll  der  Priester 
sehen,  ob  an  der  Haut  ihrer  Leiber  matte,  weisse  beharoth  sind.  Dann  ist 
es  der  bohaq,  er  blüht  auf  der  Haut,  er  ist  rein.  (40)  Ein  Mann,  dessen  (ganzer) 
Kopf  kahl  (oder  ausgerauft)  ist,  ist  ein  Kahlkopf  und  rein.  (41)  Wenn  von 
einer  Ecke  seines  Gesichts  an  sein  Kopf  kahl  ist,  so  ist  er  ein  Glatzkopf, 
gibbeach,  und  ebenfalls  rein.  (42)  Wenn  aber  auf  dem  Kahlkopf  oder  der 
Glatze  ein  weiss-rö  tlicher  nega  ist,  dann  ist  es  blühende  (floridej  cjaraath  auf 
dem  Kahlkopf  oder  der  Glatze.  (43)  Sieht  der  Priester,  daß  die  Erhebung 
der  nega  weiss-rötlich  ist  an  dem  Kahlkopf  oder  der  Glatze,  wie  das  Aus- 
sehen der  Qaraath  der  Leibeshaut,  (44)  dann  ist  er  ein  aussätziger  Mann, 
unrein  ist  er,  unrein  erklären  soll  ihn  der  Priester:  an  seinem  Kopfe  ist 
sein   nega." 

Wer  diesen  Text  unbefangen  prüft,  muss  zu  dem  meines  Er- 
achtens  sicheren  Schlüsse  kommen,  dass  die  ganze  umständliche 
Procedur  der  Erkennung  und  Diagnostik  eines  schweren  infek- 
tiösen Hautleidens  zwecks  Isolierung  des  davon  Befallenen  sich 
der  ganzen  Beschreibung  nach  nur  auf  eine  einzige  Krankheit  be- 
ziehen   kann,    die    erstens    so    einschneidende    Massregeln    notwendig 


—      490      — 

macht  und  auf  die  zweitens  die  hervorstechenden  Symptome  der 
Flecken,  Knoten  und  Ulceration  einigermassen  passen:  die  echte 
Lepra,  dass  man  aber  ganz  deutlich  andere  Hautleiden  (Psoriasis, 
Herpes  tonsurans,  Favus,  Vitiligo)  davon  zu  trennen  versuchte,  ohne 
dass  dies  immer  gelang.  Aus  Vers  2  geht  deutlich  hervor,  dass 
die  einzelnen  Symptome  für  sich  noch  keine  „nega  garaath"  machen, 
sondern  diese  erst  auf  Grund  einer  Veränderung  gestellt  wird,  die 
die  drei  Formen  aufweisen.  In  Vers  3  wird  eine  dieser  Verände- 
rungen, die  für  die  Nervenlepra  so  charakteristische  weissliche 
Verfärbung  (morphaea  alba)  und  zentrale  Atrophie  der  leprösen 
Flecken,  deutlich  beschrieben.  Dieses  atrophische  Zentrum  ist  zu- 
nächst von  schwachrosa  oder  leicht  graurötlicher  Farbe  und  wird 
erst  weiterhin  intensiv  weiss  ^).  Das  war  auch  den  jüdischen  Priestern 
bekannt,  da  nicht  jede  bahereth  für  lebana  (intensiv  weiss)  erklärt 
wurde,  sondern  auch  in  Vers  18  eine  weiss-rötliche  (morphaea 
rubra)  erwähnt  wird.  Die  weisse  Bahereth  ist  das  vorgeschrittenere 
Stadium,  in  dem  auch  gewöhnlich  (nach  A.  v.  Bergmann)  die 
Atrophie  und  zentrale  Depression  stärker  ausgeprägt  ist.  In  ihr  ist 
gewöhnlich  auch  das  Haar  pigmentlos.  Aus  Vers  4 — 8  geht  her- 
vor, dass  man  auf  die  Ausbreitung  der  Flecke,  wahrscheinlich  auch 
auf  das  Auftreten  neuer  Flecke,  grosses  Gewicht  für  die  Diagnose 
„Lepra"  (nega  Qaraath)  legte.  Sicher  sind  „mispachath"  oder  nach 
gleicher  Wurzel  gebildete  „sappachath"  S3^mptome  nichtlepröser 
Hautleiden  (Vers  6),  wahrscheinlich  Psoriasis-  und  Ekzemflecke,  die 
ja  stehen  bleiben  und  abblassen  können. 

In  Vers  9 — 11  wird  die  Ulceration  der  Lepraknoten,  der 
seeth,  geschildert,  wie  sie  im  späteren  Verlaufe  der  Lepra  vorkommt. 
Gänzlich  unklar  sind  dagegen  Vers  12  — 16,  in  denen  von  einem 
plötzlichen  Weisswerden  der  ganzen  Körperhaut  und  von  einem 
Weisswerden  der  Ulcerationen  die  Rede  ist.  Weder  Psoriasis,  noch 
Vitiligo  noch  Herpes  tonsurans  können  für  eine  Erklärung  dieser 
Stelle  herangezogen  werden.     Sie  ist  und  bleibt  dunkel. 

In  Vers  18 — 28  werden  jene  Fälle  in  Betracht  gezogen,  wo 
die  Lepra  auf  der  Basis  eines  anderen  Hautleidens  entsteht  bzw.  zu 
einem  solchen  hinzutritt  und  hier  natürlich  etwas  andere  Formen  und 
Nuancen  zeigt,  als  wenn  sie  die  vorher  gesunde  Haut  affiziert. 
„Schechin"  (Vers  18)  ist  nach  Preuss  das  Ekzem,  Schachan  heisst 
brennen  oder  heiss  sein,  schechin  w'äre  also  =  inflammatio,  Entzün- 
dung.      In    Vers     18 — 20     wird     die    Differentialdiagnose    zwischen 

I)  Vgl.  A.  V.  Bergmann,  Die  Lepra.  In:  Handbuch  der  Hautkrankheiten  von 
Mracek,  Wien   1904,  Bd.  HI,  S.  638. 


—     491      — 

postekzematösen  Residuen  und  Lepra  nach  Ekzem  behandelt.  Nach 
Preuss  muss  man  sich  die  damahge  Auffassung  ungefähr  folgender- 
massen  vorstellen:  Tritt  an  solchen  Stellen,  die  früher  Sitz  eines  (viel- 
leicht nässenden)  Ekzems  waren,  ein  weisses  Lepramal  auf,  so  wird 
es  je  nach  dem  Alter  der  Narbe  einen  verschiedenen  Ton  annehmen; 
ist  die  Narbe  alt,  weiss,  ist  sie  noch  frisch  und  zart,  rötlich.  Eine 
Schuppung  wird  hier  nicht  erwähnt,  weil  sie  auf  der  Narbe,  die  ja 
Bindegewebe  und  keine  neue  Oberhaut  ist,  nicht  vorkommen  kann. 
Dass  die  Ausschläge  auch  bei  diesen  Formen  tiefer  ("amoq)  sein 
sollen,  als  die  gesunde  Haut,  wird  nicht  verlangt,  eine  Ekzemnarbe 
w'ird  nicht  so  sehr  einsinken;  die  kranke  Stelle  soll  hier  also  nur 
flacher,  schaphal,  sein.  Fehlen  beide  Kriterien,  ist  der  Fleck  nicht 
glänzend,  sondern  opak,  dehnt  sich  aber  aus,  so  ist  es  zwar  auch 
eine  nega,  die  verunreinigt  (Keloid??),  aber  keine  Lepra,  die  auch 
Entfernung  aus  dem  Lager  bedingt.  Dehnt  sich  die  scheinbare 
bahereth  in  der  Narbe  nicht  aus,  so  ist  es  nur  ein  besonderer  Zu- 
stand des  ursprünglichen  Ekzems,  und  zwar  eine  carebeth.  Dieses 
Wort  ist  entweder  ^=  (frische)  Entzündung  des  schechin  oder  =  Bil- 
dung einer  Pseudomembran  (Fibrinschicht,  Kruste,  „qerum")  auf  dem 
eben  heilenden  Ekzem. 

Ob  die  Deutung  ,, Ekzem"  für  diese  Stelle  zutreffend  ist,  halte 
ich  für  zweifelhaft,  da  Ekzeme  für  gewöhnlich  keine  Narben  hinter- 
lassen. Es  handelt  sich  ganz  allgemein  um  eine  entzündliche  Haut- 
affektion, die  zur  Ulceration  und  Narbenbildung  führt.  Mehr  kann 
man  nicht  sagen. 

In  Vers  24 — 28  wird  in  analoger  Weise  die  Differentialdiagnose 
zwischen  einer  Brandnarbe  und  einem  Leprafleck  besprochen,  in  einer 
dunklen,  für  die  heutige  klinische  Diagnostik  nicht  verw^ertbaren 
Weise. 

Aus  Vers  29 — 3  g  geht  deutlich  hervor,  dass  zur  echten  Lepra 
auch  der  so  hartnäckige  Favus  gerechnet  wurde.  Denn  das  „kurze 
goldgelbe"  Haar  in  der  affizierten  Stelle  ist  höchstwahrscheinlich  ein 
Favusscutulum.  Die  Heilung  des  Favus  knüpft  sich  in  der  That  an 
das  Verschwinden  der  goldgelben  Stellen  und  das  Wiederauftreten 
der  ursprünglichen  schwarzen  (bei  den  Juden)  Haare. 

Ebenso  wird  in  Vers  38 — 39  ein  anderes  Hautleiden  geschildert, 
wahrscheinlich  Vitiligo  oder  Psoriasis,  dessen  nichtlepröse  Natur  aus- 
drücklich betont  wird. 

Endlich  wird  in  Vers  40 — 44  die  Differentialdiagnose  zwischen 
einfacher  und  lepröser  Alopecie  besprochen  bzw.  das  Auftreten  eines 
leprösen  Infiltrats  auf  schon  bestehender  Glatze  geschildert.    Dass 

Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  32 


—     492      — 

dies  wirklich  vorkommt,  lehrt  ein  von  A.  v.  Bergmann  mitgeteilter 
analoger  Fall  ^). 

Gerade  diese  letzten  differentialdiagnostischen  Bemerkungen  be- 
weisen, dass  man  den  Aussatz  als  schwere  ansteckende  Krankheit  von 
leichteren  Hautaffektionen  trennte.  Nur  für  die  Lepra  haben  die  fol- 
genden Worte  in  Vers  45  und  46  einen  Sinn: 

(45)  Der  Aussätzige,  an  dem  der  nega  ist,  seine  Kleider  sollen  zer- 
rissen, sein  Haar  wild  wachsend  sein,  über  seinen  Lippenbart  soll  er  sich 
verhüllen  und  „unrein,  unrein!"  rufen.  (46)  So  lange  der  Ausschlag,  nega, 
an  ihm  ist,  ist  er  unrein,  einsam  soll  er  wohnen,  ausserhalb  des  Lagers  soll 
seine  Wohnung  sein. 

Wie  im  Mittelalter,  galt  schon  damals  der  Athem  des  Leprösen 
als  ansteckend.  Daher  die  Vorschrift  der  Verhüllung  des  Mundes. 
Ausserdem  dienen  die  übrigen  Bestimmungen  bezüglich  der  Kleidung, 
des  Haarwuchses  und  des  Rufes  der  Erkennung  des  Aussätzigen 
schon  aus  der  Ferne,  ganz  wie  im  Mittelalter,  wo  auch  der  Lepröse 
sein  Nahen  mit  lauter  Stimme  oder  mittelst  einer  Klapper  ankündigen 
musste.  Offenbar  gab  es  schon  bei  den  alten  Juden  Leproserien  ausser- 
halb der  übrigen  Wohnstätten,  worauf  Vers  46  hindeutet.  Auch  vom 
König  Asarja  erzählt  die  Bibel,  er  war  aussätzig  bis  zu  seinem  Tode 
und  wohnte  im  „beth  ha-chophschith"  (IL  Kön.  15,  5),  im  „Zufluchts- 
hause", einem  offenbar  für  die  Leprösen  bestimmten  Gebäude.  Im 
Talmud  war  der  Lepröse  für  die  menschliche  Gesellschaft  so  gut  wie 
tot  (Ned.  64  b),  er  lebt  ausserhalb  der  Stadt  „vor  der  Thür  des  Stadt- 
thores"  (IL  Kön.  7,  3).  Wenn  er  sich  in  die  Stadt  wagte,  so  konnte 
es  ihm  passieren,  dass  sogar  fromme  Leute  mit  Steinen  nach  ihm 
warfen  und  ihm  zuriefen:  „geh'  an  deinen  Ort  und  beschmutze  (in- 
fiziere) die  Menschen  nicht!"     (Lev.  r.  XVI,  3). 

Nach  alledem  wird  man  nicht  daran  zweifeln  können,  dass  die 
garaath  der  Bibel  im  wesentlichen  die  echte  Lepra  gewesen  ist.  Für 
die  Diagnose  „Syphilis"  bietet  die  Krankheitsschilderung  nicht  die 
geringste  Handhabe.  Auch  die  Aetiologie  kann  nicht  heran- 
gezogen werden,  da  in  der  Bibel  die  garaath  lediglich  als  Strafe  für 
üble  Nachrede  erscheint.  Erst  in  dem  viel  späteren  Talmud  wird 
unter  den  mannigfaltigen  Vergehen,  deren  Strafe  der  Aussatz  ist 
(Götzendienst,  Gotteslästerung,  Blutschande,  Blutvergiessen,  Diebstahl, 
falsches  Zeugnis,  Hausfriedensbruch,  Hochmut,  Neid  etc.).  auch  die 
Unzucht  hervorgehoben.  Hat  ein  Mann  seiner  Frau  während  der 
Menstruation  beigewohnt,  so  wird  das  aus  diesem  Coitus  stammende 
Kind    aussätzig.     Fand    die   Beiwohnung   am    ersten    Tage   der  Men- 


[)  A.  V.  Bergmann  a.  a.  O.,  S.   635. 


—     493      — 

struation  statt,  so  erkrankt  das  Kind  nach  lo  Jahren,  wenn  am  zweiten 
Tage  mit  20  Jahren,  am  siebenten  Tage  mit  70  Jahren!  (Tanch. 
me^.  3,  S.   22  b). 

Dass  im  späteren  Altertum  und  Mittelalter  die  Unzucht,  speciell 
der  Coitus  mit  einem  menstruierenden  Weibe  als  Ursache  aller  mög- 
lichen Krankheiten  galt,  darum  also  nimmermehr  ein  Rückschluss 
auf  S3^philis  zulässig  ist,  habe  ich  bereits  im  ersten  Theile  (S.  107  ff.) 
des  Näheren  ausgeführt  und  muss  darauf  verweisen.  Diese  Thatsache 
macht  die  Deutung  der  garaath  als  „Syphilis"  unmöglich,  für  welche 
übrigens  auch  sonst  keinerlei  greifbare  Anhaltspunkte  vorliegen,  da 
in  der  Bibel  selbst  keine  Affektion  der  Geschlechtsteile  erwähnt  wird. 
Bei  der  eminenten  Contagiosität  des  Aussatzes  ist  natürlich  eine 
Uebertragung  durch  den  Coitus  sehr  wohl  möglich  und  wahrschein- 
lich. Diese  Contagiosität  spiegelt  sich  auch  in  der  biblischen  Vor- 
stellung von  der  Lepra  der  Kleider  wieder,  wofür  die  Stelle  IL  Kön. 
5,  27  am  meisten  charakteristisch  ist.  Der  von  seinem  Aussatz  geheilte 
Syrier  will  dem  Propheten  Elisa  aus  Dankbarkeit  Gold  und  Kleider 
schenken,  die  dieser  aber  ablehnt.  Dagegen  erbittet  sich  Elisas' 
Diener  Gehasi  beides  und  —  wird  selbst  leprös.  Hierbei  ist  natür- 
lich an  eine  direkte  Uebertragung  des  Aussatzes  durch  die  Kleider 
zu  denken. 

3.  Die  Plage  der  Philister  (i.  Sam.  Kap.  5  und  6).  —  Seit 
Josephus,  der  (Antiq.  Jud.  VI,  Kap.  i,  i)  die  Krankheit  der  Philister 
für  Dysenterie  erklärte  {e&vi]oxov  ydg  vjio  dvoevregiag),  ist  diese  rätsel- 
selhafte  Krankheit  Gegenstand  zahlreicher  Untersuchungen  gewesen  i). 
Wir  folgen  auch  hier  Preuss,  der  die  Frage  zweimal  bearbeitet  hat 2), 
dabei  aber  nach  mündlicher  Mitteilung  nur  die  zweite  Arbeit  gelten 
lässt,  in  der  er  zu  ganz  anderen  Ergebnissen  bezüglich  der  Deutung 
des  Leidens  gelangt  ist. 

Die  Philister  hatten  (ca.  1000  v.  Chr.)  beim  Siege  über  die  Is- 
raeliten die  Bundeslade  erbeutet  und  in  Asdod  aufgestellt. 

„Und  die  Hand  des  Herrn  lag  schwer  auf  den  Asdodim,  und 
er  verheerte  sie  und  schlug  sie  mit  'aphalim". 

Sie  senden  darauf  die  Lade  nach  Gath,  aber  auch  hier  kam  in 
die  Stadt  „eine  sehr  grosse  Zerrüttung,  und  der  Herr  schlug  die  Leute 
der  Stadt  von  Klein  bis  Gross,  und  es  spalteten  sich  (von  sathar) 
ihnen,  —  oder  nach  einer  anderen  Lesart:  „es  traten  bei  ihnen  an 
verborgenen  Körperstellen  auf  (von  sathar")  —  "aphalim". 

i)  Die  ältere  Literatur  bei  Kanne,  Die  goldenen  Aerse  der  Philister.    Nürnberg  1820. 
2)  Allg.  med.  Centralzeitung  1898,  No.  39  ff.,  Sep.-Abdr.,  S.   14/15  und  Zeitschr.  f. 
klin.  Medizin   1902,  Bd.  XLV,  Heft  5/6,  S.   22. 

32* 


—      494      — 

Nun  schickt  man  die  Lade  nach  der  dritten  Hauptstadt  Ekron, 
aber  wie  in  den  beiden  anderen  Städten  kommt  „eine  Zerrüttung  des 
Todes  in  die  ganze  Stadt.  Und  die  Leute,  welche  nicht  starben, 
wurden  mit  'aphalim  geschlagen  und  das  Geschrei  der  Stadt  stieg 
zum  Himmel". 

Nachdem  die  Lade  sieben  Monate  im  Philisterlande  gewesen,  raten 
die  Priester  und  Wahrsagter,  die  man  befragt,  sie  zurückzugeben  und 
gleichzeitig  fünf  'aphalim  von  Gold  und  fünf  Aläuse  von  Gold  mitzu- 
senden. In  Beth-Schemesch  findet  die  Uebergabe  an  die  Leviten 
statt,  wobei  der  Transportwagen  samt  den  Zugtieren  verbrannt  und 
die  Lade  auf  einen  grossen  Stein  gestellt  wird.  Auch  von  den  Leuten 
dieses  Ortes  schlägt  der  Herr  noch  50070  Mann,  „weil  sie  angesehen 
die  Lade  des  Herrn'^ 

Der  Name  „"aphalim"  kommt  nur  noch  in  einer  Strafandrohung 
(Deut.  28,  27:  „Der  Herr  wdrd  dich  schlagen  mit  dem  Aussatze  Egyp- 
tens  und  mit  aphalim")  vor  und  bedeutet  weiter  nichts  als  „An- 
schwellungen, Beulen".  Man  kann  also  darin  mit  Preuss  nur 
das  Krankheitsbild  einer  Seuche  erkennen,  die  beim  Transport  der 
Lade  von  einer  Stadt  zur  andern  verschleppt  wird,  und  deren  Pro- 
dukt sich  plastisch  in  den  Weihgeschenken  darstellen  lässt.  Aus  dem 
ekronitischen  Bericht  folgt,  dass  unter  Umständen  schon  der  Tod  ein- 
treten kann,  bevor  noch  die  Beulen  sich  entwickelt  haben.  Diese 
treten  an  verborgenen  Körperstellen  auf. 

Nach  Preuss  ist  dieses  Krankheitsbild  mit  grösster  Wahr- 
scheinlichkeit auf  die  echte  Beulenpest  zu  beziehen.  Es  handelt 
sich  um  eine  mörderische  Seuche,  an  der  viele  sterben,  ohne  dass 
es  zur  Bildung  von  Beulen  kommt  (Lungenpest),  während  bei  anderen 
sich  Beulen  an  verborgenen  Körperstellen,  besonders  in  den  Leisten- 
beugen, bilden. 

Da  das  Wort  „"aphalim"  irrtümlich  von  Aquila  mit  „phage- 
dänisches  Geschwür",  von  Buxtorf  mit  „mariscae"  übersetzt  w^urde, 
so  haben  viele  Autoren  angenommen,  dass  es  sich  um  Syphilis  ge- 
handelt habe  ^).  Hierfür  lässt  sich  aus  der  Bibel  selbst  aber  keinerlei 
Anhaltspunkt  beibringen. 

Nach  Preuss  war  den  alten  Erklärem  die  Kenntnis  der  Beulenpest  allmählich  ver- 
loren gegangen.  Statt  des  Wortes  'aphalim  lasen  die  Masoreten  ,,techorim",  das  für 
decenter  galt  (Meg.  25  b)  und  das  Gesäss  (die  nates)  bezeichnen  soll.  Bei  den  chaldäischen 
Uebersetzem  ist  dieses  Wort  das  allein  gebräuchliche.  Sie  deuten  sogar  die  Psalmstelle 
{78,  66):   „Gott  schlägt  seine  Feinde  von  hinten",  mit  diesen  techorim,  einem  Leiden  des 


I)  ^gl-  J-  B-  Friedreich,  Zur  Bibel.     Naturhistorische,  anthropologische  und  medi- 
zinische Fragmente.     Nürnberg   1848,  Bd.  I,  S.   243^ — 245. 


—     495      — 

Afters,  wie  sie  also  zu  meinen  scheinen,  da  ihnen  wahrscheinlich  die  Beulenpest  nicht  mehr 
bekannt  war. 

Ziemlich  dunkel  ist  das  Weihgeschenk  der  goldenen  Mäuse. 
Die  Septuaginta  und  Josephus  schieben  einfach  noch  eine  Aläuse- 
plage,  für  deren  Abwehr  das  Geschenk  danken  soll,  in  den  Text  ein, 
wozu  dieser,  indem  er  (Cap.  5,  6)  von  „Mäusen,  die  das  Land  ver- 
derben", spricht,  selbst  den  Anlass  gab.  Nach  G.  Sticker  (Wiener 
klinische  Rundschau  vom  10.  Xov.  1898)  geht  dem  Ausbruch  der 
Beulenpest  gewöhnlich  ein  grosses  Sterben  von  Ratten  voraus.  Viel- 
leicht war  dieser  Zusammenhang  den  Philistern  schon  bekannt.  Da- 
her die  merkwürdige  Votivgabe.  Nach  Asch  off  und  Peypers 
(Janus  V,  611)  ist  die  Maus  das  Bild  der  Zerstörung-.  Im  Tempel 
zu  Theben  hält  Ptah,  der  Gott  der  Zerstörung,  in  einer  Hand  eine 
]\Iaus,  nach  der  Maus  heisst  der  Pestsender  Apollo  ZfÄivdevg,  auf 
manchen  Münzen  droht  er  mit  einer  Maus,  die  die  rechte  Hand  hält, 
während  die  linke  den  vorgestreckten  Pfeil  zeigt.  Es  ist  auch  be- 
merkenswert, dass,  während  in  der  biblischen  Erzählung  von  einer 
Pest  im  Heere  Sanherib's  die  Rede  ist  (II.  Kön.  ig,  35),  Herodot 
(II,  141)  von  einer  grossen  Mäuseschaar  berichtet,  die  das  Heer  ver- 
nichtet hätte.  Die  Wahl  der  Maus  als  Pestsymbol  erklärt  sich  nach 
Preuss  daraus,  dass  das  aus  unterirdischen  Löchern  des  Ackers 
schaarenweise  heraustretende  Tier  vielleicht  ursprünglich  das  Zeichen 
der  unterirdischen  Gottheiten  war,  die  dem  Menschen  Böses  bringen 
und  zu  deren  Versöhnung,  „die  sich  reinigen  von  Sünden  und  heiligen 
wollen",  daher  Mäuse  als  Opfertiere  essen  (Jes,  66,   17). 

Auch  W.  Ebstein  1),  der  ebenfalls  die  Plage  der  Philister  für 
die  Beulenpest  hält,  nimmt  keinen  kausalen,  sondern  nur  einen  sym- 
bolischen Zusammenhang  zwischen  der  Epidemie  und  der  Mäusenot  an. 

4.  Die  Krankheit  Hiobs.  —  Das  schon  von  den  Talmudisten 
als  Dichtung  aufgefasste  Buch  Hiob  schildert  die  Leiden  einer  fin- 
gierten Persönlichkeit,  die  vom  höchsten  Glück  ins  tiefste  Unglück 
gestürzt  wird,  und  nachdem  sie  aller  irdischen  Reichtümer  beraubt 
ist,  von  schwerer  Krankheit  heimgesucht  wird.  Hiob  wird  ,,mit 
schechin  ra  geschlagen,  von  der  Sohle  seines  Fusses  bis  zu  seinem 
Scheitel.  Und  er  nahm  einen  Scherben,  um  sich  damit  zu  schaben 
und  er  sass  in  der  Asche"  (Hiob  2,  7/8).  Drei  Freunde,  die  all  dieses 
Unglück  hören,  kommen  jeglicher  von  seinem  Wohnorte;  als  sie  ihn 
von  ferne  sehen,  erkennen  sie  ihn  nicht  wieder.  Sie  setzen  sich  mit 
ihm  auf  die  Erde,  ohne  zu  sprechen;  denn  sie  sehen,  dass  der  Schmerz 


i)  W.  Ebstein,  Die  Medizin  im  alten  Testament.     Stuttgart   1901,  S.  96  —  97. 


—     496     — 

sehr  gross  war.  Der  Unglückliche  klagt:  das  Kleid  meines  Leibes 
(=  die  Haut)  ist  Gewürm  und  Staubkruste,  meine  Haut  birst  und 
löset  sich  auf  (7,  5),  meine  Haut  ist  schwarz  von  auf  mir  weg  (hängt 
schwarz  von  mir  herab  [30,  30]),  an  meiner  Haut  und  an  meinem 
Fleische  klebt  (fettlos)  mein  Gebein,  ich  habe  nur  die  Haut  meiner 
Zähne  (mein  Zahnfleisch,  sonst  nichts)  übrig  behalten  (ig,  20).  Der 
Schlaf  wird  durch  böse  Träume  gestört  (7,  13),  mein  Gesicht  glüht 
vom  Weinen  (16,  16),  ich  zucke  vor  Schmerz  (6,  10)  und  zahlreiche 
andere  Klagen  ähnlichen  Inhalts,  unter  denen  diejenige:  „bei  Nacht 
bohrt  er  (der  Schmerz)  meine  Gebeine"  (30,  17)  als  besonders  syphilis- 
verdächtig hingestellt  worden   ist. 

Es  handelt  sich  in  Wahrheit  um  die  poetisch  ausgeschmückte, 
hyperbolische  Schilderung  schwerer  seelischer  und  körperlicher  Leiden 
verschiedener  Art,  die  über  Hiob  verhängt  werden,  um  sein  Gott- 
vertrauen zu  erproben.  Schon  die  seelischen  Leiden,  die  durch  die 
plötzliche  Verarmung  und  durch  die  gleichzeitige  Ermordung  seiner 
IG  Kinder  hervorgerufen  werden,  können  vollauf  seine  Abmagerung, 
sein  Weinen,  seinen  unruhigen  Schlaf  erklären.  Dazu  kommt  ein 
„schechin",  eine  entzündliche  Affektion  der  Haut,  die  mit  starkem 
Jucken  einhergeht,  das  Hiob  durch  Kratzen  mit  einem  Scherben  zu 
lindern  sucht.  Die  Haut  birst  (==  schmerzhafte  Rhagaden)  und 
löset  sich  auf  (=  starke  seröse  Absonderung),  ist  stellenweise 
schwarz  und  krustös  (=  sanguinolente  Krusten).  Das  ist,  ohne 
dass  man  dem  Texte  irgendwie  Gewalt  anthut,  ziemlich  deutlich  das 
Bild  eines  schweren  chronischen  Ekzems,  dessen  universelle 
Ausbreitung  zu  den  bekannten  Folgeerscheinungen  (unerträgliches 
Jucken,  Schmerzen,  Schlaflosigkeit,  Abmagerung  und  Anämie)  führt. 
Der  Ausdruck  „bei  Nacht  bohrt  der  Schmerz  meine  Gebeine"  ist 
ganz  gewiss  nur  als  dichterische  Uebertreibung  der  grossen  Schmerz- 
haftigkeit  des  Ekzems  zu  nehmen,  die  dem  Kranken  das  Liegen  er- 
schwert und  ihm  daher  bei  Nacht  mehr  zu  schaffen  macht  als  am 
Tage.  Es  ist  nach  Preuss  sehr  fraglich,  ob  der  Ausdruck  „Gebeine" 
an  dieser  Stelle  mit  „Knochen"  zu  identifizieren  sei.  Aber  selbst 
„nächtliche  Knochenschmerzen"  können  bei  nichtsyphilitischen  Leiden, 
wie  Typhus,  Blei-  und  Merkurintoxikationen,  Erkrankungen  der  blut- 
bildenden Apparate  etc.  vorkommen. 

•    Man  sieht  also,  dass  auch  die  Krankheit  Hiobs  für  die  Diagnose 
„Syphilis"  nicht  den  geringsten  Anhaltspunkt  darbietet. 

5.  Die   Basale  rathan^).   —  Wenn    ein    verheirateter  Mann    an 
Lepra  erkrankt,  so  soll  nach  der  Vorschrift  der  Mischna  (Keth.  VII,  10) 

1)  Vgl.  J.   Preuss,  Chirurgisches    in  Bibel  und  Talmud.     In:    Deutsche  Zeitschr.  f. 
Chirurgie,  Bd.  LIX,  S.   521—524. 


—     497      — 

das  Gericht  ihn  ex  officio  zur  Scheidung  zwingen,  selbst  wenn  die 
Frau  die  Ehe  mit  ihm  fortzusetzen  gewillt  ist,  „weil  sie  ihn  hin- 
schwinden macht",  nach  der  gewöhnlichen  Erklärung:  weil  die  Coha- 
bitation  den  Verfall  der  Körperkräfte  des  Kranken  beschleunigen 
würde.  24  Arten  Aussatz  giebt  es,  hat  ein  Alter  von  den  Männern 
Jerusalems  dem  R.  Jose  und  ein  Alter  von  den  Aussätzigen  in 
Sepphoris)  dem  R.  Schimeon  ben  Gamliel  erzählt  (T.  Keth  VII, 
II  und  Lev.  r.  16,1),  und  von  allen  Formen  sagen  die  Weisen,  der 
Coitus  sei  ihnen  schädlich,  am  schädlichsten  aber  den  „ba'"ale  rathan" 
(Keth.  77  b).  Das  bezieht  sich  nach  Preuss  auf  den  frühzeitigen 
Verlust  der  Potenz,  wie  er  bei  der  Lepra  im  Altertum  und  Mittel- 
alter angenommen  wurde. 

Als  Ursache  der  geheimnisvollen  Krankheit  ,, rathan"  gibt  die  Tradition  an:  Hat  der 
Mann  zur  Ader  gelassen  und  coitiert  dann,  so  werden  die  Kinder  kachektisch,  haben  beide 
Ehegatten  vor  der  Cohabitation  venäseciert,  so  bekommen  sie  mit  rathan  behaftete  Kinder. 
Nach  Rab  gilt  das  nur,    wenn  der  Mann  vor  dem  Coitus  nichts  gegessen  hat  (Nidd.   17a). 

„Welches  sind  die  Zeichen  der  Krankheit?  Es  rinnen  seine  Augen,  es  fliessen  seine 
Nasenlöcher  und  es  kommt  ihm  Speichel  aus  dem  Munde  und  es  werfen  sich  die  Fliegen 
auf  ihn. 

Und  was  ist  seine  Heilung?  Abaje  sagt:  Man  koche  Phyllon,  Ladanum,  Nuss- 
schalen,  Lederabschabsel ,  Melilotus  und  Dattelschalen  zusammen  und  bringe  den  Kranken 
in  ein  Marmorhaus  —  das  auch  noch  an  anderer  Stelle  als  Operationsraum  genannt  wird 
(B.  mec.  83  b).  Dann  giesse  man  dem  Kranken  300  Becher  von  obiger  Abkochung  über 
den  Kopf,  bis  der  Boden  seines  Gehirns  weich  wird,  und  spalte  dann  das  Gehirn.  Dann 
nimmt  man  vier  Blätter  der  Myrthe,  hebt  jeden  Fuss  einzeln  auf  und  legt  ihn  wieder  nieder 
(nachdem  man  je  ein  Myrthenblatt  untergeschoben),  zieht  es  (das  Gebilde  in  toto)  dann  mit 
der  Zange  heraus  und  verbrennt  es,  denn  sonst  kommt  es  (oder  die  Krankheit)  wieder 
auf  ihn. 

R.  Jochanan  liess  ausrufen:  Hütet  euch  vor  den  Fliegen  der  Rathan-Kranken !  R.  Zeira 
setzte  sich  nicht  in  ihren  Wind,  R.  Ami  und  R.  Assi  assen  nicht  Eier  aus  der  Strasse,  in 
der  jene  Kranken  (isoliert?)  wohnten,  nur  R.  Josua  ben  Levi  setzte  sich  zu  ihnen  und  unter- 
richtete sie,  vertrauend,  dass  die  Gotteslehre  ihm  ein  Schild  sei,  der  ihn  vor  Schaden  be- 
wahren würde. 

R.  Chanina  sagt:  Warum  gibt  es  keine  Rathan-Kranken  in  Babylon?  Weil  sie 
(die  Menschen  überhaupt?)  Mangold  essen  und  Bier  aus  Hizmi-Hopfen  trinken.  R.  Jochanan 
sagt:  Warum  gibt  es  keine  (jar  aath-Kranken  in  Babylon?  Weil  sie  Mangold  essen  und 
Bier  trinken  und  im  Wasser  des  Euphrat  baden  (Keth.   77  b)." 

Preuss  betont  mit  Recht  die  völlige  Unbestimmtheit  dieses 
Krankheitsbildes.  Er  meint,  die  Symptome  lassen  sich  vielleicht  auf 
Lepra  beziehen,  wenn,  wie  bei  schweren  Formen  derselben,  die 
Schleimhäute  sich  verändern,  die  Conjunctiva,  die  Schleimhaut  der 
Nase,  des  Mundes  und  des  Rachens  Sitz  lepröser  Geschwüre  werden 
und  die  umgebenden  Partien  (Lider,  Nase,  Lippen)  dazu  noch  durch 
Infiltrate  oder  Knotenbildung  starr  geworden  sind.  Mit  Recht  hielt 
man    diese  stark   absondernden  Geschwüre   für  besonders  ansteckend 


-      498      - 

und  hatte  vielleicht  auch  nicht  ganz  Unrecht,  wenn  man  an  eine  Ueber- 
tragung  der  Lepra  durch  Fliegen  dachte,  nach  Analogie  der  modernen 
Forschungen  über  Malaria,  Schlafkrankeit  und  Pest.  Eigentümlich 
ist  freilich  die  sehr  unbestimmt  geschilderte  Gehirn-  oder  Schädel- 
affektion, bei  der  man  eine  bestimmte  Diagnose  nicht  machen  und 
sowohl  an  einen  Tumor,  eine  Caries  oder  einen  Cysticercus  denken 
kann. 

Diese  Schilderung  hat  man  denn  natürlich  auch  als  „Syphilis" 
gedeutet,  ohne  dass  dafür  der  geringste  Anhaltspunkt  gegeben  ist. 
Selbst  der  an  die  „Lues  veterum"  glaubende  Peypers  ist  dieser 
Hypothese  entgegengetreten  i). 

§  36.    Die  indischen  „Giftmädchen". 

Schon  im  ersten  Teile  (s.  oben  S.  284 — 290)  sind  alle  wichtigen 
Thatsachen  mitgeteilt  worden,  aus  denen  die  Einschleppung  der  Syphilis 
nach  Ostindien  und  dem  Indischen  Archipel  am  Anfange  des  16.  Jahr- 
hunderts mit  Sicherheit  gefolgert  w^erden  kann.  Inzwischen  ist  die 
von  mir  schon  im  Manuskript  benutzte  vorzügliche  quellenkritische 
Darstellung  der  indischen  Medizin  aus  der  Feder  des  ausgezeichneten 
Sanskritisten  Julius  Jolly  im  Drucke  erschienen 2).  Wir  ersehen 
daraus,  dass  die  Inder  sehr  wohl  die  örtlichen  Geschlechtskrankheiten 
von  der  Syphilis  unterscheiden  konnten.  Jolly  giebt  (a.  a.  O.  S.  105 
bis  106)  die  folgende  Uebersicht  dieser  nichtsyphilitischen  Geschlechts- 
krankheiten: 

Neben  v  j.  d  d  h  i  {Hodenanschwellung,  Hydrocele,  Leistenbrach)  wird  upadamsa 
genannt.  Diese  Erkrankung  des  Penis  entsteht  durch  Verletzung  desselben  beim  Coitus  mit 
den  Händen,  Nägeln  oder  Zähnen  ^),  Unterlassung  der  Abwaschung  nachher  oder  Benutzung 
von  verdorbenem  Wasser  bei  derselben,  Verkehr  mit  einer  menstruierenden,  unreinlichen 
oder  an  einer  Frauenkrankheit  leidenden  Frau,  erzwungenen  Verkehr,  den  Gebrauch  von 
„suka"  (=  Applikation  von  stimulierenden  Insekten  am  Penis)  und  andere  Stimulantien 
u.  dgl.  Die  entstehenden  Geschwülste  und  Pusteln  sind  schwarz,  feigenartig,  weiss  u.  s.  w., 
je  nach  den  sie  verursachenden  Grundsäften.  Wenn  das  Fleisch  am  Penis  geschwunden, 
von  Würmern  zerfressen  ist,  so  dass  nur  noch  die  Hoden  übrig  sind,  so  ist  der  Fall  hoff- 
nungslos. Wer  nicht  sofort  nach  dem  Beginn  der  Krankheit  dagegen  einschreitet,  sondern 
den  sexuellen  Verkehr  fortsetzt,  dessen  Penis  wird  durch  Geschwulst,  Würmer,  Hitze  und 
Eiter  zerstört,  und  er  stirbt.  Zunächst  wird  die  Anwendung  von  Oelen  und  Wärme 
empfohlen,  dann  öffne  man  eine  Ader  mitten  am  Penis  oder  setze  Blutegel  an,  gebe  Purgir- 
und  Brechmittel,  bei  schwachen  Patienten  ein  Klystier.     Je   nach   der   Art   der   Erkrankung 


1)  Nederl.  Tydschr.  voor  Geneesk.    1893,  Bd.  H,  S.  397. 

2)  Julius  Jolly,    ,, Medizin",   in:    Grundriss  der  indo-arischen  Philologie  und  Alter- 
tumskunde von  Bühler-Kielhorn,   Bd.   III,   Heft    10,   Strassburg    1901. 

3)  Das  Beissen  des  Penis  mit  den  Zähnen  war  ein  Bestandteil  der  so  raffinierten  in- 
dischen ars  amatoria. 


—     499     — 

sind  verschiedene  warme  und  icalte  Einreibungen,  Abwaschmigen  und  Umschläge  zu  machen. 
Der  Arzt  muss  zu  verhindern  suchen ,  dass  Eiterung  eintritt  und  den  entstandenen  Eiter 
rasch  mit  dem  Messer  beseitigen. 

Ein  anderes  Leiden  ist  lingavarli  oder  liügärsas  („Penisgeschwür"),  ein  Aus- 
wuchs an  den  Genitalien,  der  einem  Hahnenkamm  gleicht,  mit  länglichen,  sich  über  ein- 
ander ansetzenden  schleimigen  und  schmerzhaften  Geschwüren,  die  schwer  heilbar  sind.  Die 
Geschwulst  ist  vollständig  auszuschneiden  und  zu  brennen,  oder  man  reibe  sie  mit  einem 
Extrakt  von  Berberis  asiatica,  Realgar  und  anderen  Arzneien  ein.  Nach  Dutt,  Nidäna 
169  f.,  wäre  unter  lingavarti  Syphilis,  unter  lingärsas  Warzen  zu  verstehen.  Die  bei 
Susruta  2,  2,  11  vorkommenden  arsas  hat  schon  Häser  mit  der  Syphilis  identifiziert.  Sie 
entstehen  aus  verdorbenem  Fleisch  und  Blut  am  Penis,  beginnen  mit  Jucken,  dann  entsteht 
durch  Kratzen  eine  Wunde,  an  der  sich  aus  verdorbenem  Fleisch  entstehende,  schleimiges 
Blut  aussondernde,  wulstige  Auswüchse  innen  (in  der  Eichel)  oder  an  der  äusseren  Haut 
bilden,  den  Penis  und  die  Potenz  zerstören.  Aehnliche,  übelriechende  Auswüchse  in  der 
Vagina  heben  die  Menstruation  auf.  Offenbar  ist  mit  arsas,  lingärsas  und  lingavarti 
die  gleiche  Krankheit  gemeint,  ob  aber  die  Syphilis,  ist  ebenso  zweifelhaft,  wie  bei  den 
vedischen  Krankheitsnamen,  die  Bloomfield  auf  Syphilis  bezieht,  wenn  auch  die  obigen 
Symptome  (hahnenkammartig  u.  s.  w.)  allenfalls  auf  syphilitische  Condylome  bezogen  werden 
könnten  ^). 

Die  vedischen  Stellen 2),  die  Bloomfield  auf  S3^philis  bezieht, 
lauten : 

„Charm  for  curing  tumours  called   gäyänya. 

3.  The  gäyänya  that  crushes  the  ribs,  that  which  pams  down  to  the  sole  of  the 
foot,  and  whichever  is  fixed  upon  the  crown  of  the  head,  I  have  driven  out  every  one. 
4.  The  gäyänya,  winged,  flies;  he  settles  down  upon  man.  Here  is  the  remedy  both  for 
sores  not  caused  by  cutting,  as  well  as  for  wounds  sharply  cut!  5.  We  know,  o  gäyänya, 
the  origin,  whence  thou  didst  spring.  How  canst  thou  slay  there,  in  whose  house  we 
offer  oblations?" 

Aus  dieser  ganz  allgemeinen  Schilderung  einer  in  Form  von 
Tumoren  auftretenden  Krankheit  lässt  sich  die  Diagnose  „Syphilis" 
in  keiner  Weise  rechtfertigen.  Bloomfield  gelangt  zu  ihr  auch  nur 
auf  dem  doch  sehr  zweifelhaften  Wege  der  Etymologie,  indem  er 
„gä  yänya"  von  „gä  yä  =  Frau  ableitet  oder  von  der  Wurzel  „gan" 
=  kongenitale  Krankheit!  Daraus  würde  doch  höchstens  zu  schliessen 
sein,  dass  es  sich  um  ein  Frauenleiden  bezw.  um  irgend  ein  ange- 
borenes Leiden  handelt,  das  durchaus  nicht  Syphilis  zu  sein   braucht. 


Für  die  präcolumbische  Existenz  der  Syphilis  in  der  Alten  Welt 
hat  man    auch   die   uralte   indisch-orientalische  Sage   von  den  „Gift- 


i)  Diese  Ansicht  Jolly's  ist  dahin  zu  berichtigen,  dass  es  sich  ganz  offenbar  um 
typische,  nicht  syphilitische   venerische,  sog.   spitze  Condylome  handelt. 

2)  Hymns  of  the  Alharva-Verda  translated  by  Maurice  Bloomfield,  S.  17 — [8. 
Oxford    1807. 


—     500     — 

mädchen"  herangezogen i).  Da  diese  von  Einfluss  auf  bestimmte 
ätiologische  Anschauungen  der  mittelalterlichen  Medizin  gewesen  ist, 
die  auch  für  unser  Thema  Interesse  haben,  so  gehen  wir  etwas  aus- 
führlicher darauf  ein. 

Skizzieren  wir  zunächst  einige  Formen  der  Sage  vom  Gift- 
mädchen, wie  sie  Wilhelm  Hertz  in  seiner  berühmten  Abhandlung^) 
zusammengestellt  hat.  Hierauf  werden  wir  auf  den  realen  Kern 
dieses  Aberglaubens  einzugehen  und  zu  prüfen  haben,  ob  hierbei  die 
Syphilis  irgend  eine  Rolle  spielt. 

In  das  im  12.  Jahrhundert  aus  dem  Arabischen  übersetzten, 
unter  dem  Namen  des  Aristoteles  gehende  Werk  „De  secretis 
secretorum"  oder  „De  regimine  principum"  ist  eine  Erzählung  ein- 
geschaltet, wie  Aristoteles  durch  sein  Wissen  das  Leben  Alexanders 
vor  einem  tückischen  Anschlag  gerettet  habe. 

,, Alexander",  so  schreibt  Aristoteles,  „denke  an  die  That  der  Königin  von  Indien, 
wie  sie  dir  unter  dem  Vorwande  der  Freundschaft  viele  Angebinde  und  schöne  Gaben 
übersandte.  Darunter  war  auch  jenes  wunderschöne  Mädchen,  das  von  Kindheit  auf  mit 
Schlangengift  getränkt  und  genährt  worden  war,  so  dass  sich  seine  Natur  in  die  Natur 
der  Schlangen  verwandelt  hatte.  Und  hätte  ich  sie  in  jener  Stunde  nicht  aufmerksam  beob- 
achtet und  durch  meine  Kunst  erkannt,  da  sie  so  furchtbar  ungescheut  und  schamlos  ihren 
Blick  unablässig  an  das  Antlitz  der  Menschen  heftete,  hätte  ich  nicht  daraus  geschlossen, 
dass  sie  mit  einem  einzigen  Bisse  die  Menschen  töten  würde,  was  sich  dir  hernach  durch 
eine  angestellte  Probe  bestätigt  hat,  so  hättest  du  in  der  Hitze  der  Beiwohnung  den 
Tod  davon  gehabt." 

Die  Vergiftung  erfolgt  hier  also  während  des  Beischlafes,  aber 
nicht  durch  diesen,  sondern  durch  einen  tödlichen  Biss. 

In  späteren  Fassungen  der  Sage,  z.  B.  bei  Frauenlob,  ist  es 
nicht  der  Biss,  sondern  der  blosse  Blick  und  Hauch  des  Mundes, 
die  tödlich  wirken. 

Der  Sage  von  der  Vergiftung  durch  den  blossen  Blick,  den  sog.  „bösen  Blick",  liegt 
nach  Hertz  offenbar  eine  Verwechselung  des  Giftmädchens  mit  der  persisch-indischen 
Qaftär  zu  Grunde.  Nach  Ibn  Batutah  glaubte  man,  dass  es  unter  den  indischen  Yogi 
Leute  gebe,  von  denen  ein  einziger  Blick  genüge,  um  einen  Menschen  tot  niederzuwerfen. 
Oeffne  man  die  Brust  des  Toten,  so  fehle  darin  das  Herz;  denn  das  habe  der  Zauberer 
gefressen.  Besonders  Frauen  sollten  diese  unheimliche  Macht  besitzen;  eine  solche  nannte 
man  mit  einem  persischen  Wort  qaftär,  Hyäne.  Kam  ein  Weib  in  Verdacht,  mit  dem 
Blick  einem  Kind  das  Herz  im  Leibe  gefressen  zu  haben,  so  machte  man  mit  ihr  die 
Wasserprobe  wie  mit  den  Hexen  des  Abendlandes,  und  wenn  sie  mit  den  vier  an  ihren 
Armen  und  Beinen  festgebundenen  Krügen  oben  schwamm,  so  galt  sie  für  überführt  und 
wurde  lebendig  verbrannt.     Ibn  Batutah  war  Augenzeuge  eines  solchen  indischen  Hexen- 


1)  Vgl.   Haas,    Zeitschr.  der  Deutschen    morgenländischen  Gesellschaft,    Bd.  XXXI, 
S.  657. 

2)  Wilhelm  Hertz,  Die  Sage  vom  Giftmädchen,  München   1893. 


—     50I     — 

Prozesses  in  Delhi  in  den  dreissiger  Jahren  des  14.  Jahrhunderts  (Ihn  Batoutah,  Voyages, 
texte  arabe,  accompagne  d'une  traduction  par  Defremery  et  Sanguinetti,  Paris  1853, 
Tom  IV,  p.  36  ff.) 

Die   ursprüngliche  Fassung   der  Sage  vom  Giftmädchen   beruht 

auf  dem  Glauben  an  eine  wirkliche  materielle  Ansteckung  durch  ein 

I 
reales  Gift,    das    nicht    der    weiblichen    Trägerin,   wohl    aber    dem    sie 

berührenden  Manne  den  Tod  bringt.    Diese  Idee  ist  specifisch  indisch. 
Das   Vorgehen    dabei    wird    von  Kazwini  (f   1283)   folgender- 
maßen geschildert: 

Zu  den  Wundern  Indiens  gehört  das  Kraut  e  1  -  b  i  s ,  das  nur  in  Indien  gefunden 
wird  und  ein  tödUches  Gift  ist.  Die  indischen  Könige,  wird  erzählt,  nehmen,  wenn  sie 
einen  feindlichen  Herrscher  beseitigen  wollen,  ein  neugeborenes  Mädchen  und  streuen  das 
Kraut  einige  Zeit  lang  erst  unter  seine  Wiege,  dann  unter  sein  Bettpolster,  dann  unter  seine 
Kleider.  Endlich  geben  sie  es  ihm  in  der  Alilch  zu  trinken,  bis  das  herangewachsene 
Mädchen  es  ohne  Schaden  zu  essen  beginnt.  Dieses  Mädchen  schicken  sie  darauf  mit  Ge- 
schenken an  den  König,  welchem  sie  Nachstellungen  bereiten:  wenn  er  ihr  beiwohnt,  stirbt 
er.    (Silvestre    de   Sacy,  Chrestomathie  Arabe,  äme  edit.,  Paris   1826,  Tom.  III,  p.  398.) 

Der  arabische  Name  „bTs"  kommt  vom  indischen  ,.visa"  =  Gift 
und  zwar  bezeichnet  man  damit  als  das  Gift  schlechthin  die  Wurzel 
der  in  Indien  heimischen  Arten  von  Aconit,  hauptsächlich  Aconi- 
tum Napellus  ^). 

Das  auf  die  beschriebene  Weise  mit  diesem  furchtbaren  Gift 
durchtränkte  Mädchen  heißt  im  Sanskrit  „visakanyä"  =  Giftmädchen 
oder  „visänganä"  =  Giftweib,  und  die  indischen  Schriftsteller  sprechen 
davon  als  von  einer  allbekannten  Sache.  Es  war  sogar  eine  Pflicht 
der  indischen  Hofärzte,  Küche,  Keller  und  Frauengemach  zu  beauf- 
sichtigen, um  veräterische  Köche  und  Giftmädchen  auszuspüren. 

Daß  die  Sage  die  Uebertragung  des  Giftes  vorwiegend  an  das 
weibliche  Geschlecht  knüpft ''^),  hängt  mit  dem  uralten  Glauben  an  die 
besondere  Befähigung  des  Weibes  für  Vergiftungskünste  zusammen, 
die  es  in  seiner  Eigenschaft  als  Hexe  und  Zauberin  ausübt  3),  wobei 
es  besonders  sich  des  Sexualtriebes  der  Männer  bedient  und 
vermittelst  des  „Concubitus  venenatus"  seinen  teufhschen  Zweck 
erreicht. 


1)  Näheres  über  diese  Giftpflanze  bei  Th.  Husemann,  Artikel  ,, Aconit"  in  Eulen - 
bürg 's  Realencyclopädie,  3.  Aufl.,   1894,  Bd.  I,  S.   210. 

2)  Allerdings  kannte  der  indische  Volkesglaube  auch  Männer,  welche,  ganz  den 
Giftmädchen  entsprechend,  infolge  fortgesetzter  Einnahme  von  Giften  gegen  Gifte  geschützt 
waren  und  ihrerseits  die  dämonische  Macht  hatten,  Frauen  durch  ihre  Liebkosung  zu  töten. 
Hertz  a,  a.  O.,  S.  68. 

3)  Vgl.  hierüber  die  interessanten  Ausführungen  von  K.  F.  H.  Marx,  Die  Lehre 
von   den  Giften,  Göttingen   1829,  Bd.  II,  S.   276 — 278. 


—     502      — 

Dieser  Concubitus  venenatus  läßt  nun  die  mannigfaltigsten  Deu- 
tungen zu.  Er  bildet  einen  merkwürdigen  Bestandteil  des  mittel- 
alterlichen medizinischen  Aberglaubens  und  hat  als  solcher  auch  in 
der  Geschichte  der  Syphilis  seine  Rolle  gespielt. 

Es  gab  gewisse  Zustände  der  Frau,  in  denen  man  sie  für  „giftig" 
hielt  und  aus  einem  zu  dieser  Zeit  vollzogenen  Beischlafe  alle  mög- 
lichen schädlichen  Folgen  ableitete.  Dazu  gehörte  zunächst  die 
Blutung  bei  der  Defloration.     Hertz  ^)  sagt  darüber: 

„Ueber  tödliche  Vergiftung  im  Liebesgenuss  herrschten  in  der  Vorzeit  und 
und  herrschen  zum  Teil  noch  heute  die  abenteuerlichsten  Vorstellungen.  In  der  beliebtesten 
und  verbreitetsten  Reisebeschreibung  des  Mittelalters,  im  Buch  des  Ritters  von  Mande- 
V  i  11  e ,  wird  von  einer  Insel  im  fernen  Osten  erzählt,  dass  dort  der  Bräutigam  nicht  selbst 
die  Ehe  vollziehe,  sondern  hierfür  einen  Stellvertreter  miete,  der  wegen  der  Waghalsigkeit 
des  Unternehmens  in  der  Sprache  des  Landes  cadyberis,  d.  h.  ein  toller  Verzweifelter,  ge- 
nannt werde.  Dieser  Brauch,  so  erklären  die  Eingeborenen,  stamme  aus  alten  Zeiten,  in 
welchen  die  Jungfrauen  kleine  Giftschlangen  im  Schosse  verborgen  getragen  hätten,  durch 
deren  Biss  der  erste,  der  ihnen  beiwohnte,  getötet  worden  sei  .   .   . 

So  fabelhaft  der  Bericht  Mandevilles  klingt,  so  enthält  er  doch  einen  Kern  Wahrheit. 
Denn  in  der  That  bestand  und  besteht  bei  den  verschiedensten  Völkern  der  Brauch,  dass 
jener  Akt,  für  den  sich  die  Römer  eine  eigene  Schutzgöttin  Pertunda  bestellt  hatten,  als 
eine  Sache  angesehen  wird,  der  man  sich  gern  entzieht  und  die  daher  auf  einem  andern 
als  dem  natürlichen  Wege,  durch  manuellen  Eingriff,  durch  Instrumente,  durch  den  Phallus 
eines  Götzen  oder  durch  einen  Stellvertreter  des  Bräutigams,  bald  gegen  Bezahlung,  bald 
aus  Gefälligkeit,  vollzogen  wird  ... 

Eine  Erklärung  der  eigentümlichen  Anschauung  werden  wir  jedoch  nicht  sowohl  auf 
dem  Gebiete  der  Moral  als  auf  dem  des  volkstümlichen  Aberglaubens  zu  suchen  haben.  Da 
findet  sich  denn,  was  schon  Rosen  bäum  erkannt  hat,  dass  bei  einem  Teile  der  Mensch- 
heit nicht  bloss  das  Menstrualblut,  sondern  ebenso  das  bei  der  Defloration  fliessende  Blut 
für  unrein  und  schädlich  gehalten  wurde.  Ein  sprechendes  Zeugnis  für  diese  Meinung  bieten 
uns  die  altindischen  Hochzeitsbräuche.  Nach  den  Hochzeitsprüchen  im  Veda  galten  die 
vom  Blute  der  Brautnacht  geröteten  Hemden  für  giftig  und  bösen  Zaubers  voll  und  mussten 
daher  gleich  am  Morgen  beseitigt  werden.  Zitternd  vor  ihrer  dämonischen  Macht  steckte 
sie  der  Bräutigam  auf  die  gespaltene  Spitze  einer  Stange  und  bannte  so  ihren  Zauber  fest. 
Sie  wurden  dann  dem  Priester  zu  teil,  der  allein  im  stände  war,  sie  wieder  zu  reinigen. 
Damit  vertrieb  man  die  bösen  Dämonen  des  Ehebettes  und  verhütete,  dass  die  junge  Frau 
ihrem  Gatten  Schaden  thue." 

Nicht  bloss  das  Deflorations-,  sondern  auch  das  Menstrualblut 
und  andere  Ausflüsse  aus  den  weiblichen  Genitalien  galten  als  giftig. 

Dass  Frauen  im  Schosse  Gift  haben  können,  begegnet  uns  wiederholt  in  historischen 
Sagen  des  Mittelalters.  Auf  diese  Art  erklärte  man  den  Tod  des  Königs  Wenzel  IL  von 
Böhmen  im  Jahre  1305.  Als  dieser,  so  erzählt  ein  Zeitgenosse,  Ottacker,  in  seiner 
steinschen  Reimchronik  ^),  von  Tag  zu  Tag  hinsiechte  und  von  den  Aerzten  aufgegeben  wurde, 


1)  A.  a.  O.,  S.  27—28,  38,  43. 

2)  Pez,  Scriptores  Rerum  Austriacarum  veteres  et  genuini,  Bd.  III,   741a  f.,  Ratis- 
bonae   1745. 


—     503     — 

da  beschuldigte  man  gewisse  Herren,  dass  sie  ihm  Gift  beigebracht  hätten,  mit  wunder- 
lichen Sachen.  Der  Argwohn  fiel  auf  ein  schönes  Weib  Agnes,  das  fiedeln  und  singen 
konnte  und  alle  die  Künste  verstand,  wowit  die  Weiber  sich  den  Männern  lieb  und  wert 
machen.  Wenn  der  König  sie  selbst  zum  Werke  der  Minne  begehrte,  so  gewann  sie  sein 
Wohlgefallen  durch  ihre  lustlichen  Sitten,  und  kam  er  um  anderer  Frauen  oder  Mädchen 
willen  in  Liebespein,  so  half  sie  ihm  als  Unterhändlerin,  dass  sie  seine  volle  Freundschaft 
erwarb.  Auch  trug  sie  ihm  heimliche  Botschaft  zu  hohen  Fürsten  und  ging  oft  für  ihn 
als  Kundschafterin  furchtlos  in  fremde  Lande.  Dadurch  erlangte  sie  solchen  Einfluss  auf 
ihn,  dass  er  ihr  all  ihren  Willen  that  und  sie  mit  Gaben  überschüttete,  Sie  wurde  hof- 
färtig  und  lebte  auf  grossem  Fusse,  hielt  sich  zwölf  und  mehr  Pferde  und  führte  in  einem 
eigenen  Kammerwagen  ihre  Kleider  und  Kleinode  mit  sich.  Diese  Agnes  wurde  bezichtigt, 
dass  sie,  durch  grosse  Bestechungen  gewonnen,  ihm  der  Welt  Lohn  gegeben  habe.  ,, Minne, 
wie  hast  du  es  geschehen  lassen,  dass  man  falsche  Zutat  mischte  unter  die  unergründliche 
Süssigkeit,  welche  die  minniglichen  Frauen  an  ihrem  zarten  Leibe  tragen?  Alle  Frauen 
bitte  ich,  sie  um  die  grosse  Missethat  zu  hassen,  die  sie  hieran  beging.  Der  Mond  und 
die  Sterne  sollen  ihr  ihren  Glanz  versagen.  Die  Sterne  und  das  Firmament  und  die  vier 
Elemente  sollen  ihr  gram  sein ,  da  sie  in  Untreue  sich  selbst  entehrte  und  ihren  klaren 
Leib  unrein,  widerlich  und  abscheulich  machte,  als  der  König  bei  ihr  lag  und  minniglicher 
Dinge  pflag,   womit  er  Freude  wähnte  zu  erwerben,  dass  er  davon  musste  sterben: 

wan  er  faulen  pegan 

an  der  stat,  da  sich  die  man 

vor  schäm  ungerne  sehen  lant." 

Es  liegt  nahe,  hier  an  ein  venerisches  Leiden  zu  denken,  und 
zwar  passt  die  Beschreibung  durchaus  auf  einen  nichtsyphilitischen 
gangränösen  Schanker,  dessen  Ursprung  durch  eine  Art  von  Ver- 
giftung erklärt  wird^). 

Genau  auf  dieselbe  Weise  muss  die  Krankheit  des  Königs 
Ladislaus  von  Neapel  (geboren  1375,  gestorben  14 14)  gedeutet 
werden. 

Der  Chronist  Kaiser  Sigismunds,  Eberhart  Windecke,  schreibt 
{um   1437): 

„Do  starb  der  Konig  Lasle  emes  jehen  todes,  und  er  füllet  von  seinem  gemechte 
pis  an  sein  herze,  das  tet  Im  eines  bidermannes  tochter  von  Nopels,  die  er  genozoget  hette 
wider  Iren  willen^)." 

Erich  Ebstein^)  erhielt  vor  kurzem  durch  den  Münchener 
Privatdozenten  Dr.  Beckmann  folgende  bisher  ungedruckte  Notiz 
über  die  Krankheit  des  Königs  aus  einem  Briefe  vom  August  14 14: 

^^ —  prope  Urbem  in  Castro  Montis  Rotundi  quaedam  letalis  infirmitas  in  virga 
ipsum  acriter  invasit,  cui  Cancer  se  conjunxit,  ipsum  usque  ad  viscera  corrodendo." 


i)  Selbst  Proksch  hat  bei  Mitteilung  dieser  Verse  nicht  die  Diagnose  „Syphilis" 
zu  stellen  gewagt  (Geschichte  der  venerischen  Krankheiten,  Bd.  I,  S.  362 — 363). 

2)  Historia  Imp.  Sigismundi,  c.  29  (Bernhard  Mencke,  Scriptores  rerum  Germa- 
nicarum,  Lipsiae  1728,  Bd.  I,  S.  109 1 f.;  Hagen,  Das  Leben  König  Sigmunds  von 
Eberhard  Windecke,  Leipzig   1886,  S.   25. 

3)  Erich  Ebstein,  Die  Krankheit  des  Königs  Ladislaus  von  Neapel.  In:  Medi- 
zinische Woche   1906,  No.  8. 


—     504     — 

Mit  Recht  bezeichnet  Ebstein  diese  Schilderung  als  eine  ausser- 
ordentlich charakteristische  Beschreibung  eines  typischen  gangränösen 
serpiginösen  Schankers  (cancer),  der  vom  Membrum  virile  aus  weiter- 
kriecht, sich  allmählich  auf  die  Nachbarschaft  verbreitet  und  bei  un- 
zweckmässiger Behandlung  zum  Tode  führen  kann. 

Interessant  ist,  dass  auch  hier  die  Sage  durch  Vermittelung  eines 
„Giftmädchens''  die  Krankheit  entstehen  lässt. 

In  den  kirchlichen  Annalen  zu  dem  Jahre  1414  sagt  Raynal- 
dus^;,  sich  auf  Theodoricus  e  Niem  beziehend: 

„Inter  medios  secundos  successus  cum  Italiae  imperium  Ladislaus  affectaret,  morbo 
correptus  ex  illito  genitalibus  a  scorto  Perusino,  ut  ajunt,  veneno,  sive  igne  sacro  divinitus 
immisso,  ut  per  quae  peccarat  per  ea  puniretur,  Neapolin  reversus  est,  octavoque  Augusti  die 

interiit." 

Nach  einer  anderen  Fassung  der  Sage  bestachen  die  Florentiner 
einen  Arzt  in  Perugia,  mit  dessen  junger  und  schöner  Tochter  der 
König  ein  Liebesverhältnis  hatte,  und  der  unnatürliche  Vater  opferte 
seiner  Habgier  das  Leben  seines  Kindes.  Er  redete  ihr  ein,  wenn 
sie  sich  mit  einer  von  ihm  bereiteten  Salbe  an  heimlicher  Stelle  ein- 
reibe, werde  die  Neigung  des  Königs  zu  ihr  in  solchem  Grade  wachsen, 
daß  er  nie  mehr  von  ihr  werde  lassen  können.  Das  verliebte  Mädchen 
glaubte  ihm,  benutzte  die  Salbe  —  es  war  Saft  vom  Eisenhut  —  und 
vergiftete  damit  sich  und  ihn  -). 

Da  der  Begriff  des  „Contagiums"  und  der  „Infektion"  in  ältester 
Zeit  fehlte,  dagegen  derjenige  des  „Giftes"  schon  sehr  frühe  bekannt 
war,  so  lag  es  für  die  primitive  Anschauung  nahe,  geheimnisvolle 
Erkrankungen  auf  solche  Vergiftungen  zu  beziehen.  Seit  uralter 
Zeit  gilt  im  Volksglauben  das  Weib  als  Trägerin  und  Übermittlerin 
giftiger  Stoffe,  die  in  der  Menstruation,  dem  weiblichen  „Flusse",  zu 
Tage  treten,  oder  in  anderen  fremdartigen  Absonderungen  aus  den 
weiblichen  Genitalien  (Fluor  albus).  Die  Berührung  mit  dem  giftigen 
Cunnus  schädigt,  verdirbt  die  männlichen  Genitalien  und  macht  sie 
krank.     So  heisst  es  in  einem  sizilianischen  Volkliede^): 

Buttana  cu  la  fissa  nvilinata 
E  ddhocu  dintra  ci  teni  lu  focu, 
Ci  teni  un  cani  corsu  ncatinatu 
Chi  muzzica  li  cazzi  a  pocu  a  pocu. 

i)  Annales  ecclesiastici  ab  anno  1198  .  .  .  Auetore  O.  Raynaldo,  Accedunt  in  hac 
editione  notae  etc.  Auetore  Joanne  Dominico  Mansi  Lucensi,  Tom.  VIII,  Lucae 
1754,  Fol.  p.  376,  Christi  annus   1414. 

2)  Hertz,  a.  a.  O.,  S.  75  (nach  Collenucio,  Compendio  delle  Historie,  del  regno 
di  Napoli,  p.    148  f.,  Venedig   1541. 

3)  Spigolatre  siciliane.  In:  Rgviirdöia,  Recueil  de  documents  pour  servir  ä  l'etude 
des  traditions  populaires,  Vol.  III,  S.  212 — 213,  Heilbronn    1886. 


—     505     — 

M'ha  muzzicatu  a  mia,   lu  sfurtunatu, 
M'ha  muzzicatu  a  parti  unni  haju  locu; 
Diri  ci  ll'haju  a  ogni  'nnamuratu 
Cu  futti  a  sta  buttana  campa  pocu. 

In  französischer  Uebersetzung: 

Putain  au  con  empoisonne 

La  dedans  tu  gardes  le  feu, 

Tu  gardes  un  chien  de  Corse  enchaine 

Oui  mord  les  pines  peu  ä  peu. 

II  m'a  mordu  moi  aussi,  pauvre  malheureux, 

11  m'a  mordu  ä  un  endroit  delicat; 

Je  le  dirai  ä  tous  les  amoureux, 

Celui  qui  fout   avec  cette  putain,   vivra  peu. 

Der  Volksglaube  kennt  zweierlei  Arten  von  „Giftmädchen", 
diejenigen  der  indischen  Sage,  die  nur  Trägerinnen  des  Giftes  sind, 
ohne  selbst  vergiftet  zu  sein,  und  solche,  deren  Körper  selbst  von 
dem  Gifte  in  Mitleidenschaft  gezogen  ist.  Nur  bei  den  letzteren  kann 
man  an  eine  eigentliche  „Krankheit"  denken,  die  durch  den  geschlecht- 
lichen Verkehr  übertragen  wird,  obgleich  theoretisch  auch  der  Fall 
möglich  ist,  daß  eine  Frau  ein  venerisches  Gift  von  einem  ]\Ianne 
empfangen  hat  und,  ohne  selbst  infiziert  zu  werden,  dies  auf  einen 
zweiten   Mann  überträgt. 

Ein  Beispiel  für  die  erste  Art  von  ,, Giftmädchen"  kommt  in  dem  indischen  Drama 
Äludräräkriasa  (das  Siegel  des  Räksasa)  vor  ^). 

In  die  Vorgeschichte  der  dramatischen  Handlung  fällt  ein  Mordanschlag,  welchen 
Rakschasa,  der  Minister  des  Nandakönigs,  gegen  den  Kronprätendenten  Tschandragupta 
ausführte.  Überwunden  und  zum  Scheine  sich  unterwerfend,  sandte  er  an  ihn  ein  Gift- 
mädchen, das  er  mit  Zauberkunst  hergerichtet  hatte.  Aber  der  scharfsinnige  Ratgeber 
Tschandraguptas ,  der  Brahmane  Vischnugupta  Tschannaleya,  der  den  bezeichnenden  Bei- 
namen Kautilya  (der  krumme  Wege  liebt)  führte,  durchschaute  den  Plan  und  wusste  es  zu 
veranstalten ,  dass  ein  unbequemer  Verbündeter  seines  Schützlings ,  dem  die  Hälfte  des  zu 
erobernden  Reiches  zugesagt  worden  war,  die  Jungfrau  erhielt  und  in  ihren  Armen  seinen  Tod 
fand.  Dabei  ist  ein  unserem  Drama  eigentümlicher  Zug  bemerkenswert:  Das  Mädchen 
kann  mit  seinem  Gift  nur  einen  Mann  verderben.  Im  Hinweis  auf  eine  der  berühmtesten 
Stellen  des  Mahabharata  sagt  Rakschasa:  Wie  der  Held  Karna  mit  Indras  Speer  nur  einen 
einzigen  Gegner  töten  konnte, 

So  ward  für  Tschandragupta  auch  von  mir 

Das  Mädchen  aufbewahrt,  das  einen  nur 

Umbringen  konnte;  doch  als  Opfer  fiel 

Ehi  anderer. 
Es  ist  also  nur  der  erste  Liebhaber,    auf  den  sich  in  der  Beiwohnung  das  im  Leibe 
des  Mädchens    angesammelte   Gift   mit   seiner   ganzen  ISIacht  entlädt.     Ihr  Magdtum   ist   die 
giftige  Blüte,  die  dem,  der  sie  berührt,  den  sicheren  Tod  bringt. 


i)  Vergl.  Hertz,  a.  a.  O.,  S.   55  —  56. 


—      5o6      — 

Ob  in  Wirklichkeit  ein  Concubitus  venenatus  für  den  Mann 
möglich  ist,  d.  h.  ob  auf  den  Mann  von  der  weiblichen  Scheide  beim 
Geschlechtsakt  Gift  übertragen  werden  kann,  ist  sehr  zweifelhaft. 
Dass  dagegen  ein  Concubitus  venenatus  für  das  Weib  existiert,  ist 
zweifellos,  da  die  Scheide  sehr  leicht  Gift  resorbiert.  Aeltere  und 
neuere  Beispiele  hierfür  hat  kürzlich  Stick  er  in  seiner  interessanten 
Arbeit  über  „Vergiftungen  vom  Mastdarm  und  von  der  Scheide  aus" 
gesammelt^). 

Sollten  nicht  aber  doch  der  Sage  vom  indischen  Giftmädchen 
wirkliche  Tatsachen  zu  Grunde  liegen,  die  die  vage  Vermutung  eines 
indirekten  Todes  durch  venerische  Infektion  ausschliessen  und  mehr 
für  eine  reelle  Vergiftung  durch  Arsenik  oder  andere  Gifte  sprechen? 

Hier  giebt  mir  Herr  Professor  Georg  Sticker  brieflich  einen 
interessanten  Hinweis  und  eine  beachtenswerte  Hypothese.  Dr.  Hankin, 
Gerichtsarzt  in  Ayra,  teilte  ihm  mit,  dass  in  Indien  mehr  Männer  an 
Arsenikvergiftung  als  dem  vorgeschützten  „Schlangenbiß"  sterben, 
und  zwar  mischen  Weiber  ihnen  das  Gift,  wie  in  Rom  und  im  Paris 
des  17.  Jahrhunderts.  Dass  nun  der  Ort  der  Giftwirkung  die  Vulva 
beim  Cunnilingus  sein  kann,  ist  eine  naheliegende  Vermutung,  da  nur 
vom  Munde,    aber   nicht  vom  Penis  aus  eine  Vergiftung  möglich  ist. 

Dass  der  Cunnilingus  (aurapistaka)  sowie  der  wechselseitige  coitus 
ore  conficiendus  bei  den  Indern  sehr  verbreitet  waren,  wissen  wir  aus 
den  Lehrbüchern  der  indischen  ars  amatoria  2),  Schmidt  zählt  übrigens^) 
die  Giftmädchen  zu  den  käuflichen  Prostituierten,  und  es  ist  sehr 
wahrscheinlich,  dass  diese  sich  zu  solchen  verbrecherischen  Praktiken 
gegen  gute  Bezahlung  hergaben. 

Ein  Zusammenhang  zwischen  Hurerei  und  Giftmischerei  findet 
sich  schon  in  altdeutschsn  Schriften.  Hier  kommt  oft  das  Wort 
„Luppe"  gleichbedeutend  mit  Hure  vor,  das  Gift  bedeutet  (verlüpen  = 
vergiften;  lubed  =  vergiftet)^). 

Der  schon  von  den  mittelalterlichen  Ärzten  (Avicenna,  Peter 
von  Abano,  Mizaldus,  Bernhard  von  Gordon,  Gentilis  von 
Foligno,  Carrerius,  Caelius  Rhodiginus)  und  im  16.  Jahrhundert 


i)  Georg  Sticker,  „Vergiftungen  vom  Mastdarm  und  von  der  Scheide  aus".  In: 
Archiv  für  Kriminalanthropologie,  Bd.  I,  S.  290 — 365  (S.  300  wird  der  Fall  des  Königs 
Ladislaus  von  Neapel  citiert). 

2)  Vergl.  Richard  Schmidt,  Beiträge  zur  indischen  Erotik  etc.,  S.  542 — 550, 
Leipzig  1902.  Derselbe,  Das  Kämasütram  des  Vätsyäyana,  S.  220 — 221,  Berlin  1907. 
Derselbe,  Liebe  und  Ehe  im  alten  und  modernen  Indien,  S.   260,  Berlin   1904. 

3)  R.  Schmidt,  Liebe  und  Ehe  in  Indien,  S.   565. 

4)  Vergl.  K.  F.  H.  Marx,  Die  Lehre  von  den  Giften  in  medizinischer,  gerichtlicher 
und  polizeylicher  Hinsicht,  Bd.  I,  S.  3,  Göttingen   1827. 


—     d^/      — 

von  Johann  Juvenis,  Hieronymus  Mercurialis,  Peter 
Andreas  Matthioli,  Leonhard  Fuchs,  Ulysses  Aldrovandi 
u.  A.  geführte  Streit^)  über  die  Natur  der  Giftmädchen  kann  auch 
heute  nicht  mit  Sicherheit  entschieden  werden.  Wir  haben  im  Ver- 
laufe der  Darstellung  auf  die  verschiedenen  Möglichkeiten  hingewiesen, 
die  bei  der  Sage  vom  Giftmädchen  in  Betracht  kommen  können.  Es 
kann  sich  um  einen  einfachen  Aberglauben  gehandelt  haben,  um 
blosse  Zauberei,  die  man  solchen  Frauen  zuschrieb,  oder  es  kann 
wirkliche  Vergiftung  zugrunde  liegen,  die  bei  Gelegenheit  des  Ge- 
schlechtsaktes in  Wirkung  trat,  wahrscheinlich  bei  Ausübung  des 
Cunnilingus,  oder  endlich  handelt  es  sich  um  eine  wirkliche  Infektion 
mit  einer  ansteckenden  Krankheit,  wobei  es  nicht  ausgemacht  ist,  ob 
dies  in  jedem  Falle  ein  venerisches  Leiden  war.  Bejaht  man  letzteres, 
z.  B.  im  Hinbhck  auf  den  Fall  des  Königs  Ladislaus,  so  spricht 
alles  für  die  Annahme  eines  lokalen  gangränösen  Schankers,  nichts 
dagegen  für  Syphilis. 

Für  die  Geschichte  der  Syphilis  hat  die  Sage  vom  Giftmädchen 
nur  insofern  eine  Bedeutung,  als  sie  eine  gewisse  Nachwirkung  aus- 
übte und  beim  ersten  Auftreten  der  Lustseuche  ebenfalls  mit  heran- 
gezogen wurde,  um  den  plötzlichen  Ausbruch  der  Krankheit  zu  er- 
klären. In  der  oben  (Teil  I,  S.  154 — 155)  mitgeteilten  Erzählung 
des  Gabriel  Fallopia  von  den  Spaniern,  die  die  inficierten  Freuden- 
mädchen zu  den  Franzosen  schickten,  um  diese  anzustecken  und  zu 
töten,  findet  sich  ein  deutlicher  Anklang  an  jene  alte  Sage. 


I)  Vergl.  die  ausführliche  Darstelking  desselben  bei  W.  Hertz  a.  a.  O.,  S.  58 — 63. 


Bloch,   Der  Ursprung  der  Syphilis. 


33 


ACHTES  KAPITEL. 

Die  Nichtexistenz  der  Syphilis  im  l<lassischen  Altertum. 

§  37     Wesen  der  antiken  Liebe. 

Die  Beweise  für  die  Nichtexistenz  der  Syphilis  bei  den  Alten 
gründen  sich  nicht  nur  auf  eine  Kritik  und  Widerlegung-  der  in  der 
antiken  Literatur  vorkommenden  Aeusserungen  über  angebliche  syphi- 
litische Erkrankungen,  sondern  vor  allem  auf  eine  allgemeine  kriti- 
sche Betrachtung  des  Geschlechtslebens  der  Alten  überhaupt, 
durch  die  jene  litterarischen  Angaben  erst  in  ihrem  wahren  Lichte  er- 
scheinen. Erst  die  genaue  Kenntnis  der  allgemeinen  und  speciellen 
Erscheinungen  im  Geschlechtsleben  der  Griechen  und  Römer  ermög- 
licht eine  objektive  und  unbefangene  Würdigung  der  antiken  „Syphilis" 
im  Lichte  der  modernen  Forschung,  sowohl  in  Beziehung  auf  die  ob- 
jektive Seite,  die  mit  dem  Geschlechtsleben  zusammenhängenden  Krank- 
heiten, als  auch  subjektiv  hinsichtlich  des  Reflexes  auf  die  allge- 
meinen Anschauungen  der  Laien  und  der  Aerzte. 

Es  ist  daher  zunächst  unsere  Aufgabe,  die  Geschichte  der  öffent- 
lichen Sittlichkeit  und  des  individuellen  Geschlechtslebens  bei  den 
Alten  unter  den  erwähnten  Gesichtspunkten  ganz  kurz  darzustellen. 
Es  kann  sich  im  Rahmen  dieses  Werkes  naturgemäss  nur  um  einen 
allgemeinen  Ueberblick  handeln,  mit  besonderer  Berücksichti- 
gung der  neueren  Forschungen,  während  für  eingehendere  Details 
auf  die  älteren  sittengeschichtlichen  Werke  von  Forberg  i),  van 
Limburg  Brouwer^),  Julius  Rosenbaum  ^)  und  Ludwig  Fried- 
länder ■^)   verwiesen    sei,    deren    Thatsachenmaterial    allerdings    durch 


i)  Antonii  Panormitae  Hermaphroditus.  Primus  in  Germania  edidit  et  Apopho- 
reta  adjecit  Frider.  Caroi.  Forbergius,  Coburg   1824. 

2)  P.  van  Limburg  Brouwer,  Histoire  de  la  Civilisation  morale  et  religieuse  des 
Grecs.     6  Bände  (besonders  Bd.  I  u.  II),  Groningen   1833  ff.. 

3)  Julius  Rosenbaum,  Geschichte  der  Lustseuche  im  Alterthume,  nebst  ausführ- 
lichen Untersuchungen  über  den  Venus-  und  Phalluscultus,  Bordelle,  Novoog  ■&Tp.Eia  der 
Skythen,  Paederastie  und  andere  geschlechtliche  Ausschweifungen  der  Alten  u.  s.  w,,  Halle 
1839;  6.  unveränderte  Auflage,  Halle   1893. 

4)  Ludwig  Friedländer,  Darstellungen  aus  der  Sittengeschichte  Roms  in  der  Zeit 
von  August  bis  zum  Ausgang  der  Antonine,  6.  Auflage,  3   Bände,  Leipzig   1888. 


—      509      — 

neuere  Entdeckungen  auf  literarischem  und  archäologischem  Gebiete 
wesentlich  vermehrt  worden  ist.  Auch  hat  nur  Rosen  bäum  die 
Frage  mit  Bezugnahme  auf  die  Syphilis  behandelt  deren  Existenz  er 
irrtümlicherweise  annahm  und  durch  seine  Untersuchungen  über  ge- 
wisse sexualpsychologische  und  sexualpathologische  Erscheinungen 
bei  den  Alten  zu  stützen  suchte.  Wir  werden  sehen,  daß  seine  Be- 
weisführung schon  damals  eine  unzureichende  war  und  heute  sogar 
völlig  nichtig  ist,  ja  im  Lichte  der  modernen  dermatologischen  und 
venereologischen  Forschungen  das  Gegenteil  ergeben  muss:  die 
Nichtexistenz  der  Syphilis  im  klassischen  Altertum. 

Hat  es  im  klassischen  Altertum  etwas  wie  Liebe  gegeben? 
Jene  moderne  Liebe,  die  ein  durchaus  individuelles,  mehr  geistig  als 
sinnlich  betontes  Geschlechtsverhältnis  zw-ischen  Mann  und  Weib  als 
freien  selbständigen  Persönlichkeiten  darstellt?  Diese  Frage  muß 
sowohl  für  die  Griechen  als  auch  für  die  Römer  verneint  werden, 
wenn  auch  das  hellenische  Hetären wesen  Ansätze  zu  einer  solchen 
individuellen  Gestaltung  der  Liebe  zeigt  und  wenn  auch  —  wovon 
weiter  unten  kurz  die  Rede  sein  wird  —  in  späterer  Zeit  Spuren  der 
sog.  „romantischen"  Liebe  nachweisbar  sind.  Im  großen  und  ganzen 
ist  der  Charakter  der  antiken  Liebe  ein  durchaus  sinnlicher,  freilich 
ist  diese  Sinnlichkeit  in  den  Blütezeiten  der  Griechen  und  der  Römer 
eine  ganz  und  gar  naive,  harmonische,  aus  demi  natürlichen  Wesen 
des  Menschen  mit  Notwendigkeit  hervorgehende  und  zeigt  durch  die 
unbefangene  Auffassung  des  nackten  Menschen  und  der  Körper- 
schönheit durchaus  plastisch-ästhetische  Züge.  Die  für  die  christ- 
liche Kulturwelt  so  charakteristische  dualistische  Trennung  von  Leib 
und  Seele  übte  noch  nicht  ihren  verhängnisvollen  Einfluss  auf  das 
Geschlechtsleben  aus.  Deshalb  müssen  sogar  die  sog.  sexuellen  Per- 
versitäten der  Alten  anders  beurteilt  werden  als  die  moderne  Psycho- 
pathia  sexuahs,  obgleich  beide  durchaus  anthropologische  Erschei- 
nungen sind  und  als  solche  sowohl  bei  Kultur-  als  auch  bei  Natur- 
völkern beobachtet  werden  i).  Auch  hier  erscheint  das  Sinnliche  un- 
gebrochener und  minder  raffiniert.  Für  den  antiken  Menschen  lag 
eben  das  Geschlechtliche  jenseits  von  gut  und  böse.  Der  christliche 
Begriff  der  „Sünde"  wurde  darauf  nicht  angewendet.  Höchstens 
galten    gewisse   Ausartungen    als   „widernatürlich"    oder   als   „Krank- 


i)  Vergl.  das  Kapitel  „Die  anthropologische  Betrachtung  der  Psychopathia  sexualis" 
in  meinem  Werke  „Das  Sexualleben  unserer  Zeit  in  seinen  Beziehungen  zur  modernen 
Kultur",  Berlin   1908,  S.  503 — 526. 

33* 


—     5IO     — 

heit"  (vöoog).  Es  gab  aber  keinen  mönchischen  „Kampf"  zwischen 
Fleisch  und  Geist,  sondern  das  „Fleisch"  war  nur  die  schöne  äussere 
Form  des  inneren,  geistigen  Lebens.  In  der  sinnlichen  Schönheit 
verehrte  und  genoss  man  die  geistige.  Der  ideale  Mensch  ist  der 
nackte,  nicht  der  bekleidete^).  Die  grosse  Verbreitung  der  Knaben- 
liebe bei  den  Griechen,  auf  die  wir  später  noch  zurückkommen,  wäre 
nicht  möglich  gewesen,  ohne  diese  tiefe  Wirkung  der  blossen  Körper- 
schönheit, die  bei  den  jugendlichen  männlichen  Gestalten  noch  mehr 
hervortrat  als  bei  den  hellenischen  Mädchen.  Wie  man  heute  grossen 
Denkern  und  Dichtern,  so  errichtete  man  damals  hervorragend 
schönen  Männern  Denkmäler-).  Auch  die  Geschlechtsmerkmale 
waren  Gegenstand  eines  naiven  ästhetischen  Genusses.  Fr.  Th.  Vischer 
meint,  dass  die  Griechen  mit  gutem  Grunde  die  Kraft  der  männlichen 
Geschlechtsteile  wichtig  behandelt  und  sich  dessen  ebensowenig  ge- 
schämt haben,  als  wenn  das  Buch  Hiob  vom  Nilpferd  so  gewaltig 
sagt:    „Die  Adern  seiner  Scham  starren   wie  ein  Ast."^) 

Der  physische  Geschlechtsgenuss  in  allen  seinen  Aeusserungen 
und  Bethätigungen,  auch  den  sog.  perversen,  war  den  Alten  etwas 
Natürliches,  Elementares,  das  weder  unterschätzt  noch  überschätzt 
wurde,  wie  etwa  bei  den  modernen  europäischen  Kulturvölkern,  wo 
das  Schwanken  zwischen  diesen  beiden  Extremen  gerade  die  unheil- 
vollen Disharmonien  des  Geschlechtslebens  hervorruft.  Eine  kräftige, 
ja  glühende  Sinnlichkeit,  deren  Zusammenhang  mit  dem  südeuropäi- 
schen Klima"*)  nicht  geleugnet  werden  kann,  war  das  hervorstechende 
Merkmal  in  der  antiken  Liebe.  Die  „Satyriasis"  d.  h.  die  sexuelle 
Hyperästhesie,  ist  eine  specifisch  antike  Krankheit.  Die  alten  Aerzte 
beschreiben  den  unersättlichen  Trieb  nach  Geschlechtsgenuss  als  ein 
sehr  häufiges  Leiden^),  während  diese  Zustände  heute  recht  selten 
sind.     Offenbar  hingen  sie  auch  mit  den  weiter  unten  zu  erwähnenden 


i)  Vergl.  hierüber  die  schönen  Ausführungen  bei  Hippolyte  Taine,  Philosophie 
der  Kunst,  Deutsche  Ausgabe,  Jena   1907,  S.  58  ff. 

2)  Vergl.  J.  J.  Winckelmann's  Geschichte  der  Kunst  des  Alterthums,  herausg. 
von  Julius  Lessing,  Berlin    1870,  S.  94. 

3)  Friedrich  Theodor  Vischer,  Aesthetik  oder  Wissenschaft  des  Schönen, 
Reutlingen  und  Leipzig  1847,  Bd.  II,  S.  161.  —  Bei  den  Römern  ist  der  Gartengott 
Priapus  das  Symbol  dieser  naiven  Auffassung  des  Geschlechtlichen. 

4)  Vergl.  meine  „Beiträge  zur  Aetiologie  der  Psychopathia  sexualis",  Dresden  1902, 
Bd.  I,  S.  20 — 23.  —  Die  „sotadische  Zone"  Richard  Burton's  umfaßt  Spanien,  das 
südliche  Frankreich,  Italien,  Griechenland,  Kleinasfen,  Nordafrika. 

5)  Vergl.  Alexander  von  Tralles,  Original-Text  und  Uebersetzung  nebst  einer 
einleitenden  Abhandlung.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Medizin  von  Dr.  Theodor 
Puschmann,   Wien    1878,  Bd.  I,  S.   275 — 277. 


—     511      — 

orgiastischen  Ausschweifungen  zusammen,  von  denen  Fr.  Th.  Vischer 
(a.  a.  O.  II,  236)  sagt:  „Die  Genüsse  gaben  jeden  Taumel  der  Lust 
frei  und  das  Orgiastische  der  Orientalen  war  namentlich  noch  in  den 
Dionysien  sichtbar." 

Das,  was  wir  „geschlechtliche  Korruption"  nennen,  entstand  in 
Griechenland  und  Rom  erst  durch  die  Berührung  mit  fremden,  be- 
sonders orientalischen  Völkern,  am  frühesten  bei  den  kleinasiatischen 
Griechen  ^j,  später  dann  in  der  hellenistischen  Zeit  und  in  Rom  zu- 
erst durch  den  Einfluss  der  griechischen  Kolonien  Italiens  und  dann 
infolge  des  Zusammenflusses  der  Völker  unter  dem  Imperium.  Hier- 
für gewährt  z.  B.  das  Vocabularium  eroticum  interessante  Anhalts- 
punkte -). 

Wenn  man  von  der  furchtbaren  geschlechtlichen  „Korruption" 
des  kaiserlichen  Rom  spricht,  so  darf  man  nicht  vergessen,  dass  das 
ganze  antike  Geschlechtsleben  sich  in  weit  grösserer  Oeffentlich- 
keit  abspielte  als  das  moderne  und  dass  die  Naivetät  der  Aus- 
schweifung den  Begriff  des  Lasters,  der  Sünde  immerhin  weniger 
aufkommen  liess  als  heutzutage.  Das  werden  wir  im  einzelnen  noch 
nachweisen. 

Es  ist  jedenfalls  eine  eigentümUche  Erscheinung,  dass  der  antike 
Mensch  die  leidenschaftlichsten  Ausbrüche  elementarer  Sinnlichkeit 
für  weit  weniger  verhängnisvoll  hielt  hinsichtlich  ihrer  Wirkung  auf 
seine  persönliche  Tüchtigkeit  und  Menschenwürde,  die  'xa^oxcLyaöia 
oder  virtus,  als  ein  zu  tiefes  seelisches  Erleben  der  Liebesleiden- 
schaft. „Stets  empfanden  die  Griechen",  sagt  Erwin  Rohde,  „eine 
stürmisch  übermächtige  Gewalt  der  Liebe  wie  ein  demütigendes  Un- 
heil, ein  „Pathos"  zwar,    aber    nicht  ein   heroisch  aktives,  sondern  ein 


1)  Vergl.  U.  von  Wilamowitz-Möllendorf ,  Aus  Kydathen,  Berlin  1880,  S.  40. 

2)  Vgl.  Fr.  O.  Weise,  Die  griechischen  Wörter  im  Lateinischen,  Leipzig  1882: 
„Mit  den  asiatischen  Sklaven  hielt  freilich  auch  die  Unzucht  und  die  Unsittichkeit  in 
potenziertester  Gestalt  ihren  Einzug  in  Rom.  War  schon  früher,  wie  dies  bei  einer  Handels- 
stadt nicht  zu  verwundern  ist,  mancher  unlöbliche  Brauch  dort  eingebürgert  worden,  und 
z.B.  die  Mai  tr  essen  Wirtschaft  durch  die  ältesten  griechischen  Kolonien  (oder  gar 
schon  durch  die  Phönicier?)  auf  italischen  Boden  verpflanzt  worden  (vgl.  pelex,  paelex 
=  jiä?.Äa^),  so  hören  wir  jetzt  von  Ehebruch  (moechus,  moecha,  moechisso,  moechor, 
moechimonium,  moechias  u.  a.)  [clinopale,  embasicoetas,  salaco  u.  a.  sind  meist  dichterische, 
nicht  entlehnte  Ausdrücke;  vgl.  aber  masturbor]  und  Knabenschänderei  (paedicare  von 
zä  Jiaidixd  Fick,  Wörterbuch  II,  153;  moechocinaedus,  vgl.  pathicus,  labda),  und  von  un- 
natürlichen Wollüstlingen  (cinaedus,  spatalocinaedus ,  lastaurus,  priapus,  vgl.  spatula, 
maltha)  und  Roues  (asotus)  und  unter  die  Schar  der  Jünger  der  Aphrodite  mischten  sich 
die  Kastraten  (eunuchus,  spado,  androgynus)  und  Zwitter  (hermaphroditus,  androgynus: 
Lucr.  5,  836)." 


—     512      — 

rein  passives^),  das  den  sicheren  Willen  verwirrte,  dem  Verstände 
das  lenkende  Steuer  aus  der  Hand  schlug,  und  den  Metischen,  wenn 
es  ihn  in  einen  Abgrund  leidenschaftlicher  Verwirrung  hinabriss, 
nicht  im  Untergange  erhob,  wie  die  heroischen  Frev^elthaten  der 
tragischen  Helden,  sondern  ihn  trübselig  niederdrückte  und  ver- 
nichtete" 2). 

Gewiss  hat  es  auch  bei  den  Alten  die  ewigen  Gefühle  einer 
leidenschaftlichen,  romantisch  individuellen  Liebe  zwischen  Mann  und 
Weib  gegeben,  aber  sie  wurden  teils  durch  Gesetz  und  Sitte  unter- 
drückt, teils  auf  die  Knabenliebe  abgelenkt,  die  bei  den  Griechen 
wenigstens  deutliche  Kennzeichen  einer  solchen  Individualisierung  des 
Liebesgefühles  aufweist.  Die  alexandrinische  Zeit  freilich  trug  auch 
in  die  heterosexuelle  Liebe  eine  romantisch-sentimentale  Empfindungs- 
weise hinein.  Erst  der  Hellenismus  erzeugte  den  griechischen  Liebes- 
roman. 

Das  eigentliche  eheliche  Leben  der  Griechen  und  Römer  ent- 
behrte gänzlich  der  Romantik.  Nach  Finck^)  waren  es  wesentlich 
drei  Ursachen,  die  das  Gedeihen  der  romantischen  Liebe  in  Griechen- 
land verhinderten:  die  entwürdigende,  unfreie  Stellung  des  Weibes, 
das  Fehlen  des  unmittelbaren  vorehelichen  Liebeswerbens  und  die 
Unmöglichkeit,  eine  persönliche  Bevorzugung  auszuüben,  da  die 
Gattenwahl  Sache  der  Eltern  war. 

Die  antike  Ehe^)  wurde  nicht  aus  Liebe,  sondern  nur  wegen 
der  Erzeugung  von  Nachkommenschaft  geschlossen,  wie  dies  z.  B. 
S  o r  a  n  o  s  mit  dürren  Worten  ausspricht  ^).  Ebenso  spricht  T a  c  i  t  u  s 
(Hist.  I,  c.  6)  von  ,, jenen  echten  Römern,  die  ohne  Liebe  heirateten 
und  ohne  Feinheit  und  Hochachtung  liebten"  ^).     Die  Frauen  führten 


1)  Leidenschaftliche  Liebe  heisst  daher  vöoog,  vöotjjLia;  vorzüglich  bei  Euripides: 
z.  B.  Hippol.  477,  730,  764  ff.,  fr.  340;  4,  404. 

2)  Erwin  Rohde,  Der  griechische  Roman  und  seine  Vorläufer,  2.  Aufl.,  Leipzig 
1900,  S.   29. 

3)  H.  T.  Finck,  Romantische  Liebe  und  persönliche  Schönheit,  2.  Aufl.,  Breslau 
1894,  Bd.  I,  S.    159. 

4)  Vgl.  P'riedrich  Jacobs,  Vermischte  Schriften,  Leipzig  1830,  Bd.  111,  S.  233 
bis  307;  W.  Wachsmuth,  Allgemeine  Culturgeschichte,  Leipzig  1850,  Bd.  I,  S.  199  bis 
200;  Ernst  V.  Lasaulx,  Zur  Geschichte  und  Philosophie  der  Ehe  bei  den  Griechen.  In 
Abhandlungen  der  Kgl.  bayr.  Akademie  der  Wissenschaften,  Bd.  VII,  Abth.  I,  München 
1853,  S.   23 — 128;  van  Limburg  Brouwer,  a.  a.  O.  Bd.  II,  S.  80 — 173. 

5)  Vgl.  H.  Haeser,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Medizin,  3.  Aufl.,  Jena  1875, 
Bd.  I,  S.  308. 

6)  Ein  Beispiel  hierfür  liefert  der  alte  Cato,  dem  die  Ehefrau  nur  ein  , .notwendiges 
Uebel"  und  nur  der  Kinder  wegen  da  war.  Vgl.  Mommsen,  Römische  Geschichte,  6.  Aufl., 
Berlin   1874,  Bd.  I,  S.  868. 


—     513     — 

innerhalb  des  Hauses  ein  abgeschlossenes  unfreies  Dasein,  unterworfen 
dem  Willen  des  Mannes  und  ferngehalten  von  jeder  Bethätigung  am 
öffentlichen  Leben  und  von  der  Gesellschaft  der  Männer. 

Dagegen  hatten  die  Männer  des  klassischen  Altertums  in  einem 
weit  ausgedehnterem  Masse  die  Möglichkeit,  ihre  brutalen  geschlecht- 
lichen Instinkte  zu  befriedigen,  sich  sexuell  auszuleben,  als  die  moder- 
nen Männer,  da  die  Irradiation  des  geschlechtlichen  Momentes  in 
alle  Lebensverhältnisse  eine  bedeutend  grössere  und  intensivere  war 
als  heute.  Der  Betrachtung  dieser  Erscheinungsformen  des  Sexual- 
triebes im  öffentlichen  Leben  des  Alterthums  sei  der  folgende  Para- 
graph gewidmet  ^). 

§  38.   Die  sexuellen  Phänomene  im  öffentlichen  Leben  der  Alten. 

Der  folgende  kurze  Ueberblick  über  die  sexuellen  Phänomene 
im  öffentlichen  Leben  der  Alten  gliedert  sich  naturgemäss  in  vier  Ab- 
schnitte: I.  das  Hervortreten  dieser  Erscheinungen  im  religiösen 
Leben,  2.  in  Sitte  und  Brauch  (einschliesslich  der  Volkssprache), 
3.  in  der  Literatur  und  4.  in  der  Kunst. 

I.  Der  Zusammenhang  der  Religion  mit  dem  Geschlechtsleben 
als  Urthatsache  der  Anthropologie  ist  von  mir  an  anderer  Stelle  aus- 
führlich behandelt  und  kritisch  analysiert  worden  -).  Es  handelt  sich 
an  dieser  Stelle  nur  um  den  Nachweis  der  diesen  Zusammenhang  er- 
weisenden Tatsachen    im  religiösen  Leben    des  klassischen  Altertums. 

Die  merkwürdigen  Beziehungen  zwischen  Religion  und  Ge- 
schlechtlichkeit treten  uns  nirgends  deutlicher  und  sinnfälliger  ent- 
gegen als  in  den  phallischen  Kulten**),  d.  h.  der  Symbolisierung 
der  zeugenden  Naturkräfte  durch  die  Genitalien.  Und  nirgends  wieder- 
um bildet  diese  Vergöttlichung  des  Zeugungsaktes  und  der  Zeug'ungs- 
teile  einen  so  hervortretenden  Zug  im  religiös-sexuellen  Leben  wie 
bei  den  Griechen  und  Römern.  Das  gilt  von  den  ältesten  und  von 
späteren    Zeiten.     Die    Personifizierung    und    Verehrung    des    Phallus 


i)  Die  niedrige  Stellung  der  Frau  bei  den  Griechen  hat  sich  bis  auf  den  heutigen 
Tag  erhalten.  Vgl.  Ferdinand  Hueppe,  Zur  Rassen-  und  Sozialhygiene  der  Griechen  im 
Altertum  und  in  der  Gegenwart,  Wiesbaden    1897,  S.   52. 

2)  Iwan  Bloch,  Das  Sexualleben  unserer  Zeit,  4. — 6.  Aufl.,  Berlin  1908,  S.  104 
bis   134. 

3)  Die  ältere  Litteratur  darüber  bei  Rosenbaum,  a.  a.  O.  S.  64,  Anmerk.  3;  vgl. 
ferner  J.  A.  Dulaure,  Des  divinites  generatrices  ou  du  culte  du  phallus  chez  les  Anciens  et 
Modernes.  Reimprime  sur  l'edition  de  1825,  revue  et  augmentee,  Paris  1885;  Les  Pria- 
peia,  Note  de  Lessing,  Traduite  de  Failemand  et  augmentee  de  commentaires.  Par 
Philomneste  Junior  (=  Gustave  Brunet),  Brüssel  1866;  Otto  Stoll,  Das  Ge- 
schlechtsleben in  der  Völkerpsychologie,  Leipzig   1908,   S.   654 — 667. 


—     514     — 

oder  Priapus  als  des  schöpferischen  Naturprinzips  gab  den  Mittel- 
punkt ab  für  die  natürlich  naive,  prominente  Rolle  des  Geschlecht- 
lichen im  Leben  und  Fühlen,  Sitte  and  Brauch  der  antiken  Völker. 
Hier  erschliesst  sich  das  eigentliche  Verständnis  für  den  fundamen- 
talen Unterschied  zwischen  antiker  und  moderner  Kultur  in  Beziehung 
auf  die  sog.  „moralische"  Auffassung  sexueller  Dinge. 

Der  Phallus  als  materielles  Symbol  der  Zeugungskraft  der  Natur') 
und  der  diese  repräsentierenden  Gottheiten,  nämlich  des  Dionysos 
(Bacchus),  der  Priapos,  des  Hermes  (Herodot,  Hist.  II,  51),  auch 
des  Herakles  (Herkules)"-),  spielte  die  Hauptrolle  bei  den  diesen 
Gottheiten  geweihten  Kulten,  Mysterien,  Volksfesten  und  Schau- 
spielen, wobei  er  als  Symbol  des  Gottes  einhergetragen  wurde  unter 
Absingung  von  „phallischen"  obscönen  und  erotischen  Liedern  und 
Vornahme  geschlechtlicher  Akte^)  mit  Freudenmädchen,  Tänzerinnen 
oder  auch  Knaben.  In  seiner  Abhandlung  über  „Die  Phlyakendar- 
stellungen  auf  bemalten  Vasen ^)  bemerkt  Heydemann: 

,,Mit  den  Schauspielern  der  alten  Komödie  teilen  die  Phlyaken  ausser  den  gleich- 
gestalteten Masken  auch  den  grossen  Phallos  (Aristoph.  Wolken  734  mit  Schol.  Wolken 
538),  welcher  aus  Leder  gemacht  und  roth  bemalt  vorgebunden  wurde  zu  Ehren  des 
mächtigen  zeugungsfrohen  Dionysos :  hiessen  doch  die  Schauspieler  davon  in  Sikyon :  Phal- 
lophoroi  (Athen.,  p.   621  F.,  anderswo  hiessen  sie  WvcpaXXoi,   ib.   622  B.)". 

Der  Phallos  wurde  dabei  auf  zweierlei  Arten  getragen:  entweder 
herabhängend  oder  aufgerichtet,  nach  oben  aufgebunden. 

Es  handelte  sich  um  eine  naive  Verehrung  der  geschlechtlichen 
Prinzipien  und  um  eine  ebenso  naive  sexuelle  Bethätigung  zu  Ehren 
der  Zeugungsgottheiten  5),  die  oft  in  einen  wahren  Geschlechts- 
rausch   überging   und  dann  freilich  nicht  selten  ausschweifende  und 


i)  So  erscheint  er  auf  der  Darstellung  einer  griechischen  Stele  im  Britischen  Museum: 
Eine  Frau  streut  Samen  auf  ein  Beet  aus,  aus  welchem  vier  große  Phalloi  hervorspriessen. 
Vgl.  Paul  Hartwig,  Die  griechischen  Meisterschalen  der  Blütezeit  des  strengen  rot- 
figurigen  Stiles,  Berlin   1892,  S.  346. 

2)  Vgl.  Alexandre  Colson,  ,,Hercule  phallophore  dieu  de  la  generation".  In: 
Annales  du  Musee  Guimet,  Paris   1882,  Tome  IV,   p.  39 — 44. 

3)  Vgl-  *^i6  ,,Acharner"  des  Aristophanes. 

4)  H.  Heydemann,  ,,Die  Phlyakendarstellungen  auf  bemalten  Vasen".  In:  Jahr- 
buch des  kaiserlich  deutschen  archäologischen  Instituts,  herausg.  von  Max  Fränkel,  Berlin 
1887,  Bd.  I,  S.   263  —  264. 

5)  Vergl.  über  diese  ursprünglich  natürlichen  Grundlagen  der  phallischen  Kulte  die 
zutreffenden  Bemerkungen  von  Emile  Begin,  Lettres  sur  l'histoire  medicale  du  Nord-Est 
de  la  France,  Metz  1840,  S.  54,  wo  der  Auffassung  entgegengetreten  wird,  als  ob  nur  eine 
„korrumpierte  Gesellschaft"  den  Priapus  angebetet  habe. 


—     515     — 

widernatürliche  Formen  annahm  und  sich  in  obcönen  Reden  ^),  ona- 
nistischen  Proceduren  und  perversen  Geschlechtsakten  äusserte.  Ueber 
diese  Dinge  äussert  sich  Crusius^)  folgendermassen: 

„Leider  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  die  hier  vorausgesetzten  Laster  weite 
Schichten  des  Volkes  ergriffen  und  sich  sogar,  wie  böse  Parasiten,  an  gewissen  ausschweifen- 
den Scheinkulten  festgesetzt  hatten;  wobei  man  nicht  vergessen  darf,  dass  bei  den  sog. 
Naturvölkern  und  selbst  in  unserem  Mittelalter  ähnliche  Erscheinungen  nachweisbar  sind 
(Liebrecht,  ,, Zur  Volkskunde",  S.  394  ff.  u.  ö.).  Jetzt  wissen  wir  auch,  was  die  formatae 
inguinibus  res  der  orphischen  Baubo  waren,  dieser  Carricatur  der  'Idfxßrj  xsSvsidvTa  (Agla- 
oph.  818  ff.,  Abel  Orph.  fr.  215),  und  was  die  Landmännin  des  Kerdon,  die  mannstolle 
Elegeis  von  Milet,  getrieben  haben  mag,  deren  Namen  man  mit  aaeXyaiveiv  in  Zusammen 
hang  brachte.  In  noch  ekelhafterer  Weise  lässt  bekanntlich  Petron,  ein  Geistesverwandter 
des  Herondas,  das  scorteum  fascinum  von  der  Priapus-Priesterin  anwenden  (Satir.  138). 
Dem  Namen  nach  entspricht  der  ßavßcöv  ziemlich  genau  dem  mittelhochdeutschen  .,wem- 
plinc"  (zu  „wampe"),  von  dem  Allerlei  im  Stile  des  Herondas  bei  Nithart  zu  lesen  ist; 
denn  Hesych  (s.  v.)  weiss,  dass  ßavßcö  auch  xoiXia  bedeutet  (c5?,  JxaQ  'EfursSoxXsT),  und 
ßovßojv  wird  etymologisch  identisch  sein.  Man  sieht,  Baubo  war  eine  Eponyme  ganz  eigener 
Art,   die  auf  dem  Thier  zu  reiten  verdient,   auf  dem  sie  die  Alten  und  Goethe  reiten  lassen''. 

Wir  werden  noch  weiter  unten  bei  Betrachtung  der  künst- 
lerischen Darstellungen  sexuellen  Charakters  diese  Thatsachen  bestätigt 
finden. 

Eine  Gottheit  der  Zeugungskraft,  die  gerade  in  der  Geschichte 
der  venerischen  Krankheiten  eine  literarische  Rolle  spielt,  warPriapus, 
dessen  Symbol  ein  aufrecht  stehendes,  meist  in  übernatürlicher  Grösse 
dargestelltes  männliches  Glied  war.  Sein  Kultus  scheint  ursprünglich 
in  der  Gegend  des  Hellespont  (besonders  in  Lampsacus)  heimisch 
gewesen  zu  sein,  wie  dies  CatulP)  bezeugt: 

hunc  lucum   tibi  dedico  consecroque  Priape, 
qua  domus   tua  Lampsacist  quaque  silva  Priape. 
nam  te  praecipue  in  suis  urbibus  colit  ora 
Hellespontia  ceteris  ostriosior  oris. 

Von  hier  kam  der  Priapuskult  über  Griechenland  nach  Italien, 
wo  er  hauptsächlich  als  Schutzgottheit  der  Gärten  und  Acker  ver- 
ehrt wurde,  als  Schrecken  der  Diebe  und  Vögel,  die  „furum  aviumque 
maxima  formido"  des  Horatius.  Als  Strafen  für  solche  Versündi- 
gungen gegen  das  Garten-  und  Feldeigentum  werden  vielfach  sexuelle 


1)  Is  quidem  (=  Jamblichus)  loquitur  de  illis  aio/QO?.oyiai?  JiQog  leQoTg  quibus 
non  Cerealia  solum  et  Dionysia  sed  etiam  aliorum  deorum  sacra  perstrepebant  nee  omnino 
festi  coetus  carere  videbantur".  K.  Lobeck,  Aglaophamus  sive  de  Theologiae  Mysticae 
Graecorum  causis,  Königsberg   1829,  Bd.  I,  S.  689. 

2)  Otto  Crusius,  Untersuchungen  zu  den  Mimiamben  des  Herondas,  Leipzig  1892, 
S.   128 — 130. 

3)  Q.  Valerii  Catulli  Carmina  rec.  Lucianus  Müller,  Leipzig  1897,  S.  73 
(Fragm.   2). 


-     516     - 

Akte  des  Priapus  angedroht,  normaler  und  perv^erser  Natur.  Diese 
eigentümliche  Rolle  des  Priapus  tritt  uns  besonders  in  den  „Carmina 
priapea"  entgegen^),  in  denen  uns  das  Symbol  des  Gottes  in  seinen 
verschiedenen  Bethätigungen  vorgeführt  wird.  Gerade  hier  hätte  es 
nahe  gelegen,  als  solche  Strafe  auch  die  Syphilis  anzudrohen,  falls  sie 
existiert  hätte.  Gerade  in  den  priapischen  Gedichten  wäre  eine 
Schilderung  der  S3^philis  am  Platze  gewesen.  Wie  wir  sehen  werden, 
ist  aber  hier  nichts  davon  zu  finden. 

Ausser  dem  Priapus  hatten  die  Römer  noch  zahlreiche  andere 
männliche  und  weibliche  Gottheiten,  die  mit  dem  menschlichen  Ge- 
schlechtsleben in  Verbindung  gebracht  wurden.  Sogar  die  speciellsten 
geschlechtlichen  Vorgänge  hatten  ihre  bestimmten  Gottheiten,  wie  aus 
deren  Namen  hervorgeht,  z.  B.  Dens  Subigus  („ut  viro  subigatur 
virgo"),  Dea  Prema  („ut  subacta  ne  se  commoveat  prematur"),  Dea 
Pertunda  („quae  praesto  est  virginalem  scrobem  effodientibus  maritis"), 
Dea  Perfica  (Arnobius  IV,  7).  Ferner  waren  Pilumnus,  Rumina 
(Rumilia),  Deverra,  Cunina,  Mena,  Uterina,  Fascinus  u.  a. 
bei  den  geschlechtlichen  Vorgängen  des  Weibes  thätig-).  Besondere 
Erwähnung  bedarf  Mutunus  Tutunus'^),  der  Gott  der  w^eiblichen 
Empfängnis  und  männlichen  Befruchtung,  bei  dessen  Anrufung  sich 
die  junge  Frau  auf  ein  „Fascinum"  setzte,  als  welches  sehr  oft  das- 
jenige der  Priapus-Statuen  benutzt  wurde  (Arnobius  IV,  7;  Augustinus 
VI,  g:  Priapus  nimis  masculus,  super  cuius  immanissimum  et  turpis- 
simum  fascinum  sedere  nova  nupta  iubebatur  more  honestissimo  et 
religiosissimo  matronarum).  Er  hatte  eine  Kapelle  in  Rom,  in  welcher 
die  Frauen  verhüllt  zu  opfern  pflegten. 

In  späterer  Zeit  bürgerten  sich  in  Rom  die  Kulte  dreier  weib- 
licher Sexualgottheiten  ein,  der  hellenischen  Aphrodite  (Venus), 
der  ägyptischen  Isis  und  der  phrygischen  Kybele. 

Die  Liebesgöttin  Aphrodite*)  ist  nach  neueren  Untersuchungen 
eine    uralte    autochthone   griechische  Gottheit    und   nicht  orientalisch- 


i)  Priapeia  sive  Diversorum  Poetarum  in  Priapum  lusus  aliaqiie  incertoram  auctorum 
poemata  emendata  et  explicata,  1781;  Petronii  Satirae  et  Liber  Priapeorum.  Tertium  edidit 
Franciscus  Buecheler,  Berlin  1895,  S.  137 — 158  (Buch-Ausgabe);  Carmina  Priapeia. 
In  Nachdichtung  von  Alexander  von  Bernus  mit  einer  kritischen  Einführung  von  Adolf 
Dannegger,  Berlin  und  Leipzig   1905. 

2)  Näheres  bei  E.  K.  J.  v.  Siebold,  Versuch  einer  Geschichte  der  Geburtshülfe, 
Berlin   1839,  Bd.  I,  S.    114 — 122. 

3)  Mutunus  =  fivTvog  s.  fivrzoiv  =  ro  yvvatxsTov;  Tutunus  =  Jiöa&rj,  Jioadcov,  äol. 
116&&COV,  latein.  Puttunus  und  Thutunus. 

4)  Das  Hauptwerk  über  sie  ist  die  umfangreiche  Abhandlung  ,,Der  Kult  der  Aphro- 
dite"  bei  W.  H.  Engel,    ,,Kypros,    eine  Monographie",    Berlin    1841,    Bd.  II,    S.   3 — 649. 


—     517     — 

semitischen  Ursprungs,  wie  Pausanias  (Descript.  Graec.,  lib.  I,  14) 
und  nach  ihm  viele  andere  Autoren  berichteten.  Nur  in  ihrer  Be- 
ziehung zu  dem  rein  sinnlichen  Geschlechtsleben  und  zur  Prostitution 
lässt  sich  ein  späterer  semitischer  Einfluss  nachweisen,  der  besonders 
von  dem  Kult  der  phönizischen  Astarte  ausging. 

L.  V.  Schröder  bringt  die  „Aphrodite"  in  etymologischen  Zu- 
sammenhang mit  den  indischen  „Apsaras".  den  durch  „Leibesschön- 
heit ausgezeichneten,  stark  aphrodisisch  beanlagten,  nymphenartigen 
weiblichen  Wesen,  welche  sich  in  dem  Luftraum  bewegen,  in  deut- 
licher Beziehung  zu  den  Wolkenwassern  stehen  und  mit  den  priapisch 
angelegten  Gandharven  verbunden  oder  vermählt  sind". 

Die  'AcpQoöm']  Ovgavia,  die  Himmelstochter,  weist  diese  Beziehung 
zum  Luftraum  auf.  „Sie  wallt  durch  den  Aether  und  in  den  Meeres- 
wogen", sagt  Euripides  von  ihr  im  Hippolytos  (v.  447): 

cponä  &äv    ai&eg',  ioxi  d'iv  d^alaooicp  JiXvdcovi  KvuQig. 
Ursprünglich  war  sie  die  Göttin  der  himmlischen  Wasser,  die  später 
bei  den  Griechen  zu  irdischen  Wassern  geworden  sind,  aus  denen  sie 
als  die  „Schaumgeborene"  {äfpQoyevrig)  emporstieg  (Hesiod,  Theogon. 
195  ff.;  Plato,  Cratyl.  406  C;  Apulejus,  Metam.  4,  28). 

Ursprünglich  das  Symbol  der  kosmischen  Liebe  und  Anziehung 
zwischen  Himmel,  Erde  und  Meer,  wurde  später  Aphrodite  die  aus- 
schliessliche Gottheit  der  irdischen  geschlechtlichen  Liebe  und  des 
physischen  Liebesgenusses,  sowohl  die  A.  Ovqavia  als  die  A.  IJdvdrjiuog. 

Auch  die  Urania  ist  Göttin  der  Geschlechtslust  und 
wird  so  gut  wie  die  Pandemos  als  Göttin  der  Prostitution 
verehrt^). 

„Der  Liebesgenuss",  sagt  v.  Schröder,  „ist  nach  der  griechi- 
schen Anschauung  geradezu  das  Gebot  der  Aphrodite-),  und  im  Ein- 
klang mit  der  Entwicklung  der  späteren  Zeit  wird  ihr  Bild  immer 
mehr  dem  der  Hetären  angeätinelt,  wird  Aphrodite  geradezu  Schutz- 
göttin der  Hetären  3). 

Und  nicht  bloss  die  Hetären,  sondern  auch  die  gewöhnlichen 
Lustdirnen  und  Hafenhuren  verehren  die  Aphrodite  als  ihre  Schutz- 
göttin, daher  auch  A.  Tlöovr]  genannt,  der  zu  Abydos  ein  Tempel 
geweiht  war  (jioQvtjg  de  '  AqDQodkrjg  kgöv  eori  nagä  ' Aßvöi-jvoig,  wg  (pt]ot 


—  Vgl.  ferner  W.  H.  Röscher,  Nektar  und  Ambrosia,  Leipzig  1S83;  Leopold  v.  Schröder, 
Griechische  Götter  und  Heroen.     Heft   i:  Aphrodite,  Eros  und  Hephästos,  Berhn   1887. 
i)  Vgl.  Preller,  Griechische  Mythologie,  3.  Aufl.,  Bd.  I,  S.   277 — 278,  298. 

2)  Besonders  charakteristisch  ist  die  Stelle  in  den  homerischen  Hymnen  (3,  156 — 158) 
von  der  Verführung  des  Anchises  zum  Liebesgenuss  durch  Aphrodite. 

3)  V.  Schröder,  a.  a.  O.,  S.   23. 


-     5IÖ     - 

ndfifpiXog.  Athen.  Deipnos.  XIII,  572  e).  Als  Tempeldienerinnen, 
Hierodulen ,  lagen  die  Mädchen  in  den  der  Aphrodite  geweihten 
Tempeln,  wie  auf  Cypern  (Herodot.  i,  187;  vgl.  Engel,  Kypros  II, 
143  ff.),  in  Korinth  (Athen.  XIII,  573  C;  Strabo  8,  378)  und  anderen 
Städten  der  Prostitution  ob.  Die  feineren  Hetären  gaben  oft  Vor- 
bilder für  Aphroditen  ab  und  empfingen  diesen  Namen  als  Beinamen, 
z.  B.  die  Lamia  und  Leaena.  Man  weihte  ihnen  sogar  Tempel. 
(Athen.  VI,  253  a).  Sie  sassen  Künstlern,  wie  Praxiteles  und 
Apelles,  zu  Aphrodite-Bildern. 

Interessant  für  die  rein  sexuelle  Auffassung  der  Aphrodite  ist 
auch  ihre  bildliche  Darstellung  in  Verbindung  mit  phallischen  Symbolen. 
So  erwähnt  de  la  Chau  eine  Silbermedaille  des  zweiten  Demetrius 
und  eine  Bronzemedaille  des  Kaisers  An  tonin  us,  auf  denen  die 
Aphrodite  stehend  in  einem  langen  Rocke  und  von  Priapen  umgeben 
dargestellt  ist^).  Auch  die  Beziehung  der  Aphrodite  zum  Dionysos^) 
ist  danach  erklärlich.  Als  Frucht  des  Liebesverhältnisses  zwischen 
diesen  beiden  galt  Priapos  (Pausan.  9,  31,  2;  Diod.  4,  6;  Tibull.  i, 
4,  7).  Auch  zu  anderen  priapischen  Dämonen,  wie  Konisalos, 
Orthanes,  Tychon  hat  Aphrodite  Beziehung-^). 

Früh  schon  kam  der  Kult  der  Aphrodite  als  Kult  der  Venus 
nach  Italien,  auch  hier  wurden  ihr  zahlreiche  Tempel  errichtet,  wo 
die  Liebesgöttin  unter  verschiedenen  Beinamen  (V.  Cloacina,  Ery- 
cina, Victrix,  Verticordia,  Calva,  Lutea)  verehrt  wurde^).  Der 
Aphrodite  Pandemos  und  Hetaera  der  Griechen  entspricht  die  „Venus 
Vulgaris"  der  Römer,  deren  Beziehungen  zur  Prostitution  Ovid 
(Fast.  IV)  schildert: 

Numina  vulgaris  Veneris  celebrate,  puellae, 
Multa  professorum  quaestibus  apta  Venus; 
Poscite  thure  dato,  formam,  populique  favorem, 
Poscite  venditias,  dignaque  verba  joco. 

Auch  die  „Venus  plebeia"  des  Martial  (II,  53,  7)  gehört  hierher. 

Als  Symbol  des  rein  Geschlechtlichen  wurde  der  Name  „Venus" 
auch  für  den  Coitus  (Tibull.  I,  9,  75  ff.)  und  geschlechtliche  Genüsse 
(Juven.  XIII,  33  ff.),  sowie  für  einzelne  Geschlechtsteile  gebraucht 
(Mart.  I,  91,  7  ff.). 

Zur  Zeit  des  zweiten  punischen  Krieges  wurde  durch  eine  be- 
sondere Gesandtschaft  der  Kult  der  phrygischen  Fruchtbarkeitsgöttin 


i)  Über  die  Attribute  der  Venus.     Deutsche  Ausgabe,  Wien   1783,  S.    15. 

2)  Vgl.  darüber  Engel,  Kypros  II,  S.   206,  654  ff. 

3)  Vgl.  V.  Schröder,  a.  a.  O.,  S.   79. 

4)  Rosenbaum,  a.  a.  O.,  S.  64. 


—     519     — 

Kybele  nach  Rom  herübergebracht  (Liv.  XXIX,  loff.).  Ihr  Kult 
war  vorzugsweise  ein  päderastisch-homosexueller,  weshalb  wir  ihn 
weiter  unten  besprechen. 

Eine  dritte  ausländische  Sexualgöttin  der  Römer  war  die  ägyp- 
tische Isis,  die  schon  unter  Sulla  verehrt,  doch  erst  unter  den 
Triumvirn  öffentliche  Tempel  erhielt  (Dio  Cassius  47,  15;  43,  2;  Sueton, 
Domit.  12),  in  denen  große  Unzucht  getrieben  wurde  (Sueton.  Domit.  i, 
Otho  12;  Lampridius,  Commodus  9,  Sever.  26;  Spartianus, 
Caracalla  9;  Ovid.  art.  amand.  I.   27;  Juvenal.  VI,  488  ff.). 

„Was  in  den  sogenannten  Isistempeln  vorgegangen,  entzieht  sich  aller  menschlichen 
Berechnung.  Aufgrabungen  in  dem  verschütteten  Herkulanum  und  Pompeji  beweisen,  daß 
ihre  Fortschritte  sich  in  die  Provinz  erstreckt.  Jilit  einer  allmählichen,  sanft  vorschreitenden 
Umstrickung  durch  die  Bande  der  Sinnlichkeit  fesselten  diese  geistlichen  Herren  ihre  weib- 
lichen Opfer  fast  unauflöslich  an  sich,  und  wenn  eine  Inschrift  besagt,  nur  der  Priester  ist 
ein  Mann,  der  das  Weib  befriedigen  kann,  so  überlasse  ich  es  der  Beurteilung  der  Leser, 
was  für  eine  Art  von  tierischem  Magnetismus  das  gewesen,  der  auf  den  schwellenden 
Polstern,  bei  schwelgerischer  Blütenpracht,  berauschenden  AVohlgerüchen  und  mattem  Lampen- 
schein getrieben  wurde.  Die  wissenschaftlichen  Untersuchungen  über  diesen  Gegenstand, 
namentlich  von  dem  berühmten  Franzosen  Gauthier,  der  alle  Tempelheilungen  des 
Altertums  anf  Mesmerismus  zurückführen  wollte,  haben  zu  keinem  bestimmten  Resultat  ge- 
führt, aber  so  viel  ist  gewiss,  dass  der  grossartige  Einfluss  jener  Priester  auf  die  Geschlechts- 
sphäre der  Frauenzimmer  ein  nicht  unbedeutendes  Moment  in  der  politischen  Gestaltung  der 
Dinge  abgegeben  haben  muss  ')." 

L.  Preller  (Römische  Mythologie,  2.  Aufl.,  von  R.  Köhler, 
BerHn  1865,  S.  728)  spricht  von  einer  „schändlichen  Kuppelei  der 
ägyptischen  Priester",  da  Isis  als  Heil-  und  Entbindungsgöttin  vor- 
züglich von  Frauen  und  Mädchen  und  am  meisten  von  den  zahl- 
reichen Libertinen  gemischter  Abkunft  aufgesucht  wurde,  die  damals 
in  dem  galanten  Rom  eine  grosse  Rolle  spielten.  Daher  die  „Isiacae 
sacraria  lenae"  des  Juvenal  (VI,  489).  Dass  auch  päderastische  Un- 
zucht bei  den  Isisfeiern  vorkam,  beweist  das  anzügliche  Wort  des 
Petronius  (c.   140)  über  die  „pygisiacra  sacra"-). 

Im  Zusammenhange  mit  den  Sexualkulten  mag  hier  die  inter- 
essante Frage  erörtert  werden,  ob  auch  bei  der  Verehrung  der  an- 
tiken Sexualgottheiten  die  uns  von  anderen  Gottheiten  her  bekannten 
medizinischen  Weihgeschenke  (Donaria)  üblich  waren   und   ob   aus 


i)  R.  Finkenstein,  Zur  medizinischen  Sittengeschichte  des  alten  Roms,  in:  Deutsche 
Klinik   1868,  Nr.  37,  S.  354. 

2)  So  liest  Otto  Keller  (Lateinische  Volksetymologie  und  Verwandtes,  Leipzig 
1891,  S.  32)  das  Wort  „pigiciaca"  in  dem  Satze:  ,,Eumolpus",  qui  tarn  frugi  erat  ut  Uli 
etiara  ego  puer  viderer,  non  distulit  puellam  invitare  ad  pigiciaca  sacra",  während  Buche  1er 
(in  s.  Petron-Ausgabe,  S.    107)  hierfür  das  wenig  überzeugende  „physica"  einseUen  möchte. 


—      520      — 

ihrer  Beschaffenheit  vielleicht  Schlüsse  auf  das  Vorhandensein  von 
venerischen  Krankheiten,  speciell  der  Syphilis,  gezogen  werden  können. 

Es  ist  bekannt,  dass  die  Römer  aus  dem  altitalisch-etruskischen 
Kulte  den  rehgiösen  Brauch  übernahmen,  den  Gottheiten  Nachbil- 
dungen menschlicher  Eingeweide  und  Körperteile  aus  Bronze  als 
Weihgeschenke  darzubringen.  So  wurden  beim  Ablassen  des  kleinen 
Alpensees  des  Monte  Falterone  1836  etwa  6 — 700  bronzene  Eiguren, 
sämtlich  Weihgaben,  entdeckt,  darunter  „deutliche  Darstellungen  von 
Wesen,  die  an  Krankheiten  litten"  (Brustwunde,  Schwindsucht  u.  dgl. 
m.)  1).  Mit  Recht  erklärt  C.  Eriederichs  ein  Paar  Augen  aus 
Bronze  für  das  Weihgeschenk  eines  Augenkranken,  da  sich  zahl- 
reiche Marmorplatten  mit  zwei  Augen  und  Weihinschriften  darauf 
erhalten  haben 2).  Homolle  erwähnt  Augen,  Ohren,  Brüste,  Unter- 
leib, Geschlechtsteile,  Arme  und  Hände,  Beine  und  Eüsse,  die 
man  entweder  in  körperlicher  Nachbildung  oder  als  Reliefbild  der 
Heilgöttin  als  Dankesgabe  für  die  Genesung  von  der  den  betreffen- 
den Teil  heimsuchenden  Krankheit  darbrachte.  Ja,  sogar  das  Haupt- 
haar von  Erauen  wurde  im  Relief bild  als  Votivgeschenk  in  dem 
Heiligtum  der  Gottheit  niedergelegt^). 

L.  Stieda,  dem  wir  eine  vorzügliche  Monographie*)  über  die 
medizinischen  Votivgaben  verdanken,  äussert  sich  über  die  Bedeutung 
der  Weihgaben  folgendermassen : 

„Körte  meint,  dass  die  einfachste  Form  der  Weihgaben  eine  Nachbildung  der  ge- 
heilten Glieder  sei.  Es  ist  gewiss  möglich,  dass  alle  jene  Körperteile,  die  wir  finden. 
Arme,  Hände,  Füsse  u.  s.  w.,  geheilte  Glieder  bedeuten  sollen,  aber  wahrscheinlich  ist  es 
nicht.  Es  ist  das  nicht  in  der  menschlichen  Natur  begründet,  dem  Gotte  für  die  stattge- 
habte Heilung  durch  Darbringung  eines  gesundeten  Körperteils,  d.  h.  eines  Geschenks, 
zu  danken.  Dass  die  Kranken  damals  Bilder  ihrer  kranken  Glieder  darbrachten,  unter- 
liegt keinem  Zweifel.  Körte  führt  ein  vortrefTliches  Beispiel  an,  das  kranke  Bein  mit  der 
„Krampfader"  (Varicen).  Jene  Bilder,  die  Körte  als  „geheilte"  Glieder  ansieht,  z.  B. 
Ohren,  Augen  u.  s.  w.,  sind  gewiss  Darstellungen  solcher  Personen,  die  an  kranken  Ohren 
und  Augen  litten.  Die  betreffenden  Personen  kannten  ihre  Einzel-Leiden  nicht,  sie  konnten 
deshalb  das  Leiden  selbst  nicht  darstellen;  sie  opferten  ein  Bild  des  entsprechenden  Organs, 


i)  Vgl.  G.  Dennis,  Die  Städte  und  Begräbnisplätze  Etruriens,  Leipzig   1853. 

2)  K.  Friederichs,  Kleine  Kunst  und  Industrie  im  Altertum  oder  Berlins  antike 
Bildwerke,  Düsseldorf   187 1,  Bd.  II,  S.   279—285. 

3)  Homolle,  Artikel  „Donarium"  in:  Dictionnaire  des  antiquites  Grecques  et  Ro- 
maines par  Daremberg  et  Saglio,  Paris   1892,  Tome  II,  p.  375. 

4)  L.  Stieda,  Anatomisch-archäologische  Studien.  I.  Ueber  die  ältesten  bildlichen 
Darstellungen  der  Leber.  IL  Anatomisches  über  altitalische  Weihgeschenke  (Donaria). 
Mit  28  Abbildungen.  S.-A.  aus  Bonnet-Merkels  Anatomischen  Heften,  Bd.  XV/XVI, 
Wiesbaden   1901,  gr.  8",  IV,   131   Seiten. 


um  den   Gott,   der  ihr  Arzt  war,  an   ihr  Leiden  zu  erinnern  —  dann  gingen  sie  gewiss  nach 
Hause.     Der  Kranke  geht  heute  wie  damals  zum  Arzte,   der  Geheilte  nicht" ^). 

Allerdings  geht  aus  dem  bekannten  Gedichte  37  der  Priapea 
hervor,  dass  erst  nach  der  Heilung  die  Votivgabe  dargebracht  wurde. 
Dieses  Gedicht  ist  auch  ausschlaggebend  für  die  Entscheidung  der 
wichtigen  Frage,  ob  wirklich  Nachbildungen  der  kranken  oder  nicht 
vielmehr  solche  der  gesunden  Körperteile  der  Gottheit  gestiftet  wur- 
den.    Es  lautet  nämlich: 

Cur  pictum  memori  sit  in   tabella 

membrum,  quaeritis,  unde  procreamur? 

cum  penis  mihi  forte  laesus  esset 

chirurgamque  manum  miser  timerem, 

dis  me  legitimis  nimisque  magnis, 

ut  Phoebo  puta  filioque  Phoebi, 

curatum  dare  raentulam  verebar. 

huic  dixi:   ,fer  opem,  Priape,  parti, 

cuius  tu,  pater  ipse  pars  videris, 

qua  salva  sine  sectione  facta 

ponetur  tibi  picta,  quam  levaris, 

compar,  consimilisque,  concolorque' 

promisit  fore  mentidamque  movit 

pro  nutu  deus  et  rogata  fecit. 

(Carm.  Priap.  XXXVII  ed.  Buecheler.) 

Hieraus  geht  hervor,  dass,  wie  es  auch  heute  noch  in  katho- 
lischen Gegenden  der  Fall  ist,  erst  nach  der  Heilung  eine  genaue 
Abbildung  des  geheilten  Körperteils  als  Votivgabe  dargebracht 
wurde,  dass  also  diese  nur  für  eine  frühere  Erkrankung  des  be- 
treffenden Teiles  spricht,  keineswegs  aber  uns  Aufschluss 
giebt  über  die  x\rt  dieser  Erkrankung  oder  gar  diese 
noch  anzeigt. 

Nachdem  Stieda  selbst  seine  Ansicht,  dass  die  eigentümlich 
gestalteten  Donarien,  die  in  den  römischen  Museen  unter  der  Be- 
zeichnung ,,Bubbone"  (Erkrankungen  der  Leistendrüsen)  aufbewahrt 
werden,  Darstellungen  der  „krankhaft  veränderten  Eichel"  des  Penis 
seien  (a.  a.  O.,  S.  105 — 166),  nachträglich  aufgegeben  hat  und  sie 
lieber  als  „erkrankte  Brustwarze"  deuten  möchte  (a.  a.  O.,  S.  131), 
erübrigt  es  sich,  auf  die  Frage  einzugehen,  welche  Krankheiten 
der  Geschlechtsteile  bei  jenen  Weihgeschenken  der  Geschlechtsorgane 
in  Betracht  kamen.  Die  Thatsache,  dass  unter  den  Votivgaben  sich 
sowohl  männliche  als  auch  weibliche  Geschlechtsorgane  in  grosser 
Zahl  befinden,  beweist  nur,  dass  Krankheiten  oder  Verletzungen 
derselben  vorkamen,  weiter  nichts.    Es  waren  natürlich  hauptsächlich 


i)  Stieda  a.  a.  O.,  S.  65. 


—       522        — 

die  Sexualgottheiten,  wie  Priapos  (Carm.  Priap.  XXXVII),  Lu- 
cina ^),  Isis  (Tibull.  I,  3,  27),  denen  die  künstlichen  Vulven  und 
Phallen  dargebracht  wurden. 

Die  Stelle  in  dem  Carmen  priapeum  37  „cum  penis  mihi  forte 
laesus  esset"  lässt  sich  nur  auf  eine  schwere  Erkrankung  oder  Ver- 
letzung des  Penis  deuten.    Welcher  Art  die  ist,  bleibt  gänzlich  dunkel. 

2.  Wie  im  religiösen  Leben,  so  trat  auch  in  Sitte  und  Brauch 
der  Alten,  also  im  ganzen  Bereiche  des  gesellschaftlichen  Lebens, 
das  sexuelle  Element  sehr  stark  und  unverhüllt  hervor. 

Da  sei  zunächst  hingewiesen  auf  die  grosse  Verbreitung  der 
sogen,  „obscönen  Gebärden"  bei  Griechen  und  Römern.  Carl 
Sittl,  dem  wir  hauptsächlich  folgen,  sagt  darüber  in  seinem  vorzüg- 
lichen Werke  über  die  „Gebärden  der  Griechen  und  Römer"  (Leip- 
zig  1890): 

,,Ein  fast  ebenso  grosses  Gebiet  fügt  die  eigentümliche  ]Moral  des  Altertums  hinzu, 
welcher  das  Obscöne  nur  lächerlich  war;  sogar  unter  den  Philosophen  huldigten,  wie  man 
weiss,  die  Kyniker  keiner  besseren  Ansicht.  Wie  konnte  es  auch  anders  sein,  wo  die 
Dionysos-  und  Demeterfeste  das  Volk  anreizten?  Zu  den  zahlreichen  (obscönen)  Schimpf- 
wörtern, welche  die  Lustspiele  und  die  Wände  Pompejis  besonders  leichlich  liefern, 
fehlen  die  entsprechenden  Gebärden  nicht." 

Als  „unzüchtiger  Finger"  par  excellence  galt  der  vorge- 
streckte Mittelfinger  der  rechten  Hand,  der  italienische  „dito 
impuro"  -'). 

Sittl  führt  dafür  (a.  a.  O.,  S.  lOi  ff.)  die  folgenden  bezeichnenden  Namen  an: 
fiarajivycov ,  Pollux  2,  18  und  Phot.  lex;  fiardjivyog,  Arrian.  Epict.  3,  11;  ocpäxBlog , 
Suid.;  Schol.  Plat.  Tim.  84b;  öaxxvXog;  }^siJi6deQfxog ,  Gloss.  Graecol.;  digitus  im- 
pudicus,  Priap.  56,  i  f.;  Marlial.  6,  70,  5;  Isid.  orig.  11,  l,  71;  infamis,  Pers.  2,  33; 
famosus,    Porphyr,  sat.   2,  8,   26;  verpus. 

Das  Zeigen  des  Mittelfingers  galt  ganz  allgemein  als  Zeichen 
der  grössten  Verachtung  (Juven.  10,  53;  Martial.  2,  28,  2;  6,  70,  5; 
Schol.  Pers.  2,  33).  Bei  Melampus  (de  palpitatione,  p.  484,  Franz) 
heisst  es:  Adxrvlog  6  rgirog  rrjg  de^iäg  yßiQog  rjroi  6  fxeoog  ßaoxaviag 
di-jAoT  xal  Äoidooiag.  Diogenes  beschimpfte  den  Demosthenes,  in- 
dem er  ihn  einigen  Bekannten  mit  dem  Mittelfinger  zeigte  (Diog. 
Laert.  6,  34).  Besonders  wurde  der  päderastische  Pathicus  und  Ki- 
naede  so  bezeichnet  (daher  das  anzügliche  xardjivyog).  Er  hiess  da- 
nach der  xaTaday.Tv?ux6g,  d.  h.  der,  auf  den  man  mit  dem  Finger  zeigt 
(Aristoph.  Eq.  1381).  Wenn  also  ein  Grieche  oder  Römer  den  Mittel- 
finger gegen  jemand  ausstreckte  oder  die  Nase  berührte  (Hesych. 
oxiv&aQiI^Eiv),  schalt  er  ihn  stillschweigend  einen  cinaedus  oder  pathicus. 


1)  O.  Rossbach,   Das  Diana- Heiligthum  in  Nemi  (Verhandl.   der  40.  Versammlung 
deutscher  Philologen  in  Görlitz   1889,  Leipzig   1890,  S.    149 — 164). 

2)  Auch  der  Zeigefinger  wurde  in  diesem  Sinne  gebraucht. 


—     ö^ö      — 

Eine  Interessante  Darstellung  dieser  obscönen  Gebärde  findet  sich  auf  einer  Vase  des 
Museo  Nazionale  zu  Neapel.  Ein  bärtiger  nackter  Mann,  die  Linke  an  die  Stirn  gelegt, 
geht  auf  einen  vor  ihm  hockenden  nackten  Mann  zu,  der  die  Rechte  hoch  erhebt  und  den 
Zeigefinger  derselben   emporstreckt. ') 

Eine  andere  unzüchtige  Gebärde  war  die  sogenannte  „fica", 
griechisch  ovy.ov,  die  Feige-),  das  Hindurchstecken  des  Daumens 
zwischen  Mittel-  und  Zeigefinger,  als  Zeichen  des  Coitus.  Gerhard 
und  Panofka  beschreiben  eine  antike  phallische  Bronce  von  der 
Form  eines  Arms,  dessen  Enden  einerseits  durch  das  männliche 
Glied,  andererseits  durch  eine  geschlossene  Hand  mit  dem  Zeichen 
der  Fica  gebildet  werden  ^). 

Nicht  selten  kam  auch  direkter  Exhibitionismus  vor.  So 
heisst  es  in  Theophrast's  Characteren  1 1 :  'O  de  ßösXvoög  Toiovrog  olog 
änavjrpaq  yvvai^lv  eXev&egaig  dvaovQajLievog  dei^ai  rö  aldölov.  Bei  Nicht- 
bürgerinnen  nahm  man  es  also  nicht  so  genau.  C\'niker  verübten 
solche  exhibitionistische  Akte  auf  dem  Markte  (Lucian.  Peregrin.  17), 
die  übrigens  bei  der  Beschaffenheit  des  griechischen  Chitons  oft  un- 
freiwillig vorkamen. 

Ausser  dem  stummen,  aber  vielsagenden  Ausdrucke  der  obscönen 
Geberden  gab  es  im  Altertum  einen  äusserst  reichen  obscönen 
Wortschatz.  Mit  Recht  bemerkt  StolH),  dass  es  kaum  einen,  auf 
geschlechtliche  Handlungen  und  Situationen  oder  auf  die  Geschlechts- 
teile selbst  bezüglichen  bildlichen  Ausdruck  giebt,  der  nicht  schon  in 
der  erotischen  Literatur  des  Altertums  reichliche  Belegstellen  fände. 
„Der  geschlechtliche  Verkehr",  sagt  Hübner,  „in  seinen  natürlichen 
Grenzen  wie  in  seinen  unnatürlichen  Verirrungen,  wird  von  Griechen 
und  Römern,  wie  von  den  südeuropäischen  und  manchen  anderen 
Nationen  noch  jetzt,  ja  bis  in  das  sechzehnte  Jahrhundert  und  weiter 
herab  auch  bei  uns,  mit  einer  natürlichen  Offenherzigkeit  und  Deut- 
lichkeit behandelt,  die  unser  Gefühl  verletzen"^). 

Das  „Vocabularium  eroticum"  der  Griechen  und  Römer 
bietet    ein    bedeutendes    Interesse    als    getreues    Spiegelbild    der    ge- 


i)  Vgl.  H.  Heydemann,    Die  Vasensammlungen  des  Museo  Nazionale   zu  Neapel, 
Berlin    1872,  S.  395   (Nr.   2835). 

2)  Vgl.  Grimm,    Wörterbuch,    Leipzig    1862,    Bd.  III,    Spalte    1444;    C.  J.  Jage- 
mann, Dizionario  Italiano-Tedesco,  Leipzig   1803,  Bd.  I,  S.  459. 

3)  Neapels  antike  Bilderwerke.     Beschrieben    von    E.  Gerhard  und  Th.  Panofka, 
Stuttgart  u.  Tübingen   1828,  Bd.  I,  S.  465. 

4)  Otto    Stoll,     Das    Geschlechtsleben     in     der    Völkerpsychologie,    Leipzig    1908, 
S.  751- 

5)  E.   Hübner,   Martial.      In:   Deutsche   Rundschau    1889,   Bd.   XV,  S.   92. 
Bloch,   Der  Ursprung  der  Sypliilis.  o4 


—     524     — 

schlechtlichen  Korruption  und  der  geradezu  unglaublichen  naiven 
Differenzierung  der  Geschlechtsgenüsse.  Ohne  Zweifel  hatten  die 
Hellenen,  hierin  vergleichbar  den  modernen  Franzosen,  die  reichste 
sexuelle  Terminologie,  während  die  Römer  hierin  mehr  Nachahmer 
waren  und  viele  Worte  von  ihnen  übernommen  haben.  Nur  weil 
bisher  ausschliesslich  die  lateinische  Pornologie  in  besonderen  Wörter- 
büchern bearbeitet  worden  ist^),  hat  man  diese  Thatsache  nicht  ge- 
nügend berücksichtigt.  Hauptquelle  für  dieselbe  ist  das  grosse  Wörter- 
buch des  Hesychios  in  der  Ausgabe  von  Moritz  Schmidt-). 

Es  finden  sich  hier  nicht  weniger  als  69  Ausdrücke  für  den 
Coitus  {ovvovoia)  und  die  verschiedenen  Stellungen  und  Mani- 
pulationen dabei  {oyj)fxaxa  owovoiaotixa.)  nebst  den  Ab- 
w^eichungen  von  der  Norm.  Es  seien  (und  auch  bei  den  folgen- 
den Rubriken)    nur   einige   besonders   interessante  Beispiele  genannt: 

I.    äxgaoiag  (I,  1 04 j  =  avco^aAmg.    naga  to /nr]  avyxExgäodai  (Etym.  Magn.  52,  4: 
axQaala  =  XsyEjai  de  aal  z6  fit]  xara  v6/novg  owovoid^siv). 

3.    avaoEOVQf.ievr]   (I,  182)  ^^jy  ovqo/lisvov  ifidziov  ijiaiQovaa,  xal  juSgog  yvfivovaa 
(Lobeck,  Aglaoph.  826;  Meineke  Com.  Gr.  Frag.  III,  p.    118). 

8.    dvaoplSiv  (I,    186)  :;=  ■^EiQoxQißsXv  alboXov. 

12.  ' Aoxvävaooa  (I,  308)  = 'E^^svtjg  'd'sgdjiaiva.  i'jrig  jiqmti]  i^evgsv  'A(pQo8iTt]V, 
xai  dtiöXaaza  o^rifiaza. 

15.  ßaoayvxoQog  (I,  361)  =  d  ■&äaoov  ovvovaiäCcov. 

16.  ßiäzai  (I,  375)  =  yvvatxag  ßiaQEzai. 

18.  ßgifit]   (I,   399)  =  djZEiXr].     y.al  yvvaiKEia  dggt]zojioiia. 

21.  öianaQ'dEVEVEi  (I,  494)  =  (p^sigei  xögag. 

22.  diaoagxcöviafj,a  (I,  498)  =  doeXysg  zc  axfjfia- 

23.  eyvco  (II,    11)  =  wf^iiXrjOEV  dvijQ  Jigög  yvraixa. 

29.  xagdg  (II,  411)  =  d  djioajiEg/j,aziofi6g. 

30.  xagiKov  (II,  413)  =  EvzsXsg,  fuxgSv.  SrjÄoT  ds  xal  d(pgo8io(ov  axijfia  alaygör. 
xagixcß  oxi^fiUTi  =  Xsyszai  ds  im  ziov  uxoXdazojv  o/y^ia  xagixöv  (vgl. 
Meineke,  Philologus,  Bd.  XIII,  S.  555). 

33.  XI XXI]  (II,  481)  =  ovvovoia.     r]  djio  zojv  aldoiojv  Svooo/nia. 

34.  xiooa  (II,  486)  =  mi&vfxca.  ogvsov.  xal  Ix^vg  Jioiög.  xal  yvraixeiov 
nd&og. 

35.  xvgrjVfj  (II,  557)  =^  Jiogvt]  zig  ovzcog  ExaXETzo  8coÖ£xafirjxci.vog,  diu  zo  zooavza 
ox^fJ-OLza.  'A(pgo8iolo)v  jioieTv. 

37.    xvaßoxogwvrj  (II,   560)  =  vvfxqii]. 
39.    xcoßj]X7]  (II,  562)  =  ovvovoia. 


1)  Vgl.  Pierrugues,  Glossarium  eroticum  linguae  latinae,  Paris  1826;  C.  Ram- 
bach, Thesaurus  eroticus  lingue  latinae,  Stuttgart  1833  (frecher  Nachdruck  von  Pierrugues); 
N.  BJondeau,  Dictionnaire  erotique  Latin-Fran^ais,  Paris  1885.  —  Ferner  die  Werke 
von  Rosenbaum  und  Forberg. 

2)  Hesychii  Alexandrini  Lexicon  rec.  M.  Schmidt.    Jena  1857,  T.  IV,  Index  u.  S.  88. 


—     525     — 

40.  ?.saira  sjil  rvQoy.v7'jOTi8og  (III,  19)  =  o/Jj/iia  ovvovoiag  dxöXaorov.  Schol. 
Arist.   Lysistr.   231;  Phol.    211,    11. 

42.  May Q IT 7] g  (III,  71)  =  fiojgog  rig,  ij  fitj  sidcog  fit^iv  yvvaixög,  xav  ym'i]  jiqo- 
TQSjTtjtai  avzov.     Arist.  Poet.  4;  Nicom.  Eth.  VI,   7. 

43.  ixi^ig  (III,   iii)  =  xoirr],  ovvovoia. 

50.    oQd-oaradöv  (III,   219)  =  x6  ogßor  oKpQodiatd^stv. 

53.    jiegiJiQcoHTiiöoa  (III,  318)  =  TOvcpsQsvofihn}  im  tfj  nvyfj. 

57.  axivöagog  (IV,  45)  ^  »;  ijraraoTaaig  vvxxog  d(pQo8iaiojv  evsxa. 

58.  oivcon:iaat  (IV,  32)  =^  zovro  jis.-[oi7]zai  :^aQd  ri/v  ExaiQav  HiviÖttijv.  ixco/iicp- 
SsTro  yoLQ  eni  tw  doxi]HOveiv. 

60.    OHvla^  (IV,  52)  =  oxfjfia  dtpQodioiaxöv,  wg  xo  xü>v  (foivixi^övxwv. 
62.    01.10X0080VV  flV,   57)  =  x6  axtjfiaxi^eod'ai  xdg  yvvaTxag. 

Für  die  verschiedenen  erotischen  Temperamente  und  Dis- 
positionen führt  Hesychios  unter  der  Rubrik  „y.aTaffeoeTg  Jigog 
ä(pQodioia"  52  Ausdrücke.    Unter  ihnen  seien  folgende  hervorgehoben: 

dxo?.aoia  (I,    100)  =  dxQaaia.     1)  elg  xd  d(pQo8iaia  xaxa(pEQ£ia. 

rjXov  (II,   275)  =  Xdyvov. 

OoQog  (II,  320)  =  ßdxTjg,  dq?Qo8iaiaaxi'jg.     dysla,  t)  i'xxoioig  xov  ajiEQfiaTog. 

xdnoaira  (II,  409)  =  tj  xaxacpsQtjg,  d-To  rcDr  xäjtQOiv. 

13.  xaxajivyoaivt]  (II,  432)  =  i)8ov)j  /iisydhj. 

14.  xiQOJv  (II,  486)  =  d8v%'axog  jiQog  ovvovoiav.  xal  al8oiov  ßkdßtj.  xal  dn- 
E{o)xo?J.v/.i/.iEvog.  xal  xvgicog  fihv  o  adxvgog,  xal  ivxexafiEvog,  6  yvvaixiag,  xal 
fxr)  SvväfiEvog  yQija^ai. 

21.  kdoxai  (III,    16)  =  TiÖQvai. 

22.  XdoxavQOi  (ib.)  =  oi  tieoI  xov  o^Qov  8aoETg,  xal  tiÖqvoi  xivkg  övxEg. 

23.  ÄsaßidCEiv  (III,   27)  =  jiQog  äv8Qa  oxouaxEvsiv. 

27.    fiiotjxtjv    (III,    112)  =  xi]v   xaxarpEQi]  Uyovoiv   fuarjztjv.     fiia7jxac    Ss    yvvaixsg 

oXioßoioi  yotjaorrai. 
32.    olcfi 6 ).7]g  (III,   191)  =  o  1X7]  kyxQaxrjg,  dlld  xaxatpegijg  jigog  yvvaixa. 
35.    Sa/.aßaxyw  (IV,   5)  =  szÖQVtjg  ovo/iia,  dsio  8e  xavxTjg  xal  zag  xax(ocpEQETg  sig 

xd  'A(fQo8ioia  ovxcog  tlsyov  ' Axzixoi. 
42.    i'YQÖg  (IV,    192)  =  6  EvxazarfEQtjg  Eig  7'j8ovdg. 

Die  verschiedenen  Arten  der  Küsse  wurden  mit  besonderen 
Namen  belegt.  Hesychios  führt  lo  verschiedene  Namen  an,  darunter 
z.  B.: 

1.  xaxayXcoxxi^Eiv  (II,  421)  =  xd  sQWxixd  xal  ^EQiEQya  (pi)J]i.iaza. 

2.  xaz  aylvTizöv  =  si8og  (piXrjfjiatog. 

3.  d)'£/<(yj'?7   (I,    193)  =^  q)iX7]/iia. 

7.    xaßEtozov  (II,  386)  =  El8og  rpOJjfiaxog. 
9.    axifißaa/iiög  (IV,  45)  =  (pdrjfiazog  Ei8og. 

10.      OXQEJIXOV    (IV,    84)    =   (piX7]fld    XI    JIOIÖV. 

Sehr  zahlreich  (56)  sind  die  das  gesamte  Prostitutionswesen 
{jieQi  'Eraioojv  xal  IIoqvmv)  und  die  Kuppelei  {negi  MaoTQonwv) 
betreffenden  Namen   (10): 

34* 


-     526     - 

2.    dvÖQOfiavtjg  (I,    189)  :=  L-ri/isfiiivvTa  rovg  drögäoiv. 
5.    dji6(/?aQaig  (I,   262)  =  t)  haiga,  wg  'HyTjoavÖQog. 

7.  yscpvQig  (I,  427)  =  stÖQVt]  rig  im  ye(pvQag,  log  'HQaxkscov. 

8.  daf^iovgyoi  {1,  458)  =  ai  TiÖQvai. 
SrjixirjV  (I,  481)  =  uiÖQvrjv.     kvtiqioi. 

II.    dgo/Lidg  (I,  537)  =  ^  haiga. 

13.    i'jrtTraöTa?  (II,    163)  =  haiQag  s:;i(X)vvfiov. 

18.  xaaaXßdg  (II,  418)  =  Ttögv^]. 

19.  xaaavga  (II,  418)  =  xaocoQig.     ^ögvrj. 
xaoavQEioig  =  ol'y.oig,  k<p    (bv  ai  haigai  sxa&e^ovro. 

22.  ;ifaro/i;A£<aTO«  (II,   425)  =  iv  Kogirdoj  haigai  rirsg. 

23.  xsQafJ,£iH6g    (II,  465)  =  röjiog    ' Aß-r'jvrjoiv ,    ev&a    01     jiöqvol    TTQosazr'jxsoav. 
£101  8e  8vo  xEgafisixot,  o  fisv  k'^co  rsixovg,  o  8s  ivrog. 

25.    xEXQafiai  (II,  472)  =  S180S  noQVsiag. 

28.      XOIVEIOV    (II,     503)    =   JIOQVEIOV. 

31.  X  CO /.toi  (II,  564)  =  doElyrj  ao/nam  TTOQvixd. 

32.  Xvjirä  (III,   56),  lupa  =  sraiga,  jtoQVt]. 

33.  Xüjydg  (III,   59)  =  TTÖQVi]. 

34.  fiaxQvXeiov   (III,   76)  =  xönog   töjv   jioqtevovzwt,    rovreari   jioqveTov,    6'jtov   01 
fiaoTQOJToi,  tjroi  /navliozai,  biEiQißov. 

36.    fiaxXd8a  (III,   77)  =  jiÖqvyjv. 

(.idxXrjg  =  jiÖQVog. 

fiax^ig  =  JioQvrj. 

fxdxXog  =  jioQvog. 

fiaxXoovrrj  =  r]  jieqI  tu  dcfQoSiaia  cooeI  xaracpEQEia,  dxoXaoia,  TiOQVEia. 
39.    droßdzt8£g    (III,    209)  =  ai   im   fioixsia   aXovoai   yvvaTxsg    xai    i^EVEX&£ioai 

im  OV03V. 
41.    TzaQO^vvxai  (III,   287)  =  oi  zQE<p6/iisvoi   vjio   zöJv   iraiQÖJv  wg   uv  81)  igaazai. 

43.  jTwXog  (III,  416)  =  kzaiQü.     jicöXovg  yaQvavzdg  MXEyov,  oTov  'A<pQo8iztjg. 

44.  SaXaßaxxfü  (IV,  5)  =  jiögrt]?   ovo/ia.     dno   8e   zavzt]g   xul   zug   xazcoq)EQ£Tg 
Elg  %d  'A(fQo8iola  ovzoog  sXsyov  Azzixoi. 

47.    2!iv8vg  (IV,  31)  =  »/  2xvßia  xal  t)  jiöqvij. 

49.  oxa[A,/id8Eg  (IV,  38)  =  jzögvai. 

50.  ojto8r]GiXavQa  (IV,  67)  =  »y  zag  68ovg  rgißovaa,   1}  iv  zaTg  68oTg  ZQißo/iEvr]. 

51.  azazrj  (IV,   71)  =  nÖQVf]. 
ozQazrj  =  ■jz6qv7],  prostibulum. 

52.  oTEyTziv  (IV,   73)  =  ^^''  ji6qv>]v. 

53.  ovyxoizdXiov  (IV,  91)  =  ovyxoizov. 
ovyxoiziov  =  izaiga  ovyxoif.ir}d£io(j])  (xiadoi/ia. 

54.  2'^/*"'^^'^'?  (IV,   272)  =  jzoQVT)  äSo^og. 

55.  ;^a^i£ra<ptV  (IV,   273)  ^  ?;  sioQvt]. 

56.  noQVOXOTiog  (IV,  362)  ^  EzaiQOXQOipog,  JioQvog. 

4.  8Qd^o)v  (I,   534)  =  jioQvoßooxog. 

5.  xdgßig  (II,  411)  =  fiaozQOJzog. 

6.  XOQLV&ld'QElV    (II,    517)   ^  fiaOXQOJZEVElV,    haiQEVElV. 

7.  /laoxQOJzög   (III,   75)  =  8ioxQOJzog.     jzavovQyog.     djiaxEcöv    6    t«?    yv%'aTxag    y 
av8Qag  JiQooxaXMV  xal  fxavXi^wv,  i)  TtQoaycoyog. 

8.  TiQOJiaiooi  (III,  383)  =  jTßoaj'ajj'o?,  [A.aoxQon6g. 


—     527      — 

9-    TtQoiiaXyaTEVEiv  (IIT,  381)  =  fisTazoojievsiv,   uaaToojieveiv. 

10.  :T(>oayo)y6g  (III,  372)  =  diödaxaXog  y.axöiv,  xal  /naazQOJiög. 

Höchst  interessant  sind  die  Synonyme  für  die  Päderastie  und 
das  Kinädentum,  deren  grosse  Zahl  (74  Ausdrücke!)  bezeichnend 
ist  für  die  Verbreitung-  und  Bedeutung'  der  Männer-  und  Knabenliebe 
bei  den  Griechen.  Die  Namen  und  Epitheta  geben  uns  wichtige 
Aufschlüsse  über  die  mannigfaltigen  homosexuellen  Beziehungen  und 
Praktiken.  Folgende  seien  aus  der  langen  Reihe  besonders  hervor- 
gehoben : 

1.  Xaxojvi^eiv  (III,  9)  =  jTaiSi'oig  XQ^^^'^'-  h'g^-  liierzu  Nr.   2  u.   25]. 

2.  Aaxoivixov  zoojiov  =  xo  uEQaivEiv  xal  jimdEgaazETr,  z6  TiagEy^Eiv  kavzag 
zoTg  ^Evoig.     fjxioza  yctg  <pvldzrovoi  Ädxw^'Eg  zag  yvvaixag. 

4.  ßaödg  {I,  350)  =  xiraidog.     wg  'Afisgiag. 

5.  BdzaXog  (I,  364)  =  y.azoucvycov  xal  dvÖQÖyvvog.     xt'raidog.     sxXvzog. 

6.  Afjfiog  xaXög  (I,  482):  UvoddinTZOvg  viog  f]v  ovzog  Afjfiog  6vo/xa  xal  zi)v 
djgav  xdlXiozog.  k'ßog  8e  j)v  zoTg  sgaazaig  ijiiygdqiEcv  Jiavzaxov  zd  zcöv  Jiaidcov 
ovd^iaza. 

11.  xaza.-Tvyov  (II,  432)  =  xiraiSov  ijyovr  dosXyovg. 

12.  xEvxavooi  (II,  463)  =  Tiaidsgaazai. 
15.    xiraiSog  (II,  484)  =  do£?.y7jg,  Jiogvog. 

XIV 8a  =  TzoQvixtj  doytjiiioavv)]. 
xivfjdog  ^=  doEXyrjg. 

21.  xgijza  zqojtov  (II,  534)  =  z6  xaiöixoTg  XQijoOai. 

22.  xvjidzai  (II,   556)  =  xiraidoi,  /.laXaxoi. 

25.    xvaoXdxojv   (II,   560)  =  'AgiazaQxög   (jprjoi   zov  Kl{E)iviav    ovzco    XsyEodni    zcö 
xvaqj  XaxMvi'Corza.     z6  8e  zoTg  jiaiSixoTg  XQi'joaoOai  XaxwviC^i-v  eXsyov. 

28.  xcoXaßol  (II,   563)  =  Xdozavgoi. 

29.  Xaijtog  (III,  6)  =^  xivaidog  XMOzavQog. 

31.  XaoLzög  (III,   15)  =  xivaidog.     1)  XEOizög  =  jiÖQVtj. 

32.  Xrjxäadai  (III,  33)  =  :iEoaivEodai. 

33.  Maoixav  (111,72)  =  xivaiöov.    01  ds  vjioxÖQia/iia  Jiaidi'ov  ciggsrog  ßaqßanixov. 

34.  %>avvaQig  (III,    139)  =  xivaidog. 

35.  vsßXdgai  (III,    144)  =  nEQalvEiv. 

36.  68dya  (III,    178)  =  xaza:Tvyon'.      TaoavzTvoi. 

37.  7iao/t]zia   (III,   291)  =  rj  atayoäg  ijSovijg  ijzzäzai^). 

38.  jzaiSoTiiJiag  (III,   255)  =  dooEvoßdz7]g,  dv8Qoßnzrjg. 

39.  jiaoiozaoßai  (III,   286)  =  rö  dojid^Eiv  zovg  jiai8ag. 

41.  oiozvid^Eiv   [jiovvidCEiv^    (III,  366)   =   rö  jiai8ixoTg  XQiiodai.     Jiözviov  ydg  zov 
8axzvX(i)ov  Xeyovai. 

43.  oaxxivoavxoi  (IV,  4)  =  8aavjiQcoxzoi. 

44.  OKjpvid^Etv    (IV,    36)  =  xazaSaxzvXi^Eiv.      8taߣßXrjvzai    yaQ    01    Züfvioi.    log 
7iai8ixoig  yocofisj'oi.     aicpvidoai  ovv  z6  oxif^iaXlöai "). 

oxifiayiaai  (IV,  45)  =  xaza8axzvXiaai. 


i)  Vgl.    zu    dem    Worte    :zaoyj]Tidco    und    :^aay)jziaoß6g    die    Bemerkungen    bei    J. 
Rosenbaum,  Geschichte  der  Lustseuche  u.  s.  w.,  S.  177,  Anm.  2. 
2)  Vgl.  hierzu  Rosenbaum  a.  a.  O.,  S.  130 — 131. 


-      5-'8      - 

45.  ovxäCfi  (IV,   92)  =  To  y.riQFir  h>  xaig  egonoiaig  nfiiXiaig. 

46.  ofplyxtai  (IV,    115)  =  Ol  xivaiöoi,  xal  djiaXoi'^). 

49.  TavQog  (IV,    133)  =  älXoi  de  rov  JiaideQaoTtjv.     xal  zu  yvvaixsiov. 

47.  Ti/iidva^  (IV,    157)  =  o  TZQCoxrög. 

48.  Tirdv  (IV,    160)  =  jiaidegaazijg. 

50.  ^akx iSiCsiv  (IV,   270)   ==   UTio  iwv  xai'  Evßoinr   '/^alHibicov.      rißsim    de   xal 
EJil  tcöv  jtai8sQaorovvro)v,  Insl  inXsö^'aQov  naq"  avTOig  01  Jiatdixol  egoneg"^). 

51.  yjwQog  (IV,  316)  =  naidsQaatrjg. 

52.  8i£za{C)QiatQiai    (I,   510)   =  yvvaixsg   ai    zezga/.i/Lisvai    sigog    zag    izaigag    im 
ovvovoia,  (hg  01  ärdgsg.     olov  zgißädsg^). 

Unter  den  Rubriken  „Alia  ad  rem  veneream  pertinentia"  (21) 
und  ixotioi  (19)  werden  verschiedenartige  sexuelle  Bethätigungen 
und   Perversionen   zusammengefasst.     Darunter   seien    hervorgehoben: 

2.  ßXi^iä'Qeiv  (I,   381)  =  tÖ  zizOoXaßsTv. 

3.  yvcozi^  (I,   439)  =  dÖEkcprj.     r]   ioco/ii^'ij. 
5.    ivd-i'icov   (II,   99)  =  EQOiZlxÖv. 

17.    oiazQog  (III,    190)  =  dcpgodioioiv  jivQcooig,  Exxavoig. 

3.  daXioy^eiv  (I,   457)  =  ^ö  jiaiSl  ovreTvai.    ' AfiJTQaxionai.    ziv'tg  öe  z6  fj.oi/Evetv. 
dalio}(6g  (I,  457)  :^  [xoiyßg. 

4.  drjfiöxoivog  (I,  482)  =^  8i]/x6aiog  ßaaaviazrjg.     Jiogvog. 

5.  'E^rjXEOzog    (II,    124)    =    rjzaigrjxwg.       od'EV    xal    zovg    jiQOJXzovg    6f.io)VVfio}g 
'E^tjxBOzovg  sXeyov. 

6.  EjiaXXaxEVEZo  (II,    134)  ^  JiaX(X)axfj   Eyqrjzo. 

7.  eniJieiQsi  (II,    163)  =  fiot^EVEzat,  rj  j^ioiyevEi. 

8.  xaXEÖg  (II,  397)  =  fMoiyog. 

9.  xor'tJioÖEg  (II,  5'3)  =  vjtod/j^iaza  /loi/ixd. 

10.    Äaxidöai    (III,   8)   =   Örj/iiog    zfjg  ^ÄTZixiig,    Qaq^avt^ag    q^sgcov,    ov    ejiißoiövzai 

xazd  zöjv  fwiyöJv. 
Tl.    ixoiyozvjzrj  (III,    116)  =  rj  vjio  fiorytov  zvjizofisi'tj. 

12.  fioiydygia  (III,   II 6)  =  zd  zfjg  fioiysiag  dygEV/naza. 

13.  /Liv^Xög  (III,    134)  =  oxoXiog,  oyEinr'jg,  Xäyvrjg,  /.loiyög,  dxgazrjg. 

14.  oixoip^oQovg  (III,    185)  =  fxoixovg. 

15-    gaqyavidw&rjvai  (III,   423)  =  zovg  fwiyovg  zaig  gacpavioiv  fj?Mvvov  xazd  zfjg 
i'dgag. 

16.  oxsgoXiyyEg  (IV,  42)  =  Xaixaazai.     rj  wniozai.     in  annotatione:    „Is.  Vossius, 
qui  vertit  „cunnilingi". 

axEgög  =  atdoioXEixzrjg. 

17.  zEv&ai  (IV,    141)  =  AojJTOf^t'zat.    /loiyoi. 

18.  rplXiTiJioi  (IV,    244)  =  fioiyoL 

19.  zoysga  (IV,    162)  =  /.loiydg. 


i)  Vgl.  hierzu  Rosenbaum  a.  a.  O.,  S.    122. 

2)  Ibidem,  S.    130. 

3)  Ibidem,  S.  158. 


—     529     — 

Die  Griechen  lassen  sich  in  Beziehung  auf  die  Reichhaltigkeit 
der  erotischen  und  obscönen  Terminologie  und  den  naiven  Gebrauch 
derselben  im  gewöhnlichen  Leben  am  meisten  mit  den  Franzosen  des 
15.  bis  17.  Jahrhunderts  vergleichen.  Auch  die  späteren  Hellenen 
unterscheiden  sich  in  dieser  Beziehung  von  den  gleichzeitigen  Römern, 
bei  denen  eine  merkwürdige  Verschleierung  erotischer  Dinge  durch 
Convenienz  und  sittliche  Heuchelei  zu  konstatieren  ist,  während  bei 
den  auch  später  noch  unbefangenen  und  aufrichtigen  Griechen  eine 
fast  unbeschränkte  Freiheit  in  dem  Gebrauche  der  obscönen  Aus- 
drücke fortbestand. 

Die  altrömische  Sprache  allerdings  ist  in  Beziehung  auf  Derb- 
heit und  drastische  Charakteristik  der  obscönen  Dinge  der  griechi- 
schen bedeutend  überlegen.  „Keine  Schriftsprache",  sagt  Paldamus, 
„ist  so  reich  an  Wörtern  zur  Bezeichnung  der  crudesten  physischen 
Geschlechts -Beziehungen,  als  die  ältere  römische.  Beweise  davon 
sind  die  alten  Glossarien,  namentlich  Nonius  und  Festus.  Ich  meine 
damit  nämlich  Wörter  in  ihnen  wie  scraptae,  scrupedae  u.  a.  bei 
Ersterem,  ancunulentae,  bubinare,  intercutitus,  strutheus  und  die  viel- 
fachen Synonyme  von  stuprare  bei  dem  Letzteren.  Wörter,  welche 
alle,  einer  geistreichen,  anmutigen  Frivolität  ermangelnd ,  nur  den 
Charakter  einer  dumpfen  Sinnlichkeit  an  sich  tragen"  i). 

Obscöne  Dinge  mit  nackten  Worten  nennen,  hiess  deshalb  be- 
zeichnender Weise  „latine  loqui"''^). 

In  späterer  Zeit  allerdings  trat  an  die  Stelle  der  derben,  aber 
offenen  und  ehrlichen  Pornologie  eine  verlogene  Prüderie,  die  nicht 
nur  diese  Dinge  nicht  mehr  beim  richtigen  Namen  nannte,  sondern 
auch  in  den  harmlosesten  Worten  und  Wortspielen  etwas  Unreines 
witterte,  nach  dem  alten  Worte:  Castis  omnia  casta,  incestis  multa 
incesta. 

Fr.  Ritter  hat  in  einer  interessanten  Abhandlung^)  diese  der 
späteren  Zeit  der  verfeinerten  Kultur  angehörige  Thatsache  in  an- 
sprechender Weise  zu  erklären  versucht.  Ein  Teil  seiner  Ausfüh- 
rungen sei  hier  wiedergegeben. 

„So  hört  deijenige,  welcher  in  sinnlicher  Lust  seine  angenehmste  Befriedigung  findet, 
zwar    nicht   ungern    von   den  Gegenständen    derselben   sprechen,    fühlt   sich   indessen   in    eine 


i)  Hermann  Paldamus,  Römische  Erotik,  Greifswald    1833.  S.  19. 

2)  C.  Rambach,  Thesaurus  eroticus  linguae  latinae,  Stuttgart   1833,  S.  167. 

3)  Fr.    Ritter,     Übertriebene    Scheu    der    Römer    vor    gewissen    Ausdrücken    und 
Wortverbindungen.     lu:   Rhein.  Museum  für  Philologie.     Alte  Folge,  Bd.  III,  Bonn    1835, 

s.  569-580- 


—     530     — 

unbehaglicbe  Stimmung  versetzt,  wenn  diese  durch  eine  einfache  Bezeichnung  die  Würde, 
welche  sie  in  seinen  Augen  besitzen,  verlieren  und  in  ihrer  Nacktheit  aufgedeckt  werden. 
Dagegen  verschafft  ihm  jede  Unterhaltung  und  Darstellung,  welche  seinen  Sinnen  'schlüpfrige 
Bilder  unter  einer  reizenden  und  dunklen  Hülle  vorführt,  einen  grossen  Genuss,  weil  dadurch 
den  Objekten  seiner  Begierde  eine  höhere  Bedeutung  beigelegt  wird  .  .  .  Ein  Volk,  dessen 
Sitten  noch  unverdorben  geblieben  und  dessen  Bildung  noch  nicht  in  Verbildung  ausgeartet 
ist,  spricht  gewöhnlich  unbefangen  oder  doch  nur  mit  einer  massigen  Scheu  die  Namen  der- 
jenigen Dinge  aus,  welche  den  Menschen  an  sein  sinnliches  Dasein  und  das  thierische  Element 
seines  Wesens  am  meisten  zu  erinnern  geeignet  sind:  ist  aber  Üppigkeit  oder  eine  unnatürliche 
Verfeinerung  an  die  Stelle  der  alten  Einfachheit  und  Kräftigkeit  getreten,  so  wird  die  Rede- 
freiheit in  dieser  Beziehung  einer  konventionellen  Censur  unterworfen.  Dabei  bleibt  man 
indessen  nicht  stehen;  man  geht  noch  einen  Schritt  weiter,  und  leiht  einer  Anzahl  von 
Ausdrücken  eine  ihnen  früher  ganz  fremde  obscöne  Bedeutung,  und  diese  werden  alsdann 
gerade  so  wie  die  eben  genannten  geächtet,  weil  man  den  Schein  des  Auslands  und  der 
Sittlichkeit  gern  noch  beibehält,  wenn  man  das  Wesen  derselben  schon  aufgegeben  hat. 
In  dieser  falschen  Scham  steigt  man  endlich  noch  eine  Stufe  höher,  und  ächtet  solche  Wort- 
Verbindungen,  wodurch  die  Erinnerung  an  ein  schmutziges  Wort  durch  einen  ähnlichen 
Klang  hervorgemfen  werden  hönnte." 

Was  nun  die  erste  Art  der  für  die  spätere  Zeit  so  charakte- 
ristischen falschen  Scham  betrifft,  nämlich  die  übertriebene  Scheu, 
die  Namen  der  geheimen  Teile  auszusprechen,  so  hat  Cicero  (De 
officiis,  I,  35,  126)  dies  gewissermassen  durch  das  Vorbild  der  Natur  zu 
erklären  versucht,  die  diese  Teile  selbst  mehr  ins  Verborgene  ge- 
rückt habe^).  Noch  interessanter  und  für  unser  Thema  bedeutungs- 
voller sind  die  Aeusserungen  des  Cornelius  Celsus,  die  als  merk- 
würdiger Beleg  dafür  dienen  können,  daß  selbst  in  rein  wissen- 
schaftlichen und  sogar  in  medizinischen  Büchern  die  Benennungen 
der  Geschlechtsteile  als  obscön  galten. 

Die  denkwürdige  Stelle  bei  Celsus  (De  medicine,  Lib.  VT, 
cap.   18,   I,  „De  obscoenarum  partium  vitiis")  lautet: 

„Proxima  sunt  ea,  quae  ad  partes  obscoenas  pertinent.  Quarum 
apud  Graecos  vocabula  et  tolerabilius  se  habent,  et  accepta  jam  usu 
sunt,  cum  in  omni  fere  medicorum  volumine  atque  sermone  jactentur; 
apud  nos  foediora  verba,  ne  consuetudine  quidem  aliqua  verecundius 
loquentium  commendata  sunt:    ut  difficilior  haec  explanatio  sit,  simul 

i)  Principio,  corporis  nostri  magnam  natura  ipsa  videtur  habuisse  rationem:  quae 
formam  nostram  reliquamque  figuram,  in  qua  esset  species  honesta,  eam  posuit  in  promtu: 
quae  partes  autem  corporis,  ad  naturae  necessitatem  datae,  adspectum  essent  deformem  ha- 
biturae  atque  tuq:)em,  eas  contexit  atque  abdidit.  Hanc  naturae  tam  diligentem  fabricam 
imilata  est  hominum  verecundia.  Quae  enim  natura  occultavit,  eadem  onmes  qui  sana  mente 
sunt,  removent  ab  oculis:  ipsique  necessitat,  dant  bperam,  ut  quam  occultissime  pareant: 
quarumque  partium  corporis  usus  sunt  necessarii,  eas  neque  partes,  neque  earum  usus  suis 
nominibus  appeilant:  quodque  facere  turpe  non  est,  modo  occulte;    id  dicere  obscoenum  est. 


—     53'      — 

et  pudorem,  et  artis  praecepta  servantibus.  Neque  tarnen  ea  res  a 
scribendo  deterrere  me  debuit.  Primum,  ut  omnia,  quae  salutaria  ac- 
cepi,  comprehenderem:  dein,  quia  in  vulgus  eorum  curatio  etiam  prae- 
cipue  cognoscenda  est,   quae  invitissimus  quisque  alteri  ostendit." 

Interessant  ist  auch  hier  der  von  Celsus  hervorgehobene 
Gegensatz  zwischen  der  offenen,  freien,  ungezwungenen  Redeweise 
der  griechischen  Aerzte  und  Laien  und  der  die  Naturalia  verschleiern- 
den Prüderie  und  Heuchelei  der  Römer,  die  sogar  die  freie  wissen- 
schaftliche Forschung  beeinflusst  und  beeinträchtigt  hat.  Allerdings 
muss  man  in  letzterer  Beziehung  vorsichtig  urteilen.  Denn  Celsus 
war  kein  Arzt,  sondern  ein  universell  gebildeter  Laie^),  dessen  An- 
sichten über  diesen  Punkt  vielleicht  besonders  deutlich  aus  seiner  laien- 
haften konventionellen  Auffassung  des  Geschlechtlichen  entspringen. 
Uebrigens  hat  neuerdings  Sepp-)  die  seltsam  rückständigen  An- 
schauungen des  Celsus  daraus  abgeleitet,  dass  er  der  Schule  der 
pyrrhoneischen  Skepsis  angehörte,  deren  ngaoDjg  und  sTtox/]  sich  mit 
solchen  Dingen  nicht  vertrugen,  und  die  Skeptiker  sowohl  die  direkte 
Aussprache  aller  auf  die  Genitalien  bezüglichen  Dinge  scheuten  als 
auch  die  Behandlung  dieser  Krankheiten.  Dieser  spezifische  Stand- 
punkt kommt  besonders  in  den  Schlussworten  des  oben  wieder- 
gegebenen Ausspruches  zum  Ausdruck.  Er  darf  gewiss  nicht  ver- 
allgemeinert werden,  wie  dies  Rosenbaum 3)  gethan  hat,  der  daraus 
die  kühne  Schlussfolgerung  zog,  dass  die  antiken  Aerzte  nur  sehr 
selten  Gelegenheit  zur  Behandlung  von  venerischen  Leiden  gehabt 
hätten,  weil  diese  falsche  Schamhaftigkeit  die  Patienten  ferngehalten 
habe. 

Diese  irrige  Annahme  weist  schon  Dietrich  in  seiner  Be- 
sprechung des  Rosenbaum'schen  Buches  (Neue  medizinisch-chirur- 
gische Zeitung,  herausg.  von  J.  N.  Ehrhart,  Innsbruck  1840,  Bd.  III, 
S.  250)  zurück.  Sehr  treffend  meint  er:  „Selbst  gesetzt,  aber  nicht 
zugegeben ,  jene  seien  vermöge  der  vom  Verfasser  angeführten 
Gründe  der  Beobachtung  und  Behandlang  der  Aerzte  entzogen  ge- 
wesen, müssen  wir  nicht  vergessen,  dass  Aerzte  auch  Menschen  sind, 
Leidenschaften    wie   Schwächen    und    Laster   mit  diesen   teilen.     Und 


i)  Vgl.  Iwan  Bloch,  Artikel  ,, Celsus"  in  Neuburger-Pagel,  Handbuch  der 
Geschichte  der  Medizin,  Jena   1902,  Bd.  I,  S.  417. 

2)  Sepp,  Pyrrhoneische  Studien,  Freising  1893,  S.  19.  —  Dieser  Schule  war  sogar 
das  Wort  ,,hemia"  ein  nomen  indecorum  (Celsus  VII,  18).  —  Vgl.  über  die  Prüderie  des 
Celsus  auch  Quintilian,  Inst.   Or.   VIII,   3,   47. 

3)  Rosenbaum  a.  a.   O.,   S.   398  ff. 


—     532     — 

sollten  da  keine  Selbstbeobachtungen  beim  Unterliegen  dieser  Krank- 
heit, und  infolge  dessen  auch  Schilderungen  des  Uebels  zum  Besten 
der  leidenden  Menschheit  hervorgetreten  sein?" 

Auch  die  Frage  ist  am  Platze,  ob  denn  jene  angebliche  Scham- 
haftigkeit  grösser  gewesen  sei  als  die  heftigen  Schmerzen  lokaler 
venerischer  Leiden,  wie  des  Trippers  und  Schankers,  die  ganz  von 
selbst  den  Patienten  zum  Arzte  treiben  mussten.  Das  bezeugt  ja 
schliesslich  auch  Celsus  selbst  durch  die  von  ihm  gegebene  inte- 
ressante Beschreibung  dieser  örtlichen  Genitalleiden,  auf  die  wir 
später  zurückkommen  ^). 

Die  römischen  Dichter  nahmen  jedenfalls  in  dem  Gebrauche 
der  sogenannten  freien  Ausdrücke  einen  anderen  Standpunkt  ein  als 
jene  wissenschaftlichen  Autoren  vom  Schlage  des  Celsus.  Bei 
Horatius,  CatuUus,  Martialis  finden  wir  Ausdrücke  wie  „mentula", 
„penis",  „cunnus"  etc.  frank  und  frei,  sans  gene  gebraucht.  Nach 
Ritter  waren  diese  Männer  durch  eine  g'riechische  Bildung  über 
die  römische  Convenienz  erhoben  worden.  Das  Studium  der  lateini- 
schen erotischen  Terminologie  beweist  diesen  griechischen  Einfluss, 
wie  dasjenige  der  Inschriften  und  der  sogen.  Mauerpornographie, 
z.  B.  von  Pompeji  die  weite  Verbreitung  obscöner  Ausdrücke  auch 
im  Volke  bestätigt  und  die  Versicherung  des  Carmen  Priapeum  XXIX 

Obscenis,  peream,  Priape,  si  non 
uti  me  pudet  improbisque  verbis 

ist  nur  cum  grano  salis  zu  nehmen. 

Freilich  trieb  die  den  Römern  eigene  Prüderie  —  in  dieser 
Beziehung  sind  sie  die  Engländer  des  Altertums  —  seltsame  Blüten. 
So  wurden  gewisse  Worte  verpönt,  weil  sie  bei  älteren  Autoren  in 
irgend  einem  erotischen  Zusammenhange  vorgekommen  waren.  Z.  B. 
ductare  oder  patrare,  weil  bei  PI  au  tu  s  oder  Terentius  der  Aus- 
druck ductare  meretricem  oder  amicam  in  der  Bedeutung  von  con- 
cumbere  vorkommt.  Darüber  äussert  sich  Quintilian  (Instit.  Or.  VIII, 
3,  44)  folgendermassen: 

Sed  quoniam  vitia  prius  demonstrare  aggressi  sumus,  vel  hoc  vitium  sit,  quod 
y.ay.EjKpaJor'  vocatur;  sive  mala  consuetudine  in  obscoenum  intellectum  sermo  detortus  est, 
ut  „ductare  exercitus"  et  „patrare  bellum"  apud  Sallustium  dicta  sancte  et  anlique  videntur 
a  nobis  (quam  culpam  non  scribentium  quidera  iudico  sed  legentium,  tarnen  vitanda,  qua- 
tenus  verba,  et  vincentibus  etlam  vitiis  cedendum  est);  sive  iunctura  deformiter  sonat. 


i)  Vgl.  auch  die  kritischen  Bemerkungen  von  F.  A.  Simon,  Kritische  Geschichte  etc. 
der  Syphilis  etc.,  Hamburg  1857,  Bd.  I,  S.  242. 


Das  Wort  „patrare"  bezeichnet  schon  Cicero  (De  officiis  I,  35) 
als  ein  von  der  Convenienz  geächtetes.  Es  bezeichnet  auch  ticuöo- 
jioisTv,  abgeleitet  von  pater.  Deshalb  sagt  Cicero  an  der  erwähnten 
Stelle:  liberis  dare  operam  re  honestum  est,  nomine  obscoenum. 

Ebenso  erinnerten  sich  die  Römer  bei  dem  Zahlwort  „bini"  an 
das  obscöne  griechische  ßivel  Deshalb  sprach  ein  Urbanus  dieses 
Wort  nicht  aus  (Cicero  ad  Famil.  IX,  22). 

Das  Allerschlimmste  aber  war  die  Scheu  der  Römer  vor  obscönen 
—  Lauten!  So  wurde  die  Wortverbindung  „cum  nobis"  ängstlich 
vermieden,  da  sie  „cunnobis"  ausgesprochen  wird  und  dies  an  „cun- 
nus"  erinnert  hätte.  Deshalb  sagte  man  statt  dessen  ,,nobiscum". 
(Vgl.  Cicero,  Orator  c.  45,  §  154,  ad  Famil.  IX,   22;  Ouintilianus 

VIII,  3,  45.)     Ueber   das  Wort    „penis"   bemerkt   Cicero   (ad  Famil. 

IX,  22):  „Hodie  penis  est  in  obscoenis.  At  vero  Piso  ille  Frugi  in 
Annalibus  suis  queritur  adolescentes  peni  deditos  esse.  Quod  tu  in 
epistola  appellas  suo  nomine,  ille  tectius  penem". 

Wenn  man  zur  Zeit  des  Cicero  ein  obscönes  Wort  gebrauchen 
wollte,  sagte  man  entschuldigend:  sit  venia  verbo,  bonos  auribus  sit 
(unser  „mit  Respekt  zu  melden").  Das  hiess  „honorem  praefari"  ^}. 
Daher  nennt  Quintilianus  (VIII,  3,  45)  obscöne  Ausdrücke  und 
Wort- Verbindungen   „praefanda"  (griechisch  y.axejLKparov). 

Reichhaltiges  Material  für  den  vulgären  Gebrauch  obscöner 
Ausdrücke  liefern  die  pompej an i sehen  Wandinschriften  2),  von 
denen  wir  ein  sehr  drastisches  anführen  wollen: 

Hie  ego  nu[nc  fjutui. 
formosa(m)   fo[r]ma  puella(m), 
Laudata(m)  a  multis,  set  lutus  intus  erat. 

(Garrucci  A  No.   2.) 

Die  Unsitte  dieser  obscönen  Inschriften^),  auf  deren  speziellen 
Inhalt  wir  noch  öfter  zurückkommen  werden,  wird  auch  im  Carmen 
Priapeum  XLIX  erwähnt: 


i)  ,,Si  dicimus  „ille  patrem  strangulavit",  honorem  non  praefaniur.  Sin  de  Aurelia 
aliquid  aut  LoUia,  honos  praefandus  est.     (Cicero  ad  Famil.  IX,   22.) 

2)  Vgl.  F.  Buche  1er,  Die  pompejanischen  AVandinschriften  (Rhein.  Museum  für 
Philologie,  N.  F.,  Bd.  XII,  Frankfurt  a.  IM.  1857,  S.  241  —  260);  Raphael  Garrucci, 
Inscriptions  gravees  au  trait  sur  les  murs  de  Pompei,  Brüssel  1854  (besonders  Anhang, 
Tafel  A). 

3)  Vgl.  über  diese  auch  den  Index  zu  Zange meister.  Corpus  Inscriptionum  Lati- 
nanun,  Berlin   1871,  Bd.  IV. 


—     534     — 

Tu,   quicunque  vides  circa  tectoria  nostra 
non  nimium   casti  caimina  plena  ioci. 
versibus  obscenis  offendi  desine:  non  est 
mentula  subducti   nostra  supercilii. 

Dem  Exhibitionismus  in  Gebärde,  Wort  und  Schrift  entsprach 
derjenige  durch  die  Kleidung  und  den  Körper.  Die  durchsich- 
tigen Gewänder,  die  die  intimsten  Reize  in  halber  Verhüllung  nur 
um  so  lockender  zeigten  und  vielleicht  auf  ägyptischen  Ursprung 
zurückzuführen  sind^),  wurden  besonders  in  der  hellenistischen  Epoche 
und  in  der  römischen  Kaiserzeit  allgemeine  Volkstracht.  Musseline 
und  chinesische  Seide  wurden  für  diese  durchsichtigen  Zeuge  haupt- 
sächlich verwendet  und  nicht  nur  von  Frauen,  sondern  auch  von 
weichlichen  Männern  getragen  ''^).  Solche  Kleider  waren  natürlich 
namentlich  bei  den  Hetären  beliebt.  Von  den  Flötenspielerinnen, 
welche  bei  der  Hochzeit  des  Makedoniers  Karanos  auftraten,  sagt 
Hippolochos  (Athen.  IV,  p.  i2gA),  dass  sie  ihm  völlig  nackt 
erschienen  seien,  bis  einige  der  Gäste  ihn  belehrten,  dass  sie  Chitonen 
trügen.  Dass  auch  anständige  Frauen  solche  tricotartige,  durchsich- 
tige Gewänder  trugen,  beweist  eine  Aeusserung  des  Theokrit 
(Idyll.  XXII  [XXVIII],  lo),  wo  es  von  der  Spindel,  die  er  der 
Gattin  seines  Freundes  Nikias  schenkt,  heisst: 

avv  zq  ji6)J.a  fiev  F'gy    exzeXeosig  dvdoetotg  TiEJiXoig, 

nöU.a  d'ola  yvvaiy.sg  (joosoia'   {'ddrira  [durchsichtige]  ßQaxrf. 

„Eine  Reihe  von  Thatsachen  aus  dem  Leben",  sagt  Helbig^), 
„bezeugt,  wie  die  Griechen  seit  der  Mitte  des  vierten  Jahrhunderts 
vor  Christo  in  der  emanzipiertesten  Weise  der  Lust  an  der  weib- 
lichen Nacktheit  huldigten.  Bei  dem  Feste  von  Eleusis  entkleidete 
sich  Phryne  und  stieg  unter  dem  Jubel  der  Versammelten  zum 
Bade  in  den  Fluss  hinab  (Athen.  XIII,  p.  590 F).  Hypereides  soll 
dieselbe  Hetäre  bei  einem  Prozesse  vor  der  Verurteilung  gerettet 
haben,  indem  er  ihren  Chiton  zerriss  und  die  Richter  durch  den 
Anblick  ihres  Busens  verwirrte  (Stelle  bei  Becker,  Charikles  II  •^, 
S.  55).  Dem  Anaxarchos,  dem  Schmeichler  Alexanders  des  Grossen, 
wartete   ein  schönes  Mädchen,    vollständig   nackt,    als    Mundschenkin 


i)   Vgl.  J.  G.  Wilkinson,    Manners  and   customs   of    the  Ancient  Egyptians,    Lon- 
don   1837,  Bd.  II,   S.  333. 

2)  Ludwig  Friedländer,    Darstelhmgen   aus  der  Sittengeschichte  Roms,    6.  Aufl., 
Leipzig  1890,  Bd.  III,  S.  68. 

3)  Wolfgang  Heibig,  Untersuchungen  über  die  campanische  Wandmalerei,  Leipzig 
1873,  S.   262. 


—      535      — 

auf  (Klearchos  von  Soloi  bei  Athen.  XII,  p.  548  B).  Während 
eines  Gastmahles,  welches  König  Antigonos  Gonatas  zu  Ehren 
einer  arkadischen  Gesandtschaft  gab,  zeigten  thessalische  Tänzerinnen, 
nur  mit  einem  Gurte  bekleidet,  ihre  Künste  (Athen.  XIII,  p.  607  C). 
Bei  der  Hochzeit  des  Makedoniers  Karanos,  die  wir  aus  der  Be- 
schreibung eines  Augenzeugen,  des  Hippolochos,  kennen,  traten 
nackte  Gauklerinnen  auf,  welche  mit  blanken  Schwertern  gefährliche 
Kunststücke  anstellten  und  Feuer  spieen  (Athen.  IV,  p.  120D).  Die 
späteren  Vasenbilder,  auf  welchen  Gauklerinnen  dieser  Art,  ganz 
nackt  oder  nur  mit  einem  Schurze  oder  mit  einer  durchsichtigen 
Hose  bekleidet,  öfters  vorkommen  (Archäol.  Zeitung  1850,  Taf.  21; 
O.  Jahn,  Arch.  Beitr.,  S.  332),  bezeugen,  dass  solche  Schaustellungen 
in  der  hellenistischen  Epoche  allgemein  beliebt  und  verbreitet  waren. 
Bekannt  ist  endlich,  wie  die  damaligen  Hetären  die  reflektierte  Ent- 
blössung  in  ein  System  gebracht  hatten  (Alexis  bei  Athen.  XIII, 
p.  568)". 

Die  Vasenmalerei  der  alexandrinischen  Zeit  sowie  besonders  die 
bildhchen  Darstellungen  auf  den  späteren  etruskischen  Spiegeln  und 
den  praenestiner  Cisten  schwelgen  in  der  möglichst  raffinierten  Dar- 
stellung der  weiblichen  Nacktheit,  für  die  auch  im  Leben  die  Hetären, 
Gauklerinnen  und  Flötenspielerinnen  die  meisten  Vorbilder  lieferten. 
In  Rom  waren  die  berüchtigten,  nichts  verhüllenden  kölschen  Flor- 
kleider hauptsächlich  eine  Tracht  der  Prostituierten  i). 

3.  Was  die  Erscheinung  des  sexuellen  Elementes  in  der  Litte- 
ratur  betrifft,  so  kann  man  —  trotz  der  Existenz  raffinierter  Lehr- 
bücher der  Ars  amandi  bei  den  Indern  —  die  Griechen  als  die 
eigentlichen  Schöpfer  der  sogen,  „erotischen"  Literatur  und  der  Porno- 
graphie im  engeren  Sinne  bezeichnen.  Darin  wurden  sie  die  Vor- 
bilder der  Römer,  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit,  deren  bekannteste 
Produkte  auf  diesem  Gebiete  überall  Anklänge  an  die  griechisch- 
römische Erotik  verraten.  Es  ist  klar,  dass  diese  Literatur  bei  den 
Alten  ganz  anders  beurteilt  werden  muss  als  bei  den  Neueren,  da 
sie  bei  jenen  aus  einer  viel  naiveren  und  freieren  Auffassung  des 
Geschlechtlichen  entsprang  und  selbst  raffinierte  Perversitäten  ihnen 
in  anderem  Lichte  erschienen  als  später,  wo  der  durch  das  Christen- 
thum  scharf  betonte  Dualismus  von  Körper  und  Seele  das  rein  Ge- 
schlechtliche als  minderwertig  und  sündhaft  stigmatisiert  hatte.  Mit 
Recht  bemerkt  Friedländer 2),    dass   die   damaligen    völlig   von  den 

1)  Horat.  Sat.  I,   2,    loi    vgl.   Friedländer  a.  a.   O.,  I,   489. 

2)  a.  a.  O.,  I,  481. 


—      536      — 

unsrigen  verschiedenen  Anstandsbegriffe  ehrbaren  Frauen  Vieles  un- 
bedenklich erscheinen  liessen,  was  heute  jedes  weibliche  Schamgefühl 
empören  würde.  Es  ist  sogar  in  dieser  Beziehung  charakteristisch 
für  die  antike  Erotik,  dass  unter  den  überlieferten  Namen  v^on  Porno- 
graphen mehrere  weibliche  sich  befinden,  ganz  abgesehen  von  der 
fabelhaften  Astyanassa,  der  Magd  der  Helena,  die  nach  Suidas 
zuerst  über  die  Figurae   Veneris  geschrieben  h^lben  soll '). 

Als  eigentlicher  Schöpfer  der  nach  ihm  genannten  „sotadischen" 
Literatur  gilt  Sotades  aus  Maronea,  ein  Zeitgenosse  des  Ptole- 
maios  Philadelphos  (Athen.  XIV,  p.  620).  Er  führte  den  Beinamen 
xivaidoXoyog  fj  ImviKoloyog,  da  er  der  Hauptrepräsentant  der  lasciven 
Possenreisserpoesie  in  ionischen  Versen  war.  Nach  Christ 2)  knüpfte 
diese  Kinädenpoesie  zunächst  an  die  Trinklieder  des  loniers  Pyther- 
mos  und  die  unzüchtigen  Tänze  der  alten  lonier  (motus  ionici)  an, 
die  wie  auch  später  noch  zu  Petrons  Zeit  (Petron.  c.  23)  von  ge- 
meinen, unflätigen  Possenreissern  {xivaidoi)  auf  öffentlichen  Plätzen 
oder  bei  Weingelagen  zur  Belustigung  des  Volkes  und  der  Zech- 
genossen aufgeführt  wurden.  Die  sotadische  Poesie  war  ursprünglich 
als  ein  diese  obscönen  Tänze  begleitender  (jesang  gedacht.  Schon 
vor  Sotades  hatten  Alexander  Aetolus,  Pyres  von  Milet, 
Alexis  und  andere  solche  Lieder  gedichtet  (Athen.  XIV,  p.  620  c). 
Die  Darstellungen  erotischer  Scenen  in  diesen  Tänzen  veranlasste 
dann  wohl  die  verschiedenen  litterarischen  Produkte  über  die  sogen. 
Figurae  Veneris,  die  Stellungen  beim  Coitus.  So  wird  der  Philänis 
von  Samos  ein  Buch  jisgl  noiKiXaiv  oyi]fA,uxa>v  acpQodioicov  zugeschrieben 
(Priap.  LXIII,  17;  Lukian.  pseudol.  c.  24),  das  aber  nach  Aeschrion 
(Athen.  VIII,  335  c)  den  athenischen  Sophisten  Polykrates  zum 
Verfasser  haben  soll.  Nicht  bestritten  wird  die  Autorschaft  der 
Elephantis,  die  verschiedene  Bücher  über  die  Figurae  Veneris  und 
die  Liebeskunst  schrieb,  an  deren  üppigen  Darstellungen  sich  u.  a. 
der  Kaiser  Tiberius  (Sueton.  Tiberius  c.  43)  ergötzte,  der  sein  Schlaf- 
zimmer mit  diese  vSchilderungen  illustrierenden  lasciven  Bildern  aus- 
schmücken liess.  Auch  im  vierten  Carmen  Priapeum  ist  von  der- 
artigen schamlosen  Zeichnungen  aus  den  Büchern  der  Elephantis  die 
Rede,    die  Lalage  dem  Priapos    mit    der  Bitte    um  Nachprüfung   dar- 


i)  Citat  aus  Suidas  bei  Antonii  Panormitae  Hermaphroditus  cd.  F.  C.  Forberg, 
Koburg    1824,   S.    207. 

2)  Wilhelm  Christ,  Geschichte  der  griechischen  Litteratur  bis  auf  die  Zeit  Justi- 
nians,   Nürdlingen    1889,   S.   413. 


—     537     — 

bringt,  ob  sie  als  eine  gelehrige  Schülerin  alle  diese  abgemalten 
Varianten  des  Coitus  getreulich  nachmachen  könne.  Auf  diese 
Schilderungen  beziehen  sich  auch  Ovid's  Worte  (de  arte  amator. 
II,  680): 

. . .  Venerem  iungunt  per  mille  figuras, 

Inveniat  plures  nulla  tabella  modos. 
vSuidas  erwähnt  das  „diodexäreivov  jteqI  tojv  aioxQ&v  ox'>]fio.Tcov"  eines 
gewissen  Paxamos  und  die  mit  dem  Beinamen  AwÖEKafirixavog  aus- 
gezeichnete Hetäre  Kyrene,  weil  sie  den  Beischlaf  in  zwölf erlei 
Weisen  vollzog  (cf.  Aristoph.  Ranae  1326  — 1328,  Thesmophor.  g8). 
In  der  hellenistischen  Zeit  blühte  auch  die  I.itteratur  der  Knaben- 
liebe, wofür  die  melancholischen  "Egcorsg  f)  xaXoi  des  Phanokles  und 
die  lüsternen  Epigramme  des  Rhianos  ein  Beispiel  sind^).  Diese 
homosexuelle  Dichtung  wird  auch  in  einem  bekannten  Epigramm  des 
Martial  (XII,  95)  gekennzeichnet,  wo  von  derartigen  Büchern  des 
Musaeus  die  Rede  ist: 

Musaei  pathicissimos  libellos, 

Qui  certant  Sybariticis  libellis. 

Et  tinctas  sale  pruriente  Chartas 

Instanti  lege  Rufe;  sed  puella 

Sit  tecum  tua,  ne  talassionem 

Indicas  manibus  libidinosis 

Et  fias  sine  femina  maritus. 
Eine  andere  erotische  Spezialgattung  war  die  Hetärenlitte- 
ratur,  als  deren  Vertreter  Athenaios  (XIII,  c.  21,  p.  567  u.  583) 
den  Aristophanes,  Apollodoros,  Ammonios,  Antiphanes  und 
Gorgias  nennt.  Diese  Bücher  scheinen  nach  den  Aeusserungen  des 
Kynulkos  bei  Athenaios  nähere  Angaben  über  die  Reize  und  Be- 
sonderheiten berühmter  Hetären  enthalten  zu  haben,  da  sie  in  Ver- 
bindung mit  Kupplern  genannt  werden.  Sie  gehören  zur  Gattung 
der  pornographischen  Litteratur,  wie  an  der  erwähnten  Stelle  aus- 
drücklich hervorgehoben  wird.  Das  berühmte  Werk  des  Kallistra- 
tos  TZEQi  haigcov  (Athen.  XIII,  p.  591)  war  besonders  hervorragend 
durch  seine  Wahrheitsliebe,  während  Machon  (Athen.  XIII,  p.  578 
bis  583)  ein  rein  anekdotisches  Werk  über  die  bekanntesten  Hetären 
herausgab.  Als  „Hetärendramen"  erwähnt  Athenaios  (XIII, 
p.  567  c)  die  „Thalatta"  des  Diokles,  die  „Korianno"  des  Phere- 
krates,    die    „Anteia"    des    Eunikos    oder   Philyllios,    die   ,  Thais" 


I)   Vgl.   Heibig  a.  a.   O.,   S.    249. 


-     538      - 

und  ,,Phanion"  des  Men ander,  die  „Opora"  des  Alexis  und  die 
„Klepsydra"  des  Eubulos, 

Das  berühmteste  Werk  der  hellenischen  Hetären litteratur  sind 
des  Lukianos  realistische  'EraiQixol  diäXoyoi,  in  denen  die  Künste 
und  Schliche  der  Buhlerinnen  höchst  anschaulich  geschildert  werden^). 

Als  besondere  Gattung  der  griechischen  Erotik  seien  noch  die 
egcoriyMi  ejiioTolai  erwähnt.  Solche  verfassten  Lesbonax,  Philo- 
stratos,    Zonaios,    Melesermos,    Alkiphron    und    Aristainetos. 

Früh  hat  sich  auch  bei  den  Römern  die  erotische  Litteratur 
entwickelt.  Aufzählungen  erotischer  Dichter  und  Schriftsteller  finden 
sich  bei  Gellius  (Noct.  att.  XIX,  g,  7;  9,  10),  Plinius  (Ep.  V,  3,  5), 
Ovid  (Trist.  II,  413  ff.).  Es  scheint  auch  sehr  früh  schon  eine  ero- 
tische Anthologie  veranstaltet  worden  zu  sein,  woraus  jene  Autoren 
ihre  speziellen  Kenntnisse  auf  diesem  Gebiete  schöpften  ^).  Nur  einige 
bedeutendere  Namen  der  römischen  Erotiker  sollen  hier  angeführt 
werden. 

Von  verschiedenen  Autoren  wird  ein  sechs  Bücher  umfassendes 
erotisches  Werk  des  Laevius  „Erotopaegnion  libri"  erwähnt^),  als 
Hauptvertreter  der  derb  erotischen  atellanischen  Volksprosa  gelten 
Novius  und  Lucius  Pomponius,  deren  Scenen  ebenso  wie  einzelne 
Stücke  des  Plautus  zum  Teil  im  Bordell  und  bei  Kupplern  spielen 
und  „zahlreiche  Obscönitäten  und  sonstigen  Schmutz"  enthalten*),  als 
Uebersetzer  der  lasciven  Erzählungen  ,,Milesiaca"  des  Aristides  der 
Pornograph  Sisenna  (Ovid.  Trist.  II,  443).  Die  Blüteperiode  der 
römischen  Erotik  beginnt  mit  der  augusteischen  Epoche.  Auf  diese 
Zeit  geht  die  Sammlung  obscöner  Gedichte  zurück,  zu  denen  der 
custos  hortorum,  Priapus,  Anlass  gab:  das  sogen.  „Corpus  Pria- 
peorum".  Ueber  dieses  äussert  sich  Paldamus^):  „Die  poetische 
Auffassung  des  Pöbelhaften  und  Gemeinen,  welche  wurzelnd  in  den 
Fescenninen,  weiter  ausgebildet  in  den  Priapeen,  ihren  Culminations- 
punkt  im  Petronius  erreicht.  In  der  Zeit  wie  im  Geiste  stehen  die 
Verfasser  der  unter  dem  Namen  „Priapeen"  bekannten  Gedichte,  so 
weit  sie  echt  sind,  der  Blüte  des  römischen  Staates  zunächst.  Ihre 
Berüchtigtheit  verdanken   sie    dem    schrankenlosen,    überkecken  Mut- 


1)  Vielleicht  bezieht  sich  auch  der  Ausdruck  „Didymae  puellae"    bei    Martial  XII, 
43  auf  ein  Hetärenbuch  mit  Anweisungen  zur  ars  amatoria. 

2)  Vgl.  W.  S.  Teuf  fei,   Geschichte  der  römischen  Litteratur,  Leipzig   1875,  S-   4^- 

3)  Ibid.   S.   241  —  243. 

4)  Ibid.  S.   244. 

5)  H.  Paldamus,  Römische  Erotik,  Greifswald    1833,  S.  84. 


— ■     539     — 

willen  und  der  dem  Altertum  überhaupt  eigenen  und  hier  besonders 
schroff  hervortretenden  Unbefangenheit,  mit  welcher  nicht  bloss  sinn- 
liche, sondern  auch  rein  physische  Dinge  geschildert  werden."  Die 
Autoren  der  priapischen  Gedichte  sind  unbekannt,  nur  Priap.  III 
stammt  zweifellos  von  Ovid  (Seneca  contr.  I,  2,  22)  und  Priap. 
LXXXII  und  LXXXIII  von  Tibull  (ed.  Bücheier  S.  155).  Vielleicht 
sind  hier  auch  Ticidas  und  Memmius  zu  nennen,  von  denen  Ovid 
(Trist.  II,  433)  sagt:  quid  referam  Ticidae,  quid  Memmi  Carmen,  apud 
quos  rebus  abest  nomen  nominibusque  pudor?,  ferner  Catullus,  den 
Propertius  (III,  32,  87)  und  Ovid  (Trist.  II,  427)  den  „lascivus  Ca- 
tullus" nennen.  Die  Berechtigung  dieses  Epithetons  geht  aus  den 
uns  erhaltenen  obscönen  Gedichten  hervor. 

Ovid  selbst  hat  in  seiner  berühmten  „Ars  amatoria"  die  ge- 
samte antike  Liebeskunst  in  ein  System  gebracht,  das  auf  rein  sinn- 
licher Basis  aufgebaut  ist,  wie  er  es  selbst  erklärt  (Trist.  II,  303). 

,,Wir  erblicken  in  ihr",  sagt  Pa Idamus,  ,,was  tausend  Menschen  der  Zeiten  Lud- 
wigs XIV.  und  der  Regentschaft  als  Einzelheiten  und  zur  Charakterisienmg  von  Individuen 
erzählen,  in  ein  System,  eine  Theorie  mit  Abstraktion  von  allen  Persönlichkeiten  gebracht. 
Er  ist  der  erste  und  einzige  römische  Dichter,  welchem  sich  die  Liebe  ganz  theoretisch  und 
objektiv  darstellte,  und  sein  Einfluss  auf  alle  Zeiten  ist  daher,  wie  der  des  IMacchiavell,  un- 
berechenbar gewesen.  Und  zwar  stellte  er  eine  Liebe  dar,  welche,  erwachsen  und  wurzelnd 
auf  sinnlichen  und  materiellen  Interessen  geleitet  ward  vom  Verstände  und  nur  flüchtige 
Buhlschaft  ist.  Denn  eine  gesunde,  allmählich  reifende  Gefühlsentwickelung  hatten  die 
Römer  nie  gekannt"^). 

Aehnhche  Bedeutung  wie  Ovids  Ars  amatoria  haben  für  die 
Kenntnis  des  römischen  Liebeslebens  die  satirischen  Darstellungen, 
wie  sie  in  den  Werken  eines  Petronius,  Juvenalis  und  Martialis 
uns  erhalten  sind  und  für  die  Kaiserzeit  ungefähr  die  Stelle  der 
älteren  Fescenninen,  Mimen  und  Atellanen  einnehmen,  was  die  Kritik 
der  allgemeinen  Korruption  und  der  Laster  einzelner  Personen  be- 
trifft. Petronius  „gefällt  sich  im  Schmutze,  aber  er  weiss,  dass  es 
Schmutz  ist,  und  bewegt  sich  frei  und  leicht  darin"  (Paldamus). 
Sein  satirischer  Roman  schildert  in  grellen  Farben  die  sittliche  Ver- 
kommenheit der  neronischen  Zeit.  Nur  die  berüchtigte  sechste 
Satire  des  Juvenalis  erreicht  ihn  an  furchtbarer  Gegenständlichkeit 
der  Schilderung  des  Lasters  und  an  Realismus.  Eine  vielleicht  noch 
reichere  Quelle  für  das  Studium  der  sexuellen  Korruption  und  der 
Psychopathia  sexuaHs  in  der  Kaiserzeit  bilden  die  Epigramme  des 
Martialis  in  14  Büchern.  Martial  selbst  nennt  als  seinen  Vor- 
gänger den  Domitius  Marsus,  einen  Zeitgenossen  des  Horaz,  und 
weist  auf  die  gleiche  lasciva  verborum   veritas  hin   (Lib.  I  praef.). 

i)   Paldamus  a.  a.   O.   S.   73- 
Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  "^^ 


—     540     — 

Als  poetischen  Schilderer  üppiger  Figurae  Veneris  nennt  Mar- 
tial  ferner  den  Sabellus,  dessen  Pornographie  er  in  dem  folgenden 
Epigramme  (XII,  43)  näher  charakterisiert: 

Facundos  mihi  de  libidinosis 
Legisti  nimium,  Sabelle,  versus, 
Quales  nee  Didymae  sciunt  puellae 
Nee  molles  Elephantidos  libelli. 
Sunt  illic  Veneris  novae  figurae, 
Quales  perditus  audeat  fututor, 
Praestent  et  taceant  quid  exoleti. 
Quo  symplegmate  quinque  copulentur 
Qua  plures  teneantur  a  catena, 
Extinctam  liceat  quid  ad  lucernam. 
Tanti  non  erat,  esse  te  disertum. 

Auch  die  Kaiser  Tiberius  (Plin.  Epp.  V,  3,  5)  und  Hadrian 
(Apulej.  Apol.  c.  II,  p.  410  ed.  Oudendorp)  werden  als  Verfasser 
lasciver  Gedichte  genannt,  und  aus  späterer  Zeit  sind  Maximianus^) 
und  Ausonius,  der  Verfasser  des  „cento  nuptialis",  als  Verfasser 
erotischer  Poesien  zu  erwähnen. 

Interessant  sind  Aeusserungen  des  Martialis  über  die  drastische 
Wirkung  obscöner  Lektüre  (XII,  95)  und  die  Vorliebe  der  Frauen 
für  solche  (III,  68).  Der  Arzt  Theodorus  Priscianus  empfahl  in 
seinen  Res  Medicae  (lib.  II,  c.  XI,  p.  22  C  der  ed.  Argentorat. 
1532  fol.)  sogar  die  Lektüre  erotischer  Bücher  zur  Heilung  der  männ- 
lichen Impotenz. 

4.  Wie  die  Litteratur,  so  wurde  auch  die  bildende  Kunst  bei 
den  Alten  im  weitesten  Umfange  in  den  Dienst  des  sexuellen  Genuss- 
lebens gezogen.  Die  Massenhaftigkeit  der  antiken  künstlerischen 
Produktion  machte  sich  auch  auf  erotischem  Gebiete  geltend. 

„Das  idassische  Altertum",  sagt  Eduard  Fuchs-),  „ist  für  die  Geschichte  der  ero- 
tischen Kunst  schon  deshalb  ein  unerschöpfliches  Gebiet,  weil  hier  infolge  verschiedener 
Umstände  das  gesamte  Kunstschaffen  geradezu  eine  ununterbrochene  Beweiskette  für  das 
Gesetz,  dass  Kunst  Sinnlichkeit  ist,  darstellt  ...  Es  giebt  kaum  eine  andere  Epoche,  aus 
der  uns  ein  ähnlich  reichhaltiges  Material  an  ausgesprochen  erotischen  künstlerischen  Dar- 
stellungen zur  Verfügung  steht.  Nirgends  so  wie  beim  Altertume  häuft  sich  heute  noch  in 
ähnlicher  Unerschöpflichkeit  das  Material  von  Tag  zu  Tag.  Wo  der  Spaten  ansetzt,  fördert 
er  auch  auf  diesem  Gebiete  neue  Belegstücke  zutage,  ganz  gleich,  ob  man  in  Aegypten,  in 
Griechenland  oder  in  Italien  den  alten  Schutt  wegräumt,  um  die  grosse  Vergangenheit  aus- 
zuschachten. Aus  diesem  Grunde  findet  sich  auch  heute  selbst  in  jeder  grösseren  Privat- 
sammlung eine  Reihe  von  beachtenswerten  Werken:  Broncen,  Terrakotten,  Münzen,  Gem- 
men, Fresken,  Marmorskulpturen  u.  s.  w.,    insgesamt   ein    unerschöpflicher  Reichtum  an  ver- 


i)  Paldamus  a.  a.  O.  S.   88—89. 

2)  Eduard    Fuchs,    Geschichte    der    erotischen    Kunst,    Berlin     1908,    S.   80- 
S.    143— 151. 


—     541      — 

bluffenden  Motiven  und  künstlerisch  starker  Gestaltungskraft.  Nach  den  erotischen  Schöpfungen 
der  Alten  sucht  man  aber  auch  in  öffentlichen  Sammlungen  nicht  vergeblich.  Manche  be- 
sitzen sogar  umfangreiche  und  besondere  Abteilungen  oder  Schränke  dafür,  wie  das  Museo 
nazionale  in   Neapel  und  das   Vatikanische  Museum   in   Rom  .  .  . 

Im  Rahmen  eines  solchen  Bildes  (des  römischen  Genusslebens)  wäre  das  Fehlen  direkt 
erotischer  Darstellungen  schon  deshalb  undenkbar,  weil  die  bildliche  und  figürliche  Vor- 
führung wollüstiger  Scenen  sich  immer  als  ein  wirkungsvolles  Stimulansmittel  erwiesen  hat; 
im  Dienste  der  Verführung  sowohl,  wie  um  die  erotischen  Freuden  zu  erhöhen.  Man  hat 
dieses  Mittel  darum  auch  im  Rom  jener  Zeit  in  starkem  Maasse  genützt.  Und  zwar  offen 
vor  aller  Welt  imd  sozusagen  in  demonstrativster  Weise.  Anders  kann  man  z.  B.  die  An- 
bringung grosser  erotischer  Freskogemälde  nicht  nennen.  Besonders  die  Wände  der  Speise- 
säle zierten  häufig  solche  Fresken  ...  In  den  Häusern  der  Hetären,  von  denen  der  vor- 
nehmsten bis  herab  zu  denen  der  Winkelhuren,  waren  die  Wände  ebenfalls  häufig  mit 
stark  gepfefferten  erotischen  Bildern  geschmückt.  Den  Beweis  dafür  liefert  die  Strasse  der 
Lupanare  in  Pompeji.  In  den  dort  befindlichen  Dirnenwohnungen  hat  man  bei  den  Aus- 
grabungen eine  ganze  Reihe  gut  erhaltener  erotischer  Wandgemälde  aufgefunden.  Speziell 
über  den  Lagern,  die  ehedem  als  Betten  dienten,  fand  man  solche  Bilder.  „Praktische  Ein- 
führungen in  die  Technik  der  Liebe"  könnte  man  die  hier  aufgefundenen  Darstellungen  be- 
zeichnen .  .  . 

Dass  die  Herstellung  direkt  erotischer  Kunstwerke  im  klassischen  Altertum  ein  über- 
aus blühendes  Gewerbe  gewesen  ist  und  niemals  blosse  Gelegenheitsarbeit  für  einige  wenige 
raffinierte  Liebhaber,  das  beweist  u.  a.  auch  die  grosse  Zahl  erotischer  Mosaiken,  die  man 
im  Laufe  der  Jahre  aufgefunden  hat.  In  Neapel  wird  eine  erotische  Mosaik  aufbewahrt, 
die  nicht  weniger  als  etwa  4  Quadratmeter  umfasst.  In  ziemlich  grossen  schwarzen  und 
weissen  Würfeln  ausgeführt,  stellt  sie  Liebesspiele  auf  dem  Nil  dar.  In  drei  Kähnen  hul- 
digen ebensoviel  Liebespaare  den  intimsten  Freuden  der  Wollust.  Dasselbe  Motiv,  nur  in 
kleinerem  Massstabe,   wurde  in  Pompeji  auch  noch  als  Freskogemälde  aufgefunden  .  .  . 

Waren  die  Wände  der  Lusthäuser  reicher  Römer  und  reicher  Hetären  mit  zum  Teil 
äusserst  kostbaren  erotischen  Freskogemälden  geschmückt  und  in  die  Fussböden  ebensolche 
Mosaiken  eingelassen,  so  standen  auf  den  Säulen  und  Kapitalen,  die  überall  angebracht 
waren,  erotische  Gruppen  aus  Marmor  und  Bronce.  Von  solchen  Stücken,  die  zugleich  die 
künstlerischsten  erotischen  Dokumente  der  Antike  repräsentieren,  hat  sich  infolge  der  Un- 
vcrgänglichkeit  des  Materials  eine  noch  grössere  Zahl  erhalten,  und  es  bedürfte  fürwahr 
eines  umfangreichen  Bandes  für  sich  allein,  wollte  man  auch  nur  diesen  Teil  der  erotischen 
Kunst  der  Antike  erschöpfend  katalogisieren  und  behandeln  .  .  . 

Selbstverständlich  blühte  auch  in  der  Kleinkunst  das  Erotische  aufs  üppigste.  Alles, 
was  zum  täglichen  Gebrauche  gehörte,  war  mit  erotischen  Darstellungen  geziert.  Vor  allem 
das  Tafelgeschirr,  und  die  Tonvasen,  dieser  Hauptartikel  der  antiken  Industrie.  Vasen  mit 
erotischen  Darstellungen  findet  man  nach  Hunderten,  zahlreiche  Museen  und  auch  viele 
Privatsammlungen  besitzen  solche  Stücke.  Erotische  Darstellungen  auf  Vasen  sind  überaus 
alt,  so  sind  aus  den  Gräbern  von  Apulien,  die  wohl  etruskischen  Urspnmges  sind,  zahlreiche 
Tonvasen  mit  erotischen  Darstellungen  ausgegraben  worden  .  .  . 

Zur  Kleinkunst  gehört  auch  der  Steinschnitt,  der  bekanntlich  niemals  sonst  eine  ähn- 
liche Höhe  erreicht  hat  wie  in  der  Antike.  In  den  Steinschnitten  begegnet  man  wohl  den 
allermeisten  erotischen  Darstellungen.  Die  Hauptgegenslände  der  Darstellung  waren  hier  die 
galanten  Liebesaffären  der  Götter,  besonders  häufig  Leda  mit  dem  Schwan,  Bacchuszüge 
mit  erotischen  Orgien,  Friapsfeste,  die  verschiedenen  Stellungen  beim  Liebesgenuss  und  selbst 
Tierbegattungsscenen.  Die  erotische  Gemme  war  zweifellos  ein  Haupthandelsartikel  in  der 
Antike  .  .  . 

35* 


—     542     — 

Man  hat  dem  Priapus  als  einzigem  Gott  keine  eigenen  Tempel  errichtet.  Dafür 
opferte  man  ihm  an  jedem  Strasseneck,  an  jedem  öffentlichen  Platz,  in  jedem  Winkel,  in 
jedem  Garten  stand  die  Säule  des  Gottes  von  Lampsakus,  strotzend  vor  Uebermut,  und 
grinste  frech  jedes  Alter  an,  Kind  und  Jungfrau,  Jüngling  und  Mann  .  .  . 

Die  Zahl  der  phallischen  Grotesken  und  ebenso  die  Mannigfaltigkeit  ihrer  Formen 
ist  unerschöpflich.  In  der  Mehrzahl  sind  sie  zweifellos  religiös-mj-stischen  Charakters.  In 
hunderterlei  Formen  weihte  man  dem  Gotte  Priapus  sein  Abbild  und  groteske  Darstellungen 
seines  Attributes,  um  ilin  in  irgendwelcher  Weise  günstig  zu  stimmen.  Religiös-mystisch 
war  auch  die  Anwendung  von  phallischen  Grotesken  als  Amulette:  Die  Zahl  dieser  Stücke 
und  ihre  Anwendung  muss  allem  Anscheine  nach  ganz  ungeheuer  gewesen  sein,  denn  gerade 
sie  findet  man  heute  noch  überall,  wo  in  ehemaligen  griechischen  und  römischen  Nieder- 
lassungen Ausgrabungen  vorgenommen  werden  .  .  .  Neben  diesen  phallischen  Grotesken 
religiös-mystischen  Charakters  gab  es  noch  solche  sozusagen  rein  weltlicher  Art.  Als  Spiel- 
zeug oder  Gebrauchsg^enstand.  Das  Priapszeichen  wurde  als  figürlicher  Schmuck  nach- 
weisbar an  einer  Menge  von  Gegenständen  im  Privatgebrauche  verwendet  .  .  .  Überschaut 
man  diese  unendliche  Fülle  von  Anwendungsformen  und  Anwendungsgelegenheiten  des 
phallischen  Motivs  in  grotesk  -  karikaturistischer  Gestaltung  und  bedenkt  dabei,  dass  selbst 
die  züchtigsten  Blicke  bei  tausend  Gelegenheiten  diesem  Gegenstande  begegnen  mussten, 
indem  er  ihnen  ständig  unter  die  Augen  trat,  und  dass  ein  Ausweichen  einfach  ein  Ding 
der  Unmöglichkeit  gewesen  wäre,  so  ergiebt  sich  daraus  der  Schluss,  dass  die  öffentliche 
Darstellung  in  jenen  Zeiten  als  etwas  ganz  Natürliches  angesehen  worden  sein  musste." 

Wenn  Hart.wig  den  Unterschied  zwischen  antiken  und  mo- 
dernen Darstellungen  darin  erblickt^),  dass  bei  ersteren  nie  der  Be- 
schauer als  Supplement  der  Darstellung  gedacht  ist  und  sie  rein 
objektiv  sind,  so  gilt  das  nur  für  die  ältere  Zeit,  nicht  für  die  spätere, 
wo  es  auf  die  Reizung  der  raffiniertesten  Sinnlichkeit  abgesehen  ist, 
auch  gilt  es  mehr  für  die  sakrale  als  für  die  profane  erotische  Kunst. 

Hierüber  bemerkt  Otto  Jahn:  „Es  finden  sich  unter  den  Vasen- 
bildern mit  roten  Figuren  einzelne  widerwärtig  obscöne.  Diese  sind 
nicht  auf  eine  Linie  zu  stellen  mit  den  Brutalitäten,  welche  auf  Vasen- 
bildern des  ältesten  und  alten  Stils  namentlich  im  Gefolge  der 
bacchischen  Lust  in  unverhüllter  Nacktheit  sich  zeigen;  was  dort  aus 
Rohheit  hervorgeht,  erscheint  hier  als  die  Folge  einer  verfeinerten 
raffinierten  Sinnlichkeit.  Damit  stimmt  es,  dass  solche  Darstellungen 
meistens  fein  und  sauber  ausgeführt  sind  —  für  Liebhaber,  die  es 
sich  etwas  kosten  Hessen.  Wir  wissen  ja  auch,  dass  selbst  ausge- 
zeichnete Maler,  wde  Parrhasios,  sich  herbeiliessen,  solche  libidines 
zu  malen,  die  meist  auf  Figurae  Veneris  hinauslaufen,  und  dass  auch 
die  Alten  ihre  quarante  manieres  hatten.  Dergleichen  Verirrungen 
von  Lüstlingen  soll  man  weder  leugnen  noch  beschönigen;  allein  sie 
in  eine  Klasse  bringen  mit  Aeusserungen  einer  frischen  Sinnlichkeit, 
die  sich  unbefangener  und  natürlicher  ausspricht  als  wir  es  jetzt  ge- 


i)  Paul  Hartwig  a.  a.  O.,  S.   347. 


—     543     — 

wohnt  sind,  ohne  verderbt  oder  verkehrt  zu  sein,  oder  mit  Vor- 
stellungen, die  auf  einer  eigentümlichen,  nicht  hinreichend  geläuterten 
religiösen  Anschauung  beruhen,  und  daraus  eine  allgemeine  Charak- 
teristik der  alten  Kunst  ziehen,   ist   ebenso  unberechtigt  als  unrecht". 

Wenn  allerdings  schon  Aristoteles  es  für  nötig  hielt  (Polit. 
VII,  17,  14,  II  p.  1336,  Bekker),  den  Behörden  Massregeln  zu  emp- 
fehlen, damit  die  Jugend  nicht  durch  den  Anblick  lasciver  Bilder 
und  Statuen  verdorben  werde,  so  dürfen  wir  annehmen,  dass  solche 
Kunstwerke  bereits  zu  seiner  Zeit  allgemein  verbreitet  waren.  Die 
alexandrinische  Epoche  war  jedenfalls  eine  der  Blütezeiten  der  antiken 
erotischen  Kunst,  und  die  meisten  Motive  der  Kaiserzeit  sind  dieser 
Epoche  entnommen.  Das  gilt  besonders  von  Mosaiken  und  Ge- 
brauchsgegenständen i).  Was  allerdings  die  obscönen  Darstellungen 
auf  Vasen  betrifft,  so  reichen  sie  in  sehr  viel  frühere  Zeiten  hinauf. 
Brygos  z.  B.  (um  500  v.  Chr.)  hat  diese  Gattung  von  Darstellungen 
zu  einem  besonderen  Zweige  seiner  Malerei  ausgebildet.  Obscöne 
Darstellungen  kommen  in  Menge  schon  auf  älteren  Gefässen  vor. 
Hartwig^)  zählt  solche  auf.  So  z.  B.  sieht  man  auf  der  Schale  des 
Epilykos  im  Louvre  (Gazette  archeol.  1888,  p.  172)  obscöne  Gruppen 
der  unflätigsten,  meist  widernatürlichen  Art,  zwischen  Männern 
und  Frauen.  Eine  andere  Schale  mit  dem  Schlagworte  moirjoev  in 
der  Sammlung  Bourguignon  in  Neapel  stellt  folgendes  Sujet  dar: 
Ein  Mann  sitzt  vor  einer  nackten  Frau  und  fasst  an  ihre  Scham,  in 
dieselbe  mit  der  Rechten  einen  undeuthchen  Gegenstand,  wohl  einen 
künstlichen  Phallos  einführend.  Um  eine  „schmerzhafte"  Operation, 
wie  man  gemeint  hat,  handelt  es  sich  hier  sicher  nicht.  Die  Gesten 
der  Hetäre  beweisen  das  Gegenteil.  —  Auf  einer  Schale  mit  dem 
Schlag  Worte  jiQooayooevco  im  Musee  royal  zu  Brüssel  sieht  man  einen 
onanierenden  bekränzten  Jüngling.  Ganz  allgemein  hat  A.  Schneider 
(Athen.  IMitteilungen  1889,  S.  339  Anm.)  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dass  sich  unter  den  Scherben  aus  den  Aufschüttungen  der  Akropolis 
Obscönitäten  und  Symplegmata  auffällig  häufig  finden.  Das  Volk 
Athens  scheint  in  der  Wahl  seiner  Weihgeschenke  an  die  Götter  der 
Burg  nicht  sehr  bedenklich  gewesen  zu  sein  3), 

In  der  Plastik  ist  das  älteste  Werk  schlüpfrigen  Inhalts,  von 
dem  wir  hören,  das  S3aTiplegma  des  Kephisodotos  (Plin,  n.  h. 
XXXVI,  24).     Der  Bildhauer  Heliodoros,  der  ein  anderes  berüch- 


1)  Vgl.  L.  Friedländer  a.  a.  O.,  III,  S.   291. 

2)  Hartwig  a.  a.   O.,  S.   345    Anm.   2. 
i)  Vgl.  Hartwig  a.  a.  O.,   S.  343—354- 


—      544      — 

tigtes  Symplegma  schuf  (Plin.  n.  h.  XXXVI,  35)  gehört  vermuthch 
in  die  Zeit  nach  Alexander.  Drei  berühmte  Maler  der  Alexander- 
epoche, Aristeides,  Pausias  und  Nikophanes  werden  von  Pole- 
mon  (bei  Athen.  XIII,  p.  567  B)  ausdrücklich  als  „Pornographen" 
bezeichnet.  Diese  Richtung  äussert  sich  dann  auch  in  der  späteren 
Vasenmalerei,  die,  wie  es  durch  eine  Reihe  von  Gefässen  sogenannten 
neuattischen  und  unteritalienischen  Stiles  bezeugt  wird,  vollständig 
die  Fähigkeit  besass,  unzüchtige  Gegenstände  in  einer  die  Sinne 
reizenden  Weise  zu  behandeln.  Besonders  zahlreiche  Beispiele  hier- 
für liefert  die  Sammlung  Pourtales^).  Auf  den  lasciven  Bildern  der 
campanischen  Wandmaler  sind  die  Träger  der  Handlung  Satyrn, 
Pane,  Bacchantinnen  und  der  Hermaphrodit  in  unzweideutig  wollüs- 
tigen Situationen.  Von  diesen  mythologischen  obscönen  Bildern 
unterscheiden  sich  die  realistischen,  dem  wirklichen  Leben  entnom- 
menen. Jene  erscheinen  nach  Heibig  als  in  die  Welt  der  Fabel 
entrückt  weniger  anstössig,  da  die  ideale  Sphäre  die  Entwickelung 
hinreichend  schöner  Formen  und  Geberden  gestattet.  Bei  der  zweiten 
Gruppe  giebt  der  Maler  irdische  Erscheinungen  mit  allen  Mängeln 
und  Zufälligkeiten  wieder.  Der  andere  Unterschied  zwischen  den 
beiden  Richtungen  zeigt  sich  in  der  Wahl  des  darzustellenden  Mo- 
mentes. Die  realistische  Richtung  wählt  mit  Vorliebe  das  Symplegma 
selbst,  die  mythologische  die  dem  eigentlichen  Akte  vorhergehende 
Scene^). 

Man  kann  sagen,  dass  wir  besonders  durch  die  zweite  realis- 
tische Richtung-  einen  höchst  anschaulichen  Einblick  in  das  gesamte 
Unzuchts-  und  Genussleben  des  Altertums  bekommen  haben,  der  alle 
litterarischen  Nachrichten  darüber  durchaus  bestätigt.  Erotische  Sym- 
posien, das  Prostitutions-  und  Bordellleben  und  die  Ausübung  sämt- 
licher sogenannter  sexuellen  Perversitäten  werden  uns  so  im  Bilde 
vorg-eführt.  Die  erwähnten  Werke  von  Eduard  Fuchs,  Hartwig, 
Heibig,  Gerhard,  sowie  die  ,,Raccolta  pornografica"  von  P^iorelli 
und  das  berüchtigte  „Musee  secret"^)  erschöpfen  die  Reichhaltigkeit 
der  Ueberreste  der  antiken  erotischen  Kunst  noch  lange  nicht. 


1)  W.  Heibig  a.  a.  O. 

2)  Vgl.  W.  Heibig,  Untersuchungen  über  die  campanische  Wandmalerei,  Leipzig 
1873,  S.   86—87;  S.   250. 

3)  Herculanum  et  Pompei.  Recueil  Genecal  des  peinlurcs,  bronces,  mosaiques  etc., 
decouverts  jusqu'ä  ce  jour,  et  reproduits  d'apres  le  Antichitä  di  Ercolano,  il  Museo  Borbo- 
nico  et  tous  les  ouvrages  analogues.  Augmente  de  sujets  inedits  graves  au  trait  sur  cuivre 
par  H.  Roux  Aine.  Et  accompagne  d'un  texte  explicatif  par  M.  L.  Barre.  Musee 
Secret.      Paris    1862.      Gr.   8",    260  S.,   60  Tafeln. 


—     545     — 

§  39     Prostitution  und  Psychopathia  sexualis. 

Die  Geschlechtskrankheiten  sind  in  ihrer  Verbreitung  und  Er- 
scheinungsweise g-anz  und  gar  abhängig  von  der  Prostitution  und 
von  der  Art  und  Weise  der  geschlechtlichen  Bethätigung. 
Wenn  wir  also  über  die  Natur  und  die  Arten  der  venerischen  Krank- 
heiten im  klassischen  Altertum  eine  richtige  Vorstellung  gewinnen 
wollen,  so  müssen  wir  das  Studium  der  Prostitutionsverhältnisse  und 
der  Psychopathia  sexualis  vorausgehen  lassen.  Das  ist  ein  durchaus 
richtiger  Grundgedanke  des  Buches  von  Rosen  bäum.  Die  Prämisse 
ist  richtig,  nur  seine  Schlussfolgerungen  sind  falsch,  wie  wir  sehen 
werden. 

Die  Griechen^),  bei  denen  sich  die  Einführung  der  legalen 
Prostitution  an  den  Namen  Solons  (Athen.  XIII,  p.  569)  knüpft, 
unterschieden  ausser  den  Bordelldirnen  und  gemeinen  Prostituierten, 
den  jioQvai,  noch  die  Hetären,  haigai,  die  sie  streng  von  den  übrigen 
Frauen  trennten-).  Die  Dirnen  waren  meist  Sklavinnen,  die  Hetären 
teils  ebenfalls  solche,  teils  freie  Frauen.  Jene  waren  verachtet,  diese 
genossen  vielfach  grosses  Ansehen.  Als  Kulturfaktor  machte  sich 
das  Hetären  wesen  allerdings  erst  seit  Alexander  dem  Grossen  geltend. 
Erst  in  der  Alexanderepoche  erscheinen  die  Hetären  als  der  regel- 
mässig'e  Mittelpunkt  der  gesellschaftlichen  Vergnügungen  der  Jugend. 
Damit  hängt  auch  der  Beginn  des  Frauenkultus  und  der  Galanterie 
in  der  hellenistischen  Zeit  zusammen. 

,, Viele  unter  ihnen  (den  Hetären)  zeichnen  sich  durch  feine  Bildung  und  schlag- 
fertigen Witz  aus,  wissen  die  ausgezeichnetsten  Persönlichkeiten  der  damaligen  Zeit,  Feld- 
herren, Staatsmänner,  Litteraten,  Künstler,  dauernd  an  sich  zu  fesseln  und  veranschaulichen 
in  der  bezeichnendsten  Weise  die  aus  feinen  geistigen  und  sinnlichen  Genüssen  gemischte 
Existenz,  welcher  die  Mehrzahl  der  damaligen  Griechen  huldigte.  Fast  bei  jeder  bedeuten- 
deren Persönlichkeit,  welche  in  der  Geschichte  des  Hellenismus  hervortritt,  sind  bekannte 
Hetären  nachweisbar.  Die  Mehrzahl  der  Zeitgenossen  fand  darin  nichts  Anstössiges.  Pto- 
lemaios  VII.,  Euergetes  II  (Athen.  XIII,  p.  576  E)  unterliess  nicht  in  seinen  Hypomne- 
mata  die  Hetären  anzuführen,  mit  denen  sein  königlicher  Vorgänger  Umgang  gepflogen. 
Zur  Zeit  des  Polybios  (Polyb.  XIV,  11,  2)  waren  die  schönsten  Häuser  in  Alexandreia 
mit  den  Namen  berühmter  Flötenspielerinnen  und  Hetären  bezeichnet.  Porträtstatuen 
solcher  Frauen  wurden  in  Tempeln  und  anderen  öffentlichen  Gebäuden  neben  denen  ver- 
dienter Feldherren  und  Staatsmänner  aufgestellt,     ja,    das    gesunkene   Ehrgefühl    der   griechi- 


i)  Vgl.  van  Limburg  Brouwer  a.  a.  O.,  II,  174  —  223;  Fr.  Jacobs,  Die  He- 
tären. Griechische  Freudenmädchen.  Leipzig  o.  J.  (S.-A.  aus  Jacobs,  Vermischte 
Schriften  III,  Leipzig    1830,   S.   311 — 554);   Rosenbaum  a.  a.   O.,   S.   90 — 100. 

2)  Bekannt  ist  die  Stelle  bei  Demosthenes  c.  Neaer.  (Orat.  Att.,  T.  V,  p.  578 
und  Athen.  XIII,  31):  rag  /lisv  hatgag  fßovfjg  erey.'  k'/ufisv,  tö?  8s  jiaXXay.ag  >ca&'  rji-iiQav 
&EQaJt£iag  rov   ocöjiiaTog,    zag  de  yvvaiy.ag  rov  jraidojioisToßai    yvi]akog,  aal  ro)v  k'vSov  (pv- 

/MXa    JllOT?]V    E](E11'. 


-      546      - 

sehen  Freistaaten  liess  sich  sogar  lierbei,  Hetären,  die  mächtigen  Persönlichkeiten  nahe  stan- 
den, durch  Kränze  und  bisweilen  selbst  durch  Altäre  imd  Tempel  zu  ehren  (Athen.  VI, 
p.   253  A  13)"^). 

Sehr  interessant  ist  die  Schilderung  der  Gefahren  des  Um- 
ganges mit  Hetären  von  Anaxilas  (Athen.  XIII,  p.  558),  in  der 
hauptsächhch  ihre  unersättliche  Habsucht  und  die  Ausplünderung  der 
Männer  erwähnt  werden,  aber  von  der  naheliegenden  Gefahr  vene- 
rischer Ansteckung  nicht  die  Rede  ist.  Auch  die  Beschreibung  eines 
Hetäreninstitutes,  d.  h.  eines  vornehmen  Bordells,  die  uns  in  einer 
Komödie  des  Alexis  erhalten  ist  (bei  Jacobs  a.  a.  O.,  S.  47)  und 
in  der  die  Toilettenkünste  der  Insassinnen  geschildert  werden,  über- 
geht die  Krankheiten  der  Hetären  mit  Stillschweigen. 

Solon  soll,  wie  erwähnt,  zuerst  die  gewöhnlichen  Bordelle 
{noQVEia,  oixijjuara)  eingeführt  haben  (Athen.  XIII,  p.  569).  Aus  dem 
Stücke  ''ÄdelcpOL  des  Dichters  Philemon  erfahren  wir,  dass  die  Dirnen 
in  diesen  Bordellen  nackt  für  die  Besucher  zur  Schau  standen,  damit 
jeder  sähe,  mit  wem  er  es  zu  thun  habe,  und  nach  Belieben  wählen 
könne.  Der  Preis  war  auf  einen  Obolus  festgesetzt  (Athen.  XIII, 
p.  569).  Die  eigentliche  Bordellgegend  in  Athen  war  am  Keramei- 
kos-).  Auch  das  Quartier  Skiron  genoss  einen  sehr  schlechten  Ruf 
wegen  der  zahlreichen  Dirnen,  die  hier  vor  den  Thüren  sassen^).  Die 
Agora  im  Kerameikos  war  ein  lebhafter  Verkehrsort  der  niederen 
Hetären.  Schon  ein  altes  Solonisches  Gesetz  erwähnt  die  Thatsache, 
dass  diese  Dirnen  auf  dem  Markte  offen  sich  anboten.  Plutarch 
(Solon  23)  giebt  die  Strafen  an,  die  Solon  auf  yior/da  setzte.  Und 
noch  später  wird  erwähnt,  dass  die  Dirnen  mit  Vorliebe  sich  in  der 
Nähe  des  Leokorions,  an  der  Nordseite  der  Agora,  umhertrieben 
(Alkiphron  III,  5,  i).  Die  öffentliche  Prostitution  und  die  Bordelle 
standen  unter  der  Aufsicht  der  Astynomen"*),  die  für  die  Aufrecht- 
erhaltung des  öffentlichen  Anstandes  zu  sorgen  hatten.  Der  Bordell- 
betrieb selbst  stand  unter  der  Leitung  eines  jiogvoßooxog,  der  an  die 
Stadt  eine  jährliche  Steuer,  TcAog  noovixov,  zu  zahlen  hatte,  die  aus 
den  sehr  verschiedenen  Honoraren  der  Dirnen  aufgebracht  und  von 
besonderen  „Hurenzinspächtern"  (üxoQvoTelvnn]q)  eingetrieben  wurde 
(Aeschines  in  Timarch.,  p.  134,  ed.  Reiske).  Der  Dirnenlohn  {juio&cojua, 
öidyQajiiua)    wurde    für   jede    einzelne   Prostituierte   von    den  Agora- 


1)  Heibig  a.  a.  O.,  S.    195 — 196. 

2)  Kurt    Wachsmuth,    Die    Stadt    Atheit    im    Altertum,    Leipzig    1890,    Bd.    II, 
Abt.    1,  S.   259 — 260. 

3)  Ebenda,  S.   230. 

4)  Ebenda,   II,    i,    270. 


—      547      — 

nomen    bestimmt    (Suid    s.    v.    didyga/u/ua)    und    schwankte    zwischen 
Obolen,  Drachmen  und  Stateren. 

Zahlreich  waren  auch  die  Kategorien  der  nichtkasernierten  Pro- 
stituierten (vgl.  dazu  oben  S.  525 — 527).  Dazu  gehörten  die  leicht- 
fertigen Flöten-  und  Zitherspielerinnen,  die  haloai  /uovoiyMi,  avh]TQtöeg, 
xiiJagioroideg,  die  Hafendirnen  d£iy.T7]giädeg  (Athen.  XIII,  p.  576),  die 
Gassendirnen,  ya^uauvTiai  (Athen.  XIII,  p.  570),  die  Dandstrassenhuren, 
OTioörjodavQai  (Hesych.  lY,  67).  Zum  Zwecke  der  Unzucht  begaben 
sich  diese  freien  Dirnen  in  bestimmte  Kupplerhäuser,  i^iarov/leia 
(Hesych.  III,  76),  juaoxQoma,  yr^oa/oj^aa  (Hesych.  III,  372),  Hurenwinkel, 
XajuaiTVTieia,  und  Absteigequartiere,  TEyog,  wo  sie  „Geld  für  die  Stube", 
h'oixiov,  oreyavojuiov  (Athen.  I,  p.  8;  Pollux  Onomast.  I,  75)  zahlten. 
Solche  Stätten  der  Unzucht  waren  hauptsächlich  die  Wirtshäuser 
[xaTiiiXeTov]  der  Hafengegend  (Philostrat.  epist.  23;  Athen.  XIII,  p.  567), 
wo  allerdings  meist  nur  der  Abschaum  der  männlichen  Bevölkerung 
und  fremde  Matrosen  verkehrten. 

Mit  Recht  hat  Rosenbaum  (a.  a.  O.  S.  94)  darauf  hingewiesen, 
dass  trotz  der  sehr  eingehenden  gesetzlichen  Regelung  des  Bordell- 
und  Prostitutionswesens  in  Athen  von  einer  sanitätspolizeilichen 
Aufsicht  bezw.  einer  Gesundheitskontrolle  der  Prostituierten  nichts 
gesagt  wird  und  eine  solche  auch  sicherlich  nicht  bestand.  Aller- 
dings könnte  die  oben  erwähnte  Schilderung  Philemons  über  die 
Prüfung  der  nackten  Dirnen  durch  die  Klienten  darauf  hindeuten. 
Wahrscheinlich  bedeutete  dies  aber  mehr  ein  Entgegenkommen  in 
Bezug  auf  den  Schönheitssinn  der  Hellenen  als  eine  hygienische 
Rücksichtnahme.  Jener  wurde  natürlich  auch  durch  Unsauberkeit  und 
sichtbare  Krankheitserscheinungen  (z.  B.  Hautkrankheiten,  Geschwüre, 
Ungeziefer)  beleidigt.  Ob  aber  bei  dieser  Zurschaustellung  der  Dirnen 
an  eine  Ansteckung  gedacht  wurde,  ist  mehr  als  zweifelhaft. 
Rosenbaum  ist  im  Rechte,  wenn  er  das  äocpalibg  in  dem  Bruch- 
stücke des  Eubulos  (Athen.  XIII,  p.  568),  wo  von  den  Bordell- 
dirnen gesagt  wird: 

nao  d)v  ßeßalcog  do(palcüg  t'  e^eoxi  001 
jiiiy.oov  Tiqidodai  y.eQjiiarog  t))v  f]dov/]v 
daraus  erklärt,  dass  man  sich  diese  gemeinen  Dirnen  nicht  den  He- 
tären, sondern  den  freien  Bürgerinnen  gegenübergestellt  denkt,  mit 
denen  der  ausserehehche  Beischlaf  stets  gefährlich  war,  da  er  als 
Schändung  oder  Ehebruch  bestraft  wurde.  Das  beweist  über- 
zeugend die  Stelle  bei  Diogenes  Laertius  (VI,  c.  4),  wo  es  heisst: 
Als  Antisthenes  einen  des  Ehebruchs  Angeklagten  sah,  sagte  er 
zu  ihm:  Unglücklicher,  welcher  grossen  Gefahr  hättest  Du  mit  einem 


-     548     - 

Obolus  entgehen  können  (w  övoTvyijq,  TiiiXIy.ov  xiröwov  oßoXov  ()iarpv- 
ynv  idvraoo).  Auch  die  Stelle  des  Xenarchos  (Athen.  XIII,  p.  56g) 
gehört  hierher:  xai  rojv  d'  exdox^p'  eorlv  ädecog,  evTeXcög^). 

Was  nun  die  Verhältnisse  der  Prostitution  bei  den  Römern 
betrifft,  so  sei  zunächst  hervorgehoben,  dass  das  griechische  He- 
tärenwesen auch  bei  ihnen  Eingang  fand.  Auch  hier  gab  es  in 
der  späteren  Zeit  durch  geistige  Bildung  ausgezeichnete  Buhlerinnen, 
die  zwischen  der  römischen  Matrone  und  der  öffentlichen  Dirne  stan- 
den-).  Diese  Buhlerinnen  wurden,  ganz  wie  im  18.  Jahrhundert,  den 
Ehefrauen  vorgezogen  (vgl.  das  bezeichnende  Epigramm  Martials 
III,  70).  Diese  ,,amicae,  pretiosae,  delicatae,  famosae"  rekrutierten 
sich  hauptsächlich  aus  dem  Stande  der  Schauspielerinnen,  zu  denen 
schon  dem  Sulla,  Verres  und  Cicero  Beziehungen  galanter  Natur 
nachgesagt  werden  '^).  Dass  Schauspielerinnen  Prostituierte  waren, 
geht  auch  aus  einer  Stelle  des  Plautus  (Casin.  82)  hervor.  Den 
Uebergang  vom  Hetärentum  zur  gewöhnlichen  Prostitution  bildeten 
ferner  die  Tänzerinnen,  die  in  obscöner  Darstellung-  Erstaunliches 
leisteten'*),  die  Harfen-  und  ]\Iusikmädchen  (Plautus,  Rudens  43; 
Terent.,  Eunuch.  I,  2,  53;  Horat.,  Epist.  I,  14,  21;  Horat,  Od.  II, 
II,  21)  und  „Ambubajae"  (Horat.,  Sat.  I,  2,  i;  Sueton.,  Nero  c.  27), 
die  weiblichen  Modelle  in  den  Künstlerwerkstätten  ■'),  die  ,,bustuariae" 
u.  a.  m. 

Die  gewerbsmässigen  Prostituierten  par  excellence  lagen  zum 
grössten  Teile  in  den  Bordellen  ihrem  Gewerbe  ob,  die  schon  in 
der  älteren  Zeit  zahlreich  vorhanden  waren,  wie  wir  das  aus  der 
häufigen  Erwähnung  bei  den  älteren  Tustspieldichtern  schliessen 
können.  Diese  Bordelle,  „lupanaria"  (Juvenal.  VI,  120,  131; 
Catull.  XLII,  13;  Petron.,  Sat.  7;  et3miologisch  von  „lupa"  abgeleitet, 
cf.  Lactantius,  divin.  instit.  I,  20),  „fornices"  (Tit.  Livius  XXXVI, 
23;  XLIV,  11;  Horat,  Sat.  II,  30;  Mart.  XI,  62;  Petron.,  Sat.  7, 
abgeleitet  von  „fornix"  oder  von  jioovixov,  cf.  Rosen  bäum  a.  a.  O. 
S.  105),  ,,tabernae  meritoriae"  (Val.  Max.  I,  7)  lagen  hauptsäch- 
lich in  der  Nähe  der  Stadtmauer  (daher  der  Name  „Summoenianae" 
=  Prostituierte  bei  Mart.  III,  82;  XI,  62  u.  ö.),  in  dem  daran  an- 
grenzenden Stadtteile  Suburra,  im   vicus  Patricius  und  unter  den  Ar- 


i)  Vgl.  hierzu  auch  van  Limburg  Brouwer  a.  a.  O.,  Bd.  II,  S.   I79. 

2)  Vgl.  die  ausführliche  Darlegung  bei  Paldamus  a.   a.   O.   S.   45 — 48. 

3)  Georg    Grupp,     Kulturgeschichte    der    römischen     Kaiserzeit,     IMünclicn     1903, 
Bd.  I,  S.    192  u.  323. 

4)  Vgl.   Sittl  a.   a.   O.   S.    224  —  252   und  Martial.    V,    78;    XIV,    203. 

5)  Vgl.   Friedländer  a.   a.   O.   III,   302. 


—     549     — 

kaden  des  Circus  maximus  (Juven.  III,  65;  Mart.  XI,  7g;  Priap.  40), 
auch  ausserhalb  der  Stadtmauern  („meretrices  extramuranae"  vit.  He- 
liogab.   27). 

Das  Innere  eines  römischen  Bordells  kann  nach  den  erhaltenen 
Berichten  so  ziemlich  rekonstruiert  werden.  Am  anschaulichsten  ist 
die  Schilderung  des  Petronius  (Satin  7.  8.  ed.  Buecheler):  ,,subinde 
ut  in  locum  secretiorem  venimus,  centonem  anus  urbana  reiecit  et 
„hie"  inquit  „debes  habitare".  cum  ego  negarem  me  agnoscere  do- 
mum,  Video  quosdam  inter  titulos  nudasque  meretrices  furtim 
spatiantes.  tarde,  immo  iam  sero  intellexi  me  in  fornicem  esse  de- 
ductum.  execratus  itaque  aniculae  insidias  operui  caput  et  per  me- 
dium lupanar  fugere  coepi  in  alteram  partem  .  .  .  iam  pro  cella  mere- 
trix  assem  exegerat". 

Hieraus  erhellt,  dass  die  Bordelle  eine  Anzahl  ^•on  Kammern, 
Zellen,  cellae  hatten  (vgl.  auch  Juven.  VI,  122,  127),  über  welcher 
der  Name  der  betreffenden  Dirne,  meist  ein  nom  de  guerre,  sich 
befand,  der  „titulus"  (Seneca  Controv.  I,  2;  Martial.  XI,  46; 
Juven.  VI,  122).  Wenn  die  betreffende  Zelle  besetzt  war,  wurde 
dies  durch  das  Wort  „occupata"  auf  einer  Tafel  verkündet  (Plaut. 
Asin.  IV,  I,  15)  im  Gegensatz  zur  unbesetzten  Zelle  „nuda"  (Mart. 
XI,  62).  Eine  Laterne  „lucerna"  erleuchtete  das  Gemach  (Juven. 
VI,  131;  Horat.  Sat.  II,  7  v.  48;  Tertullian.  ad  Uxor.  II,  6),  die  oft 
mehr  Russ  als  Licht  verbreitete  (Seneca,  Controv.  I,  2).  Die  meist 
vöUig  nackt  zur  Schau  stehenden  Dirnen  gaben  sich  auf  einem  mit 
einer  Decke  „lodicula"  versehenen  Lager  „pavimentum"  oder  „pul- 
vinar"  den  Männern  hin  (Petron.  20;  Juven.  VI,    130). 

Im  allgemeinen  herrschte  eine  grosse  Unsauberkeit  und  Unrein- 
lichkeit  in  den  römischen  Lupanaren,  wie  sich  nach  verschiedenen 
Anspielungen  der  Dichter  und  Schriftsteller  annehmen  lässt  (z.  B. 
Juvenal.  VI,  130;  Prudentius  contr.  Symmachum  1.  II;  Horat. 
Sat.  I,  2,  30;  Seneca  Controv.  I,  2). 

Wie  erwähnt,  trieben  sich  die  Dirnen  nackt  vor  oder  in  den 
Bordellen  umher,  entweder  stehend  „prostibula"  oder  sitzend  „pro- 
sedae"  (Plaut.  Poenul.  I,  2,  54). 

Wenn  sie  einen  Klienten  ergattert  hatten,  wurde  die  betreffende 
Zelle  meist  sorgfältig  verschlossen,  wie  das  anschaulich  Martial 
(XI,  45)  schildert: 

Intrasti  quotiens  inscriptae  limina  cellae, 
Seu  puer  arrisit  sive  puella  tibi, 
Contentus  non  es  foribus  veloque  seraque, 
Secretumque  pubes  grandius  esse   tibi: 


—      550     — 

Oblinitur  minimae  si  qua  est  suspicio  riiiiae 
Punctaque  lasciva  quae  terebrantur  acu. 
Nemo  est  tarn  teneri  tarn  sollicitique  pudoris, 
Qui  vel  paedical,   Canthare,  vel  futuit. 

Die  Bordelle  waren  meist  im  Besitze  eines  Bordellwirtes, 
leno,  oder  einer  Kupplerin,  lena,  die  das  Kuppeleigewerbe,  leno- 
cinium,  mit  den  meist  als  Sklavinnen  von  ihnen  gekauften  Mädchen 
betrieben. 

,, Kuppler,  Kupplerinnen  und  im  Bunde  mit  ihnen  Wucherer,  allgemein  bekannte 
Persönlichkeiten,  wählte  sich  mit  Vorliebe  schon  die  ältere  Komödie  zu  Helden.  Der 
Kuppler,  ein  Ausbund  aller  Hässlichkeit,  dessen  körperliche  Unforni  geistige  Hässlichkeit 
widerspiegelt,  erscheint  hier  als  frech  oder  feige  und  scheu,  je  nachdem,  als  eidbrüchig, 
jedoch  abergläubisch,  und  um  nichts  besser  die  Kupplerin,  meist  eine  Weinsäuferin.  Im 
Bunde  mit  ihnen  steht  gewöhnlich  der  Geldwechsler,  Wucherer,  dessen  Buden  Dirnen  um- 
schwärmen, ihnen  junge  Leute  zuzujagen.  Im  übrigen  scheuten  sich  auch  bessere  Stände 
nicht,  aus  diesen  Dingen  einen  Erwerb  zu  ziehen,  und  selbst  IVIänner  wie  Brutus,  Cato 
hielt  keine  Scham  ab,  Sklaven  zu  Wucherzinsen  auszuleihen,  da  der  Verdienst  sich  lohnte 
—  der  Freudenlohn  betrug  fast  das  Dreissigfache  des  Arbeitslohnes^)  —  und  bessere,  ja 
vornehme  Leute  nährten  sich  sogar  von  diesem  Erwerbe  (Dig.  3,  2,  4).  Um  üblen  Nach- 
reden und  den  Censuren  zu  entgehen,  liess  man  schlechte  Orte  durch  eigene  Sklaven  und 
Freigelassene  halten.  Mit  erschreckender  Offenheit  sagt  Ulpian,  auf  den  Gütern  vieler 
Vornehmer  werden  schlimme  Anstalten  gehalten  (Nam  in  multorum  honestorum  virorum 
praediis  lupanaria  exercentur;  Dig.  5,  3,  27),  und  ebenso  offen  erhob  der  Staat  Steuern 
(Suet.  Cal.  40;  Senec.  controv.  i,  2)  und  verschenkte  zum  Vergnügen  des  süssen  Pöbels 
Freischeine  (,,nomismata  lasciva"  Stat.  sylv.  i,  6,  79),  die  wie  andere  Marken  unter  die 
Masse  geworfen  wurden"  ^). 

Die  Lustsklavinnen  („quaestuaria  mancipia"  Dig.  III,  2,  4)  waren 
meist  fremder  Herkunft,  aus  Spanien,  Syrien,  Aegypten,  Sehr  an- 
schaulich beschreibt  Seneca  (Controv.  I,  2)  den  Ankauf  der  Mädchen 
für  solche  Zwecke:  „Nuda  in  litore  stetit  ad  fastidium  emptoris,  omnes 
partes  corporis  et  inspectae  et  contrectatae  sunt.  Vultis  auctionis 
exitum  audire?  Vendit  pirata,  emit  leno  .  .  .  Ita  raptae  pepercere 
piratae,  ut  lenoni,  venderetur:  sie  emit  leno,  ut  prostituerit".  Noch 
andere  Einzelheiten  bezüglich  des  Verkaufes  von  Mädchen  zu  Pro- 
stitutionszwecken erfahren  wir  aus  dem  interessanten  Epigramme 
Martials  (VI,  66): 

Famae  non  nimium  bonae  puellam 
Quales  in  media  sedent  Subura, 
Vendebat  modo  praeco  Gellianus. 
Parvo  cum  pretio  diu  liceret, 
Dum  puram  cupit  approbare  cunctis, 


i)   Eine  Arbeitssklavin   war  oft  nur    120  Mark  wert,   eine  Lustsklavin  über  4600  Mark 
(Plaut.  Persa  4,  4,    113). 

2)  G.  Grupp,  Kulturgeschichte  der  römischen  Kaiserzeit,    Bd.   I,  S.  324  —  325. 


—     551      — 

Attraxit  prope  se  manu  negantem 
Et  bis  terque  quaterque  basiavit. 
Quid  profecerit  osculo,  requiris? 
Sescentos  modo  qui  dabat,  negavit. 

Daraus  geht  hervor,  dass  offenbar  auch  ein  Handel  mit  jung- 
fräulichen Mädchen  betrieben  wurde,  deren  Preis  ein  höherer  war 
als  der  bereits  deflorierter  Mädchen.  Ausser  wie  hier  in  der  Subura 
gab  es  Prostitutionsmärkte  auch  in  anderen  Stadtteilen,  z.  B.  in  der 
Nähe  des  Venustempels  (Plaut.  Poenul.  305). 

Viele  Wirte  und  Inhaber  von  Garküchen  und  Bäckereien  ^) 
hielten  Dirnen  für  ihre  Gäste  (vgl.  Horat.  Epist.  I,  14,  21),  die  meist 
zugleich    durch  Tanz    und  Flötenspiel    für    die   Unterhaltung   sorgten. 

Als  gewerbsmässige  Kuppler  g-alten  ferner  die  Priester,  Priester- 
innen und  Tempeldiener  der  Isi Stempel'-^);  auch  andere  Tempel,  in 
denen  Frauen  ein-  und  ausgingen,  waren  als  Orte  der  Unzucht  ver- 
rufen. Es  gab  nach  Juvenal  (IX,  22 — 26)  keinen,  in  dem  Frauen 
nicht  feilgeboten  wurden.  In  den  Tempeln  wurde  nach  Minucius 
Felix  (Octav.  p.  67,  Muralt.)  und  Tertullian  (Apol.  c.  15)  zwischen 
den  Altären  Kuppelei  geübt,  und  in  den  von  Weihrauch  duftenden 
Zellen  der  Tempelwächter  und  Priester  ging  es  zu  wie  in  Bordellen. 

Wahrscheinlich  existierten  auch  eigene  Bestellhäuser,  maisons 
de  passe,  wo  freie  Frauen  sich  prostituieren  konnten  nach  dem  be- 
rüchtigten Beispiele  der  Messalina  (Juven.  VI,  116  ff.)  und  ver- 
schiedener Kaiser,  die  Bordelle  für  ihren  und  ihrer  Freunde  Privat- 
gebrauch einrichteten. 

Sehr  gross  war  endlich  die  Zahl  der  ausserhalb  aller  dieser 
Etablissements  befindlichen  vagierenden  Prostituierten,  der 
„scorta  erratica",  noctilucae,  noctivigilae,  nonariae,  ambula- 
trices,  circulatrices,  casalides,  bustuariae,  diobolariae,  gal- 
linae,  lupae,  bliteae,  schoeniculae,  putae,  limaces"  und  der 
anderen  ebenso  bezeichnende  Namen  wie  diese  „Nachtfalter",  „Pflaster- 
treterinnen", „Wanderinnen",  ,, Gräberdirnen",  „Pfennigdirnen"  tragen- 
den Strassenhuren.  Sie  führten  ihre  Klienten  entweder  in  eigne 
oder  gemietete  Wohnungen  oder  gaben  sich  ihnen  auf  offener  Strasse 
in  dunklen  Ecken  (Catull.  c.  58)  oder  zwischen  den  Gräbern  (Mart. 
I,  34)  oder  in  den  Bädern  (Mart.  III,  93)  preis.  Viele  waren  unter 
gewissen    „noms   de   guerre"    bekannt,    die    sie    beim    Eintritt    in    das 


ij  In  Pompeji  hat  man  eine  Reliefplatte  über  der  Thür  eines  Bäckerbauses  ge- 
funden, mit  grobem  abgeplattetem  Phallus  und  der  Inschrift:  „Hie  habitat  Felicitas".  Vgl. 
E.  Gerhard,  Neapels  antike  Bildwerke,  S.  464. 

2)  Friedländer  a.  a.   O.,   I,    501. 


—•     552     — 

Prostitutionsgewerbe  angenommen  hatten  (Plaut.  Poenul.  V,  3,  20  —  21; 
Juvenal.  VI,  122).  Als  Kennzeichen  trugen  die  römischen  Prostituierten 
bunte,  grellfarbige  Kleider  oder  die  männliche  Toga  —  daher  hiessen 
sie  „togatae"  (Horat.  Sat.  I,  2,  63  und  80 — 83)  — ,  ferner  wie  die 
modernen  Dirnen  vielfach  blonde  Perrücken  (Juvenal.  VI,   119). 

Was  das  Honorar  der  Prostituierten  in  den  Bordellen  betrifft, 
so  scheint  dieses  vor  dem  Eintritt  in  die  betreffende  Zelle  entrichtet 
worden  zu  sein.  Jedenfalls  wurde  es  vorher  verlangt  (Juvenal.  VI, 
125).  Jacquot  (Gazette  medicale  de  Paris  1850,  Nr.  27)  erwähnt 
Denkmünzen  aus  Terracotta  oder  Knochen,  die  in  den  pompejanischen 
Lupanaren  gefunden  wurden,  und  deren  Bedeutung  und  Gebrauch 
aus  einem  Freskogemälde  hervorg-eht.  Es  waren  das  Marken  für 
den  Eintritt  in  die  öffentlichen  Häuser.  Man  abonnierte  sich  damals 
im  Bordell  wie  heutzutage  in  den  Badeanstalten  ^).  Name  und  Preis 
der  Dirne  war  über  der  Thür  ihrer  Zelle  notiert  (Seneca,  Controv. 
I,  2),  der  g-eringste  Lohn  betrug  ein  Ass-)  oder  zwei  Obolen,  daher 
der  Name  „diobolaria,  scorta"  (Plautus  Poenul.  i,  2,  58),  ausserdem 
kostete  die  Benutzung  der  Zelle  ein  weiteres  Ass  (Petron.  Sat.  8: 
„iam  pro  cella  meretrix  assem  exegerat").  Angaben  über  Dirnen- 
honorare macht  besonders  Marti al  (II,  53:  2  Asse;  IX,  32:  2  Denare). 
Auf  der  Wand  eines  Lupanars  in  Pompeji  haben  drei  Soldaten  ver- 
merkt, dass  sie  jeder  5  Asse  gezahlt  haben  ^).  Für  die  Habitues  der 
Bordelle,  die  „adventores  meretricum"  (Plaut.  Trucul.  II,  7,  55),  zu 
denen  auch  vielfach  Sklaven  gehörten  (Columella  r.  r.  I,  8),  gab 
es  ohne  Zweifel  Abonnementspreise.  Der  Dirnenlohn  („captura", 
„quaestus  meretricius",  „pretium  stupri")  musste  meist  im  ganzen  an 
den  Leno  abgeliefert  werden. 

Die  pekuniäre  Seite  des  Prostitutionsgewerbes  war  die  Haupt- 
ursache der  Verachtung  derselben  bei  den  Römern.  Rossbach 
bemerkt  darüber:"  „Allen  Ingenui  war  verboten,  eine  in  adulterio  de- 
prehensa   und    eine   lena   et  a  lenone   lenave   manumissa   zur   Ehe   zu 


i)  F.  Jacquot,  Lettres  d'Italie,  in:  Gazette  medicale  de  Paris  1850,  Nr.  27,  S.  528. 

2)  Unter  Umständen  wohl  noch  weniger.  Denn  wenn,  worauf  mich  Herr  Dr.  phil. 
W.  Schonack  gütigst  aufmerksam  macht,  Cicero  pro  Caelio  §  62  in  Bezug  auf  die 
Clodia,  die  bekannte  Geliebte  des  Catulhis,  von  einer  ,,quadrantaria  permutatio"  redet,  so 
dürfte  dies  wohl  kaum  (wie  A.  Riese,  Einl.  z.  Cat.  Ausg.  p.  XIII  meint)  ,, frivoler 
Scherz"  sein,  sondern  wird  sich  darauf  beziehen,^  dass  in  den  Badstuben  gewisse  Dirnen 
auch  für  ^/^  Ass  (d.  i.  quadrans)  zu  haben  waren.  Cf.  jetzt  die  Bemeikung  J.  v.  Wage- 
ningen s  in  seiner  Ausg.  der  Caeliana  p.  99  (M.  Tullii  Ciceronis  oratio  pro  M.  Caelio, 
rec.  atque  interpretatus  est  Jacobus  van  Wageningen,   Groningae   1908). 

3)  Jacquot  a.   a.  O.,   S.   528. 


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nehmen,  dem  Senator  und  seinen  zur  Agnation  gehörigen  Descen- 
denten  war  ausserdem  auch  die  Ehe  mit  einer  corpore  quaestum  fa- 
ciens  untersagt"^).  Das  Bordell  war  unrein  wie  ein  Abtritt  und  die 
Berührung  damit  galt  als  Schande.  Als  Tiberius  den  Anklagesenat 
für  Majestätsverbrechen  einsetzte,  erklärte  es  letzterer  für  eine  besonders 
schwere  Form  der  Majestätsbeleidigung-,  eine  Münze  oder  einen  Ring 
mit  dem  Bilde  des  Kaisers  auf  dem  Abtritt  oder  in  einem  Lupanar 
getragen  zu  haben  (Sueton.  Tiber.  58).  Doch  konnten  Kuppler 
römische  Bürger  werden  und  letztwillige  Verfügungen  treffen  (Juv^enal. 
VI,  217).  Die  Bordelle  galten  als  minderwertige  Häuser  (Priap.  XIV) 
und  in  Miets-  und  Kaufverträgen,  wie  sich  solche  in  Pompeji  gefun- 
den haben,  wurde  meist  die  Benutzung  eines  Hauses  als  Lupanar 
von  vornherein  ausgeschlossen  -). 

Es  kann  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dass  bei  den  Römern 
eine  sorgfältige  Hygiene  der  Prostitution  bestand,  wenngleich  sich 
eine  nähere  Beziehung  derselben  zu  den  venerischen  Krankheiten 
kaum  nachweisen  lässt.  Schon  der  früher  erwähnte  Modus  des  An- 
kaufs und  Verkaufs  der  Prostituierten  (geschildert  von  Seneca,  Con- 
trov.  I,  2),  wobei  eine  g-enaue  Inspektion  und  Palpation  aller 
Körperteile  der  nackt  zur  Schau  gestellten  Prostitutionsrekrutinnen 
stattfand  („nuda  in  litore  stetit  ad  fastidium  emptoris,  omnes  partes 
corporis  et  inspectae  et  contrectatae  sunt")  lässt  darauf  schliessen, 
dass  dabei  auch  auf  eventuelle  Krankheiten,  sieht-  und  fühlbare,  ge- 
fahndet wurde,  wozu  auch  lokale  Geschwüre  und  Exkrescenzen  an 
den  Genitalien  und  am  After  gehörten,  sowie  palpable  Bubonen  und 
Abscesse.  Auf  die  Vorteile  dieser  ungenierten  Besichtigung  der 
nackten  Prostituierten  vor  dem  Genüsse  spielt  auch  Horatius  (Sat. 
I,  2,  81 — 85,  loi  — 105)  an,  obgleich  aus  seinen  Angaben: 
Altera  nil  obstat:  Cois  tibi  bene  videre  est 
Ut  nudam;  ne  crure  malo,  ne  sit  pede  turpi, 

Metiri  possis  oculo  latus 

eher  auf  Schönheits-  als  auf  Gesundheitsfehler  geschlossen  werden 
muss.  Letztere  wurden  sicher  mehr  vom  ästhetischen  als  vom 
hygienischen  Standpunkte  aus  betrachtet. 

Während  der  Ausübung  ihres  schmutzigen  Gewerbes  musste 
vor  allem  die  Prostituierte  darauf  bedacht  sein,  durch  häufige  Bäder 
und  Waschungen  nach  jedem  coitus  impurus  sich  gesund  zu  erhalten 


i)   August  Rossbach,   ,, Untersuchungen   über  die  römische  Ehe",    Stuttgart    1853, 
S.   46;. 

2)  Jacquot  a.   a.   O.,  S.    528   (Mietskontrakt  der  Julia  Felix). 


—      554     — 

(Plaut.  Poenul.  21g,  244),  wofür  vielfach  eigene  Diener  „aquarioli", 
„baccariones"  zur  Verfügung  standen  (Tertullian,  Apologet, 
c.  43;  Juvenal.  VI,  332). 

Eine  sanitätspolizeiliche  Ueberwachung  der  Prostitution  existierte 
nicht  im  alten  Rom,  jedoch  musste  die  „licentia  stupri"  von  den 
Aedilen  eingeholt  werden  (Tacitus,  Annal.  II,  85),  denen  die  Auf- 
sicht über  die  öffentliche  Sittlichkeit  oblag. 


Noch  wichtiger  als  die  Betrachtung  der  Prostitution  ist  die 
Kenntnis  der  antiken  Psychopathia  sexualis,  der  mannigfaltigen 
geschlechtlichen  Bethätigungen  ausserhalb  des  natürlichen  Geschlechts- 
aktes. Es  wäre  falsch,  von  sexuellen  „Verirrungen"  schlechthin  zu 
sprechen.  Denn  ohne  Zweifel  wurden  manche  uns  heute  als  solche 
erscheinenden  Akte,  wie  z.  B.  die  mit  der  Knabenliebe  verbundene 
Pädikation,  der  Coitus  per  anum,  ganz  allgemein,  ohne  Scheu  und 
Scham,  ausgeübt.  Trotz  gegenteiliger  Behauptungen  steht  es  für 
mich  fest,  dass  die  Alten  nicht  unseren  ethisch -moralischen  Mass- 
stab an  diese  widernatürlichen  sexuellen  Akte  legten,  sondern,  wo 
sie  diese  verdammen  und  verspotten,  dies  viel  eher  aus  ästhetischen 
und  hygienischen  Rücksichten  thun.  Auch  ist  es  stets  das  Ueber- 
mass  und  das  Extrem,  was  gegeisselt  wird,  z,  B.  von  Martial. 
Man  hatte  auch  sehr  wohl  die  gesundheitlichen  Schädigungen,  z.  B. 
des  analen  Coitus,  erkannt.  Deshalb  sind  die  Beziehungen  der  per- 
versen sexuellen  Bethätigungen  zu  venerischen  Erkrankungen  sehr 
innige,  deshalb  hatte  Rosenbaum  mit  vollem  Rechte  die  Psycho- 
pathia sexualis  der  Alten  in  den  Mittelpunkt  seines  berühmten  Wer- 
kes gestellt.  Wie  schon  oben  erwähnt,  war  diese  seine  Prämisse 
durchaus  richtig,  aber  seine  Schlussfolgerung  war  falsch  und  musste 
es  sein,  weil  zu  seiner  Zeit  Syphilis,  Gonorrhoe,  Ulcus  moUe,  Condy- 
lomata  acuminata,  Herpes  und  andere  an  den  Genitalien  lokalisierte 
Affektionen  noch  nicht  streng  von  einander  geschieden  waren.  Wenn 
also  Rosen  bäum  aus  dem  häufigen  Vorkommen  sexueller  Per  Ver- 
sionen und  vor  allem  aus  ihrer  häufigen  Bethätigung  den  Schluss 
auf  die  Existenz  der  Syphilis  bei  den  Alten  zieht,  so  besteht  nach 
unserer  heutigen  ärztlichen  Auffassung  zwischen  diesen  beiden  kein 
notwendiger  Zusammenhang.  Wohl  aber  besteht  ein  solcher 
Causalnexus  zwischen  jenen  perversen  Praktiken  und  den 
pathologischen  Veränderungen,  z.  B.  am  After,  wie  sie  uns 
klar  und  deutlich  von  den  antiken  Aerzten  und  Schrift- 
stellern beschrieben   werden.     Wenn  wir  also  erfahren,    dass  die 


—     555     — 

Pädikation  bei  den  Alten  überaus  häufig,  jedenfalls  weit  häufiger 
als  in  der  Neuzeit  geübt  wurde,  dann  werden  wir  allein  hieraus 
und  nicht  aus  einer  supponierten,  aber  nicht  bewiesenen  und  nie  be- 
weisbaren Syphilis  das  häufige  Vorkommen  krankhafter  Affektionen 
der  Regio  analis  erklären.  Die  bis  heute  beliebte  Art  der  medizi- 
nischen Logik,  die  aus  der  Häufigkeit  der  Schilderungen  solcher  Anal- 
affektionen auf  ihre  „syphilitische"  Natur  schloß,  ist  falsch.  Die 
moderne  Forschung,  wie  sie  besonders  im  vorigen  Kapitel  über  die 
pseudosyphilitischen  Affektionen  dargestellt  wurde,  hat  diesen  Trug- 
schluß aufgedeckt  und  ihm  für  immer  ein  Ende  gemacht. 

Nichtsdestoweniger  ist  es  ein  großes  Verdienst  Rosenbaums, 
das  gegenüber  gewissen  wissenschaftlichen  Puritanern  und  Moralisten 
mit  Nachdruck  hervorgehoben  sei,  daß  er  zuerst  die  große  Bedeutung 
der  Psychopathia  sexualis  für  die  Entscheidung  der  Frage  der  Exis- 
tenz oder  Nichtexistenz  der  S3'philis  erkannt  hat.  Daß  er  diese  Frage 
unrichtig  beantwortet  hat,  ist  weniger  seine  Schuld  als  die  der  Un- 
voUkommenheit  und  Mangelhaftigkeit  der  venereologischen  Wissen- 
schaft seiner  Zeit. 

Wenn  man   die   antike  Psychopathia  sexualis   richtig   beurteilen 
will,  so  muss  man  genau  beachten,  dass  sie  gewissermassen  aus  zwei 
Quellen  gespeist  wurde,  die  allerdings  im  Laufe  der  Zeit  immer  mehr 
zusammenflössen.       Zunächst    sind     die    sexuellen    Perv^ersionen     bei 
Griechen  und  Römern  genau  so  als  allgemein  anthropologische 
Erscheinungen  aufzufassen,  wie  bei  allen  anderen  Völkern.    Ich  habe 
in  dem  Kapitel   „Die  anthropologische  Betrachtung  der  Psychopathia 
sexualis"   meines  Werkes   „Das  Sexualleben    unserer  Zeit"   dargelegt, 
daß  die  hierher  gehörigen  Erscheinungen  sich  überall  und  zu  allen 
Zeiten  finden,  und  dass  Kultur,    Zivilisation,    Krankheiten  und  Dege- 
neration   dabei   nur   die  Rolle   von    begünstigenden ,   modifizierenden, 
intensitätssteigernden  Faktoren  spielen.     Wir  werden   also  von  vorn- 
herein   erwarten    dürfen,   auch   bei   den  Alten   dieselben  Formen  und 
Aeusserungen  der  Ps3^chopathia  sexualis  anzutreffen,  wie  sie  bei  allen 
Völkern,   sowohl  primitiven  wie  zivilisierten,   beobachtet  werden.     Es 
läßt  sich  aber  nicht  leugnen,   daß   gewisse   sexuelle  Perversionen  bei 
manchen  Völkern   in    einer  Massenhaftigkeit   der   zeitlichen    und   ört- 
lichen Verbreitung  sich  finden  und  bei  so  zahlreichen  Individuen  auf 
einmal   zur   gleichen  Zeit   auftreten,    dass    diese   auffallende   Frequenz 
nur    als    Resultat    einer    allgemeinen    Suggestion    und    Nachahmung, 
kurz    einer  Volkssitte    erklärt    werden    kann.     Diese   zweite   Quelle 
der   sexuellen  Perversionen    tritt    bei    den    Alten    und   besonders    bei 
den  Griechen   sehr   auffällig   in    die    Erscheinung.     So   läßt   sich    nur 

Bloch,   Der  Ursprung  der  Syphilis.  36 


-     556     - 

ein  relativ  geringer  Bruchteil  der  antiken  Homosexualität  als  eine 
angeborene  Erscheinung  auf  allgemein  anthropologischer  Grundlage 
erklären,  der  grössere  Teil  beruht  auf  einer  uralten  Volkssitte 
wahrscheinlich  fremden  Ursprungs,  die  so  tief  eingewurzelt  war,  dass 
sie  von  allen  Männern,  auch  den  typisch  Heterosexuellen,  be- 
folgt wurde.  Und  wie  eine  solche  Perversion  als  Volkssitte  von 
einem  Volke  zu  einem  anderen  übergehen  kann,  dieses  gewisser- 
massen  durch  jenes  infiziert  werden  kann,  beweist  das  Beispiel  der 
Römer,  die  nicht  nur  die  Knabenliebe  in  ihrer  Bethätigung,  son- 
dern auch  die  Terminologie  der  Homosexualität  von  den  Griechen 
übernahmen,  um  sie  freilich  noch  mehr  ins  Grobtierisch -Sinnliche 
herabzuziehen,  als  dies  die  Hellenen  bereits  gethan  hatten,  bei  denen, 
wie  wir  sehen  werden,  der  physische  Charakter  der  Päderastie  den 
idealen  stets  begleitete,  meist  überwogt). 

Diese  Thatsache,  die  ja  von  allen  neueren  Forschern  anerkannt 
worden  ist  —  ich  erinnere  z.  B.  an  die  weiter  unten  zu  berück- 
sichtigende Arbeit  von  Bethe  über  die  dorische  Knabenliebe  — 
wird  uns  nicht  weiter  verwunderlich  erscheinen,  da  ja,  wie  oben 
(S.  509  ff.)  ausgeführt  wurde,  auch  in  der  natürlichen  heterosexuellen 
Liebe  das  sinnliche  Moment  bei  den  Alten  durchaus  überwog  und 
der  sinnliche  Liebesgenuss  die  Voraussetzung  für  den  geistigen 
war,  während  die  moderne  Liebe  umgekehrt  den  letzteren  zur  Vor- 
aussetzung des  ersteren  macht.  Woraus  sich  dieses  Vorherrschen  des 
physischen  Geschlechtsgenusses  erklärt,  ist  schon  früher  angedeutet 
worden  (S.  510 — 511).  Es  hängt  das  auch  innig  mit  der  Irradiation 
des  geschlechtlichen  Momentes  in  alle  Lebensverhältnisse  zusammen^ 
wie  wir  sie  in  dem  Abschnitte  „Die  sexuellen  Phänomene  im  öffent- 
lichen Leben  der  Alten"  kennen  gelernt  haben  (S.  513 — 544). 

Unter  den  verschiedenen  sexuellen  Perversionen  der  Alten 
nimmt  die  Homosexualität"^)  bezüglich  ihrer  Bedeutung  für  die 
Kritik  der  Lehre  von  der  Altertumssyphilis  die  erste  Stelle  ein. 

Es  ist  das  Verdienst  von  E.  Bethe^),  durch  eine  sorgfältige 
kritische  Untersuchung  neuerdings  ein  g-anz  neues  Licht  über  Ursprung 
und   Bedeutung   der    griechischen    Knabenliebe   verbreitet   zu    haben. 

i)  Das  betont  schon  W.  Wachsmuth,  Allgemeine  Kulturgeschichte,  Leipzig  1850, 
Bd.  I,  S.    199 — 200. 

2)  Aeltere  Literatur:  M.  H.  E.  Meier,  Artikel  „Päderastie"  in  Ersch  u.  Gruber» 
Allgemeine  Encyklopädie  der  Wissenschaften  und  Künste,  Leipzig  1837,  Sekt.  III,  Teil  IX, 
S.    149 — 152;  Forberg  a.  a.  O.,  S.   234 — 277;  Rösenbaum  a.  a.  O.,  S.    119 — 227. 

3)  E.  Bethe,  Die  dorische  Knabenliebe.  Ihre  Ethik  und  ihre  Idee.  In:  Rhei- 
nisches   Museum    für    Philologie,    Frankfurt  a.  M.    1907,    Neue  Folge,    Bd.  LXII,    Heft  3, 

s.  438-475- 


—     557     — 

„Ist  es  nicht",  so  fragt  er  mit  Recht,  „die  wunderbarste  Erscheinung  in  der  Ge- 
schichte menschlicher  Kultur?  Eine  Handlung  überheisser  Sinnlichkeit,  unnatürlich,  wider- 
wärtig, wird  zur  Sitte,  wird  anerkannt,  geachtet,  geheiligt,  sie  wird  das  Fundament  reinen 
Strebens,  unbedingter  Treue,  unbegrenzter  Aufopferung,  hoher  Sittlichkeit." 

Bethe  weist  die  grosse  Bedeutung  der  Päderastie  für  das  an- 
tike Mittelalter,  das  siebente,  sechste  und  den  grösseren  Teil  des 
fünften  Jahrhunderts  nach,  wo  sie  neben  der  Sinnenlust  auch  eine 
„lautere  Quelle  zarter  inniger  Empfindungen,  aufopfernder  Hingabe, 
idealer  Erhebung"  gewesen  sei.  Die  Knabenhebe  war  damals  eine 
öffentlich  anerkannte  kulturfördernde  Institution.  Sie  wurde  von 
den  Dorern,  den  zuletzt  in  Griechenland  eingewanderten  rohen  Ge- 
birgsstämmen  eingeführt,  die  sich  von  Nordwesten  her  über  das 
Alutterland  und  die  südlichen  Inseln  bis  nach  Kleinasien  ausbreiteten 
und  dann  als  Eroberer  die  älteren  Bewohner  knechteten.  Auch 
Bethe  bemerkt  mit  Recht,  dass  auch  vor  den  Dorern  ein  mann- 
männlicher Verkehr  in  Griechenland  existiert  hat,  dass  aber  die  Dorer 
die  Knabenliebe  als  öffentlich  anerkannte  und  ehrenwerte 
Einrichtung  brachten.  Homer  erwähnt  niemals  ein  päderastisches 
Verhältnis.  Aber  schon  Solon  (fr.  25  B  4)  schildert  die  Päderastie 
als  harmlose  Jugendfreude,  und  in  der  Blütezeit  von  Hellas  waren 
Männer  wie  Sophokles,  Aischylos  und  Plato  Päderasten.  Der 
angeblieh  mehr  ideale  Charakter  der  Päderastie  in  Sparta  und  Kreta 
im  Gegensatze  zu  den  homosexuellen  sinnHchen  Ausschweifungen  in 
EHs  und  Böotien  wird  von  Bethe  mit  Recht  bestritten.  Er  weist 
auf  Plato's  herbe  Worte  (Gesetze,  p.  636  und  p.  836  ff.)  und  di& 
Bemerkung  des  Aristoteles  (Politik  II  10,  p.  1272  B  25)  hin,  dass 
der  kretische  Gesetzgeber  die  Knabenliebe  eingeführt  habe,  um  die 
Uebervölkerung  zu  verhindern.  Im  weiteren  Verlaufe  beruhte  dann 
die  Erziehung  zur  dgeri]  in  der  Herrenkaste  bei  den  Dorern  in  Sparta,. 
Kreta  und  Theben  auf  der  Päderastie.  In  Sparta  waren  die  Lieb- 
haber für  ihre  Geliebten,  die  vom  zwölften  Jahre  an  mit  ihnen  ver- 
kehrten, so  sehr  verantwortlich,  dass  für  eine  unehrenhafte  Handlung 
ihres  GeHebten  sie,  nicht  dieser,  bestraft  wurden  (Plutarch,  L3xurg 
17  a  A  und  18  a  E);  auch  kämpften  sie  in  der  Schlacht  zusammen 
(daher  der  kretische  Name  des  geliebten  Knaben:  naQaoraMvg).  Die 
Verbindung  geschah  durch  einen  feierhchen  Akt,  bei  dem  der  Ge- 
schlechtsakt thatsächlich  vollzogen  wurde. 

„Die  Verlobung  oder  vielmehr  fleischliche  Vereinigung  am  heiligen  Orte  selbst  unter 
dem  Schutze  eines  Gottes  oder  Heros  steht  für  Thera  und  für  Theben  sicher.  In  Thera 
reden  eine  nicht  missverständliche  Sprache  die  hocharchaischen  Felsinschriften  doch  wohl 
des  siebenten  Jahrhunderts,  Hillers  kostbarste  Entdeckungen,  mit  gewaltigen  Buchstaben 
eingemeisselt  auf  dem  Götterberge    unmittelbar   unter    der  Stadt,    nur  50  bis  70  Meter  vorn^ 

30* 


—     55»     — 

Tempel  des  ApoUon  Karneios  und  von  heiligen  Stätten  des  Zeus,  Kures,  Chiron,  der  Athena, 
Ge,  Artemis  entfernt,  dicht  an  einem  alten  Rundbau  und  einer  natürlichen  Höhle,  die 
später  beide  durch  den  Gymnasionbau  vereint  worden  sind,  auch  in  jener  alten  Zeit  offenbar 
die  Stätten  der  dorischen  Gymnastik  und  der  Knabentänze.  Da  heisst  es  (J.  G.  XII  3, 
537)-  l^öv  dsTra]  ral  j  cov  j  Asktpauor  h  [o  ?]  Kgl/xo»'  xe[T\dE  ohh/ie  :iatöa  Ba&vx/Jog, 
dds?i.jihed[y'\  de  xov  öeTva.  An  heiliger  Stätte  unter  Anrufung  des  Apollon  Delphinios  hat 
hier  Krimon  seine  Verbindung  mit  dem  Sohne  des  Bathykles  vollzogen,  und  er  hat  sie 
stolz  der  Welt  verkündet  und  ihr  ein  unverwüstliches  Denkmal  gesetzt.  Und  viele  Theräer 
mit  ihm  und  nach  ihm  haben  an  derselben  heiligen  Stätte  den  heiligen  Bund  mit  ihren 
Knaben  geschlossen.  Ich  zweifle  nicht,  dass  wir  von  diesem  festen  und  unzweifelhaften 
Zeugnis  aus  auch  die  noch  zu  Aristoteles'  Zeiten  bestehende,  von  ihm  vermerkte  Sitte  der 
Thebaner  verstehen  müssen  [Aristoteles  bei  Plutarch  Pelopidas  18  (und  Erotic.  761  D/E) 
lAoiOTotskrjg  ök  xai  y.aß^'  avtov  sit  (pjjal  .  .  .  etcI  rov  täq^ov  zov  'löÄsco  rag  xaxasiioidiosig 
TTOieTo^ai  rovg  iQO}f/.h'ovg  xai  xovg  sgacxäg^  Auf  dem  Grabe  des  Heros  Jolaos,  hat  er 
geschrieben,  machen  die  Liebhaber  und  ihre  geliebten  Knaben  noch  jetzt  ihre  Treuver- 
sprechimgen.  Plutarch  fügt  hinzu,  weil  Jolaos  der  Geliebte  des  Herakles  gewesen  und  des- 
halb an  seinen  Kämpfen  als  sein  Schildknappe  teilgenommen  hat.  Damals  wird  man  sich 
in  Theben  ja  wohl  mit  einer  feierlichen  symbolischen  Form  begnügt  haben,  die  der  Ehe- 
schliessung vor  göttlichen  Zeugen  entspricht.  Ursprünglich  aber  dürfte  auch  in  Theben 
gerade  auf  dem  heiligen  Platze  im  Angesicht  des  heroischen  Vorbildes  und  Schützers  der 
Knabenliebe  der  Akt  wie  in  Thera  ausgeübt  worden  sein.  Den  Namen  der  heiligen  Schar 
aus  der  Heiligkeit  des  Päderastenbundes  zu  erklären,  liegt  nunmehr  sehr  nahe"^). 

Aehnlich  wurde  auch  in  Megara  und  in  Sparta  die  physische 
Vereinigung  des  Mannes  mit  dem  Knaben  gefeiert.  In  Theben  und 
in  Thera  ist  diese  Sitte  bis  ins  4.  Jahrhundert  nachweisbar.  Bei  den 
Dorern  war  die  Tapferkeit  und  Tüchtigkeit  des  Knaben  (d  Trat? 
ayadog)  die  Ursache  für  die  Knabenliebe,  wie  die  Inschriften  von 
Thera  beweisen.  In  Athen  war  es  mehr  die  Schönheit  (d  nalg  xaXog). 
Diese  Tüchtigkeit  wurde  \'on  dem  Manne  auf  den  geliebten  Knaben 
übertragen.  So  berichtet  Aelian  (Var.  Hist.  III,  12):  die  spartia- 
tischen  Knaben  hätten  einen  anerkannt  tüchtigen  Mann  gebeten, 
eiojiveiv  avToig,  was  der  spartanische  Ausdruck  für  „lieben"  ge- 
wesen sei.  Die  Intensität  dieses  eigenartigen  physisch-seelischen  Ver- 
hältnisses zwischen  Mann  und  Knaben  war  so  gross,  dass  sie  bis  zur 
Selbstverstümmelung  ging.  Plutarch  erzählt  im  Eroticus  761  C 
von  einem  Thessaler  Theron,  der  sich  selbst  die  linke  Hand  ab- 
schlug, um  den  Nebenbuhler  beim  geliebten  Knaben  auszustechen. 
Das  deutet  auf  eine  Individualisierung  der  päderastischen  Liebe,  wie 
sie  in  der  Neuzeit  die  heterosexuelle  Liebe  erfahren  hat.  Jedenfalls 
ist  es  sicher,  dass  das  antike  päderastische  Verhältnis  bedeutend  in- 
dividueller war  als  die  damalige  heterosexuelle  Liebe  zwischen  Mann 
imd  Frau. 


1)  Bethe  a.  a.  O.,   S.  449 — 451. 


—     559     — 

Ueber  die  Xatur  jenes  eigentümlichen  Verhältnisses  bemerkt 
Bethe: 

„Die  Eigenschaften  des  Mannes,  sein  Heldentum,  seine  ägerr)  werden  durch  die 
Liebe  irgendwie  auf  die  geliebten  Knaben  fortgepflanzt.  Deshalb  hält  die  Gesellschaft,  ja 
dringt  der  Staat  darauf,  dass  tüchtige  Männer  Knaben  lieben,  deshalb  bieten  sich  Knaben 
dem  Helden  an;  deshalb  teilen  Erastes  imd  Eromenos  Ruhm  und  Schmach,  deshalb  wird 
der  Erast  für  die  f~eigheit  seines  Geliebten  verantwortlich  gemacht,  deshalb  ist  er  auch  der 
legitime  Vertreter  seines  Knaben  neben  dessen  Blutsverwandten;  deshalb  sieht  der  Mann 
vor  allem  auf  die  tüchtigen  Anlagen  des  Knaben,  den  er  sich  erwählt,  und  noch  schärfer 
wird  die  aoETrj  des  Mannes  geprüft,  ob  sie  wert  sei  der  Uebertragung ;  deshalb  war's 
Schande  für  den  Knaben,  keinen  Liebhaber  zu  finden,  und  andererseits  eine  —  in  Kreta 
öffentlich  und  von  der  Familie  gefeierte  —  Ehre  für  den  Knaben,  einen  ehrenwerten  Lieb- 
haber gefunden  zu  haben  und  ihm  feierlich  verbunden  worden  zu  sein.  Daher  der  Ehren- 
titel H/.1JV01  für  die  Knaben,  die  der  Liebe  eines  Mannes  teilhaftig  geworden  waren,  daher 
ihr  Ehrenkleid,  ihre  Ehrung  bei  jeder  öffentlichen  Gelegenheit,  nicht  einmalige,  sondern 
dauernde;  denn  diese  Knaben  sind  durch  die  Liebe  in  den  Besitz  der  dosz/j  gekommen, 
der  diese  Auszeichnungen  zustehen.  Wie  tief  eingewurzelt  dieser  Glaube  an  die  Veredelung 
des  Knaben  durch  die  Mannesliebe  und  wie  allgemein  er  verbreitet  war,  zeigt  deutlich  Plato. 
Lässt  er  doch  im  Symposion  den  Aristophanes  aussprechen:  nur  diejenigen  würden  tüchtige 
Männer  im  Staate,  die  als  Knaben  eines  Mannes  Liebe  erfahren  haben  (Symp.  191  E, 
192  A).  Und  zwar  ist  es  die  sinnliche  Knabenliebe,  von  der  hier  allein  die 
Rede  ist"*). 

Das  ist  der  springende  Punkt  in  der  Erklärung  der  griechischen 
Knabenliebe,  das  Ergebnis,  zu  dem  Bethe  im  Gegensatze  zu  den 
früheren  idealisierenden  Erklärungen  der  Päderastie  gelangt  ist.  In 
sehr  scharfsinniger  Weise  weist  er  nach,  dass  in  dem  spartanischen 
Terminus  technicus  eiotiveZv  =  ioäv  =  „die  Seele  im  Liebesakte  ein- 
hauchen" das  ursprüngliche  Motiv  für  den  unzweifelhaft  als  Volks- 
sitte eingewurzelten  Akt  der  Pädikation  zu  suchen  ist.  Diese 
beruht  nach  Bethe  auf  dem  uralten  Glauben,  dass  durch  die  Im- 
missio  membri  in  anum  und  die  Ejaculatio  seminis  in  anum  die  Seele, 
der  Geist,  das  Wesen  des  Liebhabers  auf  den  Knaben  übertragen 
wird.  So  entsteht  aus  dem  tierisch  -  sinnlichen  Akte  ein  seelisches 
Wechselverhältnis.  Bezüglich  der  näheren,  durchaus  überzeugenden 
Beweisführung  sei  auf  Bethe's  Abhandlung  verwiesen,  die  ja  nur 
als  eine  theoretische  Erklärung  für  die,  wie  wir  noch  sehen  werden, 
ungemeine  Häufigkeit  der  Pädikation,  des  analen  Coitus  bei  der 
Knabenliebe  zu  betrachten  ist,  in  dem  Sinne,  dass  jetzt  diese  Pädi- 
kation das  Primäre  bei  jedem  päderastischen  Verhältnis  war,  wäh- 
rend   die    idealisierenden  Autoren  -),    die    ihr    häufiges  Vorkommen   ja 


i)  Bethe  a.  a.  O.,   S.  457—458. 

2)  Z.  B.  J.  P.  Mahaffy,  Social  Life  in   Greece  from   Homer  to  Menander,  London 
1874,  S.  306—311. 


—    560    — 

auch  nicht  leugnen  konnten,  sie  für  das  Sekundäre,  für  eine  Folge 
der  „Entartung"  der  ursprünglich  rein  idealen  Knabenliebe  erklärten. 
Ohne  Zweifel  ist  Bethe  vollständig  im  Rechte,  wenn  er  am  Schlüsse 
seiner  gediegenen  Arbeit  die  hellenische  Knabenliebe  als  eine  „allge- 
mein geübte  Lust"  bezeichnet,  die  durch  das  ganze  Altertum  und 
im  ganzen  weiten  hellenistischen  Kulturgebiet  geradezu  als  ein  not- 
wendiges Element  des  eleganten,  griechisch  gebildeten  Lebens  galt, 
und  als  solches  auch  bei  den  Römern  Eingang  gefunden  hat^). 

Unsere  Aufgabe  ist  weniger  eine  theoretische  Erklärung  der 
Pädikation,  als  der  Nachweis  ihres  überaus  häufigen  Vorkommens 
und  ihrer  Aequivalenz  mit  dem   normalen  heterosexuellen  Coitus. 

Was  die  Ursachen  für  die  grosse  Verbreitung-  des  mannmänn- 
lichen Geschlechtsverkehrs  bei  den  Alten  betrifft,  so  waren  sie  wahr- 
scheinlich verschiedener  Art.  Die  von  Mantegazza  und  anderen 
Autoren  supponierten  anatomischen  Ursachen  der  Päderastie  in 
Südeuropa,  beruhend  auf  einer  stärkeren  sexuellen  Erregbarkeit  der 
Regio  analis,  zum  Teil  infolge  abnormen  Nervenverlaufes,  kommen 
wohl  nur  wenig  oder  gar  nicht  in  Betracht. 

Wichtiger  sind  die  socialen  Ursachen,  auf  die  z.  B.  Schmoller-) 
hinweist.  Wenn  sich  auch  vielleicht  ein  Zusammenhang  der  Päde- 
rastie mit  der  staatlichen  Regulierung  der  Kinderzahl  nachweisen 
lässt,  als  ein  Mittel  der  Hemmung  des  zu  grossen  Bevölkerungs- 
zuwachses, so  konnte  dies  nicht  der  einzige  ursächliche  Faktor  für 
die  Ausbreitung  der  Knabenliebe  sein,  da  ja  der  physische  Akt  der 
die  Nachkommenschaft  vermeidenden  Pädikation  auch  beim  Weibe 
ausgeführt  werden  konnte.  Es  muss  also  mindestens  noch  ein  Um- 
stand hinzukommen,  der  die  Bevorzugung  des   Knaben  erklärt. 

Bedeutsamer  ist  die  von  Hueppe-')  mitgeteilte  Thatsache,  dass 
Griechenland  das  einzige  Land  in  Europa  ist,  in  dem  die  Zahl  der 
männlichen  Geburten  die  der  weiblichen  stark  übertrifft 
und  dieses  Verhältnis  durch  alle  Altersstufen  sich  erhält.  Wahr- 
scheinlich war  dies  im  Altertum  auch  der  Fall,  woraus  sich  das  Auf- 
kommen der  Knabenliebe  miterklären  würde,   das   damals   durch   die 

1)  Die  gleiche  Anschauung  von  dem  durchaus  sinnlichen  Charakter  der  griechischen 
Knabenliebe  vertritt  O.  D.  (=:  Octave  Delepierre)  in  seiner  interessanten  Broschüre 
„Un  point  curieux  des  moeius  privees  de  la  Grece",  Athen  (=  Briissel)  187 1,  8",  24  S., 
während  J.  A.  Symonds,  „Die  HomosexuaHtät  in  Griechenland"  (in:  Das  konträre  Ge- 
schlechtsgefühl von  Havelock  Eilis  und  J.  A.  Symonds,  Leipzig  1896,  S.  37  — 126) 
mir  das  ideale  Moment  zu  sehr  in  den  Vordergrund  zu  stellen  scheint. 

2)  Gustav  Schmoller,  Grundriss  der  Allgemeinen  Volkswirtschaftslehre,  Leipzig 
1901,  Bd.  I,  S.    173. 

3)  P'erdinand  Hueppe,  Zur  Rassen-  und  Socialhygiene  der  Griechen,  Wiesbaden 
1897,  S.   52. 


-     56i     - 

strenge  Ausschliessung  der  Frauen  aus  dem  öffentlichen  und 
gesellschafthchen  Leben  ohne  Zweifel  stark  begünstigt  wurde. 

Die  eigentliche  und  Hauptursache  der  antiken  Knabenhebe  ist 
die  Thatsache,  dass  der  Knabe  und  der  Mann  ästhetisch,  geistig 
und  erotisch  höher  geschätzt  wurde  als  das  Weib. 

Einen  Anhaltspunkt  dafür  liefern  schon  die  sogenannten  Vasen 
mit  „Lieblingsinschriften",  über  die  Wilhelm  Klein  ^)  sich  folgender- 
massen  äussert: 

..Die  Minderzahl  der  Frauennamen  ist  so  auffällig  —  es  sind  im  ganzen  30 
Gefässe  gegen  528  mit  männlichen  —  namentlich  wenn  wir  noch  beachten,  dass  ihr  Vor- 
kommen auf  Gefässen,  die  ihren  Toilettebedürfnissen  entsprechen,  überwiegt,  dass  wir  sie 
ohne  Gefahr  vernachlässigen  köimen". 

Es  wurde  also  fast  ausschliesslich  auf  diesen  Vasen  der 
männlichen  Schönheit  gehuldigt  —  rj  Jiäig  xaXy  kommt  nur  sehr 
selten  gegenüber  dem  6  Ttaig  y.aXög  vor  —  die  weiblichen  Reize  galten 
nichts  in  Vergleichung  mit  denjenigen  der  Knaben,  die,  wie  ein 
älterer  Arzt-)  sich  ausdrückt,  eine  „Aufregung  der  feineren  Sinne 
der  Wollust"  bewirkten.  Ausgebildet  wurde  dieser  Sinn  für  die 
Schönheit  der  männUchen  Formen  in  den  Gymnasien  und  an  anderen 
öffentlichen  Orten,  wo  die  Jugend  nackt  sich  tummelte  und  gemein- 
schaftlichen Leibesübungen  oblag,  oder  bei  den  grossen  Festen  und 
im  Theater,  wo  man  ebenfalls  männliche  Kraft  und  Schönheit  be- 
wundern konnte.  Dies  hebt  ausdrückhch  Cicero  (Tusc.  Quaest.  IV. 
33)  hervor,  aus  diesem  Grunde  liess  der  der  Knabenliebe  feindliche 
Polykrates  die  Gymnasien  und  Palästren  schliessen  (Athen.  XIII,  78). 
Es  sei  auch  an  den  enthusiastischen  H3-mnus  auf  die  Knabenschönheit 
bei  Xenophon  (Sympos.  IV,  10  ff.)  und  bei  Isokrates  (Oratt.  Att., 
Tom.  IL  p.  243)  erinnert,  welcher  letztere  ausdrücklich  auf  die  Er- 
regung der  Wollust  durch  die  physische  Schönheit  des  Knaben  auf- 
merksam macht 3).  Nach  Lukianos  (Amor.  33  ff.)  entspringt  die 
Knabenliebe  allein  aus  dem  Gefühle  für  das  Schöne,  deshalb  kennen 
die  Tiere  sie  nicht,  weil  ihnen  dieses  Gefühl  fehlt  ^). 

Von  den  Griechen  übernahmen  die  Römer  diese  höhere  phy- 
sische Schätzung  der  Mannes-  und  Knabenschönheit  wie  das  am 
augenfälHgsten  in  einem  sehr  interessanten  Epigramme  des  Mar- 
tialis  (XI,  43)  zum  Ausdruck  .kommt: 


i)  Wilhelm    Klein,    Die    griechischen    Vasen    mit    Lieblingsinschriften,    2.  Aufl., 
Leipzig  1898,  S.  2. 

2)  Landsberg  in  HenscheTs  „Janus",  Neue  Folge,  Bd.  II,  S.  617. 

3)  Vgl-  *ii^  Stelle  bei  van  Limburg  Brouwer  a.  a.  O.,  Bd.  IV,  T.  II,  S.  257. 

4)  Vgl.  weitere  Citate  bei  van  Limburg  Brouwer  ib.  S,   274. 


-     562      - 

Deprensum   in  puero  tetricis  me  vocibus,  uxor, 
Corripis  et  ciilum  te  quoque  habere  refers. 
Dixit  idem  quotiens  lascivo  Juno  Tonanti  ? 
nie  tarnen  grandi  cum  Ganymede  iacet. 
Incurvabat  Hylan  posito  Tirynthius  arcu: 
Tu  Megaran  credis  non  habuisse  nates  ? 
Torquebat  Phoebum  Daphne  fugitiva:  sed  illas 
Oebalius  flammas  iussit  abire  puer. 
Briseis  multum  quamvis  aversa  iaceret, 
Aeacidae  propior  levis  amicus  erat. 
Parce  tuis  igitur  dare  mascula  nomina  rebus, 
Teque  pula,  cunnos,  uxor,  habere  duos. 

Ueber  die  thatsächliche  Häufigkeit  des  homosexuellen  Ge- 
schlechtsverkehrs durch  Pädikation  giebt  schon  die  oben  mitgeteilte 
griechische  Terminologie  (S.  527 — 528)  Aufschluss,  wo  die  verschie- 
denen Worte,  die  sich  auf  den  Missbrauch  des  Afters  beziehen,  mit- 
geteilt sind.  Auch  die  Dichter  deuten  mit  unzweideutigen  Worten 
darauf  hin,  z.  B.  Theokrit  (Id.  V,  41): 

'ÄviyJ'  ejivyiCov  rv,  rv  d^äkyeeg 
ferner  ebendas.  Vers  87  und  Vers  116;  Straton  von  Sardes  (Epigr.  6, 
5")  77»  95.  cit.  nach  Limburg  Brouwer  a.  a.  O.,  S.  233);    Aristo- 
phanes  (Plut.   149  — 152). 

Eine  noch  deutlichere  Sprache  reden  die  Abbildungen  auf 
griechischen  Vasen  und  Gefässen.  Roulez^)  hat  zuerst  darauf 
hingewiesen,  in  wie  unzweideutiger  Weise  alle  bildlichen  Darstellungen 
diese  physischen  Beziehungen  zwischen  Mann  und  Knaben  wiedergeben. 

Sehr  bemerkenswert  ist  eine  päderastische  Scene  auf  einem  von 
Gerhard  und  Panofka-)  beschriebenen  Gefäss  von  gebrannter  Erde. 

Ein  vorwärts  gebückter  Jüngling  ist  am  Bauche  des  Gefässes 
dargestellt,  mit  ausgestreckter  Rechten  die  Finger  wie  geöffnet,  in 
der  Linken  ein  Gerät  auf  dem  Boden  haltend  wie  einen  Reifen; 
hinter  ihm  ein  Jüngling,  der  ihn  rückwärts  unzüchtig  bedroht. 
Vielleicht  musste  in  dem  hier  dargestellten  Spiel  derjenige,  bei  dem 
der  Reifen  niederfiel,  sich  diesen  Dienst  gefallen  lassen,  wie  etwa 
bei  unserem  Erraten,  in  wessen  Hand  der  Ring  sich  befindet,  der 
Inhaber  des  Ringes  nicht  selten  einem  Kusse  sich  unterwerfen  muss. 

Das  würde  allerdings  für  eine  unglaubliche  Häufigkeit  des  Pä- 
dikationsakles  sprechen,  wenn  er  als  blosse  Prämie  bei  solchen  Spielen 
zur  Ausführung  kam.     Doch  ist  diese  Deutung  fraglich. 


i)  J.  Roulez,    Choix    de  vases    peints  du  musee  d'antiquites  de  Leide,    Gent   1854, 
S.  69. 

2)  E.  Gerhard  und  Th.  Panofka  a.  a.  O.,  S.  463. 


—     5Ö3     - 

Eine  undeutliche  Gruppe  unzüchtiger  Männerliebe  auf  einem  ponipejanischen  Terra- 
cottagefässe  wird  von  denselben  Autoren')  unter  Nr.   21   beschrieben. 

Nach  F.  Bücheier '•^)  muss  das  Wort  „Paedicatio"  eigentlich 
„Pedicatio"  von  „pedicare"  heissen,  da  dieses  nicht  mit  jialg  zusammen- 
hängt, sondern  mit  pedo,  podex,  wie  dies  auch  nach  Bücheier  die 
Autorität  der  Priapea  ergiebt  und  das  „Pedicare"  auf  pompejanischen 
Wandinschriften.  So  enthält  Priap.  LXVII  ein  verstecktes  Anagramm 
„Pedicare",  nämlich: 

Penelopes  primani  Didonis  primam  sequatur 
et  primam  Cadmi  syllaba  prima  Remi, 
quodque  fit  ex  illis,  mihi  tu  deprensus  in  horto, 
für,  dabis:  hac  poena  culpa  luenda  tua  est. 

Demgegenüber  verficht  Otto  Keller^)  die  Anschauung,  dass 
„pedicare",  dessen  e  statt  ae  auffallend  sei,  in  der  That  von  jtaidixa. 
herkommt.     Man  hätte  das  nie  bestreiten  sollen. 

,, Vielmehr",  meint  er,  ,,lag  die  Aufgabe  vor,  dass  man  die  auffallende  Orthographie 
wie  bei  obscenus  volksetymologisch,  mit  anderen  Worten  eben  durch  falsche  Etymologie 
erklären  musste.  Es  ist  nun  eigentlich  doch  leicht  begreiflich,  dass  pedicare  und  pedere 
in  einen  gewissen  Ideenzusammenhang  gebracht  wurden,  ähnlich  wie  mingere  und  fj-oi^ög 
in  Zusammenhang  gebracht  sind,  nur  dass  es  sich  bei  letzteren  \\m  wirklich  naive  urindo- 
germanische Ideenassociation  handelt,  während  bei  pedicare  und  pedere  wesentlich  der 
rein  zufällige  äussere  Gleichklang  für  eine  späte  etymologische  Hypothese  bestimmend  ge- 
wesen sein  dürfte.  Es  ist  übrigens  bezeichnend  und  bildet  eine  genügende  Entschuldigung 
für  die  altrömische  Volksetymologie,  dass  man  bekanntlich  neuerdings  mit  grossem  Eifer  die 
faktische  Herkunft  des  pedicare   von    ped-,    woher   pedere  und  podex,    verfochten  hat." 

Auf  einer  pompejanischen  Wandinschrift  heisst  es: 

Accensum  qui  pedicat,  urit  mentulam^). 

Eine  sehr  deutliche  Schilderung  des  Pädikationsaktes  bringt 
Priap.  XI: 

Ne  prendare,  cave.  prenso  nee  fuste  nocebo, 
saeva  nee  incurva  vulnera  falce  dabo: 
traiectus  conto  sie  extendere  pedali 
ut  culum  rugam  non  habuisse  putes. 

Aehnliche  Schilderungen  giebt  Martial  II,  51: 

Infelix  venter  spectat  convivia  culi 
Et  semper  miser  hie  esurit,  ille  vorat. 

ferner  IX,  69: 


1)  E.  Gerhard  und  Th.  Panofka  a.  a.   O.,  S.  468. 

2)  Rhein.  Museum  für  Philologie,  N.  F.,  Bd.  XIII,  Frankfurt  a.  M.,  S.  153—155. 
—  Vgl.  auch  die  pompejanische  Inschrift  .,Phoebus  Pedico"  bei  Zangemeister,  Corpus 
Inscriptionum  Latinarum,  Berlin   187 1,  Bd.  IV,  S.  139  (Nr.  2194). 

3)  Otto  Keller,  Lateinische  Volksetymologie  und  Verwandtes,  Leipzig  1891, 
S.   76-77. 

4)  F.  Bücheier,  Die  pompejanischen  AVandinschriften  a.  a.  O.,  S.   259. 


—    564    — 

Cum  futuis,   Polycharme,  soles  in  fine  cacare. 
Cum  paedicaris,  quid,   Polycharme,   facis? 

was  Priap.  LXVIII  näher  erläutert  wird,  wo  es  u.  a.  heisst: 

/usgöaksov  certe  nisi  res  non  munda  vocatur, 
et  pedicorum   mentula  merdalea  est. 

Für  „pedicare"  finden  sich  auch  noch  charakteristischere  und 
plastischere  termini  technici,  z.  B.  „scindere  podicem"  (Priap.  LXXVII), 
,.nates  praebere"  (Priap.  XXII),  ,,nates  pervellere"  (Plaut.  Pers.  V, 
2,  66).  Ja,  bei  Persius  (IV,  34  ff.)  wird  der  Podex  direkt  als  die 
Vulva  der  Kinäden  bezeichnet.  In  dem  Fragment  195  des  Archi- 
1  och  OS  wird  der  Podex  roäjiug  genannt.  „Quo  a  verbo  derivantur 
TEOTXoxQäfiiq,  is  qui  podice  gaudet,  und  didroajuig  is  qui  podicem  ut 
cinaedus  levem  habet"  ^). 

Dass  die  Pädikation  von  der  hellenischen  Knabenliebe  unzertrennlich  war,  lehrt  eine 
flüchtige  Durchsicht  der  griechischen  Dichtung,  wo  wir  dieselben  Poeten  die  ideale  und 
die  rein  physische  Seite  der  Päderastie  verherrlichen  sehen.  Neuerdings  haben  Paul 
Brandt")  und  Otto  Knappt)  die  betreffenden  Stellen  in  erschöpfender  Weise  zusammen- 
gestellt. Aus  dem  von  diesen  Autoren  gesammelten  Material  seien  die  bemerkenswertesten 
Belegstellen  herausgehoben. 

Bei  Athenaios  (XIII,  604  d)  wird  von  Sophokles  erzählt,  dass  er  mit  einem 
schönen  Knaben  „vors  Thor"  gegangen  sei,  um  dort  mit  ihm  zu  verkehren.  Der  Junge 
habe  seinen  eigenen  Mantel  auf  das  Gras  gebreitet  und  mit  dem  des  Sophokles  hätten  sie 
sich  zugedeckt. 

Im   Fragment  66   des  Anakreon  heisst  es  drastisch: 

'AXXa  jiQOJitva 
Qadivovg,  c5  <piks,  /.irjQovg. 

Die  fünfte  Idylle  des'  Theokritos  enthält  den  Wettgesang  zwischen  dem  Ziegen- 
hirten Komatas  und  dem  Schafhirten  Lakon.  Beiden  sind  die  Freuden  der  männlichen 
Liebe,  auch  in  ihren  letzten  Konsequenzen,  durchaus  bekannt.  Komatas  muss  sich  die  An- 
rede CO  xivabog  gefallen  lassen  (V.  25),  doch  auch  er  kann  sich  rühmen,  die  kallipygischen 
Reize  des  anderen  nicht  bloss  mit  den  Augen  genossen  zu  haben  (V.  41 — 44).  Desgleichen 
gesteht  auch  Lakon  seine  erotischen  Spiele  mit  einem  är>]ßo;  .-zalg  ein  {V.  8;).  Noch 
einmal  prahlt  Komatas  mit  seinen  an  Milon  vollzogenen  Heldenthaten  et  dicit  Milonem  cum 
permoleretur  pulchre  cevisse  (podicem  crebro  motu  agitavisse  ob  insignem  voluptatem)  (V. 
117  — 119). 

Ebenso  rühmt  sich  in  Epigramm  317  der  Palatinischen  Anthologie  ein  Ziegenhirt 
einem  anderen   gegenüber  der  Pädikation  eines  dritten   Hirten. 

In  Epigramm  330  derselben  Anthologie  hören  wir  von  einem  Standbild  des  Pan 
neben  einer  schönen  Quelle,  der  den  Wanderer  belehrt,  er  dürfe  von  dem  Wasser  schöpfen. 


i)  Citiert  nach  Paul  Brandt,  Der  Tiaidow  soco;  in  der  griechischen  Dichtung. 
In:  Jahrbuch  für  sexuelle  Zwischenstufen,  herausg.  von  M.  Hirschfeld,  Leipzig  1906, 
Bd.  VIII,  S.  636. 

2)  Paul  Brandt,  Der  .-^aiöcov  socog  in  -der  griechischen  Dichtung.  In:  Jahrbuch 
für  sexuelle  Zwischenstufen,  Leipzig  1906  u.  1907,  Bd.  VIII,  S.  619 — 684  und  Bd.  IX, 
S.   213—312. 

3)  Otto  Knapp,  Die  Homosexuellen  nach  hellenischen  Quellenschriften.  In:  An- 
thropophyteia,  herausg.  von  Friedrich  S.  Krauss,    Leipzig   1906,    Bd.  III,  S.   254 — 260. 


-     5^5     - 

so  viel  er  Lust  habe,  es  aber  nicht  zum  Baden  benutzen;  wenn  er  es  doch  thue,  würde  er 
die  dem  Pan  eigene  Strafe  der  pedicatio  erleiden.  Doch  falls  ihn  dies  vielleicht  gar 
noch  anlocke,    so  wisse   er   auch   noch   andere  Strafen,    die  ihm  weniger  gefallen  würden. 

Aehnliche  Motive  kommen  ja  überaus  häufig  in  den  Carmina  Priapea  vor,  wo  die 
Pädikation  als  die  gewöhnliche  Strafe  den  Gartendieben  angedroht  wird. 

Buch  XII  der  Palatinischen  Anthologie  enthält  94  Gedichte  des  Straton  aus  Sardes 
aus  dessen  Sammlung  von  Epigrammen  auf  schöne  Knaben.  Ueber  die  Motive  des  Coitus 
analis  mit  Knaben  belehrt  uns  Epigramm  7  des  Straton  in  nicht  misszuverstehender  Weise: 

2(piyy.zi]Q  ovH  soriv  Tiagä  Jiag&h'M,  ovds  q)ü.7jfia 

ä:T?.ovv,  ov  qpvaiJti)  ygoitog  kvnvotrj, 
Ol)  }.6yog  rjdvg  sxeTvog  6  :Togvi>i6g,  ovo'  axegaiov 

ß^Jf^fia,   Siöaaxofxh'ij  ö'  sozi  xamoriga. 
yw/Qovvzai  b'oTiidev  jtäoar  z6  Se  jlisiCov  exeTvo, 
ol'x  Eoziv  nov  -d-fig  zl]v  yjoa  -rla^oixh'rjv. 
Als  Motive  für  die  Pädikation   von   Knaben  und  Männern  galten :   die  grössere   Kraft 
■des  männlichen  Sphinkters  gegenüber  dem  des  Weibes,    der  angenehmere  männliche  Geruch, 
<lie    raffiniertere  Ars  amandi    (durch  Küsse,    obscöne   Reden),    die    Möglichkeit    der    Mastur- 
bation   des    Gliedes    des    pädicierten    Knaben.     Aehniich    äussern    sich    Lukianos    (eQont:g, 
p.   457)  und  Achilles  Tatius  II,  35 — 38  über  die  Vorzüge  der  Knabenliebe  vor  der  Liebe 
zu  Frauen. 

Die  Ausfühmng  der  Pädikation  schildert  Epigramm  206  des  Straton,  dessen  Schluss 
lautet : 

'OyJ.ov  xai  f^ers,  KvQi,  y.ai  ifißd/J.orzog  dvda/ov 
:;ioü)zor  avjLifiE/^zär  y  /is/.szär  ua&iTio. 
In  Epigramm    245    wird    der  Vorzug    des    ausschliesslich    auf   Knaben    bezogenen 
^vyi^Eiv   vor    dem    blossen    ([.lövov)   ßirsiv   hervorgehoben.      Bei    älteren,    behaarten    Kinäden 
war  das  tiv/iCecv  weniger  angenehm,   wie  aus  einem  drastischen  Epigramme  des  Meleagros 
{Anthol.   Palat.   XII,   41)   erhellt: 

Ovxht  fioi   Qijocov  ygäffEzai  y.a/.og  ovo"  6  Tivoavyijg 

:zoiv  :iozE,  vvv  d'ijd?]  öa/.ög,  'A.-ro/./.ödorog. 
Szigyoi  &rj/.vv  Egojza'  daovzgojyXoiv  de  jziEOfia 
?.aozavQ(ov  fis/.EZoj  .-roifiiaiv  atyoßdzaig. 
Denselben    Inhalt    hat    ein    Epigramm    des   Aikaios   aus   Messen e   (Anthol.  Palat. 
XII,   30),    während    das    folgende    Epigramm    des    Rhianos    (Anthol.   Palat.   XII,   38)    die 
jugendlichen  Reize  der  ni'yi]  des  Knaben  schildert: 

^Qgai  xal  Xdgizeg  ze  xazd  y?.vxv  ysvav  s'Xacov, 

&  jivyd'  xvcöooeiv  d'  ovöe  yegovzag  säg. 
AeSov  fioi  xivog  ioal  fidxaiga  zv,  xai  rira  naiboiv 
xoo/ieig;  d  nvyd  8'  sitze'  Msvsxgdzsog. 
Es  mussten  also  die  älteren  Kinäden  in  dieser  Beziehung  den  jugendlichen  zu  gleichen 
suchen,    um    konkurrenzfähig    zu    bleiben.      Das    ist    der    Ursprung    der    von    den    römischen 
Dichtern,  besonders  Martial,    so   oft   hervorgehobenen   Depilation   des  Gesässes,    die   sie 
an  dieser  Stelle  nicht  bloss  den  Weibern,  sondern  auch  den  Knaben  ähnlich  macht,  daher 
nicht  als  blosse  Effemination  aufgefassl  werden  kann. 

Die  Thatsache,  dass  der  Coitus  analis  die  gewöhnliche  Art  des 
Geschlechtsverkehrs  bei  der  antiken  Männer-  und  Knabenliebe  war, 
gewinnt   noch    eine   besondere  Bedeutung   und    innige    Beziehung   zu 


—      566      — 

den  venerischen  Krankheiten,  wenn  wir  mit  ihr  die  zweite  Thatsache 
einer  ausgebreiteten  männlichen  Prostitution,  des  „Kinäden- 
tums",  in  Verbindung  bringen.  Diese  musste  sich  mit  dem  Augen- 
blicke entwickeln,  wo  das  individuelle  Verhältnis  zwischen  Mann  und 
Knaben  durchbrochen  wurde  und  ein  Knabe  mehreren  oder  vielen 
Männern  als  Lustobjekt  diente,  was  nach  der  Erklärung  des  Cor- 
nelius Nepos  (Praef.  §  4):  l^audi  in  Graecia  ducitur  adolescentibus 
quam  plurimos  habere  amatores,  unzweifelhaft  der  Fall  war.  Hier- 
aus entwickelte  sich  dann  naturgemäss  sowohl  in  Hellas  als  auch  in 
noch  grösserem  Masse  in  Rom  die  männliche  Prostitution.  Diese 
rjxaigrjxÖTsg  oder  jiöqvoi  (Aeschines  contra  Timarch.  137,  p.  294)  wur- 
den allerdings  in  der  Blütezeit  streng  von  den  ehrbaren  igw/bievoi 
unterschieden  und  politisch  degradiert.  Doch  schon  Aristophanes 
erwähnt  Uebergangsformen  zwischen  beiden,  die  er  ironisch  01  xQi]OToi 
nennt  (Aristoph.  Plut.  155^ — 159))  die  grosse  Geschenke  für  ihre 
sexuellen  Dienstleistungen  nehmen.  Auch  Straton  von  Sardes 
äussert  sich  in  einem  Epigramm  (Anth.  Palat.  XII,  212,  bei  Brandt 
a.  a.  O.  IX,  247): 

Weh   mir,   was  soll  die  Thräne  im  Aug',   was  bist  du  so  traurig? 

Sage  doch,  was  dir  fehlt,  Junge,  und  was  du  begehrst. 
Nunmehr  streckst  du  mir  hin  die  Hand,  die  hohle,  o  Jammer! 

Also  verlangst  du  Geld!     Wer  hat  dich  dieses  gelehrt? 
Bist  nicht  mehr  mit  Gebäck,   mit   Honigkuchen  zufrieden, 

Nicht  mit  Nüssen  wie  sonst,  die  ich  zum  Spiele  dir  gab. 
Nein,  du  denkst  an  Geld  und  Gewinn!     O  Fluch  über  jenen, 

Der  dich  dieses  gelehrt  und  deine  Liebe  mir  nahm. 

Noch  bezeichnender  ist  Epigramm  214: 

Gieb  dich  und  nimm  dies  Geld,  ich  werde  zufrieden  dich  stellen; 
Und  es  wird  mir  dafür  königlich  lohnen  dein  I^eib. 

Ein  drittes  (Epigr.  23g)  spielt  auf  das  Feilschen  über  den  Preis 
der  Hingabe  an; 

Forderst  du  fünf?     Ich  gebe  dir  zehn,    ich  gebe  auch  zwanzig. 
Bist  du  zufrieden  damit?     Danae  war'  es  gewiss. 

Vielfach  bestanden  diese  Geschenke,  mit  deren  Hülfe  die  egaorai 
die  eQMjuevoi  zu  gewinnen  suchten,  aus  verschiedenen  Tieren:  Tauben, 
Enten,  Pfauen,  Hähnen,  Jagdhunden,  Pferden  u.  s.  w.  Roulez^) 
beschreibt  mehrere  Vasenbilder  mit  Darstellungen  von  Päderasten,  die 
solche  Geschenke  den  Eromenen  übergeben. 

Aus  diesen  Verhältnissen  entwickelte  sich  dann  die  männliche 
Prostitution  in  der  typischen  Erscheinung  des  Kinädentums,  der 
Pathici   {yJvaidoi.  xvTidrm,  Xaoiroi,  otfiyy.jat). 

i)  Vgl.  Roulez  a.  a.  O.,  S.   70,  besonders  auch  Tafel  XVII  daselbst. 


-     5b7     - 

Nach  der  Zusammenstellung  von  Rosenbaum  M  waren  ausser 
den  Gymnasien  und  Palästren  die  Barbierstuben,  y.ovqela  (Demosth. 
contr.  Aristogit.  7S6,  7;  Theophrast.  Charact.  VIII,  5;  Plut.  Sympos. 
V,  5;  Aristoph.  Plut.  339),  die  Salbenläden,  fxvooTxoiXela  (Aristoph. 
Equit.  1380)-),  die  Arzneibuden,  largeTa  (Aeschines  contr.  Timarch. 
§  40;  Aelian.  Var.  bist.  VIII,  8),  die  Wechselbuden,  rQdjieCai  (Theo- 
phrast. Charact.  V,  ed.  Ast  p.  183),  die  Werkstätten,  eoyaoT/joia,  die 
Badehäuser  (Theophrast.  Charact.  VIII,  4)  Versammlungsorte  für 
die  männliche  Prostitution  und  ihre  Kuppler  {TtQoaycoyoi.  jnaoTQOJioi). 
Auch  der  Kerameikos  diente  diesem  Zwecke-'').  An  einsamen  dunklen 
Orten,  hauptsächlich  auf  der  Pnyx,  gaben  die  männlichen  Prosti- 
tuierten sich  ihren  Kunden  hin  (Aesch.  contra  Timarch.  p.  35,  p.  go, 
p.   104,  p.    112;  Plato  Sympos.  p.  217b). 

Die  körperliche  Erscheinung  suchte  natürlich  meist  die  Merk- 
male des  Knaben  nachzuahmen ,  w'as  besonders  in  der  Epoche 
Alexanders  des  Grossen  hervortrat,  von  der  an  eine  allmähliche 
Umgestaltung  des  männlichen  Schönheitsideals  bei  den  Griechen 
überhaupt  eintritt. 

„Um  die  Alexanderepoche  wird  es  Mode,  das  Gesicht  zu  rasieren,  und  tritt  an  die 
Stelle  der  vollbärtigen  Hellenen  ein  glattwangiges  Geschlecht,  welches  auf  künstlichem  Wege 
ein  Scheinbild  jugendlicher  Zartheit  festzuhalten  trachtet.  (Vgl.  Becker,  Charikles  III-, 
p.  242  ff.).  Die  Toilettenkünste,  das  Blondfärben  des  Haares  (Menander  bei  Meineke, 
Fragm.  Menandri  et  Philemonis  p.  235  und  Fragm.  comicor.  gr.  IV,  p.  265,  133.  Nikias, 
Anth.  pol.  XI,  398.  Vgl.  Becker,  Charikles  HI-,  p.  248  ff.),  die  Herstellung  künstlicher 
Haarputze  (Diphilos  bei  Meineke,  Fragm.  comicor.  gr.  IV,  p.  409);  das  Malen  der 
Augenbrauen  (Ale.xis  bei  Athen.  XIII,  p.  568  A),  die  Zubereitung  feiner  Schminken 
(Alexis  bei  Athen.  XIII,  568  A;  Theokr.  idyll  XV,  16;  Duris  von  Samos  bei 
Athen.  XII,  542  D)  und  Salben  (Apollonios  bei  Athen,  XV,  p.  689  A)  werden  mit 
grossem  Raffinement  gepflegt.  Nicht  nur  Frauen,  sondern  auch  Männer  suchten  durch 
solche  Mittel  der  Natur  nachzuhelfen.  Der  Phalereer  Demetrios  von  Samos  färbte  sein 
Haar  und  schminkte  sein  Gesicht,  um,  wie  Duris  von  Samos  (Athen.  XII,  p.  542  D) 
sich  ausdrückt,  ein  heiteres  und  zartes  Aussehen  zu  haben.  So  erschien  die  Durchschnitts- 
masse der  damaligen  Griechen  weichlich  und  weibisch  (Klearch  bei  Athenaios  XV, 
p.  687  A:  vi'v  8s  Twr  ä^'^gcoiicov  ov^  ai  oofiai  fxövov  &g  qirjoi  KXeagxog  iv  tqitco  jibqI 
ßion>,  d/Aä  y.al  ai  yooixl  TOV<fSo6v  eyovaai  ti  ovv£y.'&i]).vvovai  xovg  fiEzayeigi^ofih'Ovg). 

Die  Lieblingsfiguren  der  hellenistischen  Dichtung  sind  zarte  Jünglinge  mit  milch- 
weisser  Hautfarbe,  rosigen  Wangen  und  langen  weichlichen  Locken.  Wie  an  Klei  tos, 
dem  Genossen  Alexanders,  der  weisse  Teint  bewundert  wurde,  hebt  Bion  die  schneeweisse 
Haut  des  Adonis  hervor  (Athen.  XII,  p.  532  C;  Bion  idyll,  I,  7,  10).  Pausanias 
(HI,  19,  4)  urteilt  über  den  Hyakmthos  des  Nikias,  der  Künstler  habe  den  Jüngling 
allzu  zart  geschildert,  um  dadurch  auf  die  Liebe  des  Apoll  zu  demselben  hinzudeuten"*). 

i)  J.    Rosenbaum  a.  a.  O.,  S.    128 — 129. 

2)  Vgl.  auch  Wachsmuth  a.  a.  O.,  II,   i,  S.  484. 

3)  Kurt  Wachsmuth  a.  a.  O.,  Bd.  II,  Abt.   i,  S.   259  —  260. 

4)  Heibig  a.  a.  O.,  S.   257  —  258. 


—     568      — 

Diese  Vorliebe  für  effeminierte  Männer  lässt  sich  auch  in  der 
späteren  Vasenmalerei  Unteritaliens  und  ebenso  an  den  Wandbildern 
nachweisen.  Von  einem  Wandbilde,  das  Phrixos  darstellt,  wurde 
Heibig  der  Zweifel  mitgeteilt,  ob  die  Figur  desselben  nicht  vielmehr 
weiblich  sei.  Doch  konnte  er  nach  einer  genauen  Untersuchung 
des  Originals  im  Juli  1872  versichern,  dass  „an  derselben  noch  gegen- 
wärtig deutliche  Spuren   des  männlichen   Gliedes  ersichtlich  sind"^). 

Der  Mythos  von  Apoll  und  Admetos  wird  auf  den  kampani- 
schen Wandbildern  nach  der  alexandrinischen  Version  behandelt,  der 
zufolge  der  Gott  in  den  schönen  Jüngling  verliebt  war.  Die  üppig 
schwellenden  Fleischmassen  und  beinahe  weiblichen  Formen,  welche 
auf  einem  dieser  Bilder  dem  Admetos  eigentümlich  sind,  lassen,, 
verglichen  mit  der  folgenden  von  Rhianos  gegebenen  Schilderung 
der  Reize  eines  von  ihm  begehrten  Jünglings  (Anthol.  palat.  XII,  93,  3): 

rf]  jukv  yäg   Oeodcooog  äyei  norl  niova  oaoxog 

äxjurjv,  xal  yviwv  äv&og  äxrjQaoiov 
darauf   schliessen,    dass   der   Maler   von    einer   ähnlichen  Absicht   be- 
stimmt   war,    wie    sie    Pausanias    bei    dem    Hyakinthos    des   Nikias 
hervorhebt.      Aehnlich    wurden    Ganymedes,    Phrixos    und    Nar- 
kissos  dargestellt. 

Die  Maler  der  Kaiserzeit  folgten  dem  Vorgange  der  Alexander- 
und Diadochenperiode.  Sogar  der  Cyklope  Polyphemos  wurde 
als  bartloser  Jüngling  dargestellt-).  Ja,  man  kann  sagen,  dass  erst 
die  römische  Kaiserzeit  die  Effemination  der  Männer  in  einem  gross- 
artigen Massstabe  entwickelt  hat,  wie  wir  das  aus  den  zahlreichen 
Anspielungen  des  Martialis,  aus  den  Schilderungen  des  J u Ve- 
na lis  (II,  84  ff.)  und  Petronius,  den  Berichten  des  Suetonius 
und  der  Kaiserbiographen  entnehmen  können.  Allerdings  hatte  sich 
schon  weit  früher  durch  Berührung  mit  der  griechischen  Kultur  das 
typische  Kinädentum  in  Rom  entwickelt^).  Schon  Varro  verspottete 
in  seiner  .Satire  „Eumenides"  die  weibischen  Moden  der  Männer^ 
spricht  von  den  „partim  venusta  muliebri  ornati  stola"  und  vergleicht 
diese  Effeminierten  wegen  ihrer  durchsichtigen  Gewänder  mit  Najaden^). 


T)  Heibig  a.  a.   O.,  S.   260. 

2)  Ibidem,  S.   2bo — 261. 

3)  Vgl.  darüber  Meier  a.  a.  O.,  S.    151  — 152. 

4)  Vgl.  O.  Ribbeck,  Ueber  Varronische  Satiren.  In:  Rhein.  Museum  für  Philo- 
logie 1859,  Bd.  XIV,  S.  107.  Als  Gegenstück'  dazu  geisselt  Varro  in  den  „Meleagri" 
die  männliche  Kleidimg  von  Frauen  (ibid.  S.  128)  und  beschreibt  das  Kostüm  einer  ä  la 
Atalanta  aufgeschürzten  Jägerin :  non  modo  suris  apertis,  sed  paene  natibus  apertis  ambu- 
lans;  cum  etiam  Thais  Menandri  tunicam  demissam  habeat  ad  talos  (ähnlich  Juvenal.  VI,  446). 


569    — 


Jedenfalls  hat  die  Päderastie,  gegen  die  schon  169  v.  Chr.  die 
lex  Scantinia  sich  richtete,  sich  wesentHch  unter  griechischem  Ein- 
flüsse entwickelt.  Das  beweisen  die  vielen  Namen  griechischer  Her- 
kunft für  die  Homosexuellen  beiderlei  Geschlechts,  wie  „malacus" 
(Plaut.,  Mil.  III,  I,  74;  Plaut,  Trucul.  II,  7,  48),  „cinaedus" 
(Lucil.,  Fragm.  II,  10;  Juven.  II,  9  u.  a.),  „pathicus"  (Juven. 
IX,  130  u.  ö.)i),  „catamitus"  (Plaut.,  Menaechm.  I,  2,  35;  Auson., 
Epitaph.  XXXIII),  „draucus"  (MarL  I,  97,  11  ff.;  Mart.  VII,  67, 
4  ff.),  „ephebus"  (Mart.  IX,  36,  3),  „parectatus"  („tum  ephebum 
quemdam  quem  vocant  parectaton",  Lucil.,  Fragm.  XX,  8),  „andro- 
gynus"  (Auson.  LXVIII,  15).  Erwähnt  w^erden  ferner  noch  „ma- 
lacissare"  (Senec,  Epist.  66;  Plaut.,  Bacch.  I,  i,  31),  „coprea", 
„lastaurus",  „maltha"  (Horat.,  Sat.  I,  2,  24),  „patula"  als  pä- 
derastische  Bezeichnungen  -). 

Jedoch  hat  auch  die  lateinische  Sprache  schon  seit  der  plautini- 
schen  Epoche  eine  reiche  homosexuelle  Terminologie  entwickelt^). 
Wir  führen  nur  an: 

,,Abronis  vitam  agere'-  =  Pathicus,  pathice  vivere. 

„All ex  viri"  =  cinaedus,  paedico.     Ab  „allicere"    (Plaut.,  Poenul.  V,   5,  31). 

„Amator"  (Senec,  Controv,  I,  5). 

,,Amatus"   pro  catamito  (Gellius,   Noct.   Att.   XVI,    ig). 

,,Ambulare  in  masculos"  de  paediconibus  (Senec,  Controv.  I,   5). 

„Amores"  pro  catamitis  (Plaut.,   Mostell.  arg.    i  ff.). 

„Bell US"  pro  molli  et  effeminato  (Mart.  III,  63). 

„Blax",  moilis,  lascivus,  delicatus  (Festus  bei  Rambach,  S.   57). 

„Caedere"   ^   pedicare  (Plaut.,   Casin.   III.    i,    14). 

„Calamistratus"   =   moilis,  effeminatus  (Plaut.,  Asin.   III,   3,   37). 

„Capillati"  pro  catamitis  (Mart.  III,   58,   31). 

„Cathedralitii",  molies,  efTeminati  (Mart.  X,   13,    i). 

„Clunes    tor quere"    specialiter   dicebatur   de   patiente    in    pedicatione   (Arn ob. 
1,   2;  Juven.   II,    19  sqq.). 

„Comati",  molies,   cinaedi,   pathici   (Juven.   II,    15;   XI,    149). 

„Concubinus",    pusio,    catamitus    (Suet.    in    Galb.    22;    Mart.   VIII,   44,    l" 
Catull.,  c  61,  v.    126  u.  ö). 

„Conquiniscere",  inclinari  ad  patiendam  pedicationem  (Plaut.,  Cistell.  IV,  i,  5), 

„Culex"  paedico  (Hadrian.,  Epigr.  apud  Spartian.  Rambach  93). 

„Culus"  podex:  frequentissime  de  pathicis    (Mart.  II,  51,  5;    Catull.  XXXI, 
I  sqq.). 

„Cymbala  pulsans"   pro  cinaedo,    ex  Gallis,    Cybeles  sacerdotibus,    more  cinae- 
dio,  et  cymbala  pulsare  solitis  (Juven.  IX,   60  sqq.). 

„Dalraaticus"  pro  cinaedo  (Lamprid.  in  Commod.  Ramb.  97). 


1)  Dem    entsprechend    heissen    die    sich    gewerbsmässig    der    Pädikation    hingebenden 
Frauen  „pathicae"  (Priap.  XL;  LXXIII). 

2)  Vgl.  Saalfeld,  Hellenismus,  S.   35,  zitiert  nach  G.  Grupp  a.  a.  O.,  I,  326. 

3)  Vgl.  die  Wörterbücher  von   Pierrugues,  Blondeau  und  Rambach. 


—     570     — 

„Delicatus",  moUis  (Cicero  ad  Attic.  I,    i6;    Catull.   X\'1I,    14  sqq.). 

,,Delumbis",   mollis,   effeminatus  (Pers.  I,    104  sq.). 

„Depilatus",  mollis,  pathicus  (Senec.  de  Constant.  sap.    i,  7). 

„Destituere  nudum-',  pedicare  (Cicero  ad  Fani.  IX,   22). 

,,DigituIo  Caput  scabere",    sigmim    pathicorum    (Senec,    Epist.   52;    Juven. 

IX,    131  sqq.). 
„Discinctus"  =  mollis,    pathicus    (Sueton.     in    Jul.    Caesarem    45;    Seiiec, 

Epist.   92;  Pers.   IV,   21  sqq.;   Horat.,   Sat.   II,    i,    73  sq.). 
„Divellere    pilos",    Cultus  mollium  et  semivirorum.     \'ellebant    praesertim    pa- 
thici     (Juven.    XIV,     194  sq.;    Senec,    Epist.     115;    Juven.    IX,     12  sq.; 
Mart.    III,    74,    i;    IIT,    63,    3  —  6;    V,    41,    6;    Ovid.,    Art.  am.    I.    520; 
Auson.,   Epigr.   CXXIII,    I  sq.;   Mart.   IX,   27,  i  sq.). 
„Diviso res"  pro  paediconibus  (Ramb.  98). 
„Dominus"  pro  catamito   (Mart.   XI,    71,    i  sq.). 
„Effeminatus"  (Priap.  58,   2). 

„Emasculator",  qui  de  viso  mulierem  facit  (Apulej.  in  Apolog.-Ramb.  113). 
,,Evirare"   effeminare  (Mart.   V,  41,    i ). 
„Exoleti"    (Sueton.    in  Tib.  43;    Plaut.,    Poenul.  Prolog.    17  sq.;    Mart.  XII, 

43,   7  sq.;    XII,  91,    I  sq.;    Senec,  Epist.  66). 
„Exossus",  mollis,  effeminatus  (Apul.,  Met.    i). 
„Fluxus",  mollis,  pathicus  (Mart.  V,  41,   i  sq.). 

„P'ornix"    pro    pathico.     Sic   Curio    Caesarem    vocavit   (Sueton.    in   Caes.   149). 
„Fragilis",   de  viro  prostituto,  patiente  in  venerem  (Horat.,  Sat.  I,  8,  38  sq.). 
„Galbanatus"  pro  molli  et  pathico  (Mart.  III,  82,    i  sq.). 
,, Gemelli",  cinaedi,  pathici   (Catull.  I,  III,    i  sq.). 
„Glabri"    pro    mollibus    et    cinaedis,    qui,    muliebria    patientium    more,    se  totum 

corpus  levigabant  (Mart.   XII,   38,   4  sq.). 
,,Ignavus"  delicatus,  mollis  (Plaut.,  Casin.  II,  3,   23). 
„Imbulbitare"    puerili    stercore    inquinare,    quod    accidit    pedicantibus    (Lucil., 

Incert.  Fragm.  36). 
,,Inclinare",  incurvare  ad  puerile  officium  (Juven.  X,   220  sq.). 
„Incubitatus",  paticus  in  paedicatione,  inclinatus  (Plaut.,  Pers.  II,  4,  3). 
„Incurvare",  flectere  ad  puerile  officium   (Mart.  XI,   43,   5  sq.). 
„Integri  pueri",  nondum  viliali  (Catull.  XXXII,    i  sq.). 
„Internuculus",  catamitus,  pedicatus  (Petron.,  Ramb.    160). 
„L'evis",.  saepe  pro  molli  et  pathico  (Pers.  I,  82  sq.). 
„Lumbus    tener",  mollis  (Juven.  VIII,    16  sq.). 
,,Manicatus,  Manuleatus",    mollis,    effeminatus,    mulierculus    (Senec,    Epist. 

I,  33;  Stat.,  Theb.  VII,  657  sq.). 
„Massilienses"  =  molles,    paedicones    (,,ubi    tu    es   qui   colere    mores    massi- 

lienses  postulas?    Nunc,  tu  si  vis  subigitare  me,  proba  est  occasio"  (Plaut., 

Cas.  V,  4,   I  sq.). 
„Meritorii  pueri",  catamiti  (Juven.  III,   234). 
,, Mollis",    pathicus    (Cael.    Aurelian.,    Chron.  morb.    IV,    9;    Mart.  IX,  47, 

5  sq.). 
„Morbus"    de    postera    venere    (Juven.  II,    16  sq.,   50;    IX,    48  sq.;    Auson., 

Epigr.  CXXII,  5  sq.). 
„Morbosus",  cinaedus,  pathicus  (Catull.  LH,   i  sq.). 
„Muliebris    patientia",    de    pathicis    et    catamitis    (Petron.,    Sat.;    Auson., 

Epigr.   CXXII,   5  sq.). 


—     571      — 

„Muliebrosus",  mollis,  effeminatus  (Plaut.,  Poenul.   V,   5,  24). 

„Ocquiniscere",  inclinare  (Rambach  211). 

„Officium  puerile",  patientia  pueri  paedicati    (Plaut.,  Cist.  IV,    i,  5;    Mart. 

IX,  67,    I  sq.). 
„Opus  muliebre",  patientia  paedicati  (Petron.,  Satir.). 
„Paedagogium",  paedicatio  (Sueton.  in  Neron.  28). 
,, Passivus",  pathicus  (Jul.   Firmic.  in  Math.   4). 
„Perforare",   praesertim  de  paedicante  (Priap.   LXXVIII,   3  sq.). 
„Percidere",  pedicare  (Mart.  VII,  62,    i  sq.;  Priap.  XIV,  5  sq.). 
„Praetextatus",  saepe  pro  impuro,  a  puerorum  flagitioso  officio  (Juven.  II,  171). 
„Puellascere",  effeminari  (Varro,  Sat.  Menipp.  44). 
„Pullarius",  cinaedus  ^). 

„Pullus"  catamitus  (Plaut.,  Poenul.  V,  5,   13  sq.). 

„Pulliprerao",  qui  pueros  premit  et  subigit  (Auson.,  Epigr.  LXX,  8). 
„Pusio"  pro  catamito  (Juven.  VI,  34). 
„Resinatus",    mollis,   pathicus,  quod  libidinosi  hujus  farinae  resina  pilos  evelle- 

bant  pudendorum    (Juven.  VIII,    II4). 
„Resupinati".   molles,   infames  (Juven.   VIII,    176). 
,,Scarabaeus'',    paedico,    a  more    scarabaeorum    qui    stercore   gaudent    (Auson., 

Epigr.  LXIX,  9  sq.). 
„Scindere",  pedicare  (Priap.  LXXVII,  9). 
„Scortum",    pro    puero   catamito    (Plaut.,    Poenul.  prolog.    17  sq.;    Sueton.  in 

Vitell.  3). 
„Socraticus",  cinaedus,  pathicus,  qui  muliebria  patitur  (Juven.  II,    10). 
„Sponsa"  pro  catamito  (Mart.  VI,  64,  5;  Juven.  I,  78). 
,,Stabulum"  pro  pathico  (Sueton.  in  Caes.  49). 
„Subulo",    paedico,    a    subula    qua    sutores   corium    pertundunt  (Auson.,  Epigr. 

LXIX,  8). 
„Suppedere",  pedicare  (Cicer.  Ep.  ad  Famil.  III,   22). 
„Supplicium  puerile",  patientia  in  pedicatione  (Mart.  II,   60,   2). 
„Testiculare",  pedicare  (Plaut.,  Amph.  II,   2,    193  sp.). 
„Unguentatus",  pro  moUi  et  cinaedo  (Catull.  LVI,    142). 
„Usurarius",  catamitus  (Plaut.,  Curcul.  Itl,    i,   12  sq.). 
„Vesica"  de  podice;  sensu  pedicationis  (Plaut.,  Casin.  II,  8,  21  sq.). 
„Parum  vir",    effeminatus    (Quintil.,    Inst.    orat.    V,    9;    A.  Gellius    I,    5; 

Mart.  II,  36,   4). 
„Virum  quaerere",  quem  videbant  hominem,  vestitu,  victu,  incessuque  möllern, 

more  pathicorum,  de  eo  dicebant:  „hie  virum  quaerit"  (Petron.,  Sat.  119,  27). 

Es  ist  kein  Zweifel,  dass  in  der  Kaiserzeit  die  Päderastie  und  die 
männliche  Prostitution  fast  den  gleichen  Umfang  angenommen  hatte 
wie  die  Prostitution  der  Weiber.  Die  Bordelle  dienten  beiden  Zwecken 
(Petron.,  Sat.  8;  Mart.  XI,  45,  2),  ausserdem  gab  es  eigene  Knaben- 
bordelle  (Cod.  Theodos.  IX,    7,  6).     In    der   Oeffentlichkeit   spielten 


i)  Von    „pullus"    junges    Thier,    junges    Huhn;    vgl.    Otto    Keller,    Lateinische 
Volksetymologie  etc.,    Leipzig    1891,    S.    178.      AusonLus    hat    ,, felis    pullarius"    Hühner- 
marder =  :jai8eQaoTtjg  (Epigr.  LXX,  5);  GIoss.  Cyrill.,  p.  564,  iq:  jiaiSeQaoTrjg,  pullarius. 
Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  O' 


—      0  /  ^      — 

bei  gewissen  Festen  die  Päderasten  dieselbe  Rolle  wie  bei  anderen 
die  Prostituierten.  So  schildert  Petronius  (Sat.  2;^)  das  schamlose 
Treiben  der  Kinäden  beim  Priapusfeste,  wo  einer  von  ihnen  das 
folgende  bezeichnende  Lied  singt: 

huc  huc  cito  cotivenite  nunc,   spatalocinaedi, 
pede   tendite,  cursum  addite,  convolate  planta 
femoreque  facili,  clune  agili  et  manu  procaces, 
moUes,   veteres,   Deliaci  manu  recisi. 

Apulejus  macht  uns  (Metamorph.  L.  VIII)  in  eingehender 
Weise  mit  dem  päderastischen  Kulte  der  Kybelepriester  bekannt, 
die  als  Pathici  sich  öffentlich  jungen  Männern  hingaben.  Das  gleiche 
mussten  die  schön  gelockten  Pagen  des  kaiserlichen  Hofes  und  an- 
derer vornehmer  Herren  thun.  Sie  standen  nach  dem  Diner  bereit, 
um  sich  von  den  Gästen  missbrauchen  zu  lassen.  Sie  waren  in 
durchsichtige  Gaze  gekleidet,  um  die  Wollust  anzureizen  ^).  Sicher 
gab  es  geheime  Päderastenklubs.  Das  Fest  eines  solchen  schil- 
dert Juvenal  (Sat.  II,  84  ff.),  bei  dem  die  Kinäden  die  Feier  der 
Bona  Dea  in  weiblicher  Kleidung  und  unter  Anwendung  aller  weib- 
lichen Toilettenkünste  begingen,  unter  Ausschluss  von  Frauen,  also 
ganz  nach  Art  unserer  modernen  „Männerbälle".  Ja,  er  erwähnt 
sogar  die  Hochzeit  eines  gewissen  Gracchus  mit  einem  Hornbläser 
(Juven.  II,  117  — 120),  bei  der  die  Gäste  die  Glückwünsche  darbringen, 
während  die  „Braut"  im  Schoosse  des  Gatten  liegt!  Diese  Männer- 
hochzeiten waren  nichts  Aussergewöhnliches.  Haben  doch  auch 
Kaiser  wie  Nero,  der  sich  mit  Sporns  und  Doryphorus  ver- 
mählte, wie  Heliogabalus  öffentliche  Hochzeiten  mit  Männern  ge- 
feiert, bei  denen  Brautschleier,  Zeugen,  Mitgift,  Brautbett  und  Hochzeit- 
fackeln und  schliesslich  sogar  die  öffentliche  Schaustellung  der  Paedi- 
catio  nicht  fehlten!  (Tacit,  Annal.  XV,  37;  Sueton.,  Nero  28,  29; 
Lampridius,  Heliogabalus  10).  Auch  das  aus  Lustknaben  bestehende 
sogen.  „Paedagogium"  der  Kaiser  muss  hier  erwähnt  werden'-*). 

Es  ist  nun  interessant  und  von  Bedeutung  für  die  Kenntnis  der 
Beziehungen  zwischen  Pädikation  und  venerischen  Krankheiten,  die 
physischen  Merkmale  der  passiven  Päderasten  und  andere  Kenn- 
zeichen ihrer  sexuellen  Bethätigung  zusammenzustellen. 

I.  Depilation.  —  Während  die  männlichen  Kinäden  das 
Haupthaar    nach    Frauenart    lang    wachsen    und    herabwallen    Hessen, 


i)  Seneca,  Epist.  123,  15  f.  Vgl.  Theodor  Birt,  Zur  Kulturgeschichte  Roms, 
Leipzig   1909,  S.   146. 

2)  Vgl.  Th.  Birt,  De  amorum  in  arte  antiqua  simulacris  et  de  pueris  minutis  apud 
antiquos   in  deliciis  habitis.      Marburg    1892. 


—      0/  0      — 

pflegten  sie  um  so  sorgfältiger  alle  übrigen  Körperhaare,  an  Lippen, 
Extremitäten,  Brust  und  Bauch,  an  den  Genitalien  und  vor  allem 
am  After  zu  entfernen,  durch  Ausrupfen  mit  den  Fingern  oder 
Pincetten  oder  durch  Anwendung  künstlicher  Enthaarungsmittel^). 
Besonders  das  glatte,  haarlose  Gesäss  ist  ein  Hauptkennzeichen  des 
Pathicus.  (Vgl.  über  die  Depilation  der  Kinäden  Mart.  11,  29  u.  62; 
VI,  56;  IX,  27  u.  47;  Sueton.,  Galba  22;  Sueton.,  Otho  12;  Persius 
IV,  37  —  41;  Mart.  III,  63  u.  74;  Mart.  V,  41  u.  61;  Juvenal.  IX, 
12;  Catull.  XXXIV;  Julius  Capitolinus,  Pertinax  8;  Spartianus, 
Hadrianus  4.) 

2.  Das  ,,cevere".  —  So  nannte  man  eine  wollüstige  Bewegung 
des  Gesässes,  womit  der  Kinäde  entweder  beim  Gehen  Männer  an- 
lockte oder  beim  Coitus  das  Weib  nachahmte. 

et  de  virtute  locuti 

Clunem  agitant.     Ego  te  ceventem,  Sexte,  verebor? 
(Juvenal.  II,  20  —  21;    vgl.   ferner  Juvenal.  IX,   40;    Mart.  III,   05; 
Plautus,  Pseudol.  III,  2,  75).     Deshalb   hat    wohl  Suidas   nicht  mit 
Unrecht  das  Wort  „Kinäde"  von  xtreiv  to.  aldöla  abgeleitet. 

3.  Aeussere  Erscheinung,  Gang,  Blick,  Stimme.  —  Die 
weibische,  nervöse  Erscheinung  des  Pathicus,  seinen  tänzelnden,  wie- 
genden Gang,  seine  feine,  dabei  aber  durchdringende  Stimme  schil- 
dert vorzüglich  Polemon  (Physiognom.,  lib.  II,  g,    i  c,  p.   290): 

.,Der  Androg)-ne  hat  einen  schmachtenden  und  lüsternen  Blick,  und  verdreht  die 
Augen  und  lässt  sie  umherschweifen,  zuckt  mit  der  Stirn  und  den  Wangen,  die  Augen- 
brauen ziehen  sich  auf  einen  Fleck  ztisammen,  der  Hals  wird  gebogen,  die  Hüfte  ist  in 
beständiger  Bewegung;  alles  zuckt,  Kniee  und  Hände  scheinen  zu  knacken,  wie  ein  Stier 
schaut  er  um  sich  und  vor  sich  nieder.  Er  spricht  mit  feiner  (qxovsl  Xsjitov),  aber  kräch- 
zender und  kreischender,  sehr  verdrehter  und  zitternder  Stimme." 

(Uebersetzung  von  J.  Rosenbaum.) 

Aehnlich  schildert  Adamantus  (Physiognom.,  lib.  II,  38,  I  c, 
p.  440),  der  auch  die  (pcovrj  Xejmq  herv^orhebt,  den  Kinäden.  Als 
Kivaidov  07]jueia  bezeichnet  Aristoteles  (Ph3'siognomicon,  cap.  3  in 
Scriptores  Physiognomiae  veteres,  ed.  J.  G.  Fr.  Franz ius,  Altenburg 
1780,  p.  51)  das  „gebrochene"  Auge,  einwärts  gebogene  Kniee,  schlaffe 
Bewegungen  der  Hände,  Uebereinanderschlagen  der  Schenkel  beim 
Gehen,  Umherwerfen  der  Augen  -). 


1)  Das  Enthaaren  der  Männer  wurde  als  Gewerbe  von  Frauen,  den  ,,ustriculae", 
betrieben  (Tertull.,   De  pallio,  c.   4). 

2)  Deshalb  bezeichnet  auch  Aristophanes  solche  Weichlinge  als  Frauen,  z.  B. 
Sostrate  und  Cleonyme  statt  Sostratos  und  Cleonymos  (Wolken  678  und  680),  ferner 
Horat.,  Sat.  I,  8,  39  („Pediatia"  statt  „Pediatius'").    Vgl.  auch  Cicero.  De  oratore  H,  68,  277. 

37* 


—     574     — 

Nach  Lukianos  (adversus  indoctum,  c.  23)  gab  es  ein  Sprich- 
wort, wonach  es  leichter  sei,  fünf  Elephanten  unter  den  Achseln  zu 
verbergen,  als  einen  Kinäden,  so  sehr  werde  dieser  durch  Kleidung, 
Gang,  Blick,  Stimme,  gebogenen  Hals,   Schminke  etc.  charakterisiert. 

4.  Körperliche  Anzeichen  der  passiven  Päderastie.  — 
Dass  der  Geschlechtsverkehr  zwischen  Männern  in  Vergleichung  mit 
dem  normalen  Geschlechtsverkehr  etwas  Unnatürliches,  Gewaltsames 
ist  und  mit  viel  mehr  Anstrengung  verbunden  ist,  das  haben  die 
antiken  Aerzte  wohl  gewusst.  Dafür  spricht  die  folgende,  sehr  in- 
teressante, bisher  gar  nicht  beachtete  Stelle  des  Ruphos  von  Ephe- 
sos  bei  Oreibasios  VI,  38  (ed.  Bussemaker  et  Daremberg, 
Bd.  I,  S.  540),  wo  er  den  heterosexuellen  mit  dem  homosexuellen 
Beischlaf,  der  offenbar  etwas  ganz  gewöhnliches  war,  vergleicht: 

Ka'&oXov  juev  al  julieig  ipvxQoregov  t6  nw/xa  änegya^ovrai.  'Hooov 
jusv  eloi  ßiaioi  al  7106g  t6  d^rjXv  yivojuevac  öio  xal  )]OOov  kvnrjQai  al 
de  JiQog  16  olqqev  ovvtovoi  jtiev'  Jioveiv  de  jueiCovwg  dvayxdCovoiv.  („Im 
Ganzen  kühlen  die  Begattungen  den  Leib  ab.  Die  mit  Frauen  vor- 
genommenen sind  weniger  wider  die  Natur,  deshalb  auch  weniger 
beschwerlich.  Dagegen  die  mit  Männern  anstrengend  imd  notwendig 
mit  grösseren  Schmerzen  verbunden".) 

Das  Wort  „novelv"-  ist  der  allgemeine  terminus  technicus  für 
die  Schmerzen  und  die  Leiden  infolge  der  Pädikation.  Das 
ward  bestätigt  durch  ein  sehr  interessantes,  neuerdings  von  Sudhoff 
in  seiner  wertvollen  Studie  „Aerztliches  aus  griechischen  Papyrus- 
Urkunden"  i)  reproduziertes  Papyrusblatt,  das  den  Hüllen  einer  Kro- 
kodilmumie von  Tebtynis  im  südlichen  Faijüm  entstammt,  bei  den 
Grabungen  aus  Mitteln  der  Mrs.  Phoebe  A.  Hearst-Stiftung  gefun- 
den und  etwa  im  Jahre  100  v.  Chr.  beschrieben  wurde.  Darauf  steht 
das  folgende  „Sprüchlein  perverser  Sexualität": 

(pikojivyiojijg  T[t?]  äno^vrjoxoiv  \ß.vei:eika'\  to  xoig  yvmgifioig. 
xaraxavoare  rd  ö[o]rdQid  /uov  y.al  xaTd\ßare~\ 
xai  xotpare  [i'^va  zoig  rd  eixTivyia   novovoi 
eninaGdfi  (bg  (p\dQ\fiaxov . 

(Tebt.  Papyri,  Part.  I,  S.  5,  No.   i,  Zeile   17!), 

was  Sudhoff  übersetzt: 


i)  Karl  Sudhoff,  Studien  ziu-  Geschichte  der  Medizin,  herausg.  von  der  Pusch- 
mann-Stiftung  an  der  Universität  Leipzig,  Heft  5/6:  Aerztliches  aus  griechischen  Papyrus- 
Urkunden.  Bausteine  zu  einer  medizinischen  Kulturgeschichte  des  Hellenismus,  Leipzig  1909, 
S.   109 — HO. 


—      575      — 

„Ein  Päderast  befahl  seinen  Freunden  auf  dem  Sterbebette: 
Verbrennt  meine  Gebeine  und  brecht  und  zerstosst  sie,  damit  sie 
denen,  die  in  der  Aftergegend  krank  sind,  als  „Arznei"  dienen." 

Sudhoff  begleitet  diese  höchst  interessante  Stelle  mit  folgendem 
Kommentar  (a.  a.  O..  S.    iio): 

.."Wer  nicht  von  der  veritas  novantiqua  felsenfest  überzeugt  ist,  dass  die  Spirochaete 
pallida  erst  mit  Kolumbus'  erster  Rückkehr  ihren  Einzug  in  die  Alte  Welt  hielt,  der  wird 
etwa  an  breite  Kondylome  denken,  die  der  Lüstling  mit  seiner  Asche  noch  bekämpfen  will; 
es  steht  aber  natürlich  nichts  im  Wege,  Rhagaden,  spitze  Kondylome,  Hämorrhoiden  etc. 
in  dieser  Region  anzunehmen,  die  im  harmonischen  Anklang  an  modernste  opotherapeutische 
„Ideen"  mit  der  Asche  dieses  ,, Homosexuellen''  geheilt  werden  sollen,  damit  sie  den  pas- 
siven Päderasten  zum   Werke  nicht  unfähig  machen." 

Es  liegt  aber  gar  kein  Grund  vor,  wie  Sudhoff  es  hier  thut, 
die  Syphilis  hier  überhaupt  in  Betracht  zu  ziehen.  Das  zeigt  die 
Wahl  des  Wortes  „Ttoveiv"'.  Denn  dieses  bedeutet,  wie  aus  der  von 
mir  beigebrachten  Stelle  des  Ruphos  erhellt,  nichts  weiter  als  eine 
direkte  Erkrankung  infolge  des  anstrengenden,  schmerz- 
haften analen  Coitus  (daher  gerade  der  terminus  technicus  ,,n:om>'"), 
sei  es  durch  rein  mechanische  Läsionen  beim  mehr  oder  weniger  ge- 
waltsamen Eindringen  des  Membrum  in  die  Analöffnung  oder  durch 
direkte  Uebertragung  einer  lokalen  Affektion  des  Gliedes  auf  After 
und  Mastdarm,  wobei  man  hauptsächlich  an  Ulcus  molle,  Tripper, 
spitze  Kond^■lome  und  ansteckende  Formen  der  Balanitis  zu  denken 
hat.  Wenn  man  das  rolg  xä  lixTivyia  tioyovoi  übersetzt:  „die  in  der 
Aftergegend  infolge  eines  analen  Coitus  krank  sind",  entsprechend 
der  wahren  Bedeutung  des  Tiovtiv^  so  ergiebt  sich  die  Richtigkeit  der 
obigen  Erklärung  von  selbst. 

Es  ist  überhaupt  sicher,  dass  die  Alten,  Aerzte  und  Laien,  die 
krankhaften  Folgen  der  Päderastie  entweder  auf  den  Coitus  analis 
beziehen  und  in  diesem  Falle  deutlich  auf  die  Affektionen  der  Regio 
analis  hinweisen  oder  auch  auf  den  Coitus  in  os  und  dann  ebenso 
deutlich  lokale  Affektionen  des  Mundes  und  Rachens  daraus  ableiten, 
z.  B.  den  üblen  Mundgeruch,  während  der  allgemeine  Typus  des 
Pathicus  aus  der  fortschreitenden  Effemination  und  f.iakay.ia,  also  aus 
einer  mehr  psychischen  Aetiologie  sich  entwickelt. 

Wie  genau  der  Zusammenhang  zwischen  Affektionen  des  Anus 
und  der  Pädikation  bekannt  war,  geht  aus  dem  in  dieser  Beziehung 
nicht  misszuverstehenden  Epigramm  des  Martialis  (Epigr.  III,  71) 
hervor : 

Mentula  cum  doleat  puero,  tibi,  Naevole,  culus, 

Non  sum  divinus,  sed  scio  quid  facias. 


-      576     - 

Man  hat  dieses  Epigramm  so  gedeutet,  als  ob  der  Pathicus 
Naevolus  an  einer  Anusaffektion  gelitten  und  diese  dann  auf  den  ihn 
pädicierenden  Knaben  übertragen  habe.  Das  ist  natürlich  möglich; 
z.  B.  kann  eine  Rectalgonorrhoe  des  Naevolus  bei  dem  Knaben 
einen  schmerzhaften  Harnröhrentripper  hervorgerufen  haben,  der  so 
oft  zu  schmerzhafter  entzündlicher  Schwellung  des  Penis  führt.  Ich 
erkläre  den  Sinn  des  Epigramms  einfacher  aus  den  Schmerzen,  die 
durch  das  Missverhältniss  zwischen  Membrum  und  Orificium  ani  und 
die  für  die  Ueberwindung  des  Sphincter  ani  nötige  Anstrengung  so- 
wohl beim  passiven  als  beim  aktiven  Päderasten  hervorgerufen  wer- 
den, und  aus  den  oft  bei  diesem  Akte  entstehenden  Einrissen  und 
Erosionen  am  Anus  und  an  der  Präputialschleimhaut  ^).  Auf  dieses 
Missverhältniss  und  diese  Schmerzen  bei  der  Pädikation  spielt  auch 
das  folgende  Epigramm  des  Martial  (III,  89)    sehr   durchsichtig  an: 

Utere  lactucis  et  mollibus  utere  malvis: 
Nam  faciem  durum,  Phoebe,  cacantis  habes, 

deuten  ferner  die  termini  technici  ,,scindere"  (Priap.  LXXVII, 
Mart.  III,  94),  „pervellere"  podicem  (Plaut.,  Pers.  V,  2,  66).  Gegen- 
über dem  aktiven  ist  der  passive  Päderast  wirklich  ein  „fragilis" 
(Horat.,  Sat.  I,  8,  39).  Auch  die  Stelle  bei  Petronius  (Sat.  24, 
ed.  Bücheier,  p.  24)  „ab  hac  voce  equum  cinaedus  mutavit  transituque 
ad  comitem  meum  facto  clunibus  eum  basiisque  distrivit",  ist  be- 
zeichnend genug.  Wohin  die  wiederholten  mechanischen  Verletzungen 
durch  ein  Membrum  permagnum  führen  können,  sagt  in  krassen 
Worten  Martial  (VI,  37): 

Secti  podicis^)  usque  ad  umbilicum 

Nullas  relliquias  habet  Charinus, 

Et  prurit  tamen  usque  ad  umbilicum, 

O  quanta  scabie  miser  laborat! 

Culum  non  habet,  est  tamen  cinaedus. 

Aehnliche    Folgen    langjähriger    gewohnheitsmässiger    passiver 
Päderastie  werden  in  Lib.  IX,  Epigr.  57   des  Martialis   beschrieben 


i)  Mit  Recht  sagt  P.  Meniere  (Etudes  medicales  sur  les  poetes  latins,  Paris  1858, 
S.  433)  mit  Beziehung  auf  Martial  III,  71:  ,,I1  indiquait  clairement  une  cause  evidente 
de  maladie;  les  deux  coupables  souffraient  en  meme  temps,  le  diagnostic  etait  facile,  mais 
rien  ne  prouve  qu'il  y  eüt  lä  autre  chose  qu'une  lesion  materielle,  mecanique,  dont  on 
pourrait  retrouver  l'analogue  dans  des  conditions  legitimes,  et  que  Martial  lui-meme  a  sig- 
nalees  un  grand  nombre  de  fois". 

2)  Auch  Lib.  IX,  Epigr.  47  enthält  eine  deutliche  Anspielung  auf  den  ,,sectus 
podex"  des  Pathicus. 


—      577      — 

(„culus  tritior")  und  in  dem  folgenden  Epigramm  131    des  Ausonius 
{ed.  Peiper,  p.  346): 

Inguina  quod  calido  laevas  tibi  dropace,  causa  est, 

Irritant  volsas  laevia  membra  lupas. 

Sed  quod  et  elixo  plantaria  podice  vellis, 

Et  teris  incusas  pumice  Clazomenas, 

Causa  latet,  bimarem   nisi  quod  patientia  morbum 

Appetit,  et  tergo  femina,  pube  vir  es. 
Das  Wort  „Clazomenae"  ist  hier  mit  Absicht  gewählt,  um  den 
desolaten  Zustand  eines  oft  pädicierten  Gesässes  zu  bezeichnen.  Bei 
Pierrugues  bezw.  Rambach  heisst  es  (S.  73):  „Clazomenae.  — 
Scissurae  podicis  paedicatione  triti  et  lacerati;  inter  morbos  venereos: 
a  Clazomenis,  Joniae  asiaticae  civitate,  postera  venere  famossissima; 
vel  a  xkdCeo§ai,  frangi  et  dividi".  In  der  deutschen  Ausgabe 
der  Forberg'schen  „Apophoreta"  zum  „Hermaphroditus"  (Leipzig 
1908,  S.  222)  bemerkt  der  Uebersetzer  zu  dieser  Stelle,  daß  noch 
heute  in  Italien  der  Pathicus  allgemein  mit  dem  Schimpfwort  „Culo 
rotto"  bezeichnet  werde,  was  den  „Clazomenae"  des  Ausonius  voll- 
kommen entspricht. 

Von  grösster  Bedeutung  für  die  richtige  Auffassung  der  Worte 
„ficus"  und  „mariscae",  die  von  den  Anhängern  der  Altertumssyphilis 
als  „syphilitische  Feigwarzen",  als  sogenannte  „breite  Kondylome" 
aufgefaßt  werden,  ist  die  unwiderlegbare  Thatsache,  dass  sie  als 
direkte  Folgen  der  Pädikation  aufgefasst  wurden  und  in  eine 
unmittelbare  Beziehung  zur  Einführung  des  Penis  in  den  After 
gebracht  wurden. 

Die  Analogie  zwischen  der  Feig-e  und  den  feigenähnlichen  Aus- 
wüchsen am  After  ist  hellenischen  Ursprungs. 

Das  beweist  der  Inhalt  eines  Epigramms  des  Philippos  der 
„Anthologia  Planudea"  (IV,  240),  in  dem  gleichfalls  das  Wort  loidg 
zugleich  „Feige"  und  „Feigwarze  am  Anus"  bedeutet. 

Das  Epigramm  (Anthologia  Palatina  ed.  Dübner,  Paris  1872, 
Bd.  II,  S.  377),  Zwiegespräch  zwischen  a  und  ß  lautet: 

a.     coQaiag  y    ioooco  mg  lo^ddag  ei'  ye  Xaßelv  juot 
ovyx,o)QeTg  öXiyag  .  . 

ß.     &iyyavE  jurjöejuiäg.  ooyiXog  cbg  6  IJghjjiog  igeTg'  Ihi  xal  xevog 
ijieig. 

a.     val  kkojuai,  öog  juoi. 

ß.     xal  ydg  eycb  dio/uai. 

a.     XQIJ^^'^'^  y^Q>  ^^7^  /"^'j  jra^'  ijuov  Tivog; 


—     57«     — 

ß.      soTi  vojuog  Jiov   „doq  Xdße". 

a.     xal  ■&edv  a>v  dgyvQiov  ob  y^.iyj]] 

ß.     äk?.o  ri  yorjjua  cpiXö). 

a.     71010V  rode; 

ß.     räjud  xaxeo'&oiv 

ovxa,  öog  evßvjucog  ioydöa  rip>  ömooj. 

In  philologisch  genauer  (von  Herrn  Dr.  phil.  W.  Schonack 
freundlichst  mitgeteilter)  Übersetzung: 

a.  Ich  sehe,  daß  die  Feigen  reif  sind,  wenn  du  doch  mir  ge- 
statten möchtest,  wenige  zu  nehmen  ...  ß.  Rühre  keine  an!  du 
sprichst  zornig  wie  Priapus;  noch  dazu  willst  du  sogar  mit  leeren 
Händen  kommen  ...  a.  Ja,  ich  bitte  darum,  gieb  mir  .  .  ß.  Auch 
ich  habe  eine  Bitte,  a.  Du  wünschest  nämlich,  sag'  mir,  was  von 
mir?  ß.  Irgendwo  steht  die  Bestimmung:  „gieb  und  nimm!"  a.  Ob- 
wohl ein  Gott,  verlangst  du  Geld?  ß.  Etwas  anderes  möchte  ich. 
a.  Welcher  Art  ist  dies?  ß.  Wenn  du  meine  Feige  essen  willst,  so 
gieb  mir  wohlgemut  die  „hintere"  Feige!  — 

Es  handelt  sich  also  um  ein  Gespräch  zwischen  Priapos  und 
einem  fremden  Besucher  des  Gartens.  Der  Fremde  möchte  von  den 
schönen  reifen  Feigen  einige  haben,  was  der  Gott  zunächst  rundweg 
ablehnt,  aber  schliesslich  gegen  entsprechende  Gegengabe  erlaubt. 
Erstaunt  fragt  der  Fremde,  ob  denn  ein  Gott  nach  Geld  verlangt; 
doch  der  Gott  belehrt  ihn,  dass  er  vielmehr  des  Fremden 
eigene  „Feige"  begehrt. 

Derselbe  Gedanke  wird  im  carmen  Priapeum   V  ausgeführt: 
Quam  puero  legem  fertur  dixisse  Priapus, 
versibus  hie  infra  scripta  duobus  erit: 
'quod  meus  hortus  habet,  sumas  impune  licebit, 
si  dederis  nobis,  quod  tuus  hortus  habet'. 

Hieraus  geht  hervor,  dass  auch  das  von  Priapos  zum  Genüsse 
begehrte  Gesäss  als  „Feige"  bezeichnet  wurde,  dass  also  loxdg  bezw. 
ficus  auch  für  den  ganzen  Teil  ohne  Rücksicht  auf  etwaige  krank- 
hafte Veränderungen  gesetzt  wurde.  Vielleicht  hat  dann  das  „ficosus" 
in  dem  berühmten  und  von  den  Vertheidigern  der  Altertumssyphilis 
als  Hauptargument  angeführten  Epigramm  des  Martialis  VII,  71 
auch  die  Nebenbedeutung:  „den  Hintern  preisgebend".  Dass  es  sich 
auf  die  Pädikation  bezieht,  ist  zweifellos,  wie  wir  weiter  unten  sehen 
werden. 

Dass  „Ficus"  auch  im  Sinne  von  feigenähnlicher  Exkrescenz 
am    Anus,    von    „Feigwarze"    genommen    wurde    und    dass    diese    als 


—      570     — 

•eine  direkte  Folge  des  Coitus  per  anum  aufgefasst  wurde,  dafür 
liefert  Epigramm  49  des  6.  Buches  des  Marti alis  den  stringenten 
Beweis : 

Non  sum  de  fragili  dolatus  ulmo. 
Nee  quae  stat  rigida  supina  vena. 
De  ligno  mihi  quolibet  columna  est, 
Sed  Viva  generata  de  cupressu: 
Quae  nee  saecula  centies  peracta 
Nee  longae  cariem  timet  senectae. 
Hanc  tu,  quisquis  es,  o  malus,  timeto. 
Nam  si  vel  minimos  manu  rapaci 
Hoc  de  palmite  laeseris  racemos, 
Nascetur,  licet  hoc  velis  negare. 
Inserta  tibi  ficus  a  cupressu. 
Hier    wird    also    klar    und    deutlich   unter   dem   Bilde   des   pria- 
pischen  Holzmembrum  die  Auffassung  zum  Ausdrucke  gebracht,  dass 
die  Feigwarzen    durch    die  Einführung    des  Penis    in    den    Anus   ent- 
stehen   (,, nascetur    inserta    tibi    ficus  a  cupressu").     Wo   bei    den  Sati- 
rikern die  „fici"  und  „mariscae"  vorkommen,  g'eschieht  das  immer, 
um  den  Vorwurf  und  Spott  über  die  passive  Päderastie  ihres  Trägers 
auszudrücken.     Der  Sinn  ist:    „aha,    der   hat  Feigwarzen,    also    ist    er 
ein  Pathicus!"    Wer  diesen  offen  am  Tage  liegenden  Zusammenhang 
erkannt  hat,  der  liest  die  folgenden  Epigramme  ganz   anders   als   die 
Anhänger  der  Lehre  von  der  AltertumssyphiHs: 

Ut  pueros  emeret  Labienus,  vendidit  hortos 
Nil  nisi  ficetum  nunc  Labienus  habet. 

(Mart.  XII,  33.) 
d.  h.  Labienus  verkaufte  seine  Gärten,  um  Knaben  zu  kaufen,    von 
denen    er    sich    pädicieren    liess,    und    hat   jetzt   statt    der    Gärten    ein 
„Feigenbeet",  d.  h.  ein  Beet  von  Feigwarzen  '). 
Ferner: 

castigas  turpia,  quum  sis 

Inter  Socraticos  notissima  fossa  cinaedos. 
Hispida  membra  quidem  et  durae  per  brachia  setae 
Promittunt  atrocem  animum;  sed  podice  levi 
Caeduntur  tumidae  medico  vidente  mariscae. 

(Juvenal.  IL  9—13.) 

l)  Zur  Erläuterung  vgl.  man  noch  die  den  Labienus  betreffenden  Epigramme  II,  62, 
■VFO  erwähnt  wird,  dass  er  sein  Gesäss  enthaare,  um  sich  pädicieren  zu  lassen,  und  XII,  16, 
wo  er  als  aktiver  Pädikator  verspottet  wird,  mit  ganz  ähnlicher  Beziehung  des  „agellus"  wie 
des  „ficetum"  im  obigen   Epigramme. 


—     58o     — 

Hier  wird  ein  heuchlerischer  Pathicus  gegeisselt,  der  äusserlich 
rauhe  Männlichkeit  hervorkehrt,  wofür  auch  die  starke  Behaarung 
des  Leibes  und  der  Arme  spricht,  jedoch  der  Arzt  erkennt 
lachend  den  wahren  Sachverhalt,  als  er  ihm  von  dem  glatten, 
enthaarten  After  die  üppig  ins  Kraut  geschossenen  Feigwarzen  ^)  ent- 
fernt! Wie  man  hier  das  Lachen  des  Arztes  auf  eine  ganz  und  gar 
hypothetische  Syphilis  beziehen  will,  ist  mir  unerfindlich,  es  bezieht 
sich  doch  nur  auf  die  überraschende  Entdeckung,  dass  der  Mann, 
der  äusserlich  den  Biederen  und  Virilen  par  excellence  spielte,  sich 
nach  Besichtigung  seiner  Posteriora  als  langjähriger  Pathicus  ent- 
puppt. Darauf  bezieht  sich  auch  das  „frontis  nulla  fides"  in  Vers  8. 
Kein  Wunder,  dass  der  Arzt  über  diesen  plötzlich  sich  ihm  darbie- 
tenden Kontrast  lacht  und  mit  Heiterkeit  die  Verlogenheit  des  alten 
Heuchlers  und  Tugendprotzen  konstatiert. 

Das  schon  erwähnte  Epigramm  VII,  71  des  Martial,  das  man 
so  oft  auf  Syphilis  bezogen  hat,  muss  ebenfalls  in  diesem  Sinne  inter- 
pretiert werden.     Es  lautet: 

Ficosa  est  uxor,  ficosus  et  ipse  maritus, 
Filia  ficosa  est  et  gener  atque  nepos. 
Nee  dispensator  nee   vilicus  ulcere  turpi 
Nee  rigidus  fossor,  sed  nee  arator  eget. 
Cum  sint  ficosi  pariter  juvenesque  senesque, 
Res  mira  est,  ficos  non  habet  unus  ager. 

Es  handelt  sich  um  die  mit  Feigwarzen  am  Anus  behaftete 
Familie  und  das  Gesinde  eines  Gutsbesitzers,  alle  sind  davon  be- 
troffen, die  Frau,  der  Gatte,  die  Tochter,  Schwiegersohn  und  Enkel  -), 
ebenso  der  Hausverwalter,  der  Meier,  der  Gräber,  der  Pflüger,  kurz 
alt  und  jung;  deshalb,  so  spottet  Martial,  ist  es  ein  Wunder,  dass 
kein  einziger  Acker  „Feig-en"  trägt  ^).  Es  herrscht  eben  —  das  ist  der 
wahre  Sinn  des.  Epigramms  —  in  dieser  ländlichen  Hausgenossen- 
schaft eine  zügellose  geschlechtliche  Promiskuität  und  alle 
haben  sich  pädicieren   lassen,  Männer  sowohl  als  auch  Frauen.    Weiter 


i)  ,,inarisca"  ist  ebenfalls  eine  Art  grosser  Feigen.  Das  Wort  ist  hier  absichtlich 
gewählt,  um  die  üppige  Wucherung  der  Kondylome  zu  bezeichnen. 

2)  Den  Missbrauch  ganz  junger  Knaben  geisselt  auch  Epigr.  IX,  6  und  besonders 
IX,  8  des  Martial.  Bekanntlich  brachte  Domitian  die  lex  Scantinia  de  nefanda  Venere 
(Valer.  Maxim.  VI,   i,  7)  wieder  in  Anwendung  (Sueton.,  Domit.  8). 

3)  „Ager"  ist  hier  im  zweifachen  Sinne  genommen.  Martial  denkt  neben  dem  wirk- 
lichen Acker,  der  keine  Feigen  trägt,  an  den  ungenannten  (=  Gesäss),  der  solche  reichlich 
hat.  Dies  erhellt  deutlich  aus  XII,  16,  wo  ,,agellus"  einmal  in  jenen,  einmal  in  diesem 
Sinne  gebraucht  wird. 


-     58i      - 

unten  werden  wir  sehen,  wie  häufig  auch  Frauen  sich  der  Pädikation 
hingaben.  Das  „Ulcus  turpe"  bezieht  sich  wohl  mehr  auf  die  starke 
Absonderung  der  Feigwarzen  als  auf  den  geschwürigen  Zerfall. 
Natürlich  kann  auch  ein  eiterndes  Ulcus  molle  als  Folge  der  Pädi- 
kation auftreten  und  in  dem  Sammelbegriff  „ficus"  mitenthalten  sein. 
Auf  die  medizinische  Terminologie  der  Analaffektionen  kommen  wir 
später  noch  zu  sprechen.  Hier  soll  nur  der  Nachweis  des  Zusammen- 
hanges der  fici  mit  der  passiven  Päderastie  erbracht  werden.  Dieser 
Zusammenhang  erhellt  auch  aus  IV,  52  des  Martialis,  das  ich  an- 
ders erkläre  als  Rosen  bäum  (a.  a.  O.  S.  137)  es  thut.  Das  Epi- 
gramm lautet: 

Gestari  iunctis  nisi  desinis,  Hedyle,  capris, 
Qui  modo  ficus  eras,  iam  caprificus  eris. 
Rosenbaum  bemerkt  hierzu: 

„Wenn  capra  hier  die  Bedeutung  von  Scortum  hat,  wie  es  kaum  anders  sein 
kann,  so  ist  diese  Stelle  ein  unzweideutiger  Beweis,  dass  die  Feigwarzen  eine  Folge  des 
Beischlafs  mit  gemeinen  Huren  waren,  und  letztere  gewöhnlich  damit  behaftet  waren." 

Rosenbaum  hat  bei  dieser  Stelle  übersehen,  dass  derselbe 
Hedylus  in  einem  späteren  Epigramm  (IX,  57)  als  eingefleischter 
Pathicus  verhöhnt  wird  und  dass  hierdurch  der  Sinn  des  obigen 
Epigramms  sich  ganz  einfach  so  erklärt:  „Bis  jetzt  warst  Du,  Hedylus, 
nur  ein  „ficus",  d.  h.  ein  passiver  Päderast.  Wenn  Du  aber  nicht 
bald  aufhörst,  Dich  mit  den  beiden  Ziegen  (oder  Ziegenböcken)  abzu- 
geben, so  wirst  Du  bald  ein  „caprificus"  sein.  Caprificus  bezeichnet 
eine  besondere  Art  von  wilden  Feigen,  wird  also  hier  als  ein  geist- 
reiches Wortspiel  gebraucht.  Es  ist  möglich,  dass  es  sich  bei  „capris" 
um  ein  paar  Huren  handelt,  möglich  aber  auch,  dass  Hedylus  mit 
Ziegen  Sodomie  trieb,  und  dass  sich  das  Wortspiel  auf  diese  Verbin- 
dung von  passiver  Päderastie  und  Sodomie  bezieht.  Jedenfalls  be- 
zeichnet „ficus"  auch  hier  wieder  den  passiven  Päderasten,  wie  die 
derbe  Charakteristik  des  Hedylus  als  solchen  in  IX,  57  das  schlagend 
beweist  ^). 

Wie  Hedylus  ist  auch  Caecilianus,  dessen  laxe  Sitten  Martial 
(IX,  70)  geisselt,  ein  mit  Feigwarzen  behafteter  Pathicus.  Das  ist 
der  Sinn  von  Epigramm  I,  65: 


l)  Erwähnt  sei  noch  die  rein  wörtliche  Erklänmg  des  Epigramms  IV,  52  bei  Paul  y 
Wissowa,  Real-Encyclopädie  der  klassischen  Altertumswissenschaft.  Neue  Bearbeitung, 
12.  Halbband,  Stuttgart  1909,  Spalte  2142  (Artikel  „Feige"):  „Durch  schlechten  Umgang 
verdorben  wird  jemand  aus  «iner  fiais  eine  (unfruchtbaie)  caprificus".  Das  erschöpft  nicht 
den  Sinn  des  Epigramms,  der  wie  oben  gedeutet  werden  muss. 


-     5B2      - 

Cum  dixi  ficus,  rides  quasi  barbara  verba 
Et  dici  ficos,  Caeciliane,  iubes. 
Dicemus  ficus,  quae  scimus  in  arbore  nasci, 
Dicemus  ficos,  Caeciliane,  tuos. 
„Ficus"    heisst    nach    der    vierten    Deklination    Feige,    nach    der 
zweiten  Feigwarze.     Rosen  bäum  zitiert  hierzu  die  folgenden  Verse 
der  alten  Grammatiker: 

Haec  ficus,  fici  vel  ficus,  fructus  et  arbor. 
Hie  ficus,  fici,  malus  est  in  podice  morbus. 
Es  war,  wie  GeigeP)  treffend  bemerkt,  der  „abenteuerliche" 
Sitz  am  After,  der  diese  Feigwarzen  zum  Gegenstande  des  Spottes 
bei  den  Satirikern  machte,  weil  er  die  Diagnose  des  widernatürlichen 
Geschlechtsverkehrs  sicherstellte.  Deshalb  werden  die  durch  den  natür- 
lichen Geschlechtsverkehr  erworbenen  Feigvvarzen  an  den  Genitalien 
von  den  Satirikern  fast  gar  nicht  erwähnt,  wenn  sie  den  Laien  auch 
ebenso  bekannt  waren,  wie  den  Aerzten,  wie  z.  B.  Carmen  Priap.  L 
beweisen  würde,  falls  die  Lesart  „ficosissima"  richtig  wäre.  Nach  der 
gegenwärtig  besten  Edition  der  Priapea  von  Buecheler  lautet  das 
Gedicht: 

Quaedam  si  placet  hoc  tibi,  Priape, 
fucosissima  me  puella  ludit 
et  nee  dat  mihi  nee  negat  daturam, 
causas  invenit  usque  differendi. 
quae  si  contigerit  fruenda  nobis, 
totam  comparibus,  Priape,  nostris 
cingemus  tibi  mentulam  coronis. 
Buecheler    hat,     wie    schon    vor    ihm    Haupt   („Conjectanea", 
Hermes  1874,  VIII,  241),  ganz  richtig   erkannt,    dass  ficosissima  hier 
nicht  am    Platze   ist,    da   der   zum    Priapus   betende  Mann  schwerlich 
sich   für   ein    mit-  Feigwarzen    behaftetes    Mädchen    derart   begeistern 
konnte,    dass    er    um    jeden    Preis    sie,    die    in    raffinierter  Koketterie 
(fucosissima,  dafür  Haupt:  tricosissima)  mit  ihm  ihr  Spiel  treibt  (ludit), 
besitzen    möchte.      Das    wäre,    selbst    wenn    man    eine    Kenntnis    der 
Ansteckungsfähigkeit   ausschliesst,    aus   denselben    ästhetischen  Grün- 
den unbegreifUch,  die  im  Carmen  Priap.  XLVI  den  Liebhaber  vor  der 
schmutzigen,  mit  Ungeziefer  behafteten  Dirne  zurückschrecken  lassen. 
Auf  eine  andere  Folge  der  passiven  Päderastie  scheint  Martial 
XI,  88  zu  deuten: 


I)  A.  Geigel,    Geschichte,    Pathologie  und  Therapie  der  Syphilis,    Würzburg   1807, 
S.  iq8,  Anmerk.   2. 


-     583     - 

Multis  iam,  Lupe,  posse  se  diebus 
Paedicare  negat  Charisianus. 
Causam  cum  modo  quaererent  sodales, 
Ventrem  dixit  habere  se  solutum. 

Auf  die  Frage,  weshalb  er  seit  vielen  Tagen  nicht  mehr  pädicire, 
antwortet  Charisianus,  er  habe  Durchfall.  Berg^)  erklärt  in  seiner 
Uebersetzung  des  Martialis,  dass  dieser  Ausdruck  bedeute:  er  w^ar 
selbst  Kinäde.  Der  ,, Durchfall"  sei  also  eine  Folge  der  Reizung  bei 
der  passiven  Päderastie.  Vielleicht  aber  ist  das,  wie  Rosenbaum 
(a.  a.  O.,  S.  134)  meint,  nur  eine  Ausrede  des  Charisianus,  und  es 
verbirgt  sich  dahinter  ein  ernsteres  Uebel  des  Pathicus,  z.  B.  ein 
Mastdarm  tripper. 

Dass  jedenfalls  die  Pädikation  für  den  Pathicus  mit  unange- 
nehmen, oft  unerträglichen  Beschwerden  verbunden  war,  scheint  auch 
die  dunkle  Andeutung  bei  Spartianus  (Hadrian.,  c.  14)  über  die 
Ursache  des  Selbstmords  des  schönen  Knaben  Antinous  anzudeuten: 

,,Antinonm  suum,  dum  per  Nilum  navigat,  perdidit,  quem  muliebriter  flevit.  de  quo 
varia  fama  est,  aliis  eum  devotum  pro  Hadriano  adserentibus,  aliis  quod  et  forma  ejus 
ostentat  et  nimia  voluptas  Hadriani." 

Die  „allzu  grosse  Wollust"  des  Kaisers  Hadrian,  die  w^ohl 
allzu  häufigen  unnatürlichen  Beischlaf  zur  Folge  hatte,  war  also  die 
Ursache  des  Selbstmordes  des  Knaben,  wobei  es  dahingestellt  bleibt, 
ob  auch  eine  Erkrankung  vorhanden  w'ar  und  zum  Selbstmorde  führte. 

Kaum  weniger  häufig  als  die  Pädikation  der  Männer  war  die- 
jenige der  Frauen  durch  Männer,  sowohl  bei  den  hellenischen  Ver- 
ehrern der  Aphrodite  Kallipygos  (Athen.  XII,  554  c)  als  auch  bei 
den  Römern. 

Interessant  sind .  in  dieser  Beziehung  verschiedene  Zitate  aus  dem  Dichter  Machon 
bei  Athenaios  (Lib.  XIII  ed.  Meineke,  Vol.  III,  p.  43  ff.),  aus  denen  hervorgeht,  dass 
berühmte  Hetären  sich  pädicieren  Hessen,  z.  B.  die  Mania: 

ahovfjLEvrjv  Xsyovoi  zrjv  Jivyriv  Jiore 
VTio  Tov  ßaoiXscog  Maviav  Ar]/zrjrQiov 
dvta^tcöoai  Scogsav  xavxöv  riva. 
dovrog  5'  ejiiaxoixi>aaa  /nsia  fiixgov  Äeysi, 
jiyafiifivovog  nai,  vvv  exeTv  e^eoii  001 

(Athen.  XIII,  579  a) 
femer  die  Gnathaina: 

Aeyovoi  jiovTixöv  ri  (lEtQaxvlhov 
a.va:!iav6f^iEV0v  fiSTO.  rr/g  Fva&aivrj  a^iovv 
jTQog  ECO  y£v6i.i£vov,   moxe  xi]v  TivyrjV  ana^ 


i)  Die  Epigramme   des  Marcus  Valerius  Martialis   in    den  Versmassen    des   Originals 
übersetzt  und  erläutert  von  Alexander  Berg,  Stuttgart   1865,  S.  419. 


i84 


avTÖi  craQuo/Eiv    zijr  Sk  tovt'  emsTv,  zd/.av, 
sjisiza  tfjv  :jvyi]v  /ne  vvv  alxeig,  ozs 
zag  vg  i.-rl  roiLajv  xaigög  soziv  sSäyeiv; 

(Athen.  580  f.) 


die  Niko: 


/.iyezai  6'  ey.Ei%'ip-  zijv  yvvaifi'  sa'/i]y.svai 
7ivyi]v  jidvv  y.aXrjv,  fjv  Jioz'  rj^iov  kaßsTv 
o  Ai]/xo(fcör.    fj  S'  sine  ye}.6.aaa\  sv  y''iva 
2oq?0}ileT  ),aßibv  öwg,  qrjai',  nao'  sfiov,  (pü.zaze; 

(Athen.   582  f.) 
und  endlich  die  Gnathainion   (Athen.   XIII,   581c). 

Besonders  die  Gnathaina  scheint  in  diesem  Rufe  gestanden  zu  haben.  Ein  Soldat, 
der  sie  aushielt,  nannte  sie  /.dy.xog  („Cisterne").  Welchen  üblen  Nebenbegriff  man  damit 
verband,  zeigen  die  Zusammensetzungen  /.axHOTTQwy.zog ,  Synonjin  von  svovngoyxzog,  laxy.6- 
nvyog  und  ).ay.xojiQO)Hzia  ^). 

Dass  sich  aber  dieser  -widernatürliche  Verkehr  keineswegs  auf  die  Hetären  be- 
schränkte, sondern  auch  zwischen  Ehegatten  häufig  vorkam,  zeigen  zahlreiche  Stellen  bei 
römischen  Schriftstellern.  Z.  B.  bemerkt  der  Rhetor  Seneca  (Controv.  I,  2):  „Novimus 
istam  maritorum  abstinentiam  qui,  etiam  si  virginibus  timidis  remisere  noctem,  vicinis  tarnen 
locis  ludimt".  Oft  erwähnt  Martial  die  Pädikation  der  Gattinnen  und  Buhlerinnen,  z.  B. 
lässt  er  XI,    104,    17  ff.   einen   Lebemann  zu  seiner  Gattin  sagen: 

Paedicare  negas:  dabat  hoc  Cornelia  Graccho, 

Julia  Pompeio,   Porcia,   Brüte,   tibi; 

Dulcia  Dardanio  nondum  miscente  ministro 

Pocula  Juno  fuit  pro  Ganymede  Jovi, 
und  schildert  IX,  67   deutlich  die  Pädikation  als  Folge  des  sexuellen  Variationsbedürfnisses: 

Lascivam  tota  possedi  nocte  puellam, 

Cuius  nequitias  vincere  nemo  potest. 

Fessus  mille  modis  illud  puerile  poposci: 

Ante  preces  totas  primaque  verba  dedit, 
genau  wie  bei  Apulejus  (Metamorph.  III,  c.   20):     „Sic    nobis    gannientibus    libido    mutua 
et  animos  simul  et  membra   suscitat,    et   omnibus   abjectis   amiculis   hactenus   denique    intecti 
bacchamur  in   Venerem,    cum    quidem    mihi   jam    fatigato    de    propria    liberali- 
tate  Fotis  puerile  obtulit  corollarium". 

Vgl.  ferner  Mart.  X,  81;  XI,  79,  5;  Ausonius,  Epigr.  LXXIX,  p.  341  Peiper. 
Interessant  ist  besonders  XI,  99  des  Martial  durch  den  Spott  auf  das  übermässige  Klaffen 
des  Anus  bei  der  sich  der  gewohnheitsmässigen  Pädikation  hingebenden  Lesbia,  die  weder 
sitzen  noch  stehen  kann  luid  schliesslich  von  den  eigenen  —  Kleidern  pädiciert  wird. 
Nicht  selten  wurden  Mädchen  gleich  den  Knaben  schon  im  Kindheitsalter  pädiciert,  wie 
z.  B.  die  Theodora,  von  der  Prokop  in  den  ^Avsxöoza  (ed.  Isambert,  Paris  1856, 
p.  104 — 107)  berichtet:  Tecog  /u.sv  ovv  äcogog  ovaa,  rj  0sodcÖQa  ig  xoizrjv  dvdQi  ^vyisvai 
ovöafirj  el^sv  ovöe  ola  yvvi]  [xiyvvodai'  »;  8e  zovg  xaxodaif^ovovatv  dvögiav 
riva  fiiorfzrjv  avs/uioyszo,  xai  zavza  SovÄoig,  oaoi  zoTg  y.sxzrjjLisroig  sjiöfievoi  ig  z6 
veazoov  ndgegyov,  xfjg  ovorjg  avzolg  svxaigiag,  zöv  ökeßgov  zovxov  etoydCovzo  s'v  zs 
fiaozQojTisiw  n:o).vv  ziva  ygovor,  inl  zavzi]  8y  zy  nagd  (pvoiv  igyaoia  zov 
ooj/Liazog ,    öiazgißrjv    ei  •/£%>. 


ll  Vgl.  Friedrich  Jacobs,   Vermischte  Schriften,   Leipzig    1830,   S.   551. 


-     585      - 

Von  bildlichen  Darstellungen   der  paedicatio  von   Frauen  seien  erwähnt: 

1.  Ein  Vasenbild  im  Museo  Nazionale  zu  Neapel,  auf  dem  ein  bekränzter  Satyr  eine 
auf  der  Erde  knieende  Frau  pädicieren  will ' ). 

2.  Auf  einer  Amphora  aus  Tharros  sieht  man  nicht  weniger  als  vier  Männer  mit  der 
Pddikation  ihrer  Frauen   beschäftigt"). 

3.  Ein  Krater  mit  rötlichen  Figuren  schönsten  Stiles.  Dionysos  mit  Thyrsus  steht 
einer  Frau  („Mänade")  mit  Kalathos  gegenüber,  ein  ithyphallischer  SatjT  einer  bekleideten 
Bacchantin,  welche  ihr  Gewand  nach  Art  der  Venus  Kallipygos  erhebt,  offenbar  zum  Zwecke 
der  Pädikation  ^). 

4.  Pelike  im  Museo  Tarquiniese  in  Corneto.  Ein  Mann  sitzt  vor  einer  Frau,  die 
das  Gewand  emporhebt.  Auf  der  anderen  Seite  benützt  er  die  Frau  in  unnatürlicher 
Weise*). 

5.  Auf  einer  Kline,  vor  der  ein  dreibeiniger  Tisch  mit  Gefässen  und  Trinkhörnern 
steht,  liegen  zwei  Jünglinge,  beide  unterwärts  mit  ihren  Mänteln  bedeckt,  bekränzt  und  mit 
Guirlanden  um  den  Hals  geschmückt:  der  eine  hat  in  der  Linken  eine  Schale,  der  andere 
einen  Zweig.  Beide  wenden  die  Köpfe  um  zu  einer  am  Kopfende  der  Kline  abgewandt 
vor  ihnen  stehenden  Frau,  welche,  bekleidet  und  beschuht,  umblickt  und  ihnen,  das  Ge- 
wand aufhebend,  ihr  Gesäss  zeigt"). 

6.  Auf  einem  pompejanischen  Gemälde  sieht  man  eine  nackte  Frau,  den  Kopf  an 
das  Polster  eines  Triklinium  gelehnt,  den  Hintern  nach  einem  hinter  ihr  stehenden  nackten 
Jüngling  gewandt*'). 

Die  Feststellung  der  Häufigkeit  des  an  Männern  und  Frauen 
vorsrenommenen  Pädikationsaktes  im  Altertum  Hess  auch,  wie  wir 
gesehen  haben,  seine  unmittelbare  Beziehung  zu  rein  lokalen  mecha- 
nischen oder  pathologischen  Alterationen  der  Regio  analis  erkennen, 
die,  wie  wir  ebenfalls  sahen,  sehr  deutHch  als  eine  Folge  jenes  Aktes 
geschildert  werden.  Wir  haben  oben  (S.  418 — 421  und  S.  426 — 428) 
bereits  die  zahlreichen  nichts3^philitischen  Affektionen  und  Lä- 
sionen beschrieben,  die  durch  die  Pädikation  hervorgerufen  werden, 
und  müssen  den  Leser  darauf  verweisen.  Diese  sind  heute  noch 
häufiger,  mindestens  aber  ebenso  häufig  wie  die  syphilitischen 
Affektionen.  In  dieser  Beziehung  ist  die  Mitteilung  eines  homo- 
sexuellen Arztes  interessant,  der  selbst  mehrere  passive  Päderasten 
behandelte  und  berichtet,  daß  er  zwei  syphilitische,  einen  lokalen 
Schanker,  mehrere  Fissuren    und  einen  Fall  von  spitzen  Condylomen 


i)  H.  Heydemann,    Die  Vasensammlung   des  Museo  Nazionale  zu  Neapel,    Berlin 
1872,  S.  620  (Nr.   I  B). 

2)  F.  von  Decker,    Sardinische    Reiseerinnerungen,    namentlich    aus    Tharros.      In: 
Strena  Helbigiana  (Festschrift  für  W.  Heibig),   Leipzig   1900,  S.  64. 

3)  S.  Birch,    „Vasen    des    Herrn   Hope"    in:    Archäolog.   Anzeiger,    Oktober    1849, 
Nr.    10,   S.   q8 — 99. 

4)  Paul  Hartwig,   Die   griechischen  Meisterschalen   der  Blütezeit   des  strengen  rot- 
figurigen  Stils,  S.  457. 

5)  H.  Heydemann,  a.  a.  O.  S.   407   (Nr.   2855). 

6)  E.   Gerhard  und  Th.   Panofka,   Neapels  antike  KunstMCrke,    S.   461. 


-      586     — 

am  Anus  behandelt  habe.  Im  letzteren  Falle  bestand  eine  grosse 
blumenkohlförmige  Geschwulst^).  Fügt  man  die  oben  (S.  421  ff.)  er- 
wähnten Analulcerationen  gonorrhoischen  oder  staph3dogenen  Ur- 
sprungs, die  abscedierenden  und  hypertrophierenden  Prozesse  der 
Analregion  infolge  der  Pädikation  hinzu  (vgl.  S.  429  und  S.  430),  so 
braucht  man  nicht  mehr  zu  der  Hypothese  von  der  „syphilitischen" 
Natur  der  von  Martial  und  Juvenal  erwähnten  „fici"  und  „maris- 
cae"  seine  Zuflucht  zu  nehmen,  über  deren  meist  nichtsyphilitischen 
Charakter  sich  erfahrene  Gerichtsärzte  längst  klar  sind  (vgl.  oben 
S.  432 — 433   die  Aeusserungen  von  E.   Hofmann  und  Dittrich;. 

Wenn  auch  im  öffentlichen  Leben  der  Alten  die  Homosexua- 
lität der  Frauen  bei  weitem  nicht  diejenige  Rolle  spielte  wie  die- 
jenige der  Alan n er,  hauptsächlich  wegen  der  den  Frauen  auferlegten 
grösseren  Zurückhaltung-),  so  war  sie  doch  den  Alten  durchaus  be- 
kannt und  geläufig  und  man  schrieb  ihr  einen  ähnlichen  mythischen 
Ursprung  zu  wie  der  mannmännlichen  Liebe,  wie  aus  einer  Fabel 
des  Phaedrus  (IV,  14)  hervorgeht,  nach  der  die  „tribades"  und  die 
„molles    mares"     dadurch    entstanden    sind,    dass    Prometheus    in    der 

Trunkenheit 

Adplicuit  virginale  generi  masculo, 

Et  masculina  membra  adplicuit  feminis. 

Pia  ton  äussert  sich  im  Symposion  (p.  191  e)  über  den  Ursprung 
der  Tribaden  etwas  anders:  öoai  de  tö)v  yvvaixcöv  yvvaixög  TjLtrjjud  eiaiv, 
ov  Jidvv  avxai  roTg  ävöodoi  rov  vvv  noooeyovoiv,  äXXd  jucdXov  Jigog  Tag 
yvvaixag  TSioajUjuevai  eioi'  xal  al  eraiQioTQiai  ex  rovzov  rov  yevovg 
yiyvovrai. 

Es  ist  bezeichnend,  dass  auch  die  Tribadie  in  grösserem  Um- 
fange sich  zuerst  in  Sparta  entwickelte,  wo  auch  der  Ursprung-  der 
Knabenliebe  als  einer  dorischen  Volkssitte  zu  suchen  ist.  Plutarch, 
der  von  der  Liebe  zwischen  Frauen  und  Jungfrauen  in  Sparta  be- 
richtet (Lycurg.  18),  hat  sicher  an  Sinnenliebe  dabei  gedacht,  was 
ich  mit  Wachsmuth"^)  gegenüber  Welcker  und  K.  O.  Müller^) 
annehme,  weil  die  blosse  Erwähnung  dieser  seltsamen  Thatsache 
von  rein  homosexuellen  Liebesverhältnissen   bei   PYauen,    für   den    er- 


i)  R.  V.   Kraff t-Ebing,  Psychopathia  sexiialis,    lo.  Aufl.,  Stuttgart   1898,  S.   243. 

2)  Vgl.  darüber  u.  a.  William  Mure,  Historj'  of  Grecian  Literature,  London   1850, 
Bd.  III,  S.  497 — 499. 

3)  Wilhelm  Wachsmutli,    Hellenische  Altertumskunde    aus    dem    Gesichtspunkte 
des  Staats,  2.  Aufl.,  Halle   1846,  Bd.  II,  S.  387. 

4)  Karl  Otfried  Müller,  Die  Dorier,  Breslau   1824,  Bd.  II,  S.   297—298. 


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fahrenen  Anthropologen  bereits  die  Betonung  der  physischen  Bethä- 
tigung  einschhesst,  ohne  dass  eine  ideale  Grundlage  jener  merkwür- 
digen  Beziehungen  geleugnet  werden  soll. 

Diese  Auffassung  gut  auch  für  die  seit  Welcker^)  vielerörterte 
Frage,  ob  die  lesbische  Dichterin  Sappho  nur  eine  rein  ideale  Freund- 
schaft für  die  von  ihr  besungenen  und  angeschwärmten  Mädchen 
empfunden  habe  oder  in  einer  sinnlichen  Glut  für  sie  entbrannt  ge- 
wesen sei  2).  Wer  die  Ergebnisse  der  neueren  wissenschaftlichen 
Forschungen  berücksichtigt,  ist  durchaus  zu  der  Annahme  berechtigt, 
dass  bei  angeborener,  echter,  originärer  Homosexualität,  wie  das  viel- 
leicht bei  Sappho  der  Fall  war,  jenes  von  Welcker  und  seinen 
Nachfolgern  betonte  hohe  ideale  Gefühl  sich  in  jeder  Beziehung  mit 
einer  leidenschaftlichen  Sinnlichkeit  und  deren  Bethätigung  verträgt, 
wie  dies  auch  in  der  normalen  heterosexuellen  Liebe  beobachtet  wird. 
Der  „Fall  Sappho"  wird  m.  E.  am  richtigsten  beurteilt,  wenn  man 
aus  den  doch  nun  einmal  nicht  hinwegzudisputierenden  klaren 
Aeusserungen  eines  Ovid  (Ars  amatoria,  III,  331:  nota  sit  et  Sappho, 
quid  enim  lascivius  illa?  Trist.,  II,  365:  Lesbia  quid  docuit  Sappho, 
nisi  amare  puellas?  Heroid.,  XXI,  15 — 20  u.  201:  Lesbides,  infa- 
mem quae  me  fecistis  amatae),  Horatius  (Od.,  II,  13,  25:  querentem 
puellis  de  popularibus,  Epist.,  I,  iq,  28:  mascula  Sappho),  Martialis 
(VII,  69:  Carmina  fingentem  Sappho  laudavit  amatrix:  Castior  haec, 
et  non  doctior  illa  fuit)  und  Suidas  (s.  v. :  erdigai  de  avrfjg  xai  cpilai 
yeyovaoi  rgeig,  'Ar^ig,  Te}.eo(CTJza.  Msydoa,  7106g  ag  xal  diaßoX)]v  eoyev 
alo/gäg  (filiag)  und  den  ihre  herrliche  Poesie  in  den  Vordergrund 
stellenden  Aeusserungen  eines  Solon  (Stob.,  2g,  58),  Plato  (Evvea 
rag  Movoag  cpaoiv  riveg'  cog  ohycÖQOjg'  f/viös  xai  Zancpcj  Aeoßößev  fj 
öexaTTj  bei  Bergk,  Poetae  lyrici  graeci,  Leipzig  1853,  S.  494),  Ca- 
tull.  (XXXV,  16:  Sapphica  puella  musa  doctior),  Philoxenos 
(Plut.,  Erot.,  762  F),  Horatius  (Carm.,  IV,  9)  und  den  eigenen  leiden- 
schaftlichen Liedern  der  Sappho,  mit  denen  sie  die  Liebe  der 
Mädchen  erfleht  (vgl.  besonders  Fragm.  9;  Fr.  12,  22,  2;^;  Fr.  33: 
'Hoäjuav  juev  eyw  oeßsv,  ^'Ar&i.  jtdXai  Tioxa;  Fr.  34;  36;  38;  I-r.  40;  41; 
Fr.  58  und  Fr.  70,  wo  von  ihren  Nebenbuhlerinnen  bei  der 
schönen   Atthis    die    Rede    ist),    den    einzig    möglichen    Schluss    zieht, 


1)  F.  G.  Welcker,  Sappho  von  einem  herrschenden  Vorurteil  befreit,  Göttingen   1816. 

2)  Vgl.  F.  G.  Welcker,  Ueber  die  beiden  Oden  der  Sappho.  In:  Rhein.  Museum 
f.  Philologie,  1856,  Bd.  XI,  S.  226 — 259;  William  Mure,  Sappho  and  ihe  Ideal  iove 
of  the  Greeks,  ebendas.,  1857,  Bd.  XII,  S.  564 — 593;  vgl.  Ovid,  Ars  amatoria,  ed.  Paul 
Brandt,  Leipzig  1902,  .S.  166  (Anmerk.  zu  III,  331)  und  S.  240  (neuere  Literatur)  und 
die  alierneueste  Monographie:   Bernhard   Steiner,   Sappho,  Jena    1907. 

Bloch.   Der  Ursprung  der  ."Syphilis.  -^o 


-     588     - 

dass  sie  in  der  That  eine  Tribade  war,  dabei  aber  eine  ideal  empfin- 
dende Künstlerin.  Zu  diesem  Ergebnis  kommt  auch  Theodor  Koch 
in  seiner  vorzüglichen  Monographie  über  die  Sappho'),  wenn  er  bei 
aller  Anerkennung  des  idealen  Grundzuges  der  sapphischen  Liebe 
schliesslich  bemerkt:  „dass  diese  Liebe  bei  einer  starken,  südlich- 
leidenschaftlichen Xatur  körperlicher  so  zu  sagen  und  sinnlicher  wird 
als  unter  unserem  phlegmatischen  Himmel  und  als,  wie  man  immer- 
hin gestehen  mag,  überall  zu  wünschen  ist,  wird  niemand  in  Ver- 
wunderung setzen"  (a.  a.  O.,  S.  45). 

Jedenfalls  ist  der  spezielle  Typus  der  Tri  baden,  als  deren 
ältester  Sitz  neben  Sparta  die  Insel  Lesbos  galt,  den  späteren  Autoren 
durchaus  geläufig,  wie  die  besondere  Terminologie  beweist 
{rgißag,  eraigiorgiai;  Lukian.,  Dialog,  meretr.  V,  2;  dieraigioTgiai, 
Hesych.  i,  510  =  yvvälxeg  ai  Tetoajujuh'ai  Jigög  rag  haigag  im  ovvov- 
oiq,  (hg  oi  ävdgsg-  olov  rgißddeg;  tribas  (Mart.,  VII,  67;  Phaedrus, 
IV,  14);  frictrix  (Tertullian.  de  pallio,  c.  4);  subagitatrix 
(Plaut,  Pers.  II,  2,  45). 

Lukianos  berichtet  (Dial.  meretr.  V,  2)  von  den  Weibern  auf 
Lesbos  vTio  dvdgcov  uev  ovy.  i&e?Mvoag  avro  ndo/eiv,  yvvaiil  de  amdg 
7iX't]oia'Qovoag.  cooneg  dvdgag.  Er  teilt  dort  ein  sehr  charakteristisches 
Gespräch  zwischen  der  Hetäre  Leaina  und  der  Tribade  Megilla  mit 
und  schildert  sehr  eingehend  den  darauf  folgenden  Geschlechtsver- 
kehr zwischen  den  beiden.  Eine  andere  berüchtigte  Tribade  ist  die 
Philaenis  (Lucian.,  Amores,  c.  28):  jräoa  ök  ))juo)v  fj  yvvaiy.ovTTig  eoro) 
^ikaivig,  dvögoyvvovg  egonag  doxrj^ovovoa. 

Von  römischen  .Schriftstellern  erwähnt  schon  Plautus  eine 
weibliche  Homosexuelle,  die  Sophoclidisca  in  den  Persern  U,  2,  45, 
zu  welcher  Paegnium  sagt:  ne  me  attrecta,  subagitatrix.  —  Sin  te  amo? 
—  Male  operam  locas.  Horatius  spricht  (Epod.  V,  41)  von  der 
„mascula  libido"_  der  Folia  aus  Ariminum,  und  eine  auch  heute  noch 
sehr  häufige  Complication  führt  uns  Seneca  (Controv.  II  in  fine)  vor, 
nämlich  die  Eifersucht  des  Ehemannes,  dessen  Frau  ihn  mit  einer 
Tribade  hintergeht:  „Hybreas  cum  diceret  controversiam  de  illo,  qui 
tribada  deprehenderat  et  occiderat,  describere  coepit  mariti  affectum, 
in  quo  non  deberet  exigi  inhonesta  inquisitio". 

Martial  und  Juvenal  belehren  uns  dann  über  die  grosse  Ver- 
breitung der  Tribadie  in  der  Kaiserzeit,  deren  Organisation  in  ge- 
heimen Klubs  deutlich  aus  der  Schild-erung  Juvenals  (VI,  306 — 322) 
hervorgeht.     Sie   feierten    ihre  Orgien    am  Altar  der  Göttin  Pudicitia 

II  Theodor   Koch,   Alkäos  und   Sappho,   Beriiii    1862. 


-     589     — 

und  beim  Feste  der  Bona  Dea.  Wie  gross  die  Zahl  der  Tribaden 
in  Rom  war,  geht  auch  aus  dem  Epitheton  „tribadum  tribas"  hervor, 
mit  dem  Martial  (VII,  70)  die  Philaenis  anredet,  ein  richtiges 
„Mannweib",  deren  männliche  Allüren  und  ausschweifendes  Treiben 
in  dem  berüchtigten  Epigramm  VII,  67  so  drastisch  geschildert  werden: 

Paedicat  pueros  tribas  Philaenis 

Et   tentigine  saevior  mariti 

Undenas  dolat  in  die  puellas. 

Harpasto  quoque  subligata  ludit, 

Et  flavescit  haphe,  gravesque  draucis 

Halteras   facili  rotat  lacerto, 

Et  putri   lutuienta  de  palaestra 

Uncti  verbere  vapulat  magistri: 

Nee  cenat  prius  aut  recumbit  ante. 

Quam   Septem   vomuit  meros  deunces; 

Ad  quos   fas  sibi   tunc  putat  reverti, 

Cum  coloephia  sedecim  comedit. 

Post  haec  orania  cum  libidinatur, 

Non  fellat   —   piitat  hoc  parum  virile   — , 

Sed  plane  medias  vorat  puellas. 

Di  mentem   tibi  dent   tuam,   Philaeni, 

Cunnum   lingere  quae  pulas  virile. 

Eine  andere  Tribade  mit  männlichen  Neigungen  ist  Bassa,  der 
Epigramm  I,  go  gewidmet  ist,  aus  dem  die  die  Art  des  homo- 
sexuellen  Verkehrs  beschreibenden  Verse  hervorgehoben  seien: 

At  tu,   pro  facinus,  Bassa,   fututor  eras. 

Inter  se  geminos  audes  committere  cunnos« 

Mentiturque  virura  prodigiosa  Venus. 

Die  Art  des  Verkehrs  beschränkte  sich  also  nicht  bloss  auf 
Küsse  und  Umarmungen,  sondern  es  fand  auch  eine  Nachahmung  der 
heterosexuellen  Cohabitation  statt  (das  „equitare"  des  Juvenal  VI,  3  1 1), 
ausserdem  eine  manuelle  oder  linguale  Masturbation,  die  als  Zeichen 
der  „mascula  libido"  galt,  oft  aber,  wie  im  Falle  der  Philaenis 
(Mart.  VII,  67;  IX,  40),  auch  abwechselnd  bald  von  der  einen,  bald 
von  der  anderen  Partnerin  ausgeführt  wurde.  Dass,  wie  Martial 
(VII,  67)  und  Seneca  (Epist.  95)  annehmen,  eine  clitoris  permagna 
es  den  Tribaden  möglich  macht,  einen  wirklichen  Coitus  auszuführen, 
ist  ein  altes,  auch  in  neuerer  Zeit  oft  wiederholtes  Märchen  ^).  Dagegen 
bedienten  sie  sich  in  ihrem  gegenseitigen  Verkehr  zweifellos  schon 
sehr  früh  einer  künstlichen  Nachahmung  des  männlichen  Gliedes 
{öXioßog),    die  aus  Leder  gefertigt  war,    und  von  Suidas  s.  v.  öhoßog 

i)  Vgl.  die  betreffenden  ungeheuerlichen  Angaben  bei  Martin  Schur  ig,  Muliebria, 
Dresden    1729,  S.   92. 

38* 


—     590     — 

folgendermaassen  definiert  wird:  alödiov  degjiidTO'or ,  cß  iygcTjvTo  ai 
Mih]oiai  yvvaixeg ,  cbg  igißdöeq  xal  aioxQOvgyoi.  "Eyoüivxo  de  avroTg 
xai  ni  yf]Qai  yvvaiy.sg.  Darnach  wurden  diese  künstlichen  Phallen 
hauptsächlich  von  den  jMilesiei innen,  den  Iribaden,  sehr  wollüstigen 
Frauen  und  Wittwen  gebraucht.  Nach  Aristophanes  (Lysistr.  io8 
bis  iio),  der  neben  Kratinos  am  frühesten  diesen  ö?uaßog  erwähnt, 
scheint  in  der  That  Milet  Hauptfabrikationsort  für  diese  Wollust- 
apparate gewesen   zu  sein : 

i^  ov  yuo  rjfiäQ  :joovöoour  Mth'jnioi, 
ovx  elöov  07'd'  ö/uoßov  oxKo^äy-Tvlor, 
(ig   rjv  av   >)fih'   oy.vrlvi]    'jti?:o)'oi(i. 

Der  Dichter  Kratinos  empfahl  sogar  nach  vSuidas  (s.  v.  jnior]Ti]) 
den  allzu  wollüstigen  Weibern  den  Gebrauch  des  Olisbos  und  erwähnt 
nach  Athenaios  (Deipnosoph.  XV.  676  f.)  die  vagxiooi'vovg  ö)doßovg. 
Nach  Otto  Crusius^)  sprach  auch  Epicharmos  von  Fegga  Nd^ia  = 
öegjudTiva  aldola,  gegen  die  er  wohl  zu  Felde  zog.  Sophron  spricht 
ebenfalls  im  gleichen  Sinne  von  dem  djuqpdhjra  xvnrd'QEiv  und  von 
den  ocoXrivEg  (Spritzen)  als  yjjgäv  yvvaiy.öjv  ?uyv£Vfia  (Feckerbissen  der 
Wittwen)  und  des  Blaisos  ueoojgißag  (halbabgerieben)  gehört  nach 
Bergk's  Darlegungen  in  dieselbe  Kategorie'^). 

Die  bei  weitem  ausführlichsten  Mitteilungen  über  Herstellung 
und  Benutzung  des  künstlichen  Lederphallus  oder  ßavßcov,  wie  er 
hier  heisst,  finden  wir  in  den  erst  i8gi  entdeckten  Alimiamben  des 
dem  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  angehörigen  hellenistischen  Dichters  He- 
rondas.  Hier  dreht  sich  der  6.  Mimiambus,  betitelt  fßdidCovoai  i) 
""Idid'Covoai  („Die  beiden  Freundinnen  oder  Das  vertrauliche  Gespräch")-^) 
ganz»  um  diesen  zweideutigen  Gegenstand. 

Die  Personen  des  Stückes  sind  Koriito,  die  Frau  eines  Ackerbürgers  und  ihre  Freun- 
din Metro,  die  sich  bei  einem  Besuche  recht  eifrig  bei  Koritto  nach  dem  Fabrikanten  eines 
,, scharlachroten  Baubon"  {y.oxxivov  ßavß(ova)  erkundigt,  den  sie  liei  einer  anderen  Be- 
kannten, der  Nossis,  gesehen  habe,  die  ihn  wiederum  von  der  Eubule  bekommen  habe.  Es 
stellt  sich  heraus,  dass  dieser  ,,consoIateur"  der  Koritto  selbst  gehört  und  also,  ohne  ihr 
Wissen,  von  einer  Frau  zur  anderen  gewandert  ist.  Koritto  bricht  nämlich  in  die  ent- 
rüsteten  Worte  aus : 

O  diese   Weiber!      Dies   Weib  bringt  mich   noch   um! 

Ich   liess  mich  durch   ihr  Bitten   und  Fleh'n   erweichen. 


1)  Otto  Crusius,  Untersuchungen  zu  den  Mimiamben  des  Herondas,  Leipzig  1892, 
S.    129. 

2)  Weitere  Zitate  bei  Crusius  a.  a.  O.  S.    129 — 130. 

3)  Herondae  Mimiambi  ed.  O.  Crusius,  Leipzig  1892,  S.  38—45;  Die  Mimiamben 
des  Herondas.  Deutsch  mit  Einleitung  und  Anmerkungen  von  Otto  Crusius,  Göttingen 
'893,  S.  37—44- 


—     591     — 

Und  gab   ihn   ihr,   eh'   ich   ihn   selber  brauchte; 

Doch  sie,  als  ob  sie  auf  der  Gasse  ihn 

Gefunden  hätte,  verschenkt  ihn,  auch  an  solche, 

Die  nicht  dazu  gehören.     Eine  Freundin 

Von  dieser  Sorte  kann  mir  gewogen  bleiben ; 

Eine  andre  mag  sie  sich  an  unsrer  Statt 

Als  Freundin  suchen.     Gerade  der  Nossis  ihn 

Zu  leihn!     Der  würd'  ich  doch   —  vermess'uer  red'  ich 

Als  Weibern  zusteht;  mögst  du  mich  nicht  hören, 

Adrasteia  —  hätt'  ich  tausend,  gab'  ich  Der 

Nicht  einen  ab,  und  wenn  er  räudig  wäre! 

(Uebers.  von  Crusius.) 
Nachdem  Metro    den   Zorn    ihrer  Freundin    beschwichtigt   hat,    erfährt    sie    auf    noch- 
maliges dringendes  Befragen  von  ihr,  dass  ein  kahlköpfiger  Schuster  Kerdon  aus  Chics  diese 
Baubonen  heimlich   fabriziert.     Koritto  rühmt  seine  AVaare  enthusiastisch  : 

Ich   wenigstens   —   mit  zweien   kam   er  nämlich   — 

Wie  ich  sie  erblickte,    gingen  mir  vor  Entzücken 

Die  Augen  über.     Unsern  Männern  hebt  sich 

—   Wir  sind  ja  unter  uns  —  das  Glied  nicht  so. 

Und  mehr  noch   —  weich,  wie  holder  Schlaf,  ist  Alles, 

Und  Wolle  sind  die  Riemchen,  keine  Riemen; 

Einen  Schuster,  der  es  mit  uns  Frauen  besser 

Als  dieser  meinte,  kannst  du  lange  suchen.  (Crusius.) 

Metro  hört  dann  noch,  dass  Artemis,  die  Frau  des  Gerbers  Kandas,  den  Kerdon 
mit  seinen  zwei  Baubonen  zu  der  Koritto  geschickt  habe  und  dass  diese  nur  einen  be- 
kommen konnte,  weil  der  andere  schon  bestellt  sei.  Deshalb  geht  Metro  jetzt  sogleich  zur 
Artemis,   um   sich   ihrer  Vermittlung  beim   Ankauf  eines  ohoßo^  zu   bedienen. 

Der  Inhalt  dieses  sehr  realistischen  Mimus  ist  in  mehrfacher 
Beziehung  interessant.  Wir  ersehen  daraus,  dass  diese  künstlichen 
Glieder  V)  auch  noch  in  der  hellenistischen  Zeit  ebenso  verbreitet  und 
beliebt  waren  wie  zur  Zeit  der  älteren  Komödie  und  dass  die  sie 
benutzenden  Frauen  eine  Art  von  Geheimbund  bildeten,  von  dem 
nach  den  Worten  der  Koritto  alle  ausgeschlossen  waren,  die  „nicht 
dazu  gehören",  dass  ferner  diese  Lederphallen  von  einer  zur  andern 
wanderten  und  recht  oft  wohl  gar  gemeinschaftlich  benutzt  wurden. 
Am  merkwürdigsten  ist  aber  die  Stelle,  wo  Koritto  den  Ausdruck 
„räudig"  gebraucht.  Im  Original  steht  hier:  ydiwv  evvzmv  ev  ovx  äv 
öorig  kengög  iori  jiooodcbooi.  Schon  vor  mehr  als  zehn  Jahren,  noch 
vor  dem  Erscheinen  des  ersten  Teiles  dieses  Werkes  habe  ich  auf 
diese  in  jedem  Falle  bemerkenswerte  Stelle  hingewiesen  -)  und  daraus 
den  Schluss  gezogen,    dass  hier  eine  venerische  Erkrankung   des 


i)  Sie  täuschten  ganz  wie  moderne  Erzeugnisse  dieser  Art  sogar  bezüglich  der  Farbe 
ein  wirkliches  membnim  virile  vor. 

2)  Iwan  Bloch,  Kannten  die  Alten  die  Contagiosität  venerischer  Krankheiten? 
Ein   neuer  Beitrag  zu  einer  alten   Frage.      In:    Deutsche  medizin.    Wochenschr.    1899,   Nr.    5. 


—     592      — 

Gliedes  angedeutet.  Ich  knüpfte  hierbei  an  eine  Aeusserung"  von 
Crusius  an  (Untersuchungen  u.  s.  \v.,  S.  120):  „Der  Ausdruck  XenQ6(; 
ist  gerade  bei  dem  ßavßiov  sehr  beziehungsvoll".  Offenbar  ist  die 
Bezeichnung  XsjiQÖg  von  Koritto  der  Wirklichkeit  entnommen  und 
von  dem  männlichen  Gliede  auf  den  künstlichen  Phalhis  übertragen 
worden.  Die  Frage  ist  nun,  ob  sich  das  Wort  lejroög  auf  eine  an- 
steckende Hautkrankheit  bezogen  hat,  und  welcher  Art  diese  Haut- 
krankheit gewesen  ist.  Zu  diesem  Zwecke  wiederhole  ich  in  etwas 
abgekürzter  P^orm  meine  schon  früher  an  anderer  Stelle  \-cröffent- 
lichten  kritischen  Untersuchungen  ^)  über  die  Bedeutung  des  Wortes 
Xenga  bei  den  Griechen. 

Der  Altmeister  der  Aussatzforschung  in  Deutschland,  Rudolf  Virchow,  dem  wir 
so  viele  bedeutende  Arbeiten  über  Lepra  verdanken,  hat  auch  zuerst  die  Frage  der  älteren 
Terminologie  dieser  Krankheit  kritisch  erörtert.  Er  konnte  nachweisen,  dass  ,, schon  vor 
den  Arabern  die  Bezeichnung  der  Lepra  einen  allgemeineren  Begriff  erhalten  hat".  Als  älteste 
Bezeichnung  des  Aussatzes  bei  den  Griechen  müsse  der  Name  „Elephantiasis"  angesehen  wer- 
den, und  dieser  sei  erst  nach  Hippokrates  aufgekommen.  Der  Ausdruck  ,, Lepra"  komme 
zwar  schon  bei  Hippokrates  vor,  aber  ohne  genauere  Definition  und  stets  neben  Be- 
zeichnungen für  leichtere  Hautleiden.  Erst  Galen  hat  nach  Virchow  die  Elephantiasis 
n  eine  ,, gewisse  Verbindung  mit  der  Lepra"  gebracht,  als  ob  diese  eine  geringere  Porm 
oder  ein  Rückbildungszustand  der  Elephantiasis  sei.  Schliesslich  ist  dem  auch  auf  dem  Ge- 
biete der  historischen  Kombination  so  hervorragenden  Forscher  die  wichtige  Thatsache  nicht 
entgangen,  dass  ,, schon  in  der  griechischen  Uebersetzung  des  Neuen  Testamentes  (Evangelium 
Lucä,  Cap.  17,  Vers  I2j  die  Aussätzigen  als  lengoi  aufgeführt  werden  und  dass  auch  der 
alttestamentliche  Aussatz   überall  als   ,, Lepra"   übertragen   wurde"  ■). 

Es  war  also  von  Virchow  festgestellt  worden,  dass  ,, Lepra"-  die  Bedeutung  als 
Aussatz  bereits  bei  den  Griechen  gehabt  habe.  Nur  ging  aus  seinen  Untersuchungen  hervor, 
dass  Elephantiasis  die  ältere  Bezeichnung  sei,  während  Lepra  =  Aussatz  erst  seit  der  Zeit 
des  Galen  gebräuchlich  geworden  sei.  Wenn  man  aber  die  Genesis  der  ganzen  Aussatz- 
terminologie des  Altertums  genau  prüft,  so  gelangt  man  zu  der  Ueberzeugung,  dass  ,, Lepra" 
die  ältere  Bezeichnung  des  Aussatzes  bei  den  Griechen  war,  der  Name 
,, Elephantiasis"  viel  jüngeren  Ursprungs  ist,  dass  also  unser  heutiges  Wort  Lepra 
für  den  Aussatz  auch  vom  historischen  Standpunkte  das  einzig  berechtigte  ist. 

Diese  Frage  ist  mit  Sicherheit  nur  zu  lösen,  wenn  sich  irgend  eine  Beziehung  zur 
Gegenwart  herstellen  lässt,  wenn  man  nachweisen  kann,  dass  eine  uralte  Bezeichnung  des  Aus- 
satzes noch  heute  sich  in  derselben  Bedeutung  erhalten  hat.  Diese  Forderungen  sind  erfüllt 
durch  die  Nachrichten,  welche  wir  aus  älterer  und  neuerer  Zeit  über  den  Aussatz  in  Persien 
besitzen.  Sie  beweisen,  dass  der  Name  ,, Lepra"  viel  früher  für  den  echten  Aussatz  ge- 
braucht worden  ist,  als  der  Name  „Elephantiasis". 

Etwa  um  das  Jahr  450  v.  Chr.  berichtet  Herodot  über  die  Ferser  (Herodoti 
historiarum,    lib.  I,    c.    138,    ed.    H.   R.  Dietsch,    Leipzig   1887,    S.   81):    og    av    de    tmv 


1)  Iwan  Bloch,  Beiträge  zur  Geschichte  und  geographischen  Pathologie  des  Aus- 
satzes. Die  Bedeutung  einiger  Nachrichten  über  den  Aussatz  in  Persien.  In :  Deutsche 
medizin.    Wochenschr.    1900,   Nr.   9. 

2)  Rudolf  Virchow,   Die  krankhaften    Geschwülste.   Berlin   1863,   Bd.  II,  S.  494  ff. 


—      593     — 

uoTior  2  f'.T £)>;/•  //'  Xsv>t>jr  f/ij,  ig  .Tohr  oviog  ov  y.aTsoxsTui  orSs  avfi/ii'ayKiai  loloi  äXloioi 
TIsgoTjai.  (paol  öe  /uv  ig  tot  ijhor  äfiagrovra  xt  raina  F^eiv.  ^sTvov  Öf  Jtävza  tov  lafi- 
ßavö/iisvov  i'Jio  zovro)v  F^eXavvovot  fx  xi]g  Xüiotjg.  (,,Wet  von  den  Bürgern  an  Lepra  oder 
Lenke  leidet,  darf  die  Stadt  nicht  mehr  betreten  und  nicht  mit  den  anderen  Personen  zu- 
sammenkommen. Man  sagt,  dass  der  an  dieser  Krankheit  Leidende  gegen  die  Sonne  ge- 
sündigt habe.  Jeder  Fremde  aber,  der  mit  dieser  Krankheit  behaftet  ist,  wird  aus  dem 
Lande  gejagt.") 

Die  zweite,  fast  genau  mit  dem  Berichte  des  Herodot  übereinstimmende  Nachricht 
über  den  Aussatz  in  Persien  stammt  von  einem  der  ausgezeichnetsten  griechischen  Aerzte, 
Ktesias  aus  Knidos,  dem  berühmtesten  Gegner  des  Hippokrates,  dem  Verfasser  der 
leider  nur  in  Fragmenten  noch  erhaltenen  wertvollen  Bücher  über  Persien  und  Indien  ^). 
Im  Jahre  416  v.  Chr.  kam  Ktesias  nach  Persien,  wurde  Leibarzt  der  Parysatis  und 
des  Artaxerxes  IL  Mnemon  und  hielt  sich  als  solcher  17  Jahre  in  Persien  auf,  da  er 
erst  399  V.  Chr.  in  seine  Heimat  zurückkehrte.  Er  hat  uns  viele  schätzbare  und  durchaus 
glaubwürdige  Nachrichten  über  Persien  hinterlassen,  da  er  zu  den  eigenen  Beobachtungen 
den  Inhalt  der  ihm  zur  Verfügung  gestellten  Dokumente  der  Landesarchive  hinzufügen 
konnte.  Ich  zitiere  die  den  Aussatz  betreffende  Stelle  nach  der  neuesten  Ausgabe  von 
Gilmore  (,,The  Fragments  of  the  Persika  of  Ktesias,  ed.  John  Gilmore,  London  1888, 
p.  165:  'O  ds  MEyaßv'Qog  jtsvts  diaxQixi'ag  iv  xfj  e^ooia  ftij,  ä:io(i(8QdaxFi,  vjioxQidEig  xov 
moäyav.  Tiiadyag  de  ?Jysxai  -Tag«  ITegaaig  6  /.sjiQog,  xal  foxi.  Jtäoiv  djigö- 
otxog.  (,, Nachdem  Megabyzos  5  Jahre  in  der  Verbannung  verweilt  hatte,  entfloh  er, 
indem  er  sich  stellte,  als  ob  er  ein  ,, Pisagas"  sei.  Pisagas  aber  heisst  bei  den  Persern 
der  ?,£jiQ6g,  dem  sich  Niemand   nahen   darf".) 

Wenn  das  Wort  ,, Lepra"  wirklich  nur  eine  leichte,  schuppende  Hautkrankheit  be- 
deutet hat,  ein  Irrtum,  auf  dem  z.  B.  Münch  ein  ganzes  Buch  (,,Die  Zaraath  der  hebrä- 
ischen Bibel",  Hamburg  1893)  aufgebaut  hat,  so  ist  es  eigentlich  nicht  zu  verstehen,  wie 
die  Perser  nach  den  Mitteilungen  des  Herodot  und  Ktesias,  sowie  nach  einer  interessanten 
Stelle  im  Zend-Avesta -)  auf  diese  nur  mit  einer  leichten  Krankheit  Behafteten  so  strenge 
und  gewiss  aus  der  Erfahrung  ihres  Nutzens  abgeleitete  Isolierungsmaassregeln  anwenden 
konnten.  Schon  aus  diesen  Maassnahmen  lässt  sich  mit  Sicherheit  der  Schluss  ziehen,  dass 
es  sich  um  eine  schwere  und  ansteckende,  für  die  Gemeinde  die  grössten  Gefahren 
mit  sich  bringende  Hautkrankheit  gehandelt  haben  muss.  Dass  dies  der  Aussatz  gewesen 
ist,  dass  der  kejiQÖg.  der  ,, Pisagas"  ein  an  unserem  heutigen  typischen  Aussatze  Leidender 
gewesen  ist,  erhellt  mit  der  grössten  Evidenz  daraus,  dass  noch  heute  in  Persien  mit 
dem  Worte  „Pisagas"  die  wahre  Lepra,  unser  Aussatz  bezeichnet  wird  und 
dass  noch  heute  die  bei  Herodot  und  Ktesias  sowie  im  Zend-Avesta  er- 
wähnten Vorschriften  für  Aussätzige  in  derselben   Form   in  Geltung    sind. 

J.  E.  Polak,  lange  Jahre  Leibarzt  des  Nasreddin  Schah,  der  sich  von  1851  bis 
1860  in  Persien  aufhielt,  hat  im  Jahre  1863,  einer  Anregimg  Virchow's  folgend,  in  dessen 
Archiv  einen  Aufsatz  über  die  Lepra  in  Persien  veröffentlicht '),  in  dem  er  sagt:  „Den 
Individuen,  die  von  der  Krankheit  befallen  sind,  ist  es  verboten,  in  die  Städte  zu  kommen". 
Also  dieselbe  Vorschrift,    die  nach    Herodot  und   Ktesias    schon    vor    mehr    als    2300 


i)  Die  bisher  ausführlichsten  Darstellungen  seines  Lebens  bei  J.  Chr.  F.  Baehr, 
„Ctesiae  Cnidii  Operum  reliquiae,  Frankfurt  a.  M.  1824  und  bei  H.  C.  M.  Rettig,  Ctesiae 
Cnidii  vita  cum  appendice  de  libris,   quos  Ctesias  composuisse  fertur,   Hannover   1827. 

2)  Zend-Avesta,  deutsch  von  J.  F.  Kleuker,  Bd.  II,    1777,  ^^  167. 

3)  J.  E.  Polak,    Lepra  in  Persien.     In:  Virchow's  Archiv    1863,    Bd.  LXXVII, 

s.  175  ff- 


—     594     — 

Jahren  in  Persien  bestand!  Und  auch  der  Name  der  Krankheit  hat  sich  unverändert  er- 
halten. Polak  bemerkt  darüber:  „Die  Krankheil  heisst  mit  dem  arabischen  Namen 
Dschezam,  im  Türkischen  heisst  sie  Pis".  Das  ist  insofern  nicht  ganz  richtig,  als  die  tür- 
kische Sprache  diesen  Namen  aus  der  persischen  übernommen  hat.  Denn  in  Dr.  Julius 
Zenker's  „Türkisch  -  arabisch  -  persischem  Wörterbuch"  (Bd.  I,  Leipzig  1866)  ist  Pis  ^ 
lepre,  Aussatz,  ausdrücklich  als  ein  j)ersisches  Wort  bezeichnet.  Es  finden  sich  dort  auf 
Seite  234  und  235  folgende  Namen:  „Pist"  =  aussätzig,  lepreux;  „Pis"  =^  lepre,  Aussatz; 
und  „Pisegi"  =  leprosite,  Aussatz.  Während  das  Wort  ,,Pis"  die  Eigentümlichkeit  der 
neupersischen  Sprache  erkennen  lässt,  viele  Endsilben  abzuwerfen,  ist  uns  in  dem  Worte 
„Pisegi"  ganz  zweifellos  das  uralte,  bei  Ktesias  sich  findende  Wort  ,, Pisagas"  erhalten. 
Damit  ist  aber  auch  der  unanfechtbare  'beweis  geliefert,  dass  das  Wort 
kejTQo?  in  der  älteren  Zeit  zur  Bezeichnung  eines  Aussätzigen  gebraucht 
wurde.  Dass  die  Griechen  später  unter  „Lepra"  auch  andere  Hautaffektionen  verstanden, 
kommt  dabei  ja  gar  nicht  in  Betracht.  Hier  handelt  es  sich  um  die  Feststellung  der 
ältesten  Terminologie.  Und  für  diese  ist  zunächst  ,,/£Toa"  als  eine  der  frühesten  Be- 
zeichnungen  des   Aussatzes  anzusprechen. 

Als  nun  später  andere  Namen  für  den  Aussatz  aufkamen,  wie  Elephantiasis,  Leon- 
tiasis,  Ophiasis  u.  s.  w.,  von  denen  einige  rein  symp tomatologische  Bedeutung  hatten, 
während  die  „Elephantiasis"  allmählich  zum  allgemeinen  Begriff  wurde,  da  wurde  auch 
das  alte,  wie  wir  sahen,  wohlverbürgte  Wort  „Lepra"  für  eine  bestimmte  Form  des  Aus- 
satzes wieder  herangezogen  oder,  da  es  wahrscheinlich  in  bestimmten  Gegenden  noch  immer 
den  Aussatz  bezeichnete,  von  den  alexandrinischen  Nomenciatoren  für  die  von  ihnen 
ausgebildete  rein  symptomatologische  Terminologie  des  Aussatzes  mitverwertet.  Nun  erst 
versteht  man  die  bisher  ganz  unbeachtet  und  unverstanden  gebliebene,  aber  für  die  ge- 
schichtliche EntM'ickelung  der  Aussatz-Terminologie  höchst  wichtige  Stelle  bei  Galen 
in  dem  Capitel  über  die  Elephantiasis  (Galeni  Introduclio,  cap.  XIH,  ed.  Kühn,  Bd.  XIV, 
S-  757)'  tit'kg  Si;  zöjv  jiaXaiOTEQwv  eig  e^  SiaiQovai  rö  Jtä&og  xovro,  elg  sXecpavziaoiv, 
Ifovrlaaiv,  6<piaaiv,  IsjiQav  xai  äXmjiexiav  xai  ).d)ßr)v.  („Einige  unter  den  älteren 
Aerzten  unterscheiden  bei  der  Krankheit  sechs  verschiedene  Formen,  die  Elephantiasis,  die 
Leontiasis,   Ophiasis,  Lepra,  Alopecie  und  Mutilation.") 

Wenn  die  Aerzte  der  römischen  Kaiserzeit  von  den  .laXaiöcsooi  reden,  so  meinen 
sie  stets  die  Aerzte  der  älteren  alexandrinischen  Schule.  Ja,  es  lässt  sich  sogar  über  die 
Zeit  der  ersten  wissenschaftlichen  Monographieen  über  den  Aussatz  Genaueres  mitteilen 
nach  einer  sehr  wichtigen  Notiz  des  Ruphos  von  Ephesus  bei  Oreibasios'),  nach 
welcher  imler  den  TtaXaiol,  den  älteren  Alexandrinern,  zuerst  Straton,  der  Schüler  des 
Erasi Stratos,  über-  die  Elephantiasis  geschrieben  und  eine  Theorie  der  Pathogenese  dieser 
Krankheit  aufgestellt  habe.  Darnach  darf  man  annehmen,  dass  etwa  um  das  Jahr  300  v. 
Chr.  das  erste  wissenschaftliche  Studium  des  Aussatzes  in  A.lexandria  begonnen  und 
naturgemäss  zunächst  zu  einer  genaueren  terminologischen  Einteilung  der  einzelnen  Krank- 
heitsformen geführt  hat.  Wahrscheinlich  wurden  damals  die  einzelnen  in  verschiedenen 
Ländern  oder  in  verschiedenen  Teilen  von  Hellas  üblichen  alten  Namen  für  den 
Aussatz  wie  Lepra,  Elephantiasis,  Satyriasis,  Leontiasis,  Herakles-Krankheil  u.  s.  w.  in  die 
neue  Terminologie  mit  herübergenommen.  Dies  erhellt  deutlich  aus  der  zitierten  Stelle  des 
Ga  lenos. 


i)  ,, Oeuvres  d'Oribase"  ed.  Daremberg  et  Bussemaker,  Bd.  IV,  Paris  1862, 
S.  63 :  ovdsv  fiev  Jiagä  zmv  Tialaiöjv  :isqI  tfjg  kXscpavxiäaeoog  dxr]xöa/iiev  ....  fxörog 
fjiÄir  Ergätcov  6  rov  ^Egaoiorgärot'  /j.a&t]T>jg  h'voiag  jiaQEoye  zov  7iä-&ovg,  y.axoyvfxiar 
avio  oro/idCcüv. 


—      595      — 

Dieser  Excurs  war  nötig,  um  zu  zeigen,  wie  auch  gemäss  diesem  Prinzip  bei  den 
Alexandrinern  die  ,, Lepra"  als  Aussatz  und  zwar  als  eine  bestimmte  Form  desselben  be- 
zeichnet wurde.  Asjiga  ist  abgeleitet  von  der  indogermanischen  Wurzel  ,,lap"  =  schälen') 
und  bedeutet  eine  schuppige,  dabei  ansteckende  Hautkrankheit.  Für  spätere  Zeiten 
steht  jedenfalls  fest,  dass  der  Begriff  ,, Lepra"  ausser  dem  Aussatz  auch  andere  ansteckende 
Hautkrankheiten  mit  umfasst  hat.  Deshalb  sagt  Galen:  ,, Lepra  heisst  der  Aussatz,  weil 
er  die  Haut  rauh  und  schuppig  macht,  wie  man  dieses  bei  den  anderen  Formen  von  Lepra 
sieht"  (Galen  a.  a.  O. :  Xengav  de  rt'jy  TQaxvvoi'oav  x6  dsg/na  xai  olov  ögärai  sjii  xwv 
XejiQcäv  jzoiovfiert)7'). 

Der  Gebrauch  des  Wortes  ?,ejiQ6g  in  dem  Gespräche  der  Freun- 
dinnen und  mit  Beziehung  auf  den  künstlichen  Phallus  lässt  in  der 
That  eine  gewisse  Absicht  der  Wahl  gerade  dieses  Wortes  vermuten, 
da  ja  auch  jede  andere  Krankheit  hätte  gewählt  werden  können. 
Crusius  hat  es  deshalb  .,räudig"  übersetzt,  um  die  Uebertragbarkeit 
—  denn  die  „Räude"  ist  eine  übertragbare  Hautkrankheit  —  anzu- 
deuten. Und  wie  die  oben  gegebenen  kritischen  Nachw^eisungen  dar- 
thun,  bezeichnet  das  Wort  Xsjigog  in  der  That  eine  ansteckende 
Hautkrankheit. 

Ich  war  früher  der  Ansicht,  dass  hier  eine  „v^enerische"  Er- 
krankung des  männlichen  Gliedes  angedeutet  sein  könne  und  dass 
der  Ausruf  der  in  sexuellen  Dingen  offenbar  sehr  erfahrenen  Bürgers- 
frau Koritto  als  das  erste  sichere  historische  Dokument  für  die 
Kenntniss  der  x\lten  von  der  Contagiosität  venerischer  Krankheiten 
betrachtet  werden  müsse,  dass  es  aber  weitere  Schlüsse  über  die 
Natur  dieser  Krankheit  nicht  zulasse. 

Nach  wiederholter  eingehender  Prüfung  dieser  in  der  That  sehr 
interessanten  Stelle  glaube  ich  ihr  jetzt  die  folgende  Deutung  geben 
zu  müssen.  Herondas,  der  ja  die  ägyptischen  Verhältnisse  genau 
kannte,  wie  seine  eingehende  Schilderung  derselben  (Mim.  I,  27  ff.) 
bezeugt,  hat  bei  dem  ,Mjto6g"  wahrscheinlich  an  den  in  Aegypten 
grassierenden,  seit  lange  einheimischen  Aussatz  (Lucret.,  De  rer. 
nat.  VI,  II 14:  Est  Elephas  morbus,  qui  propter  flumina  Nili  gignitur 
Aegypto  in  medio,  neque  praeterea  usquam)  gedacht,  der  gerade  da- 
mals, wie  wir  gesehen  haben  (um  300  —  250  v.  Chr.)  von  den  Schülern 
des  Erasistratos  wissenschaftlich  erforscht  wurde  und  je  nach 
seinen  Symptomen  mit  verschiedenen  Namen,  u.  a.  auch  dem  ältesten, 
durch  Herodot  und  Ktesias  bezeugten;  kejiga  belegt  wurde  (Galen. 
XIV,  757).  Es  ist  also  der  wirkliche  Aussatz,  von  dem  in  dem  Aus- 
rufe der  Koritto  die  Rede  ist.  Wie  oben .  (S.  400)  mitgeteilt  wurde, 
kommen  bei  Lepra  in  über  95  "/q  der  Fälle  krankhafte  Veränderungen 


i)    A.  Vanicek,    Griechisch- latemisches   etymologisches  Wörterbuch,    Leipzig   1877, 
Bd.  II,  S.  837. 


—     596     — 

der  männlichen  Geschlechtsteile  vor  und  zwar  in  Form  von  Knoten, 
Infiltraten  und  Geschwüren  an  der  Eichel,  der  Vorhaut,  der  Haut 
des  Penis  und  am  Scrotum.  Sie  können  früh  auftreten  und  lange 
persistieren.  Es  ist  nun  mög-lich,  dass  Herondas  das  gemeint  hat, 
aber  ebenso  gut  kann  er  auch  an  den  Aussatz  im  allgemeinen,  d.  h. 
am  ganzen  Körper,  gedacht  haben,  an  das  aussätzige  Individuum  als 
solches,  dessen  Berührung  streng  gemieden  wurde,  und  gewiss 
auch  die  bei  der  Cohabitation.  Wie  aus  den  oben  mitgeteilten 
Stellen  bei  Herodot  und  Ktesias  hervorgeht,  war  den  Alten  die 
Uebertragbarkeit  des  Aussatzes  durch  die  Berührung  durchaus  be- 
kannt. Die  Stelle  des  Herondas  liefert  also  höchstens  hierfür  einen 
neuen  Beweis,  nicht  aber  für  meine  frühere  Annahme,  dass  ein 
spezifisch  venerisches  Genitalleiden  hier  angedeutet  sei. 

Der  Sinn  der  Worte  der  Koritto  ist  also  nach  meiner  Auf- 
fassung dieser:  Dass  gerade  die  Nossis,  diese  mir  widerwärtige  Person, 
meinen  schönen  „Tröster"  bekommen  hat,  ärgert  mich  sehr.  Der 
würde  ich  unter  tausend  nicht  einen  einzigen  geben,  auch  wenn  er 
aussätzig  wäre  und  ich  ihn  daher  aus  ästhetischen  und  hygienischen 
Gründen   nicht  selbst  gebrauchen  könnte. 

Dass  Xejioög  hier  einfach  „schmutzig",  „unappetitlich"  oder  ,,rauh" 
bedeutet,  halte  ich  für  ausgeschlossen.  Dann  wäre  irgend  ein  anderer 
Ausdruck,  der  das  besser  bezeichnet,  gewählt  worden.  Darin  hat 
Crusius  unbedingt  Recht,  dass  gerade  das  Wort  IsjiQfk  mit  Absicht 
gewählt  ist. 

Uebrigens  muss  ganz  ohne  Beziehung  auf  diese  Stelle  die  Mög- 
lichkeit, dass  bei  dem  hier  erwähnten  gemeinschaftlichen  Gebrauche 
der  öXioßoi  Krankheiten  übertragen  werden  konnten,  durchaus  in  Be- 
tracht gezogen  werden.  Z.  B.  konnte  bei  nicht  genügender  Reinigung 
sehr  leicht  eine  gonorrhoische  Infektion  stattfinden. 

Von  bildlichen  Belegen  für  den  Gebrauch  künstlicher  Phallen  seien  erwähnt: 
Eine  Schaale  des  Pamphaios  im  Britischen  Museum  (verzeichnet  bei  Klein, 
„Meistersign.",  S.  93,  14)  zeigt  eine  scheussliche  nackte  Hetäre,  die  zwei  derartige  Instru- 
mente zur  Hand  hat;  dieselbe  Darstellung,  trägt,  wie  es  scheint,  die  Schaale  des  Euphro- 
nios  bei  Klein,  ,,Lieblingsinschr.",  S.  57,  Nr.  7  und  bei  Hartwig,  ,, Griechische  Meister- 
schaalen",  Taf.  XLIV,  3.  Das  Motiv  der  letzteren  Figur,  einer  nackten  Hetäre  mit  einem 
Schenkelband  am  rechten  Beine,  ist  die  oxvzivrj  sJTixovQi'a,  deren  sich  die  Hetäre  bedient. 
Der  eiförmige  Gegenstand,  welchen  die  Hetäre  in  der  rechten  Hand  hält,  kommt  wiederholt 
auf  den  Vasen  dieser  Zeit  vor,  so  z.  B.  in  der  Hand  eines  Epheben  im  Innenbilde  der 
Schaale  des  Hieron  im  Louvre.  Es  ist  ein  Flacon,  aus  welchem  die  Hetäre  den  Phalios 
mit  Oel  beträufelt. 

Hartwig  erwähnt  ferner  eine  Schaale  bei  Aug.  Costellani  in  Rom  mit  Tribaden, 
die  künstliche  Phalloi  anwenden,  ferner  (S.  345)  eine  Schaale  mit  dem  Schlagworte  ejioirfosv, 
auf  der  ein   Mann   einen   solchen   in   die  Scheide  einer  Frau  einführt  (s.  oben   S.  543). 


—     597      — 

In  der  Vasensammlung  des  Berliner  Museums  befindet  sich  eine  Vase  (Nr.  2272) 
dem  mit  einer  sehr  interessanten  Darstellung,  die  anzudeuten  scheint,  dass  die  Weiber  sich  nach 
Gebrauche  eines  ohaßog  zu  waschen  pflegten.  Furtwängler*)  beschreibt  sie  folgender- 
maassen:  „Eine  nackte  Frau  ist  im  Begriffe,  die  Sandale  an  den  linken  Fuss  festzubinden;  sie 
beugt  sich  vor,  zieht  mit  beiden  Händen  die  roten  Bänder  an  und  hat  sich,  um  dem  Fusse 
näher  zu  sein,  etwas  ins  rechte  Knie  herabgelassen;  so  ist  der  Raum  trefflich  gefüllt.  Dass 
sie  sich  soeben  gewaschen,  deutet  ein  flaches  Becken  zu  ihren  Füssen  an.  Rechts  vor  ihr  er- 
kennt man  den  Umriss  eines  grossen  Phallos  im  freien  Räume,  ihr  zugekehrt." 

Mehrere  Terrakotten  in  Neapel  mit  solchen  Sujets  beschreiben  Gerhard  und  Pa- 
nofka"-):  Nr.  20.  Eine  sitzende  nackte  Frau,  einen  Phallus  umarmend,  der  schlauchartig 
vorn  über  ihr  liegt.     Desgleichen  Nr.  24  und  Nr.  18. 

Nr.  16.  Liegende,  kahlköpfige  Alte,  den  linken  Arm  auf  das  Kissen  ihres  Lagers 
gestützt  und  einen  vor  ihr  liegenden  Phallus  mit  Wehmut  betrachtend. 

Streng  genommen  muss  der  grössere  Teil  der  bisher  geschil- 
derten homosexuellen  Typen  des  klassischen  Altertums  nicht  der 
eigentlichen  originären  Homosexualität  zugerechnet,  sondern  muss 
unter  die  Rubrik  „Bisexualität"  eingeordnet  werden.  Die  Homo- 
sexualität als  Volkssitte  in  Hellas  und  Rom  hindert  nicht  die 
frühere  oder  spätere  heterosexuelle  Bethätigung.  Sehr  oft  gingen 
beide  gleichzeitig  nebeneinander  her.  Der  Knabe  wurde  neben  der 
Freundin  oder  der  Frau  im  Hause  gehalten.  Daraus  ergaben  sich 
häufige  Streitigkeiten,  Eifersuchtsscenen  u.  a.  m.  Solche  Konkurrenz 
zwischen  dem  homo-  und  dem  heterosexuellen  Verhältnis  eines  Mannes 
schildert  z.  B.  Martial  (IX,  2;  XI,  43;  XII,  86;  XII,  96;  XII,  97), 
lässt  aber  deutlich  durchblicken,  dass  bei  Wüstlingen  der  Geschmack 
wechselte  (XI,  87).  Wie  die  Männer  als  Weiber,  so  dienten  die 
Weiber  als  Männer  im  Geschlechtsv'erkehre.  Daraus  resultierte  eine 
allgemeine  körperliche  und  seelische  Labilität  der  Geschlechter  und 
eine  Indifferenz  des  Geschlechtsbegriffes,  die  zu  der  Conception  des 
„Hermaphroditos"  führte,  jener  mannweiblichen  Wesen,  die  im 
x\ltertum  eine  so  merkwürdige  Rolle  gespielt  haben. 

Man  darf  annehmen,  dass  die  hermaphroditische  Idee  ursprüng- 
lich aus  Beobachtungen  des  wirklichen  Lebens  hervorgegangen,  sei 
es  solchen  von  körperlicher  oder  seelischer  Hermaphrodisie,  und  erst 
später  unter  dem  Einflüsse  der  Ausbreitung  der  Homosexualität 
und  Bisexualität  in  erotisch-libidinösem  Sinne  umgestaltet  worden  ist. 
Für  beide  Arten    haben  neuerdings  Meige^^)  und  van  Römer^)    er- 

1)  Ad.  Furtwängler,  Beschreibung  der  Vasensammlung  im  Antiquarium  der  Kgl. 
Museen  zu  Berlin,  Bd.  I,  S.  547. 

2)  Neapels  antike  Bildwerke  I,   S.  466 — 467. 

3)  Henry  Meige,  L'infantihsme,  le  feminisme  et  les  hermaphrodites  antiques, 
Paris   1895. 

4)  L.  S.  A.  M.  V.  Römer,  Ueber  die  androgynische  Idee  des  Lebens.  In:  Jahrb. 
f.  sex.  Zwischenstufen,  herausg.  von  Magnus  Hirschfeld,  Leipzig  1903,  Bd.  V,  S.  707  —  940. 


-     598     - 

schöpfende  Belege  beigebracht.  Bezüglich  des  näheren  Studiums  der 
für  das  Verständnis  der  antiken  Psychopathia  sexualis  grundlegenden 
Frage  sei  auf  diese  Arbeiten  sowie  auf  das  monumentale  Werk  von 
Neugebauer^)  verwiesen.  Wir  wollen  nur  die  interessantesten  und 
für  die  weite  Verbreitung  der  „androgynischen  Idee"  im  Altertum 
bedeutsamsten  Punkte  hier  anführen,  wobei  wir  vielfach  den  Unter- 
suchungen V.  Römer's  folgen. 

Die  griechische  Mythologie  ist  reich  an  hermaphroditischeii  Wesen.  Zeus  selbst  war 
ein  solches  nach  den  orphischen  Versen : 

Zfi'c:  ägoip'  ysrsTO,  Zevg  äiißgorog  ejikeio  vi'/Kft]. 

Er  erzeugt  selbst  wieder  androgynische  Gottheiten,  wie  Athene,  wie  Agdistis  und 
Dionysos.  Agdistis  gebiert  als  Kybele  den  Attis,  der  entniannnt  und  vom  Tode  wieder 
erweckt  weibliche  Formen  annimmt.  Hermaphrodit  ist  auch  Adonis,  der  „ein  Mann  ge- 
wesen war  für  die  Aphrodite,  ein  Weib  aber  für  den  Apollon"  (Photius,  ed.  Bekker, 
Berlin  1824,  S.  151,  5  b).  Aus  dem  Kreise  der  Kybele  stammt  auch  die  Mise,  eine  un- 
züchtige mannweibliche  Gottheit,  deren  Verehrung  bei  tribadischen  Geheimkulten  (vgl.  oben 
S.  515)  eine  Rolle  spielte  (Orphica  XLII).  Ebenso  heisst  Dionysos  aQQSvo^Xvg 
(loannes  Lydus,  ed.  Bekker,  Bonn  1837,  lib.  IV,  95),  Euripides  nennt  ihn  dtjlv- 
fj.OQ(pog,  weibgestaltet,  die  orphische  Hymne  (XX,  2)  8i(pvfj,  mit  zwei  Geschlechtern. 
Später  symbolisierte  Hermaphroditos  die  androgynische  Idee,  Hermes  als  aktive,  männliche, 
Aphrodite  als  weibliche  Kraft.  In  unzähligen  Bildwerken,  von  denen  viele  noch  erhalten 
sind,  fand  diese  Vorstellung  sichtbaren  Ausdruck,  und  es  ist  kein  Zweifel,  dass  viele 
Hermaphroditendarstellungen  nach  Beobachtungen  im  wirklichen  Leben 
dargestellt  wurden,  besonders  solchen  von  Feminismus  beim  Manne,  wie  dies  Meige 
(a.  a.  O.)  nachgewiesen  hat.  Der  berühmte  Physiologe  Blumenbach  erwähnte  in 
Böttigers  ,,Amalthea"  (Leipzig  1822,  Bd.  II,  S.  XVII  ff.)  „Jünglinge  und  Männer  mit 
weiblicher  Brust",  deren  er  selbst  drei  gesehen  hat.  .,Es  lässt  sich  denken",  meint  er,  ,,wie 
solche  Hermaphroditen  zuweilen  in  prodigiis  und  hinwiederum  in  deliciis  habiti  sein 
konnten.  Namentlich  ist  dieser  Fall  der  männlichen  Brust  in  Aegypten  nicht  selten  (Prosper 
Alpinus)  und  an  plastischen  Kunstwerken  des  ägyptischen  Altertums  bemerkbar,  so  dass 
auch  Fea  einen  Pastophoros  für  eine  weibliche  Figur  ansah.  Auch  Hessen  sich'  wohl 
Männer,  die  sich  solcher  Weiblichkeit  schämten'),  durch  eine  chirurgische  Operation  davon 
befreien  (Paul.  Aegineta  VI,  46).  Und  von  dieser  gefälligen  Abweichung  des 
Bildungstriebes  könnten  doch  wohl  die  alten  Künstler  die  veredelten  For- 
men ihrer  Hermaphroditen  entlehnt  haben''.  Aehnliche  Ansichten  über  die  Ent- 
stehung der  Hermaphroditendarstellungen  hat  Raoul  Rochette  (Choix  de  peintures  de 
Pompei  etc.,  Paris  1846,  Livrais.  3,  p.  140,  Anm.  10).  Schon  Diodor  (IV,  6,  5)  deutete 
die  Sage  von  Hermaphroditos  in  diesem  realistischen  Sinne,  wie  ihn  auch  das  Epigramm 
CVII  des  Ausonius  wiedergiebt: 

In  puerum   formosum. 

Dum   dubital  natura,   marem   faceretne  puellam 

Factus   es,   o  j^ulcher,   paene   puella,   puer. 


1)  Franz   v.   Neugebauer,    Hermaphroditismus   beim   Menschen,    Leipzig    1908. 

2)  ö'yojiEQ  zaig  'ßrjlsiaig  ovtoj  y.ai  loTg  ugosoi  Jiegl  röv  rfjg  r'jßrjg  '/qÖvov  oi  fiaoioi 
(pvaöjVTai  xazä  jioaöv  ....  Trjg  yovv  ü:xQiiJiEiag  tyovot^g  ovtibog  to  xnzü  ri/r  (-h]/.VTi]Ta 
/[eiQoi'QyEir  a^iov.      Paulus   Aegineta,   ed.   Brian,  Paris    1855,   S.  212. 


—     59Q     — 

Wie  in  den  Hermaphroditen  trat  auch  die  androg}-nische  Idee  bei  den  religi(")sen 
Festen  in  die  Erscheinung  und  zeitigte  hier  ebensolche  sinnHch-obscöne  Ausschreitungen 
wie  in  gewissen  wollüstigen  Darstellungen  des  Hermaphroditos  (z.  B.  schlafender  H.  im 
Museo  Nazionale  zu  Rom,  Abbild.  63a  und  b  bei  v.  Römer).  So  ahmte  bei  den 
„Ariadneia",  den  Festen  zu  Ehren  der  Ariadne,  ein  Jüngling  das  Geschrei  und  Bewegungen 
einer  Frau  in  Kindesnöten  nach  (Plut. ,  Theseus,  c.  20).  Bei  den  dem  Dionysos  gewid- 
meten Anthesterien  kleideten  sich  die  Athener  „noch  weiblicher"  als  die  Frauen  des  Xerxes, 
die  Greise  wie  die  Jünglinge  und  Epheben  (Philostratos,  Apollonios  v.  Tyana  IV,  21). 
Bei  den  Herakleen  (Plut.,  Quaest.  graec.  58),  den  Thargelien  und  Oschophorien  trugen 
Männer  Weiberkleider.  Die  Hybristika,  ein  Fest  der  Aphrodite,  wurden  von  den  Weibern 
in  Männer-,  von  den  Männern  in  Weiberkleidung  begangen.  Eusebius  (de  laud.  Const., 
p.  516  C)  erzählt,  dass  auf  dem  Gipfel  des  Libanon  ein  Tempel  der  Aphrodite  war,  welchen 
er  eine  , .Schule  für  Liederlichkeit"  nennt,  ,,für  alle  obscönen  Männer,  die  ihren  Körper 
durch  Zuchtlosigkeit  beschmutzen,  geöffnet.  Einige  Effeminierte,  die  eher  Weiber  als 
Männer  genannt  werden  können,  da  sie  die  Würde  ihres  Geschlechtes  ablegten  und  litten, 
was   Weibern  zusteht,   verehrten  sie  wie  die  Gottheit". 

Welcker  vermutet,  dass  auch  die  geflügelten  androgvnen  Figuren  der  unteritalienischen 
Vasen,  welche  Miliin  u.  a.  Genius  der  Mysterien  zu  nennen  beliebt  haben,  als  Diener  des 
androgynen   Dionysos  und  des   Kinädismus  zu  betrachten  sind. 

Derselbe  Autor  erwähnt  die  Aphrodite  der  Knabenliebe  (sonst  auch  die  Sache  des 
Pan,  bei  den  Römern  des  Priapus.  kommt  aber  als  jloyvvri'>;,  Göttin  der  Weisslinge  (sum 
candidus  Pers.  4,  20j,  von  Kratinos  und  Aristophanes  an,  nicht  häufiger  bei  gewissen 
Dichtern  vor  als  der  d^ra^ög  xal  /.Evxug  .-ratg.  Dieselbe  ist  wohl  auch  die  Venus  Murcia 
(MvQy.ia)^).  In  diese  Klasse  gehört  auch  die  SxQaxsia  in  zwei  karischen  Inschriften 
(C.  J.   Gr.  Nr.    2693;   Venus   militaris  bei  Arnobius  IV,    7)-). 

Sehr  bekannt  und  von  den  Satirikern  oft  erwähnt  sind  die  weibischen  Priester  der 
Grossen  Mutter,  der  Kybele,  Korj'banten  (Juvenal.  V,  25)  oder  ,,gaHi"  genannt  (nach 
einem  Flusse  Gallus  in  Galatien,  Plin.  Nat.  hist.  V,  147),  die  sich  zu  Ehren  der  Göttin 
nach  dem  Vorbilde  des  phrygischen  Knaben  Attis  selbst  entmannten  (Ovid.,  Fast.  IV, 
223  —  244)  und  gelegentlich  auch  andere  kastrierten  (Martial.  III,  91),  die  wegen  ihrer 
meist  in  der  wollüstigen  Ekstase  (Martial.  V,  41)  begangenen  sexuellen  Perversitäten  be- 
rüchtigt und  gefürchtet  (Martial.  Vll,  95)  waren  und  ein  grosses  Kontingent  zum  Ki- 
nädentum  in  Rom  stellten,  wo  der  Kybelekult  zu  Ende  des  3.  vorchristlichen  Jahrhunderts 
eingeführt  worden   war  (Liv.   XXIX,    lo). 

In  enger  Beziehung  zum  Dienste  der  Grossen  Mutter  stand  der  Kult  der  ,,Dea  Syria" 
zu  Hierapolis,  den  Lukianos  in  seiner  Schrift  TIsqI  1)]?  2vgit]g  dsov  geschildert  hat.  Im 
Kapitel   50  —  51    wird  über  die  Gallen   folgendes  gesagt: 

,,An  bestimmten  Tagen  versammelt  sich  das  Volk  in  grosser  Menge  bei  dem  Tempel. 
Hier  verrichten  viele  Gallen  und  die  oben  erwähnten  heiligen  Leute  den  mysti.schen  Dienst, 
wobei  sie  sich  in  die  Arme  schneiden  und  mit  den  Rücken  gegen  einander  stossen.  Eine 
Anzahl  derselben  steht  dabei  und  bläst  auf  Flöten;  andere  schlagen  die  Handpauken;  wieder 
andere  singen  begeisterte,  heilige  Lieder.  Alles  Dieses  aber  geht  ausserhalb  des  Tempels 
vor:  denn  so  lange  sie  Solches  verrichten,  betreten  sie  den  Tempel  nicht.  —  An  diesen 
Tagen  entstehen  auch  Gallen.     Denn    während   die  Anderen    unter  Flöten  tönen    den    heiligen 


1)  Livius.    I,   33.      Orelli    ad    Arnob.   4,    16,   T.    2,    p.    199    fio/.xog    [fwÄxöc    wie 
fioh/6g  und  /iivkyög)  eins  mit  i.ia/M>i6g. 

2)  F.  Creuzer   (Zur  Archäologie,    Leipzig   1846,  S.   297)    nennt    „Venus  almus"  als 
androgyniscbe  Göttin   der  Römer. 


—     6oo     — 

Dienst  begehen,  wandelt  die  Raserei  auch  Viele  der  Umstehenden  an,  und  Manche,  die  nur 
um  zuzusehen  gekommen  waren,  verübten  an  sich,  was  ich  jetzt  beschreiben  will.  Der 
Jüngling,  den  dieser  Zustand  befällt,  reisst  sich  die  Kleider  vom  Leibe,  rennt  unter  lautem 
Schreien  mitten  in  den  Kreis  der  Priester  hinein,  ergreift  dort  eines  der  Schwerter,  die  seit 
vielen  Jahren,  wie  es  scheint,  hierzu  in  Bereitschaft  stehen,  verschneidet  sich  damit,  und 
läuft  durch  die  Stadt,  indem  er  in  den  Händen  hält,  was  er  sich  abgeschnitten.  Und  in 
welches  Haus  er  es  hineinwirft,  aus  demselben  erhält  er  weibliche  Kleidung  und  weiblichen 
Putz.      Also  verfahren  sie  bei  der  Verschneidung"  M. 

Neben  den  eigentlichen  Homosexuellen,  den  Kinäden  und  Lust- 
knaben spielten  diese  ..semiviri"  (Varro,  Sat.  Menipp.  132)  eine  grosse 
Rolle  in  der  Korruption  des  kaiserlichen  Rom.  Sie  wurden  nicht 
bloss  durch  die  Priester  der  Kybele  repräsentiert,  sondern  rekrutierten 
sich  besonders  zahlreich  aus  profanen  Kreisen  seit  der  Einführung 
des  orientalischen  Eunuchen  wesens  in  Rom.  Diese  Verschnittenen 
wurden  hauptsächlich  aus  Aegypten  importiert  -)  und  waren  so  zahl- 
reich in  Rom ,  dass  vornehme  Haushaltungen  deren  eine  Menge 
zählten  (Alartial.  X,  91)  und  im  Gefolge  ihrer  Herrschaft  einher- 
zogen, ein  widriger  Anblick,  wie  ihn  besonders  anschaulich  Ammi- 
anus  Marcellinus  schildert  (XIV,  6):  „Zuletzt  kommt  eine  Menge 
Verschnittener,  vom  Knaben-  bis  zum  Greisenalter  hinauf,  von  siech- 
haftem  Aussehen,  mit  schrecklich  verzerrten  Gesichtszügen.  Wohin 
auch  Einer  gehen  mag,  da  wird  er  Haufen  solcher  v^erstümmelten 
Menschen  sehen,  und  das  Andenken  jener  Königin  der  Vorwelt, 
Semiramis,  verfluchen,  die  zu  allererst  zarte  Knaben  entmannte,  der 
Natur  Gewalt  anthat  und  sie  in  ihrem  Laufe  hemmte". 

Der  heterosexuelle  Geschlechtsverkehr  mit  Kastraten  war  sehr 
beliebt  als  antikonzeptionelles  Mittel  bei  kinderscheuen  Frauen 
(Mart.  VI,  67)  oder  diente  perversen  Zwecken  (Mart.  III,  81).  Ein- 
gehendere Mitteilungen  darüber  macht  Juvenal  (VI,  366 — 378J. 
Darnach  nahm  man  mit  Vorliebe  die  Kastration  erst  beim  Beginne 
der  Mannbarkeit  vor,  weil  dadurch  die  Entwickeiung  des  Membrum 
virile  nicht  gehemmt,  sondern  angeblich  gefördert  würde  und  ein 
solcher  Verschnittener  ,,nec  dubie  custodem  vitis  et  horti  provocat" 
(VI,  375),  nämlich  in  Bezug  auf  die  Grösse  seines  Gliedes,  das  ihn 
nicht  bloss  Frauen,  sondern  auch  Knaben  g^efährlich  macht  (VI, 
377—378)- 


i)  Lucian's  Werke,  übersetzt  von  August  Pauly,  Stuttgart  1832,  S.  1748 — 1749. 
Vgl.  auch  Catull.,  c.  63  und  Lucret.  H,  610  ff.;  Varro,  Sat.   Menipp.    132. 

2)  Vgl.  H.  Haeser,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Medizin,  Jena  1875,  Bd.  I, 
S-  57;  J-  Preuss,  Die  männlichen  Genitalien  und  ihre  Krankheiten  nach  Bibel  und  Tal- 
mud (Wiener  medizin.  Wochenschr.  1898,  Nr.  12  ff.).  —  Vgl.  über  antike  Eunuchen 
Jules   Rouyer,   Etudes   medicales  sur   l'ancienne  Rome,   Paris    1859,   S.   81  —97. 


ÖOI       — 

Häufig  allerdings  wurde  die  Entmannung  schon  früher  und  zum 
Zwecke  der  Züchtung  effeminierter  Kinäden  vorgenommen,  um  mög- 
lichst geeignete  Objekte  für  die  Libido  homosexueller  Individuen  zu 
bekommen. 

„Bei  einigen  der  Art",  sagt  Lukianos  (Amor.,  c.  21),  ,,ging  die  Kühnheit  ihrer 
despotischen  Lebensart  so  weit,  dass  sie  mit  dem  Messer  die  (männliche)  Natur  raubten. 
Sie  fanden  erst  das  Ziel  ihrer  Genusssucht,  nachdem  sie  das  Männliche  den  Männern  ent- 
rissen hatten.  Aber  die  Armen  und  Unglücklichen,  damit  sie  noch  länger  Knaben  sind, 
bleiben  nicht  weiter  Männer,  ein  zweideutiger  Ausdruck  einer  Doppelnatur,  bewahren  sie 
weder  wozu  sie  geboren,  noch  wissen  sie,  wozu  sie  zu  rechnen  sind.  Die  in  der  Jugend 
aufbewahrte  Kraft  lässt  sie  frühzeitig  im  Alter  entkräftet  werden,  denn  während  man  sie 
noch  zu  den  Knaben  rechnet,  werden  sie  schon  Greise,  und  sie  haben  keine  Zwischenstufe 
des  Mannesalters.  So  sank  die  schändliche  und  jedes  Schlechte  lehrende  Wollust,  ein  nie- 
driges Vergnügen  aus  dem  andern  schöpfend,  bis  zu  jenem  nicht  mit  Anstand  zu  nennenden 
Laster  [piexQi  rf)?  orjdrp-ai  Svraairt];  fr.Tpg.TWC  röoov),  so  dass  keine  Art  der  Unzucht 
ihr  mehr  unbekannt  war." 

Für  unser  „Laster"  hat  Lukianos  in  diesem  Falle  das  Wort 
vöoog,  Krankheit,  gewählt,  und  es  ist  lehrreich,  an  dieser  Stelle  bei 
der  Auffassung  der  Alten  über  die  sexuellen  Perversionen  etwas  zu 
verweilen.  Wir  haben  schon  in  der  Einleitung  ausgeführt  (s.  oben 
S.  511 — 412),  dass  die  Alten  schon  eine  übermässige  Liebe,  wenn 
sie  auch  heterosexuell  war,  als  etwas  Pathologisches,  als  eine 
Krankheit  ansahen,  wofür  die  Worte  morbus,  vooog,  vöorj/ua  gewählt 
wurden.  Derselbe  terminus  technicus  nun  wird  auch  für  die  Excesse 
und  die  extremen  Formen  der  homosexuellen  Leidenschaft  ge- 
braucht. Nicht  die  gewöhnliche,  in  massigen  Grenzen  sich  haltende 
und  nur,  so  weit  es  der  allgemeinen  Sitte  entsprach,  ausgeübte 
Knabenliebe  hiess  so,  sondern  erst  die  gänzliche  Umkehrung  des 
Sexualcharakters,  also  die  volle  Verweiblichung,  Effemination  des 
Mannes  im  Korybanten-  und  Kinädentum,  die  anatomische  und  phy- 
siologische Nachahmung  des  Weibes  beim  Manne  wurde  mit  der 
Bezeichnung  morbus,  vooog  belegt  und  vielfach  als  Folge  einer  Rache 
der  Venus  angesehen,  die  übrigens  auch  noch  andere  Leiden  ver- 
hängen konnte.  Rosenbaum  hat  dieser  Thatsache  ein  sehr  weit- 
läufiges Kapitel  seines  Buches  gewidmet  ^),  unter  dem  Titel  Novoog 
&rjXEia,  über  welche  von  Herodot  (I,  105)  geschilderte  Krankheit 
der  Skythen  vor  ihm,  neben  älteren  Autoren,  hauptsächlich  Stark ■^) 
und    Friedreich 3)     besondere    Abhandlungen     veröffentlicht     haben. 


1)  Rosenbaum  a.  a.  O.,  S.    145 — 227. 

2)  C.   W.   Stark,   De  vovoco  t'frj/.siq  apud  Herodotum   Prolusio,  Jena    1827. 

3)  J.  B.  Friedreich,  Novaog  -d-ijhia.     Ein  historisches  Fragment.     In:    Analekten 
zur  Natur-  und  Heilkunde,   Würzburg    183 1,   S.   28  —  33. 


—     6o2     — 

An  dieser  Stelle  handelt  es  sich  nur  darum,  die  Auffassung  der  Alten 
hinsichtlich  der  krankhaften  Natur  des  „Lasters"  der  Päderastie 
näher  zu  beleuchten.  Denn  heute  braucht  die  Ansicht,  dass  es  sich 
bei  der  drileia  vovoog  um  Tripper  oder  gar  Syphilis  gehandelt  habe, 
nicht  ernsthaft  widerlegt  zu  werden.  Wohl  aber  ist  es  von  Interesse, 
die  weite  Ausdehnung  des  Begriffes  morbus,  vooog  kennen  zu  ler- 
nen, da  dieser  uns  noch  öfter  begegnen  wird,  auch  in  Beziehung  zur 
supponierten  „Altertumssyphilis". 

Herodot  (I,  105)  lässt  die  ,, weibliche  Krankheit",  ■drp.siav  vovaov,  über  die  Skythen 
hereinbrechen,  die  den  Tempel  der  uranischen  Aphrodite  in  Askalon  geplündert  hatten,  und 
nicht  bloss  sie,  sondern  auch  ihre  Nachkommen  werden  für  immer  damit  behaftet.  Dies, 
sagt  Herodot,  sei  die  Erklärung  der  Skythen  und  man  könne  noch  heute  bei  ihnen  diese 
eigentümliche  Kategorie  von  Individuen,  die  die  Skythen  selbst  si'agsag  nennen,    sehen. 

Es  handelte  sich  also  um  eine  Gruppe  von  Männern  mit  weiblichem  Habitus. 
Die  ßj'jXeia  vovoog  wird  von  dem  Scholiasten  zum  Thukydides  mit  der  fiaXaxia  identifi- 
ziert: xai  4>iloxTi]Tt]g  öia  zcn'  IJdgtdog  &ävaror  i}fj?.siav  vöoov  voorjoag,  xal  fiij  (peQOiv 
xr]V  aiO)[VVi]v,  ojieX'd'üiv  sx  Trjg  Tiargidog,  k'xicos  Jiohr,  ijv  dia  t6  jrd'&og  Makaxiav 
exclXeos.  Thucyd.,  Lib.  I,  c.  12,  ed.  Bauer,  Leipzig  1790,  p.  33  (zit.  nach  Rosen- 
baum  a.   a.   O.,  S.    151). 

Genauere  Mitteilungen,  als  sie  die  aphoristische  Andeutung  des  Herodot  über 
die  Effemination  der  Skythen  darbietet,  finden  wir  in  der  hippokratischen  .Schrift  jieqI 
äegcov  ydäzcov  tojicov  (c.  22  der  Ausgabe  von  Kühle  wein,  Hippocratis  Opera,  Vol.  I, 
p.  64 — 66,  Leipzig  1895).  Sie  sind,  wie  alle  Aeusserungen  des  Verfassers  dieser  berühmten 
Schrift,  höchst  bemerkenswert  durch  die  nüchterne  naturwissenschaftliche  Auf- 
fassung des  Wesens  der  Krankheiten,  deren  natürliche  Ursachen  überall  hervorgehoben 
werden,  wie  das  auch  in  der  Schrift  jteqI  igfjg  vovoov  geschieht,  die  wahrscheinlich  von 
demselben   Verfasser  herrührt. 

Nachdem  der  Verfasser  von  de  aere,  aquis  et  locis  in  den  Kapiteln  19 — 21  in  sehr 
anschaulicher  Weise  die  geringe  sexuelle  Differenzierung  der  Skythen  aus  der  Natur 
des  Landes  und  der  Lebensweise  abgeleitet  hat,  wobei  er  die  häufige  Impotenz  der  Männer 
auf  das  fortwährende  Schütteln  auf  dem  Pferde  bemi  Reiten,  diejenige  der  Frauen  auf  ihre 
Korpulenz  zurückgeführt  hat,  während  letztere  bei  gehöriger  Körperbewegung  und  konse- 
kutiver Abmagerung  sehr  leicht  concipierten,  wie  das  Beispiel  der  nach  Griechenland  ver- 
schlagenen skythischen  Sklavinnen  beweise,  fährt  er  in  Kapitel   22  folgendermaßen  fort: 

"Eri  TE  jiQog  xovToioiv  Evrov^iai  yivorrni  01  tiXeTozoi  er  ^xvßrjoi  xal  yvvaixeZa 
EQydCovrai  xai  c5?  at  yvvalxFg  [ßiaiiEvriai]  öialt-yorTat  te  öfjioicog'  xaXevv- 
xal  TE  Ol  roiovzoi  'AvögisTg.  ot  fiev  ovv  ejzixcoqioi  Ttjv  ahirjv  jiQoaxidEaoi  ■&e(Jü  xal 
OEßoriai  rovrovg  jovg  dv&QOJMovg  xal  jiqooxvveovoi^),  ÖEÖoixöxEg  ueqi  ecovtwv  Exaazoi. 
£/wl  Ö'e  xal  avzcü  doxsT  zavra  zd  irdOea  &ETa  slvai  xal  zäkXa  Jidvza  xal  ovSsv  ezeqov 
EZEQOV  ■&£i6z£Qov  ovÖe  dv&QCOJin'OJZEQor,    uVm    Jidvza    ofioTa   xal  ndvza   ÜEia  '^}.      Exaazov  de 

1)  Diese  Heiligung  der  Päderasten  und  effeminierten  Homosexuellen  begegnet  uns 
schon  in  der  Bibel,  wo  sie  ebenfalls  quadesch  =  Heiliger  genannt  werden.  Vgl.  die  Einzel- 
heiten bei  J.  Preuss,  Prostitution  und  sexuelle  -Perversitäten  nach  Bibel  und  Talmud  in: 
Unna's  Monatshefte  f.  prakt.  Dermatologie   1906,  Bd.  XLIH,  Nr.  9,  S.  471 — 472. 

2)  Vgl.  fast  genau  den  gleichen  Gedanken  in  ganz  ähnlichen  Worten  in  den  ersten 
Sätzen   von  :ieqI  iQijg  vovoov,  ed.   Dietz,   Leipzig    1827.   p.    2  ff. 


—      6o3      — 

avzwv  f'xEi  qwaiv  tijv  scovzov  xal  ovdh'  ärsv  (fvoiog  yivEiai.  xal  tovto  lo  jiäd^o?  &g  /lioi 
doxsT  yh'SO'&ai  (fgäoco.  vno  ztjg  ijijiaoirjg  avToix;  xsöfcara  Xa/ußdvsi,  ärs  aiei 
XQS/na/iisvcor'  djtd  xmv  ijijtcov  roig  Jiooiv  ensixa  djioxoiXovvrat  xal  sXxovrai  rot  loxioi.,  o'i 
av  acpödga  voa^acoon'.  iöJvxai  8s  acpäg  avrovg  tqÖjko  tokoSe.  Sxozav  ya.Q  aQxrjzai  r] 
rovoog,  ojita&sv  zov  wzog  exazsQOV  q^Xsßa  zdfivovoiv.  oxözav  Sk  djioQfjvfj  z6  alfia,  vjivog 
vJioXai^ißdvEi  vjzo  do&svEtt]g  xal  xa^evSovoiv.  EJtsiza  dvsysiQOVzai,  ol  {.iev  zivsg  vyisEg 
iovzeg,  ol  8'  ov.  i/nol  f^iEV  oi'v  8oxsT  ev  zavzt]  zf]  u'joei  8iaq?&eiQEO&ai  6  yovog.  stal  ydg 
Tzagd  zd  cbza  (pXsßEg,  äg  idv  zig  ijiizdfiy,  äyovoi  yivovzai  oc  ijiiz/Li)p9^£rzEg^).  zavzag  zoi- 
^'vv  fioi  80XEOV01  zag  (pkißag  e7iizd[A,vEiv.  ol  8k  fiEzd  zavza  ijiEiSdv  d<pixcovzai  Jiagd  yv- 
vuTxag  xal  fitj  oioi  z'stooi  XQV^^'^^  ocpiaiv  [aizaTg^,  z6  tiqmzov  ovx  iv&vfiEvvzai ,  dX?J 
ijovxltp'  s'xovai.  oxözav  8e  8lg  xal  zglg  xal  Jiksovdxig  avzoToi  Jisigtofisvoioi  [xi]8h>  dXXoi- 
ÖZEQOV  djioßalvi] ,  vofiioavzEg  zc  i][iaQzi]X£vai  zco  "ßscö,  ov  sjiaizioivzai,  ir8vovzai  ozoXip' 
yvvaiXEÜp'  xazayvövzEg  hovzöjv  drar8Q£iijv.  yvvaixi^oi'oi  zf  xal  igydCovzai  ftszd  z&r  yv- 
vaixwv  d  xal  ixsTvai.   — 

Tovzo  Se  Jidaxovoi  2xv&ecov  ol  nXovoioi,  ovx  ^*  xdxiozot,  dXX'  ol  svyevtazazoi  xal 
laxvv  TTlsiazrjv  xExzr]^iEroi,  8id  zrjv  iTinaaifjv ,  ol  8k  nEvtjzeg  vjoaov  ov  ydg  Injid- 
Covzai.  xaizoi  Exgi/v,  ei  dEtozEQov  zovzo  z6  v6aEVf.ia  zöjv  Xoijiöjv  iaziv,  ov  zoTg  yevvaio- 
zdzoig  ztüv  Sxvdewv  xal  zoTg  jiXovoiwzdzoig  jzgoojiijizEiv  /tiovvoig,  dXXd  zoTg  änaoiv  6/iioicog, 
xai  fxäXXov  zoiaiv    dXiya  xexzij/lievoioiv,  ei  8i]  zi/liw/hsvoi  xo^QOvaiv  ol  ■d'eol  xal  ■dav^aCdfiEvoi 

vTi'  dv&gcojioiv  xal  dt'zl  zovzwv  x^-Qi'^^ag  djzo8i86aoiv xal  f]  zoiavzr]  vovaog  and 

zoiavzijg  :igoqmaiog  zoTg  2xvß)jai  yirszai  oi'ijv  Ei'gijxa.  f'xec  8k  xal  xazd  zovg  Xoijzovg 
dvd gcüjzovg  ofxoUog.  oxov  ydg  Ijiiidi^ovzai  /tidXioza  xal  jzvxvözaza ,  exeT 
ttXeTozoi  vjto  XE8fidz(i}v  xal  iaxtd8ojv  xal  jio8aygiu>v  dXiaxovzai  xal  Xay- 
VEVsiv  xdxiozoi  sioi.  zavza  8e  zoiai  [rs]  2xvd't]ai  ngoosozi ,  xal  svvovxoei- 
8EOzazoi  Eiaiv  dv&gwnoiv  8id  zavzag  [re]  zag  jzgo<pdoiag  xal  ozi  dva^vgi8ag 
k'xovoiv  alel  xal  sloiv  knl  zcöv  i'niiwv  z6  jiXeiozov  zov  ;fßOJ'ot;,  üjoze  /it/jze 
XEigi  äjizEo&ai  zov  atSoiov  vjiö  zs  zov  yvxEog  xal  zov  xojiov  ijiiX^&so&ai 
zov  l/LiEgov  xal  zf/g  /iCEi^iog  xal  fitj8kv  nagaxivEiv  Jigdzsgov  i)  dvav8go)&iivai. 

Aus  diesem  höchst  merkwürdigen  und  zum  Teil  auf  genaue  Beobachtung  gegründeten 
Berichte  geht  also  hervor,  dass  es  sich  um  ein  erworbenes  Leiden  handelt  und  zwar  er- 
kranken an  demselben  nur  diejenigen  Individuen,  die  andauernd  reiten.  Und  dann  ist 
dieses  Leiden  durchaus  nicht  etwas  den  Skythen  Eigentümliches,  sondern  der 
Verfasser  von  jisgl  dsgwv  v8dzoiv  zojzcov  erklärt  im  Schlusspassus  ausdrücklich,  dass 
auch  bei  allen  anderen  Menschen  das  andauernde  und  anhaltende  Reiten  jene  sexuelle 
Apathie  und  Impotenz  hervorrufen  könne,  die  als  das  Vorstadium  der  allerdings  den 
Skythen  und  einigen  anderen  Völkern  allein  eigentümlichen  Novoog  &tjXsia  zu  betrachten  ist. 

Nach  wiederholter  Lektüre  der  zunächst  etwas  rätselhaft  klingenden  Schilderung  habe 
ich  mich  überzeugt,  dass  bei  strenger  Trennung  des  Primären,  d.  h.  der  Impotenz,  von 
dem  Sekundären,  d.  h.  der  Effemination,  die  ganze  Stelle  auch  in  klinischer  Beziehung 
und  für  unsere  moderne  naturwissenschaftliche  Auffassung  sehr  einfach  und  einleuchtend 
erklärt  werden  kann,  was  bisher  allen  früheren  Autoren  entgangen  ist. 

Also  die  Vorbedingung  und  wesentliche  Ursache  der  vovoog  ■&^Xsia  (Hero- 
dot)  oder  dvavSgEirj  (Verfasser  von  de  aere,  aquis  et  locis)  der  Skythen  ist  die  durch  an- 
dauerndes Reiten  hervorgerufene  Impotenz,  wie  sie  auch  bei  allen  anderen  Völkern 
vorkommt,  aber  nur  bei  wenigen  zur  Effemination  führt. 


i)  Vgl.  hierzu  Oeuvres  d'Hippocrate,  ed.  Littr6,  Bd.  VII,  S.  472    und   über   diese 
hippokratische  Theorie  der  Impotenz  Sprengel-Rosenbaum,  Geschichte  der  Arzneikundfe, 
4.  Aufl.,  Leipzig   1846,  Bd.  I,  S.  362,  Anm.  35   [mit  Angabe  der  Parallelstellen]. 
Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  39 


—      6o4      — 

Zunächst  beschreibt  nun  der  Verfasser  der  genannten  hippokratischen  Schrift  in  sehr 
klarer  und  anschaulicher  Weise  die  Entstehung  dieser  Impotenz  als  eine  Folge  von 
allerlei  krankhaften  Zufällen  beim  häufigen  und  andauerndem  Reiten.  Und  zwar 
sind  dies   Zufälle  verschiedener  Art. 

An  erster  Stelle  nennt  er  xEÖi-iata.  Hienmter  verstehe  ich  nicht  wie  Rosen- 
baum (a.  a.  O.  S.  216),  die  bereits  ausgebildete  „Varicocele",  den  Krampfaderbruch  des 
Hodens,  sondern  die  die  Bildung  der  Varicocele  begleitenden  ziehenden  Schmerzen  in 
der  Leistengegend').  Dass  es  sich  um  solche  handelt,  beweist  ihre  Beziehung  zu  dem 
Herabhängen  der  Füsse,  wodurch  eine  diese  ausstrahlenden  Schmerzen  veranlassende  Zerrung 
des  Samenstranges  hervorgerufen  wird.  Wenn  diese  Schmerzen  stärker  werden  {01  av 
ocpöÖQO.  rooyacooiv)  —  es  kommen  bei  Varicocele  oft  heftigste  Neuralgien  vor  — ,  so  fällt 
den  Betreffenden  das  Gehen  schwer,  sie  lahmen  und  ihre  Hüftgegend  zieht  sich  vor  Schmerz 
krampfhaft  zusammen  -). 

Wenn  nun  dieser  Zustand  eingetreten  ist,  nimmt  der  Trieb  zum  Geschlechtsverkehr 
ab,  die  Betreffenden  werden  unlustig  zum  Beischlaf  (kayveveiv  xdxiaroi  etat).  Das  ist 
durchaus  glaublich  und  wird  durch  die  modernen  wissenschaftlichen  Beob- 
achtungen bestätigt.  So  sagt  Theodor  Kocher  (a.  a.  O.  S.  204 — 205):  ,, Einzelne 
Patienten  leiden  an  häufigen  Pollutionen,  andere  klagen  über  Druck  im  Hoden  und  Ab- 
nahme des  Geschlechtstriebes.  Und  dass  alle  diese  Beschwerden  wirklich  von  der 
Varicocele  abhängen,  zeigt  das  auch  von  uns  mehrfach  konstatierte  Verschwinden  derselben 
nach  glücklicher  Operation.  Die  Abnahme  des  Geschlechtstriebes  mag  zum  Teil 
als  eine  Art  von  Schmerzlähmung  aufzufassen  sein,  wie  mir  einer  der  Pa- 
tienten klagte,  er  könne  überhaupt  keine  kräftige  Anstrengung  mehr  aus- 
führen, weil  er  sofort  Schmerzen  in  der  Seite  bekomme.  Mit  der  Hebung 
der  Schmerzen   tritt  auch   Besserunji  der  Geschlech  Isf unktionen  ein." 


i)  Das  geht  deutlich  aus  den  Definitionen  des  Erotianus  (Eroiiani  vocum  Hippo- 
X  craticarum  conlectio  rec.  Josephus  Klein,  Leipzig  1865,  .S.  15,  11  und  S.  83,  6): 
Ksd/^ia.  rj  y^Qovia  tisqI  zä  äg&ga  vooojdt]g  öiädeaig.  rivsg  de  (paoh'  y.al  zijv  tisqI 
za  yevvtjriau  /woia,  und  des  Galenos  (raktjvov  zibv  'IjiJio?<Q<izovg  yXdioaoiv  E^rjyrjoig, 
ed.  Kühn,  XIX,  S.  iii):  Ksä/naza:  zag  sx  Qsv/uazog  ^Qoviovg  8ia&eaeig ,  ijzoi  tieqI 
zu  aQßga  ov/Ujiavza  Pj  i^aigizcog  negl  za  xaz'  loxiov,  hervor.  Also  eine  schmerz- 
hafte, in  der  Gegend  der  Hüfte  lokalisierte  Affektion  infolge  des  Reitens. 
Es  ist  aber  eine  allbekannte  Erscheinung,  dass  der  der  Bildung  der  nicht  selten  durch 
Zerrung  und  Quetschung  des  Samenstranges  beim  Reiten  oder  Herabspringen  vom  Pferde 
entstehenden  Varicocele  vorausgehende  charakteristische  Leistenschmerz  nach  der  Lenden- 
gegend, der  Hüfte  und  bis  in  die  Kniegegend  ausstrahlt  (vgl.  Theodor  Kocher, 
Die  Krankheiten  der  männlichen  Geschlechtsorgane,  Stuttgart  1887,  S.  204)  und  oft  den 
Charakter  einer  ,, rheumatischen"  oder  neuralgischen  Affektion  annimmt,  so  dass  die  obigen 
Definitionen  durchaus  zutreffend  sind  und  wir  auch  die  Ausdrücke  „Ischias"  und  ,, Podagra" 
verstehen. 

2)  Die  von  Kühlewein  acceptierte  Emendation  klxovvzai  von  Mercurialis  und 
Ermerins  giebt  hier  gar  keinen  Sinn,  die  alte  Lesart  skxovzai  ist  die  richtige.  Das  beweist 
auch  der  Schluss  des  Kapitels,  wo  noch  einmal  die  Symptome  wiederholt  werden  und  dabei 
ebenfalls  nicht  von  „Geschwüren"  die  Rede  ist,  sondern  nur  von  den  verschiedenen  Arten 
des  Schmerzes  {vjio  xsöfidrcov  xai  laxidScov  xal  TiodayQiöjv).  Schon  Grimm-Lilienhain 
(Hippokrates  Werke,  Glogau  1837,  Bd.  I,  S.  210)  haben  richtig  übersetzt:  ,,die  Hüften 
ziehen  sich  zusaromen"  (seil,  schmerzhaft). 


—     6o5     — 

Dass  auch  dem  Verfasser  von  de  aere,  aquis  et  locis  dieser  Zusammenhang  klar  war, 
beweist  schlagend  der  Satz:  öxov  yuQ  mjrdCor'zac  f^idlioja  xal  jtvxvÖTaTa,  sy.eT  nXsTazoi 
vjto  xsdfidicoi'  y.ai  toyiüdcov  yai  jTOÖayQiöJv  ä?doxoviai  xal  /Myvevsiv  xäxiazoi  etat.  Hier 
wird  also  die  Venäsektion  der  Venen  hinter  den  Ohren  gar  nicht  in  Anspruch  genommen, 
um  die  konsekutive  Impotenz  zu  erklären,  sondern  diese  ist  lediglich  eine  Folge  der 
Schmerzen  und  der  diese  bedingenden   V^eränderungen  an  Hoden   und  Samenstrang. 

Wie  erklärt  sich  nun  die  seltsame  Theorie  von  dem  Auftreten  der  Impotenz  infolge 
der  Oeffnung  der  Venen  hinter  dem  Ohre?  Hier  hat  der  sonst  so  scharf  beobachtende 
Verfasser  von  de  aere  etc.  ganz  offenbar  einer  ähnlichen  Anschauung  gebuldigt  wie  der 
Verfasser  von  tisqi  yoi'ijg,  wo  es  in  Kap  i  heisst:  ,,Es  ziehen  sich  vom  gesamten  Körper 
aus  Adern  und  Nerven  nach  den  Genitalien  hin,  durch  deren  Reibung,  Erwärmung  imd 
Anfüllung  eine  Art  wollüstiger  Kitzel  über  den  Menschen  kommt  und  Wohlbehagen  und 
Wärme  aus  jener  Gegend  nach  dem  ganzen  Körper  strömt  ...  Es  führen  aus  dem  ge- 
samten Körper  Gänge  dorthin,  es  ziehen  sich  solche  von  dem  Gehirne  aus  nach 
der  Hüftgegend,  nach  dem  ganzen  Körper  und  so  auch  nach  dem  Rücken- 
marke, und  auch  von  diesem  gehen  Gänge  aus,  so  dass  das  feuchte  Ziifluss  wie  Abfluss 
nach  und  aus  demselben  hat.  Wenn  aber  der  Samen  nach  dem  Rückenmarke 
gelangt  ist,  geht  er  zu  den  Nieren;  der  Weg  dorthin  führt  durch  die  Adern  .  .  . 
Von  den  Nieren  aber  gelangt  der  Samen  mitten  durch  die  Testes  zu  den  Ge- 
nitalien, und  zwar  geht  er  nicht  den  Weg  des  Urins,  sondern  er  hat  dicht  daneben  einen 
anderen  Weg"  und  in  Kap.  2:  „Diejenigen  aber,  welche  am  Ohre  zur  Ader  ge- 
lassen sind,  können  zwar  den  Coitus  ausüben  und  ejakulieren  auch,  aber 
nur  wenig  und  obendrein  schwachen  und  unfruchtbaren  Samen.  Geht  doch 
das  Meiste  vom  Kopfe  aus  an  den  Ohren  vorüber  nach  dem  Rückenmarke; 
dieser  Gang  aber  hat  sich,  wenn  die  Schnittwunde  vernarbt  ist,   verhärtet"*). 

Wenn  nun  der  Verfasser  von  jisqI  ueqoov  diese  Theorie')  auf  die  Impotenz  der 
Skythen  anwendet,  weil  er  bei  ihnen  eine  zu  therapeutischen  Zwecken  vorgenommene  Venä- 
sektion hinter  den  Ohren  gesehen  hat,  so  muss  bei  der  Konstruktion  des  Zusammenhanges 
der  Nachdruck  auf  die  Worte  e.fioi  fikr  oi'v  SoxsT  sv  ravz}]  ztj  itjoei  öia(p{^£iQso- 
dai  6  yörog  und  zai'zag  zoirvv  fioi  doxfovai  zag  (p)Jßag  sjzizdf,i7'€ir  gelegt  werden.  Es 
ist  also  keineswegs  sicher,  dass  die  Skythen  gerade  die  Venen,  die  nach  der  Theorie  des  helle- 
nischen Arztes  mit  der  Potenz  in  Verbindung  stehen,  für  den  Aderlass  benutzt  haben.  Aller- 
dings spricht  für  letzteres  der  Umstand,  dass  in  anderen  Schriften  des  hippokratischen  Corpus 
die  Venaesectio  an  dieser  ominösen  Stelle  ausdrücklich  gegen  xsdfiaza  (Epidem.  VI, 
ed.  Kühn,  II,  609:  KsSfidzcor  zag  f.v  zoTaiv  loaiv  ojiio&sv  qcJJßag  oydi^siv)  empfohlen  wird. 
Dann  würde  sich  die  Anschauung  der  Verfasser  von  tisoI  yorFjg  und  negl  ueocor  als  eine 
Polemik  gegen  die  letztere  Methode  darstellen. 

Mir  scheint  aber  der  Zusammenhang  ein  ganz  anderer  zu  sein  und  jener  merk- 
würdigen Beobachtung  eine  wahre  Thatsache  zu  Grunde  zu  liegen,  die  den  antiken 
Aerzten  noch  nicht  bekannt  war.  Das  ist  die  nach  Fall  auf  den  Kopf  mit  oder  ohne 
Verletzung  desselben  auftretende  Hodenatrophie  und  consecutive  Impotenz. 


1)  Hippokrates'  sämmtliche  Werke.  Ins  Deutsche  übersetzt  von  Robert  Fuchs, 
München    1895,   Bd.   I,  S.    209 — 210. 

2)  Sie  findet  sich  auch  in  der  hippokratischen  Schrift  jtsoi  zöjzoiv  xwv  xazd  m'&oco- 
710V  (ed.  Kühn,  Leipzig  1826,  Bd.  II,  S.  106).  —  Interessant  ist,  dass  auch  nach  dem 
Talmud  der  Aderlass  das  Sperma  verringert,  besonders  wenn  er  an  den  unteren  Ex- 
tremitäten ausgeführt  wird.  Vgl.  J.  Preuss,  Zur  Geschichte  des  Aderlasses.  In:  Wiener 
klinische   Wochenschr.    1895,   Nr.   35. 

39* 


—     6o6     — 

„Eine  auffallende  Ursache  (seil,  der  Hodenatrophie",  bemerkt  Englisch'),  ,, bilden 
die  Verletzungen  des  Schädels  und  der  Wirbelsäule.  So  wurde  Atrophie  beobachtet  nach 
Verletzungen  am  Hinterhaupte  von  Lallemand,  Hildanus,  Fischer,  Smith,  Gall, 
Curling,  Larrey,  nach  Stoss,  Schlag,  Fall  und  Schusswunden.  Auffallend  war  dabei 
die  rasche  Abnahme  der  Geschlechtsfunktion,  deren  Wiederherstellung  nur  in 
den  seltensten  Fällen  erfolgte.  Die  Atrophie  des  Hodens  erfolgt  oft  schon  nach  sehr 
kurzer  Zeit  (2  Monaten)".  —  De  Montmollin  stellte  März  1875  der  Societe  medicale 
de  Neufchätel  eine  Hodenatrophie  vor  bei  einem  41jährigen  Manne,  der  sich  im  27.  Jahre 
verheiratet  und  4  Kinder  gezeugt  hatte.  Derselbe  fiel  vor  10  Jahren  auf  den  Kopf  ohne 
weitere  Erscheinungen  als  Kopfweh  und  Schmerzen  in  den  Gliedern.  Die  Kopfschmerzen 
machten  den  Patienten  bald  arbeitsunfähig.  Ein  Jahr  später  wurde  er  ins  Spital  aufgenom- 
men wegen  Diabetes  insipidus.  Er  litt  an  heftigen  Kopfschmerzen,  Schmerzen  und  Zuck- 
ungen in  den  Gliedern.  In  derselben  Zeit  begannen  die  Bart-  und  Schamhaare  auszufallen, 
und  er  konnte  den  Coitus  nicht  mehr  wie  früher  ausüben.  Anderthalb  Jahre  nach  dem 
Vorfalle  war  er  völlig  bartlos,  hatte  keine  Erektionen  mehr  noch  Samenergüsse.  Nach 
nahezu  5  Jahren  war  der  rechte  Hoden  bohnengross,  der  linke  haselnussgross,  der  Patient 
sonst  normal,  nur  in  der  Gegend  der  kleinen  Fontanelle  sehr  druckempfindlich.  (Mitgeteilt 
bei  Kocher  a.  a.  O.  S.  559 — 560.) 

Nun  ist  es  sicher,  dass  bei  einem  Reitervolke  wie  den  Skythen  sehr  häufig  Sturz 
mit  dem  Pferde  und  Kopfverletzungen  aller  Art  vorkommen  mussten.  Gegen  diese  Kopf- 
verletzungen nun  wendete  man  den  Aderlass  und  zwar  möglichst  in  der  Nähe  des  leidenden 
Teiles,  also  am  Kopfe  selbst  und  zwar  an  den  Venen  hinter  dem  Olire  an.  Auch  die 
Hippokratiker  wählten  bei  Krankheiten  der  oberen  Körperteile  als  Stelle  des  Aderlasses 
Kopf,  Hals,  Zunge,  Arme,  bei  Krankheiten  der  unteren  die  Füsse^)  und  im  Oriente  ist  der 
Aderlass  am  Kopfe  bei  Kopfleiden  weit  verbreitet  und  noch  heute  üblich.  Dr.  Paris ^) 
erzählt:  ,,Fast  jeder  Armenier,  Grieche,  Jude,  Türke,  hat  eine  Fontanelle  und  ebenso  miss- 
brauchen sie  das  Schröpfen.  Wegen  eines  simpeln  Kopfwehs  lassen  sie  den  ersten  besten 
Barbier  sich  eine  Binde  um  den  Hals  schlagen,  damit  das  Blut  zurückgehalten  werde,  und 
hernach  mit  einem  Scheermesser  einige  Schnitte  um  das  Ohr  herum  machen, 
da  dann  ungefähr  so  viel  Blut  als  in  eine  Eierschale  geht,  ausfliesst".  ^ 

Die  Tliatsache,  dass  auch  die  Skythen  den  Aderlass  am  Kopfe  vornahmen,  ist  wohl 
nicht  anzuzweifeln.  Wahrscheinlich  thaten  sie  es  in  den  Fällen,  wo  es  sich  um  Kopf- 
verletzungen und  Kopfleiden  infolge  des  unmässigen  Reitens  handelte.  Und  diese  Kopf- 
verletzungen als  das  Primäre  hatten  die  Impotenz  zur  Folge,  die  der  Ver- 
fasser von  ,-T£ßt  dsgcov  irrtümlich  dem  sekundären  Aderlass  am  Kopfe  zuschreibt!  So  dürfte 
sich  am  einfachsten  und  natürlichsten  diese  rätselhafte  Stelle  erklären.  Es  wird  dadurch  zu- 
gleich die  Genesis  der  Impotenz  durchaus  der  modernen  Forschung  entsprechend  aufgehellt.*) 


1)  Englisch,  Artikel  „Hoden"  in  Eulenburg's  Real-Encyclopädie  der  gesammten 
Heilkunde,  3.  Aufl.,  Wien  und  Leipzig   1896,  Bd.  X,  S.   555. 

2)  Vgl.  J.  H.  Baas,  Die  geschichtliche  Entwicklung  des  ärztlichen  Standes,  Berlin 
1896,  S.  67. 

3)  In  Roux,  Journal  de  Medecine,  Bd.  XLIV,  S.  355,  zitiert  nach  Sprengel - 
Rosenbaum  a.  a.  O.,   I,    S.  362,    Anm.   35. 

4)  Die  Theorie  des  Zusammenhanges  von  Impotenz  und  Venäsectio  findet  sich  noch 
bei  mittelalterlichen  Autoren.  Vgl.  Victor  Tarrasch,  Die  Anatomie  des  Richardus. 
Inaug.-Diss.,  Berlin  1898,  S.  47;  Walter  Schnelle,  Die  Chirurgie  des  Johannes  Mesue 
jun.  Schluß  des  4.  Buches  zum  ersten  Male  veröffentlicht.  Inaug.-Diss.  Berlin  1895,  S.  29 
(beide  unter  der  Ägide  von  J.  Pagel). 


—      6o7      — 

Wie  schon  erwähnt,  ist  diese  Impotenz  das  Primäre,  die  Vorbedingung  und  wesent- 
liche Ursache  der  sekundären  Effemination,  die  sich  infolge  der  Hodenatrophie  iind  sexuellen 
Passivität  allmählich  entwickelt  und  zum  Teil  künstlich  gezüchtet  wird.  Auch  diese 
zweite  Erscheinung,  die  eigentliche  -dtj^sia  vovaog,  beruht  auf  tatsächlichen  Beobach- 
tungen und  wird  durch  ethnologische  Parallelen  als  ein  eigenartiges,  in  seiner 
Art  spezifisches  Phänomen  charakterisiert,  so  dass  das  Rätselhafte  und  Wunderbare 
daran  einigermassen  erklärt  werden  kann. 

Sowohl  Herodot  (I,  105)  als  auch  der  Verfasser  von  de  aere,  aquis  et  locis  führen 
•die  auf  die  Impotenz  folgende  Effemination  auf  die  Beleidigung  der  Aphrodite  oder  einer 
anderen  Gottheit  zurück.  Es  war  kein  durch  Menschen,  sondern  ein  durch  die  Götter  ver- 
hängtes Schicksal.  Ganz  ähnlich  unterscheidet  auch  die  biblisch-talmudische  Auffassung  den 
„saris"  (Spadonen,  Impotenten)  durch  Menschenhand  von  dem  ,,saris  chammah",  dem 
„Sonnen-saris".     Preuss'j  bemerkt  darüber: 

„Bestätigt  sich  die  erst  kürzlich  ausgesprochene  Vermutung  des  Herrn  v.  Oefele, 
dass  auch  die  Äg)-pter  den  ,, Beschnittenen  durch  Ammon-Ra",  den  Sonnengott  kennen, 
so  wird  der  bisher  nicht  erklärte  Name  dieses  ,,Sonnen -saris"  verständlich.  Die  Gemara 
substituiert  dafür  die  dem  Monotheismus  entsprechendere  Bezeichnung:  saris  min  haschamajüm, 
„durch  Hand  des  Himmels",  letzteres  die  Umschreibung  des  hebräischen  Gottesnamens. 
Der  Sonnen-saris  entsteht  sowohl  infolge  Stehenbleibens  auf  infantiler  Stufe  (Aplasie),  als 
auch  einer  Erkrankung  nach  der  Pubertät  (Atrophie).  Intrauterin  entsteht  die 
Hemmung,  wenn  die  Schwangere  bei  hellem  Feuer  buk  (nach  'Arükh  „in  der  Sonne  ass", 
chammah  =  Sonne)  und  schweren  Wein  trank  (Jeb.  80  a).  Ein  „Verschnittener  durch  Hand 
des  Himmels  und  Menschenhand  zugleich"  kann  jemand  werden,  wenn  ihm  chatatin  (Ex- 
crescenzen)  aufgegangen  sind  (durch  die  Hand  des  Himmels)  und  er  diese  nun  abkratzt 
(j.  Jeb.  9a).  R.  Eliesar  (noch  zur  Zeit  des  zweiten  Tempels,  um  50  p.  Chr.)  berichtet, 
dass  man  Sonnencastraten  in  Alexandrien  in  Ägypten  heile  (also  impotent  Gewordene?)." 

Es  erscheint  also  auch  hier  die  Impotenz  und  Verweiblichung  als  eine  Krankheit, 
vooOi,  die  wiederum  als  göttliche  Strafe  angesehen  wird  und  nunmehr  in  religiösem 
Sinne  aufgefasst  wird,  weil  man  den  natürlichen  Ursprung  der  auf  homosexueller  Basis 
sich  entwickelnden  Effemination  nicht  kannte  und  vielfach  auch  wohl  die  relative  Impotenz 
der  Homosexuellen  gegenüber  Frauen  mit  der  absoluten  Impotenz  heterosexueller  Individuen 
in  einen  Topf  warf.  Man  kannte  eben  noch  nicht  die  natürlichen  Erklärungen  für  gewisse 
rätselhafte  Erscheinungen  auf  diesem  Gebiete.  Es  ist  deshalb  von  höchstem  Interesse,  dass 
sich  Adolf  Bastians  berühmter  „Elementargedanke"  auf  diesem  Gebiete  besonders  auf- 
fällig und  instruktiv  nachweisen  lässt.  Stellt  man  die  hierauf  sich  beziehenden  Thatsachen 
in  Kürze  zusammen,  so  fällt  der  letzte  Schleier  von  dem  Rätsel  der  di)).sia  vovaog  und  die 
Richtigkeit  und  Naturtreue  der  Schilderung  des  Verfassers  von  ;Tfot  degcov  wird  in  das 
hellste  Licht  gesetzt. 

Es  ist  das  Verdienst  Hammonds,  in  einer  monographischen  Studie^)  die  wichtigsten 
analogen  Fälle  zusammengestellt  und  dadurch  die  Glaubwürdigkeit  der  hippokratischen  Schilde- 
rung endgültig  bewiesen  zu  haben. 


1)  J.  Preuss,  Die  männlichen  Genitalien  und  ihre  Krankheiten  nach  Bibel  und 
Talmud.     In:  Wiener  med.  Wochenschr.    1898,  Nr.    I2ff.,  S.-A.,  S.    11  — 12. 

2)  William  A.  Hammond,  The  disease  of  the  Scythians  (Morbus  Feminarum) 
and  other  analogous  conditions.  In :  American  Journal  of  Neurology  and  Psychiatry,  August 
1882,  p.   339   sq. 


—     6o8      — 

Schon  Reinegg')  und  Klaproth'-)  haben  auf  Zustände  hingewiesen,  die  grosse 
ÄhnHchkeit  mit  der  „skythischen  Krankheit"  haben  und  vor  allem  noch  zu  ihrer  Zeit 
in  den  Gegenden  beobachtet  wurden,  auf  die  auch  die  hippokratischc  Beschreibung  sich  bezieht. 

Ersterer  berichtet;  „Der  merkwürdigste  aller  Nomadenstämme  von  Cuban  ist  der  der 
Nogays  oder  Mongutays.  Die  Angehörigen  dieses  Stammes  unterscheiden  sich  von  anderen 
durch  ihre  mongolischen  Züge,  welche  ihren  ganzen  Körperbau  charakterisieren.  Die  Männer 
sind  fett,  gross  und  dick,  haben  hervorstehende  Backenknochen,  tiefliegende  Augen  und  spär- 
lichen Bartwuchs.  Wenn  sie  durch  Krankheit  heruntergekommen  sind  oder  älter  werden, 
so  wird  die  Haut  des  ganzen  Körpers  runzlig,  der  Bart  verschwindet  gänzlich,  und  sie 
sehen  jetzt  Weibern  höchst  ähnlich.  Sie  werden  impotent  und  weichen  im  Denken 
und  Handeln  erheblich  von  den  anderen  Männern  ihres  Stammes  ab.  Sie  müssen  dann  den 
Verkehr  mit  Männern  meiden  und  schliessen  sich  in  ihrem  Umgang  den  Frauen  an,  deren 
Kleidung  sie  auch  annehmen." 

Auch  Chotomski  (bei  Daremberg,  Oeuvres  d'Hippocrate,  Paris  1843,  p.  497)  sah 
viel  später  unter  den  Tartaren  des  Kaukasus  viele  Männer  infolge  übermässigen  Reitens  im- 
potent werden.  Mit  Recht  folgert  Hammond  daraus,  dass  die  Skythen  der  alten  Zeit 
und  ihre  Nachkommen,  die  heutigen  Bewohner  des  Kaukasus  ganz  besonders  mit  Impotenz 
behaftet  waren  und  viele  von  ihnen  zur  Effemination  neigten. 

Hammond'*)  selbst  konnte  vor  langen  Jahren  in  Neu-Mexiko,  wo  er  als  Militärarzt 
stationiert  war,  bei  den  Puebloindianern  Beobachtungen  machen,  die  mit  der  ß^tjksia 
vovoog  die  grösste  Ähnlichkeit  aufweisen.  Es  wurde  ihm  die  Thatsache  hinterbracht, 
dass  die  Pueblos  einen  Stammesgenossen  in  jedem  Dorfe  aussuchen,  den  sie  geschlechtlich 
impotent  machen  und  dann  zu  päderastischen  Zwecken  benutzen.  Diese  Person  nannte  man 
einen  „Mujerado",  wahrscheinlich  eine  Umgestaltung  aus  dem  spanischen  Wort  „Mujeriego", 
welches  „weiblich"  oder  „weibisch"  bedeutet. 

Der  eine  der  Mujerados,  die  Hammond  untersuchte,  teilte  ihm  mit,  dass  er  schon 
7  Jahre  lang  Mujerado  sei,  und  dass  er  bis  zu  jener  Zeit  die  sexuellen  A[ttribute 
der  Mannbarkeit  voll  besessen  habe.  Zuerst  seien  seine  Hoden  kleiner  geworden, 
und  mit  ihrer  Atrophie  habe  er  den  Geschlechtstrieb,  sowie  jeden  .Sinn  für  männliche  Be- 
schäftigung verloren  und  daher  Frauenumgang  aufgesucht.  Sein  Penis  hatte  anfangs  die 
volle  Grösse,  aber  da  er  nach  und  nach  die  Erektionsfähigkeit  verlor,  wurde  das  Glied  auch 
bald  atrophisch.  Bevor  er  ein  Mujerado  wurde,  halte  er,  wie  er  mit  sichtlichem  Stolze  mit- 
teilte, einen  grossen  Penis  gehabt,  und  seine  Testikel  waren  „grandes  como  huevos",  so 
gross  wie  Eier. 

Seine  Stimme  war  hoch,  dünn  und  versagte,  besonders  wenn  er  erregt  war,  was  bei 
ihm  sehr  leicht  vorkam-;   ausserdem  gestikulierte  er  mehr  als   irgend   ein  anderer  Indianer. 

Bei  einem  zweiten  von  Hammond  untersuchten  Mujerado  war  die  Schamgegend 
frei  von  Haaren,  der  Penis  stark  verkleinert.  Die  Testikel  bestanden  offenbar  nur  aus 
Bindegewebe,  da  auch  bei  starkem  Druck  kein  Schmerz  angegeben  wurde,  und  die  weichen 
flachen  Körper,  welche  in  der  Tiefe  des  Scrotum  lagen,  nur  die  Grösse  einer  wilden  Bohne 
hatten.  Sonst  bestand  keine  Deformität  an  den  Genitalorganen.  Er  glich  nackt  mehr  einem 
Weibe  als  einem  Manne  und  in  Frauenkleidern  konnte  man  ihn  nicht  von  wirklichen  Weibern 
unterscheiden. 


i)  Reinegg,   Beschreibung  des  Kaukasus,   Petersburg    1796,   T.   I,  .S.   269. 

2)  Klaproth,  Reise  im   Kaukasus,   Berlin    1812,  1,   285. 

3)  Vgl.    W.    A.    Hammond,    Sexuelle    Impotenz    beim    männlichen    und    weiblichen 
Geschlecht.     Mit  Vorwort  von  E.  Mendel,   Berlin    1891,  S.    1 1 1  ff. 


—      6og     — 

,,Es  war  mir  schwierig",  sagt  Hammond,  „die  Atrophie  der  Genitalorgane,  des- 
gleichen die  sichtbaren  Veränderungen,  welche  in  anderen  Teilen  des  Organismus  eingetreten 
waren,  zu  erklären,  aber  schliesslich  gelang  es  mir  doch,  einige  Erkundigungen  darüber  ein- 
zuziehen, die  wohl  auf  Wahrheit  beruhen,  da  sie  von  verschiedenen  authentischen  Quellen, 
wie  von  den   betieff enden   Individuen  in  derselben   Weise  angegeben   wurden. 

Der  Mujerado  ist  für  die  religiösen  Orgien,  welche  bei  diesen  Indianern  ebenso  wie 
bei  den  alten  Griechen,  Ägyptern  und  anderen  Nationen  gefeiert  werden,  durchaus  unent- 
behrlich. Er  führt  die  passive  Rolle  aus  bei  den  päderastischen  Gebräuchen,  die  einen  so 
wichtigen  Teil  der  Zeremonien  bilden.  Diese  Saturnalien  finden  im  Friihling  jeden  Jahres 
statt  und  werden  den  Nichtindianern  gegenüber  mit  der  grössten  Heimlichkeit  betrieben. 
Zum  Mujerado  wird  einer  der  kräftigsten  Männer  gewählt,  und  an  ihm  täglich  viele  Male 
Masturbation  ausgeführt.  Zugleich  muß  er  fast  beständig  reiten.  Die  Sexualorgane 
werden  hierdurch  zunächst  in  einen  Zustand  reizbarer  Schwäche  gebracht,  so  dass  die  Be- 
wegung auf  dem  Pferde  schon  hinreicht,  eine  Pollution  hervorzurufen,  während  zu  gleicher 
Zeit  durch  den  Druck  des  Körpers  gegen  den  Rücken  des  Pferdes  —  denn  das  Reiten 
geschieht  ohne  Sattel  —  die  Ernährung  der  Genitalien  beeinträchtigt  wird.  Allmählich 
können  trotz  des  vorhandenen  Orgasmus  keine  Samenentleerungen  her\'orgerufen  werden, 
auch  wenn  die  Erregung  noch  so  intensiv  ist.  Schliesslich  wird  auch  die  Auslösung  des 
Orgasmus  ganz  unmöglich.  Unterdessen  beginnen  der  Penis  sowie  die  Hoden  zu  schrumpfen 
und  erreichen  mit  der  Zeit  den  äussersten  Grad  von  Atrophie.  Die  Erektionsfähigkeit  ist 
dann  gänzlich  geschwunden. 

Die  deutlichsten  Veränderungen  aber  gehen  hierbei  nach  und  nach  in  dem  Hang  und 
in  den  Neigungen  des  Mujerado  vor  sich.  Er  findet  kein  Gefallen  mehr  an  den  Be- 
schäftigungen, die  er  früher  betrieben;  sein  Mut  schwindet,  und  er  wird  so  furchtsam,  dass, 
wenn  er  früher  im  Rate  der  Pueblos  eine  hervorragende  Stellung  inne  hatte,  ihm  nun  alle 
Macht  und  Verantwortlichkeit  genommen  und  er  selbst  einflusslos  wird.  Ist  er  verheiratet, 
so  entziehen  sich-  Frau  und  Kinder  seiner  Obhut  .  .  .  Übrigens  wird  es  nicht  als  ein 
Schimpf  betrachtet,  Mujerado  zu  sein.  Er  wird  von  seinen  Stammesgenossen  beschützt, 
unterstützt,  ja  in  gewissem  Sinne  geehrt,  und  braucht,  wenn  er  will,  nicht  zu  arbeiten. 
Die  Männer  jedoch  verkehren  nicht  mit  ihm,  aber  dies  geschieht  mehr  seinen  Wünschen 
und  Neigungen  gemäss,  als  dass  jene  ihn  meiden.  Er  ist  in  der  That  bemüht,  sich  so  viel 
als  möglich  dem  weiblichen  Geschlecht  anzupassen  und  alle  die  geistigen  und  körperlichen 
Eigenschaften  des  Mannes  los  zu  werden   .... 

Der  Unterschied  zwischen  den  Mujerados  und  den  'Evagh^  der  Skythen  besteht 
hauptsächlich  darin,  dass  bei  den  Pueblos  der  Verlust  der  Impotenz  absichtlich  zu  einem 
bestimmten  Zweck  herbeigeführt  wird,  während  die  Impotenz  bei  den  Skythen  als  zufälliges 
Endresultat  bestimmter  Sitten  und  Gebräuche  eintritt.  Im  ganzen  glaube  ich  annehmen  zu 
dürfen,   dass  in  beiden   Fällen  ähnliche  Ursachen   zugrunde   liegen. 

Den  Pueblos  scheint  es  bekannt  zu  sein,  einen  wie  grossen  Einfluss  das  Reiten 
ausübt,  wenn  es  sich  darum  handelt,  jemanden  zum  Mujerado  zu  machen.  In  der  That 
besitzen,  wie  ich  aus  eigener  Anschauung  weiss,  die  nomadenhaften  Indianerstämme,  welche 
gewissermassen  die  Repräsentanten  der  Skythen  des  westlichen  Continents 
sind,  besonders  die  Apachen  und  Novajos,  kleine  Geschlechtsorgane,  schwachen  Sexualtrieb 
und  geringe  Potenz.  Schon  in  ihrer  ersten  Kindheit  gewöhnen  sie  sich  daran,  auch  bei 
den  kleinsten  Entfernungen  zu  reiten.  Sie  gehen  selten  zu  Fuss,  höchstens  an  solchen 
Stellen,  wo  ihre  Pferde  leicht  straucheln  können;  stets  halten  sie  sich  in  nächster  Nähe 
ihrer  Pferde  auf.  Ich  habe  selbst  gesehen,  wie  sie,  nur  um  den  Sattel  zu  holen,  eine 
Strecke  von   25  Fuss  ritten.    Infolge  dieser  Lebensgewohnheit  sind  die  Muskeln  der  unteren 


—     6io     — 

Extremitäten  in  ihrer  Entwicklung  gehemmt,  die  Schenkel  ganz  dünn,  und  die  Waden  so 
flach  wie  eine  Hand.     Sie  sind  ganz  unfähig,  weite  Märsche  zu  Fuss  zu  machen. 

Ich  bin  ganz  sicher,  dass  Impotenz  unter  ihnen  sehr  häufig  vorkommt,  obwohl  ich 
keine  genaueren  Erkundigungen  darüber  habe  einziehen  können.  Oft  wurde  ich  bei  diesen 
Indianerstämmen,  sobald  sie  erfuhren,  dass  ich  ein  „Medizinmann"  war,  von  jungen,  an- 
scheinend gesunden  Männern  um  eine  „kräftige  Medizin"  zur  Stärkung  der  Potenz  gebeten. 
Wie  ich  übrigens  erfuhr,  werden  auch  die  meisten  ,, Medizinmänner"  ihres  Stammes  aus 
demselben  Grunde  von  ihnen  konsultiert.  Ein  Apachen-  oder  Novajo-Weib  mit  mehr  als 
2 — 3  Kindern  würde  ein  Unikum  sein." 

Hammond  spricht  zum  Schluss  die  Ansicht  aus,  dass  die  Opfer  der  ß}]XEia  vovoog 
wie  die  Mujcados  zu  päderastischen  Zwecken  benutzt  wurden.  Jedenfalls  bietet  die  in  der 
hippokratischen  Schrift  erwähnte  Verehrung  der  effeminierten  Skythen  eine  auffällige 
Analogie  mit  dem  Kultus  der  Mujerados,  deren  ganze  Genesis  so  viele  wirklich  überraschende 
Ähnlichkeiten  mit  derjenigen  der  an  der  &r)Xsia  vovoog  leidenden  Individuen  aufweist. 

Die  Mujerados  sind  jedenfalls  insofern  die  alleinigen  echten  Repräsentanten  einer 
modernen  ,, Skythenkrankheit",  als  ihr  Leiden  wie  das  von  dem  Verfasser  von  jisgl  degcov 
geschilderte  sich  aus  den  gleichen  zwei  Faktoren  zusammensetzt,  der  primären 
Impotenz  und  der  sekundären  Effemination. 

Im  übrigen  findet  man  diese  Faktoren  isoliert  recht  häufig,  besonders  die  Effe- 
mination.    In  Bezug  auf  die  Impotenz  durch  Reiten  bemerkt  Johann  Peter  Frank*): 

,,Das  Reiten  des  Landvolkes  auf  übel  gebauten,  von  vorn  mit  einem  einfachen,  er- 
habenenen  Knopfe  oder  mit  einer  schmalen  Rippe  versehenen  Reitsattel,  das  allzu  früh- 
zeitige Reiten  der  Knaben  auf  schwertrabenden  oder  unartigen  Pferden,  wozu  solche,  oft 
ohne  Not,  von  ihren  Eltern,  in  einem  Alter,  wo  sie  sich  noch  nicht  zu  halten  wissen,  auf 
dem  Lande  gezwungen  werden,  sind  meistens  die  nächste  Ursache  der  Quetschung  der 
Hoden  und  der  nachfolgenden  Unfruchtbarkeit,  oder  noch  schwererer  Übel." 

Was  die  Typen  der  Effemination  betrifft,  wie  sie  in  der  üi'jkeia  vovoog  zutage  trat, 
so  finden  wir  solche  sowohl  bei  den  Alten  wie  bei  anderen  Völkern  und  zu  allen  Zeiten. 
So  sagt  z.  B.  Josephus  von  den  galiiäischen  Soldaten  (De  hello  Judaico  IV,  9,  10): 
„Noch  triefend  vom  Blute  verprassten  sie  das  Geraubte,  ergaben  sich  aus  lauter  Über- 
sättigung ungescheut  weibischen  Leidenschaften,  indem  sie  sich  das  Haar  frisierten,  Weiber- 
kleider anzogen,  sich  mit  Duftöl  Übergossen  und  sich  zur  Zierde  die  Augen  bemalten.  Aber 
nicht  allein  im  Putz  thaten  sie  den  Weibern  nach,  sondern  Hessen  sich  auch  als  solche  ge- 
brauchen und  ersannen  im  Übermass  der  Geilheit  naturwidrige  Wollüste:  sie  wälzten  sich 
in  der  Stadt  wie  in  einem  Bordelle  und  befleckten  sie  mit  lauter  Werken  der  Unreinigkeit^)." 

Weitere  Beispiele  antiker  Effemination  sind  bereits  früher  erwähnt  worden.  Auf  sie 
und  die  analogen  Verhältnisse  in  Nord-  und  Zentralamerika,  wo  uns  ,, heilige"  effeminierte 
Päderasten  sehr  häufig  begegnen,  sei  nur  im  Vorübergehen  hingewiesen.  Eine  ausführlichere 
Übersicht  darüber  giebt  Adolf  Bastian^). 

Zur  Erläuterung  des  für  die  Effemination  gebrauchten  Aus- 
druckes vovoog  möge  auch  die  folgende,  bisher  unbeachtete  Stelle 
bei  Aulus  Gellius  (Noct.  Att.  Lib.  IV,  cap.  2)  dienen:  „De  eunucho 


i)  J.  P.  Frank,  System  einer  vollständigen  medicinischen  Polizey,  Frankenthal  1791, 
Bd.  11,  S.   222. 

2)  Des    Flavius  Josephus  Werke,    übersetzt   von  Heinrich  Paret,    Stuttgart   1855, 
S.  506—507. 

3)  Adolf  Bastian,  Der  Mensch  in  der  Geschichte,  Leipzig  1860,  Bd.  III,  S.  3ioff. 


—     6ii      — 

quidem  quaesitum  est,  an  contra  edictum  aedilium  videretur  venun- 
datus,  si  ignorasset  emtor  eum  eunuchum  esse.  Labeonem  respondisse 
ajunt,  redhiberi  posse  quasi  morbosum."  Auch  hieraus  geht  hervor, 
daß  Effemination  und  Impotenz  als  „morbus"  galten. 

Schon  aus  dem  oben  (S.  5 24 ff.)  mitgeteilten  Vocabularium  ero- 
ticum  der  Griechen,  das  zum  größten  Teile  teils  mit  Beibehaltung 
derselben  Worte,  teils  in  wörtlicher  Uebersetzung  in  den  sexuellen 
Sprachschatz  der  Römer  überging  und  von  diesen  noch  vielfach  ver- 
mehrt wurde,  haben  wir  entnehmen  können,  daß  auch  alle  übrigen 
Variationen  des  Geschlechtsgenusses  und  sexuellen  Perversi- 
täten bei  den  Alten  bekannt  waren  und  geübt  wurden.  Auf  be- 
sondere griechische  und  römische  Lehrbücher  der  Sinnenlüst  wurde 
schon  oben  (S.  536 — 537)  hingewiesen.  Sie  enthielten  die  Grundzüge 
der  ovßagirixi]  äoelyeia  (Philo,  Vit.  Moys.  1,1),  die  „mille  modi  Veneris 
(Ovid.,  ars  amat.  II,  679;  III,  787;  Ovid,  Amor.  III,  14,  24;  III,  7,  64). 

Die  hochentwickelte  hellenistisch-römische  Kultur  Hess  die  latent 
in  den  meisten  Menschen  schlummernden  Neigungen  zu  sexuellen 
Aberrationen  und  Raffinements  offen  hervortreten  und  steigerte  sie 
ins  Ungemessene.  Den  Gipfel  der  sexuellen  Korruption  bezeichnet 
das  erste  christliche  Jahrhundert,  als  Zeit  der  ärgsten  Verdorbenheit 
und  Entartung  nennt  Birt  die  Jahre  30 — 68  n.  Chr.,  unter  der  Herr- 
schaft Caligulas,  Messalinas  und  Neros  ^),  wo  die  Abneigung  gegen 
die  Ehe,  die  schon  Augustus  zu  seiner  berühmten  Ehegesetzgebung 
veranlasste,  mit  der  männlichen  Neurasthenie,  der  weiblichen  Hysterie 
(vgl.  das  charakteristische  Epigramm  des  Martial,  XI,  71)  und  der 
Vorliebe  für  Haut-goüt  (klassisch  geschildert  von  Martial,  III,  77) 
sich  vereinigten,  um  die  rapide  Ausbreitung  geschlechtlicher  Ent- 
artung herbeizuführen  und  zu  erklären.  Es  war  die  Zeit  der  „Wollust- 
kommissare" 2)  der  römischen  Kaiser,  als  deren  ersten  Sueton  (Tib.  42) 
den  T.  Caesonius  Priscus  erwähnt  („novum  denique  officium  instituit 
a  voluptatibus,  praeposito  equite  romano,  T.  Caesonio  Prisco")  und 
als  deren  berühmtester  Petronius  Arbiter  von  Tacitus  (Annal. 
XVI,  18,  3)  verewigt  worden  ist.  Sie  hatten  die  Aufgabe,  neue 
Arten  der  Wollust  zu  entdecken  und  zu  ersinnen,  wie  auch  die  per- 
sischen Könige  dem  eine  Belohnung  zugesagt  haben  sollen,  der  ihnen 
eine  neue  Art  des   geschlechtlichen  Genusses  offenbarte,   da  sie   mit 


i)  Theodor  Birt,  Zur  Kulturgeschichte  Roms,  Leipzig   1909,  S.  146. 
2)  Sie  sind  vergleichbar  den    „maitres  de  plaisir"    fürstlicher  Lebemänner   und  Roues 
des   18.  Jahrhunderts. 


6l2        

den  alten  sich  nicht  begnügen  mochten,  wie  die  byzantinische  Theo- 
dora,  von  der  Prokop  (Hist.  arc.  IX,  6)  erzählt:  })  de  xdx  rojv  toiöjv 
rQfjirjßdroiv  SQyaCojuevi],  evexäXei  rfj  (pvoEi,  dvgcpoQovjuevi]  öri  dt]  jui]  xal 
Tovg  tird^ovg  nim]  evqvteqov  i)  vrv  elm  Tgvjxqh],  OJioig  xal  äXXi^v  hravda 
f^d^iv  ejiueyväo&ai  övvarrj  eh]. 

Aus  der  folgenden  kurzen  Uebersicht  werden  wir  ersehen,  dass 
sämtliche  auch  heute  bekannten  Arten  abnormer  sexueller  Betätigung 
auch  im  Altertum  existierten  und  jedenfalls  sehr  bekannt  waren, 
wenn  man  nach  den  häufigen  Erwähnungen  der  verschiedenen  Schrift- 
steller urteilt.  Auch  hier  werden  uns  hauptsächlich  —  wie  bei  der 
Päderastie  —  etwaige  Beziehungen  zu  venerischen  Erkrankungen 
interessieren  und  wir  werden  gewisse  Möglichkeiten  einer  besonderen 
Lokalisation  venerischer  Affektionen ,  die  durch  die  verschiedenen 
abnorm  sexuellen  Betätigungen  geschaffen  werden,  ins  Auge  fassen 
müssen. 

Die  grösste  Bedeutung  kommt  dabei  jenen  Perversitäten  zu,  bei 
denen  der  Mund  (Lippen,  Zunge  und  Mundhöhle)  eine  aktive  oder 
passive  Rolle  spielt.  Denn  es  ist  klar,  dass  die  „Mundunzucht"  bei 
der  zarten,  leicht  zu  Einrissen  geneigten  Schleimhaut  der  Lippen  und 
der  Mundhöhle  sehr  häufig  Gelegenheit  zu  venerischen  Ansteckungen, 
entzündlichen  und  geschvvürigen   Veränderungen  geben  kann. 

J3ie  Terminologie  der  antiken  Mundunzucht  ist  verschieden,  je 
nachdem  es  sich  um  die  männlichen  oder  weiblichen  Genitalien  handelt. 
Betrachten  wir  zunächst  die  erstere  Art. 

I.  Mundunzucht  mit  und  am  männlichen  Genitale.  —  Den 
Coitus  per  os  ausführen  hiess  Xeoßid'Qeiv  [und  zwar  beim  Manne 
Hesych.  III,  27:  Jiqbg  uvÖqq  oio/.iareveiv],  corrumpere  buccas 
(Mart.  III,  75),  illudere  capiti  (Sueton.  Tib.  45),  irrumare  (Martial 
III,  96  u.  ö.),  os  percidere  (Mart.  II,  72,  3;  Plaut.  Pers.  II,  4,  12), 
altiora  tangere  (Priap.  28,  5),  summa  petere  (Mart.  XI,  46).  Das 
Irrumieren  galt  als  die  spezifische  Unzucht  der  Greise  (Mart.  IV,  50; 
XI,  46),  seine  Erduldung  als  ein  Zeichen  der  Demütigung,  Schande 
und  Strafe  (Catull.  XVI,  i;  XXVIII,  10;  XXXVII,  8;  XXI,  8 
und  13;  Priap.  XIII). 

Hierbei  spielen  Mund  und  Mundhöhle  eine  mehr  passive  Rolle, 
während  die  aktive  dem   Membrum   virile  zufällt. 

Ist  umgekehrt  der  Mund  aktiv  gegenüber  dem  Membrum,  so 
bezeichnete  man  das  mit  den  Namen  Xeoßioeiv,  leoßid'Qeiv  (Aristoph. 
Ran.  1308;  Vesp.  1346),  da  die  Lesbier  bzw.  Lesbierinneren  diese 
Unzucht,  das  lateinische  fellare  (Mart.  II,  42;  III,  82,  84,  87,  96; 
VI,  81   u.  ö.;  Catull.  LIX,  LXXX  u.  ö.)  erfunden  haben  sollen. 


-     6i3      - 

Der  Scholiast  zu  Aristophanes  Wespen  1346  beruft  sich  auf  die  Stelle  des 
Theopompos  in  dessen  „Odysseus":  i'ra  fii)  t6  jiaXaio^'  rovro  xai  &Qid/.ov/isi>ov  (5(' 
7J/iisTeQ(or  OTO/^tdrcor  EiJtco  aoqyaiia,  ö  rfnai  Jiaidag  Asaßüov  svqsTv.  Daher  Suidas 
s.  V.  Aeoßi'oai  =  /lO/S'vai  t6  aröiia.  Aioßioi  yäg  8ießd?J.ovTO  ijzi  aloxQÖirjTi.  Derselbe 
s.   V.   ai()^%-id^eiv :  Xsaßiu^sn'  tu  zco   azö/iiazi  JiagavofiETv. 

Lukianos  (Pseudol.,  c.  28)  nennt  Xsoßiäl^Eiv  zusammen  mit  (foirixiCeiv  =  lambere 
cunnuni). 

Rosenbaum')  führt  zur  Erläuterung  dieser  auf  den  liederlichen  Timarchos  sich 
beziehenden   Aeusserung  die   folgenden  Stellen  aus   Lukianos'   Pseudologista  an: 

,,Bei  den  Göttern,  was  gerätst  du  denn  in  Wut,  da  das  Volk  auch  das  von  dir 
sagt,  dass  du  ein  Fellator  und  Cunnilingus  seiest  (jigog  ^ecöv,  emi  fioi,  ri  maxei?,  sjifiödr 
xäxeh'a  Äsycoai  01  jiolXol,  IsoßiaCen'  os  xal  (poivixi^siv).  Verstehst  du  auch  diese  Wörter 
so  wenig  wie  das  djioqrgäc  ?  und  hältst  du  sie  für  Ehrentitel  ?  Oder  bist  du  daran  schon 
gewöhnt,  an  d.TOCjgdg  aber  nicht,  und  willst  es  als  etwas  dir  Unbekanntes  aus  der  Liste 
deiner  Titel  streichen?  (cap.  28).  —  Ich  weiss  wohl,  was  du  triebst  in  Palaestina,  in 
Aegypten,  in  Phoenicien  und  Syrien,  sodann  in  Hellas  und  Italien,  und  vor  allem  jetzt  in 
Ephesus,  wo  du  deinen  Tollheiten  die  Krone  aufsetzest  (cap.  11).  —  Deine  Mitbürger  wirst 
du  aber  niemals  überreden,  dass  sie  dich  nicht  für  den  Unflätigsten  unter  allen,  für  den 
Auswurf  der  ganzen  Stadt  halten  sollten.  Vielleicht  stützest  du  dich  aber  auf  die  Meinung 
der  Uebrigen  in  Syrien,  dass  man  dich  (dort)  keiner  Schuld,  keines  Lasters  geziehen  habe. 
Aber  beim  Herkules,  Antiochien  sah  die  Geschichte,  als  du  jenen  von  Tarsus  kommenden 
Jüngling  entführtest  und  —  doch  es  würde  mir  nicht  anstehen,  dergleichen  aufzurühren. 
Alle,  welche  dabei  waren,  wissen  es  und  erinnern  sich  daran,  indem  sie  dich  auf  den  Knieen 
ruhend  sahen  (xal  ae  fisv  ig  yorv  avyaa&^fisvov  idovisg)  und  jenem  das  thun,  was  du 
wohl  weisst,  wenn  du  es  sonst  nicht  ganz  und  gar  vergessen  hast  (cap.  20).  —  Aber  als 
man  dich  auf  den  Knieen  des  Sohnes  des  Küpers  Oinopion  liegend  (toi;  fiecQaxiov  ev  yovaoi 
xeifievov)  antraf,  was  glaubst  du  da?  Hielt  man  dich  nicht  für  einen  solchen,  als  man  eine 
solche  That  sah?  (cap.  28).  —  Wie,  beim  Zeus,  nach  einer  solchen  That  wagst  du  noch 
uns  zu  küssen?  —  Eher  eine  Natter  oder  Viper  küssen!  Die  Gefahr  und  den  Schmerz  des 
Bisses  kann  doch  ein  hinzugerufener  Arzt  beseitigen  -).  Von  diesem  Kusse  und  mit  solchem 
Gifte,  wer  darf  da  sich  dem  Tempel  oder  Altare  nahen?  Welcher  Gott  würde  den  Flehenden 
anhören:  wie  viel  Weihkessel,  wie  viel  Flüsse  würde  man  bedürfen?  (cap.  24).  —  In 
Syrien  bist  du  QoSoödqn'rj  genannt;  die  Ursache  zu  nennen  muss  man  sich  schämen,  bei 
der  Athene !  •')  In  Palästina  aber  (pgay/uög  (die  Hecke)  wegen  der  Stacheln  des  Bartes,  wie 
ich  glaube  (vgl.  Priap.  74  „barbatis  non  nisi  summa  petet").  In  Aegypten  dagegen  avvdyxr} 
(Angina,  Bräune),  dies  ist  eine  bekannte  Sache.  Es  soll  wenig  gefehlt  haben,  dass  du  nicht 
erstickt  wärest,  als  du  auf  den  Matrosen  eines  Dreimasters  stiessest,  welcher  auf  dich  ein- 
fallend, dir  den  Mund  verstopfte  (og  ifureachv  ujiE(pQa^e  001  x6  arofia)." 

Für  „fellare"  finden  sich  auch  die  lateinischen  Ausdrücke:  ore 
morigerari    (Sueton.,  Tiber.  44),    ore    adlaborare    (Horat,  Epod. 


i)  J.   Rosenbaum  a.  a.  O.,  S.   228  ff. 

2)  D.  h.  hier  handelt  es  sich  für  den  antiken  Autor  um  ein  ärztlich  angreifbares 
hygienisches  Uebel,  beim  Kusse  des  Fellators  aber  um  einen  ästhetischen  Ekel,  den  kein 
Arzt  beseitigen  kann  wie  die  Giftwirkung  des  Schlangenbisses. 

3)  Forberg  a.  a.  O.,  S.  281,  bemerkt  dazu:  Haud  scio  an  Rhododaphnes  cogno- 
mine  a  Syris  isti  tradito  tecte  sugilletur  cunnilingus,  ita  quidem,  ut  in  rosa  lateat  cunnus, 
in   lauri  folio  lingua  lingens. 


-     6i4      -- 

VIII,  20),  lambere  medios  viros  (Mart.  II,  61;  III,  81,  Ausonius, 
Epigr.  81),  lingere  (Mart.  III,  88;  VII,  55),  vorare  (Catull., 
LXXX,  5,  6). 

Je  nachdem  die  Mundunzucht  am  membrum  virile  von  einem 
männlichen  oder  weiblichen  Individuum  ausgeführt  wurde,  sprach  man 
von  einem  „fellator"  (Mart.  XI,  30)  oder  einer  „fellatrix"  (Corp. 
Inscr.  Lat.  IV,  46,  Nr.  760). 

2.  Mundunzucht  am  weiblichen  Genitale  (Unzucht  des 
oxvla^  und  cunnilingus).  —  Hierfür  finden  sich  folgende  griechische  Be- 
zeichnungen: oxvXa^  (Hesych.  IV,  52  =  oyrjjua  äcpooöioiaxov,  cbg  t6 
rcöv  cpoivixi'QövTwv),  (poivixiCsiv  (Galen.,  ed.  Kühn  XII,  249;  Lukian. 
Pseudol.  28),  oxeQoXlyyeq  (Hesych.  IV,  42  =  Xmxaorai  r/'  coTiioxaL 
In  annotatione:  Js.  Vossius,  qui  vertit  =  „cunnilingi".  oy.egog  = 
aidoioXeixtrjg),  yXcorroTtoieTv  (Aristoph.,  Kop.    1280). 

Der  Name  oxvXa^  stammt  offenbar  von  der  Beobachtung  der- 
artiger Dinge  bei  Hunden.  Rosenbaum  (a.  a.  O.  S.  260)  zitiert  hierzu 
das  Sprichwort  bei  Suidas:  xvva  öegeiv  dednofievyjv  xö  xov  0eQexgdxovg' 
o)^f]jua  de  eori  äxoXaoxov  elg  xö  alöoiov.  Ei'o)jxai  de  em  xcö,  älXo  naoxovxcov 
nv&tg  ifp  olg  jxenöv^aoiv  fj  nagoLfxia.  Derselbe  Autor  weist  darauf  hin, 
dass  auch  die  Frauen  des  Altertums  sich  der  Hunde  als  Cunnilingi 
bedient  haben   dürften  wie  diejenigen  des  Mittelalters  und  der  Neuzeit. 

Dass  das  Wort  (poivixiCetv  die  Thätigkeit  des  Cunnilingus  be- 
zeichnet, geht  aus  der  Definition  des  Hesychios  s.  v.  oxvXa^  hervor. 
Ferner  hat  Galen  eine  sehr  bemerkenswerte  Stelle  über  dieses  Wort. 
Er  sagt  in  seiner  Schrift  jisgl  xrjg  xojv  äjiXöjv  (paQjudxwv  xgdoewg  xal 
dvvdfiecog  (lib.  X,  cap.  i  ed.  Kühn  XII,  249):  jiöoig  ö'iÖQCÖxog  xe  xal 
ovQov  xal  xaxajiU]viov  yvvaixbg  d  eXyi]  xal  ßöeXvod  ....  ttoXv  d'avxov  ßöeXv- 
QOJxeQov  i]yoviuai  xijv  xojiqov  elvai,  xal  jueiCov  ye  öveiöog  ioxiv  dvßocojio) 
oaxpQOvovvxi  xojiQoqpdyov  dxoveiv  /}  aioxQOVQyov  ^)  1)  xivaiöov,  dXXd  xal 
xwv  aioxQOVQycöv  juäXXov  ßdeXXvrxöjUE^a  xovg  (poivixiCovxag  xöjv 
Xeoßia^ovrojv,  cp  (paivexai  /uoi  jtagaTiX^oiov  xi  Jidoxsiv  6  xal  xaxajU7]viov 
Ttivojv.  Es  wird  hier  das  cpoivtxi'Qeiv  ebenso  von  dem  XeoßidCeiv  unter- 
schieden wie  in  der  oben  erwähnten  Stelle  des  Lukianos.  Offenbar 
schrieb  man  den  Ursprung  der  Perversität  ebenso  den  Phöniziern  zu, 
wie  denjenigen  des  Fellare  den  Lesbiern.  Die  Namenbildung  ist  die 
gleiche.  Es  handelt  sich  beide  Male,  sowohl  bei  Galen  als  auch  bei 
Lukianos,  um  bestimmte  sexuelle  Perversitäten  bzw.  die  Aus- 
führung einer  solchen,  die  mit  den  Worten  Xeoßid^eiv  und  cpoivixi^eiv 
bezeichnet   wird.     Ich   halte    es   deshalb   für   gänzlich   ausgeschlossen, 


i)  alaxQovgyög  ist  der  terminus   technicus  für  ,, perverse  sexuelle  Akte  ausführen". 


-     6i5     - 

bei  dieser  klaren,  unzweideutigen  Definition  der  Autoren  das  q?oiviyu^eiv 
mit  der  (poivixh]  vovoog  der  hippokratischen  Schrift  IJoooQtjnxov  (ed. 
Kühn  I,  233)  zu  identifizieren,  die  dem  ganzen  Zusammenhang  nach 
als  eine  Hautkrankheit  aufzufassen  ist,  wahrscheinlich  als  typische 
Lepra  nach  der  Erklärung  des  Pseudo-Galenos  (Glossar,  ed.  Kühn 
XIX,  153)^)  und  mit  der  Thätigkeit  des  Cunnilingus  nichts  zu  thun 
hat.  vooog  heisst  eben  nicht  immer  „Laster",  sondern  wird  ebenso 
häufig  auch  für  wirkliche  Krankheit  gebraucht,  z.  B.  von  Hippo- 
krates.  Damit  werden  die  Ausführungen  Rosenbaums  (a.  a.  O. 
S.  264  —  271)  über  einen  etwaigen  Zusammenhang  des  (poivixiX^eiv  und 
der  (foivty.h]  vooog  hinfällig. 

Anschaulich  schildert  Aristophanes  (Eqiiit.  1284 — 1286)  das  Treiben  der  Cuiini- 
lingi  in  den  Bordellen: 

Tifv  yaQ  aviov  ylcjiiav  aloygaTg  ijdovaTg  h'^iaiferai, 
SV  xaoavgioioi  Xsi/cov  tov  djTÖJizvazov  öqooov 
y.ai  fio?.vvcor  zi]v  vmivi]v,  xal  xvy.iov  tol^  eoxö.Qa?, 
und   (Pax   885): 

z6%'  ^wfiov  avzfj^  TrQoojieoiov  ix/.d^iEzai. 
Forberg    zitiert   noch   eine  Anzahl   von    griechischen  Epigrammen  mit  Anspielungen 
auf  den  Cunnilingus  (a.  a.  O.  S.  325  ff.). 

Noch  häufiger  wird  diese  Perversität  von  den  römischen  Autoren 
erwähnt,  bei  denen  sie  mit  den  Worten  „lingere"  (Mart.  III,  96), 
„cunnum  lingere"  (Mart.  I,  77;  II,  84;  VII,  67),  „ligurire"  (Sueton., 
Tib.  45),  „cunnilingus"  (Mart.  IV,  43;  XII,  85;  Cicero,  or,  pro 
domo  18;  Priap.  78),  „lingua  fututrix"  (Mart.  XI,  62),  „liguritor" 
(Auson.,  Epigr.   120)  bezeichnet  wird. 

Dass  einige  Individuen  als  cunniÜngi  ebenso  verrufen  waren  wie  andere  als  Kinäden, 
gehl  nicht  bloss  aus  der  Stelle  bei  Cicero  (pro  domo  i8  u.  31)  hervor,  sondern  auch  aus 
dem  folgenden  interessanten  Epigramm  Martials  (II,  28),  in  dem  die  verschiedenen  Per- 
versitäten und  Liebesarten  einander  gegenübergestellt  werden: 

Rideto  multum  qui  te,  Sextille,  cinaedum 

Dixerit  et  digitum  porrigito  medium. 

Sed  nee  paedico  es  nee  tu,  Sextille,  fututor, 

Calda  Vetustinae  nee  tibi  bucca  placet. 

Ex  istis  nihil  est,  fateor,  Sextille:  quid  ergo  es? 

Nescio,  sed  tu  scis  res  superesse  duas. 
Aehnlich  zeichnet  Epigr.  IV,   43    den    selbstständigen   Typus    des   Cunnilingus  gegen- 
über demjenigen  des  Kinäden,  und  VI,  26  und  XI,  47   ervvähnen  diese  Perversität  als  eine 
Folge  von  Impotenz"'). 


1)  tpoiviy.lrj  vöaog'  t)  y.aza  ^oivly.i]v  xai  y.azu  zd  ä/.Xa  dvazohy.d  [a.eqj]  :i),eo- 
vätovoa'  bt]).ovodai  de  y.dvzavda  SohsT  7)  i/.Eq?avztaotg.  Vgl.  auch  die  durchaus  zu- 
treffende Bemerkung  von  Robert  Fuchs  in  seiner  Uebersetzung  des  Hippokrates, 
München   1895,  Bd.  I,  S.   526. 

2)  Man  vergleiche  auch  Corp.  Inscr.  Latin.,  ed.  Zange meister,  Berlin  i8~i, 
Bd.   IV,  S.    79  (Nr.    1255):    „Amandus  Cunn.  linget";   S.  88   (Nr.    1383):    ,,Optime  Cunnum 


—     6i6     — 

Die  wichtigste  Frage  ist  die  nach  den  Folgen  der  Fellatio,  Irru- 
matio  und  der  Unzucht  des  Cunniling-us  und  nach  den  Beziehungen 
dieser  perversen  Akte  zu  etwaigen  venerischen  Erkrankungen, 
endUch  nach  der  Andeutung  letzterer  bei  den  antiken  Autoren. 

Ich  verweise  bezüglich  der  gegenwärtig  beobachteten  Krank- 
heiten infolge  der  verschiedenen  Arten  der  Mundunzucht  auf  die 
früheren  Ausführungen  (S.  434ff.)  und  wiederhole  nur,  dass  man 
folgende  nichtsyphilitische  Affektionen  beobachtet  hat:  weicher  Schanker, 
«Stomatitis  gonorrhoica  mit  Ulceration,  Sycosis  parasitaria,  spitze 
Kondylome,  Angina. 

Wenn  wir  nun  in  Bezug  darauf  die  Mitteilungen  der  Alten  über 
die  Krankheiten  der  Mundunzucht  treibenden  Individuen  prüfen,  so 
werden  wir  sehen,  dass  nicht  eine  einzige  als  Syphilis  gedacht 
werden,  vielmehr  ohne  Zwang  als  eine  der  obigen  Affektionen  erklärt 
werden  kann. 

Zunächst  ersehen  wir  aus  den  Bemerkungen  des  Galen  (s.  oben), 
Lukianos  (s.  oben),  Martial  (z.  B.  II,  42),  dass  die  Mundunzucht 
für  etwas  Ekelhaftes,  Schmutziges  galt  und  mit  dem  xojiQocpdyeiv 
auf  dieselbe  Stufe  gestellt  wurde,  was  auch  der  Schluss  des  Epigr. 
III,  78  des  Martial  andeutet,  wo  über  den  auch  in  III,  81  verspotteten 
passionierten  Cunnilingus  Baeticus  gesagt  wird: 

Nescio  quod  stomachi  vitium  secretius  esse 
Suspicor:  ut  quid  enim,  Baetice,  saprophagis? 

Neben  diesem  ästhetischen  Widerwillen  erwähnen  die  alten 
Schriftsteller  aber  auch  reale  Folgen  der  Mundunzucht,  die  wir  hier 
in  Kürze   zusammenstellen   wollen. 

I.  Uebler  (Tcruch  aus  dem  Munde.  —  Drastisch  sagt  Martial 
(XI,  30): 

Os  male  causidicis  et  dicis  olere  poetis. 

Sed  fellatori,  Zolle,  peius  ölet. 
Ebendenselben  foetor  oris  geisselt  er  auch  beim  Cunnilingus  (XII,  85): 

Paediconibus  os  olere  dicis. 

Hoc  si,  sicut  ais,  FabuUe,  verum  est: 

Quid  tu  credis  olere  cunnilingis? 


linget";  S.  91  (Nr.  1425):  „Clintius  ciinnu[m]  Jingit  Itonusia  linget  [seil,  mentulam]"; 
S.  133  (Nr.  2081):  „Colepius  (Pater)  Cunnu[m]  LingeL";  S.  46  (Nr.  763):  ,,Asbeslus  Cun- 
num  linges";  S.  100  (Nr.  1578):  ,,Linge  Laidi  Cunnum";  S.  142  (Nr.  2257):  ,,Froto  Plani 
Lingit  Cunnum";  S.  151  (Nr.  2400):  „Satur  noli  Cunnum  lingere  Extra  Porta  set  intra 
Porta  Rogat  te  Artocra  ut  sibi  lingas  mentulam  At  Fellator  Quid". 


—     6i7     — 

Um  diesen  üblen  Mundgeruch,  der  sich  auf  leicht  erklärliche 
Weise  nach  der  Mundunzucht  einstellen  konnte,  zu  verhindern,  wurde 
der  Mund  mit  Wasser  ausgespült,  wie  aus  Priap.  XXX,  Mart.  III,  87 
und  besonders  II,  50  erhellt,  wo  es  heisst: 

Quod  feilas  et  aquam  potas,  nil,  Lesbia,  peccas. 
Qua  tibi  parte  opus  est,   Lesbia,  sumis  aquam. 

Deshalb  rät  Martial  auch  zum  Waschen  und  Untertauchen  des 
Kopfes  nach  den  Küssen  eines  Fellators  (XI,  95). 

Ueber  den  spezifischen  Geruch  der  w^eiblichen  Genitalien  und 
seine  Uebertragung  auf  den  Cutmilingus  verbreitet  sich  recht  drastisch 
Ausonius  (Epigr.   82   und  84). 

Natürlich  konnte  dieser  Geruch  nicht  bloss  durch  Uebertragung 
der  spezifischen  Geruchsstoffe  der  Genitalien  hervorgerufen  werden, 
sondern  auch  infolge  lokaler  Erkrankungen  der  Mundhöhle  (Stoma- 
titis, Ulzeration  etc.)  entstehen. 

2.  Bleiche  Gesichtsfarbe.  —  Als  eine  Folge  der  Mundunzucht 
wurde  auch  die  blasse  Gesichtsfarbe  betrachtet,  und  zwar  wurde  sie 
bei  Fehlen  anderer  Krankheiten  ausschliesslich  dieser  sexuellen  Per- 
versität zugeschrieben.     Das  besagt  Epigr.  I,   77   des  Martialis: 

Pulchre  valet  Charinus,  et  tarnen  pallet. 

Parce  bibit  Charinus,  et  tamen  pallet. 

Bene  concoquit  Charinus,  et  tamen  pallet. 

Sole  utitur  Charinus,  et  tamen  pallet. 

Tingit  cutem   Charinus,   et  tamen  pallet. 

Cunnum  Charinus  lingit,  et  tamen  pallet. 
Ebenso  spielen  Juvenal  (II,  50)  und  Catullus  (LXXX)  auf 
die  Gesichtsblässe  der  Feilatoren,  Cunnilingi  und  Pathici  an.  Es  handelte 
sich  in  allen  diesen  Fällen  wohl  um  gewerbsmässige  Prostituierte, 
denn  nicht  bloss  der  Coitus  analis,  sondern  auch  die  Mundunzucht 
wurde  oft  durch  Geld  erkauft,  wie  aus  Mart.  III,  75  und  XI,  66 
hervorgeht.  Das  ausschweifende  Leben  eines  gewerbsmässigen  Wüst- 
lings war  wohl  geeignet,  die  anämische  Blässe  hervorzubringen,  die 
wir  noch  heute  bei  vielen  männlichen  Prostituierten  antreffen.  Daher 
wurde  sie  im  Altertum  bei  beiden  Kategorien  als  charakteristisches 
Merkmal  hervorgehoben. 

3.  ovvdyx^-  —  In  der  oben  mitgeteilten  Stelle  des  Lukianos 
wird  die  ovvdy/i]  (Halsbräune,  Erstickung)  als  Folge  des  Irrumiert- 
werdens    angeführt.      Man    kann    sie    als    Halsentzündung,    Angina^), 


i)  Rosenbaum    (a.  a.   O.,    S.   249)    sagt:    „Es    scheint    uns,    wenn    wir    berücksich- 
tigen,  dass  Timarchus    nicht    bloss   Fellator,    sondern    auch    Irrumator    war,    wahrscheinlicher. 


—     6i8     — 

besser  aber  wohl  noch  als  einfache  Erstickung  deuten,  wie  dies  durch 
den  Nachsatz  bewiesen  wird.  Hier  ein  syphilitisches  Leiden  anzu- 
nehmen, liegt  gar  keine  Veranlassung  vor. 

4.  Zungenaffektionen.  —  Irrtümlich  führt  Rosenbaum  (a. 
a.  O.  S.  273)  die  ,, Zungenlähmung"  als  eine  Krankheit  des  Cunni- 
lingus  an,  indem  er  als  Beweis  dafür  Epigr.  XI,  85  des  Martial 
zitiert: 

Sidere  percussa  est  subito  tibi,  Zolle,  lingua, 
Dum  lingis.     Certe,  Zolle,  nunc  futues. 
Es    handelt    sich    offenbar    um     eine    Hypoglossuslähmung    als 
Folge  einer  cerebralen  Affektion,  die  mit  der  Mundunzucht  keinerlei 
ätiologischen   Zusammenhang  zu  haben  braucht. 

Dagegen  kann  bei  dem  folgenden  Epigramm  XI,  61  die  Mög- 
lichkeit eines  Zusammenhanges  zwischen  der  Erkrankung  der  Zunge 
und  ihrer  sexuellen  Benutzung  nicht  ganz  in  Abrede  gestellt  werden. 
Das  Epigramm  lautet: 

Lingua  maritus,  moechus  ore  Nanneius, 

Summoenianis  inquinatior  buccis; 

Quem  cum  fenestra  vidit  a  Suburana 

Obscena  nudum  Leda,  fornicem  cludit 

Mediumque  mavult  basiare,  quam  summum; 

Modo  qui  per  omnes  viscerum  tubos  ibat 

Et  voce  certa  consciaque  dicebat, 

Puer  an  puella  matris  esset  in  ventre: 

—  Gaudete  cunni;  vestra  namque  res  acta  est  — 

Arrigere  linguam  non  potest  fututricem. 

Nam  dum  tumenti  mersus  haeret  in  volva 

Et  vagientes  intus  audit  infantes, 

Partem  gulosam  solvit  indecens  morbus. 

Nee  purus  esse  nunc  potest  nee  impurus. 
Es  handelt  sich  um  einen  gewerbs-  und  gewohnheitsmässigen 
Cunnilingus  und  Fellator,  dessen  üble  Gewohnheiten  so  bekannt 
waren,  dass  er  selbst  den  Bordelldirnen  Ekel  einflösste.  Dieser  ist 
plötzlich  von  einer  Krankheit  der  Zunge  ergriffen  worden,  die  sie 
gebrauchsunfähig  macht,  sodass  er  nur  noch  mit  den  Lippen  Unzucht 
treiben  kann  (nam  dum  tumenti  mersus  haeret  in  volva).    Denn  „den 


dass  er  diesen  Namen  deswegen  empfing,  weil  er,  bene  vasatus,  häufig  Angina  hervor- 
brachte, bei  denen  nämlich,  die  ihm  als  Feilatoren  dienten".  Ohne  jeden  Beweis  bringt  er 
aber  diese  Art  der  Angina  mit  den  von  Aretaios  (Lib.  I,  c.  9)  beschriebenen  sXxsa  ZvQiaxa 
zusammen,  für  deren  „syphilitische"  Natur  übrigens  ebenfalls  gar  kein  Anhaltspunkt  sich  findet. 


—     6ig      — 

eigentlichen  begierigen  Teil  lähmt  oder  löst  unziemliche  Krankheit 
auf  und  er  kann  weder  keusch  noch  unkeusch  sein."  Man  kann  mit 
Meniere^)  sehr  wohl  das  „solvere"  mit  „lähmen"  übersetzen  und 
demgemäss  eine  Zungenlähmung  annehmen.  Man  kann  aber  „solvere" 
auch  mit  „auflösen"  =  zerstören,  zerfressen  übersetzen  und  an  ein 
Zungencarcinom  denken.  Es  ist  möglich,  dass  der  Ausdruck  „indecens 
morbus"  wirklich  mit  „maladie  honteuse"  (Dupouy,  Buret),  „un- 
anständige" Krankheit  übersetzt  werden  muss.  Dann  würde  dies 
doch  höchstens  besagen,  dass  der  Dichter  gerade  die  Affektionen  des 
Teiles,  mit  dem  gesündigt  wurde,  als  eine  Art  von  gerechter  ^Strafe 
für  den  alten  eingefleischten  Cunnilingus  ansah  und  mit  dem  Worte 
„indecens"  in  diesem  Sinne,  aber  nur  in  diesem  eine  Art  von  Causal- 
nexus  zwischen  Zungenunzucht  und  Zungenaffektion  herstellte.  „In- 
decens" kann  aber  auch  „ekelhaft",  „übel"  bedeuten,  mit  blosser  Be- 
zeichnung des  Charakters  der  Krankheit  ohne  Beziehung  auf  irgend 
einen  sexuellen  Ursprung.  Handelt  es  sich  um  eine  Lähmung  oder 
um  ein  destruierendes  Geschwür  der  Zunge,  so  haben  wir  für  die 
Diagnose  Syphilis  keinerlei  bestimmte  Anhaltspunkte. 

Den  letzten  Vers  des  Epigramms  hat  Rosenbaum  richtig  erklärt, 
wenn  er  darauf  hinweist,  dass  durch  die  Zungenaffektion  nicht  nur 
das  arrigere,  sondern  überhaupt  das  „impurus"  (Cvmnilingus)  sein 
unmöglich  ward.  „Purus"  aber  war  er  überhaupt  nicht  mehr,  seitdem 
er  gewohnheitsmässig  die  Unzucht  des  Cunnilingus  trieb,  wobei  für 
die  Auffassung  „purus"  Mart.  IX,  63  und  Petron.,  Sat.  9  zu  ver- 
gleichen ist. 

Dass  ausser  den  verschiedenen  Arten  der  Betätigung  der  Homo- 
sexualität und  der  Mundunzucht  auch  alle  anderen  heute  bekannten 
sexuellen  Perversitäten  und  abnormen  sexuellen  Praktiken  bei  den 
Alten  vorkommen,  mag  durch  folgende  kurze  Andeutungen  erhärtet 
werden,  da  sich  eine  nähere  Besprechung  wegen  der  geringen  Be- 
ziehungen der  meisten  dieser  Perversitäten  zu  den  venerischen  Krank- 
heiten erübrigt. 

Die  Koprolagnie  und  der  Masochismus,  als  deren  Teil- 
erscheinungen ja  schon  die  Fellatio  und  die  Praktiken  des  Cunnilingus 
aufzufassen  sind,  werden  in  drastischen  Schilderungen  bei  Seneca 
(De  beneficiis  IV,  31;  Epist.  87),  Galen  (ed.  Kühn  XII,  24g  s.  oben) 
und  Catullus  (Carm.  98)  beschrieben. 


I)  Zitiert  nach  Edmond  Dupouy,   Medecine  et  moeurs  de  l'ancienne  Rome  d'apres 
les  poetes  latins,  Paris   1885,  S.  339. 

Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  40 


620       — 

Wie  sehr  sadistische  Neigungen,  abgesehen  von  den  harmlosen 
„Liebesbissen",  deren  Wollust  Catull  (Carm.  8),  Horatius  (Carm.  I, 
13,  11;  Tibull.  I,  6,  14;  I,  8,  38),  O vid  (Amor.  I,  7,  41)  u.  A.  besingen, 
besonders  in  der  römischen  Kaiserzeit  verbreitet  waren,  erweisen  die 
ausführlichen  Schilderungen  des  Sueton,  Tacitus  und  der  Scrip- 
tores  Historiae  Augustae  über  die  mit  Grausamkeit  innig  ver- 
knüpften wollüstigen  Exzesse  eines  Tiberius,  Caligula,  Nero, 
Heliogabal  usw. 

Auch  der  sexuelle  Fetischismus  war  nicht  unbekannt.  Be- 
sonders der  Geruchsfetischismus  musste  in  einer  Zeit  hervor- 
treten, die  mehr  als  heute  Parfüme  und  Wohlgerüche  zur  Körperpflege 
und  sexuellen  Anreizung  benutzte.  Die  sexuelle  Beziehung  wird  denn 
auch  öfter  angedeutet,  z.  B.  von  Catullus  (Carm.  13)  und  Martial 
(IX,  62). 

Einen  eigentümlichen  Fetischismus,  die  Vorliebe  für  Greisinnen 
(sog.  „Gerontophilie"  der  neueren  Autoren),  schildert  Martial  im 
Epigramm  III,  76: 

Ariigis  ad  vetulas,   fastidis,   Basse,  puellas, 

Nee  formosa  tibi,  sed  moritura  placet. 

Hie,  rogo,  non  furor  est,  non  haec  est  mentula  deniens? 

Cum  possis  Hecuben,  non  potes  Andromachen ! 

welche  merkwürdige  sexuelle  Perversion  also  schon  Martial  für  etwas 
Krankhaftes,  für  ein  Zeichen  von  Psychopathie  erklärt  hat. 

Der  isolierte  Kleiderfetischismus  wird  im  Talmud  (Jeb.  76a) 
erwähnt,  wo  es  heisst,  dass  der  Anblick  von  Frauenkleidern  allein 
schon  sexuell  erregend  wirken  kann. 

Den  Incest,  der  im  allgemeinen  im  Altertum  nicht  ganz  so 
stark  verabscheut  wurde  wie  in  der  Neuzeit,  geisselt  Martial  (II,  4): 

O  quam  blandus  es,  Ammiane,  matri? 
Quam  blanda  est  tibi  mater,  Ammiane! 
Fratrem   te  vocat  et  soror  vocatur. 
Cur  vos  nomina  nequiora   tangunt? 
Quare  non  iuvat  hoc  quod  estis   esse? 
Lusum  creditis  hoc  iocumque?    Non  est: 
Matrem,  quae  cupit  esse  sororem, 
Nee  matrem  iuvat  esse  nee  sororem. 


und  XII,  20: 


Quare  non  habeat,   Fabulle,   quaeris 
Uxorem  Themison?  habet  sororem. 


und  Catull  schildert  (Carm.  88,  89,  90,  91)  die  Incestorgien  des  Gellius, 
der  mit  Mutter,  Schwester,  Oheim  und  Cousinen  geschlechtlich  verkehrt! 


621        

Sehr  verbreitet  muss  nach  den  häufigen  Erwähnungen  die 
Sodomie  gewesen  sein,  deren  Vorkommen  auch  durch  bildliche  Dar- 
stellungen bezeugt  wird  und  deren  klare  Definition  bereits  im  Penta- 
teuch  (Levit.  XX,  Vers  15 — 16;  vgl.  ferner  Exod.  XXII,  V.  19;  Levit. 
VII,  V.  21;   XVIII,  V.  23;   Deuteron.  XXVII,  V.  21)  gegeben  wird. 

Ueber  die  Sodomie  als  religiösen  Kult  berichten  Herodot  und 
Strabo,  wo  sie  von  der  Vermischung  der  Weiber  von  Mendes  in 
Aegypten  mit  Böcken  berichten  (Her od.  II,  46;  Strabo  XVII,  802; 
vgl.  auch  Plut,  mor.  gSg).  Bekannt  ist  auch  die  Sage  von  der 
Liebe  der  Pasiphae  zu  einem  Stier  (Ovid  ars  amat.  I,  289 — 326; 
Apollodor.  III,  8;  Vergil.,  ecl.  6,  45  u.  ö.).  Dass  in  der  Kaiser- 
zeit wirkliche  sodomitische  Exzesse  von  Weibern  mit  Thieren  vor- 
kamen, beweist  z.  B.  die  bekannte  Stelle  des  Juvenal  (VI,  332 — 334) 
über  die  Ausschweifungen  beim  Fest  der  Bona  Dea: 

.  .  .  hie  si 
Quaeritur  et  desunt  homines,  mora  nulla  per  ipsam. 
Quo  minus  imposito  clunem  summittat  asello. 

Weshalb  gerade  hier  für  die  Befriedigung  nymphomanischer  Be- 
gierden ein  Esel  gewählt  wird,  deutet  Juven.IX,  92  an,  wo  die  Salacität 
der  Esel  hervorgehoben  wird,  auf  deren  Ursache  von  Lampridius 
(Commod.  10)  angespielt  wird:  habuit  et  hominem  pene  prominente 
ultra  modum  animalium,  quem  onon  appellabat,  sibi  carissimum.  Eine 
sehr  detaillierte  Schilderung  des  Verkehrs  zwischen  Weib  und  Esel 
giebt  Apulejus  (Aletam.  X,  22),  der  hierin  ohne  Zweifel  das  Vor- 
bild für  ganz  ähnliche  Scenen  in  Voltaires  „Pucelle"  und  Nerciats 
„Diable  au  corps"  geworden  ist. 

Auch  Bühne  und  bildende  Kunst  verschmähten  nicht  die  Darstellung  der  Unzucht 
mit  Tieren.  Nach  Friedländer ^)  kamen  unter  den  mythologischen  Pantomimen  auch  Dar- 
stellungen der  Europa  mit  dem  Stier  vor,  worauf  Aelian  (Nat.  anim.  VII,  4)  hindeutet, 
wenn  er  sagt,  daß  Stiere  abgerichtet  wurden,  Frauen  zu  tragen.  Noch  deutlicher  und 
drastischer  war  nach  Suetonius  (Nero  12)  die  Darstellung  der  Pasiphae  mit  dem  Stier: 
inter  pyrrhicharum  argumenta  taurus  Pasiphaen  ligneo  juvencae  simulacro  abditam  iniit,  ut 
multi  spectantiym   crediderunt  (vgl.   dazu  auch  Martial.   Spect.   5). 

Berühmt  ist  die  antike  Marmorgruppe  im  Museo  nazionale  zu  Neapel,  die  einen 
bärtigen  Pan  im  Akte  der  Begattung  mit  einer  Ziege  darstellt"). 

Ein  Vasenbild  der  gleichen  Sammlung  stellt  den  auf  einem  Esel  reitenden  Bacchos 
dar,  während  ein  ihm  folgender  Satyr  mit  dem  Esel  Unzucht  zu  treiben  im  Begriffe  ist^). 
Eine  ähnliche  Scene  findet  sich  auf  einem  zweiten  Vasenbilde*). 


i)  L.  Friedländer  a.  a.  O.,  II,  S.  409. 

2)  Vgl.   darüber  Gerhard  und  Panofka,  Neapels  antike  Bildwerke,  Bd.   I,  S.  461 
und  „Herculanum  et  Pompei  etc.  Musee  secret",  Paris   1842,  S.   222  und  Tafel  56. 

3)  H.  Heydemann,  Die  Vasensammlungen  des  Museo  Nazionale  zu  Neapel,  Berlin 
1872,  S.  321    (Nr.   2501). 

4)  Ebenda,  S.  879. 

40* 


622 

Das  Altertum  hatte,  wie  schon  früher  erwähnt,  eine  raffinierte 
Technik  des  Geschlechtsverkehrs  ausgebildet,  die  nicht  bloss  die 
wollüstigen  Bewegungen  während  des  Coitus  (man  vgl.  darüber 
Priap.  i8  und  Lucret.  IV,  i246ff.),  sondern  vor  allem  die  verschieden- 
artigen Stellungen,  oyj]jj,aTa,  Veneris  figurae  (Ovid.,  Trist.  II, 
523),  'A(pQoöixi]g  TQOJioi  (Aristoph.,  Eccles.  8),  deren  Kombination 
in  den  berüchtigten  spinthriae  des  Tiberius  (Sueton.,  Tiber.  45) 
den  Gipfelpunkt  sexueller  Ausschweifung  erreichte.  Für  die  Ver- 
breitung venerischer  Affektionen,  insbesondere  einer  etwaigen  Syphilis, 
hatten  diese  Raffinements  gewiss  grosse  Bedeutung.  Das  gilt  be- 
sonders von  denjenigen,  bei  denen  mehr  als  zwei  Personen  sexuell 
aktiv  waren. 

Es  scheint,  dass  die  Symplegmata  und  Spinthrien  in  den  Bordellen  auf  Bildern  dar- 
gestellt waren,  die  zur  Anleitung  dienten.  ,, Besondere  Erwähnung",  sagt  Helbig^),  „ver- 
dient ein  Bild  im  pompejanischen  Bordell :  ein  nackter  ithyphallischer  Mann  liegt  auf  einem 
Bette  und  zeigt  einem  neben  ihm  stehenden  Mädchen  in  grüner  Tunica  eine  an  der  Wand 
hängende  Gemäldetafel,  auf  welcher  ein  Symplegma  dargestellt  ist.  Die  Gemäldetafel  ist  an 
beiden  Seiten  mit  Klappen  versehen.  Diese  Darstellung  weist  auf  die  praktische  Anwendung 
hin,   welche  man  von  den   im  pompejanischen   Bordell  gemalten  Symplegmata  machte". 

Es  sind  zahlreiche  pompejanische  Symplegmendarstellungen  auf 
uns  gekommen.  Es  sei  nur  auf  die  Schilderungen  bei  Gerhard  und 
Panofka^),  Helbig'^),  Roux  und  Barre*)  u.  A.  hingewiesen. 

In  der  Kaiserzeit  gelangte  die  Technik  der  Symplegmata  zur  höchsten  Ausbildung  und 
zwar  bezog  sie  sich  sowohl  auf  die  Erfindungen  gewisser  Wollustapparate  als  auch  auf  die 
raffinierte  Ausbildung  der  Symplegmen  zwischen  mehreren  Personen  in  den  sog.  „spinthriae". 
Man  schrieb  hauptsächlich  dem  Tiberius,  dem  Caligula  und  dem  Nero  beiderlei  Er- 
findungen zu,  wie  aus  des  Lampridius  Bemerkung  über  Heliogabalus  (Heliogabal.  33): 
„libidinum  genera  quaedam  invenit,  ut  spinthrias  veterum  imperatorum  vinceret,  et 
omnes  apparatus  Tiberii  et  Caligulae^)  et  Neronis  norat"  hervorgeht.  Die  be- 
stimmte Angabe  des  Tacitus  (Annal,  VI,  i:  lunc  primum  ignota  ante  vocabula  sellario- 
rum  et  spin  thriarum ,  ex  foeditate  loci  et  multiplici  patientia),  dass  Tiberius  die  Er- 
findung der  ,,sellarii"  und  ,, spinthriae"  gemacht  habe,  wird  durch  Sueton  (Tiber.  43: 
secessu  vero  Capreensi  etiam  sellaria  excogitavit,  sedem  arcanarum  libidinum,  in  quam 
undique  conquisiti,  puellarum  et  exoletorum  greges  monstrosique  concubitus  repertores,  quos 
spintrias  appellabat,    triplici  serie    connexi,    in    vicem    incestarent    coram    ipso,   ut  aspectu 


i)  W.    Heibig,  Wandgemälde    der    vom    Vesuv    verschütteten    Städte    Campaniens, 
Leipzig   1868,  S.   371. 

2)  A.  a.  O.,  S.  456,  457,  458,  459—461,  462,  465,  470  u.  ö. 

3)  A.  a.  O.,  S.   371   u.  ö. 

4)  Roux    et    Barre,    Herculanum    et    Pompei,    Tome  VIII,    Paris    1842,    S.    9    bis 
zum    Schluss. 

5)  Von  Caligula  berichtet  allerdings  Sueton  (Calig.    16),    dass   er  die  Erfinder  der 
Spinthrien  aus  Rom   verbannt  habe  und   beinahe  hätte  ertränken   lassen. 


—     623      — 

deficientis  libidines  excitaret)  bestätigt.  Nach  Forberg ^)  war  die  „sellaria"  ein  mit  Polstern 
ausgestatteter  Raum  und  die  „sellarii"  waren  diejenigen,  die  auf  diesen  Ruhebetten  sich 
gegenseitig  schändeten.  Es  ist  Forberg  und  anderen  Autoren  eine  interessante  Stelle  in 
des  Spartianus  Lebensbeschreibung  des  Kaisers  Melius  Verus  entgangen,  die  vielleicht 
etwas  Licht  auf  die  Beschaffenheit  dieser  für  "Wollustzwecke  benutzten  Polsterbetten  wirft. 
Spartianus  sagt  (Helius  c.  5):  fertur  etiam  aliud  genus  voluptatis,  quod  Verus  invenerat 
nam  lectum  eminentibus  quattuor  anacliteriis  fecerat  minuto  reticulo  undique  inclusum  eumque 
foliis    rosae,    quibus    demptum    esset    album,    replebat    iacensque    cum    concubinis  velamine  de 

liliis    facto    se    tegebat    unctus  odoribus  Persicis atque  idem  Apicii   Caeli  relata,    idem 

Ovidii  libros  amorum  in  lecto  semper  habuisse,  idem  Martialem,  epigrammaticum  poetam, 
Vergilium  suum  dixisse.  Wahrscheinlich  handelte  es  sich  bei  der  sellaria  des  Tiberius  um 
ähnlich  raffinierte  Wollustlager  als  Vorbedingung  für  die  Ausführung  der  Spinthrien. 

Der  Ausdruck  „spintria"  oder  ,,spintheria"  wurde  auch  auf  die  an  diesen  Orgien  be- 
teiligten Personen  angewendet,  wie  aus  Sueton.,  Vitell.  3,  erhellt,  wo  Vitellius  als  einer 
der  Lustknaben  des  Tiberius  erwähnt  wird:  Pueritiam  primamque  adulescentiam  Capreis 
egit  inter  Tiberiana  scorta,  et  ipse  perpetuo  spintheriae  cognomine  notatus  ex- 
istimatusque  corporis  gratia  initium  et  causa  incrementorum  patii  fuisse,  sequenti  quoque 
aetate  omnibus  probris  contaminatus. 

In  Uebereinstimmung  mit  dieser  Stelle  deutet  Georges  in  seinem  ,, Lateinisch- 
Deutschen  Wörterbuch"  (5.  Aufl.,  Leipzig  1885,  Sp.  2398)  das  Wort  „spintria"  als  „qui 
muliebria  patitur  seque  aliis  abutendum  praebet".  Etymologisch  wird  es  aus  dem  griechischen 
a(piyntrjQ  abgeleitet.  Nach  Festus  (Zitat  bei  Forberg  1.  c.  S.  373)  ist  „spinter  armillae 
genus,  quo  mulieres  utebantur  brachio  summo  sinistro",  „spintria"  bezeichnet  also  das 
kettenartige  Zusammenhängen  der  an  dem  Symplegma  Beteiligten  und  zwar  gewöhnlich 
„triplici  Serie"  (Sueton.,  Tiber.  43)  die  sexuelle  Verbindung  von  drei  Individuen.  Solche 
„triplex  series"  schildern  Martial  (X,  81),  Seneca  (Nat.  Quaest.  I,  16),  Ausonius 
(Epigr.  59),  wobei  sie  bei  jenen  beiden  aus  einer  Frau  und  zwei  Männern,  bei  letzterem 
aus  drei  Männern  besteht.  Natürlich  kamen  auch  Spinthrien  zu  fünf  und  mehr  Personen 
vor,  nach  der  Versicherung  des  Martial  XII,  43: 

Quo  symplegmate  quinque  copulentur 
Qua  plures   teneantur  a  catena. 

Ebenso  IX,  32   (Symplegma  zu  vieren). 

Es  braucht  wohl  nicht  näher  ausgeführt  zu  werden,  weshalb 
gerade  bei  diesen  Spinthrien  die  Gefahr  einer  venerischen  Ansteckung 
besonders  gross  sein  musste,  grösser  noch  als  bei  allen  anderen  Be- 
tätigungen der  antiken  Psychopathia  sexuahs,  und  weshalb  auch  sie 
venerische  Affektionen  in  ungewöhnlicher  Lokalisation  zur  Folge 
haben  konnten. 

Von  der  Betrachtung  der  Prostitution  und  der  Psychopathia 
sexuaHs  im  Altertum  wenden  wir  uns  nunmehr  zu  einer  kurzen 
Uebersicht  über  die  Faktoren,  die  eine  Verbreitung  der  venerischen 
Krankheiten  im  Altertum  entweder  begünstigen  oder  hemmen  mussten. 


6)  Forberg  a.  a.  O.,   S.  373. 


—     624     — 

§  4o.    Begünstigende  und  hemmende  Faktoren  für  die  Verbreitung 
der  venerischen  Krankheiten  im  Altertum. 

Es  ist  schon  früher  (S.  509  ff.)  von  der  Prävalenz  der  physischen 
Seite  in  der  antiken  Liebe  die  Rede  gewesen.  Die  hedonistische 
Lebensanschauung-,  wie  sie  in  der  berühmten  Grabschrift  des  Sar- 
danapalos (Athen,  XII,  39  [p,  52 9 f.]):  äxQi  ecogcov  xov  ^Mov  cpcbg  eniov 
E(payov  ■fjcpQodioiaoa  zum  Ausdruck  kommt,  wurde  bezüglich  der  Liebe 
nicht  nur  von  einigen  philosophischen  Sekten  verbreitet,  sondern  war 
eine  communis  opinio  bei  Griechen  und  Römern.  Der  Geschlechts- 
genuss  galt  entgegen  der  heutigen  Anschauung  als  genau  so 
notwendig  wie  Essen  und  Trinken.  Deshalb  wurden  schon  früh 
Vorschriften  über  den  Beischlaf  in  die  Gesetze  aufgenommen.  So 
verlangte  Solon  drei  Kohabitationen  im  Monat  (Plutarch.,  Solon 
20,  6),  was  wohl  ungefähr  mit  der  Meinung  der  griechischen  Aerzte 
übereinstimmt,  die  Celsus  (I,  i)  wiedergibt,  der  sowohl  allzu  häufige 
wie  allzu  seltene  Ausübung  des  Coitus  widerrät,  im  übrigen  bereits 
die  so  grossen  individuellen  Unterschiede  in  Beziehung  auf  die 
jedem  gemässe  Frequenz  hervorhebt.  Die  sexuelle  Abstinenz  hielt 
man  jedenfalls  für  gesundheitsschädlicher  als  den  massigen  Geschlechts- 
verkehr.    Bezeichnend  hierfür  ist  Horat.,  Sat.  I,  2,    116 — 119: 

tument  tibi  cum  inguina,  num,  si 

ancilla  aut  verna  est  praesto  puer,  impetus  in  quem 

continuo  fiat,  malis  tentigine  rumpi? 

non  ego  .  .  . 
Deshalb    empfiehlt    derselbe   Dichter    auch    ohne   Bedenken    den 
Bordellbesuch   zur  Stillung   der   ,,taetra  libido"   und  zum  Schutze  der 
verheirateten  Frauen  (Sat.  I,  2,  31 — 35  und  Sat.  II,  7,  47 — 52). 

Ansichten  wie  die  des  Epikuros,  dass  der  Coitus  niemals  der 
Gesundheit  zuträglich  sei  ^),  waren  auch  später  unter  Aerzten  und 
Laien  nur  vereinzelt.  Man  legte  im  Gegenteil  dem  Beischlafe  die 
grösste  Bedeutung  für  das  Wohlbefinden  bei.  Ich  erwähne  z.  B.  die 
interessanten  Aeusserungen  des  Galen os  und  des  Ruphos  von 
Ephesus  bei  Oreibasios  (ed.  Bussemaker  et  Daremberg  I,  536 — 551) 
über  die  Gefahren  und  Schädlichkeiten  der  sexuellen  Abstinenz.  Ov 
jurjv  JiavTaTzaoi  xdxiora,  sagt  Ruphos,  a(pQodioia.  ioriv,  ei  xal  xov  xaigöv 
xal  To  fX£TQov  oHOTieiv  ed^eXoig'  (hcpeXeiai  de  e^  avrcbv  eloiv  aide. 
JiXfjOjuovijv   re   xevcooai,   xal   eXacpQOv   TiaQon'/^eTv   to    ow/ua,  xal  elg  av^ijotv 


i)  'A<pQo8iaicov  ÖS  xara  fikv  'Ejiixovqov  ovdsfiia  XQfjoi?  vyieivrj  (Galen  bei  Oribas., 
ed.  Bussemaker-Daremberg  I,  536). 


—      625      — 

JiQOXQSxpai,  xal  ävÖQCodeoTEQOv  aTioqpfjvai,  xard  de  yjv)(i]v  ovveortjxora  rs 
Xoyiojuov  öialvet,  xal  OQyfjg  dxgarovg  enavirjoiv  öib  xal  r(bv  [xeXayxoXix&v, 
a>g  TL  xal  ezeQOV,  l'ajua  enurjöeioTarov  juioyeod-ai. 

Die  Frage  nach  der  Zulässigkeit  und  Berechtigung  des  ausser- 
ehelichen  Geschlechtsverkehrs  wurde,  ebenfalls  im  Gegensatz  zu  heutigen 
Anschauungen,  von  den  Alten  unbedenklich  bejaht.  Charakteristisch 
hierfür  ist  die  erwähnte  Stelle  bei  Horaz  (Sat.  I,  2,  3off.)  Da  über- 
haupt leidenschaftliche  Liebe  als  etwas  Krankhaftes,  Unvernünftiges 
galt,  empfahlen  die  Alten  als  Heilmittel  gerne  die  Ablenkung  durch  den 
Geschlechtsverkehr  mit  Dirnen  und  Kokotten.  „Nil  nisi  lascivi  a  me 
discuntur  amores",  sagt  Ovid  (Ars  amatoria  III,  27).  Er  giebt  der 
Venus  tuta,  der  vom  Zwange  des  Gesetzes  befreiten  freien  Liebe  den 
Vorzug  (I,  33;  II,  599),  und  so  singt  auch  Lucretius  (De  rerum 
natura  IV,    1065 — 1068): 

Nee  Veneris  fructu  caret  is  qui  vitat  amorem, 

sed  potius  quae  sunt  sine  poena  commoda  sumit: 

nam  certe  purast  sanis  magis  inde  voluptas 

quam  miseris  .... 
In  den  griechischen  Zauberpapyri  sind  nach  Sudhoff ^)  für  die 
aktive  Betätigung  des  normalen  und  perversen  Geschlechtsverkehrs 
nicht  selten  Hilfs-  und  Stärkungsmittel  angegeben,  namentlich 
Erektionsbeförderungsmittel,  z.  B.  in  den  Greek  Papyri  des  British 
Museum  (I,  1893,  S.  90).  So  im  Anschluss  an  Beförderungsmittel  der 
Trinkfestigkeit  zwei  Anweisungen,  wie  man  den  Geschlechtsverkehr 
fleissig  ausüben  und  jederzeit  auf  Wunsch  über  Erektionen  verfügen 
könne: 

ta.    yroAAa    ßiveiv     övvao^ai:     ozQoßUai    jievn'jxovTa    jueiä    ovo 

xva.'&ayv  yXvxeig 

xal  xoxxovg  Tiejiegeayg  rgixpag  nie. 
iß.    OTVEiv^),  OTE  d^eXeig:  jiejteqi  juerd  /.leXiTog  rgiyjag  XQ^^  ^of  t6 

Tifeljjua. 
Sudhoff  verweist  auf  das  reiche  Material  von  ähnlichem  Liebes- 
zauber, oft  drastischer  Art,  in  den  magischen  Texten,  besonders  in 
dem  grossen  Louvre-Papyrus,  den  Wessely  1888  in  den  Denk- 
schriften der  Wiener  Akademie  (Bd.  XXXVI,  S.  44 — 126)  samt  dem 
Londoner  „Papyrus  Anastasy"  (S.  127  — 139)  herausgegeben  hat.    Viel- 


i)  Karl  Sudhoff,  Aerztliches  aus  griechischen  Papyrus-Urkunden,  Leipzig  1909, 
S.    HO — III. 

2)  oxveiv  =  steif  sein,  Erektionen  haben.  —  Oefter  finden  sich  renommistische  Aus- 
lassungen über  Beweise  ungewöhnlicher  Potenz,  z.  B.  bei  Ovid.,  Amor.  III,   7,   23  —  26. 


—     626     — 

leicht  waren  auch  die  in  den  Tebtynis-Papyri  (I,  No.  6,  S.  58 — 65  bei 
Sudhoff  a.  a.  O.  S.  114 — 115)  erwähnten  äcpQoöioia  Mittel  zur  Er- 
höhung der  geschlechtlichen  Potenz. 

Eine  sehr  interessante  Zusammenstellung  der  gebräuchlichsten 
Erektionsmittel,  ivtarixd  rov  aiöoiov,  findet  sich  übrigens  bei  Galen os 
(ed.  Kühn  XIV,  487 — 489),  wo  ausser  dem  oben  erwähnten  Pfeffer 
noch  viele  andere  Potenzmittel  genannt  werden  und  die  vielfachen 
organtherapeutischen  Anklänge  ä  la  Brown-Sequard  bemerkenswert 
sind  (Genuss  von  tierischen  Hoden,  Einreibung  des  Membrum  mit 
Stierurin,  der  unmittelbar  nach  dem  Coitus  gelassen  ist,  Genuss  ver- 
schiedener Pflanzensamen). 

Von  den  Dichtern  der  Kaiserzeit  werden  jNIittel  zur  Steigerung  der  Potenz  bezw.  zur 

Beseitigung  von  Impotenz  häufig  erwähnt.     So  spricht  Martialis  (X,  4,  6)  von  „amatrices 

aquae",    vielleicht   sexuell    stimulierenden   kohlensauren  Wässern,  und  zählt  an  anderer  Stelle 

(III,   75)    die    in    der   römischen  Lebewelt  am  meisten  gebräuchlichen  vegetabilischen  Aphro- 

disiaca  auf: 

Stare,   Luperce,   tibi  iam  pridem  mentula  desit, 

Luctaris  demens   tu   tarnen  arrigere. 

Sed  nihil  erucae  faciunt  bulbique  salaces, 

Inproba  nee  prosunt  iam  satureia  tibi. 
Von  diesen  scheint  er  die  Zwiebeln  für  das  wirksamste  Mittel  zu  halten  (XIII,  34): 
Cum  sit  anus  coniunx   et  sint   tibi  mortua  membra, 
Nil  aliud  bulbis  quam  satur  esse  potes. 
Zauberinnen    und    Hexen    waren    sehr    erfahren    in   der  Bereitung   von  Liebestränken, 
aber    auch    von    potenzfeindlichen    Mitteln    (vgl.    die    horazische   Canidia  Epod.  V;  Sueton. 
Caligula  50;   Juvenal.   VI,    616),    die    ,,Thessala    philtra"    (Juvenal.   VI,    610)    waren    be- 
sonders   berüchtigt    in    dieser  Beziehung.     Meist    wurden    sie   in  Verbindung   mit   magischen 
Proceduren,    Zaubersprüchen    und    Zaubergesängen    angewendet    (Juvenal.   VI,    133).      Ein 
beliebter  Bestandteil  der  Liebestränke  war  das  „Hippomanes",  nach  Theokritos  (II,  48 — 49) 
ein  Arkadisches  Kraut,  nach  Vergil  (Georg.  III,   281 — 283)  der  „Brunstschleim  der  Stuten, 
den   oft  Stiefmütter  sammelten  und  mit  Kräutern  und  verderblichen  Worten   mischten",  nach 
Plinius  (Nat.  histor.   VIII,    42)    ein    „auf    der  Stirn    des  neugeborenen  Füllens  befindlicher 
schwarzer  Körper   von    der  Grösse   einer  Feige,    welchen    die  Mutter   sofort  verschlingt  oder 
die   Geburt    nicht    an    die   Euter    lässt".      Dieses   „amoris    veneficium"    war   sehr   gefürchtet. 
Caesonia    soll   dieses  aphrodisische  Gift  ihrem  Gemahl  Caligula   beigebracht  und  dadurch 
seinen   Wahnsinn  herbeigeführt  haben   (Sueton.   Calig.    50;  Juvenal.   VI,   615 — 616). 

Die  bei  weitem  ausführlichste  und  interessanteste  Schilderung  der  Impotenz,  ihrer 
Folgen  und  Behandlung  findet  sich  bei  Petronius  (Sat.  126 — 139).  Encolpios  hat  in 
Kroton  unter  dem  Namen  Polyaenus  ein  Liebesverhältnis  mit  einer  vornehmen  und  schönen 
Dame  Circe  angeknüpft.  Als  sie  aber  auf  dem  Rasen  liegen  „quaerentes  voluptatem  robustam'', 
da  versagt  dem  Encolpios  plötzlich  die  Manneskraft.  Erstaunt  fragt  Circe  ihn,  ob  ihm  etwa 
ihr  Kuss  oder  Atem  zuwider  oder  ob  der  Schweissgeruch  ihrer  Achseln  ihn  abstosse.  Es 
ist  interessant,  dass  sie  nicht  etwa  fragt,  wie-das  heute  vielleicht  eine  galante 
Dame    thun  würde:    Oder    fürchtest  Du,  dass  ich  geschlechtskrank  sei?^).     Er 


i)  Ebenso    fehlt   eine   solche  Anspielung   gänzlich  in  den   Worten,    womit  die  Circe 
nachher   ihre  Dienerin  Chrysis   nach    der  Ursache  der  plötzlichen  Kälte  des  Encolpios  fragt: 


—     627     — 

erwidert  ,,toto  corpore  velut  luxato",  dass  er  behext  sein  müsse  (veneficio  contactus  sum) 
und  fragt  sich  „an  vera  voluptate  fraudatus  essem",  um  dann  schließlich  dem  Giton  zu  sagen: 
crede  mihi,  frater,  non  intellego  me  vinnn  esse,  non  sentio,  funerata  est  illa  pars  corporis, 
qua  quondam  Achilles  eram". 

Encolpios  unterwirft  sich  sodann  nach  einem  stärkenden  Regime  und  dem  Genüsse 
von  Zwiebeln  der  folgenden  geheimnisvollen  Procedur,  die  die  alte  Hexe  Proselenos  mit  ihm 
vornimmt.  Sie  umwickelt  seinen  Hals  mit  einer  bunten  Schnur  und  schmiert  ihm  ein  Ge- 
misch von  Sand  und  Speichel  auf  die  Stirn,  wobei  sie  ein  Zauberlied  singt.  Darauf  muss 
er  dreimal  ausspucken  und  dreimal  Steinchen  in  seinen  Busen  werfen,  die  sie  selbst  gesegnet 
und  in  Purpur  gewickelt  hat.  Dann  „admotis  manibus  temptare  coepit  inguinum  vires", 
was  denn  auch  augenblicklichen  Erfolg  hat.  Doch  leider  ist  der  Erfolg  nur  vorübergehend. 
Encolpios  erlebt  bei  der  Circe  ein  zweites,  noch  schmählicheres  Fiasko  und  wird  von  ihren 
Sklaven  aus  dem  Hause  geprügelt. 

Die  Proselenos  führt  ihn  dann  zu  der  Priesterin  des  Priapos,  der  Oenothea,  die  nun 
allerlei  geheimnisvolle  Proceduren  vornimmt,  bei  denen  Bohnen,  ein  uralter  Tierschädel,  drei 
Gänse,  die  heiligen  Vögel  des  Priapos,  Haselnüsse,  die  in  eine  Schale  mit  Wein  geworfen 
werden,  Prophezeiungen  aus  der  Gänseleber  u.  s.  w.  eine  Rolle  spielen  und  der  Becher  un- 
gemischten Weines  fleissig  kreist.  Dann  geht  die  Oenothea  zu  einer  sehr  drastischen 
lokalen  Reizung  über,  die  folgendermaßen  beschrieben  wird:  „Profert  Oenothea  scorteum 
fascinum,  quod  ut  oleo  et  mmuto  pipere  atque  urticae  trito  circumdedit  semine,  paulatim 
coepit  inserere  ano  meo  .  .  .  hoc  crudelissima  anus  spargit  subinde  umore  femina  mea. 
nasturcii  sucum  cum  habrotono  miscet  perfusisque  inguinibus  meis  viridis  urticae  fascem 
comprehendit  omniaque  infra  umbilicum  coepit  lenta  manu  caedere." 

Es  geht  aus  der  weiteren  Erzählung  nicht  klar  hervor,  ob  diese  Flagellationskur  der 
Impotenz  den  gewünschten  Erfolg  gehabt  hat.  Nach  den  darauf  folgenden  Versen,  die  mit 
den  Worten  schliessen: 

me  quoque  per  terras,  per  cani  Nereos  aequor 
Hellespontiaci  sequitur  gravis  ira  Priapi  ^), 
scheint  es  nicht  der  Fall   gewesen  zu  sein. 

Galt  den  Alten  die  Befriedigung  des  Geschlechtstriebes  als  etwas 
Notwendiges  und  Natüriiches  und  bezeugen  auch  zahlreiche  Sentenzen 
die  naive  Freude  am  Geschlechtsgenusse  (z.  B.:  nam  quis  concubitus, 
Veneris  quis  gaudia  nescit?  [Petron.  132];  siquis  amat  quod  amare 
iuvat  feliciter  ardet  [Ovid,  Remed.  amor.  13];  Vivamus,  mea  Lesbia, 
atque  amemus  [Catull.  V]),  so  verwerfen  sie  doch  alle  Exzesse  der 
Sinnenlust,  vor  allem  den  übermässigen  Liebesgenuss.  Diese  gute 
und  diese  böse  Seite  der  Liebe  kommen  in  Aussprüchen  wie  dem 
des    A  pul  ejus   (Metam.   ed.   Altenburg   1778,   S.   145):    flamma   saevi 


„die,  Chrysis,  sed  verum:  numquid  indecens  sum?  numquid  incompta?  numquid  ab  aliquo 
naturali  vitio  (d.  h.  angeborener  Fehler)  formam  meam  excaeco?  noli  decipere  dominam 
tuam,  nescio  quid  peccavimus"  (Sat.    128). 

l)  Dass  die  Impotenz  als  ein  vom  Priapus  verhängtes  Schicksal  galt,  zeigt  das  vom 
Tibullus  verfasste  Carmen  Priapeum  LXXXIII,  wo  der  Gartengott  als  ,,nefandus  desti- 
tutor  inguinuum"  angeredet  wird.  Uebrigens  enthält  auch  dieses  Gedicht  eine  gute  Be- 
schreibung der  männlichen  Impotenz. 


—     628     — 

amoris  parva  quidem  primo  vapore  delectat  sed  fomento  consuetu- 
dinis  exaestuans  immodicis  ardoribus  totos  adurit  homines,  und  dem 
bekannten  Vers  aus  der  Anthologia  latina: 

balnea  vina  Venus  corrumpunt  ^)  corpore  nostra 

conservant  eadem  balnea  vina  Venus 
bezeichnend   zum  Ausdruck.     Die   dxQaretg  und  äxöXaoroi  in  sexueller 
Beziehung   werden  u.   a.   von    Aulus   Gellius  (Noct.   Attic.   XIX,  2) 
heftig  gegeisselt. 


Wir  gehen  nunmehr  zu  einer  kritischen  Analyse  derjenigen 
Faktoren  über,  die  im  Altertum  eine  Verbreitung  der  venerischen 
Krankheiten  sehr  stark  begünstigen  und  insbesondere  der  Aus- 
breitung der  Syphilis  gewaltigen  Vorschub  hätten  leisten  müssen, 
falls  diese  damals  schon  existiert  hätte. 

I.  Grossstadtleben  und  Uebervölkerung.  —  Es  ist  von 
grosser  Bedeutung  in  Beziehung  auf  die  Verbreitung  der  Geschlechts- 
krankheiten, dass  auch  im  Altertum  dieselben  Verhältnisse  hin- 
sichtlich der  grossen  Verkehrszentren  und  einer  intensiven  Städtekultur 
existierten  wie  heute.  Auch  das  Altertum  hatte  seine  Millionenstädte 
mit  allen  ihren  Schattenseiten  und  sein  „Wohnungselend".  Besonders 
Pöhlmanns  gediegene  Untersuchung 2)  hat  diese  Verhältnisse  hell 
beleuchtet  und  legt  interessante  Vergleiche  mit  der  Gegenwart  nahe, 
die  für  unser  Thema  insofern  bemerkenswert  sind,  als  die  moderne 
Statistik  die  grossen  Städte  als  die  eigentlichen  Herde  und  Central- 
punkte  für   die  Verbreitung  venerischer  Krankheiten   erwiesen  hat^). 

Die  Schätzung  der  Einwohnerzahl  Roms  in  der  Kaiserzeit  schwankt 
zwischen  i — 2Y2  MiUionen  ^),  die  zweitgrösste  Stadt  war  Alexandria 
mit  I  Million.  Grossstädte  in  unserem  Sinne  waren  auch  Antiochia, 
Athen,  Karthago,  Byzanz  u.  a.  m. 

Sehr  anschaulich  hat  Pohl  mann  die  Folgen  der  Uebervölkerung 
in  den  antiken  Grossstädten  und  ihren  Zusammenhang  mit  den  sozialen 
Uebeln  der  Prostitution  und  des  Verbrechertums  geschildert: 


i)  Das    ,,corrumpere"    bedeutet    hier    offenbar    nur    eine    allgemeine   Schwächung    des 
Körpers  durch  allzu  viele  Bäder  und  allzu  häufigen   Wein-  und  Liebesgenuss. 

2)  Robert  Pöhlmann,  Die  Uebervölkerung  der  antiken  Grossstädte  im  Zusammen- 
hange mit  der  Gesammtentwickelung  der  städtischen   Civilisation,   Leipzig    1884. 

3)  Vgl.    mein    Werk    ,,Das  Sexualleben    unserer  Zeit   in    seinen  Beziehungen  zur  mo- 
dernen  Kultur,   Berlin    1909,    7.  —  9.  Aufl.,   S.  440. 

4)  Vgl.   P'riedländer  a.  a.  O.,   I,   58  —  70  (Ueber  die  Bevölkerung  Roms). 


—     629     — 

„Die  übermässige  Agglomeration  der  Menschen  neben-  und  übereinander')  war  ja 
gar  nicht  denkbar  ohne  die  mannigfachsten  Störungen  des  F'amilienlebens,  ohne  eine  Ver- 
mischung der  Geschlechter  und  Vermehrung  der  Versuchungen,  welche  die  Sittlichkeit  des 
Volkes  um  so  mehr  schädigen  mussten,  je  weniger  die  geringe  intellektuelle  und  moralische 
Bildung  der  Massen  ein  Gegengewicht  bot. 

Wenn  wir  ferner  hören,  dass  in  diesen  Gebäuden,  in  denen  sich  in  der  Regel  auch 
Schenkstuben  befanden,  Diebs-  und  Gaunergesindel  aller  Art  seine  Schlupfwinkel  zu  haben 
pflegte^),  so  würden  wir  schon  damit  auf  die  Annahme  einer  weitergehenden  Verwendung 
unterirdischer  Räumlichkeiten  geführt,  auch  wenn  uns  nicht  durch  Martials  gelegentliche 
Bemerkungen  über  diesen  „clusus  fomix"  als  Proletarierobdach  (X,  5,  7)  die  Existenz  der 
antiken  Kellerwohnung  zur  Genüge  feststände.  Sehr  häufig  begegnen  wir  endlich  denselben 
Räumen  als  Stätten  der  Prostitution  (Juvenal.  X,  239:  carcer  fomicis;  XI,  171:  olido 
fofnice;  Horat.  sat.  I,  2,  30:  olenti  in  fornice,  cf.  ep.  I,  64,  21;  Martial.  XII,  61,  8: 
niger  fomix;  Seneca,  vit.  beat.  7,  8),  und  es  lässt  sich  darnach  ungefähr  ermessen,  welche 
Bedeutung  durch  die  Wohnungsnot  einerseits  und  die  gewinnsüchtige  Wohnungsspekulation 
andererseits  gerade  die  Kellerwohnung  für  die  Frage  der  Behausung  der  untersten  Volks- 
schichten gewonnen  haben  m£^ 

Vergegenwärtigt  man  sich  das  Zusammenwirken  all  dieser  für  die  Gestaltung  des 
städtischen  Bevölkerungszustaiides  massgebenden  Faktoren,  so  begreift  man  das  enorme 
Wachstum  der  sogenannten  ,, gefährlichen  Klassen"  in  Rom,  die  man  wohl  mit  einem  mo- 
dernen Nationalökonomen  als  den  ,, tiefsten  Niederschlag  der  relativen  Surpluspopulation" 
der  Weltstadt  bezeichnen  kann,  des  Bettler-  und  Vagabundentums,  des  lungernden  arbeits- 
losen und  arbeitsscheuen  Gesindels  alier  Art,  der  Prostitution,  des  Gauner-  und  Verbrecher- 
tums; Elemente,  die  in  so  unheimlicher  Massenhaftigkeit  hervortreten,  dass  es  die  Ver- 
hältnisse nur  zu  treffend  charakterisiert,  wenn  man  von  der  Bevölkerung  Roms  wie  von 
einer  Kloake  oder  einem  Sumpfe  sprach,  der  ständig  der  Reinigung  und  der  Abzugskanäle 
bedürftig  sei.  Es  ist  ein  düstres,  aber  im  grossen  und  ganzen  gewiss  getreues  Bild,  welches 
Ammianus  Marcellinus  von  dem  römischen  Volksleben  seiner  Zeit  entwirft,  von  dem 
wüsten  Treiben  eines  faulenzenden  Proletariats,  das  sich  auf  Strassen  und  Plätzen,  in  den 
Schenken,  im  Circus  und  Theater  breit  machte  (besonders  XXVIII,  4:  hi  omne  quod 
vivunt  vino  et  tesseris  inpendunt  et  lustris  et  voluptatibus  et  spectaculis;  eisque  templum  et 
habitaculum  et  contio  et  cupitorum  spes  omnis  Circus  est  maximus)"  ^). 

Die  Inanspruchnahme  der  meist  dem  Sklavenstande  angehörigen 
Prostituierten  in  Rom  wurde  noch  durch  ein  bemerkenswertes  Ver- 
hältnis zwischen  der  freien  männlichen  und  der  freien  weiblichen 
Bevölkerung  begünstigt,  das  vielleicht  auch  für  andere  antike  Gross- 
städte Geltung  hatte.  Dio  Cassius  (54,  16)  berichtet  nämlich,  dass 
im  Beginne  der  Kaiserzeit  die  weibliche  freie  Bevölkerung  in  Rom  er- 


i)  Bei  Martial  VII,  20  muss  der  Schmarotzer  Santra  200  Stufen  bis  zu  seiner 
Kammer  steigen,  was  mindestens  auf   10  Stockwerke  schließen  lässt. 

2)  Sokrates,  Hist.  eccl.  V,  18.  Es  erinnert,  wie  Pöhlmann  bemerkt,  an  die 
Mysterien  moderner  Grossstädte,  wenn  uns  Sokrates  mitteilt,  dass  mit  jenen  Schenken 
häufig  Bordelle  verbunden  waren,  in  welche  man  Fremde,  besonders  Provinzialen  hinein- 
lockte, um  sie  dann  mittelst  einer  Falltüre  in  den  Backkeller  hinab  zu  befördern  und  dort 
zeitlebens  bei  erzwungener  Arbeit   festzuhalten. 

3)  Pöhlmann  a.  a.  O.  S.    105;  S.  96^ — 97;  S.  52. 


—     Ö30     — 

heblich  geringer  war  als  die  männliche.  Friedländer  ^)  setzt  die 
freie  weibliche  Bevölkerung  Roms  um  17%  geringer  an  als  die 
männliche  -).  Dadurch  wurde  ein  grosser  Teil  der  Männer  von  der 
Ehe  ausgeschlossen  und  auf  die  Benutzung  der  Prostitution  ange- 
wiesen, die  sich  wesentlich  aus  dem  Stande  der  zahlreichen  weiblichen 
Sklaven  rekrutierte  und  beständig  durch  Einwanderung  ergänzt  und 
vergrössert  wurde.  Diese  ausländischen  Dirnen,  die  natürlich  hin- 
sichtlich der  Einschleppung  und  Uebertragung  von  ansteckenden 
Krankheiten,  nicht  nur  solchen  venerischer  Natur,  besonders  gefähr- 
lich sein  mussten,  waren  in  Rom  sehr  zahlreich.  Sie  trieben  ihr 
Gewerbe  meist  als  Flötenspielerinnen  und  Tänzerinnen,  viele  stammten 
aus  Asien,  vorzüglich  dem  gräcisierten  Syrien  (die  „ambubaiae"  des 
Horatius,  Sat.  I,  2,  i)  und  bildeten  gewissermassen  die  Elite  der 
römischen  Prostitution,  deren  Manieren  und  Redeweise  römische 
Dirnen  vergeblich  nachzuahmen  strebten,  wie  Marti al  dies  ergötzlich 
schildert  (X,  68).  Dass  umgekehrt  die  römischen  Frauen  eine  grosse 
Vorliebe  für  ausländische  Männer,  wahrscheinlich  meist  Sklaven, 
hegten,  und  mit  ihnen  in  geschlechtliche  Beziehungen  traten,  lässt 
sich  aus  einem  Epigramme  (VII,  30)  desselben  Dichters  schliessen, 
in  der  er  Parther,  Germanen,  Dacer,  Ciliker,  Kappadocier,  Aegypter, 
Inder,  Juden,  Alanen  als  Liebhaber  einer  Römerin   erwähnt. 

Diese  geschlechtliche  Promiskuität  war  natürlich  am  meisten  bei 
den  grossen  Volksfesten  zu  beobachten,  wo  die  Prostitution  in  allen 
ihren  Formen  sich  breit  machte  und  wüste  Orgien  der  Unzucht  ge- 
feiert wurden.  Für  sie  gilt  das  Wort  Ovid's  (Ars  amat.  I,  59): 
Quot  caelum  Stellas,  tot  habet  tua  Roma  puellas.  Er  nennt  als  Ge- 
legenheiten für  erotische  Abenteuer  vor  allem  das  Adonisfest  (Ars 
amat.  I,  75),  von  dem  wir  ja  auch  sonst  wissen,  dass  es  ein  Dirnen- 
fest war^),  die  Naumachie  des  Augustus  (Ars  amat.  I,  171  — 176) 
im  Jahre  2  v.  Chr.,  von  der  Ovid  in  Bezug  auf  die  aussergewöhn- 
liche  sexuelle  Promiskuität  sagt: 


i)  Friedländer  a.  a.   O.   I,   59. 

2)  Er  berechnet  für  das  Jahr  4   v.   Chr.: 

320000  freie  männhche  erwachsene  Personen  der  Plebs, 
265  600  freie  weibliche  ,,  ,,  ,,        ,, 

17  000  Senatoren  und  Ritter  nebst  Angehörigen, 

13  000  Soldaten, 

60  000  Fremde. 
675  600. 

3)  Diphilos  bei  Athenaios  VII,  pag.  292  e:  ov  de  vvv  a'äyco,  jtoQvetov  iari, 
jtoXvTslcög  'Addivia  äyovo^  szaiga  /lis&''  szeqcov  jtOQvcöv  j(y8r]v.  oavxov  anoaä^Eig  rov  zs 
xöXnov  ajiozQsycov.      Vgl.   Alciphron.,   ep.   I,   39. 


—     631      — 

Nempe  ab  utroque  mari  iuvenes,   ab  utroque  puellae 
Venere,  atque  ingens  orbis  in  Urbe  fuit. 
Quis  non  invenit  turba,   quod  amaret,  in  illa  ? 
Ehen  !   quam   multos  advena   torsit  Amor ! 

ferner  die  Festfeier  eines  Feldherrntriumphes  (ibid.  I,  177 — 228) 
und  den  Fackellauf  zum  Dianahain  (I,  25g  —  262).  Ueber  die 
Feste  der  speziellen  Sexualgottheiten  und  die  Gelegenheit  zur  Un- 
zucht bei  ihnen,  ist  bereits  oben  (S.  518  ff.)  das  Wichtigste  mitgeteilt 
worden  ^). 

Auch  die  in  allen  Provinzen  stattfindenden  Feste  und  Schauspiele  zogen  immer  eine 
grosse  Menge  von  Teilnehmern  an.  Die  olympischen  Spiele  hatten  seit  alten  Zeiten  ganz 
Hellas  versammelt  und  dieses  Fest  war  noch  bis  zur  Zeit  Julians  das  besuchteste  Griechen- 
lands (Julian.,  Epist.  ad  Themistium,  p.  263  A).  Nächst  ihnen  übten  die  eleusinischen 
Mysterien  in  Athen,  die  Mysterien  von  Samothrake  die  grösste  Anziehungskraft  auf  Fremde 
aus  allen   Ländern  aus. 

Ueber  die  ausgedehnte  Prostitution  bei  solchen  F'esten 
bemerkt  Friedländer^): 

„Dass  bei  solchen  Versammlungen  Händler  und  Gewerbtreibende  und  überhaupt  alle, 
die  dort  auf  gewinnreiche  Geschäfte  hoffen  konnten,  sich  zahlreich  einfanden,  ist  selbst- 
verständlich. Dio  von  Prusa  sagt,  dass  Kuppler  mit  ihren  Dirnen  zu  der  Herbstversamm- 
lung der  Amphiktyonen  in  Pylä  und  andern  Festversammlungen  reisten  (Dio  Chrys.,  Or. 
LXXVII,  p.  561  M).  Ueberhaupt  scheinen  Kuppler  viel  umhergezogen  zu  sein;  die  Un- 
seligen, sagt  Clemens  von  Alexandria,  gehen  zur  See  mit  einer  Fracht  von  Dirnen,  wie  von 
Weizen  oder  Wein  (Clem.  Alex.,  Paed.,  IH,  22,  p.  265  Pott.).  Strabo  erzählt,  dass  in 
dem  wegen  seiner  Bäder  viel  besuchten  Karura  (auf  der  Grenze  von  Phrygien  und  Karlen) 
in  einem  Gasthause  ein  Kuppler  mit  einer  grossen  Menge  von  Dirnen  bei  einem  Erdbeben 
von  der  Erde  verschlungen  worden  sei  (Strabo  XII,  8,  17,  p.  578).  Der  erwähnte  Sem- 
pronius  Nikokrates  (Anthol.  Gr.,  ed.  Jacobs  IV,  p.  284),  der  seine  künstlerische  Lauf- 
bahn aufgab,    um,    wie  er  selbst  sagt,    ein   Händler    mit    schönen  Frauen  zu  werden,    dürfte 

also  auch  in  diesem   neuen  Gewerbe  das  alte   Wanderleben    fortgesetzt  haben Ein 

sehr  bedeutender  AVallfahrtsort  war  Comana  in  Pontus,  wo  bei  dem  sogenannten  Auszuge 
der  dort  verehrten  Göttin  (nach  Strabo)  Männer  und  Frauen  von  allen  Seiten  zusammen- 
strömten. Der  Ort,  zugleich  ein  Hauptmarkt  für  den  armenischen  Handel,  war  überdies 
voll  von  Hetären,  die  grösstenteils  dem  Tempel  angehörten,  und  also  in  jeder  Beziehung 
ein  Kleinkorinth   (Strabo  XII,   p.   559). 

Besonders  günstige  Verhältnisse  für  die  Verbreitung  von  Ge- 
schlechtskrankheiten boten  naturgemäss  die  grossen  Hafenstädte 
mit  ihrem  stets  fluktuierenden  Verkehr  von  Fremden  und  Matrosen, 
wie  Brundisium,  Puteoli,  Korinth,  Athen,  Smyrna,  .Alexandria  u.  s.  w. 

Am  meisten  war  Korinth  als  eine  Stadt  des  Lasters  und  der  Ausschweifungen  be- 
rüchtigt, als  ,, Durchgangspunkt    für    alle  Menschen"    (Aristid.,   Or.   III,  p.    21  sq.)    und    ein 


i)  Ueber  die   Grösse  des  Fremdenverkehrs  in   Rom    und    die  damit  verbundenen 
Ausschweifungen   vgl.   Friedländer  a.  a.   O.,  I,    23  ff. 
2)   Friedländer  a.  a.  O.,  II,  90. 


—    632    — 

von  allen  Hellenen  besuchter  Festversammlungsort,  an  dem  in  späterer  Zeit  die  Hefe  des 
Orients  und  Occidents  zusammenströmte.  Ein  berühmtes  griechisches  Sprichwort  hiess: 
ov  Ttavrog  avÖQog  ig  Köqiv^ov  k'a^'  6  jiXovg,  was  Hesychios  (III,  240)  dahin 
erläutert:  ijrsl  Öoy.si  roTg  ig  Koqiv&ov  slgnleovai  ^svoig  )raksjii^  zig  rj  jiokig  elvai,  dia  zijv 
Twr  exaiQÖJv  yorjTslav.  iojzovda^ov  yäg  im  tovzo  01  KoQiv&toi  xal  Qa&v/xa>g  8ia  zovzo 
Stfjyov.  Noch  zu  des  Rhetors  Ar  ist  i  des  Zeit  war  Korinth  die  Stadt  der  Aphrodite  und 
der  Hetären  (a.  a.  O.  p.   23,  5). 

Uebertroffen  wurde  Korinth  an  Ueppigkeit  und  A^ergnügungssucht  nur  durch 
Alexandria,  die  Welthandelsstadt  des  Altertums,  wo  zugleich  eine  grossartige  Industrie 
sich  entwickelt  hatte  und  die  mit  Einschluss  der  Fremden  und  Sklaven  in  der  Kaiserzeit 
über  eine  Million  Menschen  zählte,  Aegypter,  Griechen,  Juden,  Römer.  Dazu  „führte  der 
Welthandel  die  afrikanischen  und  asiatischen  Völkerschaften  in  Menge  aus  den  weitesten 
P'ernen  wie  in  keiner  anderen  Stadt  der  Erde  zusammen;  Aethiopier,  Libyer  und  Araber 
sah  man  hier  neben  Skythen,  Persern,  Baktrern  und  Indern  (Friedländer  a.  a.  O.  II,  151). 

Auch  die  üppigen  Luxusbäder  in  der  Nähe  solcher  Hafen- 
städte verdienen  an  dieser  Stelle  eine  Erwähnung  als  „deversoria 
vitiorum"  (Seneca,  ep.  51),  vor  allem  das  bei  Puteoli  gelegene 
Bajae,  ausgezeichnet  durch  Klima,  Lage,  prachtvolle  Bauten  und 
ein  raffiniertes  Genussleben  (vgl.  Martial.  I,  63,  XI,  80;  Horat., 
ep.  I,  I,  83;  Ovid,  Ars  amat.  I,  255;  Propert.  I,  11),  von  dem 
Varro  (Sat.  fr.  44)  sagt,  dass  dort  nicht  nur  die  Mädchen  Gemeingut 
seien,  sondern  auch  viele  Alte  zu  Kindern  und  Knaben  zu  Mädchen 
würden.  Aehnlichen  Ruf  hatte  Kanobus,  ein  bei  Alexandria  ge- 
legener Badeort,  den  Juvenal  (VI,  84;  XV,  44)  und  Strabo  (XVII, 
15 — 18,  p.  799  sqq.)  als  Schauplatz  zügellosester  Ausschweifungen 
und  obscöner  Orgien   schildern. 

2.  Kriegszüge  und  Wanderungen  der  Legionen.  — ■  Zu 
allen  Zeiten ')  haben  die  Kriegszüge  Veranlassung  zu  einer  unge- 
wöhnlichen Verbreitung  und  Verschleppung  von  venerischen  Leiden 
gegeben.  So  befand  sich  im  Gefolge  des  athenischen  Heeres  vor 
Samos  eine  Menge  feiler  Mädchen  (Athen.  XIII,  p.  572  E),  und 
Tacitus  (Histor.  III,  83)  hat  uns  die  Folgen  einer  solchen  Begleitung 
in  seinem  wunderbaren  Stile  ebenso  kurz  wie  anschaulich  geschildert: 
alibi  praelia  et  vulnera,  alibi  balineae  popinaeque;  simul  cruor  et 
strues  corporum,  juxta  scorta  et  scortis  similes;  quantum  in  luxurioso 
otio  libidinum,  quicquid  in  acerbissima  captivitate  scelerum,  prorsus 
ut  eandem  civitatem  et  furere  crederes  et  lascivire.  Aehnlich  schildert 
Quintus  Curtius  Rufus  (V,  i,  36  ff.)  die  Ausschweifungen  der 
Soldaten  in  Babylon.     Ebenso  erwähnen  Vulcatius  (Avid.  Cassius  5) 


i)  Das  gilt  auch  für  die  Gegenwart.  Es  sei  nur  an  die  Scharen  von  Prostituierten 
erinnert,  die  während  des  russisch -japanischen  Krieges  das  russische  Heer  nach  der  Mand- 
schurei begleiteten. 


—      633      — 

und  Spartianus    (Pescennius  3)    die  Zügellosigkeit  und  das  Bordell- 
leben der  römischen  Legionen. 

Ueber  die  Verhältnisse  der  Soldatendirnen  in  der  hellenistischen  Zeit  geben  zwei 
interessante  Urkunden  der  Elephantinepapyri  Auskunft,  die  das  „kaufmännisch  geordnete 
Uebergeben  einer  Soldatendirne  von  einer  Hand  in  die  andere  zeigen".  Sudhoff*)  teilt 
den  Inhalt  des  einen  Dokumentes  folgendermassen  mit: 

„Der  frühere  Besitzer  entsagt  mit  dem  Empfang  der  Summe  allen  Ansprüchen  an 
die  Dirne,  Elaphion  mit  Namen,  die  aber  ihr  eigenes  Siegel  (ein  feines  Frauenköpfchen  mit 
,, Melonenfrisur")  führt  und  offenbar  als  rechtsfähige  Person  auftritt.  Die  Syrerin  Elaphion 
also  zahlt  im  ersten  Falle  dem  Arkader  Antipatros  die  „roocpsTa"  in  einer  Höhe  von 
300  Drachmen  aus  unter  dem  Rechtsbeistand  des  Arkaders  Pantarkes,  der  jedenfalls  die 
Summe  herschiesst  und  damit  stillschweigend  in  ihren  Besitz  tritt;  denn  5  Monate  später 
zahlt  ihm  dann  wieder  die  Elaphion  400  Drachmen  aus  unter  dem  Rechtsbeistand  des 
Dion,  der  also  ihr  dritter  Besitzer  wird,  indem  sie  sich  fingiertermassen  von  dem  zweiten 
wieder  loskauft.  Dadurch,  dass  der  zweite  Besitzer  Pantarkes  lOO  Drachmen  mehr  erhält 
als  der  erste  Besitzer  Antipatros,  wird  vermutlich  dokumentiert,  dass  Pantarkes  länger  im  Be- 
sitze der  Dirne  war  als  Antipatros." 

Neben  den  gewöhnlichen  Kriegszügen  und  den  das  Heer  be- 
gleitenden Prostituiertenscharen  ist  ein  sehr  bedeutungsvolles,  bisher 
noch  wenig  gewürdigtes  Moment  für  die  Verbreitung  und  Verschlep- 
pung ansteckender  und  speziell  venerischer  Krankheiten  im  Altertum 
die  Versetzung  ganzer  Legionen  des  römischen  Heeres  von  einem 
oft  lange  Jahre  hindurch  innegehabten  Standort  nach  einem  weit  ent- 
fernten, von  einem  Lande  in  das  andere,  vom  Osten  nach  dem  Westen, 
von  heissen  Gegenden  mit  ihren  ganz  anderen  klimatischen  und  hygieni- 
schen Verhältnissen  in  den  rauhen,  noch  ganz  für  sich  abgeschlossenen 
Norden,  endlich  aus  dicht  bevölkerten  Kulturcentren  in  Gegenden, 
die  von  der  Civilisation  noch  nicht  berührt  worden  waren.  Es  ist 
sehr  interessant,  an  der  Hand  von  Spezialwerken  wie  W.  Pfitzner's 
„Geschichte  der  römischen  Kaiserlegionen  von  Augustus  bis  Hadrianus" 
und  Martin  Bangs  „Die  Germanen  im  römischen  Dienst  bis  zum 
Regierungsantritt  Constantin's  L"  (Berlin  1906)  diese  wechselnde  Ge- 
schichte der  Legionen  zu  verfolgen  und  sie  dann  auch  unter  dem 
Gesichtspunkte  einer  Verschleppung  von  contagiösen  Krankheiten  zu 
betrachten. 

Wenn  man  sich  daran  erinnert  wie  sehr  am  Ausgange  des 
15.  Jahrhunderts  die  Verbreitung  der  Syphilis  mit  den  Zügen  der 
Söldnerheere  verknüpft  war,  welcher  Parallelismus  sich  da  bis  ins 
einzelne   nachweisen   lässt^),    wenn    man    sich   ferner  vor  Augen  hält. 


i)  Karl   Sudhoff,    Aerztliches   aus   griechischen   Papyrus -Urkunden,    S.   106 — 107 
(Das  Dokument  wurde  im  Jahre  284/283   v.  Chr.  ausgestellt). 
2)  Vgl.  darüber  oben  Teil  I,  S.  255  ff. 


—     634     — 

mit  welcher  Intensität  noch  heute  die  Syphilis  dort  auftritt,  wo  sie 
bisher  noch  nicht  existierte,  mit  welcher  Schnelligkeit  sie  sich  unter 
bisher  von  ihr  noch  unberührten  Volksstämmen  ausbreitet  und  welche 
Verheerungen  sie  dann  anrichtet  —  dann  wird  man  zu  dem  berech- 
tigten Schlüsse  kommen,  dass  gerade  diese  merkwürdigen  Wande- 
rungen und  plötzlichen  Versetzungen  der  römischen  Legionen,  bei 
denen  viele  Male  ganz  ähnliche  Verhältnisse  gegeben  waren  wie  bei 
der  grossen  Syphilisepidemie  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts,  dass 
gerade  sie  zu  gleichen  Ausbrüchen  der  Syphilis  hätten  Veranlassung 
geben  müssen,  wenn  eben  die  Krankheit  damals  schon  in  der  alten 
Welt  existiert  hätte.  Es  ist  dies  neben  vielen  anderen  Argumenten 
ein  sehr  starker,  ja  beinahe  absoluter  Beweis  gegen  die  Existenz  der 
Syphilis  im  klassischen  Altertum,  zumal  da  andere  Volksseuchen  von 
den  Alten   selbst   auf  solche  Verschleppungen  zurückgeführt  werden. 

Es  seien  nur  einige  Beispiele  dafür  angeführt.  So  wurde  die  von  Thukydides  ge- 
schilderte Pest  durch  das  peloponnesische  Heer  nach  Attika  verschleppt  (Thukyd.  III,  8). 
Das  Heer  des  Kaisers  Lucius  Verus  verbreitete  auf  seinem  Rückzuge  von  Asien  nach 
Rom  die  blatternartige  Seuche  des  Jahres  165  n.  Chr.  in  allen  Provinzen.  Unmittelbar 
nach  der  Ankunft  der  Legionen  in  Rom  brach  auch  dort  die  Krankheit  aus  (Julius 
Capitolinus,  Verus  c.  8).  Auch  Plinius  erwähnt  im  Anfange  des  26.  Buches  seiner 
Naturalis  Historia  die  Einschleppung  verschiedener  ansteckender  Hautkrankheiten  nach  Italien, 
wie  des  Mentagra,  des  Karbunkel  und  des  Aussalzes,  den  er  dem  ganzen  Zusammenhange 
nach  auf  eine  Einschleppung  durch  die  Legionen  des  Pomp  ejus  zurückführt  (PI  in.,  Nat. 
hist.  XXVI,   5). 

Gerade  der  Aussatz,  der  nach  den  wissenschaftlichen  Studien  der  älteren  alexandri- 
nischen  Ärzte,  der  naXaioi  des  Ruphos  (bei  Oribas.  ed,  Daremberg  IV,  63),  der 
na'kaiöxEQOi  des  Galen  (Introduct.  c.  XIII  ed.  Kühn  XIV,  757)  und  den  mustergültigen 
Schilderungen  des  Aretaios  (Morb.  chron.  II,  13)  und  des  Archigenes  (Aetius,  Tetrab. 
IV,  Serm.  I,  cap.  120 — 121)  in  allen  seinen  heutigen  Formen  den  Alten  bekannt  war, 
legt  die  entsprechende  Parallele  mit  der  Syphilis  nahe,  da  die  antiken  Schriftsteller,  Laien 
wie  Arzte,  sich  in  eindeutiger  und  bestimmter  Weise  über  ihn  aussprechen.  Wir  wissen 
durch  Lucretius  (De  rerum  natura  VI,  11 12  — 11 13:  est  elephas  morbus  qui  propter 
flumina  Nili  Gignitur  Aegypto  in  medio  neque  praeterea  usquam),  Plinius  (Nat.  hist. 
XXVI,  5:  Aegypti  peculiare  hoc  malum)  und  Galen  (De  methodo  medendi  lib.  II,  cap.  12 
ed.  Kühn  XI,  142),  dass  in  Äegypten  von  jeher  der  Hauptherd  der  Lepra  gewesen  ist 
und  von  hier  aus  sich  nach  dem  Westen  verbreitet  hat.  Während  noch  der  im  ersten  vor- 
christlichen Jahrhundert  lebende  Lucretius  von  dem  Vorkommen  des  Aussatzes  in  West- 
europa nichts  weiss,  melden  uns  mehrere  Schriftsteller  des  ersten  und  zweiten  nachchrist- 
lichen Jahrhunderts  das  Auftreten  der  Krankheit  in  Italien,  Gallien  und  Germanien.  Plinius 
macht  zweimal  (Nat.  hist.  XX,  14  und  XXVI,  5)  die  bestimmte  Angabe,  dass  die  Lepra 
erst  zur  Zeit  des  Po m pejus  nach  Italien  verschleppt  worden  sei.  Eine  wertvolle  Bestäti- 
gung hierfür  bildet  eine  Mitteilung  des  Plutarch  (Sympos.  VIII,  9),  wonach  der  Aussatz 
zuerst  zur  Zeit  des  Asklepiades  in  Italien  vorgekommen  sei,  desselben  Asklepiades, 
den  Plinius  (Nat.  hist.  XXVI,  7)  ausdrücklich  als  einen  Zeitgenossen  des  Pompejus 
bezeichnet.  Plinius  bezieht  das  Auftreten  der  Lepra  in  Italien  zur  Zeit  des  Pompejus  auf 
eine  Einschleppung,    die  offenbar  mit  den  asiatischen  Feldzügen  des  letzteren  in  Zusammen- 


-      635      - 

hang  gebracht  werden  muß,  also  in  die  60 er  Jahre  des  letzten  vorchristlichen  Jahrhunderts 
fällt.  Es  müssen  damals  wohl  sofort  scharfe  Isolierungsmassregeln  ergriffen  worden  sein, 
denn  Plinius  berichtet  an  derselben  Stelle  (XXVI,  5),  dass  die  Krankheit  in  Italien  schnell 
wieder  erloschen  sei.  Celsus,  der  etwa  30  p.  Chr.  sein  berühmtes  Werk  über  die  Medizin 
verfasste,  nennt  {III,  25)  den  Aussatz  eine  in  Italien  „beinahe  unbekannte"  Krankheit,  hat 
also  wohl  nur  vereinzelte  Fälle  gekannt  bezw.  von  ihnen  gehört.  Es  scheint  aber,  als  ob 
doch  auch  später  noch  die  Lepra  wenigstens  in  Rom  häufiger  beobachtet  worden  ist.  Denn 
Caelius  Aurelianus  (Morb.  chron.  IV,  l)  berichtet,  dass  der  in  Rom  lebende  Begründer 
der  methodischen  Schule,  Themison,  ein  Zeitgenosse  des  älteren  Plinius,  sich  zuerst  ein- 
gehend mit  der  Therapie  des  Aussatzes  befasst  und  seine  Schüler  darin  eingeführt  habe. 
Und  wenn  wir  von  dem  ebenfalls  in  der  zweiten  Hälfte  des  ersten  nachchristlichen  Jahr- 
hunderts lebenden  Aretaios  hören  (De  curat,  morb.  chron.  II,  13),  dass  die  Gallier  und 
Gelten  zahlreiche  Mittel  gegen  den  Aussatz  anwenden,  so  dürfen  wir  daraus  doch  gewiss 
auf  eine  ziemliche   Verbreitung  der  Krankheit  in  Italien   und  Gallien  schliessen. 

Zu  diesen  bemerkenswerten  Nachrichten  kommt  endlich  noch  eine  interessante  Stelle 
bei  Galen  (De  methodo  medendi,  ed.  Kühn,  XI,  142),  aus  der  wir  ersehen,  dass  auch  in 
Germanien  schon  damals,  also  im  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  der  Aussatz,  wenn  auch  selten, 
beobachtet  wurde  (xaTO.  ds  zag  Fegf^iariag  te  xal  Mvoiag  GJTaviüJzaTa  tovto  t6  Jiä&og 
WJirai  yirofiEvoi').  Es  ist  dies  die  erste  sichere  Nachricht  über  das  Auftreten  der  Lepra 
in  Deutschland.  Gerade  für  Deutschland  lässt  sich  nun  eine  sehr  bedeutsame  Beziehung  zu 
Aegypten  nachweisen,  die  es  höchst  wahrscheinlich  macht,  dass  die  Lepra  aus  diesem  Lande 
direkt  nach  Germanien  eingeschleppt  wurde.  Nach  Pfitzner')  wurde  nämlich  ungefähr 
25  V.  Chr.  die  Legio  II  (Augusta)  nebst  zwei  anderen  Legionen  (III  und  XII)  in  Aegypten 
stationiert.  Diese  zweite  Legion  wurde  nach  der  Niederlage  des  Varus  (9  p.  Chr.),  also 
mehrere  Decennien  später  an  den  Rhein  versetzt.  Statt  ihrer  kam  die  Legio  XXII 
nach  Aegypten.  Legio  II  stand  beim  Tode  des  Augustus  (14  n.  Chr.)  in  Obergermanien, 
und  zwar  hatte  sie  ihr  Standquartier  in  Mainz,  wo  mehrere  Inschriften  derselben  gefunden 
worden  sind.  Sie  nahm  dann  teil  an  den  beiden  Feldzügen  des  Germanicus  in  den  Jahren 
15  und  16  n.  Chr.  Aber  auch  die  statt  ihrer  anno  9  p.  Chr.  nach  Aegypten  versetzte 
Legio  XXII  kam  nach  34  Jahren  zur  Hälfte  ebenfalls  nach  Mainz  (43  p.  Chr.),  die 
andere   Hälfte  kam  nach   Italien. 

Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  diese  lange  Jahre  in  dem  Aussatzherde  Aegypten 
stationiert  gewesenen  Legionen  die  Krankheit  direkt  nach  Germanien  verschleppt  haben,  wo 
sie  dann  später  beobachtet  wurde.  Es  ist  jedenfalls  von  grösstem  Interesse,  dass  gerade 
die  Gegend  von  Mainz,  wo  wir  bezüglich  der  Invasion  ägyptischer  Legionen  genau  unterrichtet 
sind,    durch    eine    sehr   große  Verbreitung    des   Aussatzes  im   Mittelalter  ausgezeichnet  war'^). 

Wie  die  von  Plinius  erwähnten  ansteckenden  Hatitkrankheiten 
und  wie  der  Aussatz  hätte  auch  die  Syphilis  durch  die  Legionen 
überallhin  verbreitet  bezw.  von  überallher  eingeschleppt  werden  und 
zu  zahlreichen  ausgedehnten  und  auffälligen  Syphilisepidemien  Ver- 
anlassung geben  müssen,  wenn  sie  damals  existiert  hätte.  Um  so 
eher  als,  wie  wir  sahen,  die  Prostitution  mit  den  Kriegszügen  so  eng 


1)  Pfitzner  a.  a.  O.,  S.    190,   222,  259. 

2)  Vgl.    Rudolf   Virchow,    Zur   Geschichte    des   Aussatzes,    besonders    in  Deutsch- 
land,  in    Virchows  Archiv    1860,   Bd.   XVIII,   S.    148. 

Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  4i 


—     636     — 

verknüpft  und  überhaupt  das  Luxusleben  innerhalb  der  Legionen  sehr 
stark  entwickelt  war^). 

3.  Alkoholismus.  —  Wie  die  moderne  Statistik  festgestellt 
hat,  ist  der  Alkoholgen uss  in  seiner  häufigsten  Form  als  akuter  voll- 
ständiger Rausch  oder  auch  nur  als  blosse  „Anheiterung"  einer  der 
wesentlichsten  Faktoren  der  Verbreitung  von  Geschlechtskrankheiten, 
der  in  60^80  7o  der  Fälle  von  venerischer  Ansteckung  die  Ueber- 
tragung  vermittelt  und  begünstigt  hat.  Auch  den  antiken  Kuppler- 
innen und  Prostituierten  war  die  die  Libido  sexualis  steigernde  und 
zugleich  eine  gewisse  psychische  Lähmung  hervorrufende  Wirkung 
des  Alkohols  wohl  bekannt  und  wurde  v^on  ihnen,  wie  wir  sehen 
werden,  ebenso  reichlich  ausgenützt  wie  heutzutage. 

Pur  die  aligeinein  verbreitete  Kenntnis  der  sexuell  stimulierenden  Eigenschaften  des 
Alkohols  bei  den  Alten  lassen  sich  zahlreiche  Aeusserungen  und  sprüchwörtliche  Redens- 
arten bei  Dichtern  und  Schriftstellern  anführen,  von  denen  wir  nur  einige  besonders  charak- 
teristische erwähnen,  so  vor  allem  das  berühmte:  ,,sine  Cerere  et  Libero  friget  Venus'' 
(Terent.  Eunuch.  732),  ferner  ,,oirog  tgcorog  sJ.syyog"  (Straten  in  Anthol.  Palat.  XII, 
135  ed.  Dübncr  II,  414),  „oivog  yäo  SQCozog  TQO(pi]"  (Callimach.  cpigr.  43),  ,,solutior 
est  post  vinum  licentia"  (Senec.  de  ira  III,  37),  „KvTTQiSog  8'E?.7iig  öiai'&voaEi  rposvag 
ä[ifiEiyvvf.iEva  Aiovvaloiai  StüQOig  (Bacchylides  bei  Athen.  II,  396),  „Et  Venus  in  vinis 
ignis  in  igne  fuit"  (Ovid.,  Ars.  amat.  I,  244),  „vini  usus  olim  Romanis  feminis  ignotus 
fuit,  ne  scilicet  in  aliquod  dedecus  prolaberentur:  quia  proximus  a  Libero  patre  intemperantiae 
gradus  ad  inconcessam  Venerem  esse  consuevit"  (Valer.  Maxim.  II,  i,  5),  ,,hac  Amor, 
hac  Liber,  durus  uterque  Dens"  (Proper t.  I,  3,  (4,  ähnlich  Achill.  Tat.  II,  3,  3: 
"E^fcog  y.al  Aiövvaog,  ovo  ßi'aioi  deoi). 

Neben  der  sexuell  erregenden  Wirkung  des  Alkohols  kannte 
man  auch  seine  lähmenden  Eigenschaften,  die  sich  sowohl  in  der 
langsameren  Vollziehung  des  Coitus  als  auch  in  dem  Verlust  des 
kritischen  Unterscheidungsvermögens  und  der  Fähigkeit  zur  genaueren 
Untersuchung  des  Partners  bekunden.  Beides  hat  der  Kenner  Ovid 
vortrefflich  zum  Ausdruck  gebracht,  wenn  er  (Ars.  amat.  I,  231  —  234) 
erstens  den  Bacchus  die  Flügel  Amors  mit  Weine  netzen  läßt,  so 
dass  er  schwer,  imbeweglich  stehen  bleibt  auf  dem  von  ihm  eroberten 
Gebiete  (Permanet  et  capto  stat  gravis  ille  loco),  ein  Symbol  für  die 
ausserordentliche  Verlängerung  und  Erschwerung  der  Begattung  durch 
den  Alkohol  2),  und  wenn  er  zweitens  (Ars.  amat.  I,  245—252)  die  Ge- 
fahren des  Weingenusses  hauptsächlich  darin  erblickt,  dass  unter 
seinem    Einflüsse    leicht   Mängel    und   Fehler   des   Mädchens 


i)  Vgl.  darüber  Friedländer  a.  a.  O.,  III,*  213. 

2)  In  den  pseudoaristotelischen  Problemata  (3  p.  871a  No.  15)  heisst  es  ebenfalls: 
8iu  ri  Ol  /LisdvovrEg  d(pQo8iGiü^Fiv  udwarol  riair.  —  Eine  vortreffliche  Schilderung  des 
Alkoholismus  findet  sich  bei  Plinius   (Nat.   histor.   XIV,   28 — 29). 


-      637      - 

übersehen  werden  (Vers  246:  iudicio  formae  noxque  merumque 
nocent;  Vers  24g:  Nocte  latent  mendae,  vitioque  ignoscitur  omni), 
wozu  vielleicht  auch  etwaige  venerische  Geschwüre  und  Excrescenzen 
gehörten^). 

Die  griechischen  S3^mposien,  zu  denen  Flötenbläserinnen  und 
Tänzerinnen  hinzugezogen  wurden  (Plato,  Sympos.  212D),  und  die 
üppigen  römischen  Gastmähler,  bei  denen  erotische  Lieder,  Nuditäten 
und  lascive  Tänze  ihre  Wirkung  auf  die  alkoholisierten  Gäste  nicht 
verfehlten  (Quint.,  inst.  or.  I,  2,  8:  omne  convivium  obscenis  canticis 
strepit,  pudenda  dictu  spectantur;  Plutarch,  quaest.  conviv.  VII,  8, 
4,  4  p.  712F:  Ol  de  TioXXol,  y.al  yvvaixcov  ovyy.aTay.eifiEvcov  xal  naidcov 
avTjßoiv,  ejiiöeiy.vvvTai  jiujui'jfxaTa  JiQayjuaTCOv  y.al  Xoycov,  ä  jzdai]i;  jiieO}]? 
TaQaxcoöeoTEQov  t«?  i^v^oig  diari^^^oiv)  und  bei  denen  nicht  selten  das 
berauschende  Getränk  aus  Gläsern  in  Form  von  Geschlechtsteilen 
(Juven.,  I,  2,  95:  vitreo  bibit  ille  priapo)  getrunken,  ähnlich  gestaltetes 
Backwerk  (Mart.,  IX,  2,  3;  XIV,  6g)  genossen  wurde,  Lampen  in 
Phallusform  die  ausgelassene  Scene  erleuchteten-),  gaben  oft  Veran- 
lassung zu  sexuellen  Orgien,  bei  denen  jede  Vorsicht  ausser  Acht 
gelassen  wurde. 

Wahre  Brutstätten  der  venerischen  Krankheiten  mußten  aber 
jene  Orte  sein,  an  denen  die  Prostitution  sich  des  Alkoholis- 
mus zur  Erreichung  ihrer  Zwecke  bediente.  Das  waren  die  Animier- 
kneipen und  die  Bordelle  und  Hetärenwohnungen. 

Die  Animierkneipe  (y.arT}]?.ETov  Isokrat.  Areiopag.  232;  Athen.,  XIII,  p.  567; 
salax  taborna  Catull.,  XXXVII,  i;  caiipona,  cauponula,  Cicer.,  Phil.  2,  77)  war  als  ein 
gefährlicher  Ort  der  Unzucht    verrufen.      Friedländer ^j  bemerkt  darüber: 

,,Uebrigens  waren  die  Wirtshäuser  sehr  häufig  Orte  der  Prostitution  und  die  AVirte 
zugleich  Kuppler.  Wiederholt  wird  von  den  juristischen  Schriftstellern  erwähnt,  dass  die 
weibliche  Bedienung  der  Tabemen  sowohl  in  den  Städten  als  an  den  Landstraßen  aus  feilen 
Dirnen  zu  bestehen  pflegte  und  die  Wirtschaft  häufig  nur  ein  Deckmantel  für  Kuppelei 
war  (Ulpian.,  Dig.  III,  2,  4,  §  2;  XXIII,  2,  43,  i  ib.  §  9).  Nach  einem  Erlass  des 
Kaisers  Alexander  Severus  durfte  eine  Sklavin,  die  unter  der  Bedingung  verkauft  worden 
war,  dass  sie  nicht  prostituiert  werden  sollte,  auch  nicht  in  ein  Wirtshaus  verkauft  werden, 
wo  die  Verwendung  zur  Aufwartung  nur  ein  Vorwand  war,  um  das  Gesetz  zu  umgehen 
(Cod.  IV,  56,  3).  Von  der  gesetzlichen  Bestimmung,  dass  mit  dem  weiblichen  Personal 
der  Tabemen  ein  Ehebruch  nicht  begangen  werden  könne,  nahm  erst  Constantin  im  Jahre 
326  die  Wirtin  selbst  aus,  aber  nur  in  dem  Falle,  dass  sie  die  Gäste  nicht  selbst  bediente  .  .  . 
Auf  einem  aus  der  Kaiserzeit  herrührenden  Relief  von  Aesernia  in  Samnium  (Isernia)  rechnet 
ein  Mann  in  Reisekleidern,  den  Maulesel  am  Zügel  führend,  mit  der  Wirtin  ab;  oberhalb 
des    Bildes    ist    das    Gespräch    selbst    verewigt,    nach    welchem    ausser    dem   Wein,    der  wohl 

1)  Drastisch  schildert  Juvenal  (VI,  300 — 301)  diese  wollüstige  Umnebelung: 
....  Quid  enim   Venus  ebria  curat?     Inguinis  et  capitis  quae  sint  discrimina,  nescit. 

2)  Vgl.    dazu  Paul  Brandt    in    seiner  Ausgabe    von   Ovids    Ars    amatoria,   S.   210. 

3)  L.   Friedländer  a.  a.   O.,   II,   44. 

41* 


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umsonst  gegeben  wurde,  für  Brot  l  As  (damals  6'/.,  Pfg-)»  für  Zukost  2  As,  für  das  Mädchen 
8   As,  für  Heu   2   As  zu  bezahlen    waren." 

Eine  sehr  anschauliche  Schilderung  von  dem  Treiben  in  einer  an  der  Landstrasse  ge- 
legenen Animierkneipe  giebt  Virgil  in  dem  Gedichte  „Copa",  Die  syrische  Schenkwirtin 
(copa  Syiisca)  führt  vor  der  Taberne  einen  wollüstigen  Tanz  unter  Castagnettenbegleitung 
aus  und  preist  den  vorüberziehenden  Wanderern  im  Gesänge  die  ihrer  im  Innern  der  gegen 
die  Sommerhitze  schützenden  kühlen  Schenke  harrenden  Genüsse  an,  besonders  die  ver- 
schiedenen Weine,  die  in  schönen  Gläsern   kredenzt  werden: 

si  sapis,   aeslivo  recubans   te  prolue  vitro 

seu  vis  crystallo  ferre  novos  calices 
dazu  ein  üppiges  Ruhelager  und  die  Umarmung  eines   schönen   Mädchens 

eia  age  pampinea  fessus  requiesce  sub  unibra 

et  gravidum  roseo  necte  caput  strophio, 

formosus  tenerae  decerpens  ora  puellae 
und  schliesst  in  horazischer  Lebensweisheit: 

pone  merum  et   talos.   pereat  qui  crastina  curat 

mors  aurem  vellens  'vivite'  ait,  'venio'. 
Auch  Sueton  (Nero  27)  erwähnt  diese  die  Wanderer  anlockenden  copae.  Es  waren, 
wie  auch  die  übrigen  Animierkneipendirnen,  meist  Syrerinnen  und  Orientalinnen  (copa  Syrisca, 
ambubaja),  die,  wie  Juvenal  (III,  62 — 66)  klagt,  in  Scharen  nach  Rom  strömten  und  durch 
ihre  Wollüste  und  sexuelle  Korruption  besonders  verrufen  und  —  begehrt  waren.  Welche 
unversiegbare  (quelle  für  die  Ausbreitung  einer  etwaigen  Syphilis  diese  Art  iimigster  Be- 
rührung von   Orient  und   Occident  hätte  abgeben  müssen,    liegt  auf  der  Hand. 

Dass  auch  in  allen  Bordellen  alkoholische  Excesse  an  der  Tagesordnung  waren  und 
der  Weingenuss  hier  Mittel  zum  Zweck  möglichst  großer  Ausbeutung  der  Klientel  war,  er- 
fahren wir  aus  der  attischen  Komödie  und  den  Lustspielen  des  Plautus.  So  schildert 
z.  B.  Syncerastus  im  „Poenulus"  (II,  9)  die  ausschweifenden  Zechgelage  in  einem  solchen 
Hurenhause,  in  dem  für  diesen  Zweck  ein  Lager  von  sämtlichen  Weinsorten  in  etikettierten 
Flaschen  bereitsteht.  Leonida  wünscht  sich  eine  Nacht  bei  einer  Dirne  nebst  einem  Fässchen 
Wein  (Plaut.,  Asinar.  III,  3).  Ganz  wie  bei  uns  sprachen  auch  die  Dirnen  selbst  eifrig 
dem  Weine  zu  („vini  modo  cupidae"  Plaut.  Pseudolus  I,  2).  Von  den  Excessen  des 
Nero  in  Bordellen  und  Anitnierkneipen  haben  uns  Tacitus  (Annal.  XV,  37)  und  Sueton 
(Nero  27)  lebhafte  Schilderungen  hinterlassen*). 

Als  Motto  für  die  Beziehungen  zwischen  AlkohoHsmus  und 
Prostitution  könnte  das  Wort  des  älteren  Plinius  (Nat.  hist.  XIV, 
28)  gelten:  Ita  vina  ex  libidine  haurivmtur,  atque  etiam  praemio  in- 
vitatur  ebrietas  et,  si  dis  placet,  emitur! 

4.  Die  Sitte  des  Küssens.  —  Die  orientalische  Sitte  des 
Männerkusses  wurde  zur  Zeit  des  Augustus  in  Rom  eingeführt-)  und 
verbreitete  sich  schnell  unter  den  Kreisen  der  Vornehmen  (PI in.,  Nat. 
histor.  XXVI,  3),  wo  sie  zu  einer  wahren  Plage  wurde,  die  Martial 
sehr  lebhaft  schildert: 


i)  Auch  Martial   (III,   82,    i — 3)    erwähnt    die  Gastmähler    und    das  Zechen   in  den 
römischen  Bordellen. 

2)   Vgl.   darüber  L.   Friedländer  a.   a.   O.,   Bd.   I,   S.    160  und   202  —  204. 


—     639     — 

Bruma  est  et  riget  horridus  December, 

Audes   tu  tarnen  osculo  nivali 

Omnes  obviiis  hinc  et  hinc  tenere 

Et  totam,  Line,   basiare   Romam   .  .  .  (VII,   95) 

Effugere  non  est,   Flacce,   basiatores. 

Instant,  morantur,  persecuntur,   occiirrunt, 

Et  hinc  et   illinc,   usque  quaque,  quacunque. 

Non  iilcus  acre  pustulaeve  lucentes, 

Nee  triste  mentum   sordidiqiie   lichenes, 

Nee  labra  pingiii  delibuta  ceiato 

Nee  congelati  gutta  proderit  nasi  ....  (X.I,  98) 

Tantum   dat   tibi   Roma  basiorum 

Post  annos  modo  quindecim   reverso, 

Quantum   Lesbia  non   dedit  Catullo. 

Te   vicinia  tota,   te  pilosus 

Hircoso  premit  osculo  colonus; 

Hinc  instat  tibi  textor,  inde   fuUo, 

Hinc  sulor  modo  peile  basiata, 

Hinc  menti  dominus  pediculosi. 

Nee  deest  hinc  oculis  et  inde  lippus, 

Fellatorque  recensque  eunnilingus. 

Jani   tanti   tibi  non   fuit  redire.  (XII,   59) 

Hieraus  erhellt,  dass  zur  Zeit  Marti  als  diese  Kusssitte  bereits 
auch  unter  den  niederen  Klassen  in  geradezu  epidemischer  Weise  um 
sich  gegriffen  und  zu  einer  wahren  Küsswut  sich  gestaltet  hatte,  die 
selbst  durch  offenbare  Krankheitserscheinungen  wie  Geschwüre, 
Pusteln,  Bartflechten  („triste  mentum  sordidique  lichenes"),  Läuse  u.s.  w. 
nicht  gezügelt  wurde.  Ebensowenig  konnte  man  sich  vor  den  wenig 
appetitlichen  Küssen  eines  Fellator  oder  Cunnilingus,  wie  auch  vor 
denen  der  Kinäden  (Petron.  2:^:  immundissimo  me  basio  conspuit) 
schützen,  und  Tertullian  (de  resurrectione  carnis  c.  16)  sagt  von  den 
Küssen  der  Tribaden  und  Kybelepriester,  der  Gladiatoren  und  Henker: 
et  tarnen  calicem  non  dico  venenarium,  in  quem  mors  aliqua  ructarit, 
sed  frictricis,  vel  archigalli,  vel  gladiatoris  aut  carnificis  spiritu  in- 
fectum,  quaero  an  minus  damnes  quam  oscula  ipsorum? 

In  diesen  Aeusserungen  des  Martial,  Petron  und  Tertullian 
bekundet  sich  allerdings  mehr  der  ästhetische  Ekel  und  Widerwille 
gegen  Küsse  von  derartigen  Individuen  als  die  Kenntnis  der  Ueber- 
tragung  von  ansteckenden  Krankheiten  durch  solche  Küsse.  Den- 
noch ist  auch  diese  nicht  ganz  unbekannt  geblieben.  Das 
beweisen  die  Mitteilungen  des  älteren  Plinius  (Nat.  hist.  XXVI, 
1 — 3)  über  die  Mentagraepidemie  unter  der  Regierung  des  Kaisers 
Tiberius,  die  ja  von  den  Verteidigern  der  Altertumss3'philis  immer 
wieder   als  Beweis   für   die  Existenz    der  Lustseuche    angeführt    und 


—      640     — 

namentlich  von  Rosenbaum  i)  mit  allen  Mitteln  medizinischer  und 
etymologischer  Sophistik  als  solche  zu  erweisen  versucht  wurde,  im 
Lichte  der  modernen  Forschung  aber  sehr  bestimmt  und  eindeutig 
als  eine  nichtsyphilitische  Dermatomykose  diagnostiziert  werden 
kann,  wie  wir  gleich  sehen  werden.    Der  Bericht  des  Plinius  lautet: 

Sensit  facies  hominum  novos  omnique  aevo  priore  incognitos  non  Italiae  modo 
verum  etiam  universae  prope  Europae  morbos,  tunc  quoque  non  tota  Italia  nee  per  lUyricum 
Galliasve  aut  Hispanias  magno  opere  vagatos,  aut  alibi  quam  Romae  circaque,  sine  dolore 
quidem  illos  ac  sine  pernicie  vitae,  sed  tanla  foeditate  ut  quaecumque  mors 
praeferenda  esset.  Gravissimum  ex  his  lichenas  appeliavere  Graeco  nomine, 
Latine,  quoniam  a  mente  fere  oriebatur,  —  ioculari  primum  lascivia'j,  ut  est  procax 
muitorum  natura  in  alienis  nnseriis,  mox  ex  usurpato  vocabulo,  —  mentagram,  occu- 
pantem  multis  et  intus  totos  utique  voltus,  oculis  tantum  immunibus,  des- 
cendentem  vero  et  in  coila  pectusque  ac  manus,  foedo  cutis,  furfure. 

Non  fuerat  hacc  lues  apud  inaiores  patresque  nostros,  et  primum  Til^eri  Claudi 
Caesaris  principatu  medio  irrepsit  in  Italiam  quodam  Perusino  equite  Romano  quaestorio 
scriba,  cum  in  Asia  adparuisset,  inde  contagionem  eins  inportante.  nee  sensere  id  maium 
feminae  aut  servitia  plebesque  humilis  aut  media,  sed  proceres  veloci  transitu 
osculi  maxume  foediore  muitorum  qui  perpeti  medicinam  toleraverant  cica- 
trice  quam  morbo.  causticis  namque  curabatur,  ni  usque  in  ossa  exustum  esset,  rebellante 
taedio.  adveneruntque  ex  Aegypto  geiietrice  talium  vitiorum  medici  hanc  solam  operam  ad- 
ferentes  magna  sua  praeda,  siquidcm  certum  est  Manilium  Cornulum  e  praetoriis  legatum 
Aquitanicae  provinciae  HS.  CC  elocasse  in  eo  morbo  curandum  sese,  acciditque  saepius 
ut  nova  contra  genera  morborum  gregatim  sentirentur.  quo  mirabilius  quid  potest  reperiri, 
aliqua  gigni  repente  vitia  terrarum  in  parte  certa  membrisque  hominum  certis  vel  aetatibus 
aut  etiam  fortunis,  tamque  malo  eligente,  haec  in  pueris  grassari,  illa  in  adultis,  haec  proceres 
sentire,  illa  pauperes? 

Eine  kritische  Analyse  dieses  Berichtes  ergiebt  Folgendes: 
Unter  den  neuen,  nicht  in  ganz  Europa,  sondern  nur  an  einzel- 
nen Orten  epidemisch  auftretenden  Gesichtskrankheiten,  die  von  aus- 
wärts eingeschleppt  wurden,  zwar  schmerzlos  und  nicht  lebens- 
gefährlich, aber  äusserst  entstellend  waren,  war  die  schlimmste 
diejenige,  die  die  Griechen  „Liehen"  nannten.  Von  den  Römern 
wurde  sie  wegen,  ihres  hauptsächlichen  Sitzes  und  Beginnes 
am  Kinn  scherzhaft  „Mentagra"  genannt^),   von  dort  aus  verbreitete 

i)  J.  Rosenbaum  a.  a.  O.,  S.   278 — 297. 

2)  Dieses  Wort  bedeutet  hier  nicht,  wie  Rosen  bäum  meint,  „Lüsternheil"  oder 
,,Obscönität",  sondern  ,, Mutwille,  Schäkerei",  vgl.  Georges,  Kleines  Lateinisches  Hand- 
wörterbuch, Leipzig  1885,  Sp.  1429.  Es  kann  sich  also  in  keinem  B'alle  um  eine  An- 
spielung auf  sexuelle  Perversitäten,  wie  die   Betätigung  des   Cunnilingus,   handeln. 

3)  Da  sie  im  Anfange  nur  bei  den  Vornehmen  grassierte,  die  Gicht,  das  „Podagra" 
aber  ebenfalls  eine  Krankheit  der  üppig  lebenden  oberen  Klassen  ist,  so  lag  es  für  einen 
boshaften  Spötter  nahe,  in  Analogie  für  diese  neue  aristokratische  Krankheit  den  Namen 
,, Mentagra"  zu  erfinden.  Ein  Anhaltspunkt  für  eine  obscöne  Anspielung  dabei  liegt  nicht 
vor,  es  sei  denn,  dass  man  die  Küsswut  an  sich  in  solchem  Sinne  auffasste,  was  freilich 
auch  möglich  ist. 


-     641      - 

sie  sich  bei  vielen  über  das  Gesicht  bis  zu  den  Augen,  die  aber  ver- 
schont blieben  und  nach  abwärts  auf  Hals,  Brust  und  Hände.  Als 
Hauptsymptom  erwähnt  Plinus  eine  hässliche,  kleienartige  Ab- 
schuppung. Das  Mentagra  wurde  nach  seinen  weiteren  Mitteilungen 
durch  einen  aus  Perusia  stammenden  römischen  Ritter  nach  Italien 
eingeschleppt,  und  zwar  aus  Asien.  Dieser  vornehme  Mann  hatte 
offenbar  andere  vornehme  Leute  inficiert,  denn  das  Uebel  verbreitete 
sich,  wie  Plinius  ausdrücklich  hervorhebt,  zunächst  nur  unter  den 
Vornehmen,  bei  denen  allein  eben  die  Sitte  des  Küssens  üblich  war, 
und  wurde  durch  dieses  rasch  übertragen.  Frauen,  Sklaven, 
niederer  und  mittlerer  Stand  blieben  im  Anfange  gänzlich  davon  ver- 
schont. Das  Leiden  war  sehr  hartnäckig  und  wurde  mit  energischen 
kaustischen  Mitteln  bekämpft,  so  dass  Narben  zurückblieben.  Man 
rief  ägyptische  Spezialisten  herbei,  die  in  der  Behandlung  dieser 
Krankheit  sehr  erfahren  waren  und  sich  in  Rom  dadurch  grosse 
Reichtümer  erwarben. 

Unter  diesen  Aerzten  nennt  Galen  den  Pamphilos,  der  durch 
ein  von  ihm  verordnetes  exööqiov  Xetxirjvcov  sehr  viel  Geld  er- 
worben habe,  zur  Zeit  als  in  Rom  die  „Mentagra"  genannte 
Krankheit  herrschte^).  Es  war  dies  ein  scharfes  arsenikhaltiges 
Aetzmittel,  das  Eiterung  der  erkrankten  vStellen  hervorrief  und  in 
Verbindung  mit  nachfolgenden  heissen  Bähungen,  Kataplasmen  und 
Pflastern  schliesslich  die  Heilung  mit  Narbenbildung  herbeiführte. 
Sehr  interessant  bezüglich  der  Diagnose  der  Affektion  ist  dabei  der 
am  vSchlusse  erteilte  Rat,  stets  auch  die  scheinbar  gesunden  Partien 
der  Peripherie  mitzubehandeln,  da  auch  sie  oft  von  der  Affektion 
schon  ergriffen  seien  -).  Das  war  die  am  meisten  gebräuchliche  Be- 
handlungsweise  des  Mentagra  {aint]  y.oiv)]  eTiifieleia  ifjg  /iievtdygag). 

Weitere,  die  Angaben  des  Plinius  durchaus  bestätigende  Mit- 
teilungen über  das  Mentagra  haben  wir  von  dem  Arzte  Kriton, 
der  ein  Zeitgenosse  des  Martial  und  Leibarzt  des  Kaisers  Trajan 
(g8 — 117  n.  Chr.)  war  und  ein  berühmtes  Werk  über  Kosmetik  ver- 
fasste  3).     Zu    dieser  Zeit    war,    wie    wir    aus    den    oben    zitierten    Epi- 


i)  Galen,  jisgi  ovv&eoecog  (paQi-mxoiv  icöv  aaxa.  lönovg  ßißkiov  V,  c.  2,  ed.  Kühn, 
XII,  839:  'ExdÖQiov  ksiX'>]VO)v.  xavti]  Iläfiqyuog  yQtjad/nevog  im  ' Pcöfirjs  jileTaxov  ijiogi- 
aazo  sjiiHQazovaTjg  iv  zf}  Jiöksi  zfjg  /nevzäyoag  ksyofj,svr]g. 

2)  Ib.  XII,  841:  jiQo  dk  zijg  icöv  ix^oniow  e::iideaEiog  ::isQila}ißäreiv  8si  za  e^co&ev 
zov  leix^jvog  (pagfidxov  d(p?.ey/iidvzov  anhp'Uo,  :roooyaoiCö/ierov  zfj  i^coidzcp  yga/ufif)  zov 
?.eiyj'jvog  (iixqöv  zl  zcöv  ditad^öiv  aco/iidzwv. 

3)  Vgl.  über  Kritons  Schriften:  Max  Wellmann,  Die  pneumatische  Schule  bis 
auf  Archigenes,  Berlin   1895,  S.    14,  Anm.   7. 


—      642     — 

grammen  Martials  wissen,  das  Mentagra  („triste  mentum  sordidique 
lichenes")  auch  schon  in  den   unteren    Volksklassen  verbreitet. 

Die  Aeusserungen  des  Kriton  über  das  Mentagra  fanden  sich 
in  dem  dritten  Buche  seiner  Koo/ut]Tixd^),  und  Galen  hat  folgende 
Beschreibung   des  Leidens  wörtlich  daraus  excerpiert -): 

[KgiTOJVog  Jigog  zovg  im  zöjv  yeveiojv  lsix'fivag.'\  'E(pe^fjg  tovtcov,  o  Kqitojv  eyQaips 
jigog  zovg  sjii  zöiv  yevEioiv  Xeixfjvag  oids  7t(og.  Jtgog  ^s  zovg  sjii  zöJv  yEVEiojv  ?.f;i)rfjrag 
jia&og  arjÖEOzazov,  xal  yafi  }(vt]o/iovg  ejtKpsQEi  nal  jiEfjioiaoir  zmv  czsjiovdözcov  y.nl  yJv- 
Svvov  ovx  oXiyov,  eqjiei  yuo  eoziv  6'ze  xaO'  ö)mv  zov  jtQoawjtov,  xal  wpOaXiww  ajiTEiai 
xal  o^eÖov  zfjg  drojidzco  8vofWQ(/)iag  sailv  al'riov. 

Auch  diese  Schilderung  bestätigt  die  Angaben  des  Plinius 
über  den  Beginn  der  Affektion  am  Kinne  und  das  allmähliche  Herauf- 
kriechen {eqjiei)  nach  oben,  was  sehr  charakteristisch  für  eine  Derma- 
tomykose ist.  Kriton  scheint  schwerere  Formen  dieser  Affektion 
beobachtet  zu  haben,  da  er  von  ihrer  „Gefährlichkeit"  spricht.  Er 
hebt  auch  den  Juckreiz  hervor. 

Um  welche  Krankheit  hat  es  sich  nun  beim  Mentagra  ge- 
handelt? Dass  es  nicht  Syphilis  war  und  sein  konnte,  haben  schon 
die  älteren  Syphilisgeschichtsschreiber,  wie  z.  B.  Matthiolus  und 
Brassavola  erkannt''). 

Alles:  das  ursprüngliche  Auftreten  unter  den  durch  die  Kuss- 
sitte einer  Infektion  am  Kinn  besonders  ausgesetzten  Vornehmen,  der 
Beginn  am  Kinn,  die  Art  der  Ausbreitung  per  continuitatem,  der 
Juckreiz,  die  Verunstaltung  des  Gesichtes,  das  periphere  Fortschreiten 
nacti  Abheilung  des  Centrums,  wie  dies  Galen  andeutet,  alles  dies 
spricht  für  eine  Dermatomykose  und  zwar  für  eine  der  vielen  Arten 
der  Trichophytie. 

Vor  einigen  Jahren  hat  schon  der  gelehrte  Medizinhistoriker 
J.  Chr.  Huber  diese  Diagnose  gestellt  und  treffend  begründet^). 


i)  Galen  1.  c,  ed.   Kühn,   XII,   827. 

2)  Ib.   XII,  830. 

3)  Matthiolus  bemerkt  treffend:  ,,Nani  si  Mentagra  (qiiod  morbi  genus  Graeci 
lichenas  appellant)  foeniinas,  servos  plebemque  humilem  ac  mediam  non  invasit,  verum  Pro- 
ceres tantum  veloci  transitu  osculi,  Aggregator  ipse  viderit,  quomodo  rectius  dicatur  Galliens. 
Nam  tempestate  nostra,  nullis  immun ibus  relictis.  per  morlales  grassatur.  Praemisimus 
enim  Gallicum  saepius  in  verendorum  ])articulis  oriri,  at  liehen  quoniam  mentum 
invaserat,  Älentagrae  nomen  sibi  vindicaverat".  Petri  Andreae  Matthioli,  De  morbo 
Gallico  opusculum,  in:  Luisinus,  Aphrodisiacus,  Lugduni  Batavorum  1728  p.  252  (ähnlich 
auch  Brassavola  ebendort  p.  669). 

4)  J.  Chr.  Huber,  Rezension  von  Rosenbaums  Geschichte  der  Lustseuche  im 
Altertume,   ".  Aufl.,    1904  in:  Münchener  med.  Wochenschr.    1904,  Nr.  45. 


—     643      — 

Er  sagt:  „Auch  das  Mentagra  Plinii  hat  man  zu  den  vene- 
rischen Leiden  gestellt.  Diese  in  Histor.  natur.,  Lib.  XXVI,  cap.  f 
und  2  beschriebene  Dermatose  befiel  nur  Männer  von  Stand;  Frauen, 
Sklaven  und  Plebs  wurden  verschont.  Rosenbaum  sieht  hier  eine 
venerische  Krankheit  des  Cunnilingus.  Ich  halte  das  Leiden  für 
.Sycosis  parasitaria  (Herpes  tonsurans  durch  den  von  Gruby  1842 
und  Malmsten  entdeckten  Pilz).  Diese  Ansicht  vertritt  auch  Jean 
Breitbach  (1888)  in  seiner  Bonner  Dissertation  über  Sycosis  para- 
sitaria; somit  dürfte  sie  auch  die  Ansicht  des  bedeutenden  Derma- 
tologen Doutrelepont  sein.  Wie  kann  man  ein  Leiden  für  vene- 
risch halten,  das  Weiber,  Sklaven  und  Plebs  verschont  und  nur 
bärtige  Männer  der  besseren  Stände  befällt!  Auch  wissen  wir  aus 
dem  Parasitenbuche  von  Perroncito,  dass  Herpes  totisurans  in 
Italien  häufig  ist." 

Man  kann  in  der  That  das  Mentagra  mit  Bestimmtheit  als  eine 
der  zahlreichen  Formen  der  Trichophytie  diagnostizieren,  von  welcher 
Dermatomykose  die  neuere  Forschung-  zeitlich,  örtlich  und  klinisch 
sehr  verschiedene  Arten   festgestellt  hat^). 

So  wissen  wir,  dass  diese  Pilzerkrankung  der  Haut  sehr  leicht 
von  Person  zu  Person  übertragen  wird  und  auch  heute  noch  in  einer 
Art  von  Epidemie  auftreten  kann,  wie  denn  z.  B.  in  den  Jahren 
1882 — 1885  in  Leipzig  und  Berlin  eine  solche  epidemische  Verbreitung 
der  „Bartflechte",  des  antiken  Mentagra,  beobachtet  worden  ist 2). 
Auch  nimmt  das  Leiden  in  den  südlicher  gelegenen  Ländern  einen 
mehr  akuten  Verlavif^),  besonders  bei  den  tieferen  Barttrichophytien, 
wie  ihn  schon  Plinius  geschildert  hat.  Trotzdem  erstreckt  sich  die 
Dauer  der  Affektion  auf  Monate  und  Jahre.  Das  gilt  vor  allem  für 
eine  in  Italien  häufige  Form,  die  durch  das  Trichophyton  rosaceum 
hervorgerufen  wird  und  trotz  Behandlung  länger  als  ein  Jahr  dauert^). 
Auch  das  Jucken,  die  kleienförmige  Abschuppung,  das  peripherische 
Weiterkriechen,  das  ausschließliche  Vorkommen  bei  Männern,  wie 
dies  von  Plinius  und  Kriton  beschrieben  wird,  gehört  zur  Sympto- 
matologie der  trichophytischen  Bartflechte,  der  Sycosis  parasitaria. 


i)  Man  vgl.  besonders  die  vorzügliche  Abhandlung  von  H.  C.  Plaut  ,, Trichophytie" 
in:  Mraceks  Handbuch  der  Hautkrankheiten,  Wien  und  Leipzig  1909,  Bd.  IV,  2,  S.  73 
bis   156. 

2)  Vgl.  Kaposi,  Pathologie  und  Therapie  der  Hautkrankheiten,  5.  Aufl..  Berlin- 
Wien    1899.   S.    1002. 

3)  Plaut  a.  a.   O.,  S.   74. 

4)  Ibid    S.    127. 


—      644     — 

Die  folgende  Schilderung  der  Sycosis  trichophytica  von  Behrend  i) 
deckt  sich  im  wesentlichen  mit  derjenigen  der  genannten  antiken 
Autoren,  wobei  nochmals  daran  zu  erinnern  ist,  dass  das  Mentagra 
wohl  eine  besondere  Form  der  Trichophytonerkrankung  darstellt,  wie 
sie  im  Norden   nicht  beobachtet  wird: 

,, Gelangt  der  Pilz  auf  irgend  eine  Weise  auf  den  bärtigen  Teil  des  Gesichtes,  so 
bildet  sich  zunächst  an  der  Austrittsstelle  des  Haares  ein  kleines  rotes  Knötchen,  welches 
juckt  und  sich  alsbald  mit  einer  kleinen  Schuppe  bedeckt.  Schon  in  kurzer  Zeit  dehnt 
sich  die  Röte  weiter  aus,  es  kommt  zur  Entwicklung  einer  runden  Scheibe  mit  etwas  er- 
habenem Rande,  die  mit  Schuppen  bedeckt,  sich  allmählich  vergrössert  und  den  Um- 
fang eines  Fünfzigpfennigstückes,  eines  Markstückes  und  darüber  erreicht.  Anfangs  ist  die 
Entzündung  ziemlich  oberflächlich  und  die  Infiltration  nur  massig,  später  jedoch,  etwa  nach 
vierzehntägigem  Bestände,  dringt  sie  in  die  Tiefe,  so  dass  es  zur  Entwicklung  derber,  tief 
in  das  Unterhautbindegewebe  reichender  und  auf  ihrer  Unterlage  frei  beweglicher,  knotiger 
Verdickungen  des  Corium  kommt.  In  vielen  Fällen  bilden  sich  auf  einer  derartigen  Scheibe 
und  zwar  dann  meist  an  ihrer  Peripherie  mehrere  isolierte  Knoten,  während  das 
Zentrum  blass  wird  und  einsinkt,  zuweilen  aber  auch  wandelt  sie  sich  in  ihrer  ganzen 
Ausdehnung  in  einen  einzigen  Knoten  dieser  Art  um,  der  alsdann  bis  zum  Umfang  einer 
Haselnuss,  ja  selbst  einer  Wallnuss  heranwachsen  kann. 

Nicht  immer  bleibt  die  Affektion  auf  ihre  ursprüngliche  Stelle  beschränkt,  vielmehr 
wird  der  Pilz  regelmässig,  sei  es  durch  die  kratzenden  F'ingcrnägel,  sei  es  beim  Abwischen 
des  Schweisses  mit  dem  Taschentuch  oder  beim  Waschen  und  Abtrocknen  auf  weitere 
Strecken  übertragen,  und  es  können  sich  daher  an  benachbarten  Stellen  sehr 
bald  gleiche  Veränderungen  herausbilden.  Indes  nicht  überall,  wohin  der  Pilz  gelangt,  kommt 
es  zur  Bildung  von  Knoten,  sondern  man  sieht  dann  an  vielen  Stellen  nur  kleine  Schüpp- 
chen-) an   den   Austrittspunkten  der  Haare  aus  den    Follikeln." 

Den  weiteren  Verlauf  des  Krankheitsprozesses,  der  schliesslich 
zu  den  auch  von  Plinius  und  Kriton  erwähnten  schweren  Ent- 
stellungen   führt,   führt   uns  Jarisch^)    recht   anschaulich    vor  Augen: 

„Allmählich  kommt  es  zum  Auftreten  von  isoliert  oder  in  Haufen  stehenden  Fblli- 
culitiden,  welche  durch  Ausbreitung  des  entzündlichen  Infiltrates  in  die  Tiefe  und  Fläche 
der  Haut  confluieren,  und  zur  Bildung  von  bald  nur  disseminiert,  bald  dicht  gedrängt 
stehenden  und  den  grössten  Teil  des  bebarteten  Gesichts,  besonders  Kinngegend  occupierenden 
Knoten  zusammenfllessen.  Diese  erscheinen  als  sehr  schmerzhafte,  bis  zu  mehreren  Centi- 
metern  hervorragende,  mehr  weniger  scharf  umschriebene,  an  ihrer  Oberfläche  meist  ver- 
krustete Tumoren.  —  Unter  dem  Einflüsse  der  Eiterung  kommt  es  zur  Elimination  imd 
Zerstörung  der  Krankheitserreger  und  die  Affektion  heilt  demzufolge  in  loco  spontan  ab, 
freilich  nicht  ohne  zeitweilig  mehr  oder  weniger  umfangreiche  Narbe nbildung^)  und 
bleibenden  Haarverlust   zu   hinterlassen.     In    der  Regel    werden    die  Patienten    in  Folge   der 


1)  Gustav  Behrend,   Lehrbuch  der  Hautkrankheiten,   2.  Aufl.,  Berlin  1883,  S.  556 
bis  557. 

2)  Das   ,,foedo  furfure"  des   Plinius. 

3)  A.  Jarisch,   Die  Hautkrankheiten,    Wien    1900,   S.    582  —  583. 

4)  Auch   diese    „cicatrix"    erwähnt  Plinius,    der   sie    zum  Teil   auf   die  Behandlung 
mit  Aetzmitteln  zurückführt. 


—     645     — 

oft    hochgradigen    Schmerzhaftigkeit    und     Entstellung    schon    frühzeitig     veranlasst, 
ärztliche   Hilfe   in  Anspruch  zu  nehmen." 

Hiernach  bleibt  wohl  kein  Zweifel  mehr,  dass  das  Mentagra 
nichts  anderes  gewesen  ist,  als  eine  Trichophy tia  profunda,  da 
es  nach  Lokalisation,  Entwickelung  und  Verlauf  sich  durchaus  mit 
dieser  Dermatomykose  deckt.  Dass  es  „Syphilis"  gewesen  sei,  wird 
ohnehin  nach  den  mitgeteilten  Daten  kein  ernstliafter  Forscher  mehr 
behaupten  können  ^). 

Itn  Zusammenhange  mit  dem  Mentagra  und  mit  der  Unsitte 
des  Küssens  muss  auch  die  Gesichtskrankheit  des  Kaisers  Ti- 
ber ins  erwähnt  werden,  die  viele  Autoren,  sogar  Rosen  bäum  (a.  a. 
O.  S.  293)  und  Proksch  (a.  a.  O.  Bd.  I,  S.  202 — 203)  für  Syphihs 
halten.  Es  sei  gleich  bemerkt,  dass  auch  diese  Diagnose  völlig 
unhaltbar  ist,  wenn  man  kritisch  und  unbefangen  die  überlieferten 
Nachrichten  prüft.  Gerade  für  die  Hautaffektion  des  Tiberius  gilt 
das  Wort:  simplex  sigillum  veri ! 

Plinius  berichtet,  dass  das  Mentagra  in  der  Mitte  der  Re- 
gierungszeit des  Kaisers  Tiberius  (14--37  n.  Chr.)  in  Rom  auftrat, 
also  etwa  im  Jahre  25  oder  26  n.  Chr.  und  dass  es  hauptsächlich 
durch  das  Küssen  unter  den  Vornehmen  sich  verbreitete  -).  Hieraus 
nun  erklärt  sich  ohne  Zweifel  das  von  Tiberius  erlassene  Verbot 
dieses  täglichen  Küssens  (Sueton.,  Tiberius  34:  cotidiana  oscula 
edicto  prohibuit)  und  höchst  wahrscheinlich  auch  seine  Abreise 
von  Rom  im  Jahre  26  n.  Chr.,  die  wohl  damit  zusammenhängt,  dass 
er  selbst  an  Mentagra  erkrankt  war.  Dies  hat  schon  Fried- 
länder vermutet^),  da  Tacitus  unter  den  Gründen,  die  Tiberius 
bewogen,  im  Jahre  26  [d.  h.  in  dem  Jahre  der  Mentagraepidemie !] 
Rom  zu  verlassen,  die  Entstellung  seines  Gesichtes  durch  Geschwüre 
und  Pflaster  erwähnt  (Annal.  IV,  57:  erant  qui  crederunt  in  senec- 
tute  corporis  quoque  habitum  pudori  fuisse:  quippe  illi  praegracilis  et 
incurva  proceritas,  nudus  capillo  vertex,  ulcerosa  facies  ac  ple- 
rumque    medicaminibus    interstincta).     In  Verbindung   mit  dem 


i)  Erwähnt  sei  noch  die  spätere  Mentagra-Epidemie  zur  Zeit  des  Soranos  (Anfang 
des  zweiten  Jahrhunderts  n.  Chr.),  von  der  Marcelius  Empiricus  (De  med.  liber  c.  19, 
p.  129)  berichtet:  Ad  lichenem  sive  mentagram,  quod  vitium  neglectum  solet  per  totam 
faciem  et  per  totum  corpus  serpere  et  plures  homines  inquinare.  Nani  Soranus  medicus 
quoiidam  ducentis  hominibus  hoc  morbo  laborantibus  curandis  (!)   in  Aquitania  se  locavit. 

2)  Deutlicher  heisst  es  in  einer  späteren  selbstsländigen  Redaktion  dieser  Stelle 
(Plinii  Secundi  Junioris  de  medicina.  Hb.  I,  c.  18,  ed.  Val.  Rose,  Leipzig  1875,  S.  33: 
eos  qui  sie  (seil,  mentagra)  vexantur  osculari  non  oportet,  quoniam  contactus  per- 
niciosus est. 

3)  Friedländer  a.  a.  O.,  Bd.  I,  S.    160. 


—    646    — 

Verbote  des  Küssens  und  dem  Verlassen  Roms  gerade  während  der 
Mentagraepidemie  kann  in  der  That  diese  Gesichtsaffektion  des  Ti- 
berius  zwanglos  als  Mentagra  gedeutet  werden,  da  ja  dieses  Leiden, 
wie  wir  oben  sahen,    mit  Pflastern    und  Aetzsalben   behandelt  wurde. 

Der  Kaiser  war  ja  der  Uebertragung-  des  Mentagrapilzes  am 
meisten  ausgesetzt,  da  gerade  ihn  die  seit  Augustus  bestehende 
Hofetikette  zwang,  die  Freunde  erster  Klasse  mit  einem  Kusse  zu 
begrüssen  (Sueton.,  Otho,  c.  6)  und  sein  offenbar  nach  der  Ansteckung 
erfolgtes  Verbot  sehr  übel  aufgenommen  wurde  (Valer.  Maxim.  II, 
6,  17,  vergl.  Friedländer  a.  a.  O.,  I,  160).  Deshalb  wurde  seine 
Erkrankung  wohl  besonders  peinlich  empfunden  und  die  Spezialisten 
gaben  sich  mit  der  Behandlung  der  kaiserlichen  Gesichtsaffektion 
ganz  besondere  Mühe  und  erfanden  zu  diesem  Zwecke  neue  Heil- 
mittel, wie  den  jQOxioxog  Jigög  sQjiiirag  Tißeoiov  Kaioagog,  den  Galen 
{jieQi  ovv&eoecog  q^aQfxdxayv  tcöv  xarä  yevr]  V,  c.  12,  ed.  Kühn  XIII,  836) 
erwähnt.  Wenn  wir  uns  erinnern,  dass  auch  vom  Mentagra  der  Aus- 
druck egjisiv  gebraucht  wurde,  so  können  sich  die  eQJirjxeg  an  dieser 
Stelle  sehr  wohl  auf  diese  Affektion  beziehen.  Sie  können  aber  auch 
ganz  allgemein  als  ,, Flechten"  gemeint  sein,  da  die  egjifjteg  analog 
diesem  deutschen  Ausdrucke  verschiedene  peripher  weiter  kriechende 
Dermatosen  umfassten. 

Denn  ausser  dem  Mentagra  litt  Tiberius  höchst  wahrscheinlich 
noch  an  einer  schon  länger  bestehenden  Akne.  Denn  Sueton 
spricht  offenbar  von  einer  ganz  anderen  Gesichtsaffektion  des  Ti- 
berius als  dem  Mentagra,  wenn  er  (Sueton.,  Tiber.  68)  bemerkt: 
facie  honesta,  in  qua  tamen  crebri  et  subiti  tumores,  d.  h.  es  bil- 
deten sich  häufig  und  plötzlich  Knoten  im  Gesichte,  wie  dies  bei 
der  Akne  und  der  Rosacea  der  Fall  ist.  Eingehender  hat  der  Kaiser 
Julian  in  einer  Beschreibung  des  Tiberius  in  der  Unterwelt  diese 
Affektion  geschildert  (Caesares  in  Opera  omnia  Parisiis  1630,  Bd.  II, 
S.  g,  zit.  nach  Rosenbaum  1.  c.   293): 

'EjTiozQacpevrsg  de  JTQog  zi]v  y.a^eÖQav  ä)q)§t]oav  cbxEiXal  xaza  xm'  vöizoi'  /ivgiai 
xavzfJQEg  zivkg  xal  ^sofiaza  xal  jiXtjyal  /aAf.Tot  xal  /iü)?.o}ji£g,  vjio  zfjg  axoXaoiag  xal 
(bfioztjzog,  tpcogat  ziveg  xal  XEixfjvsg,  oiov  iyxExavfih'ai.  Deutsch:  ,,Als  er  sich  aber  gegen 
den  Sitz  gewendet  hatte,  sah  man  nach  dem  Rücken  zu  Tausende  von  Narben,  Brand- 
flecke, Schaben,  harte  Striemen  und  Schwielen,  von  seiner  Ausschweifung  und  Roheit 
mancherlei  tpwQai   und  lEi^rjvEg  gleichsam    eingebrannt." 

In  der  Voraussetzung,  dass  dies  kein  Phantasiebild  ist,  ähnlich 
dem  in  Lucians  „Cataplus  sive  Tyrannus"  (c.  24  und  c.  28),  wo  die 
Uebelthaten  in  der  Unterwelt  in  Gestalt  von  Brandmjden  und  ähn- 
lichen Verunstaltungen  sichtbar  werden,  sondern  dass  Julian  wirklich 


—     647      — 

nach  überlieferten  Berichten  die  Affektion  schildert,  so  wird  jeder 
moderne  Dermatologe  sogleich  die  Diagnose  einer  sehr  hartnäckigen 
und  langjährigen  Akne  stellen,  die  die  obere  Rückenpartie  in  der 
geschilderten  Weise  zu  verunstalten  pflegt.  Bei  dem  Alter  desTiberius 
war  sie  g-ewiss  noch  mit  einer  Seborrhoe  vergesellschaftet,  die  die 
von  Sueton  erwähnten  häufigen  Rezidive  erklärt,  die  im  übrigen 
auch  durch  den  übermässigen  Alkoholgenuss,  den  Sueton  (Tiber.  42 
„Biberius"  statt  „Tiberius")  geisselt,  herbeigeführt  sein  konnten '). 

Dass  man  auf  Grund  der  vorliegenden  Berichte  nur  zu  einer 
solchen  Diagnose  kommen  kann,  bestätigen  auch  die  folgenden 
Aeusserungen  eines  Meisters  in  der  modernen  dermatologischen  Dia- 
gnostik. 

Unna  sagt  von  der  Krankheit  des  Tiberius: 

„Auch  die  von  Tacitus  und  Sueton  geschilderte  Krankheit  des  Tiberius  ist  im  Lichte 
heutiger  Pathologie  gewiss  nichts  weniger  als  Syphilis  und  wird  in  allen  Einzel- 
heiten verständlich,  wenn  man  annimmt,  dass  er  sein  Leben  lang  ein  derbhäutiger  Sebor- 
rhoiker  gewesen  ist  und  in  der  Jugend  an  ausgebreiteter  Akne,  später  an  sebor- 
rhoischer Alopecie  und  Rosacea  pustulosa  gelitten  hat.  Noch  heute  wird  das  Aus- 
sehen dieser  Unglücklichen  im  Volksnnmde  stets  auf  unmässiges  Trinken  und  geschlechtliche 
Ausschweifungen  zurückgeführt.  Hätte  der  alte  Tiberius  wirklich  wegen  (tertiärer)  Syphilis 
Pflaster  im  Gesicht  getragen,  so  wäre  wohl  auch  vom  Verschwinden  seines  Nasengerüstes 
oder  Defekten   seines  Schädels  in  derselben   Beschreibung  die  Rede  gewesen"'-). 

Und,  füge  ich  hinzu,  würde  Sueton  (Tiberius  68)  von  einem 
von  so  schwerer  Syphilis  Heimgesuchten  gesagt  haben:  Valetudine 
prosperrima  usus  est,  tempore  quidem  principatus  paene  toto  prope 
inlaesa,  quam  vis  a  tricesimo  aetatis  anno  arbitratu  eam  suo  rexerit 
sine  adiumento  consiliove  tuedicorum?  Eine  Seborrhoe,  eine  hart- 
näckige Akne,  selbst  ein  INIentagra  braucht  den  allgemeinen  Gesund- 
heitszustand nicht  zu  beeinträchtigen,  wohl  aber  muss  dies  eine  so 
schwere    ulceröse  Syphilis   thun,    wie    sie    hier   angenommen    wurde  ^). 


1)  „Ein  allgemein  bekanntes  ätiologisches  Moment  der  Krankheit  aller  und  besonders 
auch  des  höchsten  Grades  von  Acne  rosacea  ist  der  übermässige,  gewohnheitsmässige  Genuss 
von  Alcoholicis".  M.  Kaposi,  Pathologie  und  Therapie  der  Hautkrankheiten,  5.  Aufl., 
Wien    1899,  S.  558. 

2)  P.  G.  Unna  in  der  Besprechung  von  J.  K.  Proksch's  Geschichte  der  venerischen 
Krankheiten,  Bd.  I  in:  Unna's  Monatshefte,  Bd.  XX,    1895,  S.  442. 

3)  Allerdings  scheint  Tiberius  einmal  von  einer  akuten,  kolikartigen,  epidemischen 
Darmerkrankung  heimgesucht  worden  zu  sein.  Wenigstens  berichtet  Plinius  (Nat.  histor. 
XXVL  6):  Id  ipsum  mirabile,  alios  desinere  in  nobis,  alios  durare,  sicuti  colum.  Tiberi 
Caesaris  principatu  irrepsit  id  malum,  nee  quisquam  id  prior  imperatore  ipso  sensit,  magna 
civitatis  ambage,  cum  in  edicto  eius  excusantis  valetudinem  legeret  nomen  incognitum.  Von 
einem  schweren,  chronischen,  den  ganzen  Körper  in  Mitleidenschaft  ziehenden  Leiden  des 
Tiberius,   wie  es  die  Syphilis  gewesen  wäre,   ist  aber  nirgends  die  Rede. 


—    648    — 

An  dieser  Stelle  mag  noch  beiläufig  bemerkt  werden,  dass  man  auch  den  Kaiser 
Augustus  für  syphilitisch  erklärt  hat.  Proksch')  beruft  sich  auf  eine  Krankheitsschil- 
derung bei  Sueton  (Augustus,  c.  80),  welche,  wie  er  meint,  „an  Syphilis  gemahnt".  Diese 
Stelle  lautet: 

„Corpore  traditur  maculoso,  dispersis  per  pectus  atque  alvum  genetivis  notis 
in  inodum  et  ordinem  ac  numerum  stcllarum  caelestis  ursae,  sed  et  callis  quibusdam,  ex 
p rurigine  corporis  adsiduoqne  et  vehementi  strigilis  usu  plurifariam  concretis 
ad  impetiginis   formain." 

Das  ist  eine  so  deutliche  und  bestimmte  Schilderung  von  über  Brust  und 
Unterleib  zerstreuten  Muttermälern  und  eines  Pruritus  senilis  mit  seinen  durch 
Kratzen  und  den  häufigen  Gebrauch  des  Badestriegels  hervorgerufenen  bekannten  Folge- 
erscheinungen (Hautverdickung,  ekzematöse  Stellen),  dass  man  sich  wundern  muss,  wie 
hier  überhaupt  an   die   Diagnose  ,, Syphilis"  gedacht  werden  kann. 

Uebrigens  hat  Sueton  in  den  Kapiteln  80 — 82  noch  einige  weitere  Mitteilungen 
über  Ivrankheiten  des  Augustus  gemacht,  aus  denen  sich  ergielit,  dass  er  von  angeborener 
schwächlicher  Konstitution  war,  an  Schreibkrampf  des  rechten  Zeigefingers,  Blasensteinen 
litt,  verschiedene  akute  und  gefährliche  Krankheiten  durchmachte,  wie  z.  B.  eine  Hepa- 
titis acuta  (distillationibus  iecinore  vitiato),  die  von  Antonius  Musa  durch  kalte  Um- 
schläge geheilt  wurde.  Auch  war  er  sehr  empfindlich  gegen  die  periodischen  Witteiungs- 
wechsel,  im  Herbst  war  er  sehr  abgespannt  (languebat),  im  Frühling  bekam  er  Bronchitis 
(praecordiorum  inflatione)  und  Schnupfen  (gravedine).  Deshalb  sah  er  sich  zu  einem  von 
Sueton  (Aug.  82)  ausführlich  geschilderten  System  der  Abhärtung  genötigt.  Von  irgend 
einem   Leiden,   das  auch   nur  entfernt  an   Syphilis  erinnert,  ist  nirgendwo  die  Rede. 

Mit  der  Sitte  des  Küssens  berührt  sich  nahe  die  der  Benutzung 
eines  gemeinsamen  Bechers,  wodurch  ohne  Zweifel  mit  Leichtig- 
keit syphihtische  Infektionen  herbeigeführt  werden  können,  wenn  ihre 
Quelle,  die  .Syphilis,  und  die  dabei  so  häufigen  Plaques  muqueuses 
der  Lippen  und  Mundschleimhaut  existiert  hätten.  Schon  von  dem 
kretischen  ävdo£ior>  berichtet  Athenaeus  (T3eipnosoph.  IV,  22,  p.  143c), 
dass  die  jüngeren  Tafelgenossen  aus  einem  einzigen  gerneinsamen 
Becher  tranken.  Auch  später  trank  man  zum  Zeichen  der  Freund- 
schaft oder  Liebe  aus  demselben  P>echer  (Achilles  Tatius  II,  g; 
Lucian.,  Dial.  deor.  5,  2;  6,  2).  Ovid  sagt,  dass  der  Liebhaber  an 
derselben  Stelle  aus  dem  Becher  trinken  müsse,  wo  ihn  die  Lippen 
des  Mädchens  berührt  haben: 

Pocula,  quaque  bibit  parte  puella,   bibas 

(Ars  amat.  I,  576). 

Sehr  deutlich  spielt  Martial  (II,  15)  auf  den  Ekel  an,  den  ein 
solches  Zutrinken  hervorrufen  musste,  wenn  der  eine  Partner  eine 
Mundkrankheit  hatte  oder  Mundunzucht  trieb: 


I)  J.   K.   Proksch   a.   a.   O.,   Bd.   I,  S.   203. 


—     649     — 

Quod  nulli  calicem  tuum  propinas, 
Humane  facis,  Horme,  non  süperbe  '). 

Neben  den  bisher  geschilderten  Momenten,  die  unbedingt  eine 
gewaltige  Verbreitung  der  Syphilis  hätten  begünstigen  müssen-),  falls 
sie  existiert  hätte,  giebt  es  aber  im  antiken  Leben  auch  solche,  die 
als  hemmende  Faktoren  für  die  Verbreitung"  venerischer  Krank- 
heiten, speziell  der  S3^philitischen  Ansteckung  betrachtet  werden  können, 
ohne  dass  sie  natürlich  jene  erstgenannten  gänzlich  paralysiert  hätten. 

Da  kommt  in  erster  Linie  die  noch  für  die  moderne  Welt  vor- 
bildliche und  immer  noch  unerreichte  antike  Reinlichkeit  in  Be- 
tracht, die  wie  Essen  und  Trinken  und  geschlechtliche  Bethätigung 
ein  unentbehrHches  Element  des  täglichen  Lebensgenusses  im  Alter- 
tum gewesen  ist^j. 

Wenn  man  einen  Unterschied  zwischen  Griechen  und  Römern  in  Beziehung  auf  die 
Bäder  machen  will,  so  kann  man  ihn  vielleicht  darin  finden,  dass  im  ganzen  bei  den  Griechen 
mehr  das  Privatbad,  bei  den  Römern  mehr  das  grosse  öffentliche  Bad  dominierte,  bei  letz- 
teren wenigstens  das  öffentliche  Badewesen  unvergleichlich  grossartiger  entwickelt  war  als  bei 
den  Hellenen.  Allerdings  gilt  das  erst  für  die  nimische  Kaiserzeit,  während  früher  das 
römische  Badewesen  in  Vergleichung  mit  dem  griechischen  recht  primitiv  war'*)  und  sich  in 
seiner  späteren  Ausbildung  eng  an  die  griechischen  Verhältnisse  anlehnt,  wie  dies  schon  die 
aus  dem  griechischen  entlehnte  Terminologie  beweist  (balneum  =  ßalavEiov,  thermae  =  ßsQfid 
seil.    ?.ovTQä). 

In  der  That  lässl  sich  das  griechische  Badewesen  bis  in  die  mykenische  und  homerische 
Zeit  zurück  verfolgen,  wie  eine  kurze  Betrachtung  der  interessanten  Terminologie  ergeben 
wird,  die  uns  zugleich  eine  Uebersicht  über  die  wichtigsten  Details  der  hellenischen  Bäder 
geben  wird. 

Schon  bei  Homer  kommen  ausser  den  nervenstärkenden  .Seebädern  [Xoetqu 'OneavoTo 
Ilias    l8,  489;   Od.    5,    275,   näheres  darüber  bei  Athen.   I,   44,  p.    24c)^)  auch  Hausbäder 


1)  Ueber  die  gewiss  gefährlichen  ,,communia  pocula"  in  den  Bordell-  und  Ver- 
brecherkneipen vgl.  Juvenal   VIII,    177. 

2)  Diese  Notwendigkeit  hebt  auch  C.  v.  Liebermeister  hervor.  Vgl.  seine 
Aeusserung  oben,  Teil  I,  S.   7. 

3)  Ueber  Waschen  und  Baden  bei  den  Griechen  vgl.  man  die  ausführlichen  Mit- 
teilungen bei  Iwan  von  Müller,  ,,Die  griechischen  Privataltertümer"  (in:  Handbuch  der 
klassischen  Altertumswissenschaft,  Bd.  IV,  Abteil.  I,  2.  Hälfte,  München  1893,  2.  Aufl., 
S.  132 — 135;  ferner  die  anregende  Studie  von  Karl  Sudhoff,  Aus  dem  antiken  Bade- 
wesen. Medizinisch-kullurgeschichtl.  Studien  an  Vasenbildern,  Berlin  1910;  über  Rom  vgl. 
E.  M.  vom  Saal,  Das  Badeieben  im  alten  Rom,  Leipzig  1895;  P"riedländer,  Sitten- 
geschichte, Bd.  III,  S.  145  ff. ;  Theodor  Birt,  Die  Bäder  in:  Kulturgeschichte  Roms, 
Leipzig  1909,  S.  79 — 89;  Ch.  Daremberg  in  seiner  Ausgabe  des  Oreibasios,  Bd.  II, 
S.  865—883. 

4)  Vgl.  darüber  die  lebhafte  Schilderung  Senecas  (Epist.  86). 

5)  See-  und  Flussbäder  werden  uns  auch  auf  Vasenbildern  vorgeführt.  Mehrere  Bei- 
spiele beschreibt  Karl  Sud  hoff.   Aus  dem  antiken   Badewesen,   Berlin    1910,  S.    25  —  26. 


—    650    — 

in  Badewannen  (uaäfiii'üoi  vgl.  Athen.  I,  44,  p.  24d)  und  warme  Privatbäder  (Ilias  14, 
6:  dsQua  XoetqÖ.),  sowie  Fusswaschungen  {jio8Üvijitqo%>  Odyss.  15,  504  und  19,  343)  vor. 
Die  warmen  Bäder  scheinen  gerade  in  der  heroischen  Zeit  behebter  gewesen  zu  sein  als 
in  der  klassischen  Periode,  wo  ein  Arislophanes  (Nubes  1045  — 1046)  die  OsQfia  lovzgd 
als  y.äxiocöv  und  deiXoraTOv  lür  die  INIannhaftigkeit  verwirft  und  wohl  die  kalten  Bäder 
{if'vxQa  IovxqÜ  ib.  1051,  Hip poerat.,  de  vict.  rat.  II,  Kühn  I,  694)  vorzieht.  Erst 
später  in  der  hellenistischen  Zeit  kamen  sie  neben  den  bis  dahin  am  meisten  gebräuchlichen 
kalten   Bädern   und   Uebergiessungen  wieder  zur  Geltung '). 

Die  klassische  Badeterminologie  ist  eine  sehr  reichhaltige:  ßaXavsTov  (Aristoph., 
Plut.  535;  Eq.  1401;  Plato,  Rep.  VI,  495  e  u.  ö.)  Bad;  o  ßaXavEVQ ,  Bademeister, 
Badegehülfe  (Aristoph.,  Av.  491;  Plato,  Rep.  1,  344d;  Aristoph.  Eq.  1403  u.  ö.); 
ßahiviooa,  Badedienerin  (Anthol.  Palat.  V,  82  ed.  Dübner  I,  74;  ßaXavEveiv ,  im 
Bade  bedienen  (Aristoph.,  Lysistr.  337)  —  Iovtqov,  häufigei  lovigä  (Hippocr.,  De 
vict.  rat.  II,  Kühn  I,  694;  Soph.,  Ant.  1186;  Aeschyl.,  Prometh.  555;  Antiphanes 
bei  Athen.  I,  32,  p.  18c),  das  kalte  Bad;  XovtqÜ  dF.Qfia  (Hippocrat.,  De  vict.  rat.  II, 
Kühn  I,  694;  Homer.,  Ilias  14,  6;  Pind.,  Ol.  12,  21),  ^F.Q^ioXovoia  (Galen  ed. 
Kühn  XI,  181;  Plut.  de  san.  tuend,  p.  394),  das  warme  Bad;  ■&s(}fioXovrQeiv , 
^EQfioXoi'TsTv  (Aristot.  probl.  i,  29;  Hermippos  bei  Athen.  I,  32,  p.  i8c)"); 
6  XovTfjojv  (Aeschyl.,  Eum.  439;  Xen.,  Ath.  2,  10),  Badehaiis;  6  XovxQOjioiög  (Poll. 
7,  167:  so  hiess  ein  Stück  des  Anaxilas)  der  das  Bad  bereitet;  6  X.ovttjq  (Athen, 
p.  199  c)  Badebecken,  Badetisch  ■');  x6  Xovtijqiov  (Aeschyl.  fragm.  321)  Badebecken; 
XovTQoy^öo? ,  wasserergiessend  (iQiJiovg  der  dreifüssige  Kessel,  in  dem  das  Badewasser  er- 
wärmt wird,  Ilias  18,  346;  Od.  8,  433)  oder  der  Sklave,  der  das  Bad  bereitet  (Od.  20, 
297;  Xenoph.,  Cyrop.  8,  8,  10;  Athen.  XII,  p.  518c);  to  Xovzqiov  (Aristoph.  Eq. 
I401)  das  gebrauchte  Badewasser.  —  o  TiodaviTnt'jQ  (Herod.  2,  172;  Aristot.,  Pol- 
I,  12)  Fussbecken,  Waschschüssel');  r)  jivsXog  (Aristoph.,  Pax  843;  Lucian.,  Lexijihan. 
5)  Badewanne;  >;  aQVxaiva  (Aristopii.,  Equit.  1087;  Theophr.,  char.  9,  3)  die  Giess- 
kanne;  6  uqv ßaXog  (Athen.  XI,  783!.;  Aristoph.,  Equit.  1094)  kleineres  Giessgefäss'*); 
ij  xoXv fißrjO Qd  (Plato,  De  rep.  V,  p.  453d;  Alexis  bei  Athen.  I,  p.  18c)  Ort  zum 
Baden,  Tauch-  und  Schwimmbad;  ?/  7ivi>ia  (Herod.  4,  75;  Plut.,  Symjios.  3,  10,  3), 
ro  jiVQiaiia  (Aristot.,  probl.  i,  55;  Poll.  7,  168)  das  trockene  Dampfbad  oder  Schwitz- 
bad; 6  jiagaxvTtjg  oder  jisQixvztjg ,  jiaQUXECOv  (Athen.  XII,  S'^*^»  Oxyrhynchos 
Papyri  Bd.  I,  p.  231 — 232;  Pap.  de  Magdola  Nr.  XXXIII  bei  Sudhoff,  Papyrus- 
Urkunden  S.  89)  Badediener;  xa/^iydgtog  (Edictum  Diocletiani  VII,  75  u.  76),  der  Gar- 
derobier des  öffentlichen  Bades. 


i)  Vgl.  den  Papyrus  von  Magdola  aus  dem  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  bei  Sud  hoff, 
Aerztliches  aus  griechischen   Papyrusurkunden,   S.   89 — 90. 

2)  Mit  Aristophanes  stimmen  andere  Dichter  der  attischen  Komödie  wie  Anti- 
phanes (bei  Athen,  p.  i8c:  ovko  oxeqeov  xi  ngäyfia  dEQfiöv  iad'  vScoq)  und  Hermippos 
(ebendort)  in  der  Verwerfung  des  warmen   Bades  überein. 

3)  Der  X.ovxrjQ  diente  auch  für  die  Reinigung  des  ganzen  Körpers.  Ueber  seine 
Formen  und  Verwendung  vgl.  Sudhoff,  Aus  dem  antiken  Badewesen,  S.  29 — 43  (mit 
Abbildungen). 

4)  Sie  kommt  schon  bei  Homer  (Od.  15,  504;  19,  343)  vor,  sowie  auf  einer  alten 
kyprischen  Terrakotte  (Abbildungen  bei  Sudhoff  a.  a.  O.,  S.  4—5,  vgl.  ferner  ebendort 
S.    15 — 16  und  S.    24). 

5)  Üeber  den  Unterschied  zwischen  der  Arytaina  und  dem  Arybailos  vgl.  die  ge- 
naueren Studien  von   Sudhoff  a.   a.   O.,   S.    26  ff. 


-     651      - 

Nicht  weniger  reich  ist  die  Terminologie  des  römischen  Badewesens:  balneum, 
balineum  (Piin.,  Ep.  II,  17,  11;  III,  5,  14;  Senec,  Dial.  IV,  32,  2;  Ep.  86,  9,  10  etc.; 
Celsiis  I,  I  und  II,  17),  balineae  (Plin.  n.  h.  XX,  59),  balneus  (Petron.  41),  ba- 
liscus  (Petron.  42),  das  Bad  (meist  allgemein  das  warme);  balneator  (Plin.,  n.  bist. 
XVIII,  c.  44;  Mart.  III,  93,  14)  Bademeister;  lavatio  (Cic,  ep.  9,  5,  3)  Bad;  lavatio 
(Phaedr.  4,  5,  22)  Badegeschirr;  lavabrum,  labrnm  (Lucret.  VI,  799,  Vitruv.  V,  10,  4) 
Badewanne;  frigidarium,  frigidaria  cella  (Plin.,  ep.  V,  6,  26;  II,  17,  11)  das  kalte 
Bad;  tepidarium  (Cels.  I,  3 ;  I,  4)  das  lauwarme  Bad;  calidarium  (Cels.  I,  4),  cal- 
daria  cella  (Plin.,  ep.  V,  6,  26)  das  heisse  Bad;  sudatorium  (Senec.  ep.  51,  6; 
de  vita  beat.  7,  3)  Schwitzbad,  Dampfbad;  laconicum  (V^itruv.  V,  1 1 ;  Martial.  VI,  42; 
Dio  Cass.  53,  27)  Raum  für  das  trockene  Schwitzbad;  vaporari  (Petron.  73)  im  Dampf- 
bade sitzen;  vaporarium  (Senec,  nat.  quaest,  3,  24,  3)  Dampfröhre;  hypocaustum 
(Plin.,  ep.  II,  17,  11)  Heizgewölbe  der  Bäder;  piscina  (Plin.,  ep.  II,  17,  11;  V,  6,  23) 
Schwimmbassin;  solium  (Cels.  I,  4;  Petron.  73)  Badewanne;  in  solium  descendere 
(ibidem),  in  die  (tiefer  gelegene)  Badewanne  steigen;  capsarius  (Dig.  I,  15,  3)  Badediener. 
Die  griechischen  Bäder  lagen  meist  neben  den  Gymnasien  und  Palaestren  (Vitruv. 
V,  1 1).  Nach  U.  V.  Wilamowitz-Moellendorff  *)  waren  sie,  soweit  sie  Staatsanstalten 
waren,  unentgeltlich,  und  ausser  dem  Wasser  ward  auch  die  Seife  geliefert.  Wahrscheinlich 
gab  es  aber  auch  reservierte  Zellen  und  Trinkgelder  für  das  Sklavenpersonal.  Private  Palaestren 
wie  die  des  Dionysios  bei  Piaton,  die  des  Timagetos  auf  Kos  bei  Theokrit  werden 
nach  V.  Wilamowitz  auch  Eintrittsgeld  gefordert  haben.  Auf  einem  Vasenbilde '^)  steht 
die  Inschrift  Srjfiöaia  als  Bezeichnung  für  ein  öffentliches  Bad,  was  auf  den  Gegensatz  l'dia 
seil.  ßaXavEia  für  ein  Privatbad  hinweist.  Reiche  Bürger  stifteten  häufig  Freibäder  für  das 
Volk  oder  errichteten  ganze  Badeetablissements  zur  unentgeltlichen  Benutzung,  manchen 
wurden  auch  die  Unkosten  für  die  Bäder  vom  Staate  auferlegt'').  Schon  in  frühptolemäischer 
Zeit  bestand  eine  Steuer  für  die  Benutzung  öffentlicher  Bäder  (rö  ßaXavEiov),  die  z.  B.  von 
den  Tempeln  entiichtet  werden  musste,  die  auf  ihrem  Grund  und  Boden  Badeanstalten  an- 
legten. In  der  Kaiserzeit  zahlte  man  auch  in  öffentlichen  Bädern  ein  kleines  Eintrittsgeld, 
das  zwischen  einem  Quadrans  ('/^  As)  und   i   As  schwankte^). 

Die  grossartige  Entwicklung  des  Badewesens  in  der  Kaiserzeit  wird  uns  sowohl  für 
die  grossen  als  auch  die  kleineren  Städte,  ja  sogar  für  Dörfer^)  durch  zahlreiche  Angaben 
bei  griechischen  und  römischen  Autoren  bezeugt.  „Vielleicht  für  keinen  Zweck",  sagt 
Friedländer®),  ,,sind  in  den  Inschriften  der  Städte  Italiens  sowie  sämtlicher  Provinzen 
Stiftungen  und  Vermächtnisse  häufiger  bezeugt  als  für  Erbammg,  Erhaltung,  Ausstattung  und 
unentgeltliche  Freigebung  öffentlicher  warmer  und  kalter  Bäder  für  Männer  und  Frauen, 
zuweilen  sogar  für  Sklaven  und  Sklavinnen."  Auch  die  Kaiser  waren  eifrig  auf  die  Förde- 
rung des  Badewesens  bedacht.  So  nahm  Tiberius  sogar  transportable  Badeeinrichtungen 
für  seine  Soldaten  in  den  pannonischen  Krieg  mit  (Vellej.  Patercul.  II,  114,  2),  An- 
ton in  us  Pius  stellte  dem  Volke  die  kaiserlichen  Bäder  imentgeltlich  zur  Verfügung  (Capi- 
tolinus,  Antonin.  Pius  c.  7),  Caracalla  liess  die  nach  ihm  benannten  kolossalen  Thermen 
erbauen    (Spartianus,    Carac.    c.    9),    Alexander    Severus    versorgte    alle  Stadtquartiere, 

1)  U.  V.  Wilamowi tz-Moellendorf f ,  Antigonos  von  Karystos  S.  268,  An- 
merkung 5. 

2)  Fig.  40  bei  Sud  hoff,   Badewesen  S.  51. 

3)  Vg'-  Sudhoff,  Aerztliches  aus  griechischen  Papyrus-Urkunden  S.  77 — 78. 

4)  Ibidem  S.  80—81,  84. 

5)  So  berichtet  der  jüngere  Plinius  (Ep.  II,  17,  26),  dass  ein  kleines  Dorf  bei 
Laurentum  drei  öffentliche  Badeanstalten  besass. 

6)  L.   Friedländer  a.  a.   O.,   Bd.   III,   S.    149. 

Bloch,   Der  Ursprung  der  Syphilis.  42 


—    652    — 

die  noch  keine  hatten,  mit  öffentlichen  Bädern  (Lampridius,  Alex.  Sever.  c.  39),  gross- 
artig waren  auch  die  von  dem  dritten  Gordianus  angelegten  Thermen  und  Privatbäder 
(Capitolin.,  Gordianus  tertius  c.  32).  Im  vierten  christlichen  Jahrhundert  gab  es  in  Rom 
nicht  weniger  als  856  Badehäuser  und  11  Thermen  und  in  Konstantinopel  153  Privatbäder 
und  8  Thermen^).  In  den  Gemeindeordnungen  selbst  der  kleinsten  Städte  war  die  Hygiene 
des  Badewesens  peinlich  geregelt,  wie  die  von  Hübner  und  Mommsen  veröffentlichte  Lex 
metalli  Vipascensis  erweist,  nach  der  in  den  kalten  und  warmen  Bassins  der  Badeanstalt 
eines  portugiesischen  Dorfes  Vor-  und  Nachmittags  frisches  fliessendes  Wasser  vorhanden  sein 
und  bis  zu  einer  bestimmten  Höhenmarke  reichen  mussle  luid  monatliche  ausgiebige  Reinigung 
der  Kessel  vorgeschrieben  Avar''). 

Von  grösstem  Interesse  ist  aber  die  Thatsache,  dass  auch  die 
Bordelle  in  reichlichem  Masse  mit  fliessendem  Wasser  und 
Badegelegenheiten  versehen  waren.  Plautus  erwähnt  die  Bäder 
in  Bordellen  und  ihre  intensive  Benutzung  durch  die  Insassinnen  (z.  B. 
Poenul.  I,  2).  Später  wurden  Bordelle  in  Masse  mit  immer  fliessen- 
dem Wasser  versehen,  wie  dies  aus  der  Schilderung^  des  Frontinus 
(De  aquis  c.  76:  quae  nunc  nos  omnia  simili  licentia  usurpata  utinam 
non  per  offensas  probaremus:  agros,  tabernas,  cenacula  etiam,  cor- 
ruptelas  denique  omnes  perpetuis  salientibus  instructas  lu- 
ven im  us)  hervorgeht. 

Indem  wir  an  dieser  Stelle  von  der  bei  Celsus,  Galen,  Ori- 
basius  ausführlich  erörterten  allgemeinen  hygienischen  und  thera- 
peutischen Verwendung  der  Waschungen  und  Bäder  absehen  3),  wollen 
wir  sie  nur  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Sexualhygiene  der  Alten 
betrachten. 

Dass  beim  Baden  auch  die  Genitalien  einer  speziellen  Reinigung 
unterzogen  wurden,  ersehen  wir  schon  aus  Vasenbildern.  So  zeigt 
ein  Bild  der  ehemaligen  Kollektion  Hamilton  eine  auf  dem  Rande 
eines  Tisches    sitzende   Frau    vor   dem    Badebecken,    die    gerade    mit 


i)  R.  Pöhlmann,  Die  Uebervölkerung  etc.  S.    144  — 145. 

2)  Friedländer  a.  a.  O.,  III,    149. 

3)  Erwähnt    sei    nur    ein    wenig    bekanntes  Gedicht    der  griechischen  Anthologie  (bei 
J.  G.  Regis,    Epigramme   der   griechischen  Anthologie,  Stuttgart   1858,    S.   283,   No.  304): 

Lob  des   Bades. 
Zu  vielen  guten  Gaben  hülfreich  ist  das  Bad: 
Die  Säfte  ziehts  hinunter,  löst  den  dicken  Schleim, 
Entleert  von  Gallenüberfluss  das  Eingeweid', 
Schwächt  in  der  Haut  des  Juckens  peinlich  Reizgefühl, 
Verschärft  der  Augen  Sehkraft  um  ein   Merkliches, 
Schwemmt  aus  den  Ohrkanälen  fort  Schwerhörigkeit, 
Bewahrt  Gedächtnis,  scheucht  Vergesslichkeit  hinweg, 
Erheitert  zu  Gedanken  alsobald  den  Geist; 
Die  Zunge  schmeidigt's  zu  den  Worten  wolilgelenk ; 
Den  ganzen   Leib  aufklärt  es  durch  die   Reinigung. 


-     653     - 

einem  Schwämme  ihr  Genitale  reinigt^).  Vielleicht  wurden  von  Frauen 
für  diesen  Zweck  auch  Sitzbadewannen,  Bidets  benutzt.  Sudhoff-) 
erwähnt  ein  „kleines  Waschgefäss,  das  eine  Dame  mitführen  konnte, 
flach,  ohne  Fuss  und  in  der  Form  einer  Bidetschüssel  von  heute,  die 
unter  einer  hockenden  Frauenstatuette  aus  Cypern  zur  Darstellung 
kommt"  ^). 

Im  Liebesverkehr  galt  den  Völkern  des  Altertums  die  „mun- 
dities",  die  Sauberkeit  als  erstes  Erfordernis,  wie  dies  Ovid  sowohl 
für  die  Männer  (Ars.  amat.  I,  513 — 524)  als  auch  für  die  Frauen 
(ib.  III,    133  ff.)  ausdrücklich  hervorhebt. 

Offenbar  handelt  es  sich  bei  den  Waschungen  vor  und  nach  dem  Coitus  um  eine 
ursprünglich  orientalische  Sitte,  die  dann  von  Griechen  und  Römern  übernommen  wurde. 
So  berichtet  Herodot  (I,  198)  von  den  Babyloniern  und  Arabern,  dass  Mann  und  Frau 
nach  dem  Beischlaf  ein  Bad  nehmen  und  sie  kein  Gefäss  anrühren,  bevor  sie  sich  nicht  ge- 
badet. Für  die  Aegypter  bestätigt  dies  Clemens  Alexandrinus  (Citat  bei  Rosen- 
baum a.  a.  O.,  S.  385).  Für  die  Juden,  deren  ausserordentliches  Reinlichkcitsbedürfniss 
durch  die  in  Bibel  und  Talmud  enthaltenen  Vorschriften  bezeugt  wird''),  hat  Julius  Preuss 
in  seiner  wertvollen  Studie  über  „Waschungen  und  Bäder  nach  Bibel  und  Talmud"  ^)  die 
betreffenden  Thatsachen  zusammengestellt.  Darnach  mussten  Mann  und  Weib  nach  dem 
Coitus  ein  Bad  nehmen  (Levit.  15,  18),  ebenso  nach  der  Ejacuiatio  involuntaria  (Deuteron. 
23,  12)-  Neben  der  biblischen  Vorschrift,  nach  jedem  Samenergusse  zu  baden,  die  wohl 
nur  für  den  Verkehr  mit  dem  Tempel  bestimmt  war,  existierte  noch  eine  andere  Be- 
stimmung, die  auf  Esra  zurückgeführt  wird,  dass  der  Mann  nach  jeder  Ejakulation,  ob 
intra  coitum  oder  nicht,  baden  müsse,  bevor  er  sich  wieder  mit  der  Gesetzeslehre  be- 
schäftigte. Nach  Preuss  hatte  diese  „Verordnung  Esras"  den  ausgesprochenen  Zweck, 
durch  die  Unbequemlichkeit  des  Badens  von  allzu  häufigen  Cohabitationen  zurückzuhalten. 
Man  erzählt,  ein  Mann  wollte  ein  Mädchen  ,,zu  einer  sündhaften  Sache"  zwingen;  als  sie 
ihm  zurief:  ,, woher  willst  du  nachher  Wasser  zum  vorgeschriebenen  Bade  nehmen?"  Hess 
er  von  ihr  ab  (Ber.  22a).  Noch  drastischer  ist  die  Erzählung  im  palästinischen  Talmud: 
Ein  Weinbergswächter  wollte  sich  mit  einer  verheirateten  Frau  einlassen;  während  sie  nach 
einem  Tauchbade  suchten,  kamen  Leute  dazu  und  die  Sünde  unterblieb"  (j.  Ber.  6  c  28). 
Man  ersieht  aus  dieser  Erzählung,  welchen  Wert  man  auf  das  Baden  und  die  Reinigung 
nach  dem  Coitus  legte. 

Sehr  interessant  ist  auch  die  Mitteilung  des  Joseph us  (contra  Apionem  II,  c.  24): 
xal  fiETu  Ttjv  i'o/iii/iidv  Gvvovaiav  ävÖQog  xal  yvvaixog  ajiokovaaodai  xeXevei  6  röfiog. 
ifwxy?  T£  xal  acöf^iarog  syyivEzai  fioXvofiög.      Man  schrieb  also  dem  Coitus  nicht  bloss  eine 


i)  Abbildung  32  bei  Sudhoff,  Aus  dem  antiken  Badewesen,  S.  41. 

2)  Sudhoff,  Aerztliches  aus  Papyrus-Urkunden,  S.    139. 

3)  Die  Statuette  ist  im  Besitz  der  R.  Accademia  di  Medicina  in  Turin.  P.  Giacosa 
hat  sie  auf  Tafel  34  des  Atlas  zu  seinem  Werke  „Magistri  Salernitani  nonduni  ediii" 
(Turin    1901)  abgebildet. 

4)  Diese  subtile  Körperpflege  bei  den  Juden  und  ihre  Beziehungen  zur  Prophylaxe 
der  Krankheiten  ist  schon  in  einer  wenig  bekannten  alten  Dissertation  von  Salomo  Hirsch 
Burgheim  behandelt:  ,,De  studio  munditiei  corporis  penes  Judaeos  morbis  arcendis  atque 
abigendis  apto",  Leipzig   1784. 

5)  Wiener  med.   Wochenschr.    1904,   Nr.    2  ff.    (S.-A.   22   Seiten). 

42* 


—     654     — 

seelische,  sondern  auch  körperliche  Verunreinigung    zu,    die    man    durch    die   gesetzlichen 
Waschungen  und  Bäder  beseitigte. 

.Bezüglich  der  Griechen  sind  die  Zeugnisse  für  die  Reinigung  post  coituni  spär- 
licher. Doch  liefert  die  griechische  Mythologie  einige  interessante  Beispiele,  die  Rosen - 
bäum  zusammengestellt  hat  (a.  a.  O.,  S.  386,  Anmerk.  i:  Bad  der  Europa  nach  dem 
Beischlaf  mit  Zeus  (Antigen.  Carystius,  hist.  mirab.  179),  der  Aphrodite  nach  dem 
Beilager  mit  dem  Vulkan  (Athen.  XV,  p.  681),  der  Ceres  nach  demjenigen  mit  Neptun 
(Pausan.,  Arcad.,  p.   256).     Auch  Hesiod  ("Egy.   731): 

fiJ]d^  aiSoia  yovi)  ::iS7ialayj^ievog  ev8o&i  oi'yov 
faTU]  if(.-Te?.aS6r  Traoar/  airgiisv,  dXl'  äXiaoßai 
und   Lukian,   der  von   den  Hetären  sagt  (Amor.  42):    vvxTa.(;  im  Tovzoig  öirjyov/iEvai,  xal 
xovg    ETEQoyQcorag    vnvovg    nal    drjlvTxrjxog    svvtjv  ys/novoav.     ä<p'    ■^ g    dvacrag    enaorog 
Evdv  }.ovTQOv  XQsTög  eozi,  beweisen  die  Sitte  der  Reinigung  nach  dem  Beischlafe. 

Vielleicht  gebrauchten  die  griechischen  Frauen  zur  lokalen  Reinigimg  der  Genitalien 
post  coitum  nicht  bloss  den  Schwamm,  sondern  auch  die  Alutterspritze  (d  /^ir]rQeyyvrt]g), 
deren  Gebrauch  bei  Ausflüssen  aus  den  Geschlechtsteilen  uns  durch  Soranos  (II,  41;  44 
ed.  Rose)  und  Galen  (XIII,  316  ed.  Kühn)  bezeugt  wird.  Zu  Vaginalinjektionen  benutzte 
man  die  Ohrenspritze  (djriHÖg  nkvorriQ,  Paul.  Aegin.,  ed.  Brian,  p.  300).  Auch 
eine  Art  von  Irrigator  wird  bereits  im  Corpus  hippocraticum  beschrieben  (de  sterilitate, 
c.  X)  imd  eingehend  geschildert,  wie  die  Frauen  ihn  selbst  anwenden  müssen  (vgl. 
die  Uebersetzung  von  Robert  Fuchs,  Bd.  III,  S.  602  —  603).  Vielleicht  kamen  bei  der 
Reinigung  ante  oder  post  coitum   auch   schon  solche  Hilfsmittel   zur  Verwendung. 

Bei  den  Römern  war  die  Waschung  nach  dem  Coitus  (,,a  concubitu  mariti  se 
purificare"  sagt  Sueton.  Aug.  94)  ebenfalls  Vorschrift,  der  Terminus  technicus  dafür  lautet 
,,aquam  sumere,  petere,  poscere"  (Ovid.,  Ars  amat.  III,  619;  Amor.,  üb.  III,  eleg.  7; 
Petron.,  Satir.  94;  Mart.  II,  50).  In  den  Bordellen  hatten  die  „aquarioli"  oder 
„aquarii"  die  Aufgabe,  den  Dirnen  das  Wasser  für  die  nach  dem  Coitus  notwendige 
Waschung  herbeizuholen  (Plaut.,  Poenul.  I,  2,  14;  Juvenal.  VI,  331;  Tertull.  Apolog.  43). 
Man  nannte  sie  auch  baccariones.  Rosenbaum  citiert  eine  alte  Glosse:  baccario, 
:n:oQvo8iü.xovog,  meretricibus  aquam  infundens;  eine  andere:  aquarioli,  ßaV.äösg,  ßaV.ug 
a  ßd/J.cov  vöcoQ,  ab  aqua  jaciunda.  Auch  die  Erwärmung  des  Bades  lag  ihnen  wohl  ob. 
Denn  wir  wissen  durch  Philo  (Opera,  ed.  Mangey,  II,  p.  265),  dass  zu  seiner  Zeit  sich 
die  Prostituierten  häufig  der  warmen  Bäder  bedienten. 

Dass  nicht  bloß  nach  dem  natürlichen,  sondern  auch  nach  dem 
widernatürlichen  Geschlechtsverkehr  Waschungen  vorgenom- 
men wurden,  ist  a  priori  wahrscheinlich  und  wird  durch  mehrere 
Stellen  bei  antiken  Autoren  bestätigt.  Rosen  bäum  und  Lomeier 
haben  wohl  mit  Recht  aus  Priap.  XXX  auf  den  Gebrauch  des 
Waschens  nach  dem  päderastischen  Akte  geschlossen.  Für  die  Mund- 
unzucht  bezeugt   die    nachträghche   Reinigung    mit  Wasser   Marti al 

11,  50. 

Bisher  sehr  wenig  beachtete  Stellen  über  die  Beziehung 
der  Mundspülung  zur  Unreinheit, oder  vielleicht  auch  Krank- 
heit finden   sich   bei  Catull.     So   heisst  es  Carm.  99  Vers  7  — 10: 
Nam  simul  id  factumst,  multis  diluta  labella 
Abstersi  guttis  omnibus  articulis, 


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Ne  quicquam  nostro  contractutn  ex  ore  maneret, 
Tamquani  conmictae  spurca  saliva  lupae. 
Das  Gedicht  ist  an  Juventius  gerichtet,  dem  Catull  einen 
Kuss  geraubt.  „Sobald  dies  geschehen  war,  da  spültest  du  mit  vielen 
Tropfen  die  Lippe  ab  und  wischtest  sie  ab  mit  allen  Fingergliedern, 
damit  nichts  von  meinem  Munde,  sich  setzend,  haften  bliebe,  gleich- 
sam als  wäre  es  der  unflätige  Speichel  einer  bepissten  (wohl  =  be- 
schmutzten) Dirne  1). 

Ganz  ähnlich  heisst  es  im  Carmen   77,  7  —  8: 

Sed  nunc  id  doleo,  quod  purae  pura  puellae 
Savia  conminxit  spurca  saliva  tua. 
Der  Dichter  denkt  wohl  in  beiden  Fällen  bei  dem  Ausdrucke 
,, spurca  saliva"  an  die  Mundunzucht  der  Fellatrix  (Carm.  gg)  und  des 
Fellators  (Carm.  77),  wodurch  der  Kuss  eines  solchen  Individuums 
unrein  wird  und  den  Geküssten  befleckt  („conmingere").  Deshalb  ist 
eine  sofortige  Reinigung  des  Mundes  nach  einem  solchen  Kusse 
notwendig.  Ob  hierbei  mehr  der  Gedanke  an  eine  Mundkrankheit 
massgebend  ist  oder  der  rein  ästhetische  Widerwille  prävaliert,  bleibt 
zweifelhaft. 

Merkwürdig  ist  jedenfalls  der  Schluss  des  Carm.  97  des  Catull,  wo  der  Mund 
eines  Fellators  als  ebenso  abschreckend  wie  der  Hintere  eines  kranken  Henkers  bezeichnet 
wird.     Das  auch  sonst  recht  interessante  Gedicht  lautet : 

Non   (ita  me  di  ament)  quicquam   leferre  putavi, 

Utrumne  os  an  culum  olfacerem   Aemilio. 

Kilo  mundius  hoc,   niloque  immundior  ille. 

Verum  etiam   culus  mundior  et  melior: 

Nam  sine  dentibus  est:   dentes  hoc  (seil,   os)  sesquipedales, 

Gingivas  vero  ploxeni  habet  veteris, 

Praeterea  rictum  qualem  diffissus  in  aestu 

Meientis  mulae  cunnus  habere  solet. 

Hie  futuit  multas  et  se  facit  esse  venustum, 

Et  non  pistrino  traditur  atque  asino  ? 

Quem  siqua  attingit,  non  illam  posse  putemus 

Aegroti  ailum  lingere  carnificis  ? 
,,Ich  war  nicht  der  Meinung,  dass  es  etwas  ausmache,  ob  ich  beim  Aemilius  den 
Mund  oder  den  Hintern  witterte.  Jener  ist  um  nichts  reiner,  dieser  [seil,  der  Hintere]  um  nichts 
unreiner,  ja  der  Hintere  ist  sogar  reiner  und  besser.  Denn  ihm  fehlen  die  Zähne,  jener  hat 
sechsellenlange  Zähne  und  hat  das  Zahnfleisch  eines  alten  Wagenkastens,  ausserdem  einen 
Rachen  (eigentlich  ein  ,, Maulaufsperren"),  wie  ihn  der  cunnus  eines  pissenden  Ä[aaUiers  zu 
haben  pflegt,  der  in  der  Hitze  auseinandergetreten  ist.  Dieser  hat  viel  Geschlechtsverkehr 
ausgehalten    und    behauptet,    er    sei    anmutig,    und    er    soll    nicht    der  Stampfmühle  und  dem 


i)  Diese  sowie  die  folgenden  wortgetreuen  Uebersetzungen  verdanke  ich  der  Liebens- 
würdigkeit des  Herrn  Dr.  phil.  W.  Schonack. 


-     656      - 

(den  Malstein  ziehenden)  Esel  überliefert  werden?  Wenn  diesen  (seil,  den  Mund)  eine  be- 
rührt, dürfen  wir  da  nicht  glauben,  sie  könne  ebenso  gut  den  Hintern  eines  kranken 
Schinderknechts  belecken  ?" 

Hier  wird,  wie  so  oft  bei  den  Alten,  das  Ekelhafte  und  Unverständliche  einer 
perversen  Leidenschaft  als  etwas  Krankhaftes  aufgefasst  und  mit  einer  körperlichen  Krank- 
heit verglichen. 

War  die  Sitte  des  täglichen  Bades  sicher  ein  bedeutendes  Hemmnis 
für  die  Verbreitung  venerischer  Krankheiten,  so  darf  nicht  verschwiegen 
werden,  dass  das  antike  Badewesen  als  Bestandteil  des  allgemeinen 
Genusslebens ^)  vielfach  auch  im  entgegengesetzten,  begünstigen- 
den Sinne  wirken  konnte. 

Früher  hatte  man  eine  Trennung  von  Männern  und  Frauen  in  den  Bädern  vor- 
genommen, teils  durch  Einrichtung  besonderer  Abteilungen  für  jedes  Geschlecht  in  der- 
selben Badeanstalt  (Varro,  de  ling.  latin.  8,  48;  9,  64)'-),  teils  durch  Baden  der  beiden 
Geschlechter  zu  verschiedenen  Zeiten  (Vormittags  für  Männer,  Nachmittags  für  Frauen)^). 
So  sehen  wir  auf  den  griechischen  Vasenbildern  Frauen  und  Männer  getrennt  baden'*). 
Trotzdem  kamen  auch  schon  bei  dieser  vollständigen  Trennung  sexuelle  Beziehungen  vor, 
die  in  den  Frauenbädern  teils  durch  mitgenommene  Sklaven''),  teils  durch  die  auch  in  Frauen- 
bädern beschäftigten  Bademeister  und  Badediener  vermittelt  wurden'').  Umgekehrt  gab  es 
auch   weibliche  Badegehülfen  im  Männerbade,    die  den  Männern  nicht  selten  arg  zusetzten'). 

Von  einer  eigentlichen  Unzucht  in  den  Bädern  kann  man  erst  seit  der  Zeit  sprechen, 
wo  die  gemeinschaftlichen  Bäder  (,,balnea  mixta",  Lamprid.,  Alex.  Sever.  24, 
drSQoyvva  loviQa,  Anthol.  Pal.  IX,  783)  für  Männer  und  Frauen  eingeführt  wurden. 
Dies  geschah  in  Rom  durch  Agrippa  im  Jahre  32  v.  Chr.  (Dio  Cass.  XLIX,  c.  43),  von 
wo  diese  gemeinsamen  Bäder  in  der  Kaiserzeit  sich  über  das  ganze  Imperium  verbreiteten 
und  auch  in  den  hellenischen  Ländern  üblich  wurden  (Plutarch,  Cato  major,  c.   39). 


i)  So  bei  Petron.,  Sat.  72:  immo  iam  coeperam  etiam  ego  plorare,  cum  Trimalchio 
'ergo'  inquit  'cum  sciamus  nos  morituros  esse,  quare  non  vivamus?  sie  vos  felices  videam, 
coniciamus  nos  in  balneum,   meo  periculo,   non   paenitebit. 

2)  Die  yvvaixeia  &6kog  der  Papyri.  Vgl.  Sudhoff,  Aerztliches  aus  griechischen 
Papyrusurkunden,  S.  88. 

3)  Vgl.  Friedländer,  a.  a.  O.  III,  S.    149. 

4)  Vgl.  solche  das  Treiben  in  den  Frauenbädern  illustrierende  BUder  bei  Sudhoff, 
Aus  dem  antiken  Badewesen,  S.  62 — 63,  68,  69. 

5)  Martial,   VII,   35;   Claudian.,   I,    106. 

6)  Sudhoff  führt  den  Badepapyrus  aus  Magdöla  vom  Jahre  220  v.  Chr.  an,  wo 
ein  männlicher  Parachyt  im  öffentlichen  Frauenbade  erwähnt  wird  („Aus  dem  antiken  Bade- 
wesen'S  S.  49).  —  Im  Talmud  gehört  der  Bademeister,  ballän  {=  ßalavEvg)  ,,zur  Klasse 
der  Menschen,  die  beruflich  auch  mit  Frauen  zu  thun  haben  und  deren  Trieb  daher  böse  ist". 
Vgl.  Preuss,  a.  a.  O.  S.  13.  —  Welche  zweifelhafte  Rolle  auch  schon  damals  männliche 
Masseure  in  Frauenbädern  gespielt  haben,  erhellt  aus  Juvenals  drastischer  Schilderung 
der  lasciven  Manipulationen  eines  solchen  ,,aliptes"  (Juvenal.,  VI,  421 — 423). 

7)  Charakteristisch  hierfür  ist  das  folgende  Epigramm  der  Anthologia  Palatina  (V, 
82,  ed.  Dübner,  Bd.  I,  S.   74): 

'Q  ooßaQTj  ßaläviaon,  ri  ör)  jiots  fi'sxjivga  loveig; 
TiQiv  f.CajioÖvoaoOai,  zov  nvQog  algd'ävofxai. 


—     657     — 

Die  „mulieriim  balineas  cum  viris  lavantium"  geisselt  Plinius  (N.  bist.,  XXXIII,  12), 
Quintilian  betrachtet  es  als  ,,signum  adulteiae  lavari  cum  viiis"  (Inst,  orator.,  V,  9,  I4), 
Ovid  (Ars  amat.,  III,  639 — 640)  deutet  das  unzüchtige  Treiben  bei  diesen  gemeinsamen 
Bädern  an.  Deutlicher  äussert  sich  Martial  (III,  51;  III,  72;  VII,  35;  IX,  33;  XI,  75) 
über  ihren  wahren  Zweck,  wobei  seine  Bemerkung  für  unser  Thema  von  besonderem  In- 
teresse ist,  dass  man  im  Bade  ausgiebige  Gelegenheit  habe,  den  Partner  nackt  zu  sehen  und 
etwaige  Körpcrfehler  zu  sehen  (vgl.  besonders  Epigr.  III,  72;  auch  III,  51).  Von 
Heliogabalus  berichtet  Lampridius,  dass  er  jederzeit  mit  Mädchen  zusammen  badete 
(Heliog.,  c.  XXXI)  und  dass  er  und  seine  Freunde  einmal  zwischen  jedem  der  zahlreichen 
Gänge  eines  Gastmahls  sich  an  einem  solchen  balneum  mixtum  ergötzten  (ibid.,  c.  XXX). 
Schon  zu  Martial's  Zeit  bekamen  auch  die  Prostituierten,  sogar  die  gewöhnlichsten 
Strassendirnen  Zutritt  zu  den  Bädern  (Mart.,  III,  93,  15),  weshalb  viele  Badeanstalten  bald 
nur  noch  als  eine  besondere  Art  von  Bordellen  betrachtet  wurden  (Lamprid.,  Heliogabal.  26; 
Tacit.,  bist.,  3,  83).  Zwei  Epigramme  der  Anthologia  Palatina  (IX,  621  u.  622;  Dübner 
II,  126)  erwähnen  dieses  Treiben  der  Prostituierten  in  den  Bädern  und  schildern,  wie  die 
Scharen  der  Liebhaber  die  Dirnen  nach  dem  Bade  erwarten,  deren  hier  reichlicher  Verdienst 
harrt.  Aus  Epigramm  622  scheint  hervorzugehen,  dass  gewisse  Badeanstalten  für  das  Ein- 
trittsgeld ausser  dem  Bade  auch  die  Dirne  lieferten.  (Vgl.  über  die  Prostitution  in  den 
Bädern  auch   Ammian.   Marcellin.,   XXVIII,   4). 

Trotz  mehrfacher  Verbote  in  der  Kaiserzeit  durch  Hadrian  (Dio  Cass.,  LXIX,  8; 
Spartian.,  Hadr.,  c.  18),  Marcus  Antoninus  (Capi tolinus,  M.  Antonin.,  c.  23), 
Alexander  Severus  (Lamprid.,  AI.  Sev.,  c.  24)  erhielt  sich  die  Sitte  des  gemeinsamen 
Badens,  die  noch  von  Clemens  Alexandrinus  (Paedag.,  III,  5,  §  32,  p.  272  Pott)  und 
Cyprianus  (De  habitu  virginum  in:  Migne,  Patrologie,  Bd.  IV,  col.  471)  scharf  ver- 
urteilt wird '). 

Was  die  Reinheit  des  Badewassers  betrifft,  so  wurde  zwar 
sowohl  bei  den  Griechen  als  auch  bei  den  Römern  für  ständigen 
Zufluß  frischen  Wassers  in  die  Badewannen,  Bassins  gesorgt,  auch 
häufig  die  unmittelbare  Waschung  unter  Duschen  und  Wasseraufläufen 
vorgenommen.  Dennoch  badeten  nicht  selten  mehrere  Individuen  in 
derselben  Badewanne  (Mart.  II,  70),  und  von  dem  älteren  römischen 
Bade  sagt  Seneca  (Epist.  86,  g):  non  subfundebatur  aqua  nee  recens 
semper  velut  ex  calido  fönte  currebat,  nee  referre  credebant,  in  quam 
perlucida  sordes  deponerent.  Die  neuesten  Ausgrabungen  in  Perga- 
mon  deckten  das  Badezimmer  des  Oberen  G3^mnasions  auf,  mit  sieben 
grossen  Marmorwaschbecken.  Über  jedem  war  ein  Wasserauslauf 
angebracht,  während  durch  alle  sieben  Becken  das  gebrauchte  Wasser 
hindurchlief  und  erst  beim  letzten  Rinnenbecken  zum  Abflusskanal 
abgeleitet  wurde.  Sud  hoff'*)  führt  noch  weitere  Beweise  zur  Recht- 
fertigung seiner  Meinung  an,  dass  man  zu  der  Reinheit  des  Wassers 


i)  Auch  im  alten  Aegypten  war  das  gemeinsame  Baden  Brauch,  wie  ein  bei  Sud- 
hoff  (Aerztliches  aus  Papyrusurkunden,  S.  130)  abgedrucktes  Liebeslied  aus  der  Zeit  der 
19.  Dynastie  bezeugt. 

2)  Aus  dem  antiken  Badewesen,  S.   53 — 54. 


-   658  - 

in  dem  gemeinsamen  Luter  kein  rechtes  Vertrauen  zu  fassen  vermöge. 
Doch  ist  es  nicht  ausgemacht,  ob  diese  Zustände  die  Regel  waren. 
Dagegen  spricht  die  obige  Aeusserung  Senecas,  die  beweist,  welch 
grossen  Wert  man  in  der  Kaiserzeit  auf  die  Reinheit  und  Durch- 
sichtigkeit des  Badewassers  legte.  Im  grossen  und  ganzen  können 
wir  daher  dem  Urteil  Birts  beistimmen:  „Wie  vieler  Hilfsmittel  der 
öffentlichen  Hygiene  —  Vakzination,  Desinfektion  — ,  deren  wir  uns 
heute  erfreuen,  hat  das  Altertum  entbehren  müssen!  Aber  das 
Bäderwesen  trat  an  ihre  Stelle;  es  war  bestimmt,  durch  Ver- 
breitung der  Sauberkeit  die  Volksgesundheit  in  allen  Volksschichten 
zu  garantieren.  Denn  es  handelte  sich  hier  thatsächlich  um  Volks- 
bäder für  alle"  ^). 

Schon  Rosenbaum  (a,  a.  O.  S.  374)  hat  darauf  aufmerksam 
gemacht,  dass  in  Verbindung  mit  dem  täglichen  Bade  auch  das  darauf 
folgende  Salben  und  Einölen  des  Körpers  bei  den  Alten  als  ein 
wertvolles  Prophylaktikum  gegen  venerische  Ansteckung  betrachtet 
werden  muss,  wie  ja  auch  heute  noch  die  Einfettung  der  Genitalien 
vor  dem  Coitus  als  ein  Schutzmittel  gegen  Infektion  in  Anwendung 
gezogen  wird-).  Die  Sitte  der  Einölung  des  Körpers  nach  dem  Bade 
war  so  allgemein,  dass,  wie  Ulrich  von  Wilamowitz-Moellen- 
dorff  sich  ausdrückt^),  die  athenischen  Jünglinge  das  Oelfläschchen, 
die  Lekythos,  genau  so  regelmässig  bei  sich  trugen,  wie  wir  das 
Portemonnaie.  Schon  bei  Homer  kommt  die  Oelfiasche  {fj  kiqxv&og) 
und  das  Salben  nach  dem  Bade  vor^);  erst  später  aber,  wohl  unter 
orientalischem  Einflüsse''),  wurde  diese  Sitte  ein  unentbehrliches  Ele- 
ment des  Lebensgenusses,  während  sie  früher  mehr  aus  hygienischen 
Rücksichten  geübt  worden  war. 

Auch  hier  hat  sich  eine  reichhaltige  griechisch  -  lateinische  Terminologie  entwickelt, 
von  der  wir  nur  das  Wichtigste  erwähnen:  rö  /livqov  (zuerst  bei  Archilochos,  Fragm. 
30  ed.  Bcrgk  p.  543,  zitiert  von  Athen.  XV,  p.  37  p.  688c),  die  Salbe,  Salböl;  o  fj.vQ- 
srpög,  (AVQonoiög  (Plut.  Pericl.  i;  PoU.  VII,  177;  Athen.  XIII,  p.  608  A),  Salben- 
fabrikant, Salbenkoch;  6  ixvQOJKÖXrjg  (Xen.  conv.  2,  4;  Athen.  XIII,  6i2e;  XII.  552ff.), 
Salbenhändler;  x6  ^vqojiwXeTov  (Plut.,  Timol.  14;  Lys.  24,  20),  Salbenverkaufsbude; 
[.ivQv^eiv  (Aristoph.,  Lysistr.  938;  Aristoph.,  Plut.  529;  Herod.  i,  195),  salben; 
äkEicpEiv    (Oreibas.    III,    170;    Thucyd.    i,    6;    Homer.,    Od.   6,   227;    12,  45;    Plut. 


i)  Theodor  Birt,  Zur  Kulturgeschichte  Roms,  .S.   84. 

2)  Vgl.  mein  Werk  ,,Das  Sexualleben  unserer  Zeit",  7. — 9.  Aufl.,  Berlin  1909,  S.  426. 

3)  U.  von  Wilamowitz-Moellendorff,  Antigonos  von  Karystos  S.   268. 

4)  Vgl.  Od.  6,  79  —  80:  8<ÖK£V  8e  XQVOEr)  iv  Iriav&q)  vyqov  e)miov,  sicog  yvTXöiaaixo 
ovv  d(xq?iji6?^oiai  yvvai^iv. 

5)  Plinius  (Nat.  hist,  XIII,    l)    nennt   die   Perser  als  Vorbilder   der  Griechen    und 
Römer. 


—     659      — 

Them.  3),  salben;  x6  ä).sii.ii.ia  (Oreibas.  III,  178;  Athen.  XII,  p.  553c;  Plat.,  Tim. 
50e;  Plut.,  Lyc.  16)  die  Salbe,  das  Oel;  z6  a).ei:iiTrjQiov  (Theophr.,  de  sudore  28) 
Gemach,  Anlage  zum  Salben  im  Bade  und  der  Palästra'j;  6  äXsiJiTijg,  aliptes  (Aristot., 
Eth.  2,  6,  7 ;  Pol.  27,  6,  i;  Plut.,  de  tuend,  san.  18,  p.  133  B;  Corp.  Inscr.  Graec.  I, 
no.  138311.;  Cicero,  ep.  i,  9,  15;  Juven.  VI,  422),  der  Einsalber;  o  lazQa}.Ei7tz7]g , 
iatraliptes  (Plin.,  ep.  lO,  5,  i;  10,  6,  i),  ein  Arzt,  der  durch  Salben  heilt;  >;  larga- 
?.siJiTi>irj,  seil.  XEyvrj,  iatraliplice  (Plin.,  nat.  hist.  29,  2),  die  Kunst,  durch  Ein- 
salben zu  heilen;  fj  ä?.Eiyjcg  (Herod.  III,  22),  das  Salben;  ygistv,  XQiEa{^ai  (Homer., 
II.  23,  186;  Od.  4,  252;  3,  466  u.  ö.;  Oreibas.  III,  172),  salben;  zu  -/gTofia  (Xen., 
conviv.  2,  4;  Aesch,  Agam.  94),  Salbe,  Salböl;  i)  ygiaig  (Oreibas.  III,  172),  das 
Salben;  rö  iXaiov  (svcöÖEg ,  Hom.,  Od.  2,  333;  nodoEV,  II.  93,  186;  Oreibas.  III,  172), 
das  Salböl;    iXatöco    (Pind.,    fragm.    274),    mit    Oel    salben;    ro    iXaio&ioiov    (Vitruv. 

5,  II,   2),    das  Sal!)zimmer   in   der  Ringschule  und  im  Bade-);    ^    Xrjxv&og    (Hom.,    Od. 

6,  79;  Aristoph.,  Av.  1588;  Plat.,  Charm.  161  e;  Aristot.,  Eth.  4,  5),  Oelf lasche ^) ; 
rö  Xrjxv&iov  (Aristoph.,  Ran.  1200  ff.),  Oelfläschchen;  o  Xrjxv&OJioiög  (Strab.  XV, 
717;  Poll.  7,  182),  Oelflaschenfabrikant;  o  Xt]HV&0Ji(oX7]g  (Poll.,  7,  182),  Oelflaschen- 
verkäufer;  d  dXdßaozgog,  z6  nXdßaazQov,  alabasler,  alabastrum  (Herod.  3,  20: 
Plut.,  Timol.  15;  Theoer.  15,  114;  Plin.,  nat.  hist.  13,  19),  oben  spitz  zulaufendes 
Salbfläschchen ;  z6  vaQ&t'jX lov ,  narthecium  (Cicero,  de  fin.  2,  22),  Salben-  und 
Arzneikästchen. 

Ungere  (Cels.  I,  3),  salben;  unguenlum  (Cels.  III,  18;  Senec,  ep.  86,  12 
und  13),  Salbe,  Salböl;  unctio  (Cels.  I,  2,  I,  3,  II,  14,  IV,  15;  Senec,  ep.  53,  5),  die 
Salbung;  unctor,  reunctor  (Senec,  ep.  123,  4;  Senec,  fragm.  36;  Plin.,  nat.  hist. 
29,  2),  der  Salber;  unctorium  (Plin.,  ep.  2,  17,  11),  Salbenzimmer  im  Bade;  unguen- 
tarium  (Plin.,  ep.  2,  11,  23),  das  Salbengeld;  unguentarius  (Senec,  ep.  88,  18), 
Salbenhändler;  unguentaria  taberna  (Senec,  ep.  108,  4),  Salbenverkaufsbude;  ungu- 
entati  (Senec,    fragm.    114),    die    Gesalbten;    oleum   (Senec,    ep.    15,  3;    53,   5),   Salböl. 

Wie  erwähnt,  war  die  Einsalbung  oder  besser  Einölung^)  mit 
meist  wohlriechenden  Salben  in  der  späteren  Zeit  mehr  ein  Mittel  des 
Genusses  als  der  Hygiene  geworden,  so  dass  ein  Mann  wie  Seneca 
abfällig  von  den  „homines  inter  oleum  et  vinum  occupati"  spricht 
(Ep.  15,  3)  und  sich  selbst  der  Salben  enthielt  (Ep.  108,  16);  wie  die 
Essener,  von  denen  Josephus  (Bell,  judaic.  II,  8,  3)  sagt:  „Oel  halten 
sie  für  etwas  Verunreinigendes,  und  wenn  einer  ohne  seinen  Willen 
gesalbt  worden  ist,  so  wischt  er  seinen  Leib  ab;  denn  in  rauhe  Haut 
setzen  sie  eine  Ehre".  Aus  ähnlichen  Gründen  sollen  die  Lacedämonier 
früher  die  Salbenhändler  ausgewiesen   haben    (Athen.  XV,    p.  686  f.; 


1)  Als  eignes  stattliches  Gebäude  erscheint  das  dXEin.zriniov  auf  einer  Inschrift  in 
Smyrna,  Corp.  Inscr.   Graec.   no.   3148,   Z.    16   u.    20. 

2)  Vgl.  über  das  Elaeothesium  A.  Rieh.,  A  Dictionary  of  Roman  and  Greek  Anti- 
quities,   London    1860,  S.   255   und  Abbildung,   ebenda  S.    142. 

3)  Hiermit  hängt  wohl  das  Wort  .,celuch  itha"  im  Talnuid  zusammen  (j.  Schebi 
VIII,   38a,    26),  das  Preuss  a.   a.   O.  S.    16  als   ,,Oelflacon"   erwähnt. 

4)  Dass  es  sich  meist  um  Salben  von  sehr  flüssiger  Konsistenz  gehandelt  hat, 
bemerkt  schon  Hans  Locher,  Die  chirurgischen  und  medizinischen  Krankheiten  des 
Schädels  und  Gehirns.     Erlangen   1869,  T.  I,  S.   219. 


—     66o     — 

Senec,  Nat.  Quaest.  IV,  13,  g).  Allerdings  meint  Seneca  an  an- 
derer Stelle  (Ep.  80,  3),  dass  der  Körper  viel  Salböl  nötig  habe,  und 
dass  dieses  eine  Art  von  Stärkungsmittel  sei  („ut  corpus  unctione 
recreavi",  ep.  53,  5).  Jedenfalls  wurde  in  der  Kaiserzeit  das  Ein- 
salben zwei  bis  drei  Mal  am  Tage  wiederholt  (Senec.,  ep.  86,  12) 
und  es  wurde  in  Verbindung  mit  den  Bädern,  der  Massage 
und  der  Gymnastik  zu  einer  speziellen  Heilmethode  ausgebildet, 
der  „ars  iatraliptice",  als  deren  Erfinder  Plinius  (Nat.  hist.  29,  2) 
den  Herodikus  (Prodicus?)  von  Selymbria  nennt.  Der  „aliptes" 
wird  bei  Celsus  (I,  i:  sanus  homo,  qui  et  bene  valet,  et  suae  spontis 
est,  nullis  obligare  se  legibus  debet;  ac  neque  medico,  neque 
alipta  egere)  dem  Arzte  gegenüber  gestellt'),  war  also  wohl  meist 
ein  Nichtarzt,  der  vielfach  überhaupt  die  rationelle  Erziehung  zu  über- 
wachen hatte  2). 

Die  Thätigkeit  des  Jatralipten  war  eine  sehr  umfangreiche  und 
bedeutende,  seitdem  die  einst  von  Archidamos  aufgeworfene  Frage, 
ob  die  Einreibung  {rglyng,  frictio)'^)  trocken,  als  sogenannte  ^rjQOTQißi'a 
oder  mit  Oel  vorgenommen  werden  solle,  zu  Gunsten  der  letzteren 
Methode  schon  von  seinem  Sohne  Diokles  von  Karystos  und 
später  besonders  ausführlich  von  Galen  beantwortet  wurde  ').  Diokles 
war  wohl  auch  derjenige  Arzt,  der  zuerst  die  Einsalbung  am  frühen 
Morgen  zu  hygienischen  Zwecken  empfahl  ^).  Später  wurde  die 
Salbung  in  eine  innige  Verbindung  mit  der  Gymnastik,  mit  dem 
Bade  und  mit  dem  Geschlechtsverkehr  gebracht.  Man  unterschied 
eine  präparatorische  {nuQaoxevaotixri  igTipig,  Galen  VI,  117,  122; 
Oreibas.  I,  470)  und  eine  apotherapeutische  Salbung  und  Massage 
{äjioi^egajievzixij  tq.,  Galen  VI,  116,  122;  Oreibas.  I,  483,  488). 
Wie  diese  prophylaktische  und  hygienische  Methode  auch 
beim  Coitus  in  Anwendung  gebracht  wurde,  hat  Galen  aus- 
führlich geschildert  (Gal.,  de  sanit.  tuenda  III,  c.  11  — 12,  ed.  Kühn, 
Bd.  VI,    S.  221  ff.).     Dass    in    der    That    bei    Hellenen    und    Römern 


i)  Aehnlich  Cicero,  ep.  ad  fam.  I,  9,  15:  vellem  non  solum  salutis  meae  quem- 
admodum  niedici,  sed  ut  aliptae,  etiam   viriuin   et  coloris  rationem  habere  vokiisscnt. 

2)  Im  Corp.  Inscr.  Latinar.  III,  2,  110.  1434  wird  ein  äXstjirrjg  jiaidcov  Kaiaagog 
erwäiint. 

3)  Die  XQixjJig,  frictio,  Einreibung,  Massage  ist  von  dem  blossen  Ueberslrcichcn  mit 
Salbe,  der  ;^ßro«?,  unctio,  wohl  zu  unterscheiden,  was  schon  Celsus  (II,  14)  ausdrücklich 
hervorhebt:  Inter  unctionem  autem  et  frictionem  multum  interest. 

4)  Vgl.  M.  Wellmann,  Die  Fragmente  der  sikelischen  Aerztc  Akron,  Philistion 
und  des  Diokles  von   Karystos,   Berlin    1901,  .S.  67. 

5)  Oribasius,  ed.  Bussemaker  et  Daremberg,  Bd.  III,  S.  169.  Vgl.  auch  Well- 
mann a.  a.  O.  S.   178. 


—     66i      — 

reichliche  Einölung  vor  dem  Coitus  schon  früh  übhch  war,  ersehen 
wir  aus  dem  „Poenukis"  (III,  3)  des  Plautus,  wo  der  Kuppler  Lycus 
dem  Collybiscus  ausser  dem  Mädchen  auch  eine  überreichliche  Ein- 
ölung verspricht: 

Ibi  te  replebo  usque  unguentum   eccheumatis. 

Quid  multa  verba?  faciam,  ubi  tu  laveris, 

Ibi  ut  balneator  faciat  unguentariam. 

Wir  ersehen  daraus,  dass  auch  in  den  Bordellen,  dem  Haupt- 
herde der  venerischen  Krankheiten,  die  Einsalbung  vor  und  nach 
dem  Coitus  in  reichlichstem  Maasse  vorgenommen  und  dadurch  als 
ein  bedeutsames  Prophylaktikum  der  venerischen  Ansteckung  regel- 
mässig wirken  konnte. 

Als  eine  besondere  P'orm  der  Reinlichkeit  erwähnt  Rosenbaum  (S.  370—375) 
noch  die  künstliche  Enthaarung,  yii?.cooig,  o  nagazikfiög ,  jiagatikkco ,  djto- 
ziXXoi  (Aristoph.,  Lysistr.  89,  151,  578;  Ran.  516;  Eccles.  724;  Athen.  X,  p.  442a, 
XIV,  p.  638  f.  u.  ö.),  depiiatio,  depilare,  pilare,  vellere,  devellere  (Marl.  IX, 
28;  II,  62;  XII,  32;  X,  90;  Sueton.,  Doniitian.  22  u.  ö.).  Diese  Depilation  wurde 
entweder  mit  Haarzangen  (volsella,  Mart.  IX,  27,  5;  forceps  adunca,  Pers.  IV, 
40;  xvfjazQOV  aidoiov,  Edict.  Dioclet.  XIII,  7;  rgi^o^aßig,  zQixoXdßiov,  tQixo?Mßi- 
810V,  vgl.  Sudhoff,  Aerztliches  aus  Papyrusurkunden,  S.  96)  oder  mit  heisseni  Harze  oder 
Pechpflaster  (resina,  Plin.,  nat.  hist.  XIV,  20,  Mart.  XII,  32,  davon  resinare, 
Juven.  VIII,  114,  6  ÖQWjia^,  dropax,  Gal.  VI,  416,  Mart.  III,  74,  X;  65,  öqw- 
TiaxiCsiv,  Luc,  Demon.  50,  z6  yjilco&Qov,  psilothrum,  Galen.  XI,  826,  XII, 
450  ff.,  XIV,  142,  394;  Mart.  III,  74;  Senec,  Controv.  7  praef.  §  3)  vorgenommen, 
war  hauptsächlich  bei  Frauen  üblich,  während  sie  bei  Männern  als  Zeichen  der  Effemination 
galt  (Plin.,  nat,  hist.  XIV,  20:  pudelque  confiteri  maximum  jam  honorem  eins  esse  in 
evellendis  virorum   corpori  pilis)   und  hauptsächlich  bei   Homosexuellen  gebräuchlich  war. 

Uns  interessiert  natürlich  vor  allem  die  Depilation  der  Schamhaare.  Ueber  deren 
Bedeutung  für  die  Verhütung  venerischer  Ansteckung  äussert  sich  Rosenbaum  (a.  a.  O. 
S.  370)  folgen dermassen :  ,,Da  die  Haare  bekanntlich  eine  grosse  Neigung  haben  Feuchtig- 
keiten an  sich  zu  ziehen  und  festzuhalten,  so  werden  sie  dies  auch  mit  den  gesunden  und 
kranken  Genitalsekreten  thun,  wenn  sie  mit  ihnen  in  Berührung  kommen  und  diese  Sekrete 
werden  um  so  leichter  nachteilig  einwirken  als  jedes  Haar  zugleich  mindestens  von  zwei 
Hautdrüsen  begleitet  wird,  welche  zum  Teil  einen  gemeinschaftlichen  Ausführungsgang  mit 
ihm  haben  und  an  den  Stellen,  wo  sich  häufiger  und  starker  Haarwuchs,  eine  bedeutend 
erhöhte  Thätigkeit  entwickeln,   welche  sie  ohnehin  in  heissen  Ländern  zeigen." 

Dass  diese  Form  der  örtlichen  Depilation  in  der  That  eine  Beziehung  zum  Ge- 
schlechtsverkehr hatte,  beweist  Epigramm   X,  90  des  Martial: 

Quid  vellis  vetulum,  Ligia,  cunnum? 

Quid  busti  cineres   tui  lacessis? 

Tales  munditiae  decent  puellas. 
Hieraus  ersehen  wir,  dass  die  Entfernung  der  Schamhaare   nur  bei  den  Frauen  üblich 
war,  die  noch  sexuellen  Verkehr  pflegten.     Deshalb  ruft  der  Dichter  der  alten   Ligia  zu: 

Erras  si  tibi  cunnus  hie  videtur, 

Ad  quem  mentula  pertinere  desit. 


—     662      — 

Plinius  (nat.  bist.  29,  8)  geisselt  die  ,,piIoriim  eviratio  instiluta  resinis  eorum 
ilemque  pectines  in  feminis  quidem  publicati"  als  „Ines  moruin"  und  als  eine  Er- 
findung der  griechischen  Aerzte,  vor  denen  schon  der  alte  Cato  gewarnt  habe. 
Es  scheint  also  auch  die  griechische  Medizin  die  Depilation  der  Genitalien  für  den  Ge- 
schlechtsverkehr empfohlen  zu  haben,  da  Plinius  sie  zusammen  mit  dem  Ringkampf,  dem 
Salben  des  Körpers,  den  heissen  Bädern  und  Brechmitteln  als  Bestandteile  der  ihm  so  ver- 
hassten  griechischen  Hygiene  nennt.  Dass  die  Enthaarung  der  weiblichen  Geschlechtsteile 
altgriechischer  Brauch  war  und  hier  ebenfalls  eine  sexuelle  Bedeutung  hatte,  geht  aus  ver- 
schiedenen Aeusserungen  des  Aristophanes  hervor,  z.  B.  Lysistr.    149 — 152: 

st  yäg  ?ca&rjfts&'  Evdov  ivTsigi/nf^ievai 

xäv  zoTg  )['-''^wvioioi  zoTg  afiogyivotg 

yv[A.val  jiaQioifisj',  dsi.xa  JiaQazEiil/iEvai 

arvoivz'  äv  ävdgeg  Hiijud v fioiev  jilexovv. 

Aehnlich   Eccies.    12,   Lysistr.   89,   Ran.   516. 

Es    ist    wahrscheinlich,    dass    die   Hellenen    diese  Sitte    aus    dem    Orient    überkommen 

haben,    wo    sie    sich    namentlich    in    Aegypten  ,    Indien    und    Persien    bis    auf    den    heutigen 

Tag  erhalten  hat '). 

Als  eine  wirksame  prophylaktische  Maassnahme  muss  ferner  die 
Beschneidung,  circumcisio,  jieqitojui]'-)  angesehen  werden,  die 
zwar  eine  rein  orientalische  Sitte  war,  aber  doch  auch  indirekt  für 
die  gesamte  griechisch-römische  Kulturwelt,  die  so  viele  Beziehungen 
zum  Orient  hatte,  eine  grosse  Bedeutung  gewann.  Der  alte  Streit, 
ob  das  ursprüngliche  Motiv  der  Beschneidung  als  Volkssitte  ein  reli- 
giöses oder  ein  hygienisches  gewesen  sei,  geht  uns  hier  nichts  an. 
Es  sei  nur  darauf  hingewiesen,  dass  nach  Buschmann  wesentlich 
vier  Motive  für  die  Beschneidung  in  Betracht  kommen:  i.  Erleich- 
terung und  Erhöhung  der  Sexualthätigkeit  und  dadurch  bewirkte 
grössere  Fruchtbarkeit;  2.  Opfer  eines  Teiles  des  Genitale,  um  den 
Segen  der  Götter  und  Erlösung  vom  Leiden  zu  gewinnen;  3.  Reli- 
giöses und  nationales  Merkmal  und  Zeichen  der  Unterwerfung  unter 
einen  Despoten;  4.  Zur  Erhaltung  der  Gesundheit  und  als  Pro- 
phylaktikum.     Nur  der  letztere  Punkt    kommt  für  uns  in   Betracht. 


i)  Näheres  bei  Otto  Stoll,  Das  Geschlechtsleben  in  der  Völkerpsychologie,  Leipzig 
1908,  S.  227  ff.,  wo  auch  das  Motiv  der  besseren  Reinhaltung  der  Genitalien  hervorgehoben 
wird. 

2)  Vgl.  Rosenbaum  a.  a.  O.  S.  375  —  383  (dort  ist  auch  die  ältere  Literatur  ver- 
zeichnet); ferner  O.  Stoll  a.  a.  O.  S.  499  —  531;  H.  Welcker,  Untersuchung  des  Phallus 
einer  altägyptischen  Mumie  nebst  Bemerkungen  zur  Frage  nach  Alter  und  Ursprung  der  Be- 
schneidung (Archiv  f.  Anthropologie  1877,  Bd.  X,  Heft  1/2,  S.  123  ff.);  Th.  Pusch- 
mann,  Alter  und  Ursachen  der  Beschneidung  (Wiener  med.  Presse  1891,  Nr.  10 — 12); 
J.  Preuss,  Die  Beschneidung  nach  Bibel  und  Talmud  (Wiener  klin.  Rundschau  1897, 
Nr.  43 — 44);  Carl  Alexander,  Die  hygienische  Bedeutung  der  Beschneidung,  Breslau 
1902;  K.  Sudhoff,  Aerztliches  aus  griechischen  Papyrusurkunden,  Leipzig  1909,  S.  165 
bis    180  (enthält  auch  die  neueste  Literatur). 


-     663      - 

Seine  Bedeutung  wurde  schon  im  Altertume  erkannt.  Die 
klassische  Stelle  hierfür  ist  Philo,  De  circumcisione  (Opera,  ed.  Tho- 
mas Mangey,  London  1742,  Bd.  II,  p.  211).  Er  nennt  unter  den 
Beweggründen  für  die  Beschneidung  vor  allem  die  „Verhütung 
einer  heftigen  Krankheit  und  eines  schwer  zu  heilenden 
Leidens,  welches  man  Anthrax  nennt,  eine  Benennung,  die, 
wie  ich  glaube,  von  dem  darin  glimmenden  wütenden  Brennen  her- 
genommen ist,  und  leicht  bei  denen  entsteht,  welche  ihre  Vor- 
haut haben.  Zweitens  wegen  der  für  die  Priesterkaste  erforderlichen 
Reinheit  des  ganzen  Körpers.  Daher  scheren  auch  die  Priester  in 
Aegypten  ihren  Körper;  denn  es  sammelt  sich  und  zieht  sich  etwas 
sowohl  unter  den  Haaren  als  auch  unter  der  Vorhaut  zusammen, 
was  entfernt  werden  muß".     (Uebersetzung  von   Rosenbaum) '). 

Unter  „Anthrax"  ist  der  ganzen  Schilderung  nach  hier  wohl 
kaum  etwas  anderes  zu  verstehen  als  ein  rein  örtlicher  gangränes- 
cierender  Schanker,  der  wegen  der  entzündlich  -  alcerösen  Verände- 
rungen als  ävd^oa^,  wegen  des  serpiginösen,  fortschreitenden  Charak- 
ters als  VOJU7],  noma  bezeichnet  wurde  (rd  o}]7iedovc6öi]  tcöv  iXxcöv^ 
orav  E7iivejLir]Tai  rovg  tieql^  jojtovg,  dvojud^ovoiv  löicog  vofidg, 
Galen.  XIII,  851,  ed.  Kühn).  Der  Midrasch  erwähnt  die  „noma 
am  Fleische"  (i.  e.  am  Penis),  wegen  der  „der  Arzt  die  Beschnei- 
dung anordnet.  Es  ist  unzweifelhaft  das  griechische  vojlu'j  (lat.  noma). 
Die  Gemara  kennt  ausserdem  noch  eine  Beschneidnng  des  Heiden, 
also  des  Erwachsenen,  weg'en  ,,moräna".  Das  Wort  wird  sonst  im 
Talmud  als  Bezeichnung  eines  Wurmes  gebraucht  und  hat  vielleicht 
auch  hier  diese  Bedeutung  2). 

Dass  in  Südeuropa  und  im  Orient  Geschwüre  sehr  leicht  phagedänisch  und  ser- 
piginös  werden,  hat  schon  Rosen  ha  um  (a.  a.  O.  S.  318)  hervorgehoben.  Man  ver- 
gleiche darüber  auch  die  Beobachtungen   von   Wem  ich  ^). 


i)  "Ev  fisv,  x*^?^^Jii}?  vöoov  xal  Svoidrov  jiädovg  anaXXayip' ,  fjv  ävßgaxa  xaXovaiv, 
ano  xov  xaieiv  h'tvq^ofCEvor;  <bg  oi/iiac,  lavTtj?  Tijg  JiQooijyoQiac  TV^orzog,  rjzt?  ov  xoXw- 
XEQOV  xoTg  rag  äxooTToa&iag  Ey^ovaiv  syyivEzo'  Aevzeqov,  zrjv  81'  oXov  zov  ow^iaroi;  y.adu- 
QÖzrjza  TiQog  zö  aQfiozzeiv  zä^si  lEQCOfiEVi].  IJag'  o  xal  ^vQÖJino  xa  awfiaxa  jtqoovjieq- 
ßdXXovzE?  Ol  EV  AlyvjTzcü  zü)v  lEQECov.  vjioai^XXEyEzo  yäg  xal  vjzoozsXXei  xal  ßgi^l  xal 
Tzoo^iaig  svia  xcöv  öcpEiXövxwv  xadaiQEodai. 

2)  J.  Preuss,  Die  Beschneidung  nach  Bibel  und  Talmud,  S.-A.,  S.  13.  Im  Mi- 
drasch (Genes,  r.  46,  fol.  95c)  heisst  es:  Die  Söhne  des  Königs  Thalme  hatten  sich  heim- 
lich beschneiden  lassen.  Die  Mutter,  die  von  ihrem  Manne  nachträglich  die  Erlaubnis  dazu 
erlangen  will,  sagt  ihm:  ,, Deinen  Söhnen  ist  eine  Noma  an  ihrem  Heische  (Penis)  aufge- 
gangen, und  der  Arzt  (rophe)  hat  angeordnet,  dass  sie  beschnitten  werden   sollen". 

3)  A.  Wernich,  Artikel  ,, Endemische  und  epidemische  Krankheiten"  in  Eulen- 
burg's  Realencyklopädie,  3.  AufL,  Bd.  VI,  S.  650;  vgl.  femer  J.  L.  C.  Ziermann,  Ueber 
die  vorherrschenden  Krankheiten  Siciliens  etc.,  Hannover    18 19,  S.  195. 


—      664     — 

Auch  wirkt  im  südlichen  Klima  die  dort  meist  sehr  reichliche 
Absonderung  des  Smegma  als  ein  Irritament,  das  die  Intaktheit  der 
Haut  und  Schleimhaut  schädigt  und  durch  Zersetzung  Balanitis  und 
Ekzeme  hervorruft  und  dadurch  eine  venerische  Infektion  ungemein 
begünstigt.  Ist  die  Vorhaut  durch  die  Beschneidung  entfernt  worden, 
so  hört  damit  auch  jene  Absonderung  auf  und  die  Eichelschleimhaut 
wandelt  sich  in  eine  derbe,  allen  Reizen  und  Infektionserregern  weit 
weniger  zugängliche  Haut  um. 

Welche  Bedeutung  dies  für  die  venerische  Ansteckung  hat,  ergiebt 
sich  aus  folgenden  von  Alexander  (a.  a.  O.  S.  15)  mitgeteilten  Daten: 

Aus  einer  Veröffenüichung  des  Städtischen  Krankenhauses  in  Kopenhagen  von 
Haslund  über  die  dortigen  venerischen  Erkrankungen  ergiebt  sich,  dass  von  891  in 
einem  Jahre  dort  behandelten  Männern  bei  140,  also  bei  i  /  "/q,  reine  Vorhaut- 
erkrankungen bestanden.  Auf  Grund  der  umfassenden  Statistiken  der  berühmten  Syphihs- 
forscher  Hutchinson,  Fournier  u.  A.  kommt  E,  II.  Freeland  zu  der  Berechnung, 
dass  das  Primärsyphihd  in  73  "/„  aller  Fälle  auf  der  Vorhaut  oder  in  der  Vorhautfurche 
sitzt,  d.  h.  also,  dass  in  7  3  7o  sämtlicher  zur  Beobachtung  gelangter  Fälle  die 
Syphilisübertragung  an  der  Vorhaut  stattgefunden  hat.  Alexander  fand  sogar 
i"  7  9°i\,  seiner  Fälle  von  geschlechtlichen  Erkrankungen  Affektionen  der  Vorhaut  bezw. 
den  Ursprung  der  Erkrankung  im  Präputium.  Freeland  sah  als  Schiffsarzt  im  Orient  von 
den  mit  ihm  in  Berührung  kommenden  Matrosen  die  Kaskaren,  die  als  Mohamedaner  be- 
schnitten sind,  im  Gegensatz  zu  der  übrigen  stark  verseuchten  Mannschaft 
fast  niemals  an  Schanker  erkranken.  Breitenstein  hat  15  000  eingeborene  be- 
schnittene und  18000  europäische  unbeschnittene  Soldaten  der  holländisch-indischen 
Armee  gegenübergestellt,  die  unter  gleichen  örtlichen,  sozialen  und  hygienischen  Verhält- 
nissen lebten.  Von  ihnen  eikrankten  nun  im  Jahre  1895:  an  Geschlechtskrankheiten 
im  allgemeinen  lö^/^  von  den  beschnittenen,  41  "/o  ^""  ^^^^  unbeschnittenen  Soldaten! 
An  Syphilis  0,8  °/y  von  den  ersteren,  dagegen  4, 1"/^,  also  fünfmal  so  viel,  von  den 
letzteren. 

Wie  also  die  Beschneidung  sicherlich  schon  im  Altertum  als 
ein  vortreffliches  Prophylaktikum  gegen  venerische  Ansteckung  ge- 
wirkt hat,  so  steckte  auch  in  dem  uralten  Aberglauben  von  der 
Giftigkeit  und  Schädlichkeit  des  Menstrualblutes  i)  und  dem  daraus 
resultierenden  Verbote  des  Coitus  mit  einem  menstruierenden  Weibe 
ein  wahrer  Kern,  insofern  erfahrungsgemäss  gonorrhoische  Prozesse 
während  der  Zeit  der  Menses  intensiver  auftreten  und  reichlichere 
Sekretion  zur  Folge  haben  -)  und  bei  Chronicität  der  Krankheit  während 
der  Menses  sehr  häufig  akute  Exacerbationen  sich  bemerkbar  machen. 


i)  Vgl.  hierüber  J.  Preuss,  Materialien  zur  Geschichte  der  biblisch -talmudischen 
Medizin,  XVI.  Die  weiblichen  Genitalien.  In:  Allgem.  Medizin.  Central-Zeitung  1905, 
Nr.  5  ff.,  S.-A.  S.  15  —  29;  Ploss-Bartels,  Das -Weib  in  der  Natur-  und  Völkerkunde, 
8.  Auflage,  Leipzig   1905,  Bd.  I,  S.  458 — 475. 

2)  Vgl.  E.  Finger,  Die  Blennorrhoe  der  Sexualorgane,  4.  Aufl.,  Leipzig- Wien  1896, 
S-   325,  354- 


—     665     - 

§  4'-    Allgemeine  medizinische  Anschauungen  der  Alten 
über  die  venerischen  Krankheiten. 

Indem  wir  uns  nunmehr  der  Betrachtung  der  allgemeinen  An- 
schauungen des  Altertums  über  die  Geschlechtskrankheiten  zuwenden, 
haben  wir  zunächst  die  Behauptung  Rosenbaum's  zu  prüfen,  *dass 
die  griechischen  und  römischen  Aerzte  im  grossen  und  ganzen  keine 
Gelegenheit  gehabt  hätten,  wirkliche  Erfahrungen  über  venerische 
Krankheiten  zu  sammeln,  weil  die  mit  solchen  behafteten  Patienten 
(männliche  und  weibliche)  sich  teils  aus  Scham,  teils  aus  Angst  lieber 
an  männliche  und  weibliche  Kurpfuscher,  Hebammen,  Rhizotomen  etc. 
gewandt  hätten.  Diese  Ansicht,  die  Rosen  bäum  aber  nur  für 
Griechenland  und  Rom  aufstellt,  ist  gänzlich  irrig,  was  die  rein 
klinischen  Erfahrungen  betrifft.  Wir  werden  sehen,  dass  gerade 
diese  den  Aerzten  in  reichlichstem  Masse  zur  Verfügung  standen  und 
dass  die  medizinische  Kenntnis  der  venerischen  Affektionen  sicher 
eine  bedeutend  umfangreichere  war  als  die  ,, Erfahrung"  der  Laien. 
Sind  nicht  auch  heute  noch  gerade  die  sexuellen  Leiden  eine  Lieb- 
lingsdomäne des  gesamten  Kurpfuschertums?  Wenden  sich  auch 
nicht  jetzt  noch  sehr  viele  Leute  aus  Scham  und  Angst  zuerst  an 
Charlatane  auf  diesem  Gebiete,  bevor  sie  einen  approbierten  Arzt 
konsultieren?  Und  doch  köiuite  Niemand  daraus  den  Schluss  ziehen, 
dass  letzterer  weniger  Erfahrung  besitzt  als  der  Quacksalber.  Die 
Sache  ist  vielmehr  die,  dass  zu  allen  Zeiten  und  trotz  der  immensen 
Fortschritte  der  Venereologie  das  Kurpfuschertum  gerade  Sexual- 
leiden immer  mit  Vorliebe  in  den  Bereich  seiner  Thätigkeit  gezogen ') 
und  die  wissenschaftliche  Therapie  in  den  Augen  des  Publikums  ver- 
leumdet und  diskreditiert  hat,  zumal  in  der  römischen  Kaiserzeit,  wo 
das  Interesse  der  Laien  an  medizinischen  Dingen  sehr  gross  war 
und  durch  Schriften,  wie  diejenigen  des  Celsus,  befriedigt  wurde, 
der  doch  die  Bedeutung  der  wissenschaftlichen  Medizin  vollauf  ge- 
würdigt hat,  im  Gegensatze  zum  älteren  Plinius,  diesem  typischen 
Vertreter  des  Charlatanismus,  wie  aus  seiner  leidenschaftlichen  und 
gehässigen  Verurteilung  der  medizinischen  Heilmethode  im  Anfange 
von  Buch  XXIX  seiner  Naturgeschichte  hervorgeht-). 


1)  Vgl.  über  die  sexuelle  Kurpfuscherei  mein  „Sexualleben  unserer  Zeit",  Berlin  1909, 

s.  784-785- 

2)  Neuerdings  sucht  Raben  hörst  („Der  ältere  Plinius  als  Epitomator  des  Verrius 
P^laccus",  Berlin  1907)  den  Nachweis  zu  erbringen,  dass  der  Encyclopädist  V e r r i u s  Flaccus 
der  Verfasser  des  Pamphletes  gegen  die  medizinische  Wissenschaft  sei.  Vgl.  J.  Ilberg, 
A.  Cornelius  Celsus  und  die  Medizin  in  Rom.  In:  Neue  Jahrbücher  für  das  klassische 
Altertum,  Leipzig    1907,   Bd.  XIX,   S.  406 — 407. 


—     666     — 

Das  Laienwissen  über  ärztliche  Dinge  ging  überall  auf 
die  Lehren  der  offiziellen  Medizin  zurück  und  ganz  wie  heute 
lassen  sich  überall  im  medizinischen  Volksglauben  die  Elemente  der 
wissenschaftlichen  Heilkunde  in  Praxis  und  Theorie  nachweisen. 
Niemals  haben  Laien  über  irgend  ein  Gebiet  der  Heilkunde  „mehr" 
gewusst  als  die  Aerzte  selbst.  Das  gilt  ganz  gewiss  auch  für  die 
Geschlechtskrankheiten.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort  im  einzelnen  die 
sehr  interessante  Geschichte  der  medizinischen  Aufklärung 
der  antiken  Laien  weit  durch  Vorträge,  Demonstrationen  und  po- 
pulärmedizinische Werke  darzustellen.  Es  seien  nur  einige  wichtige 
Punkte  hervorgehoben,  die  beweisen,  dass  als  hauptsächliche  Quelle 
dieser  Aufklärung-  die  wissenschaftliche  Medizin  selbst  in  Betracht 
kommt. 

Schon  in  der  älteren  griechischen  Medizin  machte  sich  dieses  Interesse  der  Laien  an 
der  Medizin  bemerkbar,  wie  Piaton's  ,,Tiniaens"  und  die  Schriften  des  Aristoteles  be- 
zeugen. Plutarch  berichtet  (Alcxandr.  8,  i),  dass  Alexander  der  Grosse  von  Aris- 
toteles für  die  Arzneiwissenschaft  interessiert  worden  sei  und  diese  nicht  nur  theoretisch 
studiert,  sondern  auch  praktisch  in  Krankheitsfällen  bei  seinen  Freunden  ausgeübt  habe.  In 
Rom  wurde  die  Medizin  ein  Gegenstand  der  allgemeinen  Bildung  [kyxvxhog  Tiaidsia,  oibis 
doctiinae)  und  als  solcher  zuerst  von  Varro  in  seinen  ,,Disciplinarum  libri  XIX"  be- 
handelt'). Und  das  berühmte  Werk  des  A.  Cornelius  Celsus  „De  medicina"  war  nur 
ein  Teil  einer  grossen  Encyclopädie,  die  den  Titel  „Artes"  führte,  mit  der  Landwirtschaft 
begann-)  und  für  das  Laienpublikum  berechnet  war.  Kurz  nach  Celsus  trat  der  hervor- 
ragendste Apostel  der  populären  medizinischen  Aufklärung  auf,  der  unter  dem  Kaiser 
Claudius  lebende  Athenaios,  der  Stifter  der  pneumatischen  Schale.  Er  war  der  erste 
energische  Vertreter  einer  umfa-isenden  hygienischen  Aufklärung  der  Jugend.  In  seiner 
Schrift  jiSQi  vyiEtrijg  diaiirjg  äussert  er  sich  u.  a.  folgendermassen  (bei  Oribasius,  ed. 
Bussemaker  et  Daremberg,  Bd.  III,  S.  164): 

„Es  ist  für  alle  Menschen  nützlich  oder  besser  notwendig,  dass  sie  von  diesem  Alter 
(dem  14.  Lebensjahre)  an  zugleich  mit  den  anderen  Wissenschaften  auch  die  Heilkunde 
sich  zu  eigen  machen  und  ihre  Vorschriften  kennen  lernen,  damit  sie  in  Bezug  auf  ihre 
eigene  Gesundheit  sich  selbst  in  vorzüglicher  Weise  beraten  können.  Denn  es  giebt  beinahe 
keinen  Augenblick  in  der  Nacht  und  am  Tage,  wo  wir  diese  Kunst  nicht  nötig  hätten, 
beim  Spazierengehen,-  beim  Sitzen,  Salben,  Baden,  Essen  und  Trinken,  Schlafen  und  Wachen, 
kurz  bei  allem,  was  wir  während  unseres  ganzen  Lebens  thun  und  ausführen,  immer  haben 
wir  die  Medizin  für  eine  gesunde  und  unschädliche  Lebensführung  nötig.  Es  ist  aber  zu 
mühselig  und  unmöglich,  über  alle  diese  Dinge  immer  die  Aerzte  zu  Rate  zu  ziehen." 

Durch  Athenaios  angeregt  vertritt  Plutarch  in  den  'YyiF.ivu  naQayyskfiara  die 
Ansicht,  dass  der  Philosoph  ausser  der  Geometrie,  Dialektik  und  Musik  auch  den  eigenen 
Körper  genau  kennen  müsse.  Er  sagt  cap.  25:  ,,Das  ist  doch  wahr,  dass  Niemand  ohne 
Kenntnis  der  Beschaffenheit  seines  Pulses  sein  soll,  da  die  Verschiedenheit  hier  bei  jedem 
Einzelnen   gross   ist.     Auch    soll  Jeder   die    Mischung  von  Wärme  und  Trockenheit,    welche 


i)  Vgl.  Ilberg  a.  a.  O.  S.   381—382. 

2)  Vgl.  Iwan  Bloch,    ,, Celsus"    in:    Puschmann's   Handbuch   der   Geschichte  der 
Medizin,  Jena    [902,   Bd.   I,  S.  416  —  417. 


—     667     — 

sein  Körper  besitzt,  kennen,  sowie  die  Dinge,  deren  Gebrauch  seiner  Natur  nützlich  oder 
schädlich  ist",  und  cap.  i :  ,, Unter  den  freien  Künsten  steht  die  Heilkunde  keiner  in  Ab- 
sicht auf  das  Glänzende,  Treffliche  und  Angenehme  nach,  und  denen,  die  sie  lieben,  verleiht 
sie  in  der  Gesundheit  und  dem  Wohlbefinden  eine  reiche  Belohnung". 

Dass  diese  medizinischen  Dilettanten,  die  (pMargoi,  bisweilen  mehr  wussten  als 
unwissende  Aerzte,  largoP),  die  den  Fortschritten  der  Wissenschaft  nicht  gefolgt  waren, 
darf  nicht  dahin  generalisiert  werden,  dass  die  Laien  überhaupt  in  der  Medizin  ebenso  gut 
oder  besser  beschlagen  gewesen  seien.  Die  (piUargoi  waren  doch  immer  nur  vereinzelt 
gegenüber  der  grossen  Masse  der  in  medizinischer  Hinsicht  gänzlich  unwissenden  tSiwrai 
(Galen  VII,  477).  Aus  der  vorzüglichen  Darstellung,  die  Iwan  von  Müller  der  popu- 
lären Medizin  der  Kaiserzeit  gewidmet  hat^),  geht  hervor,  dass  dieses  grosse  Interesse  des 
Laienpublikums  an  der  Medizin  und  den  Streitigkeiten  der  medizinischen  Sekten  ein  mehr 
sekundäres,  passives  und  theoretisches  war.  Die  für  diesen  Zweck  verfassten  Kompendien, 
für  die  die  'lazgiyJ]  ovvayoiyi)  des  Menon  das  Vorbild  war^),  das  Werk  des  Celsus  und 
ähnliche  Schriften,  geben  immer  die  Anschauungen    und  Erfahrungen  von  Aerzten  wieder! 

Was  nun  die  speziellen  Erfahrungen  der  wissenschaftlichen  Aerzte 
auf  dem  Gebiete  der  Geschlechtskrankheiten  betrifft,  so  werden  wir 
ja  sehen,  dass  die  gesamte  antike  Venereologie  von  ihnen  ge- 
schaffen wurde  und  nicht  von  den  Laien,  dass  also  nicht  das 
„Nichtwissen"  der  Aerzte  die  Ursache  des  völligen  Schweigens  über 
die  Syphilis  sein  kann.  Wenn  Rosenbaum  ferner  meint,  dass  die 
Aerzte  wegen  der  grossen  Schamhaftigkeit  der  Patienten,  beson- 
ders der  weiblichen,  keine  Gelegenheit  gehabt  hätten,  die  Geschlechts- 
leiden genauer  zu  erforschen,  so  wird  dieses  Argument  erstens  da- 
durch widerlegt,  dass  sie  doch  alle  möglichen  Leiden  der  Genitalien 
gesehen  haben  müssen,  da  sie  sie  individuell  beschreiben,  und 
zweitens  wird  es  dadurch  hinfällig,  dass  das  zweifellos  vorhandene 
Schamgefühl,  namentlich  der  Frauen'^),  das  ja  auch  heute  noch  ein 


1)  Das  galt  besonders  von  Landärzten,  wie  z.  B.  jenem  Arzte,  den  Aulus 
Gellius  bei  einer  fieberhaften  Erkrankung  rufen  liess  und  der  den  Unterschied  von  Vene 
und  Arterie  nicht  kannte  und  hierüber  von  dem  anwesenden  Freunde  des  Gellius,  dem 
Philosophen  Calvisius  Taurus  belehrt  werden  musste.  Auch  Gellius  will  die  Heilkunde 
zu  einem  Zweige  der  allgemeinen  Bildung  gemacht  wissen   (Noct.  attic.   XVIII,    10). 

2)  Iwan  V.  Müller,  Ueber  die  dem  Galen  zugeschriebene  Abhandlung  Üeq!  tj/? 
dgioTtjg  aigeascog  in:  Sitzungsberichte  der  philosoph.  u.  histor.  Klasse  der  Kgl.  Bayer.  Aka- 
demie der  Wissenschaften  1898,  S.  53 — 63  (I.  Die  Popularität  der  medizinischen  Ueber- 
sichtslitteratur). 

3)  Ueber  die  früheren  doxographischen  Uebersichten  medizinischer  Lehren  vgl.  H. 
Dl  eis,  ,, Ueber  das  physikalische  System  des  Straten"  in:  Sitzungsber.  d.  kgl.  preussischen 
Akad.  d.  Wissensch.    1893,  S.   loi  ff. 

4)  Beispiele  hierfür  bei  Celsus  (Prooemium  S.  9,  i  ff.  der  Ausg.  von  Darem- 
berg),  wo  es  sich  um  die  ,,verecundia"  einer  vornehmen  Dame  bei  einem  Gebärmuttervorfall 
handelt,  und  bei  Galen  (XI,  341  u.  XIV,  641  ff.),  wo  die  an  govg  yvvaixsTo?  erkrankte 
Frau  des  Konsulars  Flavius  ßoethos  sich  vor  den  Aerzten  schämt  und  zuerst  die  besten 
Hebammen  Roms  zu  Rate  zieht,  bis  sie  durch  die  Verschlimmerung  des  Leidens  gezwungen 

Bloch,   Der  Ursprung  der  Syphilis.  43 


—     668     — 

so  grosses  Hindernis  für  die  rechtzeitige  ärztliche  Diagnose  und 
Therapie  ist,  wohl  meistens  überwunden  worden  ist  ^),  da  wir  von 
zahlreichen  Untersuchungen  männlicher  und  weiblicher  Geschlechts- 
teile hören  und  die  Anwendung  des  Mutterspiegels  gang  und  gäbe 
war.  Auch  konnte  von  einem  die  ärztliche  Erfahrung  einschränken- 
den Schamgefühl  doch  nur  bei  freien  Individuen  die  Rede''*)  sein. 
Bei  Sklaven  wurde  keine  Rücksicht  genommen.  Nicht  bloss  traten 
Faustkämpfer,  Fechter  und  Athleten  nackt  auf.  Schon  beim  Ankauf 
wurde  der  Sklave  oder  die  Sklavin  in  völlig  nacktem  Zustande  auf 
einem  drehbaren  Gestelle,  der  catasta,  oder  auch  einer  Steinplatte 
vom  Kopfe  bis  zu  den  Füssen  eingehend  besichtigt. 

Es  hiess  im  allgemeinen:  einen  Sklaven  von  der  Catasta  („Staberius  Eros  suomet 
aere  emptus  de  catasta",  Sueton.,  de  grammaticis  13)  oder  auch  von  der  Steinerhöhung 
(„de  lapide  emptus",  Cic.  in  Pis.  15;  Plaut.,  Bacch.  IV,  7,  i")  kaufen.  Die  Catasta 
Hess  sich  im  Kreise  drehen,  so  dass  der  Sklave  oder  die  Sklavin  von  allen  Seiten  geprüft 
werden  konnte: 

Non  te  barbaricae  versabat  turbo  catastae 

(Statins,  Silv.  II,    i,   72). 

Der  Käufer  hatte  das  Recht,  den  Sklaven  vollständig  nackt  zu  sehen  und  genau  zu 
inspizieren  und  zu  befühlen  [ne  qua  vitia  corporis  lateant,  wie  Seneca  sich  aus- 
drückt (Senec,  ep.  80,  8 — 9)],  was  nöthig  war,  da  die  Verkäufer  oft  trotz  Verbotes  durch 
ein  Edikt  der  Aedilen,  diese  Körperfehler  und  Krankheitszustände  des  männlichen  und 
weiblichen  Sklaven  zu  verbergen  suchten  (ibidem  und  Cicero,  de  officiis  III,  17:  sed  etiam 
in  mancipiorum  venditione  fraus  venditoris  omnis  excluditur,  qui  enim  scire  debuit  de  sa- 
nitate,  de  fuga,  de  furtis,  praestat  edicto  aedilium).  In  diesem  Erlass  der  kurulischen 
Aedilen  hiess  es:  ,,Man  soll  Sorge  tragen,  dass  das  Verzeichnis  von  jedem  einzelnen  Sklaven 
so  (ausführlich)  angefertigt  sei,  dass  man  daraus  genau  ersehen  könne,  an  welcher  Krank- 
heit oder  an  welchem  Gebrechen  (quid  morbi  vitiive  cuique  sit)  einer  leide, 
ob  emer  ein  Ausreisser  oder  ein  Landstreicher  sei,  oder  überhaupt  noch  mit  einer  Strafe 
im  Rest  stehe".  Bei  Gellius  (Noct.  att.  IV,  2),  der  diese  Stelle  mitteilt,  wird  dann  aus- 
geführt, dass  eine  Krankheit  sich  mitunter  auf  den  ganzen  Teil  des  Körpers  erstrecke,  mit- 
unter nur  auf  einen  Teil  des  Körpers.  Als  Beispiel  für  das  erstere  wird  „phthisis  aut 
febris",  für  das  letztere  „caecitas  aut  pedis  debilitas"  angeführt.  Es  ist  interessant,  dass 
unter  die  „morbosi"  auch  Individuen  mit  geschlechtlichen  Fehlern,  wie  Eunuchen 
und  Frauen  mit  angeborener  (nativa  sterilitas)  oder  erworbener  Unfruchtbarkeit  (at  si 
valetudo  offendisset,  exque  ea  viiium  factum  esset,  ut  concipere  fetus  non  posset)  gerechnet 
wurden. 


wird,  verschiedene  Aerzte,  darunter  auch  Galen,  herbeizurufen,  Aeusserungen  über  das 
weibliche  Schamgefühl  gegenüber  Aerzten  bei  Herodot  III,  133  und  Euripides,  Hippolyt. 
293  ff.  Vgl.  auch  Robert  Fuchs,  Geschichte  der  Heilkunde  bei  den  Griechen  in:  Hand- 
buch der  Geschichte  der  Medizin  von  Neuburger-Pagel,  Jena   1901,  Bd.  I,  .S.    190. 

i)  Vgl.  oben  S.   531   und  S.  532. 

2)  In  älterer  Zeit  war  auch  hier  die  Unbefangenheit  grösser,  wie  denn  bei  den  Spar- 
tanern Lykurg  angeordnet  haben  soll,  dass  die  Mädchen  und  Knaben  bei  Gelegenheit  von 
Festen  sich  einander  in  nacktem  Zustande  zeigten  (Flut.,   Lycurg.    14). 


—     66g      — 

Durch  die  griechischen  Papyrus-Urkunden  sind  viele  Kaufverträge  über  Sklaven  auf 
uns  gekommen.  Sudhoff,  der  die  in  medizinischer  Beziehung  wichtigsten  Stellen  zu- 
sammengestellt hat  ^),  bemerkt:  ,,Noch  wichtiger  war  die  Garantie  der  Gesundheit  beim  Ein- 
kauf eines  Sklaven  oder  einer,  auch  für  die  Fortpflanzung  bestimmten,  Sklavin.  Aeusserlich 
sofort  leicht  erkennbare  Leiden  oder  Fehler  musste  allezeit  der  Käufer  selbst  beachten  bezw. 
sich  hierin  selbst  davor  schützen,  indem  er  die  Augen  aufmachte,  dass  er  nicht  betrogen 
wurde.  Nur  über  verborgene  innere  Leiden  muss  der  Verkäufer  eine  Erklärung  abgeben 
und  für  eine  gewisse  Zeit  eine  Garantie  leisten.  Solche  ,, rückgängige  Fehler",  wie  es  heute 
noch  beim  Pferdekauf  heisst,  waren  in  alexandrinisch-hellenistischer  Zeit  beim  Sklaven  vor 
allem  Fallsucht  und  Aussatz,  die  denn  auch  in  unzähligen  Sklaven  Verkaufsverträgen  als 
nicht  vorhanden  an  Eidesstatt  betont  werden." 

Die  Erklärung  über  ein  solches  y.QVTzxov  :jddo;  fehlt  niemals.  Der  Verkäufer  haftete 
für  6  Monate  für  Fallsucht,  alte  Schäden  und  verborgene  Leiden.  Sudhoff  verweist  auch 
auf  die  einschlägigen  Bestimmungen  der  Digesten  über  die  meldepflichtigen  Krankheiten  der 
Sklaven.     Für  unser  Thema  von  Interesse  sind  folgende  Stellen'): 

Dig.  XXI,  I,  6  u.  ":  Trebatius  ait,  impetiginosum  morbosum  non  esse,  si  eo  mem- 
bro,  ubi  Impetigo  esset,  aeque  recte  utatur;  et  mihi  videtur  vera  Trebatii  sententia. 

Spadonem  morbosum  non  esse,  neque  vitiosum,  verius  mihi  videtur,  sed  sanum  esse, 
sicuti  illum,  qui  unum  testiculum  habet,  qui  etiam  generare  potest  —  sin  autem  quis  ita 
spado  est,  ut  tarn  necessaria  pars  corporis  ei  penitus  absit,  morbosus  est. 

Dig.  XXI,  1,  12:  Qui  clavum  habet,  morbosus  est;  sed  et  polyposus  ...  Is,  cui 
OS  oleat,  an  sanus  sit,  quaesitum  est;  Trebatius  ait,  non  esse  morbosum,  os  alicui  olere, 
veluti  hircosum,  strabonem;  hoc  enim  ex  illuvie  oris  accidere  solere;  si  tamen  ex  corporis 
vitio  id  accidit,   veluti   quod   iecur,   quod  pulmo,  aut  aliud   quid  similiter  dolet,  morbosus  est. 

Dig.  XXI,  I,  14:  Ouaeritur  de  ea  muliere,  quae  semper  mortuos  parit,  an  morbosa 
sit;  et  ait  Sabinus,  si  vulvae  vitio  hoc  contingit,  morbosam  esse  .  .  .  De  sterili  Caelius 
distinguere  Trebatium  dicit,  ut,  si  natura  sterilis  sit,  si  vitio  corporis,  contra.  Item  de  eo, 
qui  urinam  facit,  quaeritur;  et  Pedius  ait,  non  ob  eam  rem  sanum  non  esse,  quod  in  lecto 
somno  vinoque  pressus,  aut  etiam  pigritia  surgendi  urinam  faciat;  sin  autem  vitio  vesicae 
collectum  humorem  continere  non  potest,  non  quia  urinam  in  lecto  facit,  sed  quia  vitiosam 
vesicam  habet,  redhiberi  posse. 

Dig.  XXI,  I,  15:  Quae  bis  in  mense  purgatur,  sana  non  est;  item  quae  non  pur- 
gatur,  nisi  per  aetatem  accidit. 

Während  merkwürdiger  Weise  Aussatz  und  Epilepsie  in  den  Digesten  nicht  erwähnt 
werden,  sehen  wir,  dass  verschiedene  für  den  Dermatologen  und  Venereologen  interessante 
Leiden  beim  Sklavenkauf  berücksichtigt  wurden,  wie  die  Impetigo,  welcher  Begriff  wohl 
ausser  Ekzem  vielleicht  auch  Psoriasis  und  Ichthyosis  umfasst  (vgl.  die  Schilderung  bei 
Celsus,  Lib.  V,  c.  28,  17  — 18),  der  komplete  Eunuchismus,  Warzen  und  Polypen,  übler 
Mundgeruch,  sobald  er  mit  einem  inneren  Leiden  (der  Lunge  oder  des  Intestinaltractus) 
zusammenhing,  habituelle  Totgeburt  infolge  Erkrankung  oder  fehlerhafter  Beschaffenheit  der 
weiblichen  Geschlechtsorgane,  Sterilität  infolge  einer  Krankheit,  Enuresis  bei  Erkrankung 
der  Blase,  Dysmenorrhöe. 

In  ähnlicher  Weise  wie  beim  Sklavenkauf  wurde  bei  der  Unter- 
suchung  der  Militärdienstpflichtigen  auf  Krankheiten    gefahndet,    wie 


i)  ,, Sklavenwesen''  in:  Aerztliches  aus  griechischen  Papyrus-Urkunden,  S.  142  — 149. 
2)  Ich  zitiere  nach    der  Ausgabe    des    „Corpus  Juris  civilis"    von    Kriegel,    Herr- 
mann und  Osenbrüggen,  Leipzig   1858. 

43* 


—     670     — 

dies    ebenfalls    die    Papyrusurkunden    bezeugen  ^).     Das    Gleiche    galt 
von  der  Besichtigung  der  Priesterkinder  vor  der  Beschneidung  2). 

Trifft  es  also  nicht  zu,  dass,  wie  Rosenbaum  behauptet,  die 
heimischen  Sitten  die  Aerzte  daran  hinderten,  grössere  Erfahrungen 
über  geschlechtliche  Erkrankungen  zu  sammeln,  so  war  das  Wander- 
leben vieler  Aerzte  und  ihre  Zerstreuung  über  das  ganze  Imperium 
nur  in  höchstem  Maasse  geeignet,  ihnen  die  etwa  noch  mangelnden 
Erfahrungen  auf  diesem  Gebiete  reichlich  zuzuführen. 

Bis  tief  in  die  byzantinische  Zeit  zogen  diese  jiEQioöevrai,  circulatores  von 
Ort  zu  Ort.  In  der  Grabschrift  des  freigelassenen  Arztes  P.  Scribonius  Primigenius 
heisst  es,  dass  er,  in  Iguvium  geboren,  viele  Orte  besucht  habe  und  überall  durch  seine 
Kunst,  noch  mehr  durch  seine  Zuverlässigkeit  bekannt  sei  (Antholog.  latin.,  ed.  Meyer  1430). 
Aehnlich  nennt  die  Grabschrift  eines  Arztes  aus  Nicäa  bei  Doliche  in  Thessalien  ihn 
„jio?M]v  &dXaooav  xal  yaiav  jieQivooxrjoag^^  (Kaibel,  Epigr.  Gr.  509).  Neuerdings  teilt 
Oehler^)  die  Grabschrift  des  Arztes  Hedys  mit,  der  auf  seinen  Reisen  die  Länder  Asiens, 
Europas  und  Afrikas  und  die  Strömungen  des  Okeanos  gesehen  hat  und  dessen  Gebeine  in 
Nikaia  ruhen. 

Zu  diesen  vielgereisten  Aerzten  gehörten  auch  die  Militär- 
ärzte^), denen  schon  im  Corpus  hippocraticum  (De  medico,  c.  14) 
empfohlen  wird,  fremden  Söldnerheeren  zu  folgen,  die  Schiffsärzte ^) 
und  die  Festärzte'').  Die  weite  Verbreitung  griechischer  Aerzte 
im  Bereiche  der  antiken  Welt  zeigt  die  Zusammenstellung  von  Oehler 
nach  Orten  und  Namen  (a.  a.  O.  S.  5  u.  20 — 25). 

Nicht  zu  vergessen  ist  endlich  bei  der  allgemeinen  Beurteilung 
der  antiken  Kenntnis  der  venerischen  Leiden,  dass  es  wahrscheinlich 
auch  auf  diesem  Gebiete  Spezialisten  gab.  Meist  stammten  sie 
wohl  aus  Aegypten,  der  Urheimat  des  ärztlichen  Spezialistentums 
(Herodot.  II,    84)'^).     Dort    entwickelte    sich    unter    den    Ptolemäern 


1)  Vgl.  Sudhoff,  a.  a.  O.  S.   252—253. 

2)  Ibidem  S.   176. 

3)  Johann  Oehler,  Epigraphische  Beiträge  zur  Geschichte  des  Aerztestandes.  In: 
Janus,  Bd.  XIII,   1908,  S.-A.,  S.  4. 

4)  Ueber  die  griechischen  Militärärzte  vgl.  Robert  Fuchs,  a.  a.  O.  S.  183 — 184; 
Rudolf  Pohl,  De  Graecorum  medicis  publicis,  Berlin  1905,  S.  63 — 64;  über  die  römischen 
vgl.  Iwan  Bloch,  Uebersicht  über  die  ärztlichen  Standesverhältnisse  in  der  west-  und  ost- 
römischen Kaiserzeit,  in:  Puschmann,  Handbuch,  1902,  Bd.  I,  S.  586 — 587;  Theodor 
Meyer,  Geschichte  des  römischen  Aerztestandes,  Kiel    1907,  S.  48  —  51. 

5)  Iwan  Bloch,  Schiffsärzte  in  byzantinischer  Zeit.  In:  Janus,  Bd.  VII,  1902, 
S.   15 — 16;  Oehler,  a.  a.  O.  S.  9, 

6)  Pohl,  a.  a.  O.  S.  64.  Auf  einer  Inschrift  von  Olympia  62  wird  auch  ein  Arzt 
erwähnt,  der  für  die  in  Olympia  zusammenströnienden  Fremden  bestimmt  war.  Andere 
Inschriften  über  Festärzte  bei  Oehler,  a.  a.  O.   S.    10. 

7)  Galen  (Introductio,  cap,  i,  ed.  Kühn,  XIV,  675)  sucht  auch  die  Quelle  der 
griechischen  Medizin  in  Aegypten. 


—     67 1      — 

ein    reges    wissenschaftliches   Leben.      Die  Alexandrinerzeit    war    die 
Epoche  der  ersten   medizinischen  Monographien. 

Erwähnt  seien  Andreas  von  Karystos,  der  ein  grosses  Werk  über  Pharmakologie, 
vdgdT]^  (Galen  XI,  795;  XIX,  105;  Plin.,  n.  h.  20,  200)  und  eine  Abhandlung  über 
den  Biss  giftiger  Tiere,  Jisgt  Saxsriov  (Galen  XIV,  180)  schrieb,  Kleophantos  (Ueber 
den  Wein,  Plin.,  n.  h.  26,  14),  Apollonios  Mys  (Ueber  Salben,  jteqI  fivQCOV,  Athen., 
p.  688  e  ff.),  Demosthenes  Philalethes  (Ueber  Augenheilkunde,  6<p&a?^/Liix6g,  Aet.  II, 
3,  12,  16,  44  u.  ö.),  Gaius  (Ueber  Wasserscheu,  Cael.  Aurelian.,  ac.  morb.  III,  14), 
Dioskurides  Phakas  (Ueber  die  Lybische  Pest,  Oreibas.  III,  607),  der  Erasistrateer 
Straton  (Ueber  den  Aussatz,  eXsq^avxiaaig ,  Oreibas.  IV,  63),  Asklepiades  über  Alo- 
pecie  (Galen  XII,  410)  u.  a.  m. 

Es  war  nichts  Ungewöhnliches,  dass  man  bei  neuen  Krank- 
heiten die  vielerfahrenen  ägyptischen  Spezialärzte  nach  Rom  berief 
(Plin.,  n.  h.  26,  3  und   29,  30). 

Dass  nach  all  diesem  bei  den  alten  Aerzten  eine  ausgedehnte 
Kenntnis  der  krankhaften  Affektionen  der  Geschlechtsteile  bestanden 
hat,  lässt  sich  in  keiner  Weise  bezweifeln  und  wird  ja  durch  die 
grosse  Zahl  der  Krankheitsschilderungen  dieser  Art  bestätigt,  die  wir 
weiter  unten  übersichtlich  zusammenstellen.  Was  aber  im  Grossen 
und  Ganzen  fehlt,  das  war  die  klare  Erkenntnis,  dass  die  sogenannten 
„venerischen"  Affektionen  eine  Gruppe  für  sich  bilden,  als  deren 
letzte  Ursache  der  Geschlechtsverkehr  in  Betracht  kommt.  Wohl- 
verstanden fehlt  es,  wie  wir  sehen  werden,  nicht  ganz  an  Andeutungen, 
dass  man  gewisse  Affektionen  mit  der  Unzucht  in  Verbindung  brachte. 
Von  hier  aber  bis  zur  Aufstellung  der  Sondergruppe  der  „Ge- 
schlechtskrankheiten", d.  h.  der  hauptsächlich  durch  den  sexuellen 
Verkehr  erworbenen  spezifischen  Leiden,  ist  noch  ein  weiter  Weg. 
Auch  darf  nicht  vergessen  werden,  dass  Tripper  und  weicher  Schan- 
ker, die  von  den  alten  Autoren  ohne  Zweifel  beschrieben  worden 
sind,  relativ  harmlose  Leiden  sind  in  Vergleichung  mit  der  Syphilis 
und  noch  bis  vor  kurzem  nur  wenig  beachtet  wurden. 

,,Es  ist  noch  nicht  gar  so  lange  her",  sagt  A.  Blaschko'),  ,,dass,  wenn  man  die 
Gefahren  der  venerischen  Krankheiten  erörterte,  man  ausschliesslich  die  Syphilis  im  Auge 
hatte.  Nicht  nur  medizinische  Autoren  beschränkten  sich,  um  die  Notwendigkeit  einer 
energischen  öffentlichen  Prophylaxe  darzuthun,  stets  darauf,  auf  die  grossen  Schäden  hinzu- 
weisen, welche  den  Erkrankten  sowie  der  Gesellschaft  aus  der  syphilitischen  Infektion  er- 
wüchsen (The  Lancet,  28.  August  1869:  Gonorrhoe  und  venerisches  Geschwür  sind  nichts 
im  Vergleich  mit  wirklicher  Syphilis),  auch  in  der  öffentlichen  Diskussion  war  und  ist  auch 
jetzt  noch  die  Harmlosigkeit  der  Gonorrhoe,  im  Gegensatz  zur  Syphilis,  der  ,, einzig  ernst- 
lichen Krankheit"  (R.  Scott,  A  State  Iniquity,  London  1890,  p.  52),  eines  der  wichtigsten 
Argumente  der  Abolitionisten  gegen  die  ärztliche  Untersuchung  der  Prostituierten." 


i)  A.  Blaschko,    Syphilis  und  Prostitution    vom   Standpunkte   der   öffentlichen  Ge- 
sundheitspflege, Berlin   1893,  S.  15. 


—     672     — 

Man  schenkte  also  gewiss  im  Altertume  dem  Tripper  und  dem 
lokalen  Schanker  in  ätiologischer  Beziehung  wenig  Beachtung  und 
doch  hat  man  sie  beschrieben,  während  von  der  Syphilis  in  den 
Schriften  der  alten  Aerzte  und  Laien  nichts  zu  entdecken  ist.  Schon 
dieser  Gegensatz  ist  bezeichnend.  Denn  die  Theorie  von  dem  „leich- 
teren" Verlaufe  der  (nota  bene  unbehandelten!)  Syphihs  im  Altertume, 
so  dass  man  sie  wie  Tripper  und  Schanker  wenig  beachtete,  wird 
doch  heute  wohl  Niemand  mehr  ernstlich  aufrecht  erhalten.  Wir 
nehmen  vielmehr  den  Standpunkt  ein,  dass  die  Syphilis,  falls  sie  exi- 
stiert hätte,  vielleicht  in  pathogenetischer  und  ätiologischer  Beziehung 
den  alten  Aerzten  entgangen  wäre,  niemals  aber  in  klinischer  Be- 
ziehung. 

Nach  diesen  Vorbemerkungen  gehen  wir  zu  einer  genaueren 
Untersuchung  der  allgemeinen  Anschauungen  der  Alten  über  die 
venerischen  Krankheiten  über. 

Als  grösstes  Hindernis  einer  unbefangenen  Würdigung  und 
Erkenntnis  der  venerischen  Ansteckung  erscheint  die  humoral- 
pathologische  Auffassung  der  Hautkrankheiten,  die  im  Corpus 
hippocraticum  niedergelegt  ist,  jene  Lehre,  nach  der  die  Affektionen 
der  Haut  nur  „Ablagerungen"  [äjidoraoig)  von  Krankheitsprodukten 
auf  der  äusseren  Oberfläche  seien,  die  ihren  eigentlichen  Ursprung 
inneren  Zuständen,  einer  krankhaften  Veränderung  der  „Säfte" 
{dvoxQaoia)  verdankten.  In  diesem  Sinne  sprach  man  von  einem 
„Ausschlagen",  „Hervorbrechen",  „Blühen"  der  Hautkrankheiten.  Die 
älteste  Terminologie  weist  auf  diese  supponierten  inneren  Ursachen 
hin,  sie  prägte  die  Bezeichnungen  „Exanthem",  e^dv&rjjua  (Hip- 
pocr.,  Aphor.  VI,  9;  Epid.  VI,  2,  15;  Prorrhet.  II,  49;  Galen.  XIX, 
495;  XVII  A,  358,  394;  XI,  846;  XIII,  421  u.  ö.),  „Exanthisma", 
iidv&iojua  (Hippocr.,  Coac.  Praenot,  ed.  Kühn,  I,  308)  von  e^av&lCeiv, 
„Gewächs",  cpvjua  (Hippocr.,  Aphor.,  Lib.  III,  no.  20;  Prorrhet.  II, 
ed.  Kühn  I,  104;  Epidem.  III,  Sect.  3,  ed.  Kühn  III,  482;  Galen., 
ed.  Kühn  XVII,  B.  636;  XIII,  437  u.  ö),  „Efflorescenz",  „Ek- 
thyma", EXTCojua,  sx-&vjua  (von  ex'&veiv,  Galen.  XVII  A,  354,  865; 
Erotian,  ed.  Klein,  p.  67),  „Ekzem",  ex'Qef^o-  (Erotian.,  ed.  Klein, 
p.  67:  ex'&vjuara'  exCsjuara,  co?  (prjoi  Baxyßlog.  xal  exd-voeig  al  e^av- 
^rjosig;  Aetius,  Tetrabl.  IV,  Serm.  i   [=  Lib.  XIII,  c.   i28])i).     Diese 


i)  Die  gewöhnliche  Angabe  in  dermatologischen  Lehrbüchern,  dass  der  Name 
„Ekzem"  zuerst  bei  Aetius  von  Amida  (6.  Jährhundert  p.  Chr.)  vorkomme,  ist  unzu- 
treffend, wie  schon  das  obige  bisher  unbekannte  älteste  Zitat  aus  dem  Vokabular  des  zur 
Zeit  Neros  lebenden  Erotianos  ergiebt.  Uebrigens  ist  auch  die  Stelle  des  Aetius  den 
Werken    des    Pneumalikers    Archigenes,    eines    Zeitgenossen    des    Kaisers    Trajan,     ent- 


—      &73      — 

Bezeichnungen  waren  ganz  allgemeiner  Natur  und  bezogen  sich 
auf  die  Ablagerungen  der  krankhaft  veränderten  Humores  in  der  Haut^). 

Die  wissenschaftliche  Betrachtungsweise  der  Hautkrankheiten 
in  der  hippokratischen  und  späteren  antiken  Medizin  war  wesentlich 
eine  ätiologische  und  diese  vorwiegend  humoral-pathologisch.  Von 
einer  genaueren  Lokalisation,  einer  wissenschaftlichen  Erforschung 
der  Verschiedenheiten  einzelner  Hautaffektionen,  einem  S^'steme  der- 
selben war  keine  Rede.  Man  konnte  sich  die  pathologischen  Mani- 
festationen auf  der  Haut  durchaus  nicht  als  rein  selbstständige  Affek- 
tionen sui  generis  und  von  spezifischer  Natur  vorstellen,  sie  blieben 
stets  Ausflüsse  innerer  Zustände-),  zu  welchen  sie  unter  Umständen 
wieder  zurückkehren  konnten.  Der  Ursprung  der  alten  Lehre  von  dem 
sogenannten  „Zurückschlagen"  der  Hautkrankheiten  ist  hier  zu  suchen. 

Es  blieb  also  für  die  Diagnose  und  Differentialdiagnose  der 
krankhaften  Veränderungen  der  Haut  nur  die  rein  formalistische 
Betrachtungsweise  übrig,  die  nach  Form,  Grösse,  Farbe,  Wachstum, 
Art  der  Ausbreitung,  klinischen  Symptomen  der  Entzündung,  des 
Schmerzes,  des  Juckens,  Abscedierung  u.  s.  w.  die  einzelnen  Exan- 
theme unterschied. 

Auch  die  venerischen  Hautaffektionen  wurden  nicht 
anders  aufgefasst  und  beurteilt.  Vorzüglich  hat  ein  so  beson- 
nener und  kritischer  Forscher  wie  von  Töply  diese  Verhältnisse 
charakterisiert  ^) : 

„Schliesslich  dürfen  wir  gerade  gegenüber  den  als  verdächtig  bezeichneten  „Aus- 
wüchsen" der  griechischen  und  römischen  Schriftsteller  zweierlei  nie  vergessen.  Die  Nomen- 
clatur  des  medizinischen  Altertumes  ging  auf  der  Basis  des  Formalismus  auf.  die  unsere 
bewegt  sich  auf  ätiologischer  Grundlage.  Wenn  wir  von  Plaques  sprechen,  involvieren  wir 
bereits  eine  vorangegangene  S3'philitische  Ansteckung,  das  Altertum  dachte  jedoch, 
um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  bei  Ficus  in  den  allerseltensten  Fällen  an  einen  auf  be- 
stimmte Weise  erworbenen  und  auf  bestimmter  Grundlage  sich  entwickeln- 
den Krankheitsprozess,  sondern  nur  an  die  äussere  Erscheinung,  deren 
Grenzen    vom    Einen    enger,    vom    Anderen    weiter    gezogen    wurden,    so    dass    Allgemein- 


nommen,  wie  denn  schon  Galen  den  Ausdruck  ix^sofiaTa  aus  einem  Werke  des  Archi- 
genes  Jtsgi  zöiv  xarä  yivog  (pagfidxcov  anführt  (Galen  de  compos.  medicanient.  secundum 
locos  lib.  I,  cap.  8,  Kühn  XII,  468).  Auch  Dioskurides  (ebenfalls  zur  Zeit  Neros)  soll 
das  Wort  „sxCs/Lia''  erwähnen  (nach  W.  Pape,  Griechisch  ■  deutsches  Handwörterbuch, 
Braunschweig  1857,   Bd.  I,  S.  658). 

i)  Vgl.  J.  G.  Dorl,  Rudimentum  exanthematologiae,  Jena  1794,  S.    i". 

2)  Bezeichnend  hierfür  ist  die  Ueberschrift  von  Kapitel  28  des  5.  Buches  des 
Celsus  ,,De  interioribus  ulceribus,  quae  aliqua  corporum  parte  corrupta  nascuntur",  womnter 
er  meist  Hautleiden  versteht. 

3)  Robert  Töply,  Die  Syphilis  im  Altertum.  Wiener  klin.  Wochenschr.  1889, 
Nr.  29,  S.  583. 


—     674     — 

berufungen  auf  medizinische  Namen  des  Altertums  stets  etwas  Missliches  an  sich  haben, 
wie  sich  am  klarsten  zeigte,  wenn  man  alle  jene  Titel  einzeln  zu  prüfen  versuchte,  welche 
für  syphilitische  Lokalmanifestationen  in  Anspruch  genommen  wurden.  Andererseits  muss 
man  sich  klar  sein  darüber,  dass  selbst  der  gesicherte  Nachweis  venerischer 
Affektionen  am  Munde  oder  Rachen  oder  After  im  allgemeinen  noch  gar 
keinen  Beleg  für  syphilitische  Spätmanifestationen  bieten  würde,  sofern  man 
nicht  mit  Bestimmtheit  aus  der  zitierten  Nachricht  als  ursächliches  Moment  die  im  Alter- 
tume  leider  nur  zu  verbreitete  illegitime  Ausübung  des  Geschlechtsaktes  mit 
Sicherheit  ausschliessen  könnte,  ausser  es  handelte  sich  um  eine  so  klare  pathologisch- 
anatomische Beschreibung,  wie  wir  sie  von  dem  formalistisch  angehauchten  medi- 
zinischen Altertume  nicht  zu  gewärtigen  haben." 

Wie  z.  B.  die  Lepra  nach  ihren  verschiedenen  Formen  ver- 
schiedene Krankheitsnamen  für  die  ganze  Krankheit  bekam  (vgl. 
oben  S.  594),  ohne  dass  diese  irgend  ein  ätiologisches  Verhältnis 
ausdrückten,  so  ist  dies  auch  bei  den  Geschlechtsaffektionen  ge- 
schehen, und  es  ist  ganz  sicher,  dass  z.  B.  das  spitze  Kondylom 
je  nach  den  verschiedenen  Formen  auch  verschiedene  Namen  (z.  B. 
■äv/uiov,  axQod^v fxiov ,  äxgoxoQÖcov,  ovxrj,  ovxcooig,  fici,  mariscae  u.  a.  m.) 
bekam  ^).  So  entstanden  die  mannigfaltigen  Bezeichnungen  der  vene- 
rischen Krankheiten  nach  rein  äusserlichen,  die  Form-  und  Farben- 
veränderung berücksichtigenden  Gesichtspunkten,  denen  jede  ätio- 
logische Beziehung  fern  lag.  Es  gab  bei  den  Alten  keine 
eigentlichen  „Geschlechtskrankheiten",  d.  h.  direkt  oder  in- 
direkt mit  dem  Geschlechtsverkehr  zusammenhängende 
Leiden,  sondern  nur  Krankheiten  der  Geschlechtsteile. 
Diesen  „obscoenarum  partium  vitia"  widmet  Celsus  ein  besonderes 
Kapitel  (XVIII  des  Lib.  VI),  wobei  er  unter  diesen  „unanständigen 
Teilen"  die  männlichen  und  weiblichen  Genitalien  und  den  After 
versteht.  Es  ist  bezeichnend,  dass  in  der  Einleitung  dieses  Kapitels, 
wo  Celsus  allgemeine  Ausführungen  über  die  Affektionen  dieser 
„obscoenae  partes"  giebt,  die,  wie  er  sagt,  bei  den  Griechen  „in  omni 
fere  medicorum  volumine  atque  sermone  jactentur",  jede  Anspie- 
lung auf  ihre  Beziehungen  zum  Geschlechtsverkehr  fehlt 
und  ihre  Behandlung  in  einem  besonderen  Kapitel  —  abgesehen  da- 
von, dass  Celsus  überhaupt  die  Krankheiten  nach  den  einzelnen 
Körperteilen  und  Gegenden  behandelt  —  einzig  und  allein  durch  die 
Rücksichtnahme  auf  das  Schamgefühl  erklärt  wird. 


i)  A.  Geigel,  Geschichte,  Pathologie  und  Therapie  der  Syphilis,  Würzburg  1867, 
S.  188 — 189,  macht  sehr  zutreffende  Bemerkungen  über  diese  rein  formalistische  reichhaltige 
Nomenclatur  der  spitzen  Kondylome,  für  die  er  noch  die  späteren  ebenso  charakteristischen 
Namen  ,,uvae,  thymi,  corymbi,  morum,  morae,  atrici  oder  altriti,  fructus  Rubi,  fragae, 
Strawberry"  anführt. 


-      675      - 

Wenn  es  nun  aber  auch  feststeht,  dass  die  wissenschaftliche 
Kategorie  der  „venerischen"  Krankheiten  in  unserem  Sinne  bei  den 
Alten  nicht  existiert  hat,  so  bleibt  dennoch  die  Frage  offen,  ob  denn 
nicht  unabhängig  von  jeder  pathologischen  Theorie  und  klinischen 
Beschreibung  eine  Ahnung  von  der  venerischen  Ansteckung  vor- 
handen gewesen  sei  und  x\ndeutungen  der  letzteren  sich  bei  antiken 
Autoren  nachweisen  lassen.  Dass  gewisse  Folgen  normaler  und 
perverser  sexueller  Beziehungen  durchaus  bekannt  waren,  haben  wir 
schon  öfter  nachzuweisen  Gelegenheit  gehabt  (vgl.  oben  S.  574 — 583, 
585,  616 — 619).  Es  fragt  sich  aber,  ob  der  Geschlechtsverkehr  als 
eine  direkte  oder  nur  als  eine  indirekte  Ursache  dieser  Er- 
scheinungen aufgefasst  wurde,  ob  ferner  der  Gedanke  an  eine  Con- 
tagiosität,  Uebertragung  einer  Krankheit  von  Mensch  zu  Mensch 
dabei  obwaltete,  oder  die  Lokalerkrankung  nur  als  Folge  einer  all- 
gemeinen Zerrüttung  des  Körpers  durch  die  Unzucht  angesehen 
wurde,  endlich  ob  der  Begriff  der  ,, Unreinheit"  nicht  viel  mehr  ein 
ästhetischer  als  ein  hygienischer  gewesen  sei.  Alle  diese  Momente 
müssen  bei  der  Entscheidung  des  Problems  der  Kenntnis  der  Con- 
ta.giosität  der  venerischen  Krankheiten  berücksichtigt  werden,  sogar 
die  naheliegende  Möglichkeit,  dass  man  ganz  irrtümlich  unter  der 
Einwirkung  irgend  eines  Volksaberglaubens  ein  Leiden  mit  dem 
Geschlechtsverkehr  in  Verbindung  gebracht  hat,  muss  in  Betracht 
gezogen  werden,  wie  überhaupt  der  superstitiöse  Faktor  (z.  B.  Ge- 
schlechtskrankheiten als  Strafe  der  Götter)  stets  in  Rechnung  zu 
ziehen  ist. 

Wir  wollen  zunächst  die  Ansichten  der  Alten  über  die  Folgen 
der  Unzucht  und  einer  ausschweifenden  Lebensweise  im  all- 
gemeinen prüfen  und  werden  sehen,  dass  auch  hier  gerade  die 
venerischen  Leiden  unerwähnt  bleiben. 

Einen  klassischen  Beleg  hierfür  bietet  Seneca,  Epist.  95,  20 — 22 
(ed.  Haase  III,  302). 

Maximus  ille  medicorum  et  huius  scientiae  conditor  feminis  nee  capillos  defluere  dixit 
nee  pedes  laborare^);    atqui  et  capillis  destituuntur  et  pedibus  aegrae  sunt,  non  mutata  femi- 


i)  In  der  That  ist  bei  den  Hippokratikem  der  Ursprung  des  noch  heute  vorhan- 
denen Volksglaubens  zu  suchen,  dass  vorzeitiger  Haarausfall  und  Podagra  auf  starke 
sexuelle  Aktivität  und  Exeesse  in  Venere  zurückzuführen  sind.  Die  Hauptstelle  ist 
Aphor.  VI,  26 — 28,  wo  es  heisst,  dass  die  sexuell  inaktiven  Eunuchen  und  Jünglinge  vor  Aus- 
übung des  Geschlechtsaktes  kein  Podagra  und  keine  Alopecie  bekommen,  während  Frauen 
erst  nach  Aufhören  der  (offenbar  als  den  Krankheitsstoff  ableitend  gedachten)  Menstruation 
an  Podagra  erkranken.  Vgl.  dazu  Galen,  ed.  Kühn  XI,  165,  sowie  XVHI  A,  41,  wo 
er  in  der  Erläuterung  von  Aphor.  VI,   28    auch   auf    das   Fehlen  bezw.  seltene  Vorkommen 


—    676    — 

narum  natura,  sed  vita  est;  nam  cum  virorum  licentiam  aequaverint,  corporum 
quoque  viril i um  incommoda  aequarunt.  Non  minus  pervigilant;  non  minus  potant, 
et  oleo  et  mero  viros  provocant,  aeque  invitis  ingesta  visceribus  per  os  reddunt  et  vinum  omne 
vomitu  remetiuntur,  aeque  nivem  rodunt,  solatium  stomachi  aestuantis.  Libidine  vero  ne 
maribus  quidem  cedunt:  pati  natae,  di  illas  deaeque  male  perdant!  adeo 
perversum  commentae  genus  inpudicitiae  viros  ineunt.  quid  ergo  mirandum 
est  maximum  medicorum  ac  naturae  peritissimum  in  mendacio  prendi,  cum 
tot  feminae  podagricae  calvaeque  sint?  beneficium  sexus  suis  vitiis  perdiderunt,  et, 
quia  feminam  exuerant,   damnatae  sunt  morbis  virilibus. 

Es  muss  hervorgehoben  werden,  dass  Seneca  hier  als  angeb- 
hche  Folgen  der  Unzucht  und  ausschweifenden  Lebensweise  nur 
Haarausfall  und  Podagra  nennt,  diese  eigentlichen  „virilia  in- 
commoda", die  nunmehr  auch  die  Weiber  heimsuchen,  sobald  sie  die 
gleichen  sexuellen  Exzesse  begehen  wie  die  Männer,  und  dass  er 
die  wirklichen  venerischen  Leiden  gar  nicht  erwähnt. 

Ferner  galt  damals  ganz  wie  heute  auch  die  harmlose  Akne 
als  eine  Folge  zu  starker  geschlechtlicher  Bethätigung,  wie  das  aus 
der  bereits  oben  (S.  646)  mitgeteilten  Aeusserung  des  Julianus  deut- 
hch  hervorgeht,  wo  die  alte  Akne  des  Tiberius  samt  ihren  narbigen 
Residuen  als  eine  Folge  seiner  Wollust  {vjio  Ti]g  äxoXaoiag)  betrachtet 
wird.  Auch  Tacitus  (Annal.  IV,  57)  scheint  diesen  Zusammenhang 
anzudeuten. 


der  Kahlköpfigkeit  bei  Frauen  hinweist  und  XVIII A,  44,  wo  er  die  ursächliche  Bedeu- 
tung der  d<pgoöiaicov  XQV^^^  ^^^  ^^^  Entstehung  des  Podagra  erörtert.  Aehnlich  Celsus 
IV,  24;  Plin.,  nat.  hist.  XI,  47  u.  94;  Aristoteles,  de  gener.  animal.,  1.  V,  c.  3,  sowie 
das  bezeichnende  Epigramm   der  Anthologia   Palatina  (XI,   414,   ed.   Dübner  II,   357): 

Avai/is?.ovg  Bux^ov  xal  XvaineXovg  'AqpQodirtjg 

ysvvärai  Ovydrtjg  Xvaij.i£lfj(;  Tzoddyga. 
Dass  aber  auch  die  Alopecie  von  den  Hippokratikern  direkt  mit  dem  Coitus  und  der 
sexuellen  Erregung  in  Verbindung  gebracht  wurde,  beweist  die  sehr  interessante  Stelle 
De  natura  pueri,  c.  9,  die  nach  der  Uebersetzung  von  Robert  Fuchs  (Hippokrates'  sämt- 
liche Werke,  München  1895,  Bd.  I,  S.  227)  lautet:  „Diejenigen  aber,  welche  einen  kahlen 
Kopf  bekommen,  haben  zuviel  Schleim;  bei  ihnen  wird  während  des  Beischlafes  der 
im  Kopfe  befindliche  Schleim  aufgerüttelt  und  erhitzt;  er  wendet  sich  gegen  die  Epi- 
dermis und  verbrennt  die  Haarwurzeln  und  die  Haare  fallen  aus.  Die  Eu- 
nuchen andererseits  werden  deshalb  nicht  kahlköpfig,  weil  bei  ihnen  keine  starke  Er- 
regung eintritt,  der  Schleim  während  des  Coitus  nicht  erhitzt  werden  und  die  Haare 
verbrennen  kann."  Noch  deutlicher  bezieht  Aristoteles  (Problem.  Sect.  IV,  quaest.  18) 
den  Haarausfall  auf  sexuelle  Ausschweifungen.  Die  Stelle  lautet  in  der  Pariser  Ausgabe 
(Aristotelis  Opera  omnia,  Paris  1889,  Bd.  IV,  S.  139):  'Ojtoaai  JiQsoßvrsQov  yivo/nsvov  [xi] 
av^dvovtai  rcöv  avyyevixwv  tqi/cöv ,  änaoai  xovro  Tidaxovoiv  iv  raig  XayvEiai?' 
xs(palr]  yoLQ  xal  6<pQvg  xal  ßXsfpaQig  ovyysvixai  rgiysg  ...  Aixiov  d'ort  xaraxpix^t 
ra  fivo)  '■^  Xayvsia  oXiyai/na  ovza,  djoz'  ov  TienzEi  zrjv  zQO<pt]V  6  zojcog'  ov 
XafA.ßuvovaai  8s  ZQOcprjv  sxqsovoiv  at  zgi/sg. 


-     677      - 

Auch  hier  kann  man  aus  dem  ganzen  Zusammenhange  den 
sicheren  Schluss  ziehen,  dass  die  Akne  ganz  wie  der  Haarausfall  und 
das  Podagra  als  eine  f~olge  der  Säfteverderbnis  durch  sexuelle 
Exzesse^)  angesehen  wird  und  nicht  als  Uebertragung  einer  an- 
steckenden Krankheit. 

Als  eine  häufige  Folge  sexueller  Exzesse  und  Verirrungen  galt 
den  Alten  auch,  was  schon  früher  hervorgehoben,  übler  Körper- 
geruch, besonders  der  Achselhöhlen  und  des  IMundes.  Auch 
hier  handelt  es  sich  nur  zu  einem  kleinen  Teile  um  reale  Beobach- 
tungen, zum  größeren  um  einen  uralten  Volksaberglauben, 
dessen  Ursprung  auf  die  Pan-  und   Satyr-Sagen    zurückzuführen   ist. 

Die  Ansicht,  dass  die  den  Geschlechtsverkehr  pflegenden  Individuen  oder  libidinöse 
Personen  übel  riechen  und  den  sogenannten  ,, Bocksgeruch"  ausströmen,  findet  sich  schon  in 
den  IlQoßlriixaTa  des  Aristoteles  (Sect.  IV,  quaest.  24,  Bd.  IV  der  Pariser  Ausgabe,  S.  140): 

Aia  Ti  Ol  OKpoodioid^ovTsg  7}  01  zoiovzoi  dvocodeig,  ot  8s  jraTös?  ov,  y.al  tov  y.a- 
Xovfievov  ygÜDOv-j  oCovaiv;  "H  tmv  jivsvfidroiv,  coa.-rso  fiQijTai,  tn  jLiev  tcov  Jiatduov  jtsttsi 
z6  vygov  xal  xovg  idgöirag,  01  de  icöv  dvdgdiv  äjiE.-iioi. 

Eine  ähnliche  Erklärung  Problem.  IV,  sect.  12.  Der  mit  der  sexuellen  Ausschweifung 
zusammenhängende  Bocksgeruch  ist  sicher  ein  Produkt  des  alten  Glaubens  an  erotische 
Dämonen  in  Bocksgestalt,  an  den  Pan,  die  Faunen  und  Satyrn,  denen  man  einen  starken 
Geschlechtstrieb  zuschrieb  wie  den  Ziegenböcken  '^).  Der  bekannte  Bocksgeruch  wurde 
offenbar  auf  diese  übermässige  Libido  ziuoickgeführt  und  die  häufige  starke  Ausdünstung 
und  das  Schwitzen  beim  Coitus  des  Menschen  ähnlich  gedeutet. 

Nicht  um  Bocksgeruch,  Geruch  der  Achselhöhlen,  sondern  um  einen  foetor  ex  ore 
und  üblen  Geruch  der  Scham  teile  handelt  es  sich  bei  der  in  den  Scholien  zu  Apollonios 
dem  Rhodier  (I,  609,  615),  zu  Euripides  (Hekabe  887)  und  zu  Pindar  (Pyth.  4,  88 
und  449),  sowie  bei  Zenobios  und  Suidas  (s.  v.  Atjuviov  yaxöv)  erwähnten  Krank- 
heit der  Lemnierinnen*).  Nach  diesem  uralten  pathologischen  Mythus  wurden  die 
Frauen  der  Lemnier  wegen  Vernachlässigung  des  Kultes  der  Aphrodite  von  einer  eigen- 
tümlichen Krankheit  heimgesucht,  deren  wesentlichstes  Symptom  übler  Geruch  war,  so 
dass  ihre  Männer  sich  von  ihnen  wendeten  und  wilde  Ehen  mit  thrakischen  Kebsweibern 
eing;ingen. 


i)  Und  zwar  rühren  die  Krankheiten  infolge  sexueller  Ausschweifungen  vom  (p?.sy/Lia, 
Schleim  her.  Deutlich  wird  dies  ausgesprochen  bei  Aristoteles,  Probl.  IV,  quaest.  16 
(Opera  orania  graece  et  latine,  Paris  1889,  Didot,  Bd.  IV,  S.  138):  Ata  ti  i]  kayveia 
JiQOS  voarjfiaz^  svta  z(öv  dno  (pkey/xazog  av/Liq.^eQ£i;  "H  ozi  n:eoizzcouaT6g  eozir  e^odog, 
moze  ovvEy.y.olvEzai  nokkt]  jzsgtzzcoaig;  z6  dk  (pkey/xa  jzegixzcofia. 

2)  6  ygäaog  =  8vooafj.ia  zcöv  zgdycor  nach  Suidas,  Bocksgestank,  Schweissgeruch 
unter  den  Achseln,  davon  o  ygdacov,  der  nach  dem  Bock  oder  Schweiss  riechende  (z.  B. 
Athen.  XIII,  49,  p.   585  e). 

3)  Vgl.  hierüber  die  eingehenden  Ausführungen  bei  Wilhelm  Heinrich  Röscher, 
Ephialtes,  eine  pathologisch-mythologische  Abhandlung  über  die  Alpträume  und  Alpdämonen 
des  klassischen  Altertums,  Leipzig   1900,  S.   82,  83,  89,  92  u.  ö. 

4)  Vgl.  W.  H.  Röscher,  Die  ,, Hautkrankheit"  [xvcor')  der  Pandareostöchter  und  an- 
dere mythische  Krankheiten.     In:  Rhein.  Mus.   f.   Philologie   1898,  Bd.  LllI,  S.  185. 


—      678      — 

Es  ist  nun  sehr  interessant,  dass  man  ausser  dem  von  den  satyr- 
ähnlichen Bocksdämonen  abgeleiteten  rgayog,  hircus,  dem  Bocksgeruch 
auch  andere  Krankheitserscheinungen  oder  körperliche  Abnormitäten 
mit  der  Satyriasis,  der  den  Satyrn  eigenen  übermässigen  Geschlechts- 
lust in  Verbindung  brachte.  So  schrieb  man  —  wohlbemerkt  ganz 
irrtümlicher  Weise  —  den  Aussätzigen  einen  excessiven  Sexualtrieb 
zu,  offenbar  nur,  weil  in  einem  gewissen  Stadium  das  Gesicht  des 
Aussätzigen  dem  eines  Sat3'^r  glich,  woher  der  Name  oaivgiaoig  zur 
Bezeichnung  des  Aussatzes  stammt.  Wegen  der  Verdickung  der 
Lippen,  der  Röte  der  Wangen,  der  knolligen  Ohren  wurden  die 
Leprösen  mit  den  Satyrn  verglichen  und  ihnen  sekundär  auch  eine 
übermäßige  Geschlechtslust  angedichtet^).  Auch  andere  Auswüchse 
und  Excrescenzen  im  Gesichte  brachte  man  mit  den  Satyrn  und 
ihrer  tierischen  Ausgelassenheit  in  Zusammenhang,  z.  B.  Exostosen, 
Warzen  und  Drüsenschwellungen  in  der  Gegend  der  Ohren  2). 

Wir  haben  schon  früher  darauf  hingewiesen,  daß  die  Alten  eine 
übermäßige  sexuelle  Leidenschaft,  sei  sie  normal  oder  pervers,  als 
„Krankheit"  oder  „Laster"  morbus,  vooog  bezeichneten.  Es  lag  nun 
nahe,  Individuen,  bei  denen  man  eine  oder  die  andere  der  eben  geschil- 
derten wirklichen  oder  angeblichen  Folgen  sexueller  Ausschweifung 
beobachtete,  wie  etwa  üblen  Geruch,  Haarausfall,  seltsame  Auswüchse 
des  Gesichtes  u.  dgl.  m.,  damit  zu  verspotten  und  mehr  oder 
weniger  durchsichtige  Scherze  darüber  zu  machen. 

So  schliesst  Martial  hauptsächlich  aus  dem  üblen  Gerüche  auf  ein  ausschweifendes 
Leben  der  damit  behafteten  Personen  (z.  B.  VI,  55;  VI,  93;  XI,  30;  XII,  59  u.  85  u.  ö.; 
auch  Catull  37,  3 — 5).  Auch  in  der  Anthologia  palatina  (XI,  no.  239 — 242)  finden  sich 
witzige  Epigramme  mit  Anspielungen  auf  den  üblen  Geruch  ausschweifender  Männer  und 
Frauen.  Und  wie  oft  man  über  den  vorzeitigen  Haarausfall  solche  zweifelhaften  Scherze 
machte,  erhellt  aus  Sueton  (Div.  Julius  45):  calvitii  vero  deformitatem  iniquissime  ferret, 
saepe  obtrectatorum  iocis  obnoxiam  expertus.  Zu  diesen  loci,  mit  denen  Caesar 
wegen  seiner  Glatze  verspottet  wurde,  gehörte  auch  der  bezeichnende  Ausdruck,  den  seine 
Soldaten  auf  ihn  geprägt  hatten:  „moechus  calvus"  (ib.  51).  Ebenso  heisst  es  von 
Domitian    (Sueton.,    Domitian.    18):    Calvitio    ita    offendebatur,    ut   in    contumeliam    suam 


1)  Vgl.  besonders  Aristoteles,  de  gener.  anim.  IV,  3:  IlaQajtXrjoiov  xovtcp  xai 
z6  v6ar]fia  x6  xakov/nsvov  aarvQiaaig  xal  yag  ev  tovtco  8ia  gsv/tiazog  t)  Jivsv/natog  ajiejirov 
jilfj^og  slg  xa  (j-ÖQia  xov  tiqoocotiov  JiagE/njiEoovTog  älkov  l^wov  xal  oaxvgov  (paivsxat  zo 
TiQoawTtov.  Ferner  Galen  VII,  30,  728  Kühn  und  bei  Orib.  IV,  60;  Ruphos  bei 
Orib.   IV,   63;   Aretaeus,   De  niorb.   chron.   II,    13. 

2)  Ueber  die  Bezeichnung  der  Exostosen  als  aaxvQiaofiög  vgl.  Galen,  de  tumoribus 
praeter  naturam,  c.  XIV,  ed.  Kühn  VII,  728.  DeV  Ausdruck  aazvQiao/iiog  findet  sich  als 
Bezeichnung  eines  cpvfia  schon  bei  Hippocr.,  Aphor.  III,  26.  Im  Glossarium  des  Pseudo- 
Galenos  (Kühn  XIX,  136)  heisst  es  oaxvQiofioi :  01  jieqc  xa  wza  JiQO(irixeig  oyxoi  zütv 
ddeva>v.     svioi  8k -zag  z&v  atdoicov  svxäaeig  rjxovoav. 


—     679     — 

traheret.  si  cui  alii  ioco  vel  iurgio  obiectaretur.  Solche  „ioci"  über  die  Kahl- 
köpfigen  finden  sich  auch  bei  den  Satirikern  (z.  B.   Martial.  VI,   57;   VI,   74). 

Dass  man  auch  Warzen  und  andere  Hautaffektionen  verspottete,  beweist  die  sehr 
klare  Stelle  bei  Seneca  ad  Gallionem  de  vita  beala  27,  5:  papulas  observatis  alienas,  obsiti 
plurimis  ulceribus?  Hoc  tale  est  quäle  siquis  pulcherrimorum  corporum  naevos 
aut  verrucas  derideat,  quem  fera  Scabies  depascitur. 

Dass  die  Neigung  zur  Verspottung  von  Körperfehlern  gerade  bei  den  Römern 
ausserordentlich  verbreitet  war,  bezeugt  Cicero  (De  oratore  II,  59,  239):  Est  etiam  de- 
formitatis  et  corporis  vitiorum  satis  bella  materies  ad  iocandum. 

Wenn  man  diese  bisher  kaum  gewürdigten,  aber  sehr  beweis- 
kräftigen Stellen  sich  vor  Augen  hält,  aus  denen  hervorgeht,  dass 
Körpergeruch,  Haarausfall  und  Hautauswüchse  oft  Gegenstand  des 
Spottes  und  anzüglicher  Witze  bei  den  Alten  waren  und  unter  dem 
Einflüsse  des  früher  erörterten  Volksglaubens  nicht  selten  mit  ge- 
schlechtlichen Excessen  in  Verbindung  gebracht  wurden  '),  so  erfährt 
der  vielumstrittene  „Morbus  Campanus'*  des  Horaz-)  eine  sehr 
einfache  und  einleuchtende  Erklärung. 

Die  Scene  mit  der  Erwähnung  dieser  rätselhaften  campanischen 
Krankheit  findet  sich  in  der  Schilderung  der  Reise  nach  Brundisium 
bei  Horatius  Sat.  I,  5,  51 — 64.  Sie  spielt  in  der  Villa  des  Cocceius 
bei  Caudium,  unweit  von  Capua.  Während  der  Abendmahlzeit  wird 
die  Gesellschaft,  zu  der  außer  Horaz  auch  Maecenas  und  Cocceius 
gehören,  durch  ein  Paar  Possenreisser  belustigt: 

Nunc  mihi  päucis 
Sarmenti  scurrae  pugnam  Messique  Cicirri, 
Musa  velim  memores,  et  quo  patre  natus  uterque 
contulerit  litis.     Messi  darum   genus  Osci, 
Sarmenti  domina  exstat:  ab  his  maioribus  orti 


i)  Solche  anzüglichen  Scherze  und  Witze  scheinen  auf  hervorragende  Männer  be- 
sonders im  Theater  und  auf  der  Bühne  gemacht  worden  zu  sein.  Dies  war  z.  B.  der 
Fall  beim  Kaiser  Verus,  der  in  Syrien  sich  den  tollsten  geschlechtlichen  Ausschweifungen 
ergab  und,  was  besonders  bespöttelt  wurde,  einer  Dirne  zu  Liebe  sich  den  Bart  abnehmen 
liess.  „Risui  fuit  omnibus  Syris,  quorum  multa  ioca  in  theatro  in  eum  dicta  ex- 
tant"  (Capitolin.,  Verus  7).  Solche  Scherze  waren  denn  auch  bei  den  Atellanen,  mimi- 
schen Darstellungen  und  den  Spässen  der  Possenreisser  üblich,  wofür  Ho  rat.,  Sat.  I, 
552 — 69,  ein  typisches  Beispiel. 

2j  Ueber  den  „Morbus  Campanus"  vgl.  man  ausser  Rosenbaum  a.  a.  O.  S.  297 
bis  305  vor  allem  die  wenig  bekannte  Abhandlung  von  C.  G.  F.  Uhde,  Commentatio  de 
morbo  Campano,  cujus  mentionem  facit  Horatius,  Leipzig  1859  (8",  44  S.).  In  meinem 
Besitze  befindet  sich  gleichfalls  eine  sehr  seltene  italienische  dramatische  Satire  „II  Morbo 
Campano".  Dramma  per  musica  etc.  dall'  Abate  Pettignone  [=  Raffaele  Aramo  aus 
Mailand]  o.  O.  u.  J.  (Mailand  ca.  1795),  8",  43  Seiten,  in  der  in  recht  drastischer  Weise 
und  in  obscönen  Versen  die  Ansicht,  dass  der  Morbus  Campanus  des  Horaz  die  Syphilis 
gewesen  sei,   verspottet  und  ad  absurdum  geführt  wird. 


—      68o     — 

ad  pugnam   venere.  prior  Sarmentus  'equi  te 
esse  feri  similem  dico'  ridemus,  et  ipse 
Messius  'accipio',  caput  et  movet.     'o  tua  cornu 
ni  foret  exsecto  frons',  inquit  'quid  faceres,  cum 
sie  iTiutilus  minitaris?'  at  illi  foeda  cicatrix 
saetosam  laevi  frontem  turpaverat  oris. 
Campanum  in   morbum,  in  faciem  permulta  iocatus, 
pastorem   saltaret  uti  Cyclopa,  rogabat: 
nil  illi  larv^a  aut  tragicis  opus  esse  cothurnis  ^). 
Ich  übersetze  diese  Stelle  folgendermaßen: 

„Jetzo,  o  Muse,  melde  mir  mit  wenigen  Worten  den  Kampf 
des  Possenreissers  Sarmentus  mit  dem  Schreihahn  Messius  -),  und  von 
welchen  Vätern  entsprossen  beide  den  Streit  begannen.  Des  Messius 
erlauchtes  Geschlecht^)  sind  die  Osker,  des  Sarmentus  Herrin  lebt 
noch.  Von  solchen  Ahnen  abstammend  nahmen  sie  den  Kampf  auf. 
Sarmentus  hebt  an:  „Ich  behaupte,  dass  du  Aehnlichkeit  hast  mit 
einem  wilden  Pferde."  Wir  lachen  und  Messius  selbst  versetzt:  „Ich 
nehme  die  Aufforderung  an"  und  schüttelt  drohend  den  Kopf.  Drauf 
jener:  „Was  würdest  du  erst  thun,  wenn  dein  Hörn  (cornu)  dir  nicht 
aus  der  Stirn  geschnitten  wäre,  da  du  gestutzt  schon  so  gewaltig 
drohst*)?"  Aber^)  jenem  hatte  doch  noch  eine  hässliche  Narbe  links 
an  der  borstigen  Stirne  das  Antlitz  entstellt.  Nachdem  er  noch  sehr 
viele  anzügliche  Witze  über  das  kampanische  Laster  und  über  das 
Gesicht  gemacht  hatte  '■),  forderte  er  ihn  auf,  den  Cyklopen  als  Hirten 


i)  Der  lateinische  Text  ist  nach  der  Ausgabe  der  Satiren  des  Horaz  von  Hermann 
Schütz,  Berlin   1881,  S.   71  —  72,  wiedergegeben. 

2)  Cicirrus  =  xixiqqo?  (nach  Hesychius  =  aXexxQVMv),  redupliciert  aus  xqH^w, 
ein  Spottname  des  Messius  wegen  seiner  kreischenden  und  dem  Tone  des  krähenden  Hahnes 
ähnlichen  Stimme.  Vgl.  G.  A.  Koch,  Vollständiges  Wörterbuch  zu  den  Gedichten  des 
Q.   Horatius  Flaccus.     .2.  Aufl.     Hannover   1879,  S.   90 — 91. 

3)  Das  ,, darum  genus"  ist  hier  ironisch  gemeint.  Die  Osker  wurden  im  Gegenteil 
von  den  Römern  sehr  verachtet  und  galten  für  plump  und  bäuerisch  (vgl.  Gellius,  Noct. 
Att.   n,    2t;   XI,    16;   Xni,   9;  Juvenal.   HI,    207;   VI,   455;   Propert.   IV,    2,   62). 

4)  Nämlich  durch  das   possenhafte  Schütteln  des  Kopfes. 

5)  Das  „at"  leitet  hier  einen  erklärenden  Zusatz  ein:  ,,Das  Horngewächs  war  ihm 
zwar  abgeschnitten,  aber  eine  Narbe  noch  übrig." 

6)  Dem  ganzen  Zusammenhange  nach  muss  Vers  62  so  übersetzt  werden,  da  das 
„kampanische  Laster"  und  das  Gesicht  des  Messius  miteinander  in  einen  ursächlichen  Zu- 
sammenhang gebracht  werden.  Uhde  zieht  (a.  a.  O.  S.  35)  die  folgenden  Versionen  vor: 
,, Nachdem  er  über  die  Campanische  Krankheit  in  das  (ins)  Gesicht  sehr  viel  gescherzt  hatte" 
oder  „Nachdem  er  über  die  Campanische  Krankheit  (nämlich)  das  Gesicht  sehr  viel  gescherzt 
hatte."  Beides  scheint  mir  den  Sinn  der  Spöttereien  des  Sarmentus  nicht  richtig  wieder- 
zugeben. 


—     68i      — 

im  Tanze  darzustellen.  Er  bedürfe  dazu  keiner  Maske  und  keines 
Kothurnes." 

Diesen  Spott  vergilt  nun  Messius  in  gieicher  Weise,  indem  er 
den  Sarmentus  als  ehemaligen  Sklaven  verhöhnt. 

Nach  dem  bisher  Gesagten  ist,  wie  schon  erwähnt,  die  Erklärung 
dieser  vielerörterten  Scene  sehr  einfach.  Das  „cornu  exsectum"  an 
der  Stirn  ist  wirklich  ein  typisches  Hauthorn  gewesen,  wie  aus  der 
so  plastischen  Schilderung  und  dem  so  charakteristischen 
Sitze  mit  Sicherheit  gefolgert  werden  kann.  Denn  gerade  die 
hornigen  Auswüchse  sitzen  mit  Vorliebe  an  der  Stirn  i) 
und  gleichen  bisweilen  in  überraschender  Weise  einem  Thierhorn -'), 
so  daß  auch  in  dieser  Beziehung  nur  an  ein  Hauthorn  gedacht 
werden  kann,  wenn  Sarmentus  den  Messius  mit  einem  thierischen 
Wesen  vergleicht,  das  halb  Pferd,  halb  gehörntes  Thier  ist,  d.  h.  mit 
dem  Einhorn  ^).  Die  Vergleichung  mit  einem  mit  dem  Hörn  stossen- 
den  Tiere  ist  so  charakteristisch  und  so  eindeutig,  dass  die 
Diagnose  eines  Cornu  cutaneum  beim  Messius  ausser  allem  Zweifel 
ist.  Es  ist  nun  sehr  wohl  möglich,  dass  in  bestimmten  Gegenden 
Hauthör ner  häufiger  beobachtet  werden,  obgleich  darüber  noch  keine 
verlässliche  Statistik  vorliegt,  und  dass  für  das  Altertum  das  in 
Campanien  der  Fall  war'^). 


i)  Nach  der  Zusammenstellung  von  H.  Lebert  (H.  Lebert,  Ueber  Keratose,  Berlin 
1864)  finden  sich  die  Hauthörner  am  häufigsten  am  behaarten  Kopf  und  an  der 
Stirn,  weiterhin  kommen  in  der  Reihenfolge  der  Häufigkeit  das  Gesicht,  zumal  die  Wangen 
und  die  Unterlippe,  dann  der  Handrücken  u.  s.  w."  Gustav  Behrend,  Artikel  ,, Haut- 
horn" in  Eulenburgs  Real-Encyclopädie  1896,  Bd.  X,  S.  74.  —  Erasmus  Wilson 
fand  unter  90  Fällen  48  mal  den  Sitz  des  Hauthorns  am  Kopfe.  „Die  Krankheiten  der 
Haut",  Leipzig   1850,  S.   517. 

2)  G.  Behrend,  a.  a.  O.  S.  73:  , .Dasselbe  stellt  einen  pyramidenartigen  oder  an- 
nähernd cylindrischen  Auswuchs  der  Haut  dar,  der  sowohl  in  seiner  Form,  als  überhaupt 
in  seiner  ganzen  äußeren  Erscheinung  dem  Hörn  mancher  Thiere  gleicht."  Das 
illustriert  z.  B.  die  Abbildung  eines  solchen  Cornu  cutaneum  bei  Perls-Neelsen,  Lehrbuch 
der  allgemeinen  Pathologie,  Stuttgart   1894,  S.  319,  Fig.    113. 

3)  Die  Schilderung  des  Einhorns  bei  Plinius,  nat.  histor.  VHI,  31  passt  sehr  gut 
auf  diese  boshaften  Anspielungen  des  Sarmentus:  Asperrimam  autem  feram  monocerotem, 
reliquo  corpore  equo  similem,  capite  cervo  .  .  .  uno  cornu  nigro  media  fronte 
cubitorum  duo  eminente. 

4)  Hierauf  würde  die  Notiz  eines  alten  Commentators  dieser  Stelle  deuten:  ,,Hoc 
enim  quasi  a  natura  Campanis  fere  omnibus  est,  ut  capitis  temporibus  magnae  Verrucae 
innascantur  in  modum  cornuum."  Citiert  nach  der  Horazausgabe  von  W.  Dillenburger, 
6.  Aufl.,  Bonn  1875,  S.  375.  —  In  ihrer  Uebertreibung  (Campanis  fere  omnibus!)  lässt 
diese  Bemerkimg  den  Einfluss  des  Volksaberglaubens  erkennen,  der  einige  wenige  solche 
auffällige  Beobachtungen  sofort  generalisiert. 


—     682      — 

Wenn  nun  Sarmentus  das  Hauthorn  des  Messius  verspottet,  so 
liegt  es  auch  für  ihn  nahe,  diesem  Scherze  die  damals,  wie  wir  sahen, 
allgemein  beliebte  Spitze  zu  geben,  die  darin  bestand,  dass  man 
relativ  harmlose  Hautexcrescenzen  einer  geschlechtlichen 
Ursache  zuschrieb.  Damals  wie  heute  „amüsierte  man  sich  die 
Haare  weg  und  die  Finnen  an",  wie  der  Volksmund  sagt.  Die  Pointe 
des  Witzes  ist  in  diesem  Falle  der  „morbus  Campanus",  das  kam- 
panische „Laster".  Denn  nur  so  kann  es  übersetzt  werden,  nach  dem 
ganzen  Sinne  und  Zusammenhange  der  Stelle i). 

Die  Bewohner  Campaniens  waren  von  jeher  wegen  ihrer  Ueppig- 
keit  und  Wollust  verrufen.  „Es  giebt  kaum  eine  Gegend  in  Europa", 
sagt  Karl  Otfried  Müller,  „die  ihre  Bewohner  so  leicht  verweich- 
licht, wie  das  glückliche  Campanien"  2),  von  dessen  zeitlich  aufeinander- 
folgenden Bewohnern  der  ältere  Plinius  sagt:  hoc  quoque  certamen 
humanae  voluptatis  tenuere  Osci,  Graeci,  Umbri,  Tusci,  Campani 
(nat.  hist.  III,  g).  Es  war  wirklich  ein  „Tummelplatz  menschlicher 
Wollust". 

Schon  Plautus  hat  die  geschlechtlichen  Perversitäten  der  kampanischen  Bevölkerung 
gegeisselt : 

sed  Campas  genus 

Multo  Syrorum  jam  antidit  patientia 

(Trinumm.   II,   4,    144.) 

Wie  Tiberius  nach  Capri,  so  zog  auch  der  Kaiser  Claudius  sich  nach  Campanien 
zurück,  um  sich  in  diesem  Milieu  ungehindert  seinen  wollüstigen  Ausschweifungen  hingeben 
zu  können  (Sueton.  Claud.  5).  Speziell  den  Stammesgenossen  des  von  Sarmentus  ver- 
höhnten Messius,  den  Oskern,  wurde  die  schändlichste  Unzucht  vorgeworfen  und  das  Wort 
„obscoen"  von  ihrem  Namen  abgeleitet  „quia  frequentissimus  fuit  usus  Oscis  libidinum 
spurcarum"  ^).  Auch  zwei  Epigramme  des  Ausonius  werfen  den  ,,Opici"  =;  Osci  und  den 
Bewohnern  der  oskischen  Stadt  Nola  sexuelle  Ausschweifungen  vor: 

Eunus  Syriscus  inguinum  liguritor, 

Opicus  magister.     .Sic  eum  docet  Phyllis^). 

(Epigr.  87.) 


i)  Für  die  Bedeutung  von  Morbus  als  ,, Laster,  unreine  Leidenschaft,  geschlechtlicher 
Excess,  sexuelle  Monomanie",  die  wir  schon  öfter  hervorgehoben  haben  (vgl.  oben  S.  511 
bis  512,  570,  601 — 602,  611),  kann  gerade  Horaz  besonders  in  Anspruch  genommen 
werden.  So  bedeutet  Ode  I,  37,  10  das  Wort  ,, morbus"  die  den  Verschnittenen  eigen- 
tümliche Wollust  und  Sat.  II,  3,  254  muss  es  mit  „lasterhaftes,  geschlechtlich  ausschweifen- 
des Leben"  übersetzt  werden,  als  dessen  insignia  die  „fasciolae,  cubital,  focalia"  der  Effe- 
minierten  angeführt  werden. 

2)  Karl  Otfried  Müller,   Die  Etrusker,  Breslau    1828,   Abteil.   I,   S.    177. 

3)  Festus,  de  sign.  verb.   XIV,  p.    191,    194  (Citat  bei  Rosenbaum,  S.   298). 

4)  Es  ist  bezeichnend,  dass  diese  auf  sexuellem  Gebiete  so  erfahrene  Phyllis  in 
Cajjua  wohnt. 


-      683      — 

Subscriptum   picturae   Crispae   mulieris    impudicae. 

Praeter  legiümi  genitalia  foedera  coetus, 

Repperit  obscoenas  Veneris  vitiosa  libido. 

Herculis  heredi  quam  Lemnia  suasit  egestas, 

Quam   toga  facundi  scenis  agitavit  Afrani, 

Et  quam   Nolanis  capitalis  luxus  inussit. 

Crispa  tamen  cunctas  exercet  corpore  in  uno. 

Deglubit,  fellat,  molitur  per  utramque  cavemam; 

Ne  quid  inexpertum  frustra  moritura  relinquat. 

(Epigr.   79.) 

Mit  dem  „kampanischen  Laster"  ist  also  entweder  das  aus- 
schweifende Sexualleben  der  Campaner  im  Allgemeinen  gemeint  oder 
irgend  ein  spezielles  Laster,  wie  z.  B.  die  Thätigkeit  des  Cunnilingus 
oder  Fellator,  die  der  „Opicus  magister"  übt.  Hiermit  wurde  dann 
nach  dem  \"olksglauben  die  Entstehung  einer  so  absonderlichen 
Hautexcrescenz,    wie   das   Cornu    cutaneum,    in   Verbindung    gebracht. 

Dass  bei  dem  „Hörn"  an  sich  schon  an  etwas  Erotisches 
gedacht  wurde  und  (notabene)  nicht  an  eine  Krankheit,  beweist 
der  uralte  Ausdruck  „einem  Hörner  aufsetzen"  xegara  Jioieiv,  der 
schon  in  dem  Traumbuche  des  Artemidoros  (Oneirocrit.  II,  12) 
vorkommt.  Nach  Friedreich  ^J  steht  dieses  Sprichwort  ohne  Zweifel 
mit  der  erotischen  Symbolik  und  grossen  Geilheit  des  Bockes  in  Be- 
ziehung. Deshalb  wurden  auch  die  wegen  ihrer  Geilheit  verrufenen 
Satyrn  mit  Hörnern  und  Bocksfüssen  dargestellt  und  last  not  least 
nannte  man  deshalb  die  Hauthörner  an  der  Stirn  auch 
diovvoiay.oi. 

So  bei  Pseudo-Galen ,  Definitiones  medicae  394  (ed.  Kühn,  Bd.  XIX,  S.  443): 
AiovvaioHOi  slaiv  oorcüdeig  v:ieooy_al  eyyvg  y.goTäcfOJV  yiyfö/LiFvac.  }JyovTai  dk  xioara  asio 
zöiv  }iSQaoqpogovvT(ov  Lcoojv  xex/.rjfiEva. 

Ferner  Heliodoros  bei  Oribasius  IV,  204 — 205  (ed.  Bussemaker  et  Daremberg): 
'OoTdibrjg  ijiicpvaig  iv  navil  /.ikv  yivBzai  jueqsi  tov  acöfiaiog,  jiAsova^öriojg  de  h'  li]  xecpalfj , 
IxäXiata  zd>v  XQOzdq^cov  ').  "Ozav  Se  8vo  EJiicpvoeig  yh'wvrai  ji?.i]aidCovaai  roTg  y.ooTäq)oig, 
xigara  zavzd  zivsg  sicodaaiv  ovofidCEiv ,  sviov  Ss  Siorvaiaxovg  zovg  ovzco 
7iE7iov&6zag  dvß^Qcöjtovg  :iooot]y6QEvaav. 

Nach  diesen  Beweisen  für  die  Beziehungen  im  Volksglauben 
zwischen    Hörn    und    Geilheit^)    unterliegt    es    wohl    keinem    Zweifel 


i)  J.  B.  Friedreich,  Die  Symbolik  und  Mythologie  der  Natur,  Würzburg  1859, 
S.   670. 

2)  Also  schon  Heliodor  kannte  das  überwiegend  häufige  Vorkommen  der  Haut- 
hörner an  der  seitlichen  Stini. 

3)  Vielleicht  deutet  auch  der  Satz  bei  Petron  Satir.  43:  corneolus  fuit  ....  et 
adhuc  salax  erat  diese  Verbindung  an.  (Vgl.  übrigens  die  naheliegende  astrologische 
Erklärung  des   „cornua  nascuntur",  ibidem   39.)     Wir  finden  sie  auch  später  noch  in  byzan- 

Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  4-4 


—     684      — 

mehr,  dass  das  mit  dem  Hauthorn  des  Messius  in  Verbindung  ge- 
brachte „kampanische  Laster"  nichts  weiter  gewesen  ist  als  die  im 
Altertum  sprichwörtliche  Wollust  der  Campaner  und  ihr  Hang  zu 
sexuellen  Excessen  auch  abnormer  Natur,  und  dass  der  Spott  und 
Hohn  des  Sarmentus  irgend  einer  Bethätigung  des  Messius  in  dieser 
Hinsicht  gegolten  hat.  Für  irgend  ein  körperliches  Leiden  neben 
dem  Hauthorne  ist  keinerlei  Anhaltspunkt  gegeben. 


Wie  wir  bisher  gesehen  haben,  brachten  die  Alten  gewisse 
Hautaffektionen  in  eine  eigenthümliche  Beziehung  zu  geschlechtlichen 
Excessen  und  zwar  auf  Grund  seltsamer  humoralpathologischer  Er- 
wägungen, die  jedenfalls  die  Möglichkeit  der  Ansteckung  durch  den 
Geschlechtsverkehr  gänzlich  ignorieren,  weil  sie  ja  auch  ausschliesslich 
nicht  an  den  Genitalien  lokalisierte  und  nicht  venerische  Krankheiten 
betreffen.  Es  erhebt  sich  nun  die  Frage,  ob  den  Alten,  Aerzten  und 
Laien  der  spezifische  Charakter  und  die  Contagiosität  der  eigent- 
lichen ,, Geschlechtskrankheiten"  bekannt  gewesen  ist.  Diese  Frage  ist 
um  so  bedeutungsvoller,  als  keinerlei  Zweifel  darüber  herrschen 
kann,  dass  die  Ansteckungsfähigkeit  und  Uebertragbarkeit 
gewisser  Krankheiten  von  Aerzten  und  Laien  beobachtet, 
erkannt  und  in  klaren  und  deutlichen  Worten  geschildert 
worden  ist  und  dass  zu  diesen  von  den  Alten  ausdrücklich 
als  contagiös  erwähnten  Leiden  auch  verschiedene  Haut- 
krankheiten gehörten. 

Schon  vor  bald  90  Jahren  hat  der  Göttinger  Professor  C.  F.  H.  Marx  in  beinahe 
erschöpfender  Weise  die  Stellen  bei  alten  Schriftstellern,  die  sich  auf  ansteckende  Krank- 
heiten beziehen,  gesammelt.  Sein  Werk  ')  besitzt  noch  heute  grundlegende  Bedeutung. 
Später  haben  Haeser'^)  und  Hirschberg*)  ausführlicher  auf  die  Idee  eines  Contagiums 
bei  den  Alten  hingewiesen,  für  welche  ja  schon  das  Vorhandensein  so  bezeichnender  Aus- 
drücke, wie  dvdxQCoaig  (Plutarch.  de  discrimine  amici  et  adulatoris  20)  Ansteckung 
(eigentlich    noch    treffender  ,,Anfärbung"),    m'aXaf.ißdven'   (Plut.    Sympos.  V,    7)   sich    (eine 


tinischer  Zeit.  Jakob  Möller  (De  cornutis,  Frankfurt  1692,  S.  9)  bemerkt  über  den 
Ursprung  des  Wortes  ,,cornutus",  der  Gehörnte,  der  Hahnrei:  Quidam  vero  existimant  istius 
verbi  convitium  promanasse  ab  Imperatore  Andronico,  qui  cornua  cervorum  insignia  et  rari 
aliquid  habentia  in  particibus  fori  suspendebat,  specie  quidem  ostentandae  magnitudinis 
ferarum  quas  cepisset,  cum  tarnen  re  vera  civitatis  mores  et  uxorum  quas  ipse 
comprimebat  lasciviam  notaret.     Nicet.  de  Imperatore  Andronico,  lib.   2. 

i)    C.    F.    H.  Marx,    Origines    contagii,    Karlsruhe    1824,    8",    XX,    153    .S.    und: 
Additamenta  ad  Origines  contagii,  Karlsruhe   1826*  8",  XH,   51   S. 

2)  H.    Haeser,    Geschichte    der    epidemischen    Krankheiten,    Jena    1882    (vgl.    bes. 

S-   739)- 

3)  J.  Hirschberg,  Geschichte  der  Aiigenheilkunde,  Bd.  I,  S.  347  ff.,   Leipzig  1899. 


-  -      685      — 

Ansteckung)  zuziehen;  contagium,  contagia,  contagiosus  (Liv.  III,  6;  Vergil.  Eclog. 
I,  51;  Georg.  III,  468;  Horat.  Epod.  16,  61;  Lucret.  VI,  1233;  Veget.  Art.  Veterinär, 
lib.  I,  14)  Ansteckung,  Ansteckungsstoff,  ansteckend;  contactus  aegrorum 
(Liv.  XXV,  26:  contactus  aegrorum  vulgabat  morbos;  Seneca  de  tranquillilate  animi  7,  4) 
die  ansteckende  Berührung  der  Kranken;  transitus,  transire  (Plin.  n.  h. 
XXVI,  3;  Vegetius  Art.  Veterinär,  lib.  III,  2:  hi  omnes  niorbi  contagione  sunt  pleni,  et 
si  unum  animal  apprehenderint,  celeriter  ad  omnia  transeunt;  Veget.  III,  22:  est  autem 
nequissima  passio  primo  quod  pestifero  transitu  contagionem  spargit  in  plurimos; 
Capitolinus,  M.  Antonius  28:  ne  in  eum  morbus  transiret)  Uebertragung,  übertragen; 
inficere  (Cicer.  ad  Attic.  1,  13,  3;  Vergil.  Eclog.  III,  480)  anstecken;  labes 
(Ammian.  14,  6,  23),  lues  (Caelius  Aurelianus  Morb.  chron.  I,  4:  Memorat  denique 
Silimachus  Hippocratis  seclator,  contagione  quadam,  plurimos  ex  ista  passione,  veluti  lue,  apud 
urbem  Romam  confectos),  tabes,  tabum  (Sallust.  Catil.  2";  Minuc.  Felix.  Octav.  c. 
5;  11;  Vergil.  Georg.  III,  481),  lues  tabifica  (Ammian.  Marcellin.  XIX,  4)  an- 
steckende Seuche,  ein  beredtes  Zeugnis  ablegt. 

Wie  tief  der  Begriff  der  ansteckenden  Krankheit  wurzelte  und  demgemäss  die  Furcht 
vor  Berührung  damit  behafteter  Menschen  verbreitet  war,  erhellt  aus  der  folgenden  charak- 
teristischen Schilderimg  des  Ammianus  Marcellinus  (XIV,  6,  23):  et  quoniam  apud  eos 
ut  in  capite  mundi  morborum  acerbitates  celsius  dominantur,  ad  quos  vel  sedandos  omnis 
professio  medendi  torpescit,  excogitatum  est  adminiculum  sospitale  nequi  amicum 
perferentem  similia  videat,  additumque  est  cautionibus  paucis  re medium  aliud 
satis  validum,  ut  famulos  percontatum  missos  quem  ad  modum  valeant  noti 
hac  aegritudine  colligati  non  ante  recipiant  donium  quam  lavacro  purgaverint 
corpus,     ita  etiam  alienis  oculis  visa  nietuitur  labes'). 

Es  ist  interessant,  dass  hier  von  einem  prophylaktischen  Bade  zur  Reinigung 
und  Beseitigung  eines  Ansteckungsstoffes  die  Rede  ist.  Man  hatte  sogar  schon  die  Vor- 
stellung von  der  Rolle  der  Kleidung  als  Infektionsträger,  die  wir  schon  oben"-)  aus 
der  Bibel  (II.  Könige.  5,  27)  kennen  lernten.  Vergil  (Georg.  III,  561 — 566),  sowie  aus 
späterer  Zeit  Cedrenus  {Mezsdidoro  ds  1]  %'öoog  [seil.  Xoi[.i6g'\  avzt]  djiors  i/A,dzcov. 
Georgii  Cedreni  compendium  historiarum,  Paris  1647,  p.  257  D)  bieten  Belege  hierfür.  Dass 
endlich  das  Contagium  schon  von  den  Alten  als  ein  ,, contagium  animatum"  aufgefasst  und 
auf  kleine  Lebewesen  zurückgeführt  wurde,  beweist  die  berühmte  Stelle  bei  Varro, 
Rer.  rusticar.  lib.  I,  12,  2:  Animadvertendum  etiam,  siqua  erunt  loca  palustria  .  .  .  quod 
crescunt  animalia  quaedam  minuta,  quae  non  possunt  oculi  consequi,  et  per  aera 
intus  in  corpus  per  os  ac  nares  perveniunt  atque  efficiunt  difficiles  raorbos'''). 

Als  Prototypen  ansteckender  Krankheiten  galten  den  Alten  ausser  der  von  vielen 
Autoren  (Thucydid.  II,  51;  Dionys.  Halicarnass.  X,  53;  Diodor.  Sicul.  XIV,  71; 
Euseb.   Histor.   eccles.   VII,    17;    Evagrius    Histor.   eccles.   IV,    29    u.   v.  a.)    geschilderten 


1)  Ganz  ähnlich  schildert  Seneca  De  tranquillitale  animi  7,  4  die  Gefahr  der  Be- 
rührung und  des  Zusammenseins  mit  den  von  einer  ansteckenden  Krankheit  (pestilentia) 
ergriffenen  Individuen. 

2)  Vgl.  S.  493. 

3)  Auch  Vitruvius  deutet,  allerdings  in  etwas  weniger  klarer  Weise,  die  Bakterien- 
theorie der  Malaria  an:  Cum  aurae  matutinae  cum  Sole  Oriente  ad  oppidum  pervenient,  et 
iis  ortae  nebulae  adiungentur,  spiritusque  bestiarum  palustrium  venenatos  cum  nebula 
mixtos  inhabitorum  Corpora  flatus  spargent,  efficiunt  locum  pestilentem  (De  architectura  1,  4). 
Nach  I.  Ilberg,  A.  Cornelius  Celsus  u.  s.  w.,  S.  383,  ist  diese  Bakterientheorie  der 
römischen  Autoren  aus  griechischer  Quelle  übernommen. 

44* 


—     686     — 

„Pest"')  die  Ophthalmie,  die  Schwindsucht  und  die  Krätze,  sowie  verschiedene 
andere  contagiöse  Hautkrankheiten. 

Das  Contagium  der  Augenentzündung,  ocp&aXfxia,  lippitudo-),  wird  zuerst  bei 
Plato  (Phaedrus  36,  p.  255  D)  erwähnt:  xal  ovo'  Sri  Ttenov&sv  oidsv  ovo  s'xei  (pQaaai, 
uXX'  olov  6.71  akXov  ocp^aXfiiag  ajioXsXavxwg  jiQocpaaiv  EiJieXv  ovx  k'j^st  .  .  .  ,,[Der  Liebende] 
weiss  nicht,  was  ihm  geschah,  und  kann  es  nicht  sagen,  sondern  wie  einer,  der  von  einem 
Andern  eine  Augenentzündung  abbekommen,  kann  er  die  Ursache  nicht  angeben."  (Ueber- 
setzung  von  J.  Hirsch berg). 

Auch  Plutarch  (Sympos.  V,  7)  bestätigt  die  eminente  Contagiosität  der  infektiösen 
Ophthalmien:  Tmv  S'äXXcor  voatjfmTcov  /näXiora  xai  Taxiora  rag  offdaXf^iiag  dvaXai^ißdvovoiv 
Ol  ovvövtsg  ■*). 

Neben  der  Ophthalmie  werden  gewöhnlich  die  Schwindsucht  (f&ioig,  q?{^6ij. 
phthisis  und  Krätze  lycöga ,  Scabies  als  typische  Beispiele  ansteckender  Krankheiten 
angeführt. 

So  heisst  es  bei  Aristoteles,  Problem.  VII,  quaest.  8  (Opera  omnia,  Paris  1889, 
Bd.  IV,  S.  154):  Aia  Ti  djin  q)§ia£fog  aal  6(pdaXfiLag  xal  tf'CüQag  01  jiXrjoiäCovreg 
aXioKovrai,  anö  ök  vdgwjtog  nal  jivqstiov  xal  djiOJih]^iag  ov/  aXlaxovcai  ovds  TÖJr 
äXXcov.  „Weshalb  werden  von  der  Lungenschwindsucht  und  der  Augenentzündung  und  von 
der  Krätze  diejenigen,  welche  sich  [den  Kranken]  nähern,  befallen,  dagegen  nicht  von 
Wassersucht,  Fiebern,  Apoplexie  und  anderen  Leiden?" 

Aehnlich  äussert  sich  Galen  (De  differentiis  febrium  lib.  I  c.  3,  Kühn  VII,  2  7q) 
über  die  Ansteckungsgefahr  der  an  Pest,  Krätze,  Ophthalmie  und  Schwindsucht  Leidenden: 
üoTiEQ  ye  xal  Sri  or^vöiargißEiv  roig  Xoi/hcüttovoiv  EJiiocpaXig.  dnoXavoai  yäg 
xivbvvog  cöansQ  ipcögug  rivog  t]  dcpßaX/Liiag.  bjt lacpaXkg  ös  xal  xoTg  vjto 
(p-d'örjg  ovvsxof/,£voig  avvdirjfiSQSVSiv,  xal  6'Xcog  0001  oijjrsdovcjösg  ixjiveoroiv,  cög 
xal  tovg  ol'xovg,  iv  olg  xatäxeivTai,  övaoödsig  vjiäQ)(^Eiv. 

Mit  dem  Wortlaut  der  citierten  Stelle  der  aristotelischen  Probleme  stimmt  zum  Teil 
wörtlich  die  Notiz  bei  Alexander  aus  Aphrodisias,  Problemata  Sect.  II,  quaest.  42  (bei 
I.   L.   Ideler,  Physici   et  Medici   Graeci  minores,   Berlin    1841,   Bd.   I,   S.   64)  überein. 

Am  meisten  interessieren  uns  natürlich  im  Zusammenhange  mit 
der  Frage  nach  der  Kenntnis  der  Contagiosität  venerischer  Krank- 
heiten  die  Anschauungen   und  positiven  Angaben  der  Alten  über  die 


1}  Hierunter  sind  gewiss  neben  der  eigentlichen  Bubonenpest  verschiedene  andere 
epidemische  Infektionskrankheiten  zu  verstehen.  Ueber  die  Natur  der  durch  die  klassische 
Schilderung  des  Thukydides  (II,  48  —  54)  berühmt  gewordenen  „attischen  Pest"  (430—425 
v.  Chr.)  ist  noch  keine  endgültige  Klarheit  geschaffen  worden.  Vgl.  Wilhelm  Ebstein, 
Die  Pest  des  Thukydides  (die  attische  Seuche),  Stuttgart  1899  (mit  Polemik  gegen  R. 
Koberts  Erklärung  der  attischen  Pest  als  einer  Combination  von  Ergotismus  und  Blattern). 
—  Ueber  die  Geschichte  der  eigentlichen  Bubonenpest  besitzen  wir  jetzt  das  ganz  hervor- 
ragende Werk  von  Georg  Sticker,  Geschichte  der  Pest,  Giessen  1908  (darin  das  Altertum 
S.    17 — 35   behandelt). 

2)  Vgl.  über  ,, lippitudo",  das  nach  J.  Hirsch  berg,  a.  a.  O.  S.  247,  Anm.  2 
,, Katarrh,  Granulation  und  Eiterfluf^  der  Bindehaut  nebst  Folgezuständen"  umfasst,  die  ge- 
lehrten Nachweisungen  von  L.  Kotelmann,  Dfe  Ophthalmologie  bei  den  alten  Hebräern, 
Hamburg  u.   Leipzig   1910,   S.    146  — 147,  Anm.    1099. 

3)  Ueber  die  Ansteckungsfähigkeit  der  Ophthalmie  äussern  sich  von  römischen 
Schriftstellern   Ovid   (Remed.  amoris   605,   616)  und  Seneca   (De  dementia  II,   fa). 


Ansteckungsfähigkeit  von  Affektionen  der  äusseren  Decke, 
zu  denen  ja  auch  die  Geschlechtskrankheiten  in  gewissem  Sinne  ge- 
hören. Wir  erwähnten  schon,  dass  hauptsächhch  die  ipdyna,  Scabies 
als  Prototyp  einer  solchen  ansteckenden   Hautkrankheit  galt. 

Wie  der  Ausdruck  xpcogag  iivog  an  der  eben  mitgeteilten  Galen- Stelle  (VII,  179) 
beweist,  verstanden  die  griechischen  Aerzte  unter  rpmga  verschiedene  ansteckende  Haut- 
krankheiten, unter  denen  sich,  wie  wir  sehen  werden,  zweifellos  auch  unsere  heutige 
eigentliche  ,, Krätze"  befand. 

Sehr  bemerkenswert  sind  die  Ausführungen  über  die  Ursache  der  grossen  An- 
steckungsfähigkeit der  ipojga  in  den  Problemen  des  Aristoteles  und  des  Alexandros 
von   Aphrodisias. 

'H  8s  ipdiQa,  heisst  es  bei  Aristoteles  (Probl.  Sect.  VII,  quaest.  8),  /.läkkov  zäiv 
ä?Mor,  olov  emjiolfjg  xe  y.al  yUoyoov  x6  anoQQSov  xa  ya.Q  xvt]ai.iüi8)]  xoiavxa'  810  avxa 
xcp  sTiiJioXfjg  yivEodai  y.ui  yXiaygov  sivai  cbirsxai.  Tmv  8'ä?J.o}V  xa  /isv  ovy  c'mxExai  8ia 
x6  fiij  ETriJio/ajg  yirsodai,  xa  8'ovra  sjiuioltjg,  ort  ov  jiQOOfist'si  8ia  ^rjQOxtjxa.  Ganz  ähnlich 
äussert  sich  Alexander  Aphrodisiensis  (Probl.  II,  42,  Ideler  I,  64). 

Es  wird  alo  sehr  richtig  die  eminente  Ansteckungsfähigkeit  der  Scabies  daraus  erklärt, 
dass  ihr  Sitz  ein  oberflächlicher  (ETXiJTokfjg)  ist  gegenüber  anderen  mehr  in  der  Tiefe  der 
Cutis  lokalisierten  Affektionen  wie  der  XenQa  und  Xsvxy].  Unter  dem  yllaxQOV  hat  man 
wohl  die  Sekretion  ekzematöser  Partien  zu  verstehen,  die  man  für  contagiös  hielt  im  Gegen- 
satze zu  den  Stellen  von  trockener  Beschaffenheit. 

Dass  unter  „Scabies"  vielfach  auch  die  durch  die  Invasion  von  Milben  hervorgerufene 
Hautaffektion,  unsere  „Krätze"  oder  „Räude"  zu  verstehen  ist,  beweist  mit  Sicherheit  die 
folgende  Stelle  des  Vegetius  (III,  71):  Haec  (seil.  Scabies)  jumentis  deformem  passionem 
et  inlerdum  periculum  generat.  Contagiosa  namque  est  et  transit  in  plures.  Es  ist 
hier  offenbar  von  der  Pferderäude  die  Rede.  Auch  Livius  (IV,  30)  erwähnt  die  Tier- 
räude und  ihre  Uebertragbarkeit  auf  den  Menschen:  scabie  alia  (seil,  pecora)  absumta: 
vulgatique  contactu  in  homines  morbi,  et  primo  in  agrestes  ingruerant  servitiaque; 
urbs  deinde  impletur. 

Eine  contagiöse  Hautkrankheit  unter  dem  Namen  „Scabies"  beschreibt  auch  Curtius 
Ruf  US  (IX,  10):  Altero  die  classis  adpulsa  est  haud  procul  lacu  salso;  cujus  ignota  natura 
plerosque  decepit  temere  ingressos  aquani.  Quippe  Scabies  corpora  invasit  et  con- 
tagium  morbi  etiam   in  alios  vulgatum. 

Die  durch  den  Sarcoptes  hervorgerufene  ansteckende  Tierräude  erwähnt  endlich  noch 
Juvenalis   (II,   78—80): 

Dedit  hanc  contagio  labem 
Et  dabit  in  plures;   sicut  grex  totus  in  agris 
Unius  scabie  cadit  et  porrigine  porci. 

Beiläufig  sei  bemerkt,  dass  Aristoteles  die  Krätzmilbe,  xo  axagl  als  s?.d/jfixov 
Cööov  erwähnt   (Histor.  Animal.  5,  32),  ohne  indessen  ihre  Beziehungen  zur  Krätze  zu  kennen. 

Als  eine  zweite  ansteckende  Hautkrankheit  wird  von  dem 
Pneumatiker  Herodotos  (bei  Oribasius  IV,  617)  ein  ulceröses, 
mit  Fieber  auftretendes  Exanthem  unter  dem  Namen  av&Qay.eq 
beschrieben  und  folgendermassen  charakterisiert:  Firovrai  de  xal  yMxd 
rivag  E7iidj]juovg  airiag  y.arä  zovg  TtXeiozovg  xal  dno  l'&vöbv  eig  k'dvi] 
fis'&ioTavTai. 


—      688      — 

Drittens  ist  auch  die  Trichophytie,  wie  sie  in  der  berühmten 
Mentagra-Epidemie  des  Jahres  25  n .  Chr.  in  Rom  auftrat,  als 
ein  ansteckendes  Hautleiden  klar  und  deutHch  erkannt  und  be- 
schrieben worden  (vgl.  oben  S.  639 — 646).  Deshalb  war  das  „osculari" 
so  gefürchtet,  „quoniam  contactus  perniciosus  est"  (Plinii  Secundi 
Junioris  de  medicina  lib.  I,  c.  18  ed.  Rose,  Leipzig  1875,  ^-  33)' 
worauf  Martial  in  mehreren  Epigrammen   anspielt  V)- 

Endlich  ist  noch  des  Aussatzes,  der  eXecpavTiaoig  zu  ge- 
denken, den  auch  die  Alten  für  ein  sehr  ansteckendes  Uebel   hielten. 

Die  wichtigsten  Stellen:  Aretaeus  de  cur.  morbor.  diuturnor.  II,  13:  8sog  6e 
^vfxßiovi'  TS  xal  ^in'diairäo&ai  ov  fisTov  r]  loifJiq);  Aretaeus  de  causis  et  signis  diurturnor. 
morbor.  II,  13:  Toiovgds  oin'  iovzag  xlg  ovh  äv  (pvyoi  rj  xig  ovx  av  ixTQajisü]  .... 
dsog  yag  xal  dfx,(pi  (lEzadöoiog  xov  xaxov;  Caeiius  Aurelianus,  Morbor.  chron. 
Hb.  IV,  c.  I  :  Alii  aegrotum  in  ea  civitate,  quae  nunquam  fuerit  isto  morbo  vexata,  si  fuerit 
peregrinus,  cludendum  probant,  civein  vero  longius  exulare,  aut  locis  mediterraneis,  et 
frigidis  consistere,  ab  hominibus  separatum,  exinde  revocari,  si  meliorem  receperit  valetudinem, 
quo  possint  ceteri  cives  nulla  istius  passionis  contagione  sauciari;  Paulus 
Aegineta  IV,  I:  'Ejieidij  8e  twv  svfiszadö coiv  iozl  z6  jiäd-og'  ov^  fjzzov  ij 
loi/iiög,  ajioiHiazEov  avzovg  u>g  ozi  jioQQCozdroi  zmv  tiöXewv,  ev  fXEOoyEioig  xai  xazaxpvxQOig 
xal  ohyardQMJzoig  ;ua)^to«?,  eI'jieq  oiöv  zs  .  .  .  .  avzoi  ze  yaQ  sTiizrjdecozEQO)  zoi  dsgi 
XQj]oovzai,  xal  ovx  av  /tszadoTEv  äkXoig  zov  xaxov. 

Wohlverstanden  ist  dieses  so  „leicht  übertragbare"  Uebel  (Paul. 
Aegin.  IV,  i)  der  echte,  wirkliche  Aussatz,  nicht  etwa  eine 
S3^philis,  die  sich  dahinter  verbirgt.  Denn  sowohl  Aretaios  als  auch 
Caeiius  Aurelianus  und  Paulos  von  Aegina  beschreiben  in  dem 
Kapitel,  wo  sie  die  grosse  Ansteckungsgefahr  der  Elephantiasis  er- 
wähnen, einzig  und  allein  den  typischen  Aussatz  mit  allen  seinen 
charakteristischen  Symptomen,  vor  allem  der  typischen  Veränderung 
des  Gesichtes,  den  Mutilationen  etc. 

Diese  Belege  sind  ausreichend,  um  den  Satz  aufstellen  zu  können, 
dass  den  Alten  der  Begriff  der  von  Mensch  zu  Mensch  über- 
tragbaren ansteckenden  Krankheit  im  allgemeinen  und  der- 
jenige ansteckender  Hautkrankheiten  im  besonderen  sehr 
geläufig  war,  ja,  dass  sie  sogar  eine  Uebertragung  durch  eine  Art 
von  geschlechtlicher  Berührung  kannten,  wie  sie  doch  der  Kuss  dar- 
stellt, der  nach  Plinius  eine  so  bedeutsame  Rolle  bei  der  Ver- 
breitung des  Mentagra  spielte. 


l)   Zu  den   früher  (S.   639)  mitgeteilten   wäre    noch    das    hierfür    sehr  charakteristische 
Epigramm  X,   22  hinzuzufügen: 

Cur  spleniato  saepe  prodeam  mento 
Albave  pictus  sana  labra  cerussa, 
Philaeni,   quaeris?      basiare   te  nolo. 


—      689      — 

Man  sollte  daher  a  priori  annehmen,  dass  ihnen  auch  der  Begriff 
der  „Geschlechtskrankheit",  d.  h.  einer  durch  den  Geschlechtsverkehr 
acquirierten  spezifischen  Erkrankung  der  Genitalien  bezw.  der  sich 
bei  jenem  am  innigsten  und  längsten  berührenden  Körperteile  nicht 
fremd  geblieben  sei. 

Da  muss  aber  von  vornherein  festgestellt  werden,  dass  jenes 
eben  erwähnte,  aus  unzweideutigen  Beobachtungen  hervorgehende 
klare  Wissen  gerade  auf  dem  Gebiete  der  venerischen  Krankheiten 
den  Alten  völlig  abging.  Wir  finden  bei  ihnen  nur  dunkle 
Ahnungen,  unklare  Andeutungen  über  geschlechtliche  An- 
steckung  und  Unreinheit  der  Genitalien.  Und  gerade  das  Schweigen 
der  Aerzte,  die,  wie  wir  sahen,  über  die  Contagiosität  der  Krank- 
heiten sehr  gut  Bescheid  wussten,  lässt  in  diesem  Falle  den  Schluss 
zu,  dass  eine  klare  und  rationell  begründete  Erkenntnis  der  An- 
steckungsfähigkeit venerischer  Leiden  nicht  existierte.  Sonst  hätte 
sie  in  den  zahlreich  uns  erhaltenen  Kapiteln  über  Krankheiten  der 
Genitalien  in  den  Werken  der  antiken  Medizin  zum  Ausdrucke 
kommen  müssen,  wie  z.  B.  die  Contagiosität  des  Aussatzes  in  den 
einschlägigen  Kapiteln  betont  wird.  Der  durchaus  nicht  niedrige 
Stand  der  antiken  Venereologie,  die  wir  im  nächsten  Paragraphen 
zu  würdigen  haben,  lässt  dies  als  eine  unbedingte  Voraussetzung 
erscheinen,  falls  der  Begriff  eines  venerischen  Contagiums  den  alten 
Aerzten  wirklich  klar  zum  Bewusstsein  gekommen  wäre.  Während 
z.  B.  beim  Mentagra  durch  „transitus  osculi"  die  parasitäre  Haut- 
affektion übertragen  wird,  weshalb  vor  dem  Küssen  als  einem  „con- 
tactus  perniciosus"  gewarnt  wird,  finden  wir  nirgendwo  ein  Verbot 
des  Coitus  zur  Verhütung  venerischer  Ansteckung,  selbst  nicht  in  der 
Bibel,  die,  wie  wir  gleich  bemerken  wollen,  im  Gegensatze  zu  der 
Medizin  des  klassischen  Altertums,  so  viele  Reinigungs-  und  Ab- 
sonderungsvorschriften für  Gonorrhoiker  enthält. 

Bei  der  Entscheidung  der  Frage  nach  der  Kenntnis  der  An- 
steckungsfähigkeit gewisser  Ausflüsse,  Absonderungen  und  krank- 
hafter Behaftungen  der  Genitalien  muss  man  sich  stets  den  tiefen 
Abscheu  der  gesamten  orientalischen  und  griechisch-römischen  Welt 
des  Altertums  vor  U  nreinlichkeit  und  pathologischen  Sekre- 
tionen überhaupt  und  denjenigen  der  männlichen  und  weib- 
lichen Genitalien  im  besonderen  vergegenwärtigen.  Vieles,  was 
uns  heute  vielleicht  als  „Furcht  vor  Ansteckung"'  erscheinen  würde, 
war  bei  den  Alten  nichts  als  ein  Ausfluss  des  rein  ästhetischen 
Widerwillens,  des  Reinlichkeitstriebes  schlechthin,  wenn 
auch    die    Möglichkeit    nicht    geleugnet    werden    kann    und    soll,    dass 


—     6go     — 

dahinter  bisweilen   eine   hygienische  Ueberlegung  und  Erfahrung  ge- 
steckt hat. 

So  gilt  die  Frage,  ob  es  sich  um  eine  blosse  Reinlichkeits-  oder 
mehr  um  eine  hygienische  Vorschrift  handelt,  vor  allem  auch  für  die 
bekannte  und  in  jedem  Falle  sehr  bemerkenswerte  Bibelstelle  (Lev. 
15,  2  ff.),  die  ich  nach  der  zuverlässigen  Uebersetzung  des  Arztes 
und  Hebraisten  J.  Preuss^)  wiedergebe: 

,, Jeder  Mann,  der  aus  seinem  Fleische  (Penis)  fliesst,  ist  unrein.  Und  seine  Un- 
reinheit ist  gleich,  ob  tropft  sein  Fleisch  von  seinem  Fluss  oder  sich  verstopft  sein  Fleisch 
von  seinem  Fluss.  Das  Lager,  auf  dem  er  liegt,  Sitzgeräte  und  Reitzeug,  die  er  benutzt, 
sind  unrein;  wer  sein  Lager  oder  ihn  selbst  berührt,  sich  auf  ein  von  ihm  benutztes  Sitz- 
gerät setzt  oder  seine  Satteldecke  berührt  oder  trägt,  muss  seine  Kleider  waschen,  selbst 
baden  und  ist  unrein  bis  zum  Abend;  dasselbe  gilt  für  jeden,  auf  den  das  Sputum  des 
Flusssüchtigen  (zab)  gefallen  und  für  Alles,  das  der  Kranke  berührt  hat,  ohne  vorher  seine 
Hände  in  Wasser  abgespült  zu  haben.  Irdenes  Gerät,  das  er  berührt,  wird  zerbrochen, 
hölzernes  in  Wasser  gespült.  Zur  Zeit  der  Wüstenwanderung  sollte  man  derartig  Kranke 
ganz  aus  dem  Lager  entfernen.  Hat  der  Ausfluß  aufgehört,  so  zählt  er  sich  sieben  Tage 
zu  seiner  Reinigung,  wäscht  dann  seine  Kleider,  badet  in  lebendem  Wasser  und  ist  rein. 
Am  folgenden  Tage  bringt  er  zwei  Tauben  dem  Priester,  der  sie  opfert." 

Nach  Preuss  heisst  jeder  abnorme  Ausfluß  aus  den  Genitalien 
zob,  effluvium,  der  damit  Behaftete  zab,  fem.  zab  ah,  der  Zustand 
zibah.  Dass  es  sich  hier  nur  um  Ausflüsse  aus  den  Genitalien 
handeln  kann,  beweist  die  Zusammenstellung  des  zibah- Gesetzes  mit 
dem  über  Pollution  und  Menstruation,  wie  im  Siphra  (ed.  Weiss, 
p.  75  a)  ausdrücklich  deduciert  wird.  Unter  „zabah"  versteht  jedoch 
der  (nachbiblische?)  Sprachgebrauch  nur  die  aus  den  Genitalien  ab- 
norm blutende  Frau. 

Es  ist  Preuss  ohne  weiteres  zuzustimmen,  wenn  er  sagt,  dass 
mit  dem  ,, Flusse"  hier  nur  die  Gonorrhoe  gemeint  sein  kann  und 
dass  man  wegen  der  seltenen  Fälle  von  Spermatorrhoe  und  benignem 
Katarrh  der  Harnröhre  jedenfalls  keine  Ausnahme  machen  konnte. 
Dass  die  Vorschriften  einen  grossen  hygienischen  Wert  besassen,  ist 
von  unserem  Standpunkt  aus  klar.  Ob  sie  aber  allein  zu  diesem 
Zwecke  gegeben  wurden,  kann  nicht  mit  Sicherheit  behauptet  werden, 
zumal  da  das  Verbot  des  Coitus  für  den  „zab"  fehlt,  während  es  be- 
züglich der  Unreinheit  tum'a  des  menstruierenden  Weibes  besteht: 
„Wenn  ein  Mann  ein  (an  der  monatlichen  Absonderung)  leidendes 
Weib  beschläft  und  ihre  Scham  aufdeckt  —  er  entblösst  ihre  Blut- 
quelle und  sie  deckt  den  Quell  ihres  Blutes  auf  — ,  so  sollen  beide 
ausgerottet    werden    aus    der   Mitte    des    Volkes"    (Lev.    20,    18).      Es 


i)   J.  Preuss,    Die    männlichen    Genitalien    und    ihre    Krankheiten    nach  Bibel   und 
Talmud.      In:   Wiener   medizinische   Wochenschrift    1898,   Nr.    12  ff.,   S.-A.,   S.   24 — 25. 


—      6qi      — 

scheint  überhaupt  die  Unreinheit  der  menstruierenden  Frau  und  der 
„zabah",  d,  h.  der  an  abnormen  Bhitungen  ausserhalb  der  Menstruations- 
zeit Leidenden,  für  schlimmer  gehalten  worden  zu  sein  als  die  Un- 
reinheit des  Gonorrhoikers.  In  der  Mischna  findet  sich  nämlich  eine 
Bestimmung,  dass  die  Unreinheit  der  „zabah",  der  abnorm  blutenden 
Frau  stärker  sei  als  die  des  „zab",  da  sie  ihren  Concumbenten  für 
sieben  Tage  verunreinige,  er  aber  eine  (reine,  nicht  kranke)  Frau  nur  bis 
zum   Abend,   wie  der  Coitus  mit  einem  Gesunden   (Kelim  I,   4)  \). 

Diese  Thatsachen  sprechen  nicht  dafür,  dass  man  den  Tripper- 
kranken für  besonders  ansteckungsfähig  hielt.  Es  ist  möglich,  dass 
in  talmudischer  Zeit  eine  Kenntnis  des  Trippercontagiums  und 
seiner  Uebertragung  durch  den  Coitus  vorhanden  war.  Preuss 
(a.  a.  O.  S.  28)  teilt  die  folgende  Stelle  aus  einem  Midrasch  (Lev.  r. 
fol.  25a)  mit:  „Wenn  ein  junger  Mensch  sündigt,  wird  er  ge- 
schlagen mit  zibuth  und  Aussatz,  darum  warnt  Mose  davor."  Be- 
merkenswert ist  auch,  dass  von  den  beiden  Opfertieren  eines  als 
Sühnopfer  gebracht  wird  und  die  Schrift  (Lev.  15,  15)  den  Zusatz 
macht:  „es  sühne  für  ihn  (den  Genesenen)  der  Priester  vor  dem 
Herrn  seinen  Fluss."  Endlich  weist  Preuss  darauf  hin,  dass  man 
später  beide  Krankheiten,  Gonorrhoe  und  Aussatz,  mit  dem  gemein- 
samen Namen  neg'aim  belegte,  was  von  nag'a  berühren,  abge- 
leitet, nur  contagia,  ansteckende  Krankheiten  bezeichnen  könne.  Wir 
hätten  also  bei  den  Juden  der  späteren  Zeit  doch  eine  Kenntnis  der 
Ansteckungsfähigkeit  des  Trippers  anzunehmen  -),  die  bei  Griechen 
und  Römern  sich  nirgendwo  nachweisen  lässt. 

Ganz  sicher  hat  dem  klassischen  Altertum  der  Begriff  einer 
„spezifischen  Geschlechtskrankheit"  gefehlt.  Haeser  glaubt  allerdings, 
dass  der  bei  dem  Pneumatiker  A  n  t  y  1  lo  s  vorkom  mende  A  usdruck  ,,di6.'&£0ig 
atdouHif  „vielleicht  als  eine  Andeutung  der  sonst  von  keinem  Arzte 
erwähnten  spezifischen  Natur  derartiger  Affektionen  gelten  könne"  ^). 

Die  betreffende  Stelle  findet  sich  bei  Oreibasios  (ed.  Bussemaker  et  Daremberg  IV, 
469 — 470)  und  lautet :  Ov  jieqI  tcöv  dia  deözrjza  JisgiTS/iivofiEV(or  vvr  6  Xöyoq  iarlv,  aXXa 
oig  di.a&EOECog  aidouxrjg  yEi'o/Lih'Tjg ,  tj  nöo&i]  fiE?uah'ETai.  Bussemaker  und  Daremberg 
haben  diese  Stelle  folgendermassen  übersetzt:  Nous  ne  parlons  pas  ici  de  ceux  qui  subissent 
la  circoncision  pour  cause  de  religion,  mais  de  ceux  dont  le  prepuce  s'est  noirci  (gangrene) 
par  suite  d'une  maladie  des  parties  genitales.  Haeser  (a.  a.  O.)  verdeutscht: 
,,Es  ist  jetzt  nicht  die   Rede  von   Denen,    welche    aus    religiösen   Gründen  der   Beschneidung 

1)  Vgl.   J.   Preuss,  a.  a.  O.  S.  27. 

2)  Diese  Kenntnis  nimmt  auch  Heinrich  Auspitz  an  (Die  Lehren  vom  syphiHtischen 
Contagium  und   ihre  thatsächliche  Begründung,   Wien    1866,  S.    15). 

3)  H.  Haeser,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Medizin.  Dritte  Bearbeitung.  Jena  1875, 
Bd.  I,  S.    511. 


—      6g2      — 

unterzogen  werden,  sondern  von  denen,  welchen  in  Folge  einer  die  Geschlechtsteile 
ergreifenden  Diathese  die   Vorhaut  brandig  wird." 

Ohne  Zweifel  ist  die  französische  Uebersetzung  richtiger  und  7,utreff ender ;  denn 
diä^EOig  alSoiiyJ]  muss  wörtlich  als  „Zustand  der  Genitalien"  (natürlich  krankhafter) 
übersetzt  werden.  Es  ist  also  von  einer  Gangrän  der  Vorhaut  infolge  eines  krankhaften 
Zustandes  der  Genitalien  die  Rede,  wobei  dieser  letztere  im  Dunkeln  gelassen  wird.  Dass 
Siddeatg  unser  „Zustand",  und  zwar  rein  örtlich  genommen,  ist  und  nicht  als  „Diathese" 
im  konstitutionellen  Sinne  übersetzt  werden  muss^),  erhellt  aus  Galens  klaren  und  unzwei- 
deutigen Ausführungen  (De  symptomatum  differentiis  über,  cap.  i,  ed.  Kühn,  Bd.  IV,  S.  43 j, 
wo  er  diadeaig  von  diayisTa&ai  beschaffen  sein,  sich  in  einem  (gesunden  oder  kranken  oder 
neutralen)  Zustande  befinden,  ableitet.     (Vgl.  auch  Galen  XV,    iii.) 

Weitere  Belege  bietet  der  ,, Thesaurus  Graecae  Linguae"  von  Henricus  Stephanus, 
wo  es  heisst:  „Quod  vero  ad  corporis  diädsoiv  attinet,  apud  Aledicos  pro  Morbo  s. 
Vitio  accipitur",  eoque  vel  recenti,  vel  certe  non  admodum  veteri;  Diosc.  2,  diad'eaei? 
(or(or  aurium  vitia:  i,  ßk£(päQCO%'  palpebrarum  vitia.  Sic  Galen,  ad  Glauc.  öiadeoEig  rjjiaTiy.m 
jecinoris  vitia,  jecinoris  morbi.  Et  dtädeaig  xm)uxri  Coli  vitium  s.  dolor  [Galen,  vol.  IX, 
P-  575-  'Ovo/nd^o)  8e  vogcoSfi.;  dia&sosig  ov  fwvov  nxav  )jdij  roocöaiv,  ä?J.a.  xäiiFibhv 
äQyjjxm  Tig  avtföv  avviazaoffai]  ....  Quamobrem  jiäx)oc  et  biäüeaig  idem  quodammodo 
esse  videntur"*).     Auch  Galen  (XIII,  315)  erwähnt  Sindeoetg  zov  aldoiov. 

Die  Diathese  war  hiernach  eine  örtliche  Affektion,  die  Ursache  der  Diathese  nach 
der  humoralpathologischen  Anschauung  eine  Dyskrasie.  Als  Beleg  hierfür  führe  ich  eine 
charakteristische  Stelle  über  die  Leberaffeklionen  bei  Galen  (De  compos.  medicamentor.  sec. 
locos,  lib.  VIII,  c.  6,  ed.  Kühn  XIII,  191  — 192)  an:  xal  xara  tovto  rfjg  droviag  rov 
r]nazog,  ogd'öjg  a.%'  sijtxov  ötä^eoiv  alziar  sivai  filav,  ijv  övaxoaaiav  ovoßäCofisv, 
avßig  ogß'wg  av  i.syoifxi  /nij  /tiar,  d/J.'  dy.zd)  rag  diadeaeig  eivai,  öiön  rooavzai  Sia(pooal 
zcöv  SvaxQaoiojv  eloi. 

Die  did'&eoig  aldouxr)  bedeutet  also  weiter  nichts  als  eine  „Krank- 
heit der  Genitalien",  wie  alle  anderen  Affektionen,  die  durch  irgend 
eine  Dyskrasie  hervorgerufen  wird.  Und  so  würde  gerade  die  Wahl 
des  Ausdrucks  diddeoig  darauf  hinweisen,  dass  man  gar  nicht  an  eine 
durch  Ansteckung  erworbene  „Geschlechtskrankheit",  sondern  an  eine 
durch  Dyskrasie  entstandene  brandige  Affektion  der  Genitalien  dachte 
(gangränöser  Schanker,  Krebs,  diabetische  Gangrän,  Brand  bei  Para- 
phimose  etc.  etc.). 

Da  nun  der  Begriff  der  spezifischen  Geschlechtskrankheiten  nicht 
existiert,  so  fragt  sich  weiter,  ob  den,  wie  wir  sahen,  mit  dem  Begriff 
des  Contagiums  wohl  vertrauten  Alten  nicht  doch  die  Uebertragbarkeit 
und  Ansteckungsfähigkeit  gewisser  Leiden  durch  den  Coitus  bekannt 

i)  So  noch  Rudolf  Virchow,  Anlage  und  Variation.  In:  Sitzungsberichte  der 
Königlich  preussischen  Akademie  der  Wissenschaften,  Berlin  1896,  No.  XXIII,  S.  518 
{did^Eoig  =  Anlage). 

2)  Henricus  Stephanus,  Thesaurus  Graecae  linguae,  ed.  Parisina  1833,  Vol.  II, 
Col.  I151.  —  In  der  That  war  bei  den  Pneumatilcern  voaog  die  allgemeine  Dyskrasie,  jid'&og 
dagegen  die  durch  die  Dyskrasie  hervorgerufene  Verletzung  der  natürlichen  Funktion  der 
Körperteile  und  insofern  identisch  mit  der  8id§soig  (Pseudo-Galen  XIX,  p.  386,  6,  def. 
133;  P-  386,    15,  def.    134).     Vgl.  Wellmann,  Die  pneumatische  Schule,  S.    161. 


—      693      — 

gewesen  sei,  insbesondere  der  Gonorrhoe  und  des  Schankers.  Auch 
hier  ist  die  Ausbeute  so  gering',  die  betreffenden  Andeutungen 
sind  so  vage  und  dunkel,  dass  man  im  Grossen  und  Ganzen  auch 
diese  Frage  verneinen  und  höchstens  für  den  widernatürlichen 
Geschlechtsverkehr  eine  Kenntnis  des  Zusammenhanges  gewisser 
Analaffektionen  mit  dem  Akte  der  Pädikation  zugeben  kann,  wie  aus 
unseren  früheren  eingehenden  Darlegungen  (vgl.  oben  S.  575 — 583 
und  585 — 586)  hervorgeht,  ohne  dass  auch  hier  die  „Ansteckung" 
durch  solchen  Verkehr  hervorgehoben  wird,  vielmehr  lediglich  die 
Feigwarzen  am  After  als  ein  Erkennungszeichen  der  passiven  Päderastie 
gelten,  über  deren   Pathogenese  sonst  nichts  ausgesagt  wird. 

Als  „eines  der  wichtigsten  Zeugnisse  für  geschlechtliche  An- 
steckung- im  klassischen  Altertum"  ^)  betrachtet  der  berühmte  Mytho- 
loge  Wilhelm  Heinrich  Röscher  die  Sage  von  Minos  und 
Prokris,  die  er  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  in  seiner  vorzüglichen 
Arbeit  über  „Die  , Hundekrankheit'  {xvojv)  der  Pandareostöchter  und 
andere  mythische  Krankheiten"  ^)  behandelt  hat.  Wir  müssen  daher 
auf  diesen   Mythus  etwas  näher  eingehen. 

Als  die  beiden  wichtigsten  Quellen  gelten  die  Berichte  des  ApoUodoros  und  des 
Antoninus  Liberalis. 

ApoUodoros,  der  nach  Röscher  aus  guten,  alten  Quellen  schöpft,  berichtet  (bibl. 
3,  15,  I,  4):  si  de  avvü.&oi  yvvi]  Mcvcoi,  dövraror  fi%'  avrrjv  ocoßrji'ai.  TTaanpärj  yag, 
sjiEidi)  7toX).aTg  Mivco^  oi'rijvvd^FTo  yvvai^iv ,  iqpaQfidfcet'oev  avröv ,  y.ai  ojiÖte  älh] 
ovvTjvvä^sto,  elg  rd  do&ga  e(ptEi  ß^tjgia,  xai  ovrcog  dudiXXvr'TO  ....  TIoöxQig,  dovna 
zrjv  KiQxaiav  jiieh'  gi^av  .tqo^  xd  fajdev  ßXäipai,  ovvevvd^Exai.  {,,Wenn  ein  Weib  mit 
Minos  verkehrte,  war  sie  unrettbar  dem  Tode  verfallen.  Denn  Pasiphae  gab  dem  Minos, 
da  er  mit  vielen  Frauen  geschlechtlich  verkehrte,  Gift  ein  und  sobald  er  den  Coitus  mit 
einer  anderen  ausübte,  suchte  sie  deren  Geschlechtsteil  ■')  mit  bösen  Geschwüren  (&i]Qia) 
heim,  so  dass  sie  starben  .  .  .  Prokris  erst  machte  durch  den  Genuss  eines  aus  der  Kir- 
käischen  Wurzel"*)   bereiteten   Trankes  den   Coitus  unschädlich"). 

Röscher  übersetzt  dijoln  (wörtlich  ^  ,,Thiere'')  mit  „Geschwüre"  und  sagt:  ,.Zum 
Verständnis  des  eigenartigen  Ausdrucks  ßtjgia,  der  offenbar  die  volkstümliche  Benennung 
einer  bestimmten  Krankheit  ist,  bemerke  ich,  dass  man  gewisse  bösartige  Krankheiten,  ins- 
besondere der  atdoTa  (^  äodga)  als  dtjgia  oder  ßtjgto'jfiaia,  gewisse  bösartige,  fressende 
Geschwüre  und  Wunden  ;ils  £?.xr}  Tsßrjgico/iisva  oder  vofial  ■&t]giwÖ£i?  zu  bezeichnen  pflegte. 
Vgl.  namentlich  PoUux  onom.  4,  206:  drjQico/^ia  yirerai  fisv  i'Xxog  jiegl  dvögwv  aidoTa 
ai(.ia  TioXi)  y.al  fiiXav  xai  Svacödeg  dtpiiv,  fxezd  ^leXm'iag  xi]v  odgxa  iodiov.  Hesych.  s.  v. 
ßrjgiov   Jid^og  xi  ocofiaxog,  o  y.ai  y.agxivog  ya?.sixai.^^ 


1 )  Briefliche  Aeusserung  in  einem  Schreiben  an  den  Verfasser. 

2)  Rheinisches  Museum   für  Philologie,  Frankfurt  a.  M.   1898,   Neue  Folge,  Bd.  LIII, 
S.    180— 181. 

3)  ägß'oa  bedeutet  hier  wie  bei   Herod.   3,   87;   4,   2   das   weibliche  aidoTor. 

4)  Ueber  diese,  die  Mandragora-  oder  Alraunwurzel   vgl.   Dioskor.   4,    76;    Plin.,   n. 
bist.   25,    147;   26,  156;  Galen  XII,   26. 


—      694      — 

Bei  der  im  nächsten  Kapitel  zu  erörternden  antiken  Terminologie  der  venerischen 
Affektionen  werden  wir  auf  die  Gruppe  der  dtjQia  und  ^ijQiojfiaTa  wieder  zu  sprechen 
kommen.  Man  verstand  darunter,  wie  schon  aus  den  eben  mitgeteilten  Definitionen  des 
Pollux  und  des  Hesychios  erhellt,  übelriechende  {dvoöiösg),  gangränöse  {/x.eXav),  die 
Gefässe  arrodierende  {atfia  jioXv),  rasch  um  sich  fressende  (Ti]v  adgxa  lad^iov) 
Geschwüre  der  Genitalien,  also  entweder  gangränös  -  serpiginöse  Schanker  oder 
krebsartige  Ulcerationen  {ö  xal  y.aQxlvog  xaXsTxai)^).  Der  Name  {hjQiov,  -driQiwfia 
wurde  offenbar  davon  abgeleitet,  dass  die  Affektion  etwas  ,, Fressendes"  an  sich  hat  und  wie 
ein  Tier  das  gesunde  Fleisch  frisst.  Unter  Bezugnahme  auf  die  Krankheiten  des  Herodes 
des  Großen  und  des  Kaisers  Galerius  bringt  Röscher  eine  ebenso  plausible  etymologische 
Ableitung  des  {)t]Qiov:  „Von  Herodes  d.  Gr.  berichtet  Josephos  (Ant.  Jud.  17,  6,  5 
und  bell.  Jud.  I,  33,  5)  ausdrücklich,  es  sei  bei  ihm  eine  aidoiot'  ofjipn;  (orjTisdöiv)  oxcolrjxag 
ei-iTtOLOvaa  [yEVVöJGa)  eingetreten,  d.  h.  ein  bösartiges,  Fäulnis  bewirkendes  Geschwür,  in 
dem  sich  schließlich  Maden  oder  Würmer  entwickelten:  eine  pathologische  Erscheinung, 
die  auch  sonst  mehtfach  bezeugt  wird  und  zu  der  Benennung  Otjoiov  (?9»/pta)  oder  {^rjQiojfMa 
wesentlich  beigetragen  zu  haben  scheint  (vgl.  Herodot.  4,  205  ;  Suid.  s.  v.  uTidn'aTO.  s.  v.  evlai; 
Galen  ed.  Kühn  XII,  p.  6;  XIII  733,  XIV  755  ;  Heim,  Incantam.  mag.  556,  564.  Bochart, 
Hierozoicon  3,  521).  Ganz  ähnlich  heisst  es  von  der  schrecklichen  Todeskrankheit  des 
Kaisers  Galerius  bei  Lactantius  (de  mort.  persec.  33):  Nascitur  ei  ulcus  malum  in 
inferiori  parte  genitalium  serpitque  latius  ....  proxima  quaeque  Cancer  invadit  et 
quanto  magis  circumsecatur  latius  saevit,  quanto  curatur,  increscit  ....  jam  non  longe 
pernicies  aberat  et  inferiora  omnia  corripuerat.  computrescunt  forinsecus  viscera "')  et  in  tabem 
sedes  tota  dilabitur  ....  repercussum  medelis  malum  recidit  introrsus  et  interna  compre- 
hendit,  vermes   intus  creantur  etc." 

Als  wirkliche  Thiere  und  nicht  als  bösartige  Geschwüre  erscheinen  die  dtjgia  in  dem 
zweiten,  nicht  minder  interessanten  Berichte,  der  im  41.  Kapitel  der  ,, Metamorphosen"  des 
Antoninus   Liberalis   (ed.   Koch,   Leipzig    1832,   S.    51 — 52)  gegeben   wird: 

Iloöy.oig  df:  xarahjiovoa  tÖv  yjipalov  vjt'  alayvrt]g  qr/Exo  q)svyovaa  Jiaga  Mivoiva 
Tor  ßaoi/Ja  xGiv  KQrjxön'.  Kaxaiaßovaa  b'avxov  syöfXEVov  im  dxsxviag  vjiioxvsXxo  xai 
idiöaaxev  xbv  xqojiov  avxcö,  st  yivoivxo  :naTdeg.  'O  yag  Mivcog  ovgeaxev  oq^sig  xai 
axoQjiiovg  xai  axoXojxsvdgag ,  xai  ajrsdrrjoxov  ai  yvvaZxsg  oaaig  eiilyvvxo. 
UaaKpdt]  fi'fjv  ' HXlov  ß'vydxtjg  adävaxog.  "H  y'ovv  ÜQoxQig  f.jiI  xfj  yovfj  Mivmog  firjyaväxai 
Toiövös'  xvaxiv  alyog  Iveßalev  eig  yvvaixog  cpvaiv  xai  6  Mivoig  xovg  oipeig 
TiQÖxEQOv  E^EXQivEv  Eig  XTjv  xvoTiv,  EJiEixa  Sk  ji a Q a  xTjv  IJaaiqpdtjv  slguov 
Ef.iiyvvxo.  xai  ejiei  avxoig  iysvovxo  .Taidsg,  6  Mivcog  SidoT  xfj  UqÖxqiÖi  xov  dxovxa  xai 
T.OV  xvva'  xovxovg  dk-ovdh'  E^erpuys  drjQi'ov,  d)J.d  jidvxa  e/eiqovvxo.  (Deutsch  nach  der 
Uebersetzung  von  Friedrich  Jacobs,  Stuttgart  1837,  S.  141  — 142:  „Prokris  verliess  nun 
den  Cephalus  aus  Scham  und  floh  zu  Minos,  dem  König  der  Kreter.  Da  sie  diesen  kinderlos 
fand,  machte  sie  ihm  Versprechungen,  und  belehrte  ihn,  auf  welche  Weise  er  Kinder  be- 
kommen köimte.  Denn  Minos  gab  statt  des  Samens  Schlangen,  .Skorpionen  und  Skolopendern 
von  ^ich,    und   alle  Weiber,    denen  er   beiwohnte,   starben.     Pasiphae  aber  war  eine  Tochter 


1)  Hier  ist  die  Quelle  für  die  doppelte  Bedeutung  des  mittelalterlichen  ,, Cancer"  = 
„Schanker"  und   ,, Krebs"  zu  suchen. 

2)  Aehnlich  heisst  es  über  die  gleiche  tödliche  Krankheit  des  Königs  Ladislaus  von 
Neapel  (j  1414)  in  einer  von  Erich  Ebstein  (Medizinische  Woche  1906,  Nr.  8)  ver- 
öffentlichten, bisher  ungedruckten  Notiz:  ,,quaedam  letalis  infirmitas  in  virga  ipsum  acriter 
invasit,  cui  Cancer  se  conjunxit,   ipsum  usque  ad  viscera   corrodendo. 


—      695      — 

des  Helios  und  unsterblich ').  Prokris  veranstaltete  also  Folgendes.  Sie  schob  die  Blase 
einer  Ziege  in  die  Natur  eines  Weibes ;  in  diese  Blase  leerte  Minos  erst  die  Schlangen  aus, 
dann  begab  er  sich  zur  Pasiphae  und  wohnte  ihr  bei.  Da  sie  hierauf  Kinder  bekamen, 
gab  Minos  der  Prokris  den  Wurfspiess  und  den  Hund;  diesen  entging  kein  Thier,  sondern 
alle  wurden  erlegt.") 

Unter  vollkommener  Berücksichtigung  des  Phantastischen  und 
Fabelhaften  in  diesen  beiden  Berichten  -)  lässt  sich  nicht  verkennen, 
dass  ihnen  eine  dunkle  Vorstellung  der  venerischen  Ansteckung  zu 
Grunde  liegt.  Der  Bericht  des  Apollodoros  würde  sogar  für  eine 
relativ  deutliche  Erkenntnis  der  Uebertragung  von  Schankern  durch 
den  Beischlaf  sprechen,  wenn  wir  mit  Röscher  das  di-joia  ohne  weiteres 
mit  „Geschwüre"  übersetzen.  In  dem  Berichte  des  Antoninus  Libe- 
ralis ist  besonders  die  Prozedur  der  Prokris  auffällig.  Man  hat  sie 
neuerdings  als  erstbekannte  Anwendung  eines  Kondoms  ge- 
deutet^), der  in  diesem  Falle  dem  Zwecke  der  Verhütung  einer  Ge- 
schlechtskrankheit gedient  hätte. 

,, Nimmt  man  an",  sagt  Heibig,  ,,dass  alle  religiösen  Mythen  im  Grunde  nur  mensch- 
liche Dinge  und  Erfahrungen  —  wenngleich  oft  verzerrt  —  wiedergeben,  so  lässt  sich  aus 
der  angeführten  Stelle  schliessen,  dass  dem  Altertume  wenigstens  in  der  römischen  Kaiserzeit 
der  Gebrauch  tierischer  Blase  zur  Aufnahme  des  männlichen  Samens  bei  der  Begattung  in 
der  Absicht,  die  Frau  vor  den  Folgen  (Ansteckung,  Schwängerung)  zu  schützen,  bekannt 
war.  Dass  die  Prokris  nach  Antoninus  die  Blase  nicht  über  das  männliche  Glied  des 
Minos  stülpte,  sondern  in  die  Scheide  der  Frau  einführte,  erklärt  sich  aus  der  Ungeschickt- 
heit der  meisten  uns  erhaltenen  alten  Schriftsteller  in  technischen  Sachen,  während  die  Funde 
selbst  oft  eine  viel  höhere  Leistungsfähigkeit  der  Technik  des  Altertums  nachweisen.  ]Man 
braucht  deshalb  nicht  der  Annahme  der  Kommentatoren  beizupflichten,  dass  hvoti^  für 
xvo'&og  (Höhlung,  weibliche  Schamteile)  zu  verstehen  sei,  also  die  Prokris  die  Scheide  einer 
Ziege  in  die  einer  Frau  gesteckt  habe.  Dies  wäre  aus  anatomischen  Gründen  für  den  beab- 
sichtigten  Zweck   kaum   geeignet  und  überdies  schwer  ausführbar  gewesen." 

Auch  Hans  Ferdy^)  schliesst  sich  der  Ansicht  Helbigs  an. 


i)  D.  h.  sie  unterlag  im  Verkehr  mit  Minos  nicht  dem  Schicksal  der  anderen  sterb- 
lichen  Weiber,  die  infolge  des  verderblichen  Coitus  starben. 

2)  Sie  fanden  übrigens  vollen  Glauben,  wie  die  Erzählung  des  Plutarch  (Quaestion. 
convivalium  L.  VIII,  9,  3,  ed.  G.  N.  Bernardakis,  Leipzig  1892,  p.  349)  beweist:  y.ai  tov 
rjfisrsQOV  ^svov  "Eiprjßov  'Adip't^oiv  i'o/uev  iy.ßd/./.ovTa  iiszä  .-to?.Äov  on:igfiaTog 
drjQidior'  daGv  y.al  tioXIoTq  jioai  raj^v  ßadiCor.  (  ,\Vir  wissen,  dass  unser  Gast- 
freund Ephebos  in  Athen  in  einem  starken  Samenerguss  ein  haariges,  mit  vielen  Füßen 
geschwind  laufendes  Thierchen  von  sich  gegeben  hat.")  Von  kleinen  Giftschlangen,  die  im 
Schosse  der  Jungfrauen  verborgen  beim  Coitus  Unheil  brächten,  berichtet  noch  das  mittel- 
alterliche Reisebuch  des  Ritters  von  Mandeville.  Vgl.  W.  Hertz,  Gesammelte  Abhand- 
hmgen,   S.    195  — 196,   Stuttgart  u.   Berlin    1905. 

3)  Heibig,  Ein  Condom  im  Altertume.  In:  Reichs-Medizinal-Anzeiger,  Bd.  XXV, 
Nr.    1.  S.  3 — 4,  Leipzig   1900. 

4)  Hans  Ferdy,  Zur  Geschichte  des  Coecal-Condoms.  In:  Zeitschrift  für  Bekämpfung 
der  Geschlechtskrankheiten,   Bd.   III,   S.    144,  Leipzig    1905. 


—     bgö     — 

daß  hier  die  erste  Erwähnung  eines  Condoms  vorliege,  zumal  da 
Ziege,  Schaf  und  Kalb  die  drei  Haustiere  seien,  deren  Coecum  sich 
zur  Verfertigung  eines  Condoms  eigne.  Und  es  lässt  sich  nicht  ver- 
kennen, dass  die  „Blase"  nach  der  Annahme  der  Prokris  wirklich 
dazu  gedient  hat,  die  giftigen  Bestandteile  des  Ejakulats  aufzunehmen 
und  dadurch  eine  Ansteckung  bezw.  Schädigung  durch  den  Coitus 
zu  verhüten,  also  die  Funktionen  unseres  modernen  Condoms  zu  er- 
füllen. Auch  diese  Stelle  würde  also  mindestens  die  Vorstellung 
eines  durch  den  Coitus  drohenden  Leibesschadens  beweisen.  Da  aber 
andere  Erwähnungen  prophylaktischer  Mittel,  speziell  des  Condoms, 
bei  den  Alten  bisher  nicht  bekannt  wurden,  so  lässt  sie  sich  in  ihrer 
Singularität  weder  für  die  Kenntnis  ansteckender  Geschlechtskrank- 
heiten, noch  für  deren  systematische  Prophylaxis  verwerten. 

Astruc^)  und  Hensler-)  haben  auf  eine  sehr  bemerkenswerte 
Stelle  in  der  „Historia  Lausiaca"  des  Bischofs  Pallad ius  von 
Helenopolis  (367 — 430  n.  Chr.)  hingewiesen,  die  dann  Rosenbaum-'') 
kritisch  erläutert  und  mit  Recht  für  ein  wertvolles  Dokument  für  die 
Uebertragung  einer  Geschlechtskrankheit  erklärt  hat.  Allerdings 
muss  diese  nach  unserer  heutigen  Interpretation  angenommen 
werden.  Ob  aber  der  Schilderung  des  Palladius  wirklich  eine 
solche  Kenntnis  der  Contagiosität  der  erwähnten  Geschlechtskrankheit 
zu  Grunde  liegt,  bleibt  zweifelhaft. 

Da  Rosen  bäum  für  seine  Erläuterung  und  Deutung  die  sehr 
schlechte  und  fehlerhafte  Pariser  Ausgabe  von  1644  benutzt  hat,  so 
geben  wir  zunächst  die  Stelle  nach  dieser  wieder  (a),  um  dann  ihren 
Wortlaut  nach  der  neuesten  kritischen  Ausgabe  von  1904  (b)  zur 
Vergleichung  daneben  zu  stellen. 

a)  'AjieX&cov  8e  elg  rr/v  'Ake^avdgiav,  räia  aal  xovxo  xaTo.  d^siav  olxovofxlav ,  x6  dt] 
XsyöiXEVov,  i'ß(o  rov  -^^mv  e^sxqovoev,  jisqiejieofv  yäg  Exovaicog  rfj  ddtafpoQc'q,  Eig  vozbqov 
uxovoiov  EVQa/HEVog  ooizrjQiav  jiaQEßalsi'  yuu  xai  Oeültqoiq  xal  ijijiodgo^uoig  xai  zag 
öiazQißäg  ei^ev  ev  zoig  xaJirjkEioig '  ovzcog  öt:  yaozQifiagyöjv  xal  olvoq^Xvyiäv  evejieoev  xai 
£ig  zov  ßögßvQOV  zfjg  yvvaixEi'ijg  sjiiß'Vf^iag '  xal  (I)g  eoxsjtzezo  auaQzfjaai  fiifiadi  zivi 
jzgogofiiXcöv  avvExöJg  zä  Jigog  ro  eIxoq  mvzov  8ie?Jy£zo  •  zovzcov  ovzcog  vjt  avzov 
öiaJzgazzofiEVCOV  yiyovEV  avzui  xaza  ztva  oixovofiiav  är&gai  xaza  zijg  ßakärov  •  xai  ejil 
zooovzov  sr6ai]a£v  s^afirfviaTov  ygovov,  (hg  y.azaoanfjvai  avzov  zu  /(ogin  xal  aviofiazcog 
anojiEOElv  vozEgov  ös  vyiävag  xal  sJtavEk'&ojv  avEV  zovzcov  zujv  /.leXwv,  xal  Eig  qgövrjfxa 
■dEixöv  il&ojv  xal  sig  fivr'j/iajv  zfjg  ovoaviov  jioXizEiag ,  xal  i^ofioXoyijoä^iEvog  Tzävza  zä 
avfJ,ßEßi]x6za    avzfö    raig    äyioig    jzazgüoiv,    ßvsgyr/nai     iii)    cfdüoag    Exotfii'/ih]    /iezu    oXiyag 


i)  Johannes   Astruc,   de  moibis  veneieis,"  Bd.   I,   S.    15 — 16,   Paris    1740. 

2)  Phil.   Gabr.   Hensler,  Geschichte  der  Lustseuche,   die  zu  Ende  des   XV.  Jahr- 
hunderts in  Europa  ausbrach,  Bd.  I,  S.  316,  Altena   1783. 

3)  J.    Rosenbaum,  a.  a.  O.   S.   318  —  321. 


—     697      — 

i]fi£Qa?.     (Palladii  Lausiaca  hisloria,   cap.   39.    Tn :   Magna  bibliotheca   veterum    patruni,   Tom. 
XIII,  p.  950 — 951,  Paris   1644.) 

b)  'A:!iE?..&cov  ök  slg  'Ah^ärdgEiar  xai  oixovo/ni'ar,  zo  ö>)  Äsyofisvov,  Ijkü)  tov  rjlov 
i^EXQOvas.  ^legiensae.  yag  sxovaicog  zf]  dSiacpooiq,  i?  vozegov  dxovaior  ergdf-ievog  ocoztjot'av. 
jzuQsßaAs  ydg  &sdzgco  xal  tJiTioöooaloig  xal  zag  Siazgißdg  si^sr  h'  xaJitjXsiotg  ■  oihcog  dk 
yaozgif^iagymv  xal  oivo(pXvycbv  Ei'e.~rsosr  €ig  zov  ßögßogov  zyg  yvraixsiag  e7ti§v/iuag.  xal 
(hg  kaxinzEzo  dj.iagzfjaai,  fiifiddi  zivl  avvzvxdiv  zd  jzgog  z6  sXxog  avzov  ötsXsyszo.  zovzcov 
ovzcog  diajigarzofisvcov  yiyovEV  äv&ga^  xaz'  avzfjg  zrjg  ßaXdvov,  xal  ejiI  zoaovzo%'  ernor]OEV 
E^a/xrjviaTov  ^Qovov  cbg  xazaoaizfjvai  avzov  zd  fidoia  xal  djzojzEOEir.  vazegov  Se  vyidrag 
ävEV  zwv  /heXmv  EXEi'vcor  xal  EjzavsX&djv  Eig  q:g6v)]/.i.a  dsi'xör,  fjXdEV  E^o/noXoyovusvog  zavza 
Tidvza  zoTg  izazgdoiv.  h'Egyiioai  8k  fit)  qy&doag  ixoifi>'jdt]  fisz'  oXi'yag  fjfiigag.  (The  Lausiac 
History  of  Palladius  II.  The  Greek  Text  edited  with  introduction  and  notes  by  Dom 
Cuthbert  Butler,  chapt.   26,  p.  82,  Cambridge   1904.) 

Es  handelt  sich  um  einen  gewissen  Hero,  von  dem  erzählt 
wird,  dass  ihn  das  Geschick  [xar  oixovojuiav)  nach  Alexandrien  ge- 
führt habe,  hier  habe  er  Theater  und  Pferderennen  besucht  und  sich 
in  anrüchigen  Kneipen  aufgehalten.  Der  Rest  der  Version  a  wird 
von  Rosen  bäum  dann  folgendermassen  übersetzt: 

,,Auf  diese  Weise  aber  Schlemmer  und  Säufer  geworden,  verfiel  er  in  den  Schlamm 
der  Wollust;  und  als  er  mit  dem  Gedanken  zu  sündigen  umging,  machte  er  sich  so- 
gleich mit  einer  Schauspielerin  zu  schaffen  (und  löste  ihren  Gürtel?).  Als  dies 
so  von  ihm  vollbracht  war,  brach  ihm  nach  göttlicher  Schickung  ein  äv&ga^ 
auf  der  Eichel  hervor  und  er  lag  6  Monate  lang  daran  so  heftig  darnieder, 
dass  seine  (Geschlechts-)  Teile  verfaulten  und  von  selbst  abfielen.  In  der  Folge 
aber  gesund  geworden  und  mit  dem  Verlust  der  Glieder  davon  gekommen  und  zur  göttlichen 
Erkenntnis  gelangt,  und  eingedenk  des  Himmelreichs,  nachdem  er  alles,  was  ihm  begegnet, 
den  frommen  Vätern  bekannt  hatte,  entschlief  er  nach  wenigen  Tagen,  ehe  sich  die  Wirkung 
(der  Besserung)  gezeigt  hatte." 

Die  Version  b  hat  statt  juijuädi  nvl  jiQooofxilcbv  ovvexcog  den  Wort- 
laut ju.  T.  ovvTvi(ov  und  statt  xa  jrgög  xb  elxog  ^)  eavxov  dieXsysxo  '■^),  was, 
wie  Rosen  bäum  schon  erkannt,  ganz  unverständlich,  t.  tiq.  x.  s. 
avzov  ö.,  was  mit  Rosen  bäum  avxSjg  d.  gelesen  werden  muss,  um 
den  folgenden  Sinn  zu  bekommen:  „Er  traf  eine  Schauspielerin  und 
vereinigte  (seil,  sein  Glied)  mit  ihrer  Vulva".  Es  fehlt  nun  in  Version  b 
sehr  bezeichnend  das  >iaxä  d^eiav  olxovofxiav^  so  dass  hier  der  Zusammen- 
hang zwischen  dem  Coitus  und  dem  Auftreten  des  äv&Qa^  weniger 
als  „göttliche  Schickung"  denn  als  natürlicher  Vorgang  erscheint  und 
die  Stelle  darnach  einfach  übersetzt  werden  muß:  „Nachdem  dies 
geschehen   war,  entwickelte  sich  bei  ihm  ein  ärdga^  auf   der  Eichel." 

Dass  die  Version  b  die  richtigere  ist,  beweist  auch  ihre  Ueber- 
einstimmung   mit    der    betreffenden    Stelle    eines    syrischen    Textes 


1)  slxog  =  Einschnitt  =  Vulva,   Rima  muliebris. 

2)  diaXsysadai  =  awovoidCEir. 


—     öqB     — 

der  neuerdings  mit  der  eng-lischen  Uebersetzung-  herausgegeben  wurde. 
Durch  diese  wird  ein  abschliessendes  Urteil  über  die  Bedeutung  der 
ganzen  Erzählung  ermöglicht.     Sie  lautet: 

c)  Now  therefore  this  man  was  at  length  persecuted  by  lust  as  by  a  fire,  and  he 
was  never  again  able  to  dwell  in  bis  cell,  but  he  went  to  Alexandria,  and  by  reason  of 
bis  pride  it  happened  unto  bim,  through  Divine  Providence,  even  as  it  is  said,  »One  good 
is  rooted  up  by  another«.  Nevertheless  having  fallen  willingly  into  a  State  of  indifference, 
he  finally  found  redemption.  Now  he  was  present  continually  at  the  shows  of  the  theatres 
and  circuses,  and  he  was  never  absent  from  the  public  diinking  rooms  of  the  taverns;  and 
thus  whilst  he  was  leading  this  life  of  prodigality  and  drunkenness  he  feil  and  was  brought 
to  a  standstill  in  the  miry  ditch  of  the  lust  of  women.  At  length  he  went  to  one  of 
those  women  who  are  at  the  head  of  the  grade  of  harlots,  and  because  of 
his  passion  with  all  boldness  he  held  converse  with  her,  and  these  things 
having  thus  been  done  by  him  there  broke  out  in  the  place  of  his  nature  a 
carbuncle  which  grew  with  great  vigour,  and  his  sickness  waxed  sore  upon 
him  for  a  space  of  six  months,  and  his  members  rotted  awayand  theyhadto 
be  cut  off.  By  these  means  he  became  finally  cured,  but  he  remained  without  members; 
and  afterwards  he  went  back  again  to  the  integrity  of  [his]  nature,  and  to  divine  thoughts. 
(The  Book  of  Paradise,  being  the  histories  and  sayings  of  the  monks  and  ascetics  of  the 
Egyptian  Desert,  By  Palladius,  Hieronymus  and  others.  The  Syrian  Texts,  according  to  the 
recension  of  'Anän  Jshö'  of  Beth  'Abhe,  edited  with  an  English  translation  by  E.  A. 
Wallis  Budge,  London  1904,  Vol.  I,  p.  199  [chap.  23  ,,of  Ahron  (Hero)  the  Alexandrian]). 

Abgesehen  von  der  hier  erzählten  glücklicheren  Wendung  in 
dem  Schicksale  des  Hero  stimmt  dieser  syrische  Text  c  mit  dem 
Texte  b  überein  und  zeigt  nur  insofern  noch  eine  charakteristische 
Abweichung,  als  die  ansteckende  Person  hier  direkt  als  Prostituierte 
bezeichnet  wird  und  so  der  natürliche  Causalnexus  zwischen  Coitus 
und  Entwickelung  des  Anthrax  in  eine  noch  hellere  Beleuchtung 
gerückt  wird.  Denn  es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  hier 
die  Entstehung  des  ävd^qa^  als  Folge  des  Coitus  dargestellt 
ist.  Ob  dieser  Coitus  als  ein  C.  impurus  aufgefasst  wird,  d.  h.  ob 
der  Erzähler  eine  Kenntnis  von  der  Ansteckungsfähigkeit  derartiger 
Leiden  gehabt  hat,  kann  natürlich  mit  Sicherheit  aus  diesem  Berichte 
nicht  gefolgert  werden.  Der  Bericht  lehrt  nur,  dass  damals  solche 
Beobachtungen  g^emacht  wurden,  deren  Deutung  für  den  modernen 
Leser  nicht  zweifelhaft  ist.  Für  uns  bietet  also  diese  Stelle  die 
typische  Schilderung  der  Uebertragung  eines  ''tiv&Qa^,  d.  h. 
eines  phagedänischen  Schankers  durch  den  Coitus  mit 
einer  Prostituierten. 

Dass  ,, Anthrax"  ^)  an  dieser  Stelle  die  Bedeutung  „gangränöses, 
serpiginöses,  um  sich  fressendes  Schankergeschwür"  hat,    ergiebt  sich 

I)  Vgl.  oben  S.  663;  ferner  J.  Hirschberg,  Geschichte  der  Augenheilkunde, 
Bd.  I,  S.  387,  255  —  256,  Leipzig  1899.  —  Ausführlicher  kommen  wir  auf  das  Wort  bei 
der  Erörterung  der  Terminologie  der  antiken   Venereologie    im   nächsten   Paragraphen   zurück. 


—     699      — 

aus  der  weiteren  Schilderung  des  typischen  Fortschreitens  der  Gangrän 
mit  ihrer  zerstörenden  Wirkung,  die  schliessHch  zum  „Abfallen"  der 
ergriffenen  Teile  führte. 

Einen  sicheren  Beleg  für  die  Kenntnis  der  Contagiosität  der 
venerischen  Krankheiten  bei  den  Alten  bezw.  bei  den  noch  ganz 
unter  antikem  Einflüsse  stehenden  Byzantinern  hat  man  ferner  in 
einer  Stelle  des  byzantinischen  Kirchenhistorikers  Georgios  Kedrenos 
zu  finden  geglaubt,  auf  die  zuerst  Friedrich  Schnurrer^)  aufmerk- 
sam gemacht  hat.  Nach  der  besten  Ausgabe  von  Immanuel  Bekker 
lautet  die  Stelle  folgendermassen : 

'QaavTcog  de  zig  xal  älh]  yvri]  evJiQsrisazuzT] ,  xögrj  ovoa  xal  JiaQ&eviav  aoxovoa, 
dießXij&i]  (og  zovg  &eovg  Evvßgi^ovaa.  tjv  avU.aßo/ueroi  xal  fiaariytoaavzsg  jui]  vnelxovaav 
xfj  zovzMi-  Svoasßeiq  :TaQe8coxar  8tg  tcoqvsTov,  ivzEildfj.sroi  zrö  zavzrjv  vifiovzi  xo/ni^eiv 
VJiEQ  avzijg  ^ftsoi^aiov  %'Of.ilof.iaza  zgta.  og  exöozov  avzi]v  EigTtrjdüyvzaiv  jiävzag 
ujiexQOVEzo ,  Ttgog^aai^ofi EVT]  sknog  e^siv  ejic  xqvtizov  zÖjiov  xal  zovzov  zijv 
OLTiaXkayrjv  exÖE^ao&ai.  ovzcog  ovv  zovzovg  cuioßovxoXovoa  zov  ß^Eov  Ixezevev  aajtikov 
zrjv  jraQ&EViav  avzijg  8ia(pvkd^ai,  xal  dij  v:irjxova£V  avzfjg  o  ^sög  (Corpus  Scriptorum 
Historiae  Byzantinae  editio  emendatior  et  copiosior  consilio  B.  G.  Niebuhr  instituta, 
Georgius  Cedrenus  Joannis  Scylitzae  ope  ab  Immanuele  Bekkero  suppletus  et  emendatus, 
Bonn   1838,  Tomus  prior  p.  466), 

Die  hier  geschilderte  Episode  geschah  unter  der  Christenver- 
folgung des  Kaisers  Diocletian  im  Jahre  303  n.  Chr.  Eine  der 
Gotteslästerung  beschuldigte  schöne  und  keusche  Jungfrau  wird  ge- 
züchtigt und  in  ein  Bordell  gebracht,  wo  sie  dem  Wirte  täglich 
3  Nummi  abzuliefern  hat.  Sie  schreckt  aber  alle  Besucher  durch 
die  Erklärung  ab,  dass  sie  an  verborgener  Stelle  (im  xqvtztov  totiov) 
ein  Geschwür  habe,  dessen  Heilung  sie  abwarten  möchten.  Nach- 
dem ihr  diese  Täuschung  gelungen  ist,  bittet  sie  Gott,  ihr  ihre  Jung- 
fräulichkeit unbefleckt  zu  erhalten,  welcher  Wunsch  auch  erfüllt  wird. 

Es  ist  nach  dem  ganzen  Wortlaut  nicht  sicher^),  dass  es  sich 
gerade  um  ein  Genitalgeschwür  gehandelt  hat,  doch  ist  es  dem 
ganzen  Zusammenhange  nach  sehr  wahrscheinlich,  dass  das  Mäd- 
chen, die  dann  allerdings  in  rebus  venereis  nicht  mehr  so  unerfahren 
gewesen  wäre,  den  Männern  ein  Ulcus  an  den  Genitalien  vorgespiegelt 
hat.  Denn  dass  es  solche  damals  gab,  wird  Niemand  bestreiten,  eben- 
sowenig, dass  sie  allgemein  bekannt  und  Gegenstand  des  Abscheus 
und  Ekels  waren.  Deshalb  beweist  die  Stelle  nichts  für  die  Kennt- 
nis  der  Ansteckungsfähigkeit    solcher  Affektionen,   so   sehr   sie  auch 


i)   Friedrich  Schnurrer,    Chronik    der  Seuchen.      Tübingen    1825,    Zweiter  Theil, 

s.  35-36. 

2)    xQVJizög   x6:iog   muss    mit    ,, verborgene    Stelle"    übersetzt   werden,    nicht  mit    „ge- 
heimen Theilen",   wie  Rosenbaum  es  tut. 

Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  45 


—     7^o     — 

in  dieser  Beziehung  den  modernen  Leser  bestechen  mag.  Eine  von 
Rosen  bäum  (a.  a.  O.  S.  452 — 453)  erwähnte  Parallelstelle  aus  der 
oben  erwähnten  „Historia  Lausiaca"  des  Bischofs  Palladius,  dessen 
Lebenszeit  (367—430)  noch  zur  Hälfte  in  das  Jahrhundert  der  diokletian- 
ischen Verfolgung  fällt,  bestätigt  die  Auffassung,  dass  die  Jungfrau 
nur  das  Gefühl  des  Ekels  bei  ihren  Besuchern  erregen  wollte  und 
dass  eine  Anspielung  auf  die  Ansteckungsfähigkeit  des  fingierten 
Ulcus  hier  keineswegs  vorliegt: 

'H  de  ey.XiTta^ovoa  avrovg  naQsxäksi  Xsyoi^aa  ozi  "Ekxog  ?.y_oi  xi  sig  xexQVjx- 
fisvov  rojtov  ojiEQ  goy^äxcog  o^si,  xal  öeöoixa  /nt]  elg  fxtoog  /lcov  eX'&rjTE'  sxÖots  ovv 
[loi  oXlyag  ^fisgag,  xal  i^ovaiav  k'xsze  xal  öwQsär  fis  s'xsiv.  (Palladii  Historia  Lausiaca 
ed.  Dom   Cuthbert  Butler,  Cambridge   1904,  p.   161    [cap.  65].) 

Hier  spielt  die  Geschichte  in  einem  Bordell  zu  Korinth,  aber 
die  fromme  Jungfrau  sagt  von  dem  Geschwüre  „am  geheimen  Orte", 
dass  es  äusserst  übelriechend  sei  und  sie  fürchte,  dadurch  ein 
Gegenstand  des  Abscheus^)  bei  ihren  Besuchern  zu  werden.  Diese 
möchten  sich  noch  einige  Tage  (seil,  bis  zur  Heilung  des  Ulcus)  ge- 
dulden, dann  stehe  sie  ihnen  zur  Verfügung.  Diese  Version  bringt 
das  Motiv  des  Ekels  deutlich  zum  Ausdiuck  uud  lässt  so  auch  die 
Stelle  bei  Kedrenos  in  einem  anderen  Lichte  erscheinen.  Das  Mäd- 
chen gebraucht  als  einziges  Abschreckungsmittel  hier  den  üblen  Ge- 
ruch, und  nicht  die  uns  heute  so  naheliegende  Ansteckungsgefahr 
des  Geschwürs. 

Einer  von  Rosen  bäum  (a.  a.  O.  S.  466)  aufgefundenen  Stelle 
in  dem  „Pratum  spirituale"  des  im  6.  Jahrhundert  lebenden  Kirchen- 
historikers Johannes  Moschus  hat  schon  Proksch-)  den  „histo- 
rischen Wert"  abgesprochen,  sie  berechtigt  aber  nach  seiner  Meinung 
„zu  der  Annahme,  dass  die  Alten  höchstwahrscheinlich  Lepra  und 
Syphilis  confundirten ,  und  dass  ihnen  die  Uebertragung  gewisser 
Krankheiten  durch  den  Coitus  ausser-  und  innerhalb  von  Bordellen 
gar  wohl  bekannt  war." 

Was  die  angebliche  Verwechselung  von  Lepra  und  Syphilis  bei  den  Alten  betrifft, 
so  sei  auch  hier  wieder  betont,  dass  die  antiken  Schilderungen  des  Aussatzes  immer  nur 
die  heutige  typische  Krankheit  dieses  Namens  in  allen  ihren  Formen  betreffen  und 
keinerlei  Andeutung  von  Syphilis  sich  darin  nachweisen  lässt,  wenn  auch  in  der  Terminologie 
das  ursprünglich  auf  die  ganze  Krankheit  sich  beziehende  Wort  /.ejiga  später  lange  Zeit  zur 


i)  fiXoog  bedeutet  nicht  nur  Hass,  sondern  auch  Ekel,  Abscheu,  so  z.  B.  Eurip. 
Medea  1323,  wo  Jason  die  Medea  als  /xioog  bezeichnet.  Ebenso  Sophocl.  Philoct.  991; 
Antig.    760;   Thukyd.   I,    103. 

2)  J.  K.  Proksch,  Geschichte  der  venerischen  Krankheiten,  Erster  Theil,  Bonn 
1895    S.    170. 


—     yoi      — 

Bezeichnung  eines  charakteristischen  Teilsymptoms  des  Aussalzes  verwendet  wurde'), 
der  als  Allgemeinleiden  jetzt  den  Namen  sketpavtiaaig  bekam.  Erst  später  dienten  die 
spezifischen  Hautveränderungen  des  Aussatzes,  die  ursprünglich  als  Isjroa  bezeichnet  und 
schon  in  der  Bibel  eine  klassische  Beschreibung  erfuhren  (vgl.  oben  S.  486 — 492),  wieder 
als  Allgemeinbezeichnung  der  ganzen  Krankheit.  Auf  ähnliche  Veränderungen  der  Haut 
wandte  man  zur  Zeit  des  Galen  ebenfalls  den  Terminus  „Lepra"  an,  weil  sie  ebenfalls 
eine  weisse  Farbe  und  Rauhigkeit  und  Abschuppung  zeigten.  Deshalb  definiert  Galen 
diese  nicht  zur  Elephantiasis  gehörige  „Lepra"  folgendermassen :  Ahcga  öl  Ttä&og  fiev  xai 
avTi)  6iQiA.atog  ejiI  t6  Isvxotsoov  y.ai  roayvzEQor  tqetiöiaevov.  1)  ök  TQayvztjg  olov 
yvÖoay.iojv  e::iavsoT(OTa)v.  (Auch  die  Lepra  ist  eine  Atfektion  der  Haut,  ist  aber  mehr 
weiss  und  von  rauher,  unebener  Beschaffenheit.  Die  Rauhigkeit  ist  von  der  Art  wie  die 
einer  Eruption  kleiner  Bläschen-')),  und  ausführlicher:  Äetiqu  eoxI  (.leraßoli]  xov  ygwTog  snl 
To  Tzagä  (pvoiv  /nsTCt  Toayvzijzo?  xal  xrt]afiMv  xal  jtÖvcov,  Eoß'  ore  fisv  xai  kEJiidag 
dTzo.-zt'jiTEiVy  oxe  ÖE  xal  EJtivEfXErai  TilEiova  ^EQt]  rov  oo'j/naTog  (Lepra  ist  eine  unnatürliche 
Veränderung  der  Haut  mit  Rauhigkeit,  Jucken,  Schmerzen,  die  bisweilen  mit  Abschuppung 
verbunden  ist,  bisweilen  sich  über  mehrere  Theile  des  Körpers  verbreitet^). 

Nach  dieser  ziemlich  klaren  Schilderung  war  die  spätere  Hautaffektion  /.Ejrga  eine 
Form  der  Psoriasis  und  des  psoriasiformen  Ekzems,  wofür  die  Schuppenbildung, 
die  weisse  Farbe,  das  Jucken,  zeitweise  Schmerzen,  die  Ausbreitung  über  den  Körper 
sprechen,  auch  die  Zusammenstellung  der  nicht  näher  beschriebenen  ?JjTQa  mit  der  levxT] 
und  dem  Xsiyrjv  bei  Hippokrates  (Prorrhet.  H,  63),  mit  P.evxt],  a?.(p6g,  ifjcoga  bei 
Oribasius  (V,  393)  weist  auf  eine  solche  oberflächliche  Dermatose  hin,  wie  denn  alle 
diese  Affektionen  unter  die  Rubriken  verschiedener  Formen  des  Ekzems,  der  Psoriasis, 
ferner  der  Scabies,  der  Vitiligo,  Ichthyosis,  des  Herpes  tonsurans  u.  s.  w.  einzureihen  sind*). 

Nirgendwo  aber  findet  sich  irgend  eine  Andeutung,  dass 
diese  XsTiga  etwa  Syphilis  gewesen  sei.  Wer  das  behauptet,  hat  die 
Pflicht,  eine  konkrete  Stelle  beizubringen.  Ebenso  fraglich  ist  es,  ob 
die  Uebertragung  der  Geschlechtskrankheiten  durch  den  Coitus  „gar 
wohl"  bekannt  war.  Auch  die  erwähnte  Stelle  des  Moschus  spricht 
nicht  dafür. 

Sie  lautet:  'O  'Aßßäg  IIo/.vyQÖviog  Tcäkiv  i^f.üv  diTjVTJaaro,  i)fiTr  Xsyojv,  oii  er  toJ  xoivoßio) 
rov  IlEvüovxXa,  aÖEXq^og  r)v  :iävv  :rQOO£yojv  avxov  xal  aax7]xrjg.  ejio?,EfU]§}}  ds  slg  jioq- 
veiav,  xal  /nij  ElasvEyxcov  xov  ^roXef^ov,  E^fjAßEv  xov  fiovaoxtjgiov  xal  OjifjXder  elg  'Isgiyco 
jiXi}Qwoai  xi]v  i:xidv/iuav  avxov.    xal  d>g  ElofjXd'EV  Eig  x6  xaxaycöytov  xfjg  jiogvEiag, 


i)  Vgl.  die  kritischen  Bemerkungen  über  die  Aussatzterminologie  oben  S.  592 — 595. 
—  Als  Theil  der  Elephantiasis  erscheint  die  „Lepra"  auch  bei  Scribonius  Largus  Com- 
positiones  c.   250  (ed.  Helmreich,  Leipzig   1887,  S.  97). 

2)  Galeni  Introductio,  cap.    13   =   Kühn  XIV,   758. 

3)  Pseudo-Galeni  definit.   med.    295   =   Kühn  XIX,   427 — 428. 

4)  Es  ist  bei  der  rein  formalistischen  Terminologie  der  Alten  erklärlich,  dass  sie 
z.  B.  für  die  verschiedenen  Formen  des  Ekzems,  deren  z.  B.  noch  ein  modernes  Lehr- 
buch wie  Unna-Bloch  ,,Die  Praxis  der  Hautkrankheiten",  Berlin-Wien  1908.  S.  426  bis 
475  nicht  weniger  als  12  aufzählt,  auch  besondere  Namen  hatten,  ebenso  für  Impetigo 
(bei  Unna-Bloch  5  Formen)  und  andere  vielgestaltige  Dermatosen.  Vgl.  Iwan  Bloch, 
Celsus  bei  Neuburger-Pagel,  Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin,  Jena  1902,  Bd.  I, 
S.  410  (Antike  Terminologie  der  oben  erwähnten  Dermatosen). 

45* 


—     70-2      — 

ev^scoe   i/.sjigovßt]   ökwQ.     xal  ßeaoäfievo?  iavzov   ev  zoiovico  o^^tjfiari,   Ev&ea>g  snio- 
TQSxpev  slg  x6  fiovaotrjQiov  avzov,  EvyaQiatwv  zw  ^sco  xal  ?Jycov,  oxi  6  deo?  ijf^ya/niv  /twi 
zrjv  zoiavzrjv  vöaov,  Iva  ^  W^XV  f^^^  owi^  (Johannes  Moschus,    Pratum  spirituale    ca 
14,  in:  Bibliotheca  veterum  patrum,  T.  XIII,  Paris   1624,  fol.    1062). 

Es  wird  hier  offenbar  eine  Wundergeschichte  berichtet,  die 
dem  Abt  Polychronios  in  den  Mund  gelegt  wird.  Ein  von  der 
Fleischeslust  ergriffener  Mönch  des  Klosters  Penthukla  wanderte 
nach  Jericho,  um  dort  in  einem  Bordelle  seine  Begierde  zu  befriedigen. 
„Als  er  aber  die  Herberge  der  Hurerei  betreten  hatte, 
wurde  er  sofort  am  ganzen  Körper  leprös,  und  als  er  sich 
in  diesem  Zustande  erblickt  hatte,  kehrte  er  sogleich  zu 
seinem  Kloster  zurück,  indem  er  Gott  dankte  und  sagte: 
„Gott  hat  diese  Krankheit  über  mich  verhängt,  damit  meine 
Seele  gerettet  werde."  Hieraus  erhellt  deutlich,  dass  der  Alönch 
plötzlich  durch  eine  göttliche  Schickung  leprös  wurde,  um  so  an  der 
Vollziehung  des  Beischlafs  gehindert  zu  werden,  dass  er  also  diesen 
noch  gar  nicht  ausgeführt  hatte.  Damit  werden  alle  Schluss- 
folgerungen hinsichtlich  einer  hier  vorliegenden  Andeutung  einer  an- 
steckenden Geschlechtskrankheit  hinfällig. 

Eine  solche  Andeutung  findet  sich  auch  nicht  in  einer  eben- 
falls von  Rosenbaum  herangezogenen  Stelle  des  Galen,  die  von 
jenem  als  Schilderung  der  Uebertragung  der  Gonorrhoe  durch  den 
Beischlaf  aufgefasst  wird^).  —  Zu  Anfang  von  Kapitel  14  der  Schrift 
„De  sanitate  tuenda"  (Ausgabe  von  Kühn  Bd.  VI,  S.  443  —  444)  ist 
von  Kranken  die  Rede,  die  reichlichen  und  hitzigen  Samen  (o:nceojua 
jioXv  xal  d^EQfxov)  bekommen,  der  sie  zur  Ausleerung  durch  den  Bei- 
schlaf reizt  und  infolgedessen  Schwäche  und  Abmagerung  herbeiführt. 
Enthalten  sie  sich  aber  des  Coitus,  so  bekommen  sie  Kopfschmerzen, 
Dyspepsie,  nächtliche  Pollutionen  und  ähnliche  Zustände  wie  die  sind, 
welche  sie  von  dem  Coitus  haben.  „Einer  von  diesen  Kranken 
sagte  mir,  dass  er  bei  der  Ejakulation  den  Samen  als  etwas 
Beissendes  und  Brennendes  empfunden  habe,  und  zwar  nicht 
nur  er  allein,  sondern  auch  die  Frauen,  mit  denen  er  den 
Beischlaf  vollzogen  habe"  {(hg  de  rig  e^  avrcöv  eq?rj  juoi,  öax- 
vcodovQ  ze  xal  'Oeqjuov  ndvv  rov  OTiEQfxaTog  alo'&dvEO'&ai  xard 
zrjv  änoxQioiv,  ov  fiovov  eavrov,  äXXd  xal  rdg  yvvaixag  alg  äv 
öfjLiXriorj).  —  Soweit  teilt  Rosenbaum  die  Stelle  mit.  Es  ist  aber 
aus  der  Fortsetzung  des  Satzes  noch  als  sehr  bemerkenswert  hervor- 
zuheben, dass  Galen  dem  betreffenden  Kranken  nur  riet,  keine 
Speisen  zu  geniessen,  die  eine  derartige  beissende  Beschaffenheit  des 

l)  Rosenbaum,  a.  a.   O.  S.  424,  427. 


—      703      — 

Samens  herbeiführten,  bezw.  Medikamente  zu  nehmen,  die  sie  be- 
seitigten, dass  er  ihn  aber  nicht  vor  dem  Coitus  warnte  und  auf 
die  Ansteckungsgefahr  hinwies.  {Tomco  xoivvv  eyco  ovveßovXevoa, 
ßgay/udrcov  juev  äjis/eo&ai  tcöv  yevvrjxixcov  ojiEQjuaTog,  nooocpEQEoßai  de  ov 
ßgcüjuara  judvov,  äXkd  xal  (pdg/uaxa  rd  tovtov  oßeoTixd).  Wenn,  wie 
Rosenbaum  annimmt,  Galen  hier  wirklich  auf  eine  Uebertragung 
der  Gonorrhoe  vom  Manne  auf  verschiedene  Weiber  angespielt  hätte, 
dann  würde  er  nicht  verfehlt  haben,  den  Patienten  darauf  aufmerk- 
sam zu  machen  und  ihm  vor  allem  den  Coitus  zu  verbieten.  Die 
Stelle  besagt  aber  nur,  dass  der  Ausfluss  so  scharf  und  beizend  war, 
dass  beide  Concumbenten  das  in  coitu  empfanden.  Von  irgend 
etwas  Contagiösem  ist  gar  nicht  die  Rede. 

Das  gilt  auch  für  eine  Bemerkung  des  Cicero i)  in  einem  an 
G  all  US  gerichteten  Briefe  des  Jahres  57  a.  Chr. 

,,Ego  auteni,"  heisst  es  dort,  ,,cum  omnes  morbos  reformido,  tum  quo  Epicurum 
tuum  Stoici  male  accipiunt,  quia  dicat  dvgovgixä  xal  dvasvrsQixa  Jiädri  sibi  molesta  esse: 
quorum  alterum  morbum  edacitatis  esse  putant,  alterum  etiam  turpioris  intempe- 
rantiae." 

Es  werden  hier  Dysenterie  und  Dysurie  einander  gegenüber 
gestellt,  und  die  erstere  als  Folge  allzugrosser  Esslust,  die  Dysurie 
aber  als  Folge  einer  „noch  schändlicheren  Unmässigkeit"  bezeichnet. 

„Dysurie"  ist  nach  der  Definition  des  Galen  vorhanden,  wenn  die  Miction  entweder 
mit  Schmerzen  verbunden  ist  oder  nur  sehr  schwer  von  statten  geht*).  Er  führt  die 
schmerzhafte  Dysurie  auf  Entzündung  ((p).eyi.iovi']),  Eiterung  (djiöönjfia) ,  Geschwüre 
{sXy.coac;),  abnorme  Dyskrasie  und  abnormes  Pneuma  zurück,  die  bloss  funktionelle  auf 
Blasenschwäche  oder  eine  Geschwulst^).  Das  ist  im  ganzen  eine  sehr  gute  Zusammen- 
stellung der  verschiedenen  Arten  von  Dysiuie,  die  auch  nach  unserer  Auffassung  bei  ent- 
zündlicher Reizung  von  Blase  und  Harnröhre  (z.  B.  bei  Erkältung,  die  auch  Galen  XVI, 
415  als  Ursache  von  dvoovgi'a  anführt),  bei  Eiterungen  (Gonorrhoe,  Cystitis,  Tuberkulose, 
Blasensteine),  bei  schweren  Erkrankungen  anderer  Theile  und  schweren  Dyskrasien,  aus 
mechanischen  Gründen  (Prostatahypertrophie,  Tumoren,  Strikturen)  vmd  rein  funktionell  bei 
nervösen  Leiden  (Neurasthenie,  Hysterie  u.  s.  w.)  vorkommen.  Die  Zusammenstellung  von 
Dysenterie  und  Dysurie  in  dem  Citat  des  Cicero  ist  vielleicht  nicht  zufällig,  sie  findet  sich 
auch  bei  Galen  (XVII  A  349)  imd  es  ist  ja  bekannt,  dass  gerade  bei  schwerer  Dysenterie 
und  Mastdarmerkrankungen  häufig  schmerzhafte  Dysurie  vorkommt.  Cicero  trennt  in 
seinen  eigenen  Bemerkungen  allerdings  beide  Zustände  und  führt  sie  auf  verschiedene  Ur- 
sachen zurück. 


1)  M.  TuUii  Ciceronis  Opera  ed.  Jos.  Caspar  Orellius,  Vol.  III,  Pars  I,  Zürich  1829, 
p.    168  (Epistol.  ad  Familiär.  VII,  26). 

2)  Aehnlich  sagt  Guyon:  ,,Die  Kranken  bezeichnen  mit  der  geläufigen  Phrase  »Ich 
kann  nicht  gut  urinieren«  sowohl  Schwierigkeiten  als  Schmerzen  beim  Harnlassen 
(Die  Krankheiten  der  Harnorgane,  übers,  von  Kraus  u.  Zuckerkandl,  Wien  1897, 
Bd.  I,  S.   22). 

3)  Galen  ed.  Kühn,  Bd.  XVIIIA,  S.  153  — 154  (Hippocratis  Aphorismi  et  Galeni 
in  eos  commentarii,  Aphor.  VII,  48), 


—      704     — 

Unter  „turpior  intemperantia"  braucht  nun  durchaus  nicht  „Un- 
mässigkeit  im  Geschlechtsgenusse"  verstanden  zu  werden,  sondern  ich 
halte  es  dem  ganzen  Zusammenhange  nach  für  viel  wahrscheinlicher, 
dass  hier  unmässiger  Genuss  alkoholischer  Getränke  gemeint 
ist,  die  ja  sehr  häufig  Zustände  von  Dysurie  herbeiführen.  Denn 
Alkoholismus  galt  auch  den  Alten  für  „turpior"  als  Gefrässigkeit, 
und  es  liegt  nahe,  wie  Verdauungsstörungen  auf  diese,  so  die  Störun- 
gen in  der  Funktion  der  Harnorgane  auf  das  viele  Trinken  zu  be- 
ziehen. Sollte  aber,  was  bei  der  Unklarheit  des  Ausdrucks  nicht  zu 
beweisen  ist,  dennoch  unter  „turpior  intemperantia"  geschlechtliche 
Unmässigkeit  zu  verstehen  sein,  so  wissen  wir,  dass  habituelle  Mastur- 
bation nnd  sexuelle  Excesse  sehr  häufig  Dysurie  auf  rein  nervöser 
Basis  hervorrufen.  Natürlich  hätten  die  Stoiker  vielleicht  dabei  auch 
an  eine  Gonorrhoe  gedacht,  ohne  jedoch  den  richtigen  Causalnexus 
zwischen  dem  Coitus  und  dem  die  Dysurie  zur  Folge  habenden  Tripper 
zu  kennen,  da  man  diesen  ja,  wie  wir  sehen  werden,  auf  ganz  andere 
Ursachen  zurückführte  als  auf  eine  Ansteckung  und  sehr  wohl  an- 
nehmen konnte,  dass  diese  supponierten  nichtcontagiösen  Ursachen 
irgendwie  mit  sexuellen  Excessen  zusammenhingen. 


Ein  weiteres  gewichtiges  Moment  hinsichtlich  der  Unkenntnis 
der  Alten  inbetreff  der  Contagiosität  der  Geschlechtskrankheiten  bildet 
die  Thatsache,  dass  eine  solche  nirgends  in  den  besonderen 
Abhandlungen  über  den  Coitus  und  seine  Hygiene  erwähnt 
wird.  Wenn  man  bedenkt,  welche  Rolle  die  Geschlechtskrankheiten 
und  die  Ansteckungsgefahr  in  den  modernen  Schriften  ähnlicher  Art 
spielen,  so  ist  dieses  Schweigen  der  alten  Aerzte  von  grösster  Be- 
deutung. Sie  kannten  sehr  wohl  die  ix  rä)v  äcpQodioicov  ßXdßtjv  (Rufus 
bei  Oribas.  III,  112),  rechneten  zu  diesen  schädlichen  Folgen  aber 
niemals  die  venerischen  Leiden. 

Schon  einer  der  älteren  Aerzte,  Diokles  von  Karj'stos,  spricht  sich  über  die 
Schädigungen  durch  allzu  häufigen  Genuss  der  Liebe  dahin  aus,  dass  sie  besonders  die 
Nieren,  die  Blase,  Lungen,  Augen  und  das  Rückenmark  treffen  (Oribas.  III,  i8i).  Be- 
sonders eingehend  haben  sich  später  Rufus  von  Ephesus  und  Galen  mit  der  Hygiene  und 
Pathologie  des  Beischlafes  beschäftigt.  Die  Abhandlung  des  Rufus  (bei  Oribas.  I,  540 
bis  551  u.  III,  112 — 113)  ist  eine  förmliche  Monographie  und  enthält  recht  interessante 
und  gute  Beobachtungen  über  Aspermatismus,  die  schädlichen  Wirkungen  nächtlicher 
Pollutionen  u.  a.  Interessant  ist,  dass  er  den  mit  einer  Krankheit  (v6ot]j.ia  ri)  der  Blase  und 
Niere  Behafteten  den  Coitus  verbietet,  ebenso  wie  den  Epileptikern  und  Maniakalischen. 
Der  Geschlechtskrankheiten  gedenkt  er  mit  keinem  Worte.  Galen s  Ausführungen  (als 
besondere  Abhandlung  tieoi  dcpoodioicov  bei  Kühn  V,  911 — 914,  und  später  bei  Oribas. 
ed.  Bussem.    et  Dar.  I,    536 — 540,    sowie  Oribas.  III,    109 — 112)   gehen    dahin,    dass    der 


—      705      — 

Coitus  besonders  Brust,  Lunge,  Kopf  und  Nerven  in  Mitleidenschaft  zieht,  daß  im  Alter 
der  Pubertät  viele  Jünglinge  infolge  vorzeitigen  und  excessiven  geschlechtlichen  Verkehrs  von 
unheilbaren  Krankheiten  befallen  werden  (xal  zro/.loi  fjSr]  i^  äcfoodiaioyv  avt^HEora  e:jadov), 
dass  aber  auch  die  Enthaltsamkeit  üble  Folgen  hat.  Auch  bei  Galen  fehlt  jede  Andeutung 
der  Gefahr  venerischer  Ansteckung  beim  Geschlechtsverkehr.  An  einer  anderen  Stelle  (De 
remediis  parabilibus  lib.  II  c.  38  =^  Kühn  XIV,  485)  erwähnt  er  Heilmittel,  die  ver- 
hindern sollen,  dass  die  weiblichen  Genitalien  in  coitu  nicht  nässen  (^gog  rö  f^ii]  y.advygai- 
veodat  rö  alöoTov  iv  zaig  ovrovotaig  rwv  yvvaixmrj,  ein  Beweis,  dass  er  krankhafte  Ab- 
sonderungen aus  den  weiblichen  Geschlechtsteilen  lediglich  als  Gegenstand  des  Ekels  auf- 
fasst,  nicht  aber  an  ihre  mögliche  Contagiosität  denkt.  Unter  den  Aphrodisiacis,  die  an 
dieser  Stelle  angeführt  werden,  fehlen  denn  auch  gänzlich  die  naheliegenden  Prophylaktica 
gegen  venerische  Ansteckung.  Ganz  ähnlich  ist  auch  dem  Aretaios  die  Gonorrhoe  (und 
der  Samenfluss)  arep.Tfs  de  xal  mjdkg  /^leacpi  dxoijg,  ein  „ekelhaftes  Leiden,  von  dem 
man  nicht  gerne  sprechen  hört"  (De  causis  et  sign,  chron.  morb.  lib.  II  c.  5),  aber  kein 
ansteckendes.  Schon  bei  Hippokrates  (de  nat.  muliebri  Kühn  II,  538)  wollen  die  Frauen 
wegen  Leukorrhoe  nicht  mit  dem  Manne  verkehren:  xal  reo  dvdgl  imo  z^g  vygöttjTog.  ovx 
I^eXei  /aioysa^ai. 

Es  waren  also  rein  ästhetische  Gründe,  die  eine  Contra- 
indikation des  Coitus  bildeten,  wie  die  von  Galen  erwähnte  reich- 
liche Absonderung  der  Genitalien,  wozu  gewiss  auch  Geschwüre  und 
nässende  Condylome  gehörten,  ferner  der  üble  Geruch  derartiger  Affek- 
tionen, der  besonders  grossen  Abscheu  vor  dem  Coitus^)  erweckt 
haben  wird,  nicht  aber  die  Vermutung  irgend  einer  Ansteckungs- 
gefahr. 


Als  ein  sehr  gewichtiges  Moment,  das  gegen  die  Kenntnis  der 
Ansteckungsfähigkeit  der  venerischen  Leiden  im  Altertum  spricht, 
muss  endlich  nochmals  die  Thatsache  hervorgehoben  werden,  dass 
niemals  bei  Gelegenheit  der  Aufzählung  schlechter  Eigenschaften 
und  verderblicher  Einflüsse  der  Prostituierten  die  von  ihnen  drohende 
Ansteckungsgefahr  erwähnt  wird.  Das  ist  so  auffällig  im  Hin- 
blick auf  die  spätere  Zeit,  wo  in  der  belletristischen  und  ärztlichen 
Litteratur  gerade  diese  gefährliche  Seite  der  Prostitution  stets  primo 
loco  genannt  wird,  dass  dieses  Schweigen  der  alten  Autoren  und 
dieses  Fehlen  des  Behaftetseins  mit  venerischen  Leiden  unter  den 
zahlreichen  Epitheta  der  Huren  die  Frage  im  Sinne  einer  LTnkennt- 
nis  der  Ansteckungsfähigkeit  und  Uebertragbarkeit  dieser  Krank- 
heiten entscheidet. 


i)  Wie  sehr  gerade  übler  Geruch  bei  der  geschlechtlichen  Annäherung  gefürchtet 
war,  haben  wir  früher  gesehen.  „Numquid  te  osculum  meum  offendit?  fragt  Circe  den 
Encolpios  (Petron.  128)  in  der  Furcht,  üblen  Geruch  an  sich  zu  haben.  Daher  auch  der 
Spottname  ygdocov  bei  Athen.  XIII,  49,  p.  5856;  vgl.  ferner  Anthol.  Palatin.  XI, 
no.  239  bis  242. 


—      -job     — 

Schon  F.  A.  Simon')  drückt  seine  Verwunderung  darüber  aus,  dass  „selbst  beim 
Athenaeus,  dessen  dreizehntes  Buch  seiner  öemvooofpiotai  d.  h.  Gespräche  mehrerer  Sophisten 
bei  einem  Gastmahl,  sich  ganz  und  gar  mit  dem  Kurtisanenwesen  der  Griechen  beschäftigt, 
und  wo  alle  schlechten  Eigenschaften  der  Hetären  zur  Sprache  kommen,  ihre  tolle  Ver- 
schwendung, die  Schlauheit  und  Habsucht,  mit  welcher  sie  ihre  Liebhaber  ausplündern  u.  s.  w., 
nie  und  nirgends  von  schlimmen  Krankheiten  die  Rede  ist,  welche  aus  dem  Umgange  mit 
ihnen  entspringen  können.  Dasselbe  gilt  von  den  Kurtisanengesprächen  des  Lucian  und 
von  den  Kurtisanenbriefen  des  Alciphron  und  Aristenetus.  In  den  Dialogen  wirft  eine 
Nebenbuhlerin  der  andern  alle  ihre  körperlichen  Fehler  vor,  um  sie  ihrem  Liebhaber  zu 
verleiden ;  sollte  sie  da  wohl  eine  schimpfliche  und  ansteckende  Krankheit  vergessen  haben, 
wenn  eine  solche  damals  so  bekannt  und  gewöhnlich  gewesen  wäre,  wie  bei  uns?  — 
Gewiss  nicht;  wahr  oder  unwahr,  sie  würde  ihre  Nebenbuhlerin  auch  damit  wenigstens  ver- 
dächtigt haben." 

Die  Liste  lässt  sich  noch  durch  andere  bezeichnende  Stellen 
ergänzen,  an  denen  wir  bestimmt  eine  Erwähnung  der  venerischen 
Leiden  der  Huren  erwarten  würden,  falls  die  Ansteckungsfähigkeit 
bekannt  gewesen  wäre.  So  z.  B.  bei  Aristophanes  Eccles.  749 — 751, 
wo  die  Frauen  den  Huren  das  Handwerk  legen  wollen,  die  die  Jüng- 
lingskraft vergeuden,  so  bei  Lucretius  IV,  1130 — 1152,  wo  dem 
Verliebten  geraten  wird,  die  Fehler  und  Gebrechen  seiner  An- 
gebeteten zu  erforschen,  um  sich  von  seiner  Leidenschaft  zu  be- 
freien und  wo  diese  Fehler  einzeln  aufgezählt  werden,  bei  Petron. 
128,  wo  Circe  den  Encolpios  nach  dem  Grunde  seiner  sexuellen 
Kälte  fragt  und  einige  mögliche  Ursachen  der  Furcht  und  des  Ab- 
sehens vor  ihr  aufzählt.  Auch  bei  der  von  Lucretius  IV,  11 77 — 1178 
erwähnten  Thatsache,  dass  die  Weiber  beim  Coitus  ihre  Fehler  zu 
verbergen  suchen,  vermissen  wir  die  naheliegende  Erwähnung  einer 
venerischen  Krankheit.  Das  Gleiche  gilt  von  dem  die  etwaigen 
Fehler  der  Saufeja  spezialisierenden  Epigramm   III,  72    des  Martial: 

Vis  futui,  nee  vis  mecum,  Saufeia,  lavari, 
Nescio  quod  magnum  suspicor  esse  nefas, 
Aut  tibi  pannosae  dependent  pectore  mammae, 
Aut  sulcos  uteri  prodere  nuda  times, 
Aut  infinito  lacerum  patet  inguen  hiatu, 
Aut  aliquid  cunni  prominet  ore  tui. 
Sed  nihil  est  bonum,  credo,  pulcherrima  nuda  es. 
Si  verum  est,  vitium  peius  habes:  fatua  es. 

Auch  in  den  Epigrammen  der  Wandinschriften,  die  so  oft  sich 
mit  Huren  und  männlichen  Prostituierten  beschäftigten,  vermissen  wir 
eine  klare  Andeutung  venerischer  Krankheiten.  So  fehlt  sie  in  dem 
drastischen  Carmen  Priapeum  XL  VI,  das  eine  schmutzige,  mit  Läusen 
behaftet  Dirne  und  den  Ekel,  mit  ihr  zu  verkehren,  schildert: 

I)  F.  A.  Simon,  Kritische  Geschichte  des  Ursprungs,  der  Pathologie  und  Behand- 
lung der  Syphilis,  Hamburg   1857,  Bd.  I,  S.   82. 


O  non  candidior  puella  Mauro 
sed  morbosior^)   omnibus  cinaedis, 
Pygmaeo  brevior  gruem  timente, 
ursis  asperior  pilosiorque, 
Medis  laxior  Indicisve  bracis, 
manes  hie  licet  ut  libenter  ires: 
nam  quamvis  videar  satis  paratus, 
erucarum  opus  est  decem  maniplis, 
fossas  inguinis  ut  teram  dolemque 
cunni  vermiculos  scaturrientis. 

Dagegen  scheinen  auf  den  ersten  Blick  zwei  schon  früher  mit- 
geteilte pompejanische  Wandinschriften  derartige  Hinweisungen  auf 
venerische  Leiden   zu   enthalten  2).     Das   erste  (s.  oben  S.  563)  lautet: 

Accensum  qui  pedicat,  urit  raentulam. 

d.  h.  „Wer  den  Accensus  (obrigkeitlicher  Diener)  pädiziert,  verbrennt 
(verletzt,  entzündet  sich?)  den  Penis."  Es  liegt  nahe,  hier  an  eine 
Gonorrhoe  zu  denken,  nach  Analogie  mit  der  Bedeutung  des  mittel- 
alterlichen Ausdrucks  „Verbrennen"  für  Gonorrhoe.  Ob  das  latei- 
nische Wort  diese  Bedeutung  hat,  ist  zweifelhaft.  Vielleicht  handelt 
es  sich  nur  um  eine  Verletzung  oder  Entzündung  infolge  eines 
mechanischen  Missverhältnisses.  Immerhin  ist  die  Stelle  sehr  be- 
merkenswert, w'enn  sie  auch  für  die  Kenntnis  der  Contagiosität  vene- 
rischer Krankheiten  nicht  verwertet  werden  kann. 
Die  zweite  Inschrift  (s.  oben  S.  533)  lautet: 

Hie  ego  nu   [nc  f]  utui 

formosa  (m)  fo[r]ina,  puella  (m), 

Laudata  (m)  a  multis,  sed  lutus  intus  erat. 

„Hier  habe  ich  soeben  das  (ein?)  hübsche  Mädchen  coitiert,  das 
von  vielen  gepriesen  wird,  aber  (ach!)  sie  barg  Dreck  (Koth)  in  ihrem 
Innern." 

Ob  es  sich  in  diesem  Falle  um  geschlechtliche  Ansteckung 
handelt  oder  nicht,  ist  nicht  zu  entscheiden,  kann  aber  auch  nicht 
ausgeschlossen  werden.  Mir  scheint  es,  als  ob  hier  bloss  der  Kon- 
trast bei  der  äusseren  Schönheit  und  der  schmutzigen  Beschaffenheit 
der  Genitalien  (durch  Unsauberkeit  oder  Krankheit)  zum  Ausdruck 
gebracht  werden  soll.  Endlich  könnte  das  Wort  „lutus"  auch  auf 
einen  „dreckigen"  Charakter,  eine  „Dreckseele"  gehen,  was  ja  bei 
Mädchen  dieser  Art  nicht  weiter  verwunderlich  ist. 

Um  ganz  vollständig  zu  sein,  muss  noch  bemerkt  werden,  dass 
in  einer  dritten  verstümmelten   pompejanischen  Inschrift  (Corp.  Inscr. 


1)  Hier  im  Sinne  von  ,, lasterhaft"  gebraucht. 

2)  Für   die    genaue    Uebersetzung    beider    Inschriften    bin    ich    einem    hervorragenden 
klassischen  Philologen  zu  Dank  verpflichtet. 


—      joS      — 

Latin.  Nr.  15 17),  die  auch  mit  dem  Bericht  über  den  Coitus  mit 
einem  schönen  Mädchen  beginnt,  unmittelbar  darauf  das  Wort 
„Morbus"  folgt.  Der  Zusammenhang  lässt  sich  nicht  mehr  feststellen, 
da  das  Fehlende  nicht  zu  rekonstruieren  ist. 

Die  Gründe,  weshalb  den  Alten  eine  klare  Erkenntnis  der  Con- 
tagiosität  der  venerischen  Krankheiten  abging,  sind  schon  im  Ein- 
gang dieses  Paragraphen  dargelegt  worden.  Rosenbaum  hat 
ausserdem  noch  darauf  hingewiesen^),  dass  man  die  Genitalkrank- 
heiten vielfach  als  Strafen  der  Götter,  speziell  der  Liebesgötter 
(Aphrodite,  Priapos,  Dionysos  u.  s.  w.)  ansah.  Dieser  göttliche  Ur- 
sprung galt  noch  in  der  christlichen  Zeit,  wie  die  Erzählung  des 
Palladius  bezeugt.  Ebenso  geht  der  Glaube  an  den  astrologischen 
Ursprung  der  Genitalkrankheiten-)  auf  die  Alten  zurück,  unter  denen 
sich  sogar  einzelne  Aerzte  wie  z.  B.  Krinas  aus  Massilia  (PI in.  nat. 
hist.  29,  I,  4)  der  Astrologie  in  ihrer  Praxis  bedienten.  Julius 
Firmicus  Maternus,  der  in  seinen  um  350  n.  Chr.  verfassten  acht 
Büchern  über  Astrologie  (Matheseos  libri  VIII,  Pars  I,  ed.  Sittl, 
Leipzig  1894)  eine  vollständige  Theorie  des  astrologischen  Aber- 
glaubens entwickelte,  hat  schon  die  Ansicht  ausgesprochen  (lib.  III 
c.  7  u.  8),  dass  eine  gewisse  Konstellation  der  Venus  bei  der  Geburt 
dem  betreffenden  Individuum  den  ,,mors  per  gonorrhoeam,  id 
est  defluxionem  seminis"  bringe. 


§  42     Die  antike  Venereologie. 

Nach  der  Erörterung  der  ätiologischen  Anschauungen  der  Alten 
über  die  venerischen  Krankheiten  gehen  wir  nunmehr  zu  einer  Dar- 
stellung der  klinischen  Venereologie  im  Altertum  über,  von  der  ge- 
trost behauptet  werden  kann,  dass  sie  dem  damaligen  Stande  des 
Wissens  und  der  theoretischen  Anschauung  gemäss  nicht  im  ge- 
ringsten hinter  den  übrigen  medizinischen  Disziplinen  zurückstand. 
Noch  einmal  sei  dem  Urteil  Rosenbaums  über  die  angebliche  Un- 
wissenheit der  alten  Aerzte  auf  diesem  Gebiete  nachdrücklich  wider- 
sprochen. Was  soll  man  dazu  sagen,  wenn  Rosenbaum ')  das  Bei- 
spiel eines  von  Martial  (VI,  31)  verspotteten  Arztes,  der  mit  einer 
Patientin  geschlechtlich  verkehrt  hat,  dazu  benutzt,  um  den  Aerzten 
der  Kaiserzeit  überhaupt    nachzusagen,   dass  sie  sich  absichtlich  den 


1)  a.  a.   O.   S.   72  ff. 

2)  Vgl.  oben  Teil  I,  S.   24. 

3)  a.  a.   O.   S.   404. 


—      709      — 

Weg  zur  genaueren  Erforschung  versperrt,  sich  wenig  um  die  Kultur 
der  Wissenschaft  und  Aufzeichnung  von  Erfahrungen  gekümmert 
hätten,  deren  VeröffentHchung  gegen  ihr  eigenes  Interesse  gewesen 
wäre!  Oder  wenn  er  das  bissige  Urteil  des  Apulejus  (Metamorphos. 
X  c.  2)  über  die  Aerzte,  die  die  Liebeskrankheit  (venerea  cupido) 
nicht  erkannt  hatten,  dahin  verallgemeinert,  dass  das  Publikum  über- 
haupt zu  den  Aerzten  hinsichtlich  der  Geschlechtskrankheiten 
wenig  Vertrauen  gehabt  habe!  Diese  Methode  der  Argumentation 
richtet  sich  durch  sich  selbst.  Wir  werden  im  Gegenteil  sehen,  dass 
das  Wissen  der  antiken  Aerzte  in  rebus  venereis  ein  sehr  beträcht- 
liches war. 

I.  Untersuchungsmethoden  und  diagnostisch-therapeu- 
tisches Instrumentarium.  —  Da  die  klinische  Beobachtung  der 
Alten  eine  rein  formalistische  war  und  meist  jeweils  nur  die 
Reihenfolge  der  einzelnen  Symptome  feststellte,  ohne  sich  mit  ihrer 
Pathogenese  und  ihrem  kausalen  Zusammenhange  näher  zu  be- 
schäftigen, so  resultierten  hieraus  manche  Unklarheiten  in  den 
Krankheitsschilderungen,  die  den  modernen  Arzt  vielfach  lückenhaft  und 
fragmentarisch  anmuten.  Auf  der  anderen  Seite  führte  das  forma- 
listische Prinzip  zu  einer  subtilen  Diagnostik,  die  beispielsweise  bei 
den  Excrescenzen  eine  ganz  der  äusseren  Erscheinung  entlehnte 
Terminologie  schuf,  so  dass  man  nicht  selten  die  Einheitlichkeit  des- 
selben Leidens  verkannte,  nur  weil  es  unter  verschiedenen  Formen 
auftrat.  Bei  den  Details  der  weiter  unten  zu  erörternden  venereolo- 
gischen  Terminologie  werden  wir  diesen  Punkt  stets  zu  berück- 
sichtigen haben. 

Schon  Celsus  (VI,  18)  hat  auf  die  reiche  Terminologie  der 
Genitalleiden  bei  den  Griechen  hingewiesen,  die  durch  die  Schriften 
der  Aerzte  und  die  Umgangssprache  verbreitet  sei,  während  die 
Römer  weniger  Benennungen  dafür  hätten. 

Die  Venereologie  gebot  ferner  über  ein  vorzügliches  Instru- 
mentarium für  diagnostische  und  therapeutische  Zwecke.  Gurlt 
hat  in  seiner  vorzüglichen  Geschichte  der  Chirurgie  die  verschiedenen 
Instrumente  nach  den  Autoren  von  Hippokrates  bis  auf  Paulus 
von  Aegina  zusammengestellt.  Wir  entnehmen  seinem  Verzeichnis^) 
die   auch   für  die  Venereologie  in   Betracht  kommenden  Instrumente. 

Instrumente  bei  Hippokrates*), 
6  f^ioTÖg  Sonde  (De  capitis  vulneribus  cap.    19), 
6  fi.  arsQsög  solide  Sonde, 

i)  E.  Gurlt,  Geschichte  der  Chirurgie  und  ihrer  Ausübung,  Berlin  1898,  Bd.  I, 
S.  314,  505 — 519,   593.  —  Einzelne  Stellenangaben  sind  von  mir  hinzugefügt  worden. 

2)  Vgl.  auch  Robert  Fuchs  in  Puschmanns  Handbuch,  Bd.  I,  S.   257  —  258. 


fj  ixrjXrj  xaaamQivr]  solide  Sonde, 

^  ^^ktj  xaoaixEQivrj  in    äxQov  jexQijfisvr]  geöhrte  Zinnsonde, 

t6  nrsQov  Federkiel  und  ^  xvarig  Blase  zu  Einspritzungen, 

»7  avQiy^  Röhre,  Kanüle, 

6  ai'Xloy.og  Katheter  (De  morbis  I,  6), 

o  /.lOTog  y.aaoizEQivog  y.oiXog  zinnernes  Rohr, 

6  xarojizrJQ  Mastdarmspiegel  (De  haemorrhoidibus  cap.   5,  De  fistulis  III). 

Instrumentarium  der  römischen  Kaiserzeit. 

jy  /iii^Xij  specillum,  Sonde  [aus  Bronze,  Silber  und  Zinn], 

»/  jiXaTVfirjXrj  breite  Sonde  (Heliodoros), 

o  oHÖX.oyj  zweischneidiges  Strikturenmesser  (Heliodoros  bei  Oiib.  IV,  472), 

ra  xavzrjQia  Glüheisen,  ferramenta  candentia  (Herodotos  bei  Orib.  II,  409), 

fj  /.aßi'g,  To  juvdiov  vulsella,  volsella,  Pinzette  (Heliod.  bei  Orib.  IV,  473   —  vgl.  über  das 

iivöiov  Haeser  a.  a.  O.  Bd.  I,  S.   509), 
to  TQiy[o/.dßior,  rj   TQiyo/.aßig  Haarzange, 
o  av'/.iay.og,  6  xa&ExrjQ,  fistula,  Katheter'), 
o  avXioxog,  6  xXvoxfjQ,   canula,    fistula,   sipho,    clyster,    Röhrenkanülen,  Spritzen  aus  Bronze 

oder  Blase  mit  daran  befestigter  Kanüle*), 
x6  x/.vaT7]Qidiov  Injektionsspritze  (Soran.  II,    18,  §  59), 
^  dconxga  Speculum    (für  Scheide  und  Mastdarm)    drei-  bis    vierblättrige  Specula   (Soran us 

II,   34,  nsoi  dio.-TXQiofiov ;  Aet.   XVI,  90;  Paul.  Aeg.  VI,   73), 
x6  aoilrjvaQiov  kleine  Röhre  (aus  Bronze  oder  Zinn,  Heliodoros  bei  Orib.  IV,  473), 
to  inwxrjoiov  Bougie  (aus  Papyrus,  Heliod.  bei  Orib.  IV,  473), 
novacula,   Rasiermesser  (Cels.  VI,  4), 
specillum   tenue,  tenuius  (Cels.  VIII,   2), 
fifjlai  öiJivQtjvai  specilia  bicipita  s.  bicapitulata,  zweiknöpfige  Sonden*). 

Instrumente  bei  Galen. 

rö  biojivoivov  Sonde  mit  Knopf  an  jedem  Ende  (XVIII A,  479), 

o  xlvoxt)o  (XVI,    120,  X,  301), 

6  fxrjXQsyyvxrjg  Mutterspritze  (XIII,   316), 

fj  xvaxig  xoiQsia  Schweinsblase  zu  Einspritzungen, 

o  xavxrjQ,  x6  xavxrjQiov  Glüheisen  (XI,  415;  X,  325;  XVII B,   326  u.  ö.), 

x6  ^vQÜcpiov  TisnvQojfis^'oi'  glühendes  Messer, 

o  ovQcov  Röhre, 

TO  aco?.7]vägiov  kleine  Röhre, 

o  avXiaxog  sv&vxQtjxog  gerade  Röhre, 

d  xa&ExriQ  (VIII,    1 1 ;  XIV,  788,  u.  ö.)  Katheter. 


i)  Man  hatte  gebogene  imd  gerade  Katheter  für  einen  erwachsenen  Mann  (s.  Tafel  II, 
Fig.  67,  69  bei  Gurlt  a.  a.  O.),  gebogene  für  einen  Knaben  luid  weibliche  Katheter 
(Fig.  66,  68).  Cels  US  (VII,  26,  i)  erwähnt  drei  Katheter  von  verschiedenem  Kaliber  für 
das  männliche  und  zwei  für  das  weibliche  Geschlecht,  von  je  15,  12,  9  Zoll  bezw.  9  und 
6   Zoll  Länge.     Er  beschreibt  eingehend  die  Technik  des  Katheterismus. 

2)  Vgl.  Tafel  III,  Fig.  99  a  u.  b,   lOOa,  b,  c  bei  Gurlt  a.  a.  O. 

3)  Tafel  II,  Fig.  6,   14  bei  Gurlt. 


—     711      — 

Instrumente   bei  Antyllos. 
t6  dfi<pifZT]kov  Sonde  mit  doppeltem  Knopf, 
o  fir)TQsy/vzt]g  Mutterspritze   (Oribas.  II,   442), 
tÖ  xavzrjoiov  Glüheisen, 
rö  tjicoxrjQiov  Bougie, 
o  iSgodiaaro/^vg  Aftererweiterer, 

rö  fitxQov  diÖTizgiov  kleines  Spekulum,  Mastdarmspiegel, 
6  y.adExt)Q  Katheter, 

xaaoizEQivoQ  ooiltjv  xvx)MZEQrig  runde  Zinnröhre  oder  Spritze  (Orib.  III,   573). 
z6  (pvadoiov  Blasebalg  für  Injektionen  (Orib.  II,  442). 

Paulos  von  Aegina. 
z6  duivgrjvov  Sonde  mit  zwei  Knöpfen, 
^  tpcdig  knäicixrj  scharfe  Scheere, 

z6  nvQrjvoEideg  y.avzrjQioi'  sondenknopfförmiges  Glüheisen, 
o  xavarrjQog  oidrjgog  Glüheisen, 
6  aifioggoidoHavozrjg  Hämorrhoidenbrenner, 
o  x(^Ä>covg  y.aÄa^loxog  Bronzeröhre, 
o  avkioHog  fioXvßöivog  Bleiröhre, 
at  naiMfiiÖEg  «Lto  jIzeqojv  ^rjvaioiv  Gänsekiele. 
z6  acoXrjvägiov  fioXißSovv  kleine  Röhre  für  die  Urethra  (VI,   57). 

Man  ersieht  daraus,  daß  den  Alten  sowohl  für  die  Diagnostik 
als  auch  für  die  Therapie  der  venerischen  Affektionen  und  der 
Krankheiten  des  Afters  und  der  männlichen  und  weiblichen  Ge- 
schlechtsteile ein  reichhaltiges  Instrumentarium  zur  Verfügung  stand. 
In  Verbindung  mit  einer  bereits  sehr  detaillierten  und  relativ  exakten 
Kenntnis  der  Anatomie  der  männlichen  und  weiblichen  Geni- 
talien i)  konnte  auf  solcher  diagnostisch-therapeutischen  Grundlage  auch 
der  klinische  Teil  der  antiken  Venereologie  zu  einer  achtbaren  Höhe  ent- 
wickelt werden,  soweit  dies  die  humoralpathologische  Auffassung  zuliess. 

Unter  den  venereologischen  Untersuchungsmethoden  nehmen 
vor  allem  die  verschiedenen  Specula  und  die  Katheter  und 
Sonden  unser  Interesse  in  Anspruch. 

Die  älteste  Erwähnung  eines  Speculums  findet  sich  im  Corpus 
hippocraticum,    und   zwar    in   der  Schrift   de  haemorrhoidibus  cap.  V 

1)  Ueber  die  Einzelheiten  der  Anatomie  der  weiblichen  Genitalien  bei  den  Hippo- 
kratikern  vgl.  das  Verzeichnis  der  Namen  bei  Robert  Fuchs  in  Puschmanns  Handbuch, 
herausg.  von  Neuburger-Pagel,  Jena  1901,  Bd.  I,  S.  264 — 265.  —  Ferner  H.  Fas- 
bender, Geschichte  der  Geburtshülfe,  Jena  1906,  S.  10,  22,  33 — 36,  50;  Bucher,  Die 
noch  heute  interessierenden  Angaben  des  Hippokrates  über  geburtshülf liehe  und  gynäko- 
logische Gegenstände,  Inaug.-Dissert.,  Strassburg  1896.  Vor  allem  aber  sei  verwiesen  auf 
die  grosse  Uebersicht  bei  Oribasius  (III,  363 — 382,  390 — 391),  wo  die  Anatomie  der 
Blase,  und  der  äusseren  und  inneren  männlichen  und  weiblichen  Genitalien  nach  Galen, 
Soranos,  Rufus  sehr  ausführlich  erörtert  wird.  —  Nach  Galen  (de  semine  II  cap.  i 
Kühn  IV,  596)  hatte  auch  Herophilus  eine  ausführhche  Abhandlung  über  die  Anatomie 
der  Genitalien  verfasst. 


und  de  fistulis  cap.  III,  wo  der  Mastdarm  Spiegel  xaxomrjQ  er- 
wähnt wird.  An  ersterer  Stelle  heisst  es  nach  der  Uebersetzung 
von  Robert  Fuchs  (III,  304):  „Wenn  aber  die  Feigwarze  (;<ovdyAcom?)^) 
weiter  oben  sitzt,  so  muss  man  mit  dem  Mastdarmspiegel  unter- 
suchen und  sich  dabei  durch  den  Spiegel  nicht  täuschen  lassen ; 
denn  dadurch,  daß  er  sich  öffnet,  macht  er  die  Feigwarze  eben, 
während  er  sie  andererseits,  wenn  er  sich  wieder  zusammenschließt, 
von  Neuem  gut  hervortreten  läßt"  -).  In  Kapitel  III  von  „de  fistulis" 
ist  von  einem  Aufsuchen  der  inneren  Mündung  der  Mastdarmfistel 
mit  dem  xaTomrjQ  die  Rede  ^). 

Was  nun  das  Scheidenspeculum  betrifft,  so  findet  sich  die 
erste  literarische  Erwähnung  bei  Soran  (zur  Zeit  des  Trajan  und 
Hadrian).  Es  geht  aber  aus  der  Stelle  hervor,  daß  der  diojnQiajuög, 
die  Anwendung  des  Mutterspiegels,  schon  lange  bekannt  war'^),  ob- 
gleich sie  merkwürdiger  Weise  ein  Autor  wie  Aretaeus  nicht  zu 
kennen  scheint.  Dieser  macht  nämlich  bei  der  Diagnose  des  Uterus- 
carcinoms  die  interessante  Bemerkung,  dass  Erfahrene  das  Uebel 
durch  Touchieren  erkennen,  auf  eine  andere  Weise  sei  es  gar 
nicht  zu  diagnostisieren^). 

Soran  behandelte  die  Anwendung  des  Mutterspiegels  in  einem 
besonderen  Kapitel  (II,  34),  von  dem  uns  nur  der  Titel  tisoI  öioti- 
Toiojuov  erhalten  ist.  Es  enthielt,  wie  wir  aus  der  lateinischen  Ueber- 
setzung des  Muscio  ersehen  eine  sehr  interessante  Beschreibung  der 
Technik    des   Dioptrismus  ^).      Wesentlich    auf    ihr    beruht   wohl  auch 

i)  Hierunter  wird,  wie  sich  aus  Kap.  IV  ergibt,  ein  feigwarzenähnlicher  Hämorrhoidal- 
knoten  verstanden. 

2)  'Hv  de  dvcozegog  fj  ^  xovdvkcoaig,  reo  xaxouTfJQi  axEmead-ai  xai  fxi]  i^aTtaräo&ai 
VTio  xov  xaroJixfJQog.  Sirjyovfisvog  yäg  of.ia}.vvEi  t)jv  xovSv^.coow.  ^vvayofisvog  Öe  Tiähv 
SeiHvvoiv  dodöjg. 

3)  ...  y.al  ai'dig  8ia  zfjg  rpvoiyyog  vjitiov  xazaxXivag  xov  avd^qomov,  xaxonxi]oi 
xaxidwv  x6  öiaßeßQOJfjJvov  xov  dg^ov,  xavxi]  xr]v  q>voiyya  disTvai  .... 

4)  Das  beweisen  die  in  Pompeji  aufgefundenen  Specula  matricis.  Vgl,  Haeser, 
a.a.O.  I,  499  und  E.  Guhl  und  W.  Koner,  Das  Leben  der  Griechen  und  Römer,  2.  Aufl., 
Berlin  1864,  S.  650.  Soran  hat  vielleicht  von  Archigenes,  den  er  benützt  hat  (vgl. 
Well  mann,  Pneumatische  Schule,  S.  8)  die  bei  Aetios  (XVI,  90)  erhaltene  Beschreibung 
des  Mutterspiegels  entlehnt. 

5)  Aretaei  Cappadocis  de  causis  et  signis  diuturnorum  morborum  Hb.  II  cap.  XI, 
ed.  Kühn,  Leipzig  1828,  S.  166:  eaxi  de  Jiejivvjuivoiai  ovx  äatj/nov  xf]  dqpij  ov  ydo 
ü/./.cog  dij/^ov.  — 

6)  Gynaecia  Muscionis  ex  Graecis  Sorani  in  Latinum  translata  sermonem  Lib.  II 
cap.  34  ed.  Valentin  Rose,  Leipzig  1882,  S.  117 — 118:  Qua  disciplina  organo 
aperiendae  sint  mulieres.  —  Scio  me  retro  ad  inspiciendam  altitudinem  mulieris 
frequentius  organi  mentionem  fecisse  quod  graecitas  dioptran  vocat.  et  quoniam  nisi 
insinuata    fuerit    disciplina    quatenus    hoc   ipsud   fieri  possit,    occurrente  necessitate  obstetrices 


—     713      — 

die  Schilderung  des  Paulus  von  Aegina  (Lib.  VI  c.  73),  die  wir 
im  griechischen  Originale \)  und  nach  der  Uebersetzung  von  Haeser^) 
wiedergeben : 

„Um  zu  operieren,  wird  die  Frau  auf  einen  hohen  Stuhl  gesetzt,  die  Beine  gegen 
den  Unterleib  gezogen,  die  Schenkel  ausgespreizt.  Die  Anne  werden  in  die  Kniekehle 
gelegt,  und  dort  mit  Binden  befestigt,  welche  um  den  Hals  geschlungen  werden.  Der 
Operateur  sitzt  auf  der  rechten  Seite,  und  gebraucht  das  Speculum  (ÖiojixqiCet(o) ,  ange- 
messen dem  Alter  der  Kranken.  Der  das  Speculum  Anwendende  muss  mit  einer  Sonde 
die  Tiefe  der  weiblichen  Scheide  ausmessen,  damit  nicht  etwa,  wenn  der  Kanal  (Xcozög)  des 
Speculums  zu  gross  (lang)  ist,  der  Uterus  gedrückt  werde.  Und  wenn  sich  findet,  dass  der 
Kanal  des  Speculums  grösser  (länger)  ist  als  die  Scheide,  so  müssen  Compressen  auf  die 
grossen  Schamlippen  gelegt  werden,  damit  sich  das  Speculum  auf  dieselben  stütze.  Man 
muss  dasselbe  aber  so  einführen,  dass  der  Theil,  an  welchem  sich  die  Schraube  befindet, 
nach  oben  gerichtet  ist.  Das  Instrument  wird  vom  Operateur  gehalten,  die  Schraube  aber 
vom  Gehülfen  gedreht,  so  dass  die  Branchen  (eAaa/zara)  sich  voneinander  entfernen  und  die 
Scheide  erweitern." 

Eine  wörtlich  hiermit  übereinstimmende  Beschreibung  findet 
sich  bei  Aetios  (XVI,  qo  nach  Archigenes)  ^). 


faccre  non  audent,  idcirco  placuit  nobis  ut  etiam  hoc  gynaeciis  adderemus,  ut  ex  rebus  huic 
corpori  necessarüs  nihil  dimisisse  videamur. 

itaque  supinam  iactans  eam  quae  inspici  habet,  accipies  fasciam  longam  et  in  media 
parte  eins  duobus  laqueis  factis,  ita  ut  inter  se  cubitum  unum  habeant  laquei  illi,  duabus 
vero  manibus  mulieris  missis,  medietatem  quae  interest  cervici  eius  inducis.  deinde  reliqua 
fasciae  sub  anquilas  missa  ad  manus  adligabis,  ita  ut  patefacti  pedes  ventri  eius  cohaereant. 
deinde  accepto  organo  et  uncto  priapisco,  quem  Graeci  loton  dicunt  in  aliquantum  ad  prunas 
calefacere  «debes»,  deinde  sine  quassatione  priapiscum  inicere,  susum  scilicet  axe  posito, 
jubere  etiam  ministro  ut  aperiendo  organo  axem  torquere  incipiat,  ut  paulatim  partes  ipsae 
aperiantur.  cum  vero  post  visum  Organum  tollere  volueris,  ministro  jubere  ut  iterum  axem 
torqueat  quo  Organum  claudi  possit,  ita  tarnen  ut  cum  adhuc  in  aliquantum  patet  sie  aufe- 
ratur,  ne  universa  clusura  aliquas   teneat  et  nocere  incipiat. 

i)  Chirurgie  de  Paul  d'Egine.  Texte  grec  avec  traduction  fran<;ais  en  regard  par 
Rene  Brian,  Paris  1855,  S.  296 — 298:  'Ev  b'e  uo  ivEQysTv  o/_t],uaTi^eodco  1)  yvvij  i:zl 
Si(pQov  vnzia,  avv7]y^h'a  eyovaa  rä  ay.s).rj  Jioog  x6  ejir/äaigiov  xal  rovg  firjoovg  äsi  aV.rjXcov 
SisoTCJoag.  'Y:!ioßeßh'jado}oav  de  avrijg  01  nrjyEi?  vjto  Tag  lyvvag  xal  ßgöyoig  toTg  y.axa).}./]- 
Xotg  ävEiXrjcpßwaav  TiQog  zov  avyEvo..  'O  öe  ivsQyöjv  ix  tcov  Se^icöv  /nsgcöv  xai&ECofiEVog, 
SiojItqiCetco  jfj  TTQog  zijv  rjAixiav  xazaXXtpM  SioTizoa. 

Aei  6e  8io:TzoiQovza  8ia  /in'j/.tjg  avai^iEZQEioßai  ro  zov  xo/.nov  zov  yvvaixEiov  ßdi&og, 
iva  fit],  jXEi^ovog  or'zog  zov  zfjg  diojizoag  /.ojzov,  O/ußsodai  av/i(ßaivi]  zip'  voxEQar.  Kav 
evQEdfj  zov  x6X:jov  fisi^wv  ä)v,  za  Tczvyfxaza  sTzizißEO&co  xaza  zäiv  jizEq^vycofidzcov,  iva  xaz 
avzmv  rj  8i6jiz§a  EÖQa^rjzai.  Aei  8e  xa^isvai  xov  XmxÖv  eig  z6  äva>  fisQog  xov  xoyXiav 
Eyovxa,  xal  XQaxEiodai  /xh'  zijv  diöjzzgav  vtio  xov  ivEgyovvxog,  azQEcpEodai  8e  zov  xoyXiav 
öl    vsii]Q£zov,  iva  düoxafiEvcov  zwv  iXaafxäzoiv  xov  Xwxov  öiaozaXf]  6  x6).:iog. 

2)  H.  Haeser,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Medizin,  Bd.  I,  S.  473. 

3)  Geburtshülfe  und  Gynäkologie  bei  Aetios  von  Amida,  übersetzt  von  Max  Weg- 
scheider,  Berlin    1901,  S.    117. 


—      714      — 

In  einer  nur  in  der  Ausgabe  des  Soranus  von  Dietz  (aap.  119) 
sich  findenden  Stelle  werden  kondylomatöse  Wucherungen  und 
schwielige   Auswüchse    der  Scheide   mit  dem  Speculum    untersucht^). 

Für  die  Diagnose  von  Genitalblutungen  und  beginnendem  Car- 
cinom  erwähnt  der  Talmud  ein  Speculum  in  Form  einer  bleiernen 
Röhre,  von  der  der  257  n.  Chr.  verstorbene  Mar  Samuel  ver- 
langt, dass  sie  an  der  Mündung  nach  innen  umgebogen  sei,  um  nicht 
die  Schleimhaut  zu  verletzen  2). 

Bei  Verengerung  und  Atresie  der  Vagina  aus  verschiedenen 
Ursachen  empfiehlt  Paulus  von  Aegina  die  xd&eoig  diojiroag  (Lib. 
VI  c.  72).  —  Auch  der  Katheterismus  kommt  schon  im  Corpus 
Hippocraticum  vor  und  zwar  in  der  Schrift  mal  vovocov  (Lib.  I, 
cap.  6  ed.  Kühn  II,  173),  wo  der  Verfasser  die  Unfähigkeit,  den 
Katheter  {avXioxog)  in  die  Blase  einzuführen,  tadelt  (jur]d'  elg  xvoriv 
avXioxov  xad^ievTa  övvao'&ai  xa^ievai). 

Die  alexandrinische  Chirurgie  bildete  die  Technik  des  Katheteris- 
mus sorgfältig  aus,  wie  die  Schilderung  des  Celsus  (VII,  26,  i)  be- 
weist. Als  Indikationen  nennt  er  Retentio  urinae  durch  Alter  (Pro- 
statahypertrophie), Blasensteine,  Blutgerinnsel  und  Entzündung  (Go- 
norrhoe, Cystitis).  Der  Arzt  muss  fünf  bronzene  Katheter  von 
verschiedenem  Kaliber,  drei  für  das  männliche  und  zwei  für  das 
weibliche  Geschlecht  vorrätig  halten,  in  der  Länge  von  15,  12,  g  Zoll 
für  Männer  und  9  und  6  Zoll  für  Frauen.  Die  männlichen  Katheter 
haben  eine  stärkere  Krümmung.  Der  Kranke  liegt  hierbei  rücklings 
auf  einer  Bank  oder  einem  Bette,  der  Arzt  steht  auf  der  rechten 
Seite,  fasst  mit  der  linken  Hand  das  Glied  und  führt  mit  der  rechten 
den  Katheter  in  die  Harnröhre  ein.  Ist  er  bis  zum  Blasenhals  ge- 
kommen, so  wird  der  Katheter  mit  dem  Gliede  nach  unten  gesenkt 
und  dann  in  die  Blase  geschoben  und  nach  Entleerung  des  Urins 
wieder  herausgenommen.  Bei  der  Frau  ist  die  Harnröhre  kürzer 
und  grader,  weshalb  bei  ihr  der  Katheterismus  sehr  leicht  auszu- 
führen ist^). 


i)  'O  de  x^i^QO^Qyo?  öiä  rrj?  diöjtzgag  jiqÖxeqov  xaxavoitjoag,  ojioiöv  iari  xö  dvaio- 
xiag  al'riov,  ol'ov  dvfKOv  ixtpvasig  t]  zvkcödsig  vjisQoyai,  I]  exeqÖv  xt,  xiäv  nQoeiQrjiJ.evoi%',  bei 
Haeser  I,  317. 

2)  J.  Preuss,  Materialien  zur  Geschichte  der  biblisch-talmudischen  Medicin.  XVI. 
Die  weiblichen  Genitalien.     In:  AUg.  Med.  Centralzeitung  1905,  No.  5 ff..  S.  A.  S.  25  —  26. 

3)  Res  vero  interdum  cogit  emoliri  manu  urinam,  cum  illa  non  redditur.  aut  quia 
senectute  iter  ejus  coUapsum  est,  aut  quia  calctilus  vel  concretum  aliquid  ex  sanguine  intus 
se  opposuit:  ac  mediocris  quoque  inflammatio  saepe  eam  reddi  naturaliter  prohibet.  Idque 
non  in  viris  tantummodo,  sed  in  feminis  quoque  interdum  necessarium  est.  Ergo  aeneae 
fistulae  fiunt;   quae,   ut  omni  corpori  ampliori  minorique  sufficiant,   ad  mares  tres;   ad  feminas 


—     715     — 

Der  Katheterismus  wurde  also  nach  Art  der  Tour  du  ventre 
der  französischen  Chirurgen  ausgeführt.  Noch  genauer  schildert 
Paulus  von  Aegina,  offenbar  auf  Grund  häufiger  selbstständiger 
Ausführung  die  Einführung  des  Katheters  (Lib.  VI,  cap,  5g).  Zu- 
nächst schiebt  er  mit  Hülfe  eines  Holzrohrs  ein  an  einem  Leinen- 
faden befestigtes  Stück  Wolle  in  den  Katheter  bis  zur  Mündung  und 
führt  dann  den  Katheter  in  zwei  Touren  ein,  die  eine  senkrecht  mit 
einer  Wendung  zum  Nabel,  die  andere  nach  Eintritt  in  die  pars 
membranacea  mit  einer  Senkung  nach  unten  gegen  den  Damm. 
Der  Wollfaden  soll  eine  Saugwirkung  ausüben  nach  Art  eines  Siphon 
und  den  Abfluss  des  Urins  noch  mehr  befördern  i). 

Ruf  US  widerrät  bei  Cystitis  des  Mannes  (hvoxeok  (pXey  juiovrj)  die 
Anwendung  des  Katheters,  man  gebrauche  ihn  dann  nur  bei  der 
Frau,  bei  der  seine  Anwendung  wegen  der  Kürze  und  geraden 
Richtung  der  Harnröhre  weniger  schmerzhaft  sei  -).  P^erner  erwähnt 
er  den  Katheterismus  bei  Blasenlähmung  {naQakvoK;  nvoxewg)  •^). 

duae  medico  habendae  sunt:  ex  virilibus  maxima  decem  et  quinque  digitoruni;  media  duo- 
decim;  minima  novem :  ex  muiieribus  major  novem;  minor  sex.  Incurvas  vero  esse  eas 
paulum,  sed  magis  viriles  oportet,  laevesque  admodum;  ac  neque  nimis  plenas,  neque  nimis 
tenues.  Homo  tum  resupinus,  super  subsellium  aut  lectum  coUocandus  est.  Medicus  autem 
a  dextro  latere  sinistra  quidem  manu  colem  niasculi  continere,  dextra  vero  fistulam  demittere 
in  iter  urinae  debet:  atque  ubi  ad  cervicem  vesicae  ventum  est,  simul  cum  cole  fistulam 
inclinatam  in  ipsam  vesicam  compellere,  eamque,  urina  reddita,  recipere.  Femina  brevius 
urinae  iter,  simul  et  rectius  habet;  quod  mammulae  simile,  inter  imas  oras  super  naturale 
positum,  non  minus  saepe  auxilio  eget,  aliquanto  minus  difficultatis  exigit.  —  Celsus  VII, 
26,    I   ed.  Daremberg,  S.  306 — 307. 

i)  Aaßöt'reg  ovv  JiQog  ri}.ixiav  xal  yivog  ägfiö^ovra  xadsrilga,  svodidoofiev  avzov. 
'O  de.  zov  svoöiaofiov  rgönog  joiovrög  ioziv.  "Eqiov  ofiiy.Qov  Uvco  drjoavzsg  xazä  zrjv  /usaözTjra, 
z6  Uvov  ZE  öC  o^vo^oirov  Siayayövzsg  8iä  zfjg  zov  xa^errjQiov  ovQiyyog,  z6  kqiov  s(paQfi6- 
oofisv  zöi  zQrjuazi  zco  Tioög  zfö  Tzvgiivi  zov  xa&sziJQog.  Kai  x^'aUanvzEg  za  s^eyovza  zov 
sQiov,  xa&ioo/iisi'  Etg  e)miov  zov  xadEzfjga.  Tov  Sk  x&jxvovza  a/jjfiazt'aofier  Eig  xadidgiov,  tzqo- 
xazaiovrjoavzeg,  sl  (.irfzi  xoiXvoi.  Aaßovzeg  ds  zov  xaßeziJQa,  xa&iao/.i£v  In  Evßsiag  jzqwzov 
ä^Qi  ßäascüg  zov  xavXov'  xaJiEiza  z6  aldoTov  dvax?.äao/:i£v  cog  JZQog  zov  d/n(pal6v,  xal  ya.Q 
djid  zovzov  zov  (lEQOvg  axo).i6g  {mdoysi  zfjg  xvozsatg  o  TiÖQog'  xäjzsid'  oihco  zov  xa&Ezijga 
jiQoaoioo/nEV.  'EjiEtddv  dk  xazd  z6  jzEQivaiov  jikrjaiov  zfjg  sSgag  yEvrjzai,  ndXiv  zo  alSoTov, 
syxEtfievov  zov  ogydvoi',  xazaxdifjofiev  slg  z6  xazd  cpvoiv  i.-ravdyoj'ZEg  oj^fjixa'  otzo  ydg 
TiEgtvaiov  zfjg  xvozECog  6  Txögog  ävoy  zstvet.  IIgooßtßdaof.ih'  ze  zov  xadszfjga  ea>g  slg  zi]v 
xi'oziv  xsvE/iißazfjor).  Mszd  8e  zovzo  ijziajzaaofisda  ro  iyxEiiisvov  zw  xa&szfjgi  /uvov,  Iva  zw 
igico  ovve<p£Xx6fiEV0V  z6  ovgov  inaxo/.ovd-tjot/,  xa&dnEg  inl  zcör  öKpojvojv  yivEzai.  Paul. 
Aeg.  VI,  59  ed.  Briau  S.   248. 

2)  Oeuvres  de  Rufus  d'Epliese  ed.  Daremberg-Ruelle,  Paris  1879,  S.  40: 
[Ti]v  8e  zov  av'/.lgjxov  xddEoiv  drdgl  fiiv  dnodoxifid^W  8id  ydg  zo  [igyadöjg  iyxaj 
■&i£a&ai  zag  odvvag  iigoonago^vvac  yvvaifxl  dk  Öoxw  ovx  äjjio  zgöjzov  Eirai  xa&ievar 
ßgayvg  ze    ydg  6    [ovgrjzijg  xal  xajzd  svßv  TzicpvxEV,    coore    dvwdvvwzEgov  diaysigiCsaßat. 

3)  Ibid.  S.  60:  Udoxovai  dk  zdSs'  zo  ovgov  zoig  fi'ev  ov  Svvazai  ngoycogsTv,  ei  firj 
xa&Ezfjga  EVEirjg'     zöig  8e  jzgo/wgEi  fikv,  d?,kd  dvalo'&rjzov. 

Bloch,    Der  Ursprung  der  Sypliilis.  4b 


—     ']\6     — 

Sehr  interessant  sind  die  Angaben  des  Hi  ppokrates^),  Dios- 
kurides-)  und  Galen,  dass  man  Ulcerationen  der  Blase,  des  Anus, 
der  weiblichen  Genitalien  und  des  Uterus  durch  Ausspülungen  [Öia- 
y.lv'Ceiv)  und  Medikamente  behandelte,  die  man  vermittelst  der  Mutter- 
spritze oder  des  Katheters  applizierte^). 

Blutungen  aus  der  Harnröhre  behandelt  Rufus  teils  mit 
direkten  medikamentösen  Injektionen  in  die  Urethra,  teils  mit  kalten 
Klystieren  ins  Rectum^).  Auch  Galen  erwähnt  die  häufige  Not- 
wendigkeit, durch  die  Urethra  Medikamente  in  die  Blase  zu  bringen  '"). 
Paulos  benutzt  zu  Injektionen  bei  Cystitis  entweder  die  Ohren- 
spritzen oder  einen  mit  Ballon  {öeQ/^ia  oder  x  vor  ig  ßoeia)  versehenen 
Katheter''),  als  diuretische  Mittel  empfiehlt  Antyllos  medikamentöse 
Injektionen  bei  Retentio  urinae '')  und  verschiedene  Injektionen  zur 
Behandlung  der  Vagina  und  des  Uterus**).  Urethralsteine  extrahiert 
Rufus'*)  mit  einer  kleinen  Pinzette  {Xaßig). 

Was  nun  die  Therapie  der  geschwürigen  und  entzünd- 
lichen Affektionen  der  Genitalien  betrifft,  so  zogen  die  antiken 
Aerzte  hierfür  äussere  und  innere  Medikamente,  Kataplasmen, 


1)  Hippocrates  de  natura  muliebri  Kühn  II,  588:  t<ü  olrcp  diaxXvi^eadoj  tu 
aiöoTa  (bei  eXxsa  fv  zoTotv  alöoioiai).  —  Ibid.  II,  591:  //1'  Iv  xoTaiv  uldoioioiv  tXusa  yh'tjzai. 
.   .   .  xal  rfjg  /nvQoivtjg  tv  ol'vco  äq^syöJv  Siaxkvaai. 

2)  Dioskur.  I,  140,  Kühn  I,  135:  EyxXvo^iä  rs  sdga  xal  aidow)  xal  fitjXQaig 
EÜ.xoii^iEvaig  iori  yorioij.iov. 

3)  Galen  de  compos.  medicamentor.  sec.  locos  I,  c.  8  (Kühn  XIII,  3/6):  ai  8e 
xaxa  xrjv  (j,rjXQav  kkxöiosig  i]  xvaxiv  x&v  avxwv  deöfiEvai  (paQ/itdxcov,  oqyävoiv  xQ?]Covoi  xü>v 
el'oo}  jiagajiEfXTiovxcov  avxä,  dia  xöiv  fjrjxgeyxvxcöv  xal  xa&sxrjQOiv  xalovfiivcov. 

4)  Rufus  ed.  Daremberg-Ruelle,  S.  44:  7a?  Se  ex  xov  xavXov  aifioggayiag  xal 
E7il^Ei.i[a  xjwxxrjQiov]  xal  k'y/vxov  xi  x&v  slgruuEvcov  läxai.  Et  fds  xi  xwv  lo^aJi/Licov  äXXo 
fikv  8ia  xov  avXioxov  ky^soig,  äkXo  Öe  xXvoxfjQi  Eig  xo  evxeqov  jusya,  xal  xovxo  ovivt]oi  xäg 
aifioQQayiag.  XQV  ^^  ^^*'  o.vXiaxov  xa  jukv  aXXa  Eivai  ojioiög  saxiv,  s^  uxqov  8e  e'x^iv  i^tjQ- 
xtjfiEVOv  äaxoJixa  (Blasebalg). 

5)  Galen  Meth.  medendi  IV,  7  (Kühn  X,  301):  Kai  fiijv  xal  öia  xov  xavXov 
(päQfj.axov  iviEvai  JioXXäxig  slg  xijv  xvaxiv  avayxaXöv  iozi. 

6)  Paulus  Aegineta  ed.  Briau,  S.  250:  'Ejisiörj  8e  noXXäxig  EXxco&sToav  xvaxiv 
8£6/iis{^a  xXvaai,  ei  fihv  d>xixol  xXvaxfjgsg  Svvaivxo  jiaQOJisfijiEiv  x6  EVE/^a,  ixsivoig  XQt]aö- 
f^sßa  xaxa  xov  eiQij/itivov  xgönov  naQa3XEfJ,novxEg  avxovg-  si  S'e  (irj  övvaxov  sit],  x<p  xaOExfjQi 
jiQoaaQ/xoaavxEg  x6  dsQixa,  rj  xvaxiv  ßosiav,  8ia  x^g  xov  xad'SxfJQog  iveoECog  iyxXvao/xev. 

7)  Antyllos  bei  Oribas.  II,  189:  Tcöv  8e  Siovqtjxixcöv  xa  [xev  8ia  oxofiaxog 
XafißävExai  ji6xi/iia,  xa  8k  xfj  ßaXdvq)  jiQoaäyExar  ;i^^co^<£j9a  8k  fidXiaxa  xovxoig,  EnEi8ar 
v.-iE07iXt]i&£taa  ^  xvaxig  xal  8iä  xovxo  fii]  8vva/^£vr]  jiEQioxEXXeaßai  xal  xevovv  xo  ovqov. 
'Evxl&EfiEV  Eig  xi]v  ßdXavov  vixgor  vSaxi  8iEifxsvov,  äXfirjv,  dXog  äv&og,  x^^"*''  f<vxXd/nivov, 
xÖQiv  xo  ^cpov. 

8)  Oribas.  II,  442 — 443:   Ilsgl  iyxvjnaxioficöv. 

9)  Rufus  ed.  Daremberg-Ruelle,  S.   27. 


—     717      — 

Cauterien  (ferrum  candens  und  chemische  Aetzmittel),  Operationen 
mit  dem  Messer  u.  a.  m.  in  Anwendung,  wobei  sie  zum  Teil  auch 
nach  unserer  modernen  Anschauung  durchaus  rationell  verfuhren. 
Sie  waren  dabei  keineswegs  von  jener  blinden  „Brenn-  und  Schneide- 
wut" besessen,  die  ihnen  Rosenbaum  zur  Stütze  seiner  Hypothese, 
dass  die  Kranken  sich  damals  lieber  an  Kurpfuscher  als  an  Aerzte 
gewendet  hätten,  fälschlich  imputiert. 

Gerade  die  von  Rosenbaum  (a.  a.  O.  S.  407)  angeführte  Stelle  des  Galen 
(Method.  med.  IV,  2  ed.  Kühn  X,  238):  „Wenn  aber  die  Ränder  des  Geschwürs  nur 
niissfarben  und  callös  sind,  so  muss  man  sie  bis  auf  das  gesunde  Fleisch  abtragen;  hatte 
diese  Beschaffenheit  aber  weiter  um  sich  gegriffen,  so  entsteht  die  Frage:  ob  man  alles 
Krankhafte  ausschneiden  oder  eine  langwierige  Kur  vornehmen  soll.  Es  ist  natürlich,  dass 
man  hierzu  die  Gesinnung  des  Kranken  erforschen  muss;  denn  einige  wollen  lieber  ohne 
Schnitt  sich  einer  langwierigen  Behandlung  unterwerfen,  andere  dagegen  sind  zu  allem  bereit, 
wenn  sie  nur  geheilt  werden"  (snsidar  ta  xsih]  fim'a  x&v  iXxwr  etci  ji/Jov  u/got'ag  >} 
axh}o6z))zog  Sjxoi,  aeouf^irsiv  avrä  ygt]  fiexQi  Tijg  ijiovg  oagy.ög-  ijisiduv  ds  xal  fis^Qi 
nXiovog  1)  dtädsoig  FXTSirtjTui,  ayJij'ig  kviavßa  yirezai  nÖTsoa  jrsQiy.ojrzEOv  ü.-zav  z6  Tiagu 
(/rvaiv  iaziv.  Pj  dsoa.-zsvzsor  iy  /goVa),  xal  öfjkov  cbg  y.al  zij  zov  xäjurovzog,  Eig  xovzo 
jzQooxgfjodat  öeT  :igodv^iia-  ziveg  fiiv  yäg  iv  XQ'^^'V  ^^siovi  degcuzevsaßai  ßovlovzai  jjfwptc 
zo^rjQ-  evioi  8e  jzäv  öziovv  vjiofih'Eiv  Eiolv  Ezoi/noi  zov  d^ärzov  vyiävai  X'^Q'-'^)^  beweist  doch, 
dass  erstens  viele  Patienten  um  der  raschen  Heilung  willen  sich  gerne  operieren  Hessen 
und  dass  zweitens  auch  die  messerscheuen  sich  doch  einer  langwierigen  ärztlichen 
Behandlung  unterwarfen  und  nicht  etwa  zu  Kurpfuschern  liefen.  Wenn  ferner  Rosen- 
baum als  Beispiele  dafür,  dass  die  , .vollblütigen  Römer"  aus  Furcht  vor  dem  Verlust  der 
Gebrauchsfähigkeit  jener  Theile  lieber  jedes  andere  Mittel  versucht  hätten,  ehe  sie  sich  den 
Aerzten  anvertraut,  die  folgenden  drei  Epigramme  des  Martial  anführt: 
Curandum  penem  commisit  Baccara  Raetus 
Rivali  medico.      Baccara  Gallus  erit.  .^^t     _   \ 

Quae  tibi  non   stabat  praecisa  est  mentula,   Glypte. 

Demens,  cum  ferro  quid  tibi?     Gallus  eras. 

(11.  45) 

Abscisa  est  quare  Samia  tibi   mentula  testa, 

Si   tibi   tarn   gratus,   Baetice,   cunnus  erat? 

(Ill,   81) 

so  haben  die  beiden  letzten  überhaupt  nichts  mit  einer  zu  kurativen  Zwecken  unternommenen 
ärztlichen  Operation  zu  thun  —  es  handelt  sich  lediglich  um  zu  Unzuchtszwecken  ver- 
schnittene Individuen  —  und  das  erste  Epigramm  ist  doch  nur  eine  scherzhafte  Anspielung 
auf  die  Nebenbuhlerschaft  des  Arztes,  der  sich  bei  der  Behandlung  des  Genitalleidens 
seines  Gegners  im  Sinne  der  Castration  bethätigen  könnte.  Es  handelt  sich  um  einen 
seltenen  Spezialfall,  der  dem  Satiriker  den  Stoff  zu  einem  Epigramm  mit  einer  witzigen 
Pointe  liefert,  den  man  doch  aber  nicht,  wie  Rosenbaum  es  thut,  ohne  weiteres  für  alle 
Aerzte  verallgemeinern  kann!  Auch  in  dem  von  Rosenbaum  (a.  a.  O.  S.  408)  als  Beweis 
für  die  Messerscheu  der  mit  venerischen  Affektionen  Behafteten  angeführten  Carmen 
Priapeum  37,  das  wir  oben  auf  S.  521  mitgeteilt  haben,  kann  ich  nur  die  Schilderung  eines 
individuellen  Falles  sehen,  der  keine  Allgemeingültigkeit  besitzt.  Gewiss  fürchtete  der  den 
Priapus  anflehende  Patient  das  Messer  des  Chirurgen.  Das  ist  allgemein  menschlich. 
Auch    heute    noch    giebt    es    viele    messerscheue    Patienten,    die    zuerst    andere    Behandlungs- 

46* 


—     71«     — 

methoden  versuchen.  Endlich  spielt  Rosenbaum  noch  auf  eine  Stelle  in  den  Briefen  des 
jüngeren  Plinius  an,  die  seine  These  von  der  Aerztescheu  der  antiken  Genitalkranken  be- 
weisen soll.  Da  ausserdem  dieselbe  Stelle  sogar  noch  von  neueren  Autoren  —  nomina  sunt 
odiosa  —  als  Schilderung  eines  „Luesfalles"  angesprochen  worden  ist,  so  sei  sie  in  extenso 
mitgetheilt: 

C.  Plinius  Macro  suo  S.  Quam  multum  interest  a  quo  quidque  fiat!  Eadem 
enim  facta  claritate  vel  obscuritate  facientium  aut  toUuntur  altissime  aut  humillime  deprimuntur. 
Navigabam  per  Larium  nostrum,  cum  senior  amicus  ostendit  mihi  villam  atque  etiam  cubi- 
culum  quod  in  lacum  prominet:  'ex  hoc'  inquit  'aliquando  municeps  nostra  cum  marito  se 
praecipitavit'.  Causam  requisivi.  Maritus  ex  diutino  morbo  circa  velanda  corporis 
ulceribus  putrescebat.  Uxor  ut  inspiceret  exegit ;  neque  enim  quemquam  fidelius 
indicaturum  possetne  sanari.  Vidit,  desperavit:  hortata  est  ut  moreretur  comesque  ipsa 
mortis,  dux  immo  et  exemplum  et  necessitas  fuit.  Nam  se  cum  marito  ligavit  abiecitque 
in  lacum.  (C.  Plini  Caecili  Secundi  Epistularum  Hb.  VI,  cap.  24  ed.  H.  Keil,  Lipsiae 
1868,  S.    124—125.) 

Die  Erzählung  betrifft  den  freiwilligen  Tod  eines  Ehepaares  —  eine  heroische  That, 
wie  sie  im  Altertume  nicht  selten  war  und  aus  seinem  Geiste  begriffen  werden  muss  — ,  weil 
der  Gatte  an  einer  langwierigen  Krankheit,  durch  das  Auftreten  fauliger  Geschwüre  an  den 
Genitalien  erkrankt  war,  die  bereits  soweit  vorgeschritten  waren,  dass  die  sie  inspizierende 
Gattin  sie  als  unheilbar  erkannte,  ihm  den  gemeinsamen  Selbstmord  vorschlug  und  sich  dann 
mit  ihm  vom  Fenster  ihres  an  dem  See  gelegenen  Landhauses  ins  Wasser  stürzte.  Der 
ganzen  Schilderung  nach,  die  ja  sehr  unbestimmt  ist,  kann  man  an  zwei  Affektionen  denken, 
entweder  an  einen  gangränösen  Schanker,  der  bereits  grosse  Partien  des  Genitale  zerstört 
hatte,  oder  an  ein  Carcinom  mit  ähnlichen  Folgen.  Für  Syphilis  liegt  gar  kein  Anhaltspunkt 
vor.  Was  nun  gar  diese  Stelle  mit  der  angeblichen  Aerztescheu  jener  Zeit  zu  thun  hat, 
auf  die  Rosenbaum  daraus  schliesst,  ist  unerfindlich,  da  doch  von  Aerzten  oder  irgend 
einer  Behandlung  gar  nicht  die  Rede  ist.  Es  ist  ja  sehr  gut  möglich,  dass  der  Be- 
treffende von  Aerzten  behandelt  wurde,  die  eine  etwaige  krebsige  Natur  des  Leidens 
zu  spät  erkannten  bezw.  das  Umsichgreifen  trotz  Operation  oder  sonstiger  Therapie  nicht 
hindern  konnten.  Für  vorherige  ärztliche  Behandlung  spricht  ja  die  Erklärung  der  Frau, 
dass  „Niemand  ihm  mit  mehr  Aufrichtigkeit  sagen  würde,  ob  er  heilbar  sei",  da  vielleicht 
ein  humaner  Arzt  diese  Auskunft  bereits  verweigert  hatte. 

Wenn  schliesslich  Rosenbaum  noch  die  beiläufige  Bemerkung  des  für  die  Pharmako- 
therapie begeisterten  Scribonius  Largus  heranzieht,  dass  im  Anfang  die  Kranken  sich 
nicht  gerne  dem  Messer  und  Feuer  überliefern,  sondern  erst  noch  andere  unblutige  und 
weniger  schmerzhafte  Heilmittel  versuchen  ^),  so  ist  das  nur  ganz  natürlich  für  das  „timidum 
genus  mortalium"  und  auch  heute  noch  gang  und  gäbe. 

In  der  That  ersehen  wir  denn  auch  aus  den  Angaben  des 
Celsus  (z.  B.  VI,  18,  2),  Galen  (z.  B.  ed.  Kühn  X,  381)  und  der 
anderen  Autoren,  dass  die  Aerzte  keineswegs  in  der  Behandlung  der 
Genitalleiden  gleich  zum  Messer  und  Glüheisen  ihre  Zuflucht  nahmen, 
sondern  fast  immer  zuerst  die  medikamentöse  Therapie  in  Anwendung 


i)  Siquidem  verum  est  antiquos  herbis  ac  radicibus  earum  corporis  vitia  curasse, 
quia  timidum  genus  mortalium  int  er  initia  non  facile  se  ferro  [ignique]  committebat.  Quod 
etiam  nunc  plerique  faciunt,  ne  dicam  omnes,  et  nisi  magna  compulsi  necessitate  speque 
ipsius  salutis  non  patiuntur  sibi  fieri,  quae  sane  vix  sunt  toleranda.  (Scribonii  Largi 
Compositiones  ed.  G.   Helmreich,  Lipsiae   i88",  S.   2.) 


—     719     — 

zogen.  Erwies  sich  dann  doch  ein  operatives  Eingreifen  als  not- 
wendig, so  verfuhren  sie  auch  dann  sehr  sorgsam  und  waren  unter 
Berücksichtigung  der  Bedeutung  jener  Teile  auf  ein  möglichst  kos- 
metisches Resultat  bedacht.  Das  zeigt  deutlich  die  Erörterung  des 
Antyllos  über  die  Schnittführung  bei  Operationen  an  den  Geni- 
talien, für  die  nach  ihm  als  Hauptgesichtspunkte  die  Sicherheit  der 
Therapie  und  die  Erhaltung  der  Form  in  Betracht  kommen  i). 
Wir  sehen  denn  auch,  dass  in  diesem  Sinne  zahlreiche  Operationen 
an  den  Genitalien  von  den  Aerzten  bis  in  die  spätbyzantinische  Zeit 
hinein  ausgeführt  wurden  und  dass  die  Klientel  dafür  eine  recht 
umfangreiche  gewesen  sein  muss,  wie  sich  aus  den  Darstellungen  bei 
Celsus,  Galen,  Oribasius,  Paulos,  Aetius  ergiebt. 

2.  Terminologie  und  vSymptomatologie  der  venerischen 
Krankheiten  und  der  Genitalaffektionen.  —  Wenn  wir  nun- 
mehr zu  einer  genaueren  Terminologie  der  einzelnen  venerischen  und 
Genitalaffektionen  übergehen,  so  werden  wir  stets  dabei  das  bereits 
oben  (S.  709)  gekennzeichnete  formaHstische  Prinzip  der  antiken 
Klinik  der  äusseren  Leiden-)  berücksichtigen  müssen,  das  die  ein- 
zelnen Affektionen  nach  ihren  Formen  benannte  und  trennte.  Das 
galt  z.  B.  vor  allem  von  den  warzen ähnlichen  Auswüchsen,  wie  das 
Celsus  (V,  28,  14)  ausspricht:  Sunt  vero  quaedam  verrucis  similia; 
quorum  diversa  nomina,  ut  vitia  sunt.  Ferner  von  den  Bläschen  und 
Pusteln,  die  rein  symptomatologisch  nach  Form,  Farbe,  Verbreitung, 
Veränderung  und  Ursache  unterschieden  werden  ohne  den  Versuch 
einer  Zusammenfassung  zu  scharf  abgegrenzten  Krankheitsbildern, 
wie  z.  B.  die  Schilderung  des  Celsus  (V,  28,  15)  beweist.  Da  die 
einzelnen  Dermatosen  unter  den  allgemeinen  ätiologischen  Begriff 
des  Blühens,  Ausschiagens,  Herauswachsens,  der  Ablagerung  sub- 
sumiert wurden,  musste  sich  ganz  von  selbst  eine  rein  formalistische 
Auffassung  herausbilden  und  Farbe,  Form  und  Formveränderung  eine 
ausschlaggebende  Rolle  ^)  für  die  Terminologie  der  Hautleiden  und 
der  Affektionen  der  Genitalien  spielen. 


1)  Oribasius  III,  574:  IlrsQvyojuarog  8s  im  yvvaixEiov  alöoiov  ra  fzh  ävco 
diaiQsia^co,  za  8e  jigog  zij  sSga  avrwr  .leQiaigsia&o).  'Em  8s  ooyjov  xal  xavXov  T.of.iaT? 
evdvrevEOi  xq^otsov,  xal  x6  avvolov  si8svai  /QV  <'^'  ^"  oxrj^ara  tmv  SiaiQsoscor  8i8aox6fisßa 
ix  rfjg  ijitßlsy^'sojg  iijg  .igoadsv  Jioog  x6  aocpalsg  xal  xb  svfioQcpov. 

2)  Leider  ist  die  diese  speziell  behandelnde  Schrift  des  Rufus  tisqI  xiöv  ixxog  :ra&MV 
verloren  gegangen.      V^gl.   Wellmann,  Pneumatische  Schule,  S.   65,  Anm.   5. 

3)  Auf  die  Farbe  deuten  igvßij/^ia,  Xevxrj,  igvoinskag  etc.,  auf  die  Form  und 
P"orm Veränderung  Xenga,  SQjiijg,  oaxvQiaoig  u.  a.  m. 


—       720       — 

Allerdings  findet  sich  i\uch  bereits  in  einigen  Bezeichnungen 
ein  Ansatz  zu  einer  symptomatologischen,  auf  den  Krankheitsprozess 
bezüglichen  Terminologie.  Einzelne  Namen  deuten  die  hauptsäch- 
lichsten und  auffälligsten  Erscheinungen  des  betreffenden  Leidens  an^). 

Die  erwähnten  Gesichtspunkte  finden  sich  bereits  in  der  Ter- 
minologie der  Hippokratiker,  eine  reichere  Ausbildung  erfuhren  sie 
in  der  alexandrinischen  Medizin,  deren  Anschauungen  wir  be- 
sonders in  dem  Werke  des  Celsus  niedergelegt  finden,  das  den  grossen 
Fortschritt  der  Systematik  der  Hautkrankheiten  deutlich  erkennen 
lässt.  Auch  pathologische  Gesichtspunkte  werden  hier  bereits  ver- 
treten, wie  in  der  Darlegung  der  Beziehungen  des  bei  Celsus  be- 
schriebenen „Erythema  multiforme"  (Epinyktis)  zu  rheumatischen 
Affektionen  und  in  der  Unterscheidung  des  symptomatischen  (bei 
Krankheiten  und  im   Alter)  und  genuinen  Haarausfalls. 

Im  grossen  und  ganzen  aber  wird  die  gesamte  antike  Dermato- 
logie und  Venereologie  vom  Prinzipe  des  Formalismus  beherrscht, 
das  ganze  Gruppen  verschiedener  Hautleiden  unter  Sammel- 
namen zusammenfasst,  wie  Scabies  [ipd'jQa],  Impetigines  {Xety^rp'), 
Papulae  u.  s.  w.,  die  nur  das  hervorstechendste  Symptom  der  Efflores- 
zenzenbildung  bezeichnen.  Galen  behandelt  die  Hautleiden  des 
Kopfes  für  sich  in  dem  Kapitel  Tlegl  tcov  ex  Tog  rfjg  KE(paXf}g  nadaiv 
(Introduct.  c.  XVII  =  Kühn  XIV,  777 — 779)  und  trennt  davon  die 
eigentlichen  Dermatosen,  in  dem  Kapitel  jieqI  xon>  rov  degfiaTog  nadötv 
(Introd.  c.  XVIII  =  Kühn  XIV,  779—780).  Auch  er  legt  schon 
Wert  auf  die  Pathogenese,  lässt  manche  Hautleiden  genuin,  manche 
auf  Grund  von  Arthritis  und  Podagra  entstehen  2).  Hier  sind  die 
ersten  Anfänge  der  berühmten  Lehre  vom  Arthritismus  in 
der  Dermatologie  zu  suchen,  die  bis  in  die  neueste  Zeit  nament- 
lich in  der  französischen  Schule  eine  so  grosse  Rolle  gespielt  hat. 
Sie  ist  nur  ein  Teil  der  Doktrin  von  der  humoralpathologischen 
Aetiologie  der  Hautkrankheiten,  deren  Wesen  und  Bedeutung  für  die 
spezielle  Lehre  von  den  venerischen  Krankheiten  schon  oben  (S.  672 
bis  674)  gekennzeichnet  wurde.  Acuität  und  Chronicität,  Grösse, 
Form  und  andere  klinische  Symptome  der  Exantheme  werden  auf 
die  verschiedenen  Humores,  auf  deren  kalte  und  warme  Beschaffen- 
heit, auf  die  mehr  oder  weniger  grosse  Fähigkeit  der  Haut  zur 
ExxQimg  (Ausscheidung)  oder  zur  nnödeoig  (Ablagerung)  zurückgeführt. 
Die  bedeutsamste  Stelle  für  diese  Auffassung  findet  sich   bei  Galen 


i)  Z.  B.  cpXvxzaiva,  yjvdgdxiov,  tfüga,  idgtöa,  xvrjafxög,  dkcojisxia. 

2)   Ol  fifv  ix  Jiodäyoag  xai  oLQ&Qiridog,  ol  de  xal  xa{^'  mvTOvg.    Galen  XIV,   780. 


72  1        — 

(im  Kommentar  II  zu  Buch  VI  der  Epidemien  des  Hippocrates 
(Kap.  33)').  Einen  ähnlichen  Einfluss  des  yvi^^^^  d^eg/udg  und  yv^Qog 
auf  die  verschiedene  Gestaltung  der  Hautefflorescenzen  nimmt  Galen 
im  Kommentar  zu  Aphor.  VI,  9  an  2). 

Es  handelt  sich  bei  dieser  Auffassung  der  Haut-  und  venerischen 
Krankheiten  nicht  um  eine  „konstitutionelle"  Erkrankung  im  modernen 
Sinne.  Denn  bei  den  Alten  werden  die  lokalen  Affektionen  auf  die 
Humores  zurückgeführt,  letztere  sind  das  Primäre.  Bei  uns  werden 
seit  Morgagni,  Bichat  und  Virchow  auch  die  sogen,  konstitutio- 
nellen Leiden    auf   ursprüngliche  lokale  Erkrankungen  zurückgeführt. 

Nur  unter  Berücksichtigung  aller  dieser  Voraussetzungen  kann 
man  zu  einer  unbefangenen  Deutung  der  Krankheitsnamen  der  antiken 
Terminologie  der  venerischen  Krankheiten  gelangen,  die  bisher  allzu 
weitgehend  für  die  Lehre  von  der  Existenz  der  Syphilis  im  Altertume 
ausgenutzt  wurde,  aber  bei  kritischer  Verwertung  der  oben  erwähnten 
Punkte  und  der  früher  ausführlich  dargestellten  pseudosyphilitischen 
Hautkrankheiten  keinerlei  Anhaltspunkte  für  diese  Hypothese 
darbietet. 

Wir  geben  im  folgenden  die  alphabetisch  geordnete  Termino- 
logie der  venerischen  bezw.  der  zu  ihnen  in  Beziehung  stehenden 
Hautleiden  und  werden  für  die  Erklärung  und  Symptomatologie  nur 
die  wichtigsten  und  den  Sinn  erschöpfenden  Stellen  aus  den  an- 
tiken ärztlichen  Schriftstellern  heranziehen,  da  eine  Aufzählung  sämt- 
licher, oft  wörtlich  übereinstimmenderstellen  eine  ermüdende  Wieder- 
holung sein  würde. 

I.    'Ad/]gojfta,   'A&eQOjjua. 

Soran  ed.  Rose,  S.  379:  Jrept  aßegco/Lidzü)}'  sv  roTg  yvvaixeioig  aldoioig.  — 
Galen,  Method.  medendi  XIV,    12   =^  Kühn  X,  985:    a&rjQOJfia  y.ai  f^iehxijQlg  xal  aied- 


1)  Galen  ed.  Kühn  XVII  A,  S.  959 — 960:  'Qg  sm  (pvjudzcov  sI'jio/liev  00a  vjio 
deQixov  yivovTai  x^vfxov,  ra^v  XQioifiä  ze  sirai  xai  ijxiaza  jiXazea,  zd  8k  vjzo  yvxQov  nlazea 
xai  ;|^ßoVta.  xazd  zov  avzöv  Xöyov  eniozaadai  ygr]  xal  jtsqi  zcöv  i^avßtjf^idzcov.  ov  ydg 
oXoi  zw  yevei  öiacpegei,  zöiv  (pv/J.dzcov ,  d?J^d  zfj  jioiöztjzi  zov  yevvöivzog  avza  ](^viJ.ov. 
yevvöjvzai  8k  xadaiQovorjg  z6  ßd'&og  zov  oo'jfxazog  zfjg  q?voecog,  a>o:T£g  ivioze  81'  ixxQiaswg, 
oi'zo}  xal  81''  d.jio'd'Easwg  im  z6  8eQfia.  zovg  fikv  ydg  ksnzozsgovg  ze  xai  v8azo38saxsQovg 
Xi'/iiovg  8ia(poQsT  Xsjizvvovoa.  zcöv  8k  jiaxvzsQoyr  ifiJT?iazzoßsv<üv  zw  8£Q^iazi  xal  ixüDmv 
xazd  zrjv  s7ii8eQfii8a  nvxvrjv  ovaav,  i^avdrj/iiaza  yivovzai.  xal  zovzo  ovfißalvEi  fiäD.ov 
ixeivoig,  oaoig  jivxvözeQOv  zs  xal  oxkrjgozsQÖv  iazi  z6  8sQfia.  Svoxegrjg  ydg  rj  81'  avzov 
ylvezai  zwv  naxvzsgwv  zs  xal  yhaxQozsgwv  ;fu^c5j'  8is^o8og. 

i)  Galen  ed.  Kühn  XVIII  A,  S.  19:  Td  /xkv  ovv  vt{Jt}X6zega  (pv/j,aza  xal  s^av^iq- 
/iiaza  &sg/:i6zsgog  kgydQszai  x'^l^^^  >  ^^  ^^  zasieivözega  xpvxgötegog ,  wozs  8id  8izzt/v  zi]v 
aiziar  ov  ndvv  zi  xvr]o/iiu)8sa  yivszai  zd  jiXazfj.  8iajiveTzai  ydg  sig  Jildzog  sxzeza/iisva  xal 
zov  igyaCö/Lievov  avzd  x^f^^"^  rjzzov  e'xei  Sgifwv. 


722        

Tcofia,  d.i6  rfjg  ofioiörrjTog  zön'  Jisgie/Ofievcov  ovauov  xata  xovg  oyxovg.  eoti  yaQ  avröiv 
fj  /iih'  rig  oiov  tieq  t6  oziao,  i)  öe  olor  fifJu,  aal  xtg  ddi'jgq  JiagaJiki^oiog.  — 
Pseudogalen,  Defin.  med.  375  =  Kühn  XIX,  440:  'Adegcoiiid  Ion  yixdiv  vsvQcödrjg 
dd^EQ&deg  vyQor  jiEQieyov.      Vgl.  auch   Act.    XV,    7   und  Paul.  Aeg.   VI,   36. 

Unter  d^iJQcojiia  ist  nach  der  unzweideutigen  Beschreibung  des 
Galen  unser  heutiges  Atherom,  die  typische  Breigeschwulst  oder 
Grützbeutel  zu  verstehen  (von  ädegt]  oder  ädaga  =  pultum,  Weizen- 
mehlbrei) 1).  Bekannt  ist  ihr  häufiges  Vorkommen  am  Scrotum  ^)' 
Soran  beschrieb  ihr  Vorkommen   an   den   weiblichen  Genitalien. 

2.  'AxQO](OQda)v. 

Hippocrates  Aphor.  III,  26  =  Kühn  III,  725:  IJoEaßvTEQOiai  8e  yEvo/xivoiai  .  .  . 
ay.QoxoQÖövsg ,  oaxvQiaafxol,  OTQayyovgiai,  yoigdÖE?  xai  raXla  (pviiaia  —  Celsus  II,  i 
(ed.  Daremberg,  S.  30):  At  ubi  aetas  paulum  processit  .  .  .  verrucarum  quaedam  genera 
dolentia,  d^Qo^ogSovag  Graeci  appellant,  et  plura  alia  tubercula  oriuntur  —  Cels.  V. 
28,  14  (Dar.  2i6j:  Sunt  vero  quaedam  verrucis  snnilia;  quorum  diversa  nomina,  ut  vitia 
sunt.  'Apigoyogdöva  Graeci  vocant,  ubi  sub  cute  coit  aliquid  durius,  et  interdum  paulo 
asperius,  coloris  ejusdem;  supra  latius,  ad  cutem  tenue:  idque  modicum  est,  quia  raro 
fabae  magnitudinem  excedit.  Vix  unum  tantum  eodem  tempore  nascitur;  sed  fere 
plura  maximeque  in  pueris:  eaque  nonnumquam  subito  desinunt,  nonnunquam  medio- 
crem  inf lammationem  excitant;  sub  qua  etiam  in  pus  convertuntur  —  Heliodorus  bei 
Oribas.  IV,  21 :  'AxgoyogöövEg  xal  /.ivgixrjHiai  yivovrai  fisv  iv  jiavxi  fiEgsi  xov  aöifxaxog 
avvEX^oxaxa  Se  ev  xoTg  (iaxxv?.oig.  ^'Eoxi  de  rj  d^go^ogSaiv  oagxfodtjg  vnsgoyi]  lEia, 
GXEvfj  ßdoEi  XEy^grjfiEviy  rj  bi  fivgiurjxca  xgaysta  vjiEgoyi]  ivEggi^cofisvi]  xcö  ocöfiaxi  — 
Pseudogalen,  Defin.  med.  400  (=  Kühn  XIX,  444):  ' Apcgoyogöcöv  iaxiv  Exqpvaig 
TiEgicpEgfj  XE  xai  diäoxevov  eyovoa  ßdoiv  —  Paul.  Aegin.  VI,  87  (ed.  Briau, 
S.  346):  'H  8e  dxgoyogdwv  sjiavdoxaoig  ioxi  fuxgd  xfjg  ejiKpavEiag,  äjcovog,  xvXwdrjg, 
nEgicpegfjg  xatd  xb  jiXeToxov,  r^j'  de  ßdoiv  Eyovoa  oxevtjv  (bg  öoxeTv  exxgE^iäa&ai. 
Ksxlrjxai  8e  ovxcog  djio  xov  äxgoj  jiagEoixivai  yogdrjg.  —  Pollux  IV,  195:  dxgoyogdcov 
djio  ixev  xijg  gi^t]?  XsJixt]  sxtpvoig,  nsgl  de  x6  äxgov  jiayvvo/LiEvr] ,  fidkioxa  eni  :xat8ioiv. 

Die  äxQOxoQÖdiv  genannte  Warzenart  ist  ganz  offenbar  unsere 
gestielte  Warze  jugendlicher  Individuen,  da  sie  nach  Hippo- 
crates, Celsus  und  Pollux  hauptsächlich  im  Knabenalter  vorkommt, 
in  der  Mehrzahl  und  meist  an  den  Händen  auftritt,  doch  auch  am 
übrigen  Körper,  bisweilen  entzündliche  Reizung  zeigt,  von  rundlicher 
Form  und  Bohnengrösse  ist.  Jedenfalls  haben  die  Alten  also  unter 
dem  „Akrochordon"  unsere  Verruca  vulgaris  verstanden  und  nicht, 
wie  Virchow^^)  anzunehmen  scheint,  eine  Art  von  aus  Comedonen 
sich  entwickelnden  Hautpol3'pen ,  die  nach  ihm  am  häufigsten  am 
Halse    und    an     den    Augenlidern     vorkommen.      Das    Akrochordon 


i)  Vgl.  Schol.  zu  Oribas.  IV,  527,  3:  A^^gcojua  xakEio^ai  (pr]acv  (seil.  'ÄvxvUog) 
djio  xov  x6  nEgiEyöfievov  EoixEvai  xfj  jiagd  xoTg  Alyvnxioig  XEyofievf]  ddrjga-  Eyjtjfxa 
S'iaxl  yn'öfMEVov  Trag'   avxovg  ex  jivgirov  Xevxov  dkEvgov. 

2)  Vgl.  R.  Virchow,    Die    krankhaften  Geschwülste,    Bd,  I,    S.   228,    Berlin   1863. 

3)  R.   Virchow,  a.  a.  O.   I,   223. 


—     723      — 

wurzelt  nicht  so  tief  in  der  Haut  wie  die  breite,  flache  „Myrmecia" 
genannte  Warze  (Heliodor),  kann  also  radikaler  beseitigt  werden  i) 
und  verschwindet  nicht  selten  von  selbst  (per  se  finiuntur  Celsus 
V,  28,   14). 

3.  "Avßga^,   ävd orlxcooK;. 

Hippocrates,  Epidem.  III,  Sect.  3,  cap.  7  =  ed.  Kühn  III,  487:  äv^gaxeg 
jioXXol  xara  ^igog,  y.ai  ciXka  a  oi]ip  na/Jerai  —  Epidem.  11,  Sect.  I,  cap,  i  =  Kühn 
III,  428:  "Avdgaxsg  sv  Kgarwri  &eQirol,  ve7'  iv  xavfiaoiv  XavQOi  di'  oXov,  Fyevexo  8e 
fiäXXov  vöroi  xal  vjisyivovro  fisv  er'  toj  dsQßarc  lyöJQsg.  iyxazaXafißarofiEvoc  8s 
E'&SQfJ.aivovTO  xal  xvrjOf.i6v  evsjioieoi',  slra  <pX.vxraividsg,  ojojisq  nvQa'jxai'aroi  diavlararro 
xal  vjio  t6  dsQfia  xaiea&ai  iSoxEOv.  —  Hippocr.,  Epid.  III,  Sect.  III,  cap.  3  =  Kühn 
III,  482:  ITjCüh  8e  tov  rjQO?  äjiia  zoToi  yEvo/.iEvoioi  ipvxsoiv  EQvatsre/.ara  JtoXXa,  zoToi  xal 
/.lEza  JiQocpaoiog ,  roToi  S'ov'  xaxotj&sa  jioXXmvc  ExxEivav.  noXXol  (pägvyyag  EJtövrjoav, 
(pojval  xaxovfXEvoi,  xavaoi  qpQEvizixol,  azof^iaza  dcp&codEa ,  atdoioig  cpvfiaza,  ocpd^aXfiiai, 
OLvd^gaxEg ,  xoiXiai  zagax(ö8E£?,  anöaixoi,  8iy'a)8Esg,  01  fikv,  01  8'ov.  ovga  zaQajiw8Ea, 
JTOvX^Xa  xaxä.  xMfiazcödeeg,  ixl  novXv  xal  jidXir  äygimt'oi.  dxQaoi'ai  jioitXXal,  8vaxQira, 
vdQCOjiEg,  (p&ivcoÖEEg  jiovXXoi.  za  [xkv  E7zi8r]/ii^aavza  vovorjfiaza  zavza.  ixdazov 
8e  zcöv  v7ioyEyQafifi£V<ov  eiScöv  rjoav  ot  xdfivovzeg  xal  k'&vtjoxov  jioXXoi. 
^vvEJiiTizE  8e  iy'  ixdazoioi  zovr£0)v  wSe.  (Folgt  Schilderung  der  einzelnen  epi- 
demischen Krankheiten,  zuerst  des  EQvamEXag  und  später  dann  in  Kap.  7  die  oben  gegebene 
Notiz  über  äv&gaxsg.)  —  Scribonius  Largus  25  (ed.  Helmreich,  S.  15):  Ad  sordida 
ulcera  ocuiorum  crustasque  habentia,  quas  ia^dgag  vocant,  item  [ad]  carbunculos,  quos 
äv'doaxag  dicunt,  facit  bene  et  per  se  mel  Atticum  py.\ide  Cyprii  aeris  conditum  et 
repositum  mensibus  duobus  nee  minus.  —  Philo  (ed.  Mangey  II,  211);  "Ev  /iiEv  )[aXEnfjg 
vöaov  xal  8vaidzov  jzd'&ovg  ojiaXXayrjv,  rjv  ävd^gaxa  xaXovaiv,  djzo  zov  xalsiv  ei'zv- 
(fö/LiEvov ,  CO?  oifiai,  zavzrjg  zfjg  TZQOOTjyogiag  zvxovzog,  ijzig  ov  xoXwzEgor  zoTg  zag 
dxgojcoa^iag  k'/ovoiv  iyytvszo.  —  Aretaeus  de  morbis  acutis  I,  9  (ed.  Ermerins, 
S.  15):  •  •  •  Ev  xvxXq}  8£  zfjg  eaydgrjg  igv'&r) fia  y lyvEzai  xagzEgov  xal  (pXEy/iiovr], 
xal  Tiövog  (pXEßcöv,  co?  £^'  avß gaxog.  —  Galen,  Method.  med.,  Lib.  II,  cap.  i  = 
Kühn  XI,  76:  rö  fisv  ovv  dxoißsg  igvaiJiEXag  avzov  zov  Sig^tazog  juövov  Ttüdog  ioziv. 
ov  [A.7]r  rj  ys  (pXEyfiovi]  /wvojv  zö)v  vjioxsifiEvwv  zc3  digfiazi  fiogicov,  dXXa  (idXiaza  iliev 
zovxcov,  EviozE  Se  xal  zov  Ssg^iazog.  xal  foziv  avzrj  zäXXa  /xev  oSvvtjgd  zfjg  izigag  ov8ev 
Tjzzoi',  obtsozi  8'  avzfjg  6  aqpvyfiög.  ozav  8e  x6  Eniggiov  alf^a  ßsgfiov  ixavcög  f]  xal 
TzayV)  yaß'  Sri  av  fiögiov  d&göov  ejziggvfj,  zovzo  xavaav  i'Xxog  koydgav  syov 
Eigydoazo.  rö  jzsgi^  8'  avzov  jzäv  Eig  (pXEyfiovrjv  i^aigsi,  ^sovadv  ze  xai 
8Eivcog  £jia)8vvov.  ovofid^Ezai  8k  z6  zoiovzot'  Tiädog  äv&ga^.  ozav  8e  zo 
EJtiggiov  alfia  fisXav  fj  xal  nayv  xal  lXv(ö8£g  xal  ^eov,  oiöv  TiEg  z6  jigosigrj- 
fiivov,  äfxa  8e  xal  iywgäg  zivag  Xsjzzovg  fiefiiyfisvovg  Eyiit  <pXvxzalvag  ejzi- 
noXfjg  zov  8£gfiatog  dviazrjoiv,  o/noiag  raig  ützo  nvgog  &v  ixgijyvvfiEvojv 
z6  iayagöiSEg  vjr'  avzaig  iXxog  EvgiaxEzaf  xal  k'oziv  äv&ga^  ij8t]  xal  zovzo. 
—  Galen,  de  compos.  medicament.  sec.  genera  V,  c.  15  =  Kühn  XIII,  854:  '0  äv&ga^ 
iXxog  Eozlv,  Eoydgav  zayv  noiovv,  fiEzd  cpXEy jxovfjg  layvgäg  zov  Tiigi^  /zogiov 
jzavzog,  woze  xal  nvgEzovg  ijZKpigEod^ai  o<po8govg  xal  xiv8vvovg  kaydzovg. 
(Vgl.  noch  Galen  XVI,  461  und  XIX,  442  und  Galen  bei  Orib.  IV,  519—520.)  — 
Galen,  Introductio  16  =  Kühn  XIV,   777:  dvd^gdxoioig  8e  eoziv  sXxog  iayagcödEg 


l)   Geis.   V,   28,    14:   Acrochordon,  si  excisa  est,   nullam   radiculam   relinquit,  ideoque 
ne  lenascitur  quidem. 


—      724      — 

ILiera  vo/i?]g  xal  QF.vfiarog  xal  ßovßioi'oz  fvlore  >cni  jTi'Qercör  yivo/ifvwv  jieqI 
TO  äX).o  Jiäv  awfia,  eozi  Se  oxe  xal  jieqI  oqp&alfiovg.  —  Galen,  Commentar.  I  in 
Hippocrates  üb.  I,  Epidem.  c.  I  =  Kühn  XVIT  A,  36:  ....  xadänEQ  rj  Kgai'cov  kv 
xoiXo}  xal  fiEoi] ^ß Qirri)  yjOQio)  xei/iev?],  y.al  diä  lovro  fiäXiOTn  orjTtEdovcödEOi 
vonrjixaoi,  rote  äv&Qa^n'  älovoa.  —  Herodot.  bei  Oribas.  IV,  617:  Ol  äv&qaxeg 
vjtayöfiEvoi.  xara  ysvog  zotg  £§avdi]f/.aai7'  Efi<pEQEtg  eioi  zaig  vjiö  xavxrjQOJv 
y ivofjiEvaig  löy^ägaig  ovv  rm  jigooEyEo&ai  raig  ßdoeai  xal  Toojiot'  riva  jiQoorjXwa&ai' 
yivovzai  Sk  /äeto.  vof.ifjg.  'Akla  01  (liv  jieqI  t>)  oagxl  m'ozärzEg  oi'fzof^ioyg  jiEQiyQCicpovzai, 
Ol  8e  xaza  ziör  vevqcov  r)  töjv  v^ihnov  yivofiEvoi  fiEyol  noXXov  cpEQOvzai  xal  xaza  or>/nji(x- 
deiav  zoTg  vjioxEifisj'Oig  xoiXotg  zojioig  djiozt&Evzai,  xal  01  filr  tteoI  xEcpaXijv  ovozdvzsg 
zoTg  jTQog  zw  tQayi^Xco  (ieqeoi  oxXrjgiag  sjnq?FQovoiv  .  .  .  oi  (ik  jieqI  alöoTa  xal 
oxeXeoi  xal  zoTg  Jisgl  rovg  ßovß&vag.  Ovx  öXiyoi  8e  xal  zq,  Jiegixsi/UEva  (xsQrj 
eig  Siajtvtjaiv  äyovoiv  .  .  .  sjitylvovxai  8k  avzoTg  jiövoi.  fisil^ovEg  zov  yEvo/iiEvoj' 
/lEys&oi'g,  zial  8e  xal  iQiovjisXaza  ijzifir'jx)],  zotg  8f  TiAEiazoig  xal  jivqszoI,  zd  8e 
aviijiaßrjoavza  ,UEot],  ei  fitj  >i:aA(5?  ^EgaTZEvÜEirj,  8ianv'toxEi.  .  .  .  rivovzai  8h  xal  xazd  zivag 
EJziSrj nov g  alziag  xazd  zovg  nXEiazovg  xal  djro  i&cör  Etg  E&7]  fiE'&iazavzai.  (Vgl. 
auch  Oribas.  V,  343 — 344-)  —  Paliadii  Lausiaca  histona,  c.  39  ed.  Paris  1644,  c.  2b 
ed.  Cambridge  1904:  zovzcov  oi'zcog  8iajZQazzo/L(£rcov  ysyarsv  dvdga^  xaz'  avzfjg  zfjg 
ßaXdvov ,  xal  etzI  zoaovzo7'  Er6at]<iEv  i^afiiji'iaiov  ygörov  cog  xazaoa^f/vai  avzov  zd 
/itÖQia  xal  dnojieoEir'  (vgl.  oben  S.  696  —  699). 

Unter  o  ärdga^,  fj  ärdgrixcooig  haben  die  alten  Aerzte  ganz  offen- 
bar verschiedenartige  mit  Gangrän  und  Nekrose  einhergehende 
Affektionen  der  Haut  verstanden.  Das  Wort  äv&ga^,  das  nach  dem 
oben  mitgeteilten  Zeugnis  des  Scribonius  Largus  von  den  Römern 
mit  „carbunculus"  genau  dem  Sinne  des  griechischen  Wortes  ent- 
sprechend übersetzt  und  so  auch  von  Celsus  und  allen  späteren 
Autoren  gebraucht  wird,  bedeutet  „Kohle",  wohl  wegen  der  Schwarz- 
färbung der  gangränös-nekrotischen  Stelle,  nach  Philo  wegen  des 
heftigen  Brennens  an  der  affizierten  Stelle,  nach  Hippocrates  und 
und  Galen  wegen  der  Zerstörung  der  Flaut  durch  Verbrennen 
{nvQnqxavoroi).  Es  ist  ein  h'lxog  soxc^gcödeg,  juerd  vojtifjg,  das  entweder 
direkt  oder  aus  vorhergegangenen  Blasen  und  Pusteln  {(pXvKxaivai) 
bezw.  einem  Erysipel  entsteht,  entweder  nur  die  Haut  betrifft  oder 
auch  das  Unterhaützellgewebe  in  Mitleidenschaft  zieht,  in  der  Mehrzahl 
über  den  ganzen  Körper  verstreut  oder  auch  an  einzelnen  Teilen 
vorkommt,  bisweilen  epidemisch  auftritt,  von  heftigen  Schmerzen,  von 
Fiebern  und  Anschwellungen  der  benachbarten  Drüsen  begleitet  sein 
kann.  Das  gemeinsame  Merkmal  dieser  verschiedenen  x\ffektionen 
ist  das  primäre  oder  sekundäre  gangränöse  Geschwür.  Zweifel- 
los wird  sowohl  unser  gewöhnlicher  Karbunkel,  ferner  die  echte 
Milzbrandpustel   (pustula  mala)  ^),    die  erysipelatöse  Gangrän,   die  dia- 


i)  So  heisst  es  in  der  alten  lateinischen  Uebersetzung  der  Synopsis  des  Oribasius 
(ed.  Bussemaker  et  Daremberg  VI,  143):  Carbunculi  autem  quos  Greci  antracas  vocant, 
rustici  pustellas  malas  adpellant. 


—     7  25     — 

betische  Gangrän,  der  g-angränöse  Schanker  der  Genitalien,  endlich 
epidemische  Hautkrankheiten  mit  Eruption  von  Hautblasen  mit 
sekundärer  Geschvvürsbildung ')  zu  verstehen.  Nach  den  durchaus 
klaren,  von  Galen  (XVII  A,  36)  in  jeder  Beziehung  bestätigten  An- 
gaben des  Hippocrates  kamen  solche  gangränösen  Hautgeschwüre 
besonders  häufig  in  der  heissen  Jahreszeit  und  bei  einem  die  sep- 
tischen Prozesse  {r/^cogeg,  oljy,  o^]JiFSov(o6ea  voo)'jf(aTn  Hippocrates, 
Galen)  begünstigenden  Klima  vor,  wie  das  z.  B.  für  die  geschilderte 
Epidemie  in  Kranon  (Hipp.  Epid.  III,  3  cap.  7)  zutraf.  Uebrigens 
sei  ausdrücklich  darauf  hingewiesen,  was  die  Verteidiger  der  Lehre 
von  der  Altertumssyphilis  durchweg  übersehen,  dass  die  Schilderung 
der  hippokratischen  Epidemien  (III,  3  cap.  3  ff.)  eine  ganze  Reihe 
verschiedener  epidemischer  Krankheiten  und  Krankheitsarten  um- 
fasst,  wie  ja  auch  klipp  und  klar  gesagt  wird  {rd  /(h  ijnd7]fn]aavTa 
}'Ovn)'j/iaTa  Tavra.  ixdorov  dl  töjv  imoyeygajii/ievwv  etöcov  fjoav  01  xdfi- 
rovTeg  xai  edyrjoxov  noXXoi  ^vvkjtiTiTe  de  ecp'  exdoroioi  rovikov  cbde),  dass 
diese,  nachdem  sie  in  Kapitel  III  summarisch  aufgezählt  worden 
sind,  dann  in  den  folgenden  Kapiteln  ausführlich  einzeln  geschildert 
werden  und  zwar  fast  genau  nach  der  Reihenfolge  ihrer  Aufzählung 
in  Kapitel  3,  nämlich:  Erysipel  mit  Gangrän  (Kap.  4),  Schling- 
beschwerden und  Stimmbandaffektionen  (Kap.  5),  Brennfieber  {xavaoi) 
und  „Phrenitis"  (Kap.  6),  Aphthen  im  Munde  (Kap.  7),  Ophthalmien 
(Kap.  7),  Anthrakes  und  andere  septische  Affektionen  (Kap.  7),  Ver- 
dauungskrankheiten (Kap.  8).  Alle  diese  Affektionen  treten  in  epi- 
demischer Weise  auf.  Keinesfalls  handelt  es  sich  hier  um  ein  ein- 
heitliches Krankheitsbild,  sondern  um  viele  verschiedene  {jtoXXoi) 
Patienten  mit  den  respektiven  verschiedenen  Leiden!  Das  ist  für 
den  unbefangenen  Leser  unbestreitbar. 

Sehr  klar  ist  auch  die  Schilderung  des  Pneumatikers  Herodot, 
der  die  epidemischen  und  die  nicht  epidemischen  ävd'gaxeg  von 
einander  unterscheidet,  die  benachbarte  Drüsenschwellung,  z.  B.  die 
der  Inguinal-  und  Oberschenkeldrüsen  bei  Genitalanthrax 
erwähnt.  Schliesslich  wird  dann  dieser  letztere  als  isolierte  Erschei- 
nung von  Philo  und  Palladius  derart  geschildert,  dass,  wie  schon 
oben  (S.  6g6 — 69g)  dargelegt  wurde,  an  der  Diagnose  eines  gangrä- 
nösen und  serpiginösen  Schankers  nicht  zu  zweifeln  ist. 
4.   "A(p'&a,   ätpd^ai. 

Hippocrates  Aphor.  III,  24  =  Kühn  III,   725:  xoiai  f^sv  o[xix(}oloi  xal  vsoyvoioi 
naidloioiv    ä<p&ai  ....    —    Hippocrates    Epidem.    III    s.    III,    c.    3    =  Kühn    III,    482 : 

i)   Häser    vermutet    z.   B.   in  diesen    epidemischen  äv&gaxeg    die  Blattern    (Lehrbuch 
der  Geschichte  der  Medizin,   3.   Aufl.,  Bd.   III,   S.    22  —  23). 


—     "]  2b     — 

.  .  .  OTOfiaTa  dqpß'mdsa  .  .  .  (vgl.  die  ganze  Stelle  unter  Nr.  3  av&ga^).  —  Hippocr.  ib. 
c.  7,  Kühn  III,  486  =  Kühlewein  I,  227 — 228:  i^aav  ös  xal  dkkol  JtvQsrol  jieqI  a>v 
ysyQdtpsrai.  ozöfiata  nokXoiaiv  dcfdojSsa,  Elxdjösa.  gev^iaza  tisqI  xd  alöoia  noXXd. 
Hxcofiata,  (pvjxaxa,  e^cod'sv,  eaw&sv  tu  jisqI  ßovßwva?.  oq^&aXfiiai  vygai,  fiaxgoxßdvioi 
/Lierd  Jtövoiv  etc.  —  Hippocr.  de  natura  muliebri,  c.  60  =  Kühn  II,  586:  t^v  dcpd'rjorj 
ra  aidoTa,  [jLVQza  Eiprjoai;  iv  oivto  öiaxlvCsoßo)  alöoia  .  .  .  (vgl.  auch  c.  86  =  Kühn  II, 
591).  —  Hippocr.  de  nat.  muliebri,  c.  100  ^  Kühn  II,  596:  t/}'  jiaiöiov  dip'&ä  xd 
alöoia,  d/iivyöaka  XsTa  XQixpag  etc.  (vgl.  auch  Hippocr.  de  morbis  mulierum  I,  c.  34  = 
Kühn  II,  656).  —  Hippocrat.  Praenotiones  Coacae  518  =  Kühn  I,  324:  rfjoiv  sjti- 
(poQoiaiv  7]ör]  dfpd'coösa  Qsvfiaxa  sjicoövva  jiovi]q6v  (vgl.  auch  Praenot.  Coac.  528  = 
Kühn  I,  326).  —  Hippocr.  de  morbis  II,  c.  50  =  Kühn  II,  263:  rjv  d(pd^rjorj  rj  avgiy^ 
xov  jiXev fj.ovog ,  Jtvgexog  i'a/ei  ß?L?])(Q6g,  xal  oövi't]  fiiaor  z6  azfj-dog,  xal  xov  acofxaxog 
xvt]o/ii6g,  xal  t)  (pcovi]  ßgayxoiötjg  xal  xd  aialov,  hygor  xal  Aejixdv  7ixi<ei,  ivioxs  ös  na^v 
xal  oiov  nxiadvrjg  ^vXov  .  .  .  —  Celsus  II,  c.  1  ed.  Dar.,  S.  30:  Tum  si  qua  imbecillitas 
oritur,  proximum  est,  ut  infantes,  tenerosque  adhuc  pueros  serpentia  ulcera  oris, 
quae  acp&ag  Graeci  nominant  .  .  .  exerceant  (Uebersetzung  von  Hippocr.  Aphor.  III, 
24).  —  Celsus  VI,  c.  11  (de  oris  ulceribus)  ed.  Dar.,  S.  249:  Verum  ea  longe  peri- 
culosissima  ulcera  sunt,  quas  d(p&ag  Graeci  appellant;  sed  in  pueris:  hos 
enim  saepe  consumunt.  In  viris  et  mulieribus  idem  periculum  non  est.  Haec  ulcera 
a  gingivis  incipiunt.  deinde  palatum,  totumque  os  occupant:  tum  ad  uvam 
faucesque  descendunt;  quibus  obsessis,  non  facile  fit  ut  puer  convalescat.  Ac 
miserius  etiain  est,  si  laclans  adhuc  infans  est;  quo  minus  imperari  remedium  aliquod  potest. 
—  Erotianos  ed.  Klein,  S.  42:  d<pdojÖ£a'  drpßa  leysxai  i^ar&tjiiidzcor  fiöog  jisgl  xd  xmv 
naiöioiv  oxö/^axa  fidhoxa  yivofzsvwv.  —  Arelaios,  De  morb.  acut.  I,  c.  9  ed.  Ermerins, 
S.  15:  "EXxEa  iv  xoTot  jtagioi^/^i'oioi  yi'yvsxai,  xd  j^ikv  ^vvrjd'Ea,  Evrjd^Ea  xal  daivsa'  xa  ös 
^Eva,  XoijuwÖEa  xal  xxsh'orxa.  —  AofficjÖEa  ös  6x60a  nkaxia,  xolXa,  gvjiaga, 
EJiinayü)  Xevxoj,  l)  jisXiövol,  1)  /.liXai'i  ovve}[6 /iiEva'  urpßai  xovvo/A,a  xoTai 
sXxEOi.  rjv  ös  xal  6  ijiijiayog  'loyi]  ßddog,  F.oydgi]  xd  nd&og  xal  eaxi  xal  xaXsExai  .  ■  . 
Tjv  öe  Eg  xov  &a>g7]xa  VE/Lit]xai  öid  xijg  dgxrjghjg,  xal  avxfjfxag  djiEJivi^E  .  .  .  öta  xoöe 
Jiaiöla  /iidXiaxa  Jida/si  dygig  ijßrjg'  ycogr}  Öe  xIxxei  AXyviixog  fA-äXioxa  .  .  .  xixxsi  ös  xai 
rj  Evgh]  fidXioxa  xoiXr],  o'dsv  Alyimxia  xal  2vgiaxd  sXxsa  xdös  xixXrjoxovai.  —  Pseudo- 
Galen, Defin.  med.  381  =  Kühn  XIX,  441:  "Acpßa  sazlr  sXxcooig  sjiiTiöXaiog  iv 
axdjuaxi  yiyvofiivrj,  ijiiTioXd^Ei  Öe  avxr]  1)  f'Xxomig  imXioxa  Jiaiöloig.  —  Galeni  Commentar. 
in  Hippocratis  Aphorism.  III,  24  =;  Kühn,  XVII  B,  S.  627:  im  ovv  xcöv  Jiaiöimv  xcöv 
vEoyvön'  äfpdag  (prjal  yiyvsodui.  xaXMvoi  ök  ovxojg  t«?  ijiiJioXfjg  EXxcoasig  xaxa  xo  oxofta, 
öia  iiaXaxöxrjxa  ixdXioxa  xcöv  ogydvcov  yiyvofisvag,  fit]  <psg6vxoiv  fxrjxs  xrjv 
noiöxrjxa  xov  yäXaxxog  s/ovxog  ovx  oXiyov  oggtöösg  iv  avxcö.  —  Galen,  de  compos. 
medicamentor.  sec.  locos  lib.  VI,  c.  9  =  Kühn  XII,  988:  Tdg  imjioXrIg  sXxo'iosig  iv  x(p 
oxofiaxi  yivojusvag  ovoßd'Qovoiv  a^pd-ag,  iyoi'oag  xi  xal  ■&Egiu6xt]xog  jivgcaöovg.  yivovxai  ös 
xovTiinav  avxai  xocg  ßgicpsoiv,  oxav  rjxoi  /uoyßrjgdv  e'u]  xd  ydXa  xfjg  xix^fjg  ^  /irj 
xaXöyg  avxd  Jiävv  Jisxxr]  xd  Jiaiöiov.  sviaxoi  ö'  slol  xovjtijiav  stiI  roTg  fisxgimg 
axvrpovoi  xa&iaxdfiEvai,  Jtoxs  ys  firjv  xal  ygovl^ovoi  xal  övoXvxoi  xai  x(ä 
Xgdvcp  arjTZBÖovcöösg  Eyovoi  xd  xaXovjiisvov  vjid  xcöv  laxgöjv  vofirjv.  —  Galen, 
Commentar.  III  in  Hippocrat.  Epidem.  III,  12  =  Kühn  XVII  A,  662:  ac  fikv  ovv  äcf&ai 
xaxa  xd  axdfia  yivovxai  ovvsycög  xoTg  Jiaiöioig,  sXxcooig  ijiiJioXfjg  ovoai,  ötdxi  xs  fiaXa- 
xcoxaxa  xd  fidgia  ndvx''  saxlv  avxcöv  xal  crTov  ßgvcdörj  xal  Jigdg  xovxoig  sxi 
xo  axdfia  navxÜTiaoiv  ärj'&sg  dfxiXiag  iöeofidxojv  xe  xal  jtofxäxcov.  oxav  ovv 
xo  ydXa  xfjg  xix&rjg  i'/rj  xivd  ögi/ut'xtjxa,  xdg  äcp&ag  igyd'QExai  jiavofiivag 
gaöicog,  idv  /xsxgiojg  oxixpr]   xig  xd  oxdf^ia  xov   ßgicpovg.     oxav  Öe  xig  ijiiggvfj 


—     727      — 

uoyd^tjoog  yvuoi;,  dsl  xay.orj&eig  äqdai  ovviOTavTat.  (Vgl.  dazu  Oribas.  III,  93; 
V,  148  — 149;  VI,  585 — 587;  Aetius  Telrab.  II,  Senn.  IV,  c.  39;  Paul.  Aegin.  I,  10; 
III,  4 — 5).  —  Aetius  Tetrab.  II,  Sermo  IV,  c.  4Ö:  JIsol  kTjv  ev  jiaoio&idoig  iaxaQCoöcöv 
xal  Xoifxwbwv  iXxcöv  .  .  .  ejtI  8e  zcör  aatSUor  <bg  J.Tt'.Tar  ä<p&tjg  jtQ07]yt]aafiev7]g 
a:xor£?.EiTai  rö  Tiä&og.  —  Cassius  Felix,  c.  36  (ed.  Rose,  S.  78):  est  iteium  alia 
ulceratio  praeter  febreni  acutam,  quae  inter  acra  oris  spatia  efficitur  alba  vel  nigra  aut  carte 
cinericio  colore  fuscata,  quam  tefroden  vocant,  et  appellatur  a  Graecis  consuete  aptha,  quam 
nos  oris  coctionem  dicimus.  et  est  deterior  vel  mortifera  in  infantibus  brevissimis  lactantibus 
ob  teneritudinem  aetatis  illa  quae  fuerit  alba  in  similitudinem  granorum  minutorum  siliginis, 
maxime  si  et  Caput  linguae  obiinuerit. 

Unter  „Aphthen",  die  etymologisch  nach  Kraus  i)  entweder 
mit  äjiTco,  anzünden,  äinouai,  entzündet  sein,  brennen,  zusammenhängen 
oder  von  d-  priv.  und  qddw  =  nicht  zerstören  abgeleitet  werden, 
haben  nach  den  mitgeteilten,  für  die  Bedeutung  des  Leidens  wesent- 
lichen Stellen  die  Alten  in  der  That  zwei  gänzlich  verschiedene 
Krankheiten  der  Mund-  und  Rachenhöhle  bezw.  der  Genitalien  ver- 
standen, nämlich  i.  die  relativ  harmlosen  Aphthen  und  wohl  auch 
den  Soor  und  2.  die  Diphtherie. 

Schon  bei  den  Hippokratikern  wird  das  Vorkommen  der  Aphthen 
bei  Kindern,  hauptsächlich  Neugeborenen,  im  Munde  und  an  den 
Genitalien,  unter  fieberhaften  Erscheinungen  erwähnt.  Aber  auch 
die  so  typische  aphthöse  Erkrankung  der  Genitalien  bei  schwangeren 
Weibern  '^)  war  ihnen  schon  bekannt  (de  natura  muliebri  c.  60).  End* 
lieh  erwähnen  die  Hippokratiker  schon  das  Hinabsteigen  der  Aphthen 
in  die  Luftröhre  (de  morb.  II,  50),  Vielleicht  handelt  es  sich  hier 
schon  um  eine  Andeutung  der  Diphtherie,  die  von  den  späteren 
antiken  Autoren  ausdrücklich  mit  den  Aphthen  in  Zusammenhang 
gebracht  wird. 

Da  wir  heute  wissen,  dass  die  g-ewöhnlichen  Aphthen  eine  ganz 
harmlose  Erkrankung  sind,  so  müssen  wir  die  Schilderung  des  Celsus, 
der  von  ihrer  eminenten  Gefährlichkeit  spricht,  von  ihrem  Fortschreiten 
nach  unten  und  dem  hohen  Prozentsatz  der  Todesfälle,  auf  Diphtherie 
beziehen.  Dies  wird  durch  die  Angaben  des  Aretaios,  Galen, 
Aetius  und  Cassius  Felix  bestätigt.  Galen  unterscheidet  aus- 
drücklich zwei  Arten  von  Aphthen,  eine  harmlose  oberflächliche,  die 
rasch  heilt,  und  eine  nach  seiner  Theorie  durch  Mi  Ich  Verderbnis  her- 
vorgerufene schwere  Form  von  gangränösem   und  progressivem  Cha- 


i)  Ludwig  August  Kraus,  Kritisch-etymologisches  medizinisches  Lexikon,  3.  Aufl., 
S.    115,  Göttingen   1844. 

2)  Ernst  Ziegler,  Lehrbuch  der  speziellen  pathologischen  Anatomie,  8.  Aufl., 
S.  476,  Jena  1895.  (,,Doch  kommen  sie  bei  Erwachsenen  ebenfalls  vor,  namentlich  bei 
Frauen  während  der  Menses  und  der  Schwangerschaft,  sonst  im  Wochenbett.") 


—     728     — 

rakter.  Aretaios  schildert  die  typische  Diphtherie  der  Tonsillen  mit 
ihrem  weissen,  lividen  oder  gar  schwarzen  Belage  und  bezeichnet  sie 
ebenfalls  ausdrücklich  als  eine  schwere  Form  der  Aphthen,  die  er 
von  der  leichten  unterscheidet.  Aetius  lässt  endlich  die  Diphtherie 
der  Kinder  aus  den   Aphthen  hervorgehen  [u(pßrig  jiQor]yr]oajiievi]g). 

Indem  ich  noch  auf  meine  früheren  Ausführungen  (vgl.  oben 
S.  439  und  S.  456)  über  die  Aphthen  und  über  ihr  gleichzeitiges 
Vorkommen  im  Munde  und  an  den  Genitalien,  namentlich  bei  Frauen, 
verweise  ^),  möchte  ich  die  hiermit  vollständig  parallel  gehende  vor- 
zügliche Schilderung  der  alten  Aerzte  hervorheben,  die  sich  aus- 
schliesslich auf  die  Aphthen  und  ihre  vermeintliche  Abart,  die 
Diphtherie,  bezieht  und  jede  andere  Vermutung  gegenstandslos  er- 
scheinen lässt. 

5.   Bov ßcüv. 

Hippocrates  de  glandulis,  c.  8  =  Kühn  I,  496:  p^ar«  zavTa  öh  iv  xoloi  ßov- 
ßöjair  D.HEi  rrjv  ano  twj'  vjieQXsifitvcor  vyguoüjv  »y  u^ijv  ukXwg  st  jtXfjßog  kdßoi, 
ßovßciJVovTui  y.ul  diajTvioxEzai  xal  (p  key  fia  ir  t:  i  Ixf-koig  ftaoyäXrjol 
TE  xal  X Quy^rjlo).  —  Hippocr.  Aphor.,  Sect.  IV,  no.  55  =  Kühn  III,  735:  Ol 
EJil  ßovßojai  jivQEZol  n:üvzE<;  y.uy.ol,  jilrjv  zojv  iqprjfieQCOV  (vgl.  Hippocr.  Epideni. 
II,  .Sect.  III,  c.  5  und  Cels.  III,  5).  —  Hippocr.  de  natura  pueri,  c.  4  :=:  Kühn  I,  390: 
Eozi  ()e  fjot  y.ul  y.uza  zov  ßov ß öJru  wg  (fjv/iu  yivEzai,  xdxEi  jivov  yEvöfiEVOv 
E'^TjXdE.  aal  uX/.d  jioXXa  xaxa  zfjoi  yvrai^l  zoiovzozQona  yivovzai,  öxözav  /ni]  ano- 
xuduiQOivzai  zd  xaza/ir'ivia.  —  Hippocr.  Epid.  VI,  Sect.  7,  c.  2  ^  Kühn  III,  619: 
'Eßov ßcovovzo  zd.  jiXeXaza,  Öiuzi  rjjrazTzig.  —  Hippocr.  de  articulis  58  =  Kühle- 
wein II,  203:  dvayxdCstOLi  fiEvzot  io}(VQÜ)g  ovyxdttnzcov  xazd  zovg  ßov ß(x>vag  (vgl. 
Hippocr.  vectiarius,  c.  23  =  Kühlew.  II,  257,  258).  —  Aristophanes  Vesp.  275 
bis   279: 

»y  jigooExoip'  EV 

z(ö   axözcp  zov  ödxzvAov  ttov, 

eiz'  iipkEyfiijVEV  avzov 

t6  ocpvQov  yEQOvzog  oriog ; 

y.ul  zdy'  dv  ßov ßojviMt]. 
Galen  method.  medend.  VIII,  6  =  Kühn  X,  580:  01  ydg  ejiI  ßovßöJoi 
oiVQE^avzEg  ovÖe  jivvB dvovzai  zojv  luzfjojr  ö  zi  XQtj  tioieTv  dXld  zov  iP  eXxovs 
£  cp'  oinEO  dv  6  ßovßojv  uvzoTg  eI'ij  yEy£V7'?]/nErog,  avzov  ze  zov  ßov ßcövog 
TTOOvorjodfCEvoi,  Xovovzui  xazd  zrjv  jiaQaxfirjV  zov  yEvo/iEvov  jiaQO^vofiOV.  — 
Galen  method.  medendi  XIII,  5  ^=  Kühn  X,  881:  oi'zwg  oi'v  xal  di'  sXxog  ev 
SaxzvXcp  yEi'6/LiEvov  i]zoi  71086g  t)  %Eio6g  01  xazd  zov  ßovßcöva  xal  zrjv 
/xaaxdXijv  ddsvEg  i^aiQovzai  ze  xal  cp Xsyfiaivovot ,  zov  xaza^^iorzog  etc'  dxgor 
zd  xwXmv  aXpiazog  djioXaßövxEg  siQWzoi.  xal  xazd  zgäy^if/MV  Öi-  xal  jrag'  wza  noXXdxig 
E^7jQßt]oav    dÖEVsg,    kX.xdJv    yEVOfXEvoiv   rjzoi   xazd   zi]v   xscpaXijv   J)    zov   zQÜxrjXov  ij   zi   zcöv 


i)  Nachzutragen  wäre  hier  noch  eine  interessante  Beobachtung  eines  solchen  Falles 
beim  Manne,  den  mir  Herr  Dr.  Bruno  Sklarek  in  Charlottenburg  mitgeteilt  hat.  Er  sah 
gleichzeitig  Aphthen  im  Munde  und  in  der  Fossa  navicularis  der  Urethra  und  konnte  die 
Diagnose  durch  den   negativen   Ausfall  der  Wasser  mann 'sehen  Reaktion   besiätigen. 


—     729     — 

nirjoicov  ftooicov  ovofiauovoi  Öf  rov?  ovrcog  itao&srrag  dSsvag  ßovßcövag  .  .  . 
sjisidav  yao  syyvg  dgrrjQiag  uEyälrjg  7}  (plsßog  sXxog  ysvtjiai,  räxtOTu  fisv  01  ßovßcjvsg 
dviazavzai.  —  Galen,  Introductio,  c.  17  =  Kühn  XIV,  ""9:  jtsqI  8e  ßovßdivag 
ßovßcövsg  aJt).ol,  (pviiara  i>:jzv'i'axoyTa  (vgl.  auch  Oribas.  V,  376 — 378).  —  Galen 
de  different.  febr.  I,  7  ^  K.  VII,  296:  xal  fxev  8rj  xai  oi  sjil  ßovßwoi  ^ivgeroi  TtävTsg 
xaxol,  TrXrjV  rmv  iqpTjfisQcov,  ' l7i-Toy.Qdz)]g  jiov  q)r]Oi,  xaixoi  xal  6  ßovßwv  ix  tov 
ysvovg  iozl  zoJr  (fley fiovoiv  xal  Gi'fKfij/d  xazä  ye  zovzo  zw  zfjg  orjyjswg  Xöycp,  8iä 
zovTO  yuQ  sjil  zatg  (pley fiovaig  :t:v gszzovair.  ov)(^  d)g 'EgaGiazQarog  vJisXd/jßavsv.  — 
Galen,  de  locis  affeclis  I,  c.  3  =  Kühn  VIII,  31:  cjajzeg  ozav  iyj'  ekxei  yevofievov 
(lEydXov  ßov ßcövog  iv  jiXrjßoigixcS  aojuazi,  zö  fikv  slxog  slg  ovXifv  dyd^fj,  nev)j 
ö'  6  ßovßcov ,  Tjzoi  y'  slg  (p)^ey  i.iovi]V  exTtv'iaxo  fi  kvrjv  (xezaßd}.)^(av ,  1}  slg 
oxiQQCüdi]  Öiäd  eair ,  P/v  jigoaayogsvovaiv  y^oigäda.  —  Rnfus  bei  Oribas  ins  III,  607 
bis  608 :  Bovßdiv  6  fisv  em  zaig  zvyovaaig  alziatg  cpm'sgwg  jraga.  zgdytj^Mv  xal  fiaoyä/.ag 
xal  fiTjOOvg  dviaräfxsvog  ävsv  ze  izvgEzov  xal  ovr  :TvgEzcö  .  .  .  01  6e  /.oif^codsig 
xaXov  ^lEvoi  ßovßwvEg  ßavazwÖEozazoi  xal  o^vxazoi ,  o?  /id/.iaza  jiEgl  Aißvjjr 
xal  Aiyvjzzov  xal  2vgiav  ogwvzai  ytvofisi'Of  wv  f.iEfi7>)]ftor£vxaaiv  oi  -teqI  zov 
Aiovvoiov  zov  xvgzöv.  Aiooxogi<it]g  Sk  xal  IJoasidcoviog  TiXsToza  die?.rj?u'&aaiv  iv  zcö  jxeqI 
TOV  xazd  avzovg  y£vo/>£vov  /.oif.iov  iv  Aißvi]'  jiagaxokovdEiv  Öe  scpaoav  avzrp  jrvgszov 
o^vv,  xal  oövvijv  ÖEivi/v,  xal  avGzaon'  oXov  zov  aw/xazog,  xal  jiagacpgoavvtp',  xal  ßov- 
ßcüvcov  ETiavdozaoiv  uEyäXwv  ze  xal  oxXrjgütv  xal  dvEXJivrjzwv ,  ov  fioyov  iv  zoTg 
EißiofiEvoig  zöjioig,  dXXd  [xal]  xazd  lyvvag  xal  dyxiövag,  xaizoi  ivzav&a  fii]  sidvv  ri 
yivo/n£va>r  ziov  zoiovzcov  (pÄEyfioväJv.  Tdya  dk  xal  z6  :jagu  'IjijioxgdzEi  ßovßovwÖEg  jrüdog 
zi]V  £ig7]^i£Vtjv  diä&Eoir  SijXoT.  rivoizo  ök  äv  jioze  xal  ijtl  aidoioj  6  zoiovzog 
ßovßwv,  d)o.T£0  xal  zu  i'Xxog  z6  Xoificöösg,  xal  6  .ivgEzog  ov  Xoifidjöi] 
xaXovoiv  z6  tiXeiozov  ^lirzoi  ijnö/jfua  zoiavzd  iazi,  cjoze  xoivd  sivai  ijXixiiöv  xal 
(fvoEOiv  Ev  ziotv  ügaig  i^aigsTiog  djiavzcövra.  'H  8e  lozogia  Jiavzog  zov  zoiovzov 
XQV^^f^^h  *'*'<^  ^öv  fiEv  avvi'jd)]  ßovßcöva  ■&Egaji£va>fXEV  co?  ovökv  8 v 0x0X0 r 
iyovza'      zov  8k  /.oificö8tj  fiEzu  cigoayogEvoEwg  xal  Jigoooyjjg  axgcßsozigag. 

Unter  „Bubo"  verstanden  die  Alten  i.  die  Leistendrüsen 
und  2.  allgemein  eine  Lymphdrüsenanschwellung  mit  oder 
ohne  Entzündung  der  Drüse,  mit  oder  ohne  Fieber;  3.  speziell  die 
Entzündung  der  Inguinaldrüsen.  Schon  den  Hippokratikern  war 
diese  Bedeutung  des  Wortes  ßovßojv  bekannt.  In  dem  zitierten  Verse 
aus  den  „Wespen"  des  Aristophanes  haben  wir  wohl  die  früheste 
Kenntnis  eines  genetischen  Zusammenhanges  des  Bubo  mit  vorher- 
gegangenen Geschwüren  bezw.  Verletzungen  zu  erblicken,  welche 
Kenntnis  dann  bei  Galen,  Herodot  und  Rufus  wissenschaftlich  nieder- 
gelegt worden  ist.  Galen  zählt  den  Bubo  zur  Gattung  der  cpXey f,iovai,  der 
Entzündungen  und  schildert  sehr  richtig,  wie  er  noch  weiter  bestehen 
kann,  wenn  das  ihn  veranlassende  Geschwür  längst  vernarbt  ist,  und, 
wenn  er  nicht  resorbiert  wird,  entweder  in  eine  abscedierende  Ent- 
zündung oder  in  eine  chronische  Verhärtung  übergeht.  Galen  (X,  881) 
erwähnt  nur  die  Geschwüre  an  den  Fingern  und  an  den  Füssen  als 
Ursachen  der  Bubonen  der  Achselhöhlen  und  der  Inguinalgegend. 
Eine    deutliche    Erwähnung    der    häufigsten    Ursache    der    Inguinal- 


—     730     — 

bubonen,  der  Genitalgeschwüre,  vermissen  wir  bei  ihm,  so  dass 
Rosenbaum  an  die  angebliche  Thatsache,  dass  bei  den  alten  Aerzten 
dieser  Zusammenhang  nicht  erwähnt  worden  sei,  allerlei  seltsame  Schluss- 
folgerungen knüpfte,  wie  z.  B.  die,  „dass  die  Aerzte  die  sympathischen 
Bubonen  selten  oder  nie  zu  Gesicht  bekamen,  da  die  Kranken  das 
Geschwür  selbst  behandelten  und  die  Bubonen  dann  von  selbst  ver- 
schwanden". 

Weder  Rosen  bäum  noch  Proksch  haben  die  oben  (S.  724  u. 
725)  wiedergegebenen  sehr  interessanten  Ausführungen  des  Herodot 
und  die  des  Rufus  von  Ephesus  über  den  Bubo  benutzt,  in  denen 
von  einem  solchen  Zusammenhang-  zwischen  Genitalgeschwür 
und  Bubo  deutlich  die  Rede  ist.  Wir  geben  die  ganze  Stelle  des 
Rufus  hier  nach  der  deutschen  Uebersetzung  von  Haeser^)  wieder: 

„Aus  den  Bemerkungen  des  Rufus  über  den  Bubo.  Derjenige  Bubo,  welcher 
aus  zufälligen  Ursachen  in  der  Gegend  des  Halses,  der  Achseln  und  Schenkel  bemerkbar 
sich  erhebt,  verläuft  mit  oder  ohne  Fieber.  Notwendig  ist  das  zum  Bubo  sich  gesellende 
Fieber  mit  Frost  verbunden.  Und  wenn  nichts  anderes  im  Spiele  ist,  so  löst  es  sich  leicht 
ohne  Gefahr.  Ueber  diesen  Bubo  sagt  Demokriliis,  dass  er  durch  Auflegung  von  Blei 
mit  Phönikion  entweder  ganz  seinen  entzündlichen  Charakter  verliere,  oder  sich  doch  sehr 
verbessere.  Dagegen  sind  die  sogenannten  Peslbubonen  im  höchsten  Grade  lebensgefahrlich 
und  rasch  verlaufend.  Sie  entstehen  vorzüglich  in  der  Gegend  von  Libyen,  Aegypten  und 
Syrien.  Ihrer  erwähnt  Dionysius  der  Bucklige.  Hiervon  erzählen  Dioskorides  und 
Posidonius  sehr  viel  in  der  Schrift  über  die  zu  ihrer  Zeit  in  Libyen  herrschende  Pest. 
Sie  sagten  aber,  dass  sich  zu  derselben  hitziges  Fieber,  Schmerz  und  Aufregung  des  ganzen 
Körpers,  Geistesverwirrung  und  Ausbruch  grosser  und  nicht  in  Eitenuig  übergehender 
Bubonen  hinzugeselle,  nicht  blos  an  den  gewöhnlichen  Stellen,  sondern  auch  in  den  Knie- 
kehlen und  in  der  Armbeuge,  obschon  an  diesen  Stellen  sonst  niemals  solche  Entzündungs- 
geschwülste vorkämen.  Jedenfalls  möchte  das  bubonenartige  Leiden  des  Hippokrates 
auf  die  in  Rede  stehende  Diathese  hindeuten.  Es  möchte  auch  wohl  einmal  in  der  Scham- 
gegend diese  Art  des  Bubo  auftreten,  wie  auch  der  pestartige  Schwären  {slxog  [Karbunkel?]) 
und  das  sogenannte  Pestfieber.  Solche  Ereignisse  sind  meistens  epidemischer  Art,  so  dass 
sie  bei  allen  Altersklassen  und  Konstitutionen  in  gewissen  Zeiten  begegnen.  Die  Kenntnis 
dieses  ganzen  Gegenstandes  aber  ist  nützlich,  damit  wir  den  gewöhnlichen  Bubo  als 
einen  durchaus  ungefährlichen  behandeln,  den  pestartigen  aber  mit  grösserer  Umsicht  und 
Sorgfalt." 

Wir  ersehen  hieraus,  dass  man  sehr  genau  den  gewöhnlichen 
Bubo  und  also  auch  den  Bubo  venereus  von  dem  Pestbubo  unter- 
schied, und  zwar  sah  man  jenen,  wie  es  ja  der  Fall  ist,  als  relativ 
harmlos  an  in  Vergleichung  mit  dem  Bubo  der  Pest.  Sehr  interessant 
ist  nun  die  zweifellose  Erwähnung  von  Bubonen  bei  Genital- 
leiden, die  ja  auch,  wie  wir  schon  sahen.  (S.  724  u.  725),  von  dem  Pneu- 
matiker Herodot  (bei   Oribas,  IV,  617)  klar  und  deutlich  beschrieben 


l)   Haeser,    Lehrbuch   der  Geschichte  der  Medizin,   3.  Aufl.,  III,  17 — 18. 


—     731     — 

werden.  Von  Haeser  ist  die  betreffende  Stelle  des  Rufus  dem  Sinne 
nach  nicht  genau  übersetzt  worden,  dagegen  scheinen  mir  Busse- 
maker  und  Daremberg  das  Richtige  getroffen  zu  haben,  wenn  sie 
die  Stelle  folgendermassen  wiedergeben:  „Parfois  cette  espece  de 
bubon  pourrait  bien  survenir  ä  l'occasion  d'une  affection  des  parties 
genitales,  de  meme  que  Tulcere  pestilentiel  et  la  fievre  qu'on  nomme 
pestilentielle;  le  plus  souvent,  cependant,  ces  affections  sont  epi- 
demiques."  In  der  That  wird  durch  den  Satz  rb  jrXeToTov  /iievroi  sjii- 
örj/Lua  eine  neue  Gattung  der  epidemischen  Bubonen  der  Leisten- 
gegend von  der  vorher  beschriebenen  unterschieden,  so  dass  wir 
einen  nichtepidemischen  Bubo  mit  Ulceration  und  Fieber  und 
einen  epidemischen  hier  erwähnt  sehen.  Bei  dem  ersteren  handelt 
es  sich  dann  wohl  um  einen  Bubo  bei  gangränösem,  serpiginösem 
Schanker  mit  begleitendem  Fieber.  Von  Interesse  ist  es  auch,  dass 
Rufus  in  dem  ßovßcovcodeg  jxddog  bei  Hippokrates  {Tragu  'IjijroxQaxEi, 
nicht  des  Hippokrates,  wie  Haeser  irrtümlich  übersetzt)  schon  die 
Bubonenpest  vermutet  ^). 

5.  Foröggoia  (und   Verwandtes). 

Hippocrat.  Aphor,  IV,  82  =  Kühn  III,  738:  'Oxoaoiaiv  ev  zf/  ovQrj§Qr]  qrvfiaza 
fpvsrai,  zovTSOioi  diaJivijaavTog  nai  engayerrog  kvaig  (vgl.  auch  Aphor.  VII,  57  =  K. 
III,  763).  —  Hippocratis  Coac.  praenot.  463  =  Kühn  I,  312:  Oioi  de  (pvfia  jisqi 
rt/r  xvoTiv  eatl  ro  jraQS/ov  tIjv  övoovQÜp',  rrarioi'cjg  a/ijftazio&svzsg  oyXiovzai.  Ävaig  de 
zovzoi'  yivezai  jtvov  gay erzog.  —  Hippocr.  de  morb.  muHerum  I,  2  =  Kühn  II,  614: 
ijy  de  fil)  01  zä  xaza  z6  atSoiov  /(Oßj;ö»;  zä  ejzif.ir]via  diÜMva  yevofieva  ig  za 
vyteg  zov  ßovßwvog  ^vfißtjoerai  xazä  zijv  lajrdQtjv  gayrjvai,  äieg  qpvfxazog,  äze  zov 
Jtvov  diaggayevzog,  xai  xelrtj  ](^ojgif]aei  Jtvcodea  od/iiakea.  —  Hippocrat.  de  inorbis  II, 
51  =  Kühn  II,  265:  qdioig  vcoziag.  f)  vcoziag  (pßiaig  djio  zov  fxvekov  yivezai.  Xafißdvec 
äe  ßdkioza  7-eoydfxovg  xai  cpiXoldyvovg  .  .  .  xal  tjv  egwzäg  avzöv,  <pt]oei  01  dvoider  djrö 
zfjg  xeq)akiig  xazct  zr}v  gdyiv  xazegyeadai  doxeiv  oior  fivg^itjxag,  xai  ejzrjv  ovgei]  rj 
uJTOJiazei],  JiQoegyezai  01  dogog  jiovlvg  xai  vygog,  xai  yeverj  ovx  iyyivezai,  xai  ovei- 
gcöaaei,  xav  ovyxoijur/dfj  yvvaixi,  xqv  j.ir].  —  Celsus  II,  8  ed.  Dar.  47:  Quibus  in  fistula 
urinae  minuti  abscessiis,  quos  (fvuaza  Graeci  vocant,  esse  coeperunt,  iis,  ubi  pus  ea 
parte  profluxit,  sanitas  reddilur.  —  Cels.  IV,  28  (21)  =  Dar.  155;  Est  etiam  circa 
naturalia  vitium,  nimia  profusio  seminis,  quod  sine  venere,  sine  nocturnis  imaginibus  sie 
fertur,  ut,  interposilo  spatio,  tabe  hominem  consumat.  Rufus  ed.  Daremberg-Ru  e  l  le , 
S.  70 — 71:  81J1I0VV  de  ar  xai  ä)J.<ag  eit]  ro  yovoggoi'xov  Jid&og'  xai  [ydg]  em  Jtaga- 
kvoei  geoi  äv  z6  ojzegua,  xai  z^g  &ogfjg  diaXejizvv&eiotjg,  [rj  zfjg]  diaiztjg  zgojrov  dgifiv- 
zegag  t]  xazaipvyofievijg'  z6  ydg  y.>vyg6v  vdazoi  [ozi]  fidXiaza  ....  S.  ~8:  el'&e  ydg 
TW  yovoggo't'xcö  yeveodai  evzaoiv,  xai  ijiidv/iiiar  fii^ecog  dli]§iriig,  xai  ezi 
ai'zov  xogeo&fjvai  fiioy6f.ievov,  xai  ygövco  djiakkd^ai'  zovzo  ydg  oaqpetg  xai 
ygr^azdg    ek:zidag    itagsyei    zfj    Idoei  ....     S.  82:    jietpvldydai    ydg    xdrzav&a    /iitj 


i)  W.   Ebstein    (Ueber    das    Alter  der    Bubonenpest.      In:    Janus    1902,    Bd.    VII, 

S.    139 — 142)    schreibt    die    erste    Kenntnis  der    Bubonenpest    den    alexandrinischen    Aerzten 
des  ersten   vorchristlichen  Jahrhunderts  zu. 

Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  47 


—     732     — 

}iaxaoxrj'H''t]  Fig  yovÖQ^oiav  6  aaivgiaofiog.  —  Aretaeus  de  morbor.  chronicor. 
Symptom.  Hb.  II,  c.  5  =  Kühn  I,  143  — 145:  IIsqI  yovoQQoiag.  'Avwh&gov  fisv  »/ 
yovoQQoia,  äzEQjihg  ds  xal  drjdeg  /usatpi  axofjg.  rjv  yag  axQaah]  xal  jidgeaig  tu 
vygd  layjj  xal  yövi/bia  fisQsa,  oxcog  did  ywxQtöv  qsei  ^  Sogrj,  ovde  ijiia/eTv  iorl  avTeijr 
ov8k  iv  vjivoiai.  ä'/i-Xa.  yäg  rjv  ze  ei'di],  rjv  xe  iyQi]yoQ£t],  dv en ioxEx og  rj  qpoQr/, 
dvaio&rjxog  8s  rj  gorj  xov  yovvov  yiyvexai'  voosovai  de  xal  yvvaTxsg  xrjvöe  xrjv 
vovaov,  akV  im  xvtjOfioToi  tmv  fiogiwv  xal  TJSovfj  sigoysexai  xf/ot  7)  dogi).  dxag  xal  Tigog 
arSgag  o/uMt]  dvaioxvvxcp'  ävdgeg  ds  oi'd'  o/.cog  odd^ovxac  x6  ds  gsov  vygov  Xsnxov, 
jpvygov,  äygovv,  äyovov.  Tiwg  ydg  l^woyövov  ixjisfitpai  OTisgfia  xpvygrj  ovoa  rj  (pvaig. 
7]v  8s  xal  vsoi  Tidoycoai,  yt]ga?.sovg  ygtj  ysvso'&ai  Jidvxag  rijv  s^iv,  voi&coSsag,  sxXvxovg, 
dipvxovg,  oxvsovxag,  xcoqiovg,  da§svEag,  gixvovg,  djigrjxxovg,  s:xdiygovg,  Xsvxovg,  yvvai- 
xwdsag,  djioolxovg,  xpvygovg,  /lie?Jcov  ßdgea,  xal  vdgxag  oxeXecov,  dxgaxsag,  xal  ig  Tidvxa 
jiagsTOvg.  tjös  1)  vovoog  686g  ig  TiagäXvoiv  jiolXoiai  yiyvszai.  —  Aretaeus  de  sign,  chron. 
morb.  II,  II  =  K.  I,  164:  äX'Kog  goog  /.svxog  rj  ijii/ii7]Viog  xäßagoig  Isvxi]  8gifiETa,  xul 
u8a^ojdi]g  ig  rj8ov7'jv  im  8e  xoToi  xal  vygov  Xsvxov ,  Jiaysog ,  yovoEi8Eog  TcgöxXrjaig. 
x68e  x6  Ei8og  yovöggoiav  yvi'atxEi'av  EXE^aj.isv  saxi  8e  xrjg  v  ox  s  grj  g  yjv^ig, 
ovvsxsv  uxgax7]g  xiöv  vygcör  yiyvsxai '  uzdg  xal  x6  aiiia  ig  ygoiijv  Xsvxijv  d/Lisißst.  — 
Athenaeus  bei  Oribas.  III,  108:  xal  ngog  xovxoig  EvxaxzEixoi  xal  xdo8E  xal  tu? 
Efijigoa&E7'  -^jUEgag,  ojicog  ixavov  xs  xal  JtE::iE/tf.ih>ov  vjzdgy]]  z6  ovvrjyfxsvov  ojisgfia,  xal 
6gfi7]  xal  vjio/iivrjotg  xafj  ys  Tisgl  xfjg  f.ii^EOjg,  ögywvxog  xov  ocjfiaxog'  01  ydg  avvs^^öjg 
jiXtjaid^ovxsg  oifxd  xal  äaiga  xgvywoi  za  GJisgfiaza,  xa&d  qnjaiv  'Av8gEag.  — 
Soranos  II,  12  =  ed.  Rose  341 — 342:  Tlsgl  yovoggoiag.  Ovx  iTil  ^övcov  dv8gibv 
dXXd  xal  inl  yvvaixwv  dnozsXslzai  yovöggoia.  i'ozi  8£  ojisg/nazog  sxxgiaig 
ycoglg  Jigo'dvf/.iag  xal  ivzdoswg  ix  fiixgöiv  (psgovaa  8iaox7]fidxcov  &azs  xov  oyxov 
ibygah'sodac  xal  ddvva^sTv  xal  ovvzrjxsadai '  yaXäzai  ydg  >-/  firjxga  xal  dSvvaf^iia  Jiag- 
i.-TEzai  xal  avvzrjxszui  xd  acofzaxa  xard  ßgayv.  ovggst  ydg  ngog  xrjv  firjxgav  xax'  dXi'yor 
fj  ujrd  xov  o(i>(xaxog  vXt]  dXXoimoiv  ßgaysiav  iv  xoTg  xoTzoig  vjrofiEvovoa,  xa&djisg  im  xöJv 
d(pdaXfU(x>vxo3v  x6  8dxgvov.  ygoviCscv  6«  sl'oj&s  x6  Jtd&og  xc5  ysvsi  goä)8sg  vndgyov.  — 
Galen  de  locis  affectis  VI,  6  =  Kühn  VIII,  438 — 439:  xö  ys  fii/v  al8oTov  avxd 
jisjiov^Evai  yvoigiasig  ix  x<öv8s.  xfjg  /xkv  sXxcöascog  avxov  yvwgio^ia  oaqysg 
7/  oSvvT]  xax'  avzo  ysvofisvt],  (Mszd  xov  xazd  zdg  ovgrjosig  ixxgii'sa&ai  xi 
zöjv  ovvsdgsvövxoiv  xcu  i'Xxsi,  xal  8iuxgivsxai  ys  xavxa  zöjv  ix  xvozswg 
(psgofiEvwv  x(p  q}'d'dvEiv  avxd  xaxd  xrjv  Jigüixrjv  £^o8ov  ijii<paivsa'&ai,  xd 
8'  ix  xfjg  xvoxswg  dvafxsfiiy&ai  xoig  ovgoig'  dXXd  xal  ddxvsxai  xard  röc 
ovg7]osig  avvsycög  xd  iv  xoTg  al8oioig  sXxrj,  xal  ftäXXov  ox'  äv  d7ioXv&eia7]g 
i(psXxi8og,  7]  gvjiov,  xad^agd  ysv7jxai'  jioXv  8e  ^älXov  ai  xs  (pXsy/iioval  xal  xd 
xoiavxa  yoyglg  oij^siov  dtayiyvcooxExai.  nsgl  6e  yovoggoiag  xs  xal  7igia.-Tiafiov 
disX.ßsTv  im  nXsov  äf^isivov.  rj  fisv  ovv  yovöggoia  ojisg/naxog  djiöxgioig  iaxiv 
dxovaiog ,  s'^soxi  8e  xal  dyioaigsxov  dvo/j.d^Eiv,  wojisg  xal  aacpsaxsgov,  dno- 
xgiaiv  ojisg/Liaxog  avvsycög  yiyvopisvTjv,  ywglg  xfjg  xaxd  x6  al8oiov  ivxdoEcog. 
6  8k  jigia:iioi.idg  av^rjoig  slg  /.ifjxög  ze  xal  xvxXov  ioxlv  oXov  xov  atdoiov,  ;^<wßtV  d(pgo8taiov 
jigoßv/Liiag  .  .  .  .  xd  8s  xfjg  yovoggoiag  ovopia  jigoq?avwg  iazi  ovvd sxov  s'x  xs 
xfjg  yovfjg  xal  xov  gslv  dvofid^sxai  ydg  xd  ojisg/Lia  xal  yovrj  xal  yövog.  (Vgl. 
Pseudo-Galen,  Defin.  med.  288  =  Kühn  XIX,  426.)  —  Galen  bei  Rufus  ed. 
Bussem.-Dar.  121:  Ilsgl  yovoggoiag  ....  yivsxai  8s  x6  Jid'&og  8id  do& sv siav  xfjg 
xa'&sxxixfjg  iv  xoZg  ansgpiaxixoTg  dyysioig  8vvdjiiEcog  ....  Fovöggoia  [xsv  ovy 
xüjv  ansgfiaxixwv  dyysicov  iaxl  jzd&og,  ov  xov  al8oiov  ....  AnozsXsTxai  8e  ivioxs  xul 
sx  gsvfxaxiofiov  xcjv  ajisgfiaxixüv  dyysicov,  eoxi  8s  oxe  xal  oaxvgtdoscog  Jigo7]yrjoa- 
fisv7]g    sjiiyivszai    7)    yovöggoiu.       ^v ti ßat'vEi    8e    zd    jtädog    xoig    :igoo7}ß<x)Oi 


—     733     — 

fiäklov ,  Toig  JtEQi  t6  TsoaaQsoxaidexatov  erog'  tJSt]  di-  xal  xal?  äXXaig 
riXixiaig  ....  Ov  uovo^'  ds  dvdgäaiv,  dXkä  xai  yvvai^l  lovzo  ovfißaivei,  xal 
EOTiv  im  tü>v  yvvaixcöv  SvaajiaXlaxtov.  (Vgl.  auch  Galen,  de  symptomatum  causis 
II,  2  =:  K.  VII,  150;  Galen,  de  sympt.  caus.  III,  1 1  ^  K.  VII,  267;  Galen,  de 
usu  partium  XIV,  10  =  K.  IV,  188;  Aet.  XI,  33—34;  Paul.  Aegin.  III,  55; 
Theodor.  Priscianus  III,  10.)  —  Galen,  de  compos.  medicament.  sec.  loc.  IX,  8  = 
K.  XIII,  315:  ITgog  rag  tov  aldoiov  diad'sasig.  Trjg  xov  aidoiov  iXxcöoscog  1] 
Siäyvcooig  sx  tov  ou<pcög  oövväa&ai  xar'  avxo  (iBza  xov  xal  xaxä  xäg  ovQrjastg  sxxoivsod^ai 
XI  xwv  avveSgsvovTcov  xcö  e'Xxsi.  diaxQi'vsxai  ds  xavxa  xcöv  ix  xvoxecog  cpegofisvcov  xco 
cpß-ävEiv  avxixa  xaxä  xip'  jtqcoxijv  e^o8o%'  (fatvEodai "  xa  8e  ix  xijg  xvoxEcog  äva/^iE/iujüai 
xoTg  ovgoig.  (Vgl.  ferner  Galen,  de  sanitaie  tuenda  VI,  14  =  K.  VI,  443 — 444-)  — 
Caelius  Aurelian.,  acutor.  morbor.  III,  18:  ....  differt  autema  satyriasi  gonorrhea, 
quam  nos  seniinis  lapsum  vocamus,  siquidem  sine  tensione  veretri  fit  seminis  involimtaria 
atque  jugis  elapsio.  —  Cael.  Aurel.  chron.  morbor.  V,  8:  Milesius  debilitate  fieri  dixit 
seminalium  viarum,  vel  sequi  in  usu  venereo  pro  seniine  sanguinis  emissionem.  Sed  hoc 
commune  est  etiam  iis,  qui  osculo  vesicae,  quam  urethram  vocant,  ulcus  habuerint.  Et 
est  harum  manifesta  discretio.  In  iis  eniin,  qui  ulcus  habuerint,  cum  mictum  fecerint, 
sanguis  fluet  attestanle  mordicatione  et  dolore  et  aliquando  egestione  corpusculorum, 
quae  £q)Ekxv8ag  Graeci  vocaverunt.  —  Alex.  Trallian.  XI,  7  =  Puschmann  II, 
495  •  yovÖQgoia  yivExai  jioxe  fisv  vjto  jiXt'j&ovg  ajtEgjiiaTog  ßagvvovxog  xtjv  Svvajuir  xi]v 
xu&Exxixljv  zt/r  ovoav  iv  xötg  ajiEQfianxoig  dyysioig,  (bg  /nij  xazE^Eiv  im  jiXeov  hi  dvvao&ai 
x6  XE^'&EV  ajiEQfia,  Eoxiv  oxE  xal  8id  dgifivxrjxa  xal  XEJixöxrjxa  xov  OTtsg/Liaxog.  igcoxäv  ovv 
Xgij  xal  jiEgl  xfjg  XQ*^^^  ^^^  amg/biaiog  xal  xijg  ovaxäoEiog  avxov  xal  xd  Jtgorjyijoa/xh'a 
al'xia  xrjv  xe  diaixav  xal  xov  ngoXaßövxa  ßiov.  ei  f^ikv  ydg  fjv  Eicoß'cog  dcpgodioidCEiv  xai 
tiXeiooi  XExg>}o&ai  fii^Eoi,  vvv  8e  fiExsßaXsv  im  t6  o<jü<pgov£aTEgov  xal  xa&dgiov,  öfioXoyov- 
fiEvoig  vjio  jiXij&ovg  xovxo  imofiEVEi  xwv  fiogt'oiv  fiij  dvvufiEvon'  (psgEiv  x6  jrXfjßog.  eI  8e 
(JirjÖEV  Sit]  toiovxov,  ^oXcodioTEgov  ds  xal  dgifivxEgov  fiäXXov  (f^aivoixo  slvai  z6  ixxgivofiEVOV 
OJisg/ua,  yivcooxE  fiäX.Xov  igE&i^Eodai  tIjv  yort/v  xal  (figeadai  8id  Xsnxöxrjxa,  (hg  im  x6  jioXv 
ÖS  xal  Si'  da^EVEiav  avxoTg  EJisxai  zi'jg  xaßEXzixfig  di'vd/HECjg.  —  Theodor.  Priscian.  III,  lO 
ed  Rose  247:  Effusione  aliquando  etiam  spermatis  spontane!  et  importuni  feminae  fatigantur, 
quod  in  graecis  nostris  gonorrhoean  appellavinuis.  — ■  Paul.  Aegin.  III,  59:  ei  Öe  xazd 
zov  xavXov  Evdov  zijg  zov  aidoiov  zg/josuig  dq:>avEg  i'Xxog  yh'rjzai,  yiviöaxszai  ix  zov 
jivovfj  aifia  xEvova&ai  xci>gl?  oigt/ascog.  OsganEVEzai  8e  Jigöizov  /xkv  vöagsl ^sXixgdzoi 
xXv^öfiEvov,  Ejtsiza  dk  ydXaxzi,  xäjiEiza  fu^avzsg  T<p  ydX.axzi  z6  zov  daxijgog  xoXXvgiov,  jy 
xov  Xevxov  zgoyjoxov,  >}  zov  8iu  Xo)zagi(öv  iv  fioXvß8aivt]  &vta  jiagajiijuJiEiv,  fjyovv  xal 
jizsgov  ßdipavTEg  8iaxgiEiv,  slza  Xejizov  ojigsTizov  ygiaavzEg  iv&fjrai'  xdXXiozov  8e  iazi 
xal  x6  Xafißävcov  xtjxiöog  xal  JZOficpöXvyog ,  d/itvXov  ze  xal  dX6t]g  loa,  Xsim&ivza  go8ivco 
xal  Xv}m  dgvoyXoiooov .  — Joannes  Aktuarios,  Method.  medend.  IV,  8  ed.  Paris.  155^- 
Caeterum  non  est  ignorandum,  nonnumquam  in  interna  penis  parte  exiguum  tuberculum 
oboriri,  quam  dum  disrumpitur,  sanguinem  aut  exiguum  puris  effundit;  quare  quidam 
arbitrantur  ex  profundo  ea  prodire,  citraque  rationem  meluere  coeperunt.  Verum  res  ex 
penis  dolore  deprehenditur.  Venae  autem  sectione  sola,  victuque  frigidiusculo  aegrum  a 
molestia  vindicavimus.  Quod  si  vitium  moram  traxerit  et  vulnus  altius  pervenerit, 
a n  e m a t a  m ( ) r s u s  e x p e r  t  i a  ,  q u a  1  i b u s  in  1  i p  p i  t u d i n e  u  t i  m  u r ,  i n  f  u n d i m  u s.  B a  1  n e o 
ac  omni  mordenti  evidenterque  calefaciente  tum  cibo  tum  potione  abstine- 
mus,   ita  namque   promptius  aeger  valetudinem   recipit. 

Was  die  Alten  unter  dem  Ausdrucke  „Gonorrhoe"   verstanden, 
hat    Galen     mit    aller    nur    wünschenswerten    Deutlichkeit    definiert, 

47* 


—     734     — 

indem  er  sagt,  dass  das  Wort  yovoQQoia  sich  aus  yovr]  =  Samen 
und  geh'  =  fli essen  zusammensetze  und  dass  der  vSame  bald  yovij, 
bald  yovog  genannt  werde.  Es  unterliegt  also  keinem  Zweifel,  dass 
die  Alten  unseren  Samenfluss,  Spermatorrhoe,  als  „Gonorrhoe" 
bezeichneten.  Es  fragt  sich  nur,  ob  die  Symptome  dieser  antiken 
Gonorrhoe  ausschliesslich  auf  den  Samenfluss  passen,  oder  ob  dieser 
Name  auch  für  andere  Ausflüsse  mitgebraucht  wurde,  die  von 
den  Alten  irrtümlich  als  Samenausflüsse  angesehen  wurden.  Zur 
Entscheidung  dieser  Frage  müssen  gleich  hier  auch  alle  jene  Stellen 
berücksichtigt  werden,  die  auf  eine  Kenntnis  bezw.  Beobachtung 
wirklicher  eitriger  Entzündung  der  Harnröhre  hinzudeuten 
scheinen. 

Wenn  wir  nun  im  voraus  das  von  den  alten  Aerzten  über- 
lieferte klinische  Material  nach  dieser  Richtung  prüfen,  dann  kommen 
wir  zu  dem  Ergebnis,  dass  die  Alten  die  .Spermatorrhoe,  Pro- 
statorrhoe und  chronische  Gonorrhoe  nicht  von  einander 
unterschieden  und  dass  sie  alle  drei  Affektionen  mit  dem  gleichen 
Namen  „Gonorrhoe"  bezeichnet  haben,  dass  andererseits  aber  bereits 
die  Hippokratiker  und  wohl  alle  späteren  Aerzte  den  akuten, 
schmerzhaften,  entzündlichen  Tripper  beobachtet  haben,  wenn 
sie  ihn  auch,  eben  wegen  seiner  Acuität  und  seines  inflammatorischen 
Charakters,  nicht  unter  der  Rubrik  „Gonorrhoe"  verzeichnet  haben. 

Hecker,  Rosenbaum,  Proksch  und  andere  Autoren  ver- 
muten mit  Recht  unter  den  mit  Dysurie  und  Schmerzen  einher- 
gehenden (pvjuara  der  Urethra  bei  den  Hippokratikern,  den  „minuti 
abscessus"  der  Urethra  bei  Celsus,  die  schliesslich  in  Eiterung  aus- 
gehen, unseren  akuten  Tripper.  Das  ist  um  so  sicherer,  als  schon 
von  den  Hippokratikern  das  für  die  akute  Urethralgonorrhoe  so  be- 
zeichnende Symptom  erwähnt  wird,  dass  mit  dem  reichlicheren 
Ausflusse  von  eitrigem  Sekret  auch  die  anfänglich  so 
grosse  Schmerzhaftigkeit  beim  Urinieren  geringer  wird  und 
verschwindet.  Wie  bei  der  Ruhr,  so  führten  auch  beim  Tripper 
die  Alten  den  eitrigen  Ausfluss  auf  circumscripte,  durch  innere  Ur- 
sachen entstandene  Geschwüre  zurück  *).  Galen  (VIII,  438;  XIII, 
315)  kennt  bereits  die  Differentialdiagnose  zwischen  Urethritis  und 
Cystitis.  Nach  ihm  wird  eine  entzündliche  Urethralaffektion  durch 
Schmerz  charakterisiert  und  durch  das  Erscheinen  des  Urethral- 
eiters  mit  dem  ersten  Harnstrahl, .  während  der  aus  der  Blase 
stammende  Eiter   erst   dem   weiteren  Urin    beigemischt   sei.     Ausser- 


I)  Vgl.  J.   F.   C.   Hecker,   Geschichte  der   Heilkunde,    Bd.   H,  S.    204,   Berlin    1829. 


—     735     — 

dem  bewirke  eine  Urethralaffektion  heftiges  Brennen  bei  der 
Miktion  und  oft  lösen  sich  Eiterpartikelchen  (iq^ekxig)  dabei  los.  Von 
dieser  akuten  entzündlichen  Affektion  unterscheidet  Galen  dann 
die  Gonorrhoe  als  einen  unwillkürlichen,  kontinuierlichen  Samenfluss 
ohne  Erektion.  Auch  Caelius  Aurelianus  erwähnt  Schmerzen, 
Blutung  und  Absonderung  der  ecpekyAdeq  bei  der  Miktion  als 
Symptome  eines  „ulcus"  der  Harnröhre.  Die  Vermutung,  dass  es  sich 
hierbei  um  unseren  Tripper  bezw.  einen  eitrigen  Harnröhrenausfluss 
handelt,  wird  durch  die  noch  genauere,  sehr  interessante  Schilderung 
des  Paulus  von  Aegina  bestätigt.  Er  zuerst  spricht  von 
einem  eitrigen  oder  blutigen  Ausflusse  aus  der  Harn- 
röhre, der  unabhängig  \-om  Urinieren  erfolgt  und  mit 
einer  Affektion  der  Urethra  zusammenhängt  und  mit  Ein- 
spritzungen aus  Honig  und  Milch  und  mit  medikamentösen 
Bougies  behandelt  werden  muss.  Joannes  Aktuarios  gar  spricht 
von  einem  Fortschreiten  der  Entzündung  nach  der  hinteren  Harn- 
röhre (altius  pervenerit)  und  erachtet  dieses  als  Indikation  für  die 
Einspritzungen. 

Diese  Thatsachen  berechtigen  uns  zu  dem  Schlüsse,  dass  die 
akute  eitrige  Harnröhrenentzündung  des  Mannes  den  alten 
Aerzten  von  den  Hippokratikern  bis  auf  die  Byzantiner  bekannt 
war  und  wenigstens  in  späterer  Zeit  ziemlich  rationell  behandelt 
wurde. 

Was  die  chronische  Gonorrhoe  betrifft,  so  ist  sie  offenbar 
mit  den  anderen  chronischen  Ausflüssen  aus  der  Harnröhre,  unserer 
heutigen  Spermatorrhoe  und  Prostatorrhoe  sowie  der  chro- 
nischen Urethritis  simplex  aus  anderen  Ursachen  zusammen 
unter  einer  Rubrik,  eben  der  „Gonorrhoe",  abgehandelt  worden,  wie 
sich  das  sehr  deutlich  nachweisen  lässt,  wenn  man  nur  die  ver- 
schiedenen Angaben  unbefangen  und  zugleich  kritisch  betrachtet. 
Wer  da  weiss,  welche  schwere  und  intensive  Rückwirkungen  hart- 
näckige chronische  Tripper  und  Samenausflüsse,  sowie  Prostatorrhoen 
auf  das  körperliche  Allgemeinbefinden  und  die  Ps3^che  ausüben 
können,  der  wird  die  thatsächliche  Grundlage  in  den  teilweise  über- 
treibenden Schilderungen  der  Folgen  der  yovöggoia  anerkennen 
müssen. 

Schon  bei  Hippokrates  tritt  uns  ein  derartiges  Faktum  ent- 
gegen, das  wir  heute  zwanglos  deuten  können  und  das  wohl  die 
Quelle  aller  derartigen  pessimistischen  Schilderungen  gewesen  ist.  Es 
ist  die  Beschreibung  der  cpdioig  voniag  (de  morbis  II,  51),  der  soge- 
nannten „Rückenmarksschwindsucht",  deren  Symptome  Hippokrates 


—     736     — 

(nach    der    Uebersetzung    von    Robert    Fuchs    II,    443)    folgender- 
massen  schildert: 

„Die  Rückenmarksschvvindsucht  rührt  von  dem  Rückenmarke  her.  Sie  befällt  vor 
allem  Jungverheiratete  und  dem  Geschlechtsgenusse  Ergebene.  Die  Kranken 
haben  kein  Fieber,  sie  essen  tüchtig  und  magern  ab.  Wenn  man  einen  solchen  ausforscht, 
wird  er  sagen,  es  komme  ihm  vor,  wie  wenn  ihm  Ameisen  vom  Kopfe  aus  am 
Rückgrate  entlang  hinabkröchen.  Wenn  er  den  Urin  gelassen  oder  zu  Stuhle 
gegangen  ist,  tliesst  wässeriger  Samen  in  reichlicher  Menge  ab.  Es  kommt  bei  einem 
solchen  nicht  zur  Zeugung,  und  er  hat  wollüstige  Träume,  mag  er  nun  bei  seiner  Frau 
ruhen  oder  nicht.  Wenn  er  einen  Marsch  unternimmt  oder  läuft,  zumal  eine  steile  Höhe 
hinan,  so  bekommt  er  Atembeschwerden  und  Schwächezustände,  der  Kopf  wird  ihm 
schwer  und  die  Ohren  klingen  ihm.  Wenn  einen  solchen,  nach  gewisser  Zeit,  heftige 
Fieber  heimsuchen,  so  stirbt  er  an  Lipyrie." 

Das  ist  das  typische  und  klassische  Krankheitsbild  der  chro- 
nischen Prostatorrhoe  als  Folge  der  chronischen  Prostatitis,  die 
meist  auf  Gonokokkeninfektion  zurückzuführen  ist,  aber  auch  nicht 
selten  ohne  solche  vorkommt.  Die  letztere  Form  tritt  nach  August 
Socin^)  nach  der  Pubertät  auf.  meist  bei  Männern  mit  vorwalten- 
dem Geschlechtstrieb  (Onanie,  sexuelle  Exzesse).  Die  weitere 
Schilderung  So  ein 's  zeigt  eine  überraschende  Aehnlichkeit  mit  der 
hippokratischen : 

,,Das  Hauptsymptom  der  Krankheit  ist  die  sogenannte  Prostatorrhoe,  der  Abfluss 
einer  gewöhnlich  klaren,  seltener  milchartig  trüben,  schleimigen,  fadenziehenden  Flüssigkeit, 
in  Menge  von  einigen  Tropfen  bis  zu  5  und  10  Grammen  in  24  Stimden.  Die  reichlichste 
Absonderung  erfolgt  beim  Stuhlgang.  Konstant  ist  damit  eine  lästige,  kitzelnde  Empfin- 
dung in  der  Harnröhre  verbunden  und  nach  dem  Abgang  ein  Gefühl  grosser  Mattigkeit 
und  Abspannung.  Viele  dieser  Kranken  klagen  auch  über  ein  Gefühl  von  Schwere  im 
kleinen  Becken,  häufige,  krankhafte  Erektionen  und  lascive  Träume.  Sehr  charakteristisch 
ist  auch  bei  allen  die  deprimierende  Rückwirkung  auf  Geist  und  Gemüt,  welche  bis  zur 
tiefsten  Melancholie  sich  steigern  und  die  Kranken  aller  geistigen  und  körperlichen 
Kraft  berauben  kann  .  .  .  Die  übrigen  Symptome  der  chronischen  Prostatitis  sind 
wechselnd,  und  da  es  sich  in  der  Regel  um  gemütlich  deprimierte  Kranke  handelt,  welche 
sehr  geneigt  sind,  ihre  subjektiven  Empfindungen  zu  übertreiben,  ist  auf  dieselben 
kein  grosses  Gewicht  zu  legen." 

Wenn  man  diese  beiden  Schilderungen  vergleicht,  so  fällt  die 
Uebereinstimmung  in  die  Augen  (jugendliches  Alter,  sexuelle  Ex- 
cesse,  Abfluss  eines  Sekrets  von  geringerer  Konsistenz  als  der  ge- 
wöhnliche Samen,  hauptsächlich  bei  der  Defäcation,  wollüstige  Träume, 
consecutiver  Schwächezustand)  und  man  bewundert  wieder  einmal  die 
geniale  Beobachtungskunst  der  Hippokratiker,  wenn  man  sieht,  dass 
sie  die  Schilderung  eines  Meisters  der  modernen  Klinik,  dem  diese 
Stelle  gewiss  nicht  bekannt  gewesen  ist,  bereits  in  allen  wesentlichen 


l)  August  Socin,   Die   Krankheiten   der  Prostata.    In:   Handbuch  der  Chirurgie  von 
V.   Pitha  und  Billroth,  Bd.  HI,   2.  Abt.,  8.  Lief.,  S.   23. 


—      737      — 

Punkten  anticipiert  haben.  Sogar  der  nicht  seltene  Exitus  an  Prostata- 
abscess  mit  hohem  Fieber  war  bereits  in  dem  Schlusssatze  von  den 
Hippokratikern  angedeutet,  auch  an  consecutive  Tuberkulose  der 
Genitalorgane  hat  man  dabei  zu  denken.  Endlich  beseitigt  die  so 
charakteristische  Erwähnung  der  Spinalirritation  („als  ob  Ameisen 
vom  Kopfe  aus  am  Rückgrate  entlang  liefen")  jeden  Zweifel,  dass  es 
sich  hier  thatsächlich  um  eine  schwere  sexuelle  Myelasthenie  bei 
Prostatorrhoe  handle.  Fürbringer ^),  neben  Socin  der  erfahrenste 
Kenner  dieses  Krankheitsbildes,  registriert  als  ein  charakteristisches 
Symptom  bei  Prostatorrhoe  und  Spermatorrhoe  „mannigfache 
Parästhesien  im  Bereiche  des  Rückens  und  Kreuzes. 
Formicationen"  und  sogar  „Kopf druck"  und  „Ohrensausen" 
(„der  Kopf  wird  ihm  schwer  und  die  Ohren  kHngen",  bei  Hippo- 
c  r  a  t  e  s) ! 

Damit  ist  wohl  der  stringente  Beweis  geliefert,  dass  die  „Tabes 
dorsalis"  der  Hippokratiker  nichts  weiter  war  als  eine  chronische 
Prostatorrhoe  mit  schw^erer  consecutiver  Neurasthenie.  Sie  ist  das 
Vorbild  für  alle  späteren  Schilderungen  geworden,  die  wir  nunmehr 
viel  besser  verstehen  können  und  in  denen  die  „tabes"  als  Folge 
übermässiger  Pollutionen,  chronischer  Gonorrhoen  und  Spermatorrhoen 
eine  Hauptrolle  spielt.  So  sagt  schon  Celsus  (IV.  28)  von  der 
„seminis  nimia  ex  naturalibus  profusio"  (übermässigen  Pollutionen), 
dass  sie  „tabe  hominem  consumat". 

Wenn  wir  nun  den  Krankheitsbegriff  der  yoröggoia,  der  wohl 
erst  in  der  alexandrinischen  Zeit  schärfer  abgegrenzt  wurde,  ins  Auge 
fassen,  so  wird  es  uns  gelingen,  doch  einige  Anhaltspunkte  dafür  zu 
eruieren,  dass  die  alten  Aerzte  trotz  der  Einheitlichkeit  des  Krank- 
heitsbegriffes „Gonorrhoe"  doch  bei  den  Ausflüssen  selbst  ge- 
wisse Differenzen  feststellten,  wenn  sie  auch  nicht  zu  der  Er- 
kenntnis sich  durchgerungen  haben,  dass  ein  Teil  des  abgesonderten 
„Samens"  nicht  Sperma  war,  sondern  das  Sekret  des  chronischen 
Trippers.  Es  scheint,  dass  die  talmudische  Medizin  hier  wirkhch 
weiter  vorgeschritten  war  als  die  hellenische  ihrer  Zeit. 

Denn  nach  J.  Preuss")  „konstatiert  die  Tosefta  (zabim  II,  4)  zunächst  den  Funda- 
mentalunterschied des  zob  (abnormer  Ausfluss  aus  den  Genitalien)  vom  Sperma:  „z6b  kommt 
aus  totem,  Sperma  aus  lebendem  Fleisch  (schlaffem,  erigiertem  Penis);  z6b  gleicht  dem 
Wasser  von  Gerstenteig,    ist  hell  und  gleicht  dem  Weissen  von   bebrütetem  Ei;    Sperma  ist 


i)  Fürbringer,  Die  Stönmgen  der  Geschlechtsfunktionen  des  Mannes,  2.  Aufl., 
S.  65,  67,  Wien   1901. 

2)  J.  Preuss,  Die  männlichen  Genitalien  und  ihre  Krankheiten  nach  Bibel  und 
Talmud,  a.  a.  O.  S.   25  —  26. 


—     738     — 

gebunden  und  gleicht  dem  Weissen  vom  nicht  bebrüteten  Ei."  Trotz  der  Unsicherheit  der 
Lesarten  in  dem  letzten  Teile  dieses  Citates  steht  soviel  zweifellos  fest,  dass  man  den  Aus- 
fluss  bei  der  Gonorrhoe  —  wenn  anders  unsere  Deutung  von  Zibah  richtig  ist  —  niclit  als 
yövog,  als  Sperma,  sondern  als  von  diesem  verschieden  betrachtet  hat.  Diese  Erkenntnis  ist 
dann  Jahrhunderte  lang  selbst  bei   Aerzten  nicht  zu  finden." 

Bei  den  griechisch-römischen  Aerzten  wurde,  wie  gesagt,  der 
akute  Tripper  unter  der  Rubrik  „Geschwür  der  Harnröhre"  be- 
schrieben, der  chronische  aber  grösstenteils  zur  „Gonorrhoe"  gerechnet, 
weil  man  sein  schleimig-eitriges  Sekret  für  wirklichen  Samen, 
wenn  auch  für  einen  veränderten,  hielt.  Allerdings  werden  wir  weiter 
unten  noch  eine  dritte  Affektion  zu  besprechen  haben,  die  wohl  auch 
zum  grossen  Teile  als  Symptom  des  chronischen  Trippers  aufgefasst 
werden  muss,  nämlich  die  von  Rufus  und  Alexander  von  Tralles 
geschilderte  ^'OQia)m]g  xi'orecog. 

Für  die  Definition  der  yovoggoia  des  Mannes  kommen  hauptsäch- 
lich die  Aeusserungen  des  Rufus,  Galen,  Aretaeus  in  Betracht. 

Rufus  (ed.  Daremberg-Ruelle  70 — 71)  unterscheidet  zwei  Arten 
von  „Samenfluss",  eine  paralytische  und  eine  auf  Konsistenz  Ver- 
minderung durch  zu  scharfe  und  kalte  Diät  beruhende,  da  nichts 
„wässeriger"  mache  als  die  Kälte.  Da  er  ausserdem  angiebt,  dass 
der  Gonorrhoiker  keinerlei  Erektionen  habe,  und  ihm  zur  Herbei- 
führung solcher  den  Coitus  empfiehlt  (S.  78),  endlich  auch  von  einem 
Uebergange  der  Satyriasis  in  Gonorrhoe  spricht  (S.  82),  so  ist  es 
sehr  wahrscheinlich,  dass  Rufus  bei  seiner  Schilderung  nur  die 
wahre  Spermatorrhoe  bezw.  Prostatorrhoe  im  Auge  gehabt  hat. 
Hierfür  spricht  auch  die  Thatsache,  dass  er  sich  offenbar  ebenso  wie 
Galen  und  vielleicht  mit  noch  mehr  Kritik  mit  dem  Modus  der 
Spermabildung  und  der  Ejakulation  beschäftigt  hat.  So  möchte  er 
zwar  der  Prostata  nicht  jeden  Anteil  an  dem  Zustandekommen  der 
Begattung  absprechen,  ist  aber  der  Ansicht,  dass  die  eigentliche 
Zeugungsfähigkeit  des  Samens  sich  in  den  Hoden  befinde,  von 
wo  dieser  zeugungskräftige  Teil  des  Sperma  in  die  Urethra  gelange, 
während  die  Prostata  ein  Sekret  liefere,  das  durch  seinen  Zustand 
der  vollkommenen  „Kochung"  eine  vorzügliche  „Nahrung"  (rgocpr)) 
des  Samens  sei,  dem  es  beigemischt  werde.  Deshalb  endigten 
die  Ausführungsgänge  der  Prostata  auch  an  der  Wurzel  des  Gliedes  ^). 


i)  Oi)  fjtjv  [ovde]  acpaiQovfiai  ovdi  zcov  TiagaoTaTcöv  t6  ovvegyov  slg  tolq  fii^sig, 
aAAä  fi.oT  8oxeT  rj  [xkv  dgx^  toü  oneQ/nazo?  rj  yevvrjtixrj  iv  xoTg  og^eoi  ylyveo'&ai,  [a>?] 
F.vsTvai  elg  rö  aldoTov  XQO<pr]  de  tig  t<p  OTcegfiari  olxeia  rcp  ioxo-TCoe  Jtsjieq^&ai 
■doQixr)  ano  sxeivcov  rf]XO/x.evt]  ov/n/xiayeo^ai '  Ö[i6  ^yov/xaij  xdxsTva  reXevräv  xazä  ä 
TigcÖTOv  £xq)VExai  x6  vnöazrjixa  [xov  xavXov] .  —  Walker  (vgl.  Nagels  Handb.  der  Physiologie 
1906,  Bd.  II,  S.  64)  spricht  ganz  wie  Rufus  von  einer ,, ernährenden  Substanz"  im  Prostatasaft. 


—      739      — 

Hier  liegt  die  wahrhaft  bewunderung-svvürdig"e,  offen- 
bar aus  eigener  Beobachtung  gewonnene  (älXd  /not  öoxel  und 
dio  7]Yovjiiai)  Erkenntnis  eines  der  genialsten  Aerzte  des 
Altertums  vor,  dass  das  Prostatasekret  das  belebende  Ele- 
ment des  Samens  ist,  eine  Erkenntnis,  die  seitdem  voll- 
ständig verloren  ging  und  erst  in  unseren  Tagen  auf  Grund 
scharfsinniger  Experimente  und  Beobachtung  und  natürlich 
völlig  unabhängig  von  Rufus  von  dem  bedeutenden  Sexual- 
pathologen Paul  Fürbringer^)    wieder   entdeckt   worden    ist! 

Diese  Stelle  reiht  sich  würdig  der  ebenfalls  zuerst  von  mir ')  mitgeteilten  aus  den 
,,Aerztlichen  Fragen"  des  Rufus  an,  wo  er  die  ebenfalls  erst  in  unserer  Zeit  wieder  ent- 
deckte Aetiologie  der  Guineawurm-Krankheit  durch  den  Genuss  von  Trinkwasser  mitteilt. 

Galen,  der  sich  auch  ziemlich  eingehend  mit  der  von  Hero- 
philos  zuerst  beschriebenen  Prostata  und  ihrem  Sekrete  beschäftigt 
hat,  erblickt  seinen  Zweck  nur  darin,  dass  es  die  Urethra  schlüpfrig 
mache,  da  es  dünner  sei  als  der  Same,  und  dass  es  die  Wollust  in 
coitu  erhöhe'^).  Auch  hierin  bekundet  sich  eine  Ahnung  des  richtigen 
Sachverhaltes,  insofern  Fürbringer^)  nachgewiesen  hat,  dass  bei  der 
Ejakulation  ein  Teil  des  Prostatasekrets  die  „Vorhut"  des  Ejakulats 
bildet,  und  so  sehr  wohl  die  von  Galen  angenommene  Funktion  der 
präparatorischen  Schlüpfrigmachung  der  Urethra  ausüben  könnte. 

Bei  solchen  exakten  Beobachtungen  der  antiken  Autoren  ist  es 
um  so  verwunderlicher,  dass  das  Krankheitsbild  der  yoroggota,  abge- 
sehen von  Rufus,  im  ganzen  doch  von  den  anderen  Ausflüssen  der 
Urethra  nicht  gesondert,  und  dass  vor  allem  das  immerhin  doch  so 
verschiedene  Trippersekret  mit  dem  Sperma  verwechselt  worden  ist, 
woran,  wie  wir  sehen  werden,  nicht  zu  zweifeln  ist. 

Dies  tritt  uns  schon  in  der  Schilderung  der  yovoggoia  bei  Are- 
taeus  entgegen,  er  führt  dieses  zwar  nicht  lebensgefährliche,  aber 
„ekelhafte"  Leiden  auf  Erschlaffung  der  Säfte  und  der  Geschlechts- 

i)  Paul  Fürbringer,  Die  Störungen  der  Geschlechtsfunklionen  des  Mannes,  2.  Auil., 
S.  10,  Wien  1901 :  ,,Die  Bedeutung  der  Funktion  der  Prostata  war  bis  vor  15  Jahren 
dunkel.  Wir  wollen  nicht  behaupten,  dass  wir  die  volle  Bestimmung  erschlossen  haben; 
doch  glauben  wir  einiges  Licht  darüber  durch  den  Nachweis  verbreitet  zu  haben,  dass  der 
Prostatasaft  in  hervorragender  Weise  das  in  den  starren  Spermatozoen 
schlummernde  Leben  auszulösen  vermag." 

2)  Iwan  Bloch,  Ein  neues  Dokument  zur  Geschichte  und  Verbreitung  des  Guinea- 
wurms (Filaria.medinensis)  im  Altertum.  In:  Allgemeine  medizinische  Centralzeitung  1899, 
Nr.  60,  S.   279. 

3)  Galen  de  usu  partium  XIV,  c.  9  und  XIV,  c.  1 1  =  Kühn  IV,  182  u.  190: 
.  .  .  oxi  8e  ov  ßövoj'  ejisysi'oei  jzQog  a(pQoöioia  zovxi  rö  vygor,  a/A'  t'jdsi  ze  äfia  xara  zijv 
EXJtzfoaiv  aal  zov  jiöoov  Ejzizsyyei,  ix  zmvS'  av  fxähoza  fiä&oig. 

4)  Fürbringer,  a.  a.  O.  S.    7. 


—     740     — 

teile  zurück,  so  dass  sich  der  Same  aus  den  gleichsam  leblosen  Teilen 
ergiesse  und  sowohl  im  Schlaf  als  auch  im  Wachen  unaufhörlich 
abfliesse,  zuletzt  sogar  ohne  subjektive  Empfindung  des  Patienten. 
Das  Sekret  ist  dünn,  farblos,  unfruchtbar.  Im  Laufe  der  Zeit  tritt 
bei  den  jungen  Männern  ein  allgemeiner  anämischer  und  paralytischer 
Zustand  und  sogar  eine  Effemination  ein.  Eine  vorher  bestehende 
oarvQiaoig  hört  nach  dem   Eintritt  von  yovoQQOia  auf. 

Wenn  auch  Aretaeus  einige  Symptome  der  übermässigen 
Pollutionen  und  der  Spermatorrhoe  ganz  richtig  andeutet,  wie  die 
Erschlaffung  und  Insufficienz  der  Ductus  ejaculatorii,  die  verminderte 
Konsistenz  des  Sperma,  die  consecutive  Anämie  und  Kachexie  und 
die  fatale  Rückwirkung  auf  die  Geschlechtskraft  und  die  männliche 
Energie,  so  trifft  doch  die  Beobachtung  des  „unaufhörlichen"  Ab- 
flusses bei  Tag  und  bei  Nacht  viel  mehr  für  den  echten  Tripper  als 
für  die  Spermatorrhoe  zu,  bei  der  solche  Zustände  zu  den  grössten 
Seltenheiten  gehören  und  eigentlich  nur  bei  schweren  Rücken- 
markstraumen ^)  vorkommen.  Dieses  beständige  Abfliessen  als  allge- 
meines Vorkommnis  erweckt  doch  sehr  stark  den  Verdacht  auf  echten 
Tripper. 

Galen  definiert  (De  loc.  affect.  VI,  6)  die  yovÖQQoia  als  einen 
beständigen,  unwillkürlichen  Samenfluss  ohne  Erektion  des  Penis, 
während  zum  Unterschied  davon  der  Priapismus  eine  permanente 
Vergrösserung  des  Membrum  nach  Länge  und  Umfang  ohne  sexuelle 
Erregung  darstellt.  Die  Gonorrhoe  ist  eine  Affektion  der  Samen- 
gefässe,  nicht  des  Penis,  und  zwar  nimmt  er  an  (De  usu  partiurn 
XIV,  lo),  dass  bei  dem  Ausfluss  des  Samens  entweder  der  Spasmus 
der  Samengefässe  eine  gewisse  Rolle  spiele  oder  die  Gonorrhoe  eine 
Folge  ihrer  Erschlaffung  sei  (de  symptom.  causis  II,  2,  K.  VII,  150; 
ib.  III,  II,  K.  VII,  267),  besonders  nach  voraufgegangener  Satyriasis. 
Zweifellos  deutet  er  aber  an  einer  schon  früher  (S.  702)  erwähnten 
Stelle  unseren  Tripper  an  (de  sanitate  tuenda  VI,  14,  K.  VI,  443), 
wo  er  von  dem  schmerzhaften  Ausflusse  eines  reichlichen  und 
hitzigen  Samens  mit  nächtlichen  Pollutionen,  Harndrang  und  all- 
gemeiner Schwäche  spricht  2). 

i)  Fürbringer,  a.  a.  O.  S.  46. 

2)  27isQfj,a  TioXi)  xal  ■&eo(ji6v  svioc  yn'vojnw,  ijisiyei  yaQ  avzovg  eis  ujiÖxqioiv,  ov 
fieza  trjv  sxxgiaiv  sxXvroi  ts  yiyvovxai  tm  ozöfiazi  zi]?  xoüuag,  —  do'&svETg  yiyvovzai,  xai 
^fjQoi  xal  Xsjzzol,  xal  mj^qoI,  xal  xoikofpdaXi-uibvzeg  01  ovzoi  öiaxelfxevoi  •  ei  ös  ex  zov 
zavza  Jiäayeiv  sjil  zaig  avvovoiaig  OLTiByoivzo  fil^Ewg-acpQobiaiwv  6vo<poQ0i  /uev  zrjv  xE<paXr]v, 
övacpoQoi  öe  xal  za>  ozo/nä/o),  xal  äocöösig'  ov8h>  8e  ixiya  bia  zrig  hyxQazEiag  wfpEXovvxai' 
ovfißaivEi  yüg  avxoTg  i^ovEigojzzovoi  naQOJiXrjaiag  yivEodai  ßXdßag,  äg  mao^ov  Eni  zali 
ovvovaiaig.     (Schluss  siehe  S.   702.) 


—      741      — 

Es  ist  wohl  sicher,  dass  es  sich  bei  diesem  scharfen  und  beizen- 
den Ausfluss  um  echtes  Trippersekret  gehandelt  hat,  das  Galen  für 
krankhaft  veränderten  Samen  hielt.  Die  übrigen  Symptome:  Schmerzen 
beim  Urinieren,  häufiger  Harndrang,  die  sexuelle  Erregung  bei  Nacht, 
die  verschiedenen  Anzeichen  der  allgemeinen  Abgeschlagenheit 
sprechen  deutlich  für  Urethritis  blennorrhoica.  Es  scheint  auch,  dass 
Galen  selbst  die  Affektion  nicht  zur  yorögoota  rechnete,  da  er  diesen 
Namen  nicht  gebraucht  und  nur  mit  den  die  Krankheit  allgemein 
bezeichnenden  Worten  beginnt:  Mo^t'^ygoraTi]  öe  oojfiajog  Iotl  xai  fj 
Toidde.  Weshalb  auch  an  dieser  Stelle  von  einer  Kenntnis  der  Con- 
tagiosität  des  Trippers  keine  Rede  sein  kann,  wurde  bereits  oben 
(S.  702 — 703)  ausgeführt.  Auch  die  merkwürdige  und  bisher  nicht 
beachtete  Mitteilung  des  Athenaios  (bei  Oribas.  III,  108),  dass 
nach  Andreas^)  diejenigen,  welche  allzu  häufig  den  Coitus  aus- 
üben, einen  „rohen  und  unreifen"  Samen  bekommen-),  deutet 
zwar  höchstwahrscheinlich  auf  Tripper,  aber  nicht  auf  irgend  eine 
Kenntnis  seiner  Ansteckungsfähigkeit. 

Wie  Andreas  und  Galen,  schildert  später  auch  Alexander 
von  Tralles^)  die  abnorme  Beschaffenheit  des  „Samens"  in  einer  so 
deutlichen  Weise,  dass  ohne  weiteres  die  Diagnose  „Tripper"  gestellt 
werden  kann: 

,,Der  Samenfluss  entsteht  zuweilen  dadurch,  dass  die  Samenmenge  auf  die  in  den 
Samengefässen  herrschende,  zurückhaltende  Kraft  einen  schweren  Druck  ausübt,  so  dass  die- 
selben den  vorhandenen  Samen  nicht  mehr  bei  sich  zu  behalten  vermögen,  manchmal  aber 
auch  infolge  einer  scharfen  und  dünnen  Beschaffenheit  des  Samens.  Man  muss  die  Farbe 
und  Zusammensetzung  des  Samens  prüfen  und  sich  nach  den  vorausgegangenen 
Schädlichkeiten,  nach  der  Nahrung  und  dem  früheren  Lebenswandel  des  Kranken  erkundigen. 
Denn  wenn  der  Kranke  z.  B.  an  den  Liebesgenuss  und  häufigen  geschlechtlichen  Umgang 
gewöhnt  war,  jetzt  dagegen  vernünftiger  und  sittlicher  lebt,  so  beruht  das  Uebel  offenbar 
auf  dem  Ueberfluss  an  Samen,  welchen  das  Organ  nicht  mehr  ertragen  kann.  Ist  dies  nicht 
der  Fall,  scheint  jedoch  der  abfliessende  Samen  ziemlich  gallig  und  scharf  zu  sein,  so 
geht  daraus  hervor,  dass  es  die  dünne  Beschaffenheit  des  Samens  ist,  welche  den  Zeugimgs- 
trieb reizt  und  den  Samenverlust  herbeiführt.  Doch  meistenteils  wirkt  auch  hier  die 
Schwäche  der  hemmenden  Kraft  mit*)." 


1)  Es  ist  wohl  nicht  Andreas  von  Karystos,  sondern  nach  Daremberg  (Histoire 
des  sciences  medicales  1,  167)  wahrscheinlich  ein  Zeitgenosse  des  N Ileus  und  Nympho- 
doros  (um   260  v.   Chr.). 

2)  Ol  yoLQ  ov%'S'j(^(äg  jiXt]oiä^ovzsg  wfxa  xai  äcoga  zgvycöoi  za  ajisQfiaza,  xa&d  tprjoiv 
'AvdQea?. 

3)  Alexander  von  Tralles,  Original  -  Text  und  Uebersetzung  von  Theodor 
Puschmann,   Bd.  II,  S.   494 — 495. 

4)  FovÖQQOia  ylvBtai  nozs  fxkv  VJio  Jih]&ovg  ojceg/iiarog  ßaQVVOVZog,  zrjv  dvvafin'  ztjv 
ita^exTixijV  xrjv  ovoav  iv  zoTg  OJieofiaxixoig  dyysioig,  mg  firj  xazexsiv  im  Ji?Jov  e'zi  dvvaadai 
x6  zs'/^ßh'  OTteQfia,  eoziv  ö'zs  xai  6iä  dQifivzTjza  xai  ksjtzözrjza  zov  ojiSQfxazog.     igwzäv  oitv 


—      742      — 

Es  geht  aus  dieser  Schilderung  hervor,  dass  Alexander  sehr 
grossen  Wert  auf  die  Prüfung  der  Farbe  und  Zusammensetzung  des 
„Samens"  legte  und  nach  deren  Verschiedenheit  auch  verschiedene 
Arten  von  Gonorrhoe  annahm,  die  wohl  auf  verschiedenen  „voraus- 
gegangenen Schädlichkeiten"  beruhten,  die  in  der  Nahrung  und  dem 
„vorausgegangenen  Lebenswandel"  zu  suchen  seien.  Unter  letzterem 
aber  versteht  er  hauptsächlich  den  häufigen  Geschlechtsverkehr 
mit  nachfolgender  längerer  Abstinenz,  wodurch  sich  nach  seiner 
Theorie  ein  Ueberfluss  an  Samen  bilde.  Eine  andere  Art  der 
Gonorrhoe  („ist  dies  nicht  der  Fall")  rührt  von  der  dünnen  Beschaffen- 
heit des  Samens  her,  die  den  Zeugungstrieb  reizt  und  einen  Samen- 
ausfluss  herbeiführt,  den  er  „gallig"  und  „scharf"  nennt.  Offenbar  ist 
hier  das  grünlich-gelbe  Trippersekret  gemeint. 

Von  grosser  Bedeutung  ist  endlich  die  von  Galen  (K.  XIII, 
315)  mitgeteilte  Differentialdiagnose  zwischen  Cystitis  und 
eitriger  Urethritis  faidoiov  elxcooig).  Die  Urethralaffektion 
manifestiert  sich  durch  Schmerz  und  durch  Beimischung  von 
Eiter  zum  Urin.  Dieser  aus  der  Harnröhre  stammende  Eiter  er- 
scheint mit  dem  ersten  Urinstrahl,  der  aus  der  Blase  stammende  ist 
dem  zweiten  Urin  beigemischt.  Auch  hier  ist  die  Diagnose  des 
Trippers  offenbar. 

Die  yovoQQoia  der  Frauen  kann  ja  nur  auf  die  verschieden- 
artigen Genitalausflüsse  bezogen  werden,  unter  denen  wohl  auch  der 
Tripperausfluss  zu  verstehen  ist,  wenn  dieser  auch,  wie  wir  sehen 
werden,  hauptsächlich  unter  der  Rubrik  „Qovg  yvvaixeiog"  abgehandelt 
wurde.  Dass  allerdings  die  yovoQQoia  der  Frauen  für  viel  seltener 
gehalten  wurde  als  die  der  Männer,  ergiebt  sich  aus  dem  Anfangs- 
satze des  betreffenden  Kapitels  bei  Soranos  (II,  2):  „Die  Gonorrhoe 
kommt  nicht  nur  bei  Männern,  sondern  auch  bei  Frauen  vor." 

Nach  So  ran  ist  „die  Gonorrhoe  der  Frauen  eine  Samenentleerung,  welche  ohne 
Geschlechtslust  und  Blutwallung  erfolgt  und  welche  in  kleinen  Zwischenräumen  auftritt, 
wobei  der  Körper  Farbe  und  Kraft  verliert  und  abzehrt.  Denn  auch  die  Gebärmutter  wird 
schlaff,  die  Kräfte  nehmen  ab  und  der  Körper  magert  ab.  Es  fliesst  nämlich  allmählich 
der  Stoff  aus  dem   Körper  zur  Gebärmutter  und  erleidet  in   den  Geschlechtsteilen   eine  kleine 


yot]  xai  Tieni  zijg  XQoag  tov  ojisQ/biarog  xai  rifc  owraaeo)?  avzov  aal  xa  7iQ0t]yi]aai.iEva 
aiTia  trjv  re  diaizai'  xal  tov  jiooXaßövxa  ßiov.  f.i  jmv  yag  1)%'  eicoüd>g  dcfQoSiaid^sn'  xai 
nXsloai  xeyQfjadai  fii^eai,  vvv  8s  nExsßaXsv  Im  x6  amcpQovEaxEQOv  xal  xa'&ägiov,  ofxoXoyov- 
f.iErü)g  vjio  nkrjdovg  xovxo  VTrofisvEt  xwv  /hoquov  fii]  8t)vafiEva)v  (pEQEiv  x6  nXfj'doi;.  ei  Öe 
fitjOEP  Eirj  xoiovxov,  yoX^oyÖEOXEOOV  8e  xal  ^gifwxEooi'  jLiäXdov  (paivoixo  Eivai  xö  exxqivÖ^ievov 
ojisofia,  yivtooxE  fiä/j.ov  iosdii^Eadai  xtjv  yoi'ijv  xal  rfEOEadui  bia  X.EJxxoxrjxa,  01g  ijii  xo 
noX.v  8e  xal  81'  dodsvEiav  avxolg  EjiExai  xijg  xadExxixfjg  8vväfj.EU)g. 


—      743      — 

Veränderung,    wie    bei  Augenkranken  die  Thräne.     Auch   ist   die  Krankheit   ihrer  Art   nach 
ein  Ausfluss  (QocödsgJ  und  pflegt  langwierig  zu  sein  ^)." 

Empfohlen  wird  eine  typisch  antisexuelle  Therapie  (adstringierende  Bäder,  Applikation 
von  Bleiplatten  in  der  Hüftgegend,  kühles  Lager,  Vermeidung  sexueller  Aufregung  usw.)  und 
später  allgemein  roborierende  Behandlung. 

Ganz  abweichende  und,  wie  es  scheint,  selbstständige  Ansichten 
über  die  Natur  der  yovoQQsia  yvvaixEia  äussert  Aretaeus.  Im  Gegen- 
satze zu  Soranos  hebt  er  als  Kennzeichen  dieses  Leidens  Jucken 
der  Geschlechtsteile  und  iVbfluss  des  „Samens"  mit  einem  g-e- 
wissen  Wollustgefühle  und  gleichzeitiger  schamloser  Be- 
gierde nach  Beischlaf  hervor.  Er  erklärt  jedoch,  dass  er  den 
besonderen  Namen  yovöggeia  yvraiy.eia  für  eine  bestimmte  Form 
des  weissen  Flusses  gewählt  habe,  diejenige  nämlich,  bei  der  die 
monatliche  Reinigung  weiss  und  scharf  sei  und  ein  wollüstiges 
Jucken  errege,  und  bei  der  zugleich  eine  weisse,  dicke,  samen- 
ähnliche Flüssigkeit  abgehe.  Diese  weibliche  Gonorrhoe  werde 
durch  eine  Erkältung-  des  Uterus  hervorgerufen,  durch  die  er  seinen 
Einfluss  auf  die  Säfte  verliere.  Das  Blut  bekomme  dann  eine  weisse 
Farbe,  weil  das  zum  Röten  nötige  Feuer  fehle. 

Bei  Soran  wird  man  vielleicht  an  eine  Leukorrhoe  chloro- 
tischer  junger  Mädchen,  bei  Aretaeus  an  einen  Fluor  albus  als 
Folge  von  Masturbation  bei  hochgradiger  sexueller  Erregung  zu 
denken  haben. 

Endlich  gedenkt  auch  Theodorus  Priscianus  (IIl,  lo)  der 
„spermatis  effusio"  der  Weiber,  deren  selteneres  (aliquando)  Vor- 
kommen, spontanen  und  unangenehmen  Charakter  er  hervorhebt. 

Der  eigentliche  Frauentripper  wird  wohl  unter  der  Rubrik 
Qovg  yvvaiHslog  zu  suchen  sein,  der  schon  bei  den  Hippokratikern  in 
seinen  verschiedenen  Arten  geschildert  wird.  So  heisst  es  über  den 
goüg  levxög  (De  nature  muliebri    15): 

„Wenn  sich  aber  ein  weisser  Fiuss  einstellt,  so  sieht  dieser  wie  Eselsurin  aus,  es 
stellt  sich  Schmerz  im  untersten  Teile  des  Leibes,  in  den  Lenden  und  in  den  Weichen  ein, 
die  Beine  und  Arme  schwellen  auf,  die  Vertiefungen  unter  den  Augen  schwellen  an,  die 
Augen  werden  feucht,  die  Haut  verfärbt  sich  so  wie  bei  der  Gelbsucht  und  wird  weiss,  und 
wenn  die  Betreffende  geht,  bekommt  sie  Atembeschwerden.  Die  Krankheit  kommt  aber 
dann  zu  Stande,  wenn  die  Betreffende,  welche  eine  schleimige  Konstitution  hat,  in  Fieber 
verfällt  und  die  in  Bewegung  geratene  Galle  nicht  entleert  wird;  wenn  dann  nun  der  Leib 
sauer  ist,  so  entstehen  Durchfälle,  wendet  sich  dagegen  (der  Schleim)  nach  der  Gebärmutter, 
so  entsteht  der  Fluss."     (Uebersetzung  von  Robert  Fuchs)'). 


i)  Die  Gynäkologie  des  Soranus  von  Ephesus  übersetzt  von  H.  Lüneburg,  kommen- 
tiert von  J.   Ch.   Hub  er,  S.    127,   München    1894. 

2)  Kühn  n,  543 :  oxöxav  de  XtvHÖi  6  govg  iyysvijiai,  oiov  örov  ovqov  (paiveiai, 
y.al  döi'i'tj  e/ei   zip'  vsiaiQav    yaoisga  xai   rag  i^vag  y.al   zodi  xevewvag^    y.ul  oidy/iiaza  ztov 


—     744     — 

An  anderer  Stelle  (de  niorbis  mulierum  II,  8)  wird  ein  weisser 
Fluss  geschildert,  dessen  Symptome  zum  Teil  stark  an  Tripper  er- 
innern,  wie  besonders  das  Brennen   beim   Urinieren: 

„Die  Behandlung  eines  (anderen)  weissen  Flusses.  Es  werden  weisse,  leicht  gelb 
gefärbte  Massen  entleert.  Wenn  die  Betreffende  Urin  lässt,  macht  sich  ein 
beissender  und  wie  ein  Lanzenstich  empfundener  Schmerz  bemerkbar,  die 
Gebärmutter  verschwärt,  es  sucht  die  Kranke  akutes  Fieber,  grosse  Hitze,  Durst  und  Schlaf- 
losigkeit heim,  und  die  Betreffenden  verfallen  in  Delirien.  .Sowie  die  Frau  etwas  eilig  ver- 
richtet, bekommt  sie  Atembeschwerden  und  sind  ihre  Glieder  wie  zerschlagen."  (Ueber- 
setzung   von   Robert   Fuchs)'). 

Es  ist  hier  ziemlich  genau  der  Zustand  einer  akuten  blenor- 
rhoischen  Metritis  gezeichnet,  die  den  weiss-gelblichen  Ausfluss  als 
Tripper  charakterisiert. 

An  einer  dritten  bemerkenswerten  Stelle  (de  morbis  mulierum 
II,  i)  wird  gesagt,  dass  der  weisse  Fluss  sich  mehr  bei  älteren  Frauen 
als  bei  jüngeren  einstelle,  rotgelber  (tivqqoq)  bei  beiden  und  roter 
Fluss  (EQvdqog)  bei  jüngeren  -).  Auch  hier  scheint  der  Versuch  einer 
Differentialdiagnose  der  verschiedenen  Genitalausflüsse  gemacht  worden 
zu  sein. 

Soranos  (II,  ii)  hat  den  Stand  der  Forschung  über  den  Qovq 
yvvaixeloQ  zusammengefasst,  woraus  wir  erkennen,  wie  schwankend 
und  unklar  dieser  Begriff  während  des  ganzen  Altertums  gewesen 
ist.  Nach  der  älteren  Definition,  wie  sie  Alexander  Philalethes^) 
in  dem  ersten  Buche  seiner  Gynäkologie  überliefert,  war  der  weib- 
liche Fluss  ,,der  Erguss  einer  grösseren  Menge  Blut  durch  die 
Gebärmutter  während  einer  längeren  Zeit",  nach  der  Definition  des 
Demetrios^),  des  Anhängers  des  Herophilos,  dagegen  „der  Erguss 
von  Flüssigkeiten  durch  die  Gebärmutter  während  einer  längeren 
Zeit,  denn   es  flössen  nicht  nur  Blut,  sondern  zu  verschiedenen  Zeiten 


ze  OKtXkwv  xal  rojv.  xtiQMV,  xal  ru  xoiXa  al'(jETui  xal  oi  u(i  ßalfiol  vyQoi.,  xai  ■))  X9^"l 
IxTSQOjdtjg  y.al  Xevxi/  yirszai,  y.ai  Sy.üzav  jiOQsvtjrai,  uod/iui'rei-  y  Öi;  vovoog  yin-rai,  >]v 
(pvoEi  iouaa  <^j?.F.yfiaza)Stjg  Tivgezaivr],  xal  x^^'-V  >iivr]§ETöa  fii/  xadagdf/.  tjv  /ii-r  ovv  ij 
xoilit]  o^er],  didygoiai  yh'oviai '  rjv  ds  sjtI  zag  vazsgag  ZQdjiijzai,  QÖog  ylvezcu.  —  Die 
gleiche  Schilderung  de  morbis  mulierum  11,  7   =  Kühn  II,   773. 

i)  Kühn  II,  774:  Qoov  Xsvxou  de^UTtsirj'  xaßaifjszai  hvxov  vjiöyXoiQOv,  xal  öiav 
ovfjh],  ödxvEi  xal  d/ivaoEi,  xal  kXxol  zl/v  i'ozEgtp'  xal  jivQEzog  E^ei  d^vg,  xal  {)E(j/Lti]  noXXij, 
öixjia,  dyQVJii'irj,  xal  l'xfiiQovEg  yivovzai,  xul  ozar  oJTovÖdo)/,  uod/iid  fiEv  e'xei,  xal  zu  yvTa 
Xvovzai. 

2)  Kühn  11,  761:  'Pdog  XEvxdg  ev  zf/oi  yEQaizEQtjGi  zöjv  yvvaixöJv  /iiäXXiOV  yivEzai  rj 
SV  zf/ai  VEOJZSQrjOi  •    ^dog  jiVQQog  ev  d/.iffOZEQ}]ot '    ^dog  igvßgog  ev  zfjai  VEtozsgijoc. 

3)  Nach  Hermann  Diels  im  „Hermes"  1893,  Bd.  XXVIIl,  S.  412,  soll  er  um 
Christi   Geburt  herum  gelebt  haben. 

4)  Ueber  ihn  Wellmann  im   „Hermes"    1888,   Bd.   XXIII,  S.   566. 


—     745     — 

auch  ganz  verschiedene  Stoffe  aus".  Soranos  selbst  definiert 
den  weiblichen  Fluss  als  „einen  chronischen  Ausfluss  (§€ujiiano/nög) 
aus  dem  Uterus,  wobei  die  Aussonderung  einer  grösseren  Quantität 
Flüssigkeit  wahrgenommen   wird"  ^). 

Er  stellt  dann  als  Merkmale  des  Flusses  auf:  andauernde  Nässe 
an  den  Geschlechtsteilen,  wobei  die  Feuchtigkeit  verschiedene 
Farben  aufweist,  Blässe,  Abmagerung-  und  Appetitlosigkeit  der 
Kranken,  häufig  auftretende  Atembeschwerden  beim  Gehen,  x\n- 
sch wellung  der  Füsse.  Auch  ist  das  Leiden  verschieden,  je  nach- 
dem es  ohne  Schmerzen  oder  mit  Schmerzen,  ohne  Ge- 
schwür (Ulceration)  oder  mit  Geschwür  auftritt,  welch'  letz- 
teres mit  einer  Entzündung  verbunden,  jauchig  oder  rein 
sein   kann  2). 

In  den  pseudogalenischen  Definitionen  (K.  XIX,  429)  wird  ein 
weisser,  schwarzer,  roter  und  gelber  §odg  yvvaixetoQ  unterschieden. 
Galen  selbst  (De  symptomatum  causis  III,  c.  11  =^  Kühn  VII,  256) 
betrachtet  ihn  als  Symptom  einer  „Reinigung"  des  ganzen  Körpers 
von  den  verdorbenen  Säften,  während  Demetrios  (bei  Soran  S.  339) 
nur  einen  Teil  des  Fhisses  aus  dem  ganzen  Körper  kommen,  einen 
anderen  auf  krankhafte  Veränderungen  des  Uterus  selbst 
zurückführte. 

Es  ist  sicher,  dass  unter  diesen  verschiedenen  Ausflüssen  ausser 
Leukorrhoe,  Metritis,  Uteruscarcinom  u.  s.  w.  auch  der  Tripper  sich 
befunden  hat,  wenn  wir  ihn  in  den  Schilderungen  auch  nicht  so 
deutlich  nachweisen  können,  wie  das  bezüglich  derjenigen  des  männ- 
lichen  Harnröhrentrippers  der  Fall  ist. 

Der  letztere  kann  auch  mit  Sicherheit  aus  den  Schilderungen 
gewisser   Begleit-   und   Folgeerscheinungen    erschlossen    werden. 


i)  Uebersetzung  von  Lüneburg,  S.  124 — 125.  Griechischer  Text  (ed.  Rose 
S.  338):  'O  xaXoviiEvog  yvxaixtXog  Qovg  xazu  fih'  rovg  agyaiovg,  wg  'AXs^arSoog  6  ^i?m- 
h'i^}]g  £v  zc5  jigojTU}  ksyei  xcöv  yin'aixeiwv ,  TtXsiovög  soTtr  al'uaxog  (pogä  8iä  /.irjxQag  fiExä 
TiaQSXxäasoig  yoöt'ov,  xaxa  de  ArjiirjXQiov  xov  'HQOcpü.Eiov  (poga  vygdjv  8ia  /mjxgag  fiexä 
7iaQexxuG£u>g  ygorov,  xco  filj  aifiaxioS?]  fiorov  dklä  xai  ä/J.oxs  u/JmTov  y.axa  yQovov  yiyvsad'ai 
Qovv.  xa{y  fjiiäg  8s  ^EVfiaxio/^tog  ioxlv  voxEgag  ygovi^cov  aiodt]T(bg  ujioxoirofiEvov  jiXeI- 
ovog  vygov. 

2)  Soran  ed.  Rose,  S.  339:  rjftEtg  8k  xaia  xoivov  GtjfiEiwoo/iiE&a  xov  qovv  ex  tov 
ovvEycög  xadvygai'vEoßai  xovg  xönovg  8ia(p6Q0tg  xaxä  XQ^'^'^  vyQocg,  xi/v  «5t"  xdfirovaav 
dygoEiv  xai  uxQorpEiv  xal  dvoQEXxEiv  xdv  xoTg  TtEQiJtdxoig  :To)J.dxig  8vonvoEiv  xal  xaxfp8t]- 
xöxag  Eysiv  xovg  Tiodag.  —  xaxd  8e  xö  jiQOOsykg  Sioiast  x6  jid&og  avxov  xco  xov  fikv  yoiglg 
Ttövov  vjidgxsiv,  xov  8e  fXExd  Jiovov,  xal  [xov  f^kv]  yotgig  kXxdjoEmg ,  xov  8e  fiE&'  sAxihoEOtg 
rjxoi  qpXEyfiaivovatjg  rj  Qvnagäg  rj  xa&agäg.  (Vgl.  auch  die  ähnliche  .Schilderung  bei  Ori- 
basius  IV,  636:  Ufidg  govv  ywuixEior.) 


—     746     — 

wie  der  schon  früher  erwähnten  dvoovgia  (vgl.  oben  S.  703),  der 
ioyovQia,  der  Harnverhaltung,  die  Galen  i)  u.  a.  auch  auf  ein  (pvfia 
(Abscess  oder  Geschwür)  der  Harnröhre  zurückführt  und  oxQayyovQia, 
des  Harnzwanges,  des  schmerzhaften  Abtröpfelns  des  Urins,  nach 
Hippokrates^j  bei  seniler  Prostatahypertrophie,  nach  Galen^)  bei 
Entzündung  des  Uterus,  des  Rectums  und  der  Nieren,  Alle  drei 
Zustände  bringt  Heliodoros  mit  der  Harnröhre nstriktur,  der 
ovoouQKwdeiorj  ovQfj'&Qa  in  Verbindung.  Nach  ihm  verengert  sich 
die  Harnröhre  infolge  einer  Ulceration  und  zwar  nicht  in  ihrer  ganzen 
Länge,  sondern  nur  an  einem  bestimmten  Punkte.  Entweder  wird 
der  Kanal  partiell  oder  komplet  durch  eine  Wucherung  verschlossen. 
Bei  partiellem  Verschluss  tritt  Dysurie  oder  Strangurie  ein,  bei 
totalem  Ischurie^).  Die  Behandlung  geschieht  durch  Incision  und 
Einführung  von   Bougies. 

Ferner  werden  die  Tripperfäden  sehr  deutlich  unter  der  Be- 
zeichnung xpcüQiworjq  oder  iijcugiaoig  xvoxewQ  von  Hippokrates ^), 
Rufus*^)  und  Alexander  von  Tralles')  beschrieben: 

„Man  erkennt  die  Blasenkrätze  daran,  dass  sich  kleienartige  Substanzen  in  der 
Urinfiüssigkeit  zeigen,  welche  man  aber  von  denen,  die  aus  den  Blutadern  kommen,  wohl 
unterscheidet.      Denn    manchmal    bekommen   die  Adern    im    ganzen   Körper,   wie    dies    häufig 


i)  Galeni  Comment.  IV  in  Aphorismos  Hippocratis  82  =  Kühn  XVII B,  788: 
h'dsysxai  yag  ioxovQiav  8^  xiva  ysreodai  xai  8iu  x6  zoioviov  qv^ia  xal  fiivzoi  xai  &g  zo 
(pv/xa  Qaykv  iäoezai  ztjv  la/ovgiav  sv8t]kov. 

2)  Hippocrates  Aphor.  III,  31  =  Kühn  III,  726:  zoToi  Öh  JiQEoßvzrjOi  azgayyovQiai, 
övaovQiai  (bei  alten  Leuten,  d.  h.  bei  Prostatahypertrophie);  Celsus  II,  I  (Dar.  29): 
urinae  difficultas,  quam  ozgayyovgiav  appellant. 

3)  Galeni  Comment.  V  in  Hippocr.  Aphor.  58  =  K.  XVII  B,  855:  im  ugycö 
fplsyfiaivovzi  xal  im  vozegi]  q)?,eyfiairova)]  ozgayyovgh]  i:nyiyvEzai. 

4)  Heliodor  bei  Oribas.  IV,  472:  Tis  gl  avooagxco-dEiotjg  ovgrj'dgag. 
Sagxovdai  1)  ovgrjdga  eXxojoso)?  jigorjyrjaafiEr^-jg '  aagxovzai  Se  ovy  oXrj,  aXXa  xaxä  xi 
fiigo?,  i]  djzo  fxigovg  exsvoyuigovf^iEvov  zov  jiögov,  tj  ökov  zfj  oagxi  nXrjgov/Aivov.  "Oxav 
ovv  ano  /xigong  yivrjzai  avoodgxcoaig,  dvoovgEi,  i)  azgayyovgEi  o  jidoxcov  S/.ov  8k  zov 
jiugov  jiÄrjgco&ivzog  xazä  z6  xfjg  svgvyMgiag  8iäaxrjfia,  laxovgia  yivEzai. 

5)  Hippocrat.  Aphor.  IV,  yy  =  K.  III,  y^S:  'Oxöaoioiv  iv  zäi  ovgoj  jiayeT 
iövzi  mzvgd}8EU  owE^ougsExai,  rovzEoioir  1)  xvaxig  yjcogiä   (vgl.  auch  Galen  XVII  B,   772). 

6)  Ruf  US  ed.  Daremberg-Ruelle,  S.  422;  mit  ihr  stimmt  die  Beschreibung  bei 
Alexander  von   Tralles   II,   491    wörtlich  überein. 

7)  Alexander  von  Tralles  ed.  Puschmann  II,  491:  AiayivcooxE  zip'  ^'wgiaocr 
xfjg  xvaxEcog  ix  xov  mxvga)8f]  xivä  fiögia  xazd  zo  yvfia  zoiv  ovgwv  (paivso'&ai.  8iaxgivETg 
8e  avzä  ujio  ZMV  (pEgofiEvoiv  auio  zibv  (f/.eßwv  xai  yäg  xal  ai  <p?Jߣg  iazlr  öze  xa^' 
oXov  x6  oöjfia  jioXläxig  wajieg  ziva  yiojgiaaiv  vTiofxsvovoir  iv  zoTg  dfiEzgoig  xavaoig  xal 
(pegexai  i$  avxöjv  jiizvgwöij.  ei  fikv  ovv  zo  ovgov  Xetizov  sirj  xazd  zyv  ovozaaiv  xai 
fiä?dov  8gifiv,  yivwaxE  mzvgcööij  ix  xöJv  (pksßwv  sivai.  (Vgl.  auch  Galen  Comment.  IV 
in  Hippocr.  Aphor.   77   =   Kühn  XVII  B,  772 — 773.) 


—      747      — 

bei  heftigen  Brennfiebern  der  Fall  ist,  gleichsam  die  Krätze,  und  dann  gehen  kleienartige 
Teilchen  ab.  Wenn  also  der  Urin  eine  dünne  Beschaffenheit  und  mehr  Schärfe  besitzt,  so 
rühren  die  kleienartigen  Bestandteile  aus  den  Adern  her;  hat  dagegen  der  Urin  eine  dicke 
Beschaffenheit,  so  sitzt  die  Krätze  in  der  Blase."  (Uebersetzung  von  Theodor  Pusch- 
ni  a  n  n.) 

Die  Epidymitis  gonorrhoica,  die  als  öiÖvijlcjov  (pXey ^lovri 
bei  Dioskurides  (I,  155)  nur  angedeutet  ist,  wird  in  unverkennbarer 
Weise  von  Celsus  (VII,  18)  als  „testiculi  inflammatio"  geschildert, 
mit  ihrer  Begleiterscheinung,  der  Entzündung  des  Samen- 
stran g  e  s  ^). 

Die  schon  von  Proksch-)  mit  Recht  ziemlich  skeptisch  be- 
trachtete Stelle  der  hippokratischen  Schrift  de  morbis  mulierum  I,  2 
(==  Kühn  II,  614),  wo  von  dem  Abgehen  eitrig  gewordener  Regel- 
massen durch  die  Scheide  bezw.  von  ihrem  Durchbruch  in  der  Weiche 
oberhalb  der  Leiste  die  Rede  ist,  kann  sich  ebenso  gut  auf  eine 
akute  infektiöse  Parametritis  nichtgonorrhoischen  Ursprungs  beziehen, 
wie  auf  eine  solche  gonorrhoischer  Provenienz.  Denn  eitriger  Aus- 
fluss  und  Abscessbildung  kommen  natürlich  auch  bei  anderen  In- 
fektionen vor. 

Wenn,  wie  wir  sahen,  die  yovooQOia,  um  zum  Ausgangspunkte 
unserer  Betrachtung  zurückzukehren,  ausser  der  Spermatorrhoe  und 
Pollutionen  auch  wohl  den  echten  Tripper  mitumfasst  hat,  so  muss 
noch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  auch  andere  Sexualausflüsse 
von  den  Alten  erwähnt,  z.  B.  angedeutet  werden.  So  schildert 
Carmen  Priapeum  48  zweifellos  die  Urethrorrhoea  ex  libidine: 

Quod  partem  madidam   mei  videtis 
per  quam  significor  Priapus  esse, 
non   ros  est,   mihi  crede,  nee  pruina, 
sed  quod  sponte  sua  solet  remitti, 
cum   mens  est  pathicae  memor  puellae. 

Die  sexuelle  Erregung  der  Erau  bei  ähnlicher  Gelegenheit  und 
ihre  typische  Wirkung  auf  die  Blase  schildert  Juvenal  (VI,  Ö3 — -65): 

Chironomon  Ledam  molli  saltante  Bathyllo, 
Tuccia  vesicae  non  imperat;  Appula  gannit, 
Sicut  in  amplexu,  subidum   et  miserabile   .   .   . 

i)  Celsus  VII,  18  ed.  Daremberg,  S.  297:  Interdum  etiam  ex  inflammatione  turnet 
ipse  testiculus,  ac  febres  quoque  affert;  et,  nisi  celeriter  ea  inflammatio  conquievit,  dolor  ad 
inguina  atque  ilia  pervenit,  partesque  eae  iutumescunt;  nervus  ex  quo  testiculus  dependet 
plenior  fit,  simulque  indurescit. 

2)   Proksch,   Geschichte  der  venerischen  Krankheiten  I,    128. 

Bloch,   Der  Ursprung  der  Syphilis.  4o 


—     748     - 

Rufus')  erwähnt  nächtliche  Pollutionen  eines  22jährigen 
milesischen  Jünghngs,  der  beim  Coitus  Aspermatismus  hatte,  dagegen 
im  Schlafe  den  Samen  verlor.  Bekannt  ist  auch  die  drastische  Schil- 
derung einer  nächtlichen  Pollution  bei  Horaz-). 

Der  Terminus  technicus  für  die  nächtliche  Pollution  mit  ero- 
tischen Träumen  ist  dveigoyovog  oder  öveiQcoyjuog  (Aristoteles, 
Histor.  animal.  X,  6;  Rufus  ed.  Ruelle,  S.  76;  Cael.  Aurelian. 
Morb,  chron.  I,  4  u.  V,  7;  Oribas.  V,  768)  oder  öveigco^ig  (Rufus, 
S.  123),  nächtliche  Pollutionen  haben  heisst  t^oveigcoTTSiv  (Galen  VI, 
446)  oder  oreigcoTTEi}'  (Schol.  Aristoph.  Nubes  16;  Hippocr.  de 
morb.  II,  51;  Oribas.  V,  76g).  Galen  erklärt,  dass  Frauen  ebenso 
wie  Männer  an  nächtlichen  Pollutionen  leiden  (Galen  IV,  601)  und 
Caelius  Aurelianus  widmet  diesem  Leiden  (lateinisch  „Somnus 
venereus")  ein  eigenes  Kapitel  (Morb.  chron.  V,  7)  und  betrachtet 
es  als  einen  Vorläufer  der  Epilepsie,  Manie  und  Gonorrhoe,  welch' 
letztere  sich  dadurch  unterscheidet,  dass  der  Samen  auch  am  Tage 
abfliesst.  Er  führt  auch  noch  an,  dass  man  den  blossen  erotischen 
Traum  ohne  Samenabfluss  als  dvfiQOJioltjoig  von  der  mit  solchem 
verknüpften    nächtlichen  Pollution  unterschieden  habe. 

6.   "EgvoineXag. 

Hippocrates,  Epidem.  III  s.  III,  c.  4  ^  Kühlewein  I,  225  —  226:  IJoXXdioi  [.liv 
tÖ  igvoiTieXag  fisza  Jiqoqmoiog  sjrl  roToi  zvyovat  xal  Jidvv  im  ofiiXQoTai  rgco^iarioi'; 
E(p'  o).fo  TM  OMfiazi,  /mkioia  8s  zolai  mgl  e^i^xorra  STsa  [xal]  jisqI  xscpaktjv,  si  xal 
afuxQor  ufiElrj-dfit].  jioXXotai  8s  xal  h>  dsgaTZEiTj  iovai  /isydX.ai  q^Xsyfioval  Eyivovro,  xal  jo 
EQvomsXag  jioX^v  xay^v  jiavio&EV  EJisvEfiSTO.  roToi  fj.EV  ovv  jiXeigtoioiv  aviMv  djiooTaotEg  ig 
ifijcvrjfiara  avvEJUTiJOV  oaQxwv  xai  vEVQon'  xal  uotecoi'  ixTixwoiEg  fiEyuXai.  i]v  8k  xal  tu 
QEVfia  xo  avvioxdfiEvov  ov  tivm  i'xsXor,  dXXci  oi]yiE8ä)v  rig  uXXt]  xai  gEVf^ia  tioXv  xal  Jioi- 
xiXov  ....  fjv  8e  TidvTcov  x^XEJicöxaxa  xmv  xoiovtcov,  oxe  tieqi  yßtjv  xal  al8oTa 
yEvoiaxo.     t«  j^iev  jieqI  i'XxEa  xal  fiera  TtQotpdaiog  xoiavTa. 

Nach  der  ganzen  Schilderung  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass 
das  EQvoijielaq  der  Hippokratiker  unser  heutiges  Erysipel,  der  echte 
Rotlauf  ist.  Hierfür  spricht  vor  allem  die  Erwähnung  des  so 
charakteristischen  Ausganges  der  Krankheit  von  sehr  kleinen  Ver- 
letzungen  der  Haut,   ihr  häufigstes  Vorkommen   am    Kopfe   und 


1)  Rufus  bei  Oribasius  I,  S.  550 — 551:  'O  8s  veavioxog  6  Mdrjoiog  i]v  /.isv  df-ifpl 
Ezrj  8vo  xal  sl'xooiv  sXeyE  8e,  eI  fisr  fuayoiTO,  fir/  8vvaa&ai  d<pi£vai,  xad^sv8ovTi  8h  oi 
jioXv  vTiEQyeodai  xov  ajiEQ/Liaxog. 

2)  Horatius,  Sat.  I,  5,   82—85: 

hie  ego  mendacem  stultissimüs  usque  pueliam 
ad  mediam  nocteni  exspecto,  somnus  tarnen  aufert 
intentum   veneri:   tum  immundo  somnia  visu 
nocturnam   vesteni  niaculant  ventremque  supinum. 


—     749     — 

im  Frühling^),  die  dabei  vorkommenden  gangränösen  und 
phlegmonösen  Prozesse,  die  relativ  geringe  Mortalität.  Der  in 
dem  Kapitel  zweimal  betonte  traumatische  Ursprung  des  Erysipels 
schliesst  natürlich  seinen  sekundären  Charakter,  als  Hinzutreten  zu 
einer  epidemischen  Infektionskrankheit  (z.  B.  Typhus),  nicht  aus.  Ganz 
richtig  wird  betont,  dass  das  Erysipel  an  jeder  Körperstelle  auf- 
treten könne.  Wir  werden  daher  bei  dem  Erysipel  des  Schamberg 
und  der  Geschlechtsteile  um  so  eher  an  ein  puerperales  Erysipel 
zu  denken  haben,  als  der  Verfasser  gerade  diese  Form  als  die  aller- 
schwerste  bezeichnet.  Dass  ferner  das  primäre  Erysipel  der  Geni- 
talien gar  nicht  so  selten  ist,  wurde  schon  oben  (S.  392)  hervor- 
gehoben. Ich  selbst  habe  an  anderer  Stelle '-)  einen  von  mir  be- 
obachteten Fall  von  typischem  Erysipel  der  Dorsalfläche  des 
Penis  mitgeteilt,  das  fast  in  unmittelbarem  Anschluss  an  einen 
Coitus  im  pur  US  auftrat,  bei  dem  wohl  eine  kleine  Kontinuitäts- 
trennung der  Haut  des  Dorsum  penis  die  Übertragung  der  Strepto- 
kokken aus  der  Vagina  der  Puella  publica  erleichtert  hatte.  Unter 
heftigen  Allgemeinerscheinungen  (hohes  Fieber,  Erbrechen)  endete 
die  Affektion  bei  geeigneter  Therapie  (Eisblase,  Bepinseln  mit  Ichthyol) 
nach   IG  Tagen  mit  Heilung. 

Dass  in  Epidem.  III,  3 — 4  ganz  verschiedene  Arten  von  igvaiJisXag  zusammengestellt 
werden,  haben  auch  Küster  und  Hugo  Simon  ^)  hervorgehoben,  welch'  letzterer  sie  in 
die  Reihe  der  neuerdings  beschriebenen  Eiysipelepidemien  einreiht,  welche  sich  als  aus 
Diphtherie,  brandigen  Phlegmonen  und  Erysipelen  zusammengesetzte  Mischinfektionen  charak- 
terisieren, deren  einheitlicher  Charakter  von  der  Hand  gewiesen   werden  muss. 

7.   0r]Qiov  (d)jQia),  ßi]Qi(jojua  (und  Verwandtes). 

Hippocr.  Epidem.  VI,  14  =  Kühn  III,  585:  To  &7]Qiü>8sg  (fdivoTTCOQov,  hierzu 
Galen,  Commentar.  =  K.  XVII  A,  858:  Ehe  zag  daxaQi'dag,  site  rag  sk/in'dag  Xeyei  z6 
dygicüSsg ,  si'zs  iXscpavza  xal  xaQxiror,  eI'ts  qyßlaiv  cbg  ziveg  tjxovaav,  eize  jcäv  z6 
xaxörj&sg  und  Erotian.  Voc.  Hippocraticar.  collect,  ed.  Klein,  S.  123:  z6  d^ijQtwdEg'  01 
fiEV  £(paaav  avzur  etil  zcör  xaxotjd-wv  eXxwv  zEza^ivai  zl/v  ks^iv,  Öljieq  d^rjQKOfiaza 
ksyezai.  ä  dt)  (hg  im'jiav  iv  (fß^vomoQco  av^szai  8iä  ryv  rov  dsfjog  dvMfia)dav.  01  Sk  ijil 
zcüv  fuxQcöv  £X[.iivdo3v  Evo/iiioav.  zöze  yaQ  xai  avzai  yEVVÖivzai'  svtoi  8e  zi]v  cpßiaiv 
EVOfuoav.  —  Hippocr.  de  locis  in  homine  =  Kühn  II,  134:  &t]Qiov  etieq^ezui  sjtI  zö 
acöf.ia  8id  z68e.  —  Celsus  V,  28,  3  =  Dar.  207—208:  Est  etiam  ulcus,  quod  dtjQioi^ia 
Graeci    vocant.     Id    et    per    se    nascitur,    et    interdum    uiceri    ex    alia    causa    facto    supervenit. 


1)  Hippocrates,  Epidem.  III,  3  =  Kühlewein  I,  214:  jZqcoI  Se  zov  ygog 
ä/iia  zoTai  yEvouEvoioi  xjwy^eGiv  egvoiniXaza  noXXä.  —  Vgl.  über  das  häufige  Auftreten 
im  Frühling  E.  Küster,  „Erysipelas"  in  Eulenburg's  Realencyclopädie  VII,  325 
{3.  Aufl.,    1895). 

2)  Unna-Bloch,   Die  Praxis  der  Hautkrankheiten,   S.    538.      Wien-BerUn    1908. 

3)  Hugo  Simon,  Die  Laryngologie  des  Hippokrates,  S.  25.  Inaug.  -  Dissert. 
Berlin   1897. 

48* 


—     750     — 

Color  est  vel  lividus,  vel  niger;  odor  foedus;  multus,  et  muco  similis  humor:  ipsum  ulcus 
neque  tactuin,  neque  medicamentum  sentit;  prurigine  tantum  movetur:  at  circa  dolor  est,  et 
inflammatio ;  interdum  etiam  febris  oritur;  nonnunquam  ex  ulcere  sanguis  erumpit:  atque 
id  quoque  malum  serpit.  Quae  omnia  saepe  intenduntur;  fitque  ex  his  ulcus,  quod 
(fayidaivar  Graeci  vocant,  quia  celeriter  serpendo,  penetrandoque  usque  ossa, 
corpus  vorat.  Id  ulcus  inaequale  est,  coeno  simile;  inestque  multus  humor  glutinosus, 
odor  intolerabilis,  majorque  quam  pro  modo  ulceris  inflammatio.  Utrumque,  sicut  omnis 
Cancer,  fit  maxime  in  senibus,  vel  iis  quorum  corpora  mali  habitus  sunt.  Curatio 
utriusque  eadem  est;  sed  in  majore  malo  major  vis  necessaria  ....  Non  aeque  tarnen 
fame  in  iis,  quos  ffayedaiva  urgebit,  atque  in  iis,  qui  -dr/gioi/ia  adhuc  habebunt,  utendiim 
erit.  —  Dioscor.  III,  9:  rä  (paysöaivixä  sXxr]  xal  xa  TEdtjQico^isra.  —  Plutarch.  de 
superstit.  3:  q>Xsyi.ioval  negl  rgav/iiaTa  y.ul  vo^iai  oagxög  ■&t]Qiü)8sig.  —  Artemidoros 
Oneirocrit.,  S.  102,  16:  soixs  yag  xal  t)  vöoog  drjQico.  —  Die  wichtigen  Stellen  bei  Apollo- 
doros,  Pollux  und  Hesychios  sind  oben,  S.  693 — 694,  mitgeteilt.  —  Hippocr. 
Prorrhet.  II,  13  =  Kühn  I,  207:  AI  de  vofxal  davazcodsorazai  fiev  (bv  ai  orjuedöveg 
ßaßvTarui  xai  /.lEküvraTui  xal  ^tjQorazai.  novtjgal  de  xal  ejiixivSvvat  ooai  fxeXava 
työJQU  ävadiÖovaiv.  al  de  Xevxal  xal  /:iv^o}8eeg  zwv  at]jis86vcov  ouioxteIvovoi  fiet'  ijaoor, 
VJioozQetpovoi  8e  fiäXXov,  xal  /goinonegai  yivovzai.  ol  ö'  EQjirjzeg  dxivdvvozuzoi 
navzoiv  i?.xeo)v  oaa  vefiezai.  dvoanäXXaxxoi  de  [lalioza,  xazä  ye  zovg 
XQvnzovg  xaQxivovg.  im  Jiäoi  de  zoloc  zoiovzeoioi  jivqezÖv  ze  ijityevea&ac  ^VftqjSQei 
ixirjv  fjfiEQTjv  xai  jivov  wg  Xevxözazov  xai  nayvzazov.  XvoizeXei  xal  o<paxeXioix6g  vevgov, 
r)  xal  oozeov,  y  xal  uficpoTv,  ejii  zs  zfjoi  ßadeüjoi  or]jced6oi  xal  fieXatv7]ai,  Jivov  yag  iv 
zoToi  otpaxeXiafioioi  qei  jiovXv  xai  Xvsi  zag  otjJiEdövag.  —  (Vgl.  Epidem.  V,  4  vo/iiy  der 
Wange.)  —  Galen  method.  medend.  V,  4  =  K.  X,  326:  xaXeizai  d'  ovx  oid'  ojicog 
ajtaoiv  i]dri  zöig  tazgoTg  rj  zoiavzt]  diädeoig  vo/iiij,  diözi  vefieadai  av [ißsßrjxEv  avzijv 
djio  zwv  TtETZovßözMV  f^iOQicüv  EJil  X ä  xazo.  (pvaiv  Exovza  xal  xovxcov  dei  zi 
ngooejiiXafißdvEiv ,  wg  dno  zov  ov ^ßsßrjxöxog ,  ovx  dnb  zijg  ovoiag  zov 
drjXov fievov  ngäyf-iazog ,  e&evxo  xi]v  jigooijyogiav.  —  Galen  de  compos.  medicam. 
sec.  genera  V,  14  =  Kühn  XIII,  851:  jigog  vofiug.  zu  otjTTsdovMd?]  xwv  eXxcor, 
oxav  ejiivefitjzai  zovg  Tiegi^  zojiovg,  6vo/:idCovaiv  idiojg  vo/iug.  —  Dioscor. 
V,  5  ^^  Sprengel  I,  690:  xai  vofiwv  zü>v  iv  aldoioig;  Dioscor.  V,  128  =  Spr.  I, 
796:  IJoiei  de  jtgog  za  xaxor'jdrj  xal  (payedaivixd  l'Xx?]  xal  vofidg  rä?  iv  aidoico. 
—  Paulus  Aeginet.  III,  59:  Td  iv  aidoioig  eXxy)  xal  zd  xaxd  zijv  i'dgav  ytoglg 
(pXsy/xovfjg  ovza  .  .  .  .  vo/iifjg  de  ovarjg  xazojiXMOzEov  q^axi]  uezu  aidicov  xai  z(p 
xogdxcp  dl'  o^vfiiXixog  jigooayogevofiEvco  ygrjoxsov  xw  ze  ßißvvM  ....  ngög  xe  gayddag 
xai  rd  negi  zrjv  azscpdvr}v  gvjiagd  eXxr]  (Cels.  V,  20:  ulcera  sordida)  xai  fidXiaza 
oxav  dnoovgEiv  /<»/  Svvavzai.  —  Cassii  Felicis  Problemata  2  =  Physici  et  Medici 
Graeci  minores  ed.  I.  L.  Ideler,  Berolini  1841,  Vol.  I,  p.  146:  Aid  zi  inizrjdEia  zd 
uxga  fiigi]  xov  atofiaxog  ngdg  vo/.ii]v,  ößoicog  ds  xal  xd  xoiXm;  1}  ijieidt]  rj  vofii] 
vixgcoaig  xig  iaxi  xal  afjxing,  EVJiEgiij'Vxza  de  zd  äxga  di'  evdeiuv  vXrjg,  tag  did  zovzo 
Z7]v  VExgoioiv  vjtofieveiv  .  .  .  —  Hippocr.  Aphor.  III,  21  =  K.  III,  724:  Tov  de  d'sgeog 
Evid  ZE  zovzeoiv  .  .  .  xal  ojzoiv  növoi  xal  ozo/Lidzo)v  kXxoioiEg  xal  oysiedövEg  aldoioiv 
xai  i'dgoia.  —  Galen  method.  medend.  V,  4  ^  K.  X,  325:  xal  xazd  zovzo  in'  atdoioiv 
xai  edgag  elg  xr/v  zoiavxrjv  dq)ixvovfis§u  JioXXdxig,  ozi  gadiatg  otjjiezai  zd  fiogia  did 
ze  xfjv  ovfi<pvxov  vygöxrjxa  xai  Szi  jiegixxo/iidzwv  sialv  diEzai.  —  Galen, 
Commentar.  in  Hippocr.  de  humoribus  III,  13  -=  K.  XVI,  414:  dXXd  xal  1)  qpvaig 
xcöv  xönoiv  ov  fiixgov  Jigog  xd  dixEO&ai  ojjjisdövag  noiel'  xal  ydg  x6  oxöfia 
xal  xd  aidoia  jioXXr/v  vygoxyxa  xfj  (pvaei  XExxtjxai'  xal  ngoakzi  zovg  ddkvag 
eyovaiv  iyyvg,   üjieg  jidvza  zd  jiegizzd  ElodkyEoßai  .-zEcpvxaoiv.    —    Galen,  meth.  med.  X, 


—     751      — 

9  =  K.  X,  702:  >cara  tcov  iv  cudoioig  (pXey/iiovöiv  iv  äo/Jj,  :iolv  VTZoqpairsoßai  rira 
vo(xo)8ri  oTjJTsöova.  —  Celsus  VI,  18,  4 — 5  =  Dar.,  S.  256 — 257  (De  obscoenarum  partium 
vitiis):  Nonnunquam  etiam  id  genus  ibi  cancri,  quod  (paysdau'a  a  Graecis  nominatur, 
oriri  solet.  In  quo  minime  differendum,  sed  protinus  iisdem  medicamentis,  et,  si  parum 
valent,  ferro  adurendum.  Quaedam  etiam  nigrities  est,  quae  non  sentitur,  sed  serpit, 
ac,  si  sustinuimus,  usque  ad  vesicam  tendit;  neque  succurri  postea  potest  .  .  .  Cetera  eadem, 
quae  in  aliis  cancris,  facienda  sunt.  Occallescit  etiam  in  cole  interdum  aliquid; 
idque  omni  paene  sensu  carel;  quod  ipsum  excidi  debet.  Carbunculus  autem  ibi  natus, 
ut  primum  apparet,  per  oricularium  clysterem  eluendus  est:  deinde  ipse  quoque  medicamentis 
urendus,  maximeque  chalcitide  cum  melle,  aut  aerugine  cum  cocto  melle,  aut  ovillo  stercore 
fricto  et  contrito  cum  eodem  melle.  Ubi  is  excidit,  liquidis  medicamentis  utendum  est,  quae 
ad  oris  ulcera  componuntur.  —  Galen  in  Hippocr.  de  humor.  III,  26  =  K.  XVI,  460: 
vvv  Se  ksysi  (payF.öaivag  ra  g'Xyet]  rä  diaßiß Q(oox6/.ieva,  äjisQ  äjiavza  dsi  /^lei^co 
xai  x^^Qo  yivETai.  xal  ovzcog  ixdXovv  avrä  oc  jia?Miot.  vozsqov  äs  svcoi  ijisxsiQijoav 
jiQoatjyoQiacg  eaaazov  diogi^EO'&ai ,  zä  fisv  avzcöv  y^eigdivia  xaXovvzeg,  za  8s  ztj- 
Xstpia,  <pays8aivag  ds  äXXa.  rjixsTg  8s  zag  (paysdaivag  ovofxdCofisv  00a  zmv  sXxmv 
xrjv  v7toxEiii'svrj%'  8ia(f&siQsi  oäoxa'  ozav  dk  EJimoXiig  f]  xal  xaz^  avzo  zo 
dsQ/iia,  EQ TT 7] zag.  ävdga^  8e  xaX.sTzai  sXxog  io/agöiSsg  ä/iia  jioXXfi  zij  zmv  tisqi^  ow- 
(xäzmv  (pkoyojOEi.  (Vgl.  auch  Galen  de  tumoribus  praeter  nat.  13  =  K.  VII,  717,  wo 
noch  hinzugefügt  wird:  olqxeI  yäg  äjiavza  xoirfj  xaxoi]&7]  jiQOoayoQEVsiv.)  — 
Galen  bei  Oribas.  III,  655 — 657:  IIsqI  EQjtijzog  xal  (pays8aiv7]g  xal  zojv  ofioiojv. 
2vvlazazai  8e  xal  6  EQjirjg  ex  yv/iov  dgi/tisog'  snsl  8k  avzov  zov  8QiiiEog  6  (isv  fjzzov,  6 
8s  /icäXXor  vjiägyEi  zoiovzog,  lazsov  vjio  fikv  zov  8qi/^ivzsqov  zov  sa&i6fxsvov  EQjirjza 
ovviazäfiEj'ov,  vjio  ■&azEQOV  8s  zov  ezeqov  ov  xsyxQiav  EVioi  zcüv  /liezo.  'IjiJioxgdzrjv  zom'O^ia 
E&svTO,  8i6zi  xsyygoig  ofioiag  i^oydg  djiozsXsi  xaza  z6  8sQf.ia  .  .  .  Tovzov  zov  ysvovg 
iozl  xal  fj  (payE8aiva  xal  01  eXxov fisvoi  zcov  xaQxivcov,  sjil  wv  aTiävzcov  1) 
fiEv  xoivi]  ß^sQajisia  xcoXvaavza  zov  sjtiQosovza  yvfiov  täaßai  z6  i'Xxog,  7)  8£  i8ia  xaza 
sxaozov  EX  zs  zrjg  zov  ^oqiov  (pvoscog  svQioxszat  xal  zfjg  I8sag  zs  xai  noao- 
xrjzog  zov  yv^ov.  —  Hippocr.  Aphor.  V,  22  =  K.  III,  741 — 742:  T6  ßsQfwv 
EXJivrjzixov ,  ovx  sjtl  navzl  i'Xxsi,  fisyiazov  atj/iiEiov  ig  doq^aXshp'  .  .  .  zovzemv  8s  /.idXioza 
zoiaiv  iv  xBcpaXfj  s'Xxsa  syovoi,  xal  6x60a  vjto  yv^iog  d-i-rjaxEi  1]  sXxovzat,  xal  sgiioioiv 
ia&to^Evoioiv,  e8q]],  ai8oicp,  vax'sQ't],  xvazsi,  xovzkoiai  z6  fisv  {^eq[.i6v  cpiXiov  xal 
XQivov,  z6  8e  ipvygov  jioX.Efiiov  xal  xzsTvov.  —  [Servius  ad  Vergil.  Georg.  I,  151  (bei 
Rosenbaum,  a.  a.  O.  S.  268  A.  i):  Robigo  genus  est  vitii,  quo  culmi  pereunt,  quod  a 
rusticanis  calamitas  dicitur.  Hoc  autem  genus  vitii  ex  nebula  nasci  solet,  cum  nigrescunt 
et  consumuntur  frumenta.  Inde  Robigus  deus  et  Sacra  ejus  septimo  Kalendas  Maias 
Robigalia  appellantur.  Sed  haec  abusive  robigo  dicitur;  nam  proprie  robigo  est,  ut 
Varro  dicit,  vitium  obscoenae  libidinis,  quod  ulcus  vocatur:  id  autem  abundantia 
et  superfluitate  hu m oris  solet  nasci,   quae  Gra.eceaazi'Qiaaig  dicitur.]. 

Wir  fassen  unter  der  Rubrik  di]Qiov,  d}]Qio)/i(a  alle  Geschwürs- 
formen zusammen,  die  wir  heute  als  phagedänische,  gangränöse, 
nekrotische  und  bösartige,  d.  h.  carcinomatöse  (und  wohl  auch 
tuberkulöse)  Geschwüre  bezeichnen;  die  alten  Aerzte  nannten  diese 
ganze  Klasse  xaxorj&ea  ekxea  (Galen  VII,  727;  Erotian,  S.  123), 
für  die  eine  xoiv/]  degaTieia  aufgestellt  wurde  (Galen  bei  Orib.  III, 
656),  und  rechneten  zu  dieser  Gruppe  ausser  dem  schon  unter  Nr.  3 
abgehandelten    ävdqa^    folgende    Affektionen:    d}]QUoiua,    o^xj)    oder 


—     752     — 

oi]7ieöo)v,  vo/jh),  (pay e^aiva,  eQjryg  eadio f^ievog ,  xaQy.Tvog  und  alles 
das,  was  als  QvnaQo.  tXxi-j,  als  ulcera  sordida,  Cancer,  carbun- 
culus,  yeiQcovia  oder  ti]XE(pia  eXxr]  bezeichnet  wurde,  während  die 
von  Rosenbaum  (a.  a.  O.  S.  268)  hierher  gerechnete  „robigo",  wie 
wir  sehen  werden,  nicht  dazu  gehört. 

Für  diese  ganze  Gruppe  der  y.axo)]ßea  e'Xxea,  der  bösartigen  Ge- 
schwüre werden  folgende  Charakteristika  angeführt,  die  bei  den  einen 
mehr  und  bei  den  anderen  weniger  hervortreten  und  offenbar  als 
Grundlage  einer  Terminologie  a  potiori  gedient  haben:  Gangrän 
und  Nekrose  (yayygaiva,  vexQcooig,  ocpaxehofiog),  Fäulnisprozesse 
(orjxii,  orjipig),  das  Weiterkriechen  und  rapide  Umsichgreifen  der 
Ulceration  {vejueadai,  serpere,  wovon  vojw^  und  eQm]g  ihren  Namen 
haben),  die  Schwarzfärbung  (nigrities,  äv&Qa^,  carbunculus),  das 
in  die  Tiefe  Fressen  des  Geschwürs,  die  Corrosion  und  Erosion 
der  Haut  und  des  unterliegenden  Gewebes  (diaßißQd)oxeiv  bei  (paye- 
daiva,  eQJT7]g  eodiöjuevog,  xagxTvog,  Cancer  etc.),  die  Anästhesie  der 
abgestorbenen  Partien. 

Es  ist  um  so  weniger  möglich,  aus  den  einzelnen  rein  sympto- 
matischen Krankheitskeimen  bestimmte  moderne  Krankheitsbilder 
mit  Sicherheit  zu  erschliessen,  als  z.  B.  das  drjQuofia  und  die  (paysöaiva 
von  Celsus  (V,  28,  3:  sicut  omnis  Cancer,  und  VI,  ig:  genus  cancri) 
als  „Cancer",  Krebs  bezeichnet  werden,  während  ebenso  von  Galen 
(bei  Orib.  III,  657)  q)ayedaiva,  eQnrjg  eo'&iojuEvog  und  xaQxivog  zu  der- 
selben Gattung  (yh'og)  gerechnet  werden.  Die  Trennung  der  soge- 
nannten ,, chironischen"  und  „telephischen"  Geschwüre  erklärt  er  da- 
gegen für  unberechtigt. 

Sicher  gehen  wir  nicht  fehl,  wenn  wir  alle  die  genannten 
Krankheitsprozesse  als  progrediente,  serpiginöse,  destruktive 
mit  Ulceration,  Blutung,  Gangrän  und  Nekrose  verbundene 
Erkrankungen  der  Haut  auffassen  und,  soweit  sie  an  den  Geni- 
talien lokalisiert  sind,  wohl  hauptsächlich  als  phagedänische  und 
serpiginöse  Schanker  und  als  Carcinome  zu  klassifizieren 
haben,  denn  Celsus  erklärt  in  letzterer  Beziehung  ausdrücklich,  dass 
ih]Qi(o/ua  und  cpayedaiva  „wie  jeder  Krebs"  am  häufigsten  bei  alten 
Leuten  vorkommen.  Man  wird  im  übrigen  auch  an  er3^sipelatöse 
bezw.  diabetische  Gangrän  der  Genitalien  zu  denken  haben,  wie  denn 
überhaupt  die  Möglichkeit  der  grösseren  Häufigkeit  phagedänischer 
Prozesse  an  den  Genitalien  in  damaliger  Zeit,  die  Hippokrates, 
Galen  und  Cassius  Felix  auf  die  sommerliche  Hitze  und  auf  die 
grössere  Neigung  der  stets  feuchten  Geschlechtsteile  zu  solchen  zurück- 
führen,  durchaus   zugegeben   werden    muss.     Ferner  kommt   es  auch 


—     753      — 

heute  noch  \^or.  dass  Ulcerationen  bei  Herpes  genitalis,  bei  den 
verschiedenen  Formen  von  Balanitis  mit  ihren  zum  Teil  tiefen 
Erosionen,  bei  Aphthen  und  Diphtherie  der  weiblichen  Geni- 
talien einen  phagedänischen  Charakter  annehmen.  Den  eomjg  ioiho- 
jiierog  halte  ich  nach  der  Beschreibung  des  Galen  für  eine  Form  des 
flachen  Hautkrebses,  da  die  von  anderen  Autoren  gestellte 
Diagnose  „Lupus"  für  Blase  und  Uterus,  wo  nach  Hippokrates  dieses 
Leiden  ebenfalls  lokalisiert  ist,  nicht  in  Betracht  kommt  und  Galen 
ausdrücklich  angiebt,  dass  der  Herpes  Esthiomenos  nicht  in  die  Tiefe 
frisst  wie  cpayeöaira  und  y.agyJvog.  Der  harmlose  Beginn  eines  Penis- 
krebses  als  schmerzlose  Verhärtung  wird  von  Celsus  vorzüglich  ge- 
schildert, und  es  liegt  gar  kein  Grund  vor,  in  den  Worten:  „Bis- 
weilen verhärtet  sich  auch  eine  Stelle  am  Penis,  die  dann  fast  jeder 
Empfindung  entbehrt  und  auch  im  ganzen  (quod  ipsum)  ausge- 
schnitten werden  muss",  als  eine  „syphiHtische"  Initialsklerose  zu 
deuten,  selbst  wenn  die  ganze  Stelle  als  Schilderung  des  Initialstadiums 
eines  Geschwüres,  des  weiter  geschilderten  „Carbunculus"  aufgefasst 
werden  müsste,  was  ich  doch  nach  wiederholter  Lektüre  bezweifle. 
Es  wird  mit  „Carbunculus  autem  ibi  natus  etc."  die  Schilderung  einer 
neuen  Krankheit  eingeleitet.  Im  übrigen  kommen,  wie  bereits  oben 
(S.  372 — 378)  dargelegt  wurde,  so  viele  mit  Induration  einhergehende 
Affektionen  am  Penis  vor,  dass  die  Behauptung,  hier  liege  die  Schilderung 
eines  typischen  Primäraffekts  vor,  vollständig  in  der  Luft  schwebt.  Die 
Bemerkung,  dass  diese  bisweilen  (also  nicht  oft)  vorkommende  Ver- 
härtung excidiert  werden  muss  (debet),  spricht  doch  wohl  am  meisten 
für  Carcinom,  zumal  wenn  man  sie  auf  die  kurz  vorhergehenden  Sätze 
bezieht,  an  die  sich  dieser  Satz  ganz  natürlich  anschliesst '). 

Endlich  hat  Rosenbaum  (a.  a.  O.  S.  268  A.  i)  noch  eine  sehr 
interessante  Stelle  aus  dem  Kommentar  des  Grammatikers  Servius 
zu  Vergils  „Georgica"  mitgeteilt,  in  der  er  die  Schilderung  einer 
gangränösen  Affektion  der  Genitalien  erblickt.  Es  handelt  sich  um 
das  Wort  „Robigo"  (Rubigo),  das  ja  zweifellos  auch  „Rost"  oder 
„Brand"  des  Getreides  bedeutet.  Dies  sei  aber,  wie  Servius  erklärt, 
die  un  ei  gentliche  Bedeutung  des  Wortes.  Denn  nach  Varro  sei 
„Robigo"  eigentlich  das  „Laster  einer  obscönen  Geschlechts- 
lust" (vitium  obscoenae  libidinis),  das  auch  Geilheit,  sexuelle  Hyper- 
ästhesie (ulcus)  genannt  werde.     Diese  aber  werde  durch  einen  Über- 


i)  Ich  verweise  auch  noch  auf  die  Aeusserungen  von  Hebra  und  Kaposi  über  die 
oft  täuschende  Aehnlichkeit  von  Peniscarcinom  und  Inilialsklerose  und  die  von  ihnen  mit- 
geteilten Beobachtungen  (F.  Hebra  und  M.  Kaposi,  Lehrbuch  der  Hautkrankheiten, 
Stuttgart    1876,   Bd.   H,  S.   523  —  524). 


—      754     — 

fluss    an    Feuchtigkeit    (huraor)    hervorgerufen,    was    die    Griechen    als 
oarvQiaoig  bezeichneten. 

Dass  „ulcus"  so  und  nicht,  wie  Rosenbaum  es  will,  mit  „Ge- 
schwür" übersetzt  werden  muss,  schloss  ich  erstens  aus  der  Gesamt- 
bezeichnung des  Zustandes  als  Satyriasis,  die  ein  „Geschwür"  sehr 
schwer  verständlich  machen  würde,  und  ersah  ich  zweitens  aus  einer 
handschriftlichen  Bemerkung  des  Verfassers  in  Rambach's  „Thesau- 
rus Eroticus  linguae  latinae"  (Stuttgart  1833  zu  S.  298)^).  Hier  heisst 
es:  „Ulcus.  Öbscoeno  sensu,  pro  latente  prurigine,"  und  es  wird 
zum  Beweis  hierfür  auf  Martial  XI,  60  verwiesen,  welches  Epi- 
gramm folgendermassen  lautet: 

Sit  Phlogis  an   Chione  Veneri  magis  apta,  requiris  ? 

Pulchrior  est  Chione;   sed  Phlogis   ulcus  habet, 

Ulcus  habet  Prianii  quod  tendere  possit  alutam 

Quodque  senem   Pelian  non  sinat  esse  seneni, 

Ulcus  habet  quod  habere  suam   vult  quisque  puellam, 

Quod  sanare   Criton,   non  quod  Hygia  potest: 

At  Chione  non   sentit  opus   nee  vocibus  ullis 

Adiuvat,  absentem  marmoreamve  putes. 

Exorare,   dei,  si  vos   tam   magna  liceret 

Et  bona  velletis   tam   pretiosa  dare, 

Hoc  quod  habet  Chione  corpus  faceretis  haberet 

Ut  Phlogis,  et  Chione  quod  Phlogis  ulcus  habet. 

Es  wird  hier  die  hässliche,  aber  sehr  libidinöse  Phlogis  der 
schönen,  aber  frigiden  Chione  gegenübergestellt  und  der  starke  Ge- 
schlechtstrieb, das  Liebesfeuer  der  ersteren  direkt  mit  dem  Worte 
bezeichnet  „ulcus  habet".  In  derselben  Bedeutung  begegnet  uns 
„ulcus"  auch  bei  Lucrez  (De  rerum  natura  IV,  1055 — 1064),  wo 
sogar  auch  der  „humor"  des  Servius  in  ganz  ähnlicher  Bedeutung 
für  den  „Reiz  zur  Geschlechtslust"  gebraucht  wird: 

Sed  fugitare  decet  simulacra  et  pabula  amoris 

absterrere  sibi  atque  alio  convertere  mentem 

et  iacere  umorem  conlectum    in  corpora  quaeque, 

nee  retinere,  semel  conversum   unius  amore, 

et  servare  sibi  curam  certumque  dolorem : 

ulcus  enim  vivescit  et  inveterascit  alendo, 

inque  dies  gliscit  furor  atque  aerumna  gravescit, 

si  non  prima  novis  conturbes  volnera  plagis 

volgivagaque  vagus  Venere  ante  recentia  eures 

aut  alio  possis  animi   traducere  motus. 

i)  Das  Handexemplar  dieses  seltenen,  schon  von  Rosenbaum  gesuchten  Werkes 
(übrigens  in  dem  gedruckten  Teile  eine  wörtliche  Copie  von  P.  Pierrerugues,  Glossarium 
eroticum  linguae  latinae,  Paris  1826)  gelangte  durch  einen  glücklichen  Zufall  in  meinen 
Besitz.      Es  ist  mit  zahlreichen   handschriftlichen   Zusätzen   versehen. 


—     755     — 

„Robigo"  ist  das  Liebesfeuer,  der  mit  äusserer  Röte  einher- 
gehende innere  Brand  des  Eros,  und  nicht,  wie  Rosenbaum  will, 
ein  äusserer  Brand  oder  ein  phagedänisches  Geschwür.  Das  würde 
zur  oaTVQiaoig,  die  von  Caelius  Aurelianus  (Acut.  morb.  III,  i8) 
als  „vehemens  veneris  appetentia"  definiert  wird,  in  keiner  Weise 
passen.  Unsere  Auffassung  wird  durch  diesen  Autor  vollauf  bestätigt, 
indem  er  von  einer  heftigen  Spannung,  Schmerzhaftigkeit  und  Brand 
(„incendio",  also  nicht  etwa  Gangrän!)  der  Genitalien  bei  Satyriasis 
spricht.  Es  ist  also  die  durch  die  geschlechtliche  Aufregung-  hervor- 
gerufene Hitze  und  Röte  an  den  Genitalien,  die  plastisch  mit 
„Robigo"  bezeichnet  wurde,  während  man  später  diese  Bezeichnung 
auf  eine  Erkrankung  des  Getreides  „abusive"  übertrug.  Die  „robigo" 
als  äussere  Röte  des  inneren  Liebesbrandes  ist  eben  völlig  identisch 
mit  dem  „rubor",  den  Caelius  Aurelianus  als  charakteristisches 
Symptom  der  Satyriasis  anführt  ^). 

8.   0vfiog,  §vfiiov  (und  Verwandtes). 

Hippocr.  de  vulner.  et  uicer.  14  =  K.  III,  319:  >/  la  ßvfiia  rä  cuto  rov 
Jioa&iov  dqyaiQet.  —  Cels.  V,  28,  14,  Dar.  217:  At  d^vixiov  nominatur,  quod  super 
corpus  quasi  verrucula  eminet,  ad  cutem  latius,  supra  tenue,  subdurum,  et  in  sumnio 
perasperum:  idque  summum  colorem  floris  thymi  repraesentat,  unde  ei 
nomen  est;  ibique  facile  finditur,  et  cruentatur;  nonnunquam  aliquantum  sanguinis 
fundit;  fereque  citra  magnitudinem  fabae  aegyptiae  est,  raro  majus,  iiiterdum  perexiguuni. 
Modo  autem  unum,  modo  plura  nascuntur  vel  in  palniis,  vel  in  inferioribus  pedum  par- 
tibus:  pessima  tarnen  in  obscoenis  sunt;  maximeque  ibi  sanguinem  fundunt. 
—  Soran  II,  27  ed.  Rose,  S.  370:  nsgl  d'v/ii(ov  tcöv  iv  yvvdixsioig  /Liegsoiv.  — 
Soran  II,  18,  59  ed.  Rose,  S.  359:  tovrcov  ovv  yevofievon'  st  zo  fie/Ln'Hog  Sia  ziov  /Lta^.ax- 
Tixwv  }.iJiaofiär(ov  dvscoye,  Sei  aTiev&vveiv  rov  rgdxij^.ov  ei  oy.ohög  ioii,  naQaorsXksiv  Se 
fiExa  Xuiaofiov  tov  oyxov  ei  jtaQaxEifiEvo^  sitj,  sl  ds  firj,  öiä  •/[eiooi'gyiag  Exy.6n:Teiv  eite 
&Vfiog  iotlv  EiTE  HOvdi'Xog  djio  ijiavaazdoECog  eite  öta(pQdzzcor  vfiijv  ij  oagxog  jisQi(pvaig 
rj  äXXo  XI  x<öv  zoiovzwv  i/miodiCov.  —  Leonidas,  Heliodoros,  Antyllos")  bei  Oribas. 
IV,  19:  Ovfiog  eXxoq  Eoziv  vjtsoaagxovv  zgay^Eia  xai  rpa&VQn  aagni.  yivEzai 
Se  ev  ze  idga  aal  alSoioig  xal  zoTg  a.).?.oig  röjioig  jiäoiv.  Kai  z6  /ikv  EVi]&eg 
Tiavzdjiaoi  xal  noXXdxig  avzo/iiazov  djioniTizov,  z6  de  ei  djioxöjitoig,  xaxotj&iozEQÖv 
ZE  xal  6dvvi]v  jzaQsyov,  xal  yoQrjyov^svoi'  aifiazoiÖEi  lywgi'  eozi  8k  oTg  xal  djio- 
ZEfivöfiEva  zoiavza  (pvEzai  jidXiv,  (og  xq/)C^<-^'  V  xni'oscog,  f]  q^agfidxov  xavozixov'  za 
Se  xal  dviaza  wq^dij.  "Oaa  8e  xaQxivcodrj  zqojiov  avviozazai  yaX.EJicözsQa,  xal  za 
ExcpvofiEva  zfjg  ßaXdvov    yaXsJtwzEQa  zwv  ix   zfjg    JioaOrjg,    xal    zd  ev  zfj  Edgq 


1)  Caelius  Aurelianus  acutor.  morbor.  lib.  III,  c.  18.  Sequitur  autem  aegrotantes 
vehemens  genitalium  tentigo,  cum  dolore,  atque  incendio,  cum  quodam  pruritu  immodico 
in  veneream  libidinem  cogente  ...  At  si  febres  non  fuerint,  ex  ceteris  accidentibus,  quae 
Graeci  symptomata  vocant,  cum  ea  indulgentiora  viderimus,  ut  ruborem,  fervorem,  pru- 
ritum,   vel  in  usum   venereum  cupiditatem,  ant  genitalium   tentiginem,  vel  bis  similia. 

2)  Nach  "Wellmann,  Pneumatische  Schule,  S.  78,  hat  Oribasius  die  Definition 
von  §v/Liog  aus   Heliodor  und  Antyll,   für  die  wieder  Leonidas  die  Quelle  ist. 


-     756     - 

ta  ßaßvreoa  rcov  jtqo/fi noTegcor.  "Qrfi%]  ^f  jrore  ett irs^io^ieva  ix  rfjg  eSgac 
JiQog  x6  aidoTov  zfjg  yv%'aix6g'  rä  ^s  xal  avTodev  ß).aatävovTa.  21vi.ißaivsi  de  xal 
EJil  e}^XEOi,  xal  ävsi'  kXxwaecog,  7iQOtjyt]oa/iier)]g  aagxog  Ix ßoXrjg,  oi'ag  eiQfjxafJSV 
yE%'ea&ai.  (Vgl.  auch  Orili.  IV,  470 — 4/1-)  —  Galen  de  tumor.  praeter  natur.  17  =  K. 
VII,  731:  d^vf^ioi  xal  zuDm  öoa  Toiavza  aagxojdi]  ßlaozi'jfiaTa.  —  Pseudo-Galen 
definit.  med.  XIX,  S.  444:  0v/iog  ioth'  Exqavoig  oagxög  rgay^Eiag  ofioia  roTg  iöoo- 
Sifioig  {fv/iioig  jtEQi  aldoifo  xal  eSoo.  yivo/iht].  —  Philumenos  bei  Aelius  Sermo  XVI, 
108  ed.  Zervos  Lips.  1901,  S.  154:  IIeqI  i)vfio)7'  er  vazEQq  xal  fivQfirj xioiv  xal  dxgo- 
XOqÖovojv,  'PiXovfiEvov.  Svviazaxai  ^vfiog  tjoze  (.iev  jteqI  za  jzzEQvyojfiata,  jzozk  de 
sieqI  x6  yvvaiXEiov  al8oiov,  tzoze  Se  jieqI  z6  ozo/iiiov  zfjg  vazEga;  1}  zo%' 
TQO.X'fjXov.  vjzEQoytj  dk  iazl  zgayEia  xsy/QCoötjg  xoov/A.ß(p  ■&{) (X(n  naganlijoia. 
im  zivoiv  [xiv  ävo'}8vvog,  i<p^  ezeqwv  8e  xaxorj&rjg  xal  ivEQEV&tjg  xal  aifiaooo/nivt] 
(xäkkov  xaza  zag  ovvovoiag  xal  zovg  jiEQiJzdzovg ,  oze  xal  fiögto  jiETie^fiEvqy 
rjzoi  WQifiq)  TiQOOEOiXE.  xazaXaixßävEzai  ds  did  zfjg  ogäoEwg  i]  avzößt,  ^  fXEzd  Sioji- 
ZQiofiov.  &EQanEV£iv  Se  zag  VJzsQoydg  zavzag  jzqootjxei  xaz'  agyctg  fiivzot,  <x>g  ettI  zwv 
IxvQfxrjximv  xal  axgcxogSövcov,  xoivcög  ygoviCövzwv  8e  dg/jo8i<og  xeiqü^eiv  ....  Es  folgt 
dann  später  ein  Verzeichnis  von  medikamentösen  Mitteln,  darimter:  älXo ,  (o  iy^grjoäi-iijv 
iirl  zijg  ifiavzov  avfj.ßiov ,  aigsi  ydg  avzag  ix  giCoav  ...  —  Pollux,  Onomast. 
IV,  194:  dvfiog,  vjiEgigvßgog  Exfpvoig,  zga/sTa,  fvaiiiog,  ov  8vaa(paigEzog,  fidkioza  Jisgl 
aidoTa  xal  daxzvXiov  xal  naga^irjoia'  s'azi  (5'  oze  xal  inl  Tigoocöno).  —  Vgl.  Paul. 
Aegin.  VI,  58  ed.   Brian,  S.   246. 

Hippocr.  de  natur.  muliebr.  =  Kühn  II,  587 — 588:  rjv  iv  toTg  alöoioia i 
dvooofxir}  ^  xal  xiojv  iyysvrjzai  xal  odvvrj  syi],  zr]V  [xev  odvvrjv  navoEi  etc.,  zrj%'  Se 
dvooojxirjv  ävvrjooi'  .  .  .  z6v  8s  xiora  XQV  djiozdfivEiv.  —  Hippocr.  de  mulier.  morb. 
II,    103    =   K.   II,   879:   rjv  xUov  ir  zoioiv  alboloioiv  iyyh'rjzai. 

'  Hippocr.    de    haemorrhoidibus,    c.    4    u.    5    =^   Kühn    III,    343 — 344:    itgoaqn'Ezai 

Tzgog  rfj  aifxazcöc  zfj  xoj'di'/.ioÖEi  olov  ovxafiivov  xdgjzog,  xal  ei  jmv  e^co  o<p68ga 
i]  fj  xovövXoioig ,  jisgiTzscpvxEV  avzfj  xaXvjizrjg  6  zfjg  oagxog.  xadiaag  ovv  zov  ävßgco- 
710V  oxXd^  EJzl  oXfioiv  ovo  oxÖjzei.  EvgrjoEig  ydg  TiEfpvorj^Eva  rä  /nsotjyv  zwv  yXovzwv 
jiagd  zTjv  iögrjv.  zd  8e  ai/ua  ixyoigsEiv  evSo&ev.  i]v  yovv  ivdidoi  tmo  zcd  xaX.imifjgi, 
rj  xd  xovdvXwfia  xrö  SaxzvXo)  d(p£XsTv.  ovSsv  ydg  yaXEnoiXEgov  ijjzEg  Tigoßdxov  ftsigo- 
fiEvov  xdv  ödxzvX.ov  /tsza^v  zov  Sigf^azog  xal  zfjg  oagxog  nsgaivEiv.  xal  xavza  diaXsyö- 
fiEvog  d[i,a  XAv&avs  tzoiecov.  ejz7]v  Se  drpsXTjg  zd  xovdvXoofia  dvdyxrj  gsEod-ai  dg6fiot>g 
ai'/j,axog  and  Jidorjg  xfjg  dqpaigEoiog.  xdya  ygi]  dnonXvvai  olvco  avoztjgrn  xtjxiSag 
ivojzoßgs^ag,  xal  rj  zs  aifiaztzig  olyrjOEzai  ovv  zot  xovdi'Xto/iiazi ,  xal  zd  xaXviifia 
xazaozrjöEzai  xal  oaro  äv  naXaiözEgov  f] ,  gifCbioig  sazai  fj  Yrjoig.  —  'i/j'  8e  dvdiZEgog  fj  r/ 
xovövXojoig,  zoJ  xazojzzfjgi  oxEJzzEodai  xal  fiij  i^ajiazäoßai  vjzd  zov  xazojzzrjgog.  dirjyov- 
/xEvog  ydg  dfiaXvvEi  zijv  xovSi'jXwoiv  .  .  .  —  ovzco  xal  zrjv  iv  xfj  Edgj]  aifioggo  td  a , 
i]v  fiEv  ävojßsv  7]  xdxcoßEv  xdfijjg  xfjg  dcpaigsaiog  zov  xovdvXojfiazog,  ai(.ia  gFvoEzai' 
ijv  ök  avzrjv  drpsX^rjg  zi]v  xovdvXoioiv  iv  zfj  ngoocpvoEi,  ov  gEvaszai.  —  Cels.  VIT,  30,  2 
Dar.  319:  (De  ani  vitiis)  ...  At  tubercula,  quae  xovdvXo') fxaza  appellantur,  ubi 
induruerunt,  hac  ratione  curantur:  Alvus  ante  omnia  ducitur;  tum  vulsella  tuberculum 
apprehensum  juxta  radices  praeciditur.  Quod  ubi  factum  est,  eadem  sequuntur,  quae  supra 
post  curationem  adhibenda  esse  proposui:  tantummodo,  si  quid  increscit,  squama  aeris 
coercendum  est.  —  Cels.  VI,  18,  8,  9,  11  =  Dar.  258  —  259  (De  obscoenarum  partium 
vitiis):  Condyloma  autem  est  tuberculum,  quod  ex  quadam  inf lammatione  nasci 
solet  .  .  .  Sed  si  vetus  Condyloma  jam  induruit  ...  Si  hoc  parum  in  condy- 
lomate  proficit,  adhiberi  possunt  etiam  vehemenlius  adurentia.  Ubi  consumtus  est 
tumor,    ad  medicamenta    lenia    transeundum   est  .   .   .     Tertium    vitium    est,    ora    venarum 


—     757      — 

tamquam  capitulis  quibusdam  surgentia,  quae  saepe  sanguinem  fundun  t:  aifiog- 
QotSag  Graeci  vocant.  Idque  etiam  in  ore  vulvae  feminarum  incidere  consuevit  .  .  . 
Fungo  quoque  simile  ulcus  in  eadem  sede  nasci  solet  ...  Si  hac  ratione  non 
tollitur,  vel  medicamentis  vehementioribus,  vel  ferro  adurendum  est.  —  Di  ose.  III,  29  = 
K.  I,  423:  Uaacöv  de  xoivwg  rj  716a  xaxa7i)ModeToa  ksia  aifiOQQoidag  ore/Aet,  (pXey- 
fiovdg  TS  za?  xaza  8axrvli07'  tugavvsi,  xal  xovdvlcö/cara.  —  Dioscor.  V,  95  = 
K.  I,  760:  soTt  ÖE  xal  i'a/aifiog  xai  jtqq?  tÖ  iv  reo  öaxTvXio)  eIx}],  xordi'Xcjfxara 
aifiOQQotdag.  —  Galen,  Commentar.  III  in  Hippocr.  libr.  de  alimento,  c.  17  =  K, 
XV,  32g:  (bg  8s  :jsot  to  SeQfta  y.ai  T6:joi'g  rov  olov  OMf^azog  Xsjiga,  yxöga,  Xsiyt^v, 
dxQoxoßSövsg ,  dvfioi,  fivQ(j,i]xiai,  ijXoi,  jiwqoi,  ovtm  xai  jif.qI  trjv  eögav  aifioggotSeg 
xvrpXal,  gaydSeg ,  Jigö^tzcooig,  xovdvXcöfiaza,  uvXideg  xai  äXXa  jtoXXa  ov/iißairsi.  — 
Pseudo-Galen,  Defin.  med.  420  =  K.  XIX,  446:  KovSvXcojiid  iazi  SaxtvXiov 
ozoXi8a)8i]g  sjiar'dazaocg  /terä  (fXsyfiovijg.  —  Caelius  Aurelian.,  Morbor.  chron. 
II,  II  ed.  A.  v.  Haller  II,  157:  Pleninique  etiam,  ut  Erasistratus  ait,  tubercula,  quae 
Graeci  condylomata  vocant,  visibus  occurrunt,  quae  sunt  similia  haemorrhoidis  ex 
quibus  sanguis  fertur.  —  Paul.  Aegin.  VI,  71  =  Briau  292:  Ilsgi  xwv  iv  zoig  yvvai- 
xsioig  zöjioig  dvficov  xai  xor'dvXcofidrcov  xai  amoQoot8cov.  Td  8s  xov8vX(ö/naza 
azoXi8(!)8sig  sjcavaazdosig  eiair,  motieq  ai/(OQgot8Eg  jiaQajiXrjoioi  zaig  xaza 
TTjv  E8ßav.  IIozE  8£  xai  alfioogayovoi.  (Vgl.  auch  Paul  Aeg.  III,  75.)  —  Paul. 
Aegin.  VI,  80  =  Briau  328:  T6  iv  zm  8axtvXlco  xov8vXio(i.a  xazd  zov  zojiov 
fiövov  Tcöv  et'  roTg  yvvaixEioig  8iEvi]vox£,  azoXi8w8rjg  ov  xai  avzo  rijg  iSgag  sjiavaazaaig, 
rj  <pXEy fiovfjg  fj  Qayd8og  TzooTjytjaafiivtjg.  T6  /xev  ovv  jiqwzov,  i^o/ag  Jigoaayo- 
QEVEzai,  zvXovfiEvov  8s,  xov8vX(Ofia.  Ast  ovv  wojieq  ixsTva  xai  xavza  ^iv8ifn  xoaztj- 
aavza  ixTSfirsiv,  xai  roTg  ioxaga>Tixoig  d:^oßEgajT£VEtv. 

Hippocr.  Epid.  III,  c.  7  ^  Kühlewein  I,  228:  ijzKpvaiEg  ßksrpdgon'  s^wdsv, 
EOCo&EV,  TioXXcöv  (p&Eigovza  zag  oifiag,  ä  avxa  iizovoßd^ovoiv.  —  Aristophanes  Ran. 
1285:  wöJisg  zd  avx'  i.-ri  zoToiv  6<fdaX/iioTg  E<pv.  —  Dioscor.  Euporist.  I,  218  ^ 
K.  II,  208:  Aigsi  8e  xov8v?.o'}/iiaza  xai  zag  avxag  dgasvixdv  iiziJtX.aodsv.  —  Diosc. 
Eupor.  I,  219  ^  K.  II,  209:  Tot?  8£  vjzsg/isyi&Eig  avxag  dnoßdXXEi  etc.  —  Galen, 
Euporist.  III  =  Kühn  XIV,  495:  Tlgog  iocoydSag,  gayd8ag  xai  ovxdfiiva  (seil,  iv  £8ga). 
—  Sextus  Placitus  de  medicam.  ex  animal.  11,  7:  Ad  ficos  qui  in  ano  nascuntur.  — 
Oribas.  V,  387:  Svxa  ovofidCovoi  ßX.aoztjfiaza  £Xxü}8i],  ozgoyyvXa,  V7i6oxXt]ga, 
ivEgEv &fj ,  oig  dxoXov&sl  xai  68vvi]'  cpvEzai  8s  zavza  z6  fiEV  tzXeZozov  iv  xEqyaXfj,  xav 
T(p  dXXqj  acöfiazt.  (Vgl.  auch  Orib.  VI,  183  — 186  u.  Paul.  Aegin.  III,  3.)  —  Die 
poetischen  Citate  über  fici  und  mariscae  sind  bereits  oben  (S.  577 — 582)  verzeichnet. 

Geis.  VI,  18,  Dar.  256:  Tubercula  etiam,  quae  (pvfiaza  Graeci  vocant,  circa 
glandem  oriuntur:   quae  vel  medicamentis,  vel  ferro  aduruntur. 

Plinius,  Nat.  histor.  30,  72:  Verendorum  f  o  r  m  i  ca  t  i  on  i  bus  verrucisque 
medetur  arietini  pulmonis  inassati  sanies;  Nat.  hist.  22,  100:  Verrucae  sedis  crebriore 
silphii  suffitu  cadunt. 

Sext.   Placit.   I,    15:   Ad  callos  qui  in  veretro  nascuntur. 

Scribon.  Larg.   234:  Ad  veretri  tumorem. 

Soranos  II,  33,  Rose  379:  JiEgi  ߣXixi]gl8o3v  xai  d&Ego)/iidzxov  xai  azEazco- 
[lazoiv  iv  zoig  yvvaixsioig  al8oioig. 

Die  grosse  Mehrzahl  der  in  dieser  Rubrik  verzeichneten  Ex- 
crescenzen  der  Genitalien,  also:  ißvfiog,  &vjiuov,  /uvgju}]xia,  xiojv, 
xovdvXo)oig,  xovdvXcojua,  ovxov,  ovxtj,  ovxd^ivov,  fici,  mariscae, 
(pvjiia,  Verrucae,  calli  etc.  wurden  von  den  Alten  zur  Gattung  der 


-     75«     — 

Warzen  g-erechnet  (Cels.  V,  28,  14;  Pliniiis  1.  c.)  und  umfassen 
wohl  grösstenteils  das,  was  wir  „venerische  Vegetationen"  nennen, 
deren  grosse  Zahl,  Ueppigkeit  und  rasches  Wachstum  gerade  in  süd- 
lichen Ländern  schon  von  Ziermann^j  nach  seinen  Beobachtungen 
in  Sizilien  hervorgehoben  wird.  Der  Reichtum  an  Benennungen  in 
der  formalistischen  Terminologie  wird  durch  den  Reichtum  der  ver- 
schiedenartigsten Bildungen  dieser  Art  vollauf  erklärt.  Wir  verweisen 
in  dieser  Beziehung  auf  die  oben  (S.  408 — 40g)  mitgeteilte  ausge- 
zeichnete Schilderung  der  zahlreichen  Varietäten  der  sogenannten 
spitzen  Feigwarzen  oder  Condylomata  acuminata  nichtsyphi- 
litischer Natur,  die  A.  Geigel  gegeben  hat,  deren  Aehnlichkeit 
mit  Feigen,  Hahnenkämmen,  Blumenkohl,  Himbeeren  oder  Maul- 
beeren, Erdbeeren  oder  Stachelbeeren  ihre  verschiedenen  Benennungen 
hervorgerufen  hat.  Man  sieht  sie  auch  in  Pallisaden-  und  Pilzform 
und  als  dendritische  Bildungen,  sowie  als  Papillome  bis  zur  Grösse 
einer  Kindesfaust-).  Ihre  grosse  Häufigkeit  (vgl.  oben  S.  410  die 
Angabe  von  Fritsch)  und  ihre  oft  überraschende  Aehnlichkeit  mit 
den  syphilitischen  „breiten"  Kondylomen  (s.  oben  S.  410,  411  u.  ö.) 
ist  von  vielen  Autoren  hervorgehoben  worden.  Für  nichtsyphilitische 
Vegetationen  spricht  auch  die  Thatsache,  dass  als  ihre  typische 
Lokalisation  von  fast  allen  Autoren  Genitalien  und  Anus  genannt 
werden,  während  bekanntlich  die  breiten  Kondylome  hauptsächlich 
die  Regio  analis  okkupieren.  Ferner  ist  die  Schilderung  der  Vege- 
tationen des  Weibes,  ihr  üppiges  Wuchern  zwischen  Anus  und  Vulva, 
ihr  Vorkommen  im  Lmern  des  weiblichen  Genitale  ebenfalls  typisch 
für  das  Condyloma  acuminatum  ^).  Im  Altertum  kamen  die  Feig- 
warzen in  der  männlichen  Analregion  ganz  sicher  ebenso 
häufig  vor  wie  noch  heute  (aus  anderen  Gründen)  bei  der 
Frau,  da  sie  bei  der  allgemein  verbreiteten  Männer-  und 
Knabenliebe,  von  deren  Umfange  wir  uns  heute  kaum  noch  eine 
Vorstellung  machen  können,  und  der  mit  ihr  verbundenen  Pädikation, 
durch  direkte  Ansteckung  hervorgerufen   wurden. 

Hierfür  hat  das  Kapitel  „Prostitution  und  Psychopathia  sexualis" 
unumstössliche  Beweise  gebracht. 

Wir  werden  aber  bei  der  Deutung  der  mitgeteilten  Termini 
technici    der    warzenartigen    Excrescenzen    an    Genitalien    und    Anus 


1)  J.  L.   C.   Ziermann,    Ueber    die    vorherrschenden   Krankheiten   Siziliens    u.   s.   w. 
Ein  Beitrag  zur  medizinischen  Länder-  und   Völkerkunde,  S.    188—189,   Hannover   1819. 

2)  E.   Lang,   Der  venerische  Katarrh,  S.    Ii6 — Ii8,    I20,    I2i,    Wiesbaden    1893. 

3)  Vgl.  die  ausgezeichnete  Schilderung  von    Max    Joseph    in    Mraceks    Handbuch 
der  Hautkrankheiten,  Bd.  HI,  S.   502,   Wien    1904. 


—      759      — 

auch  noch  an  verschiedene  andere  x\ffektionen  zu  denken  haben, 
die  zum  Teil  durchaus  nicht  selten  hier  lokalisiert  sind,  wie  z.  B.  die 
Akneknoten,  die  namentlich  in  der  Analregion  sehr  häufigen  papu- 
lösen,  kallösen  und  lichenifizierten  Ekzeme,  die  Sykosis,  die  pseudo- 
syphilitischen Papeln  der  Prostituierten  (Bergh),  die  kondylomähn- 
ähnlichen  Hypertrophien  der  Vulva  (F ritsch)  und  des  Anus,  die 
Elephantiasis  verrucosa  der  Labien  und  des  Anus,  das  Molluscum 
contagiosum,  Epitheliome  i),  Papillome  (Albert),  condylomartige 
Hämorrhoiden  und  Vorwölbungen  der  Afterschleimhaut  (vgl.  oben 
S.  431 — 432),  deren  Deutung  als  ,,Mariscae"  und  „Cristae"  (bei  passiven 
Päderasten)  keinem   Zweifel  unterliegt  -)  u.  s.  w. 

Nach  diesen  Voraussetzungen  muss  man  nicht  nur  die  ohne 
genauere  Schilderung  bloss  mit  Namen  erwähnten  Excrescenzen  be- 
urteilen, sondern  auch  die  detailliert  beschriebenen,  wenn  auch  bei 
letzteren  eine  speziellere  Deutung"  möglich  sein  wird. 

Als  Prototyp  dieser  ganzen  Formen  ist  der  Qvfiog  bezw.  das 
d-vjuior  anzusehen,  eine  schon  von  Hippokrates  als  am  Präputium 
vorkommend  erwähnte  zweifellose  Art  des  Condyloma  acuminatum, 
was  sich  aus  der  Vergleichung  mit  der  Thymianblüte  ohne  weiteres 
ergiebt.  Celsus  beschreibt  die  rauhe,  zerklüftete,  gespaltene  Ober- 
fläche des  Thymus  und  seine  Neigung  zum  Bluten.  Offenbar  rechnet 
er  auch  gewisse  Warzen  dazu,  da  er  den  Thymus  ausser  an  den 
Genitalien  auch  an  den  Händen  und  Füssen  vorkommen  lässt, 
Leonidas  erwähnt  das  häufige  spontane  Verschwinden  dieser  Feig- 
warzen, aber  auch  die  Neigung  zu  Recidiven,  den  carcinomatösen 
Charakter  mancher  Thymi  (besonders  der  im  Mastdarm  oberhalb  des 
Anus  sitzenden)  und  ihre  üppige  Wucherung-  bei  Frauen.  Philu- 
menos  vergleicht  den  Thymus  mit  dem  Köpfchen  des  Thymians 
oder  mit  einer  Maulbeere,  erwähnt,  dass  er  bei  der  Cohabitation  und 
bei  Spaziergängen  leicht  blute.  Er  kommt  an  den  Labien,  am  In- 
troitus  und  am  Os  uteri  vor  und  wird  durch  Abschneiden  entfernt. 
Dass  er  nicht  für  ansteckend  galt,  beweist  die  naive  Bemerkung  des 
Philumenos,  dass  er  solche  Feigwarzen  bei  seiner  eigenen  Frau 
behandelt  habe.  Pollux  erwähnt  das  Vorkommen  des  Thymus  an 
der  inneren  Seite  der  Oberschenkel  (jraQajio'iQta)  und  im  Ge- 
sichte, was   die  Diagnose  „Condyloma  acuminatum"  absolut  beweist, 


1)  Die  direkte  Betonung  der  Bösartigkeit  mancher  Gebilde  legt  den  Gedanken  an 
Epitheliom  nahe,  doch  muss  man  sich  auch  an  die  gerade  bei  Feigwarzen  so  häufigen  Rezi- 
dive erinnern.      Vgl.  darüber  auch  E.   Gurlt,  a.  a.   O.   Bd.   III,  S.   536. 

2)  Vgl.  oben  S.  432 — 433  die  Aeusserungen  der  erfahrenen  Gerichtsärzte  Hof  mann 
und   Dittrich. 


—     760     — 

da  gerade  diese  Art  der  extragenitalen  Lokalisation  für  die  Feig- 
warzen charakteristisch  ist,  wozu  noch  Conjunctiva  und  Mundschleim- 
haut kommen  '). 

Der  xicov  an  den  weiblichen  Geschlechtsteilen  bei  Hippokrates, 
der  schmerzhaft  ist,  übel  riecht  und  die  Excision  erfordert,  dürfte 
ebenfalls  zur  Gattung  der  gewöhnlichen  Feigwarzen  gehören,  ohne 
dass  eine  genauere  Diagnose  möglich  ist. 

Dagegen  können  wir  der  ganzen  Schilderung  nach  das  hippokra- 
tSsche  KovövXw^a  (xovdvXcooig)  nur  mit  den  Hämorrhoiden  faljnoQ§oideg) 
in  Verbindung  bringen,  es  ist  ein  feigwarzenähnlicher  Hämor- 
rhoidalknoten, jedenfalls  ein  Gebilde,  das  sich  aus  einem  solchen 
entwickelt  und  dann  wohl,  wie  es  deutlich  geschildert  wird,  einen 
sogen,  blinden,  nicht  mehr  blutenden  Hämorrhoidalknoten 
darstellt.  Auch  die  späteren  Definitionen  bestätigen  diesen  Zusammen- 
hang, für  den  auch  spricht,  dass  das  xoi'ÖvÄcojna  fast  nur  am  Anus, 
selten  an  den  Genitalien  vorkommt.  Celsus  erwähnt  die  Entstehung 
aus  einer  „Entzündung",  wobei  man  an  einen  entzündlichen  Hämor- 
rhoidalknoten zu  denken  hat,  wie  denn  Paulos  das  Kondylom  als 
eine  Hypertrophie  der  Analschleimhaut  infolge  einer  vorausgegangenen 
Entzündung  oder  Rhagade  bezeichnet.  Die  leichte  Schleimhautvor- 
wölbung nannte  man  t^o^tj,  die  längere  Zeit  bestehende,  zum  Knoten 
ausgebildete  Hovövko)jLia  (Paul.  Aeg.  VI,  80).  Ebenso  ergiebt  sich 
aus  der  Definition  des  Caelius  Aurelianus  deutlich  die  Beziehung 
der  Kondylome  zu  den  Hämorrhoiden.  Kurz,  das  antike  „Kondy- 
lom", dessen  Name  so  vielen  die  Altertumssyphilis  suggeriert  hat,  ist 
weiter  nichts  als  die  Folge  der  Veränderungen  eines  Hämor- 
rhoidalknotens bezw.  hämorrhoidal-entzündlicher  Zustände 
der  Analschleimhaut.  Die  einfache,  unbefangene  Lektüre  der 
wichtigsten  von  mir  mitgeteilten  Stellen  der  genannten  antiken 
Autoren  lässt  gar  keinen  anderen  Schluss  zu.  Wenn  auch  bei  Celsus, 
der  blinde  Hämorrhoidalknoten,  das  Kondylom,  von  den  blutenden 
Hämorrhoidalknoten  getrennt  abgehandelt  wird,  so  ist  ihr  Zusammen- 
hang doch  klar.  Für  ihn  trat  schon  Virchow-)  in  völlig  über- 
zeugender Weise  ein.  Er  hält  auch  die  ovxa,  fici  für  veränderte 
Hämorrhoidalknoten,  und  das  Wort  dieses  erfahrenen  und  nüch- 
ternen pathologischen  Beobachters  ist  zu  gewichtig,  als  dass  es  bei 
der  Beurteilung  dieser  antiken  Bezeichnungen  vernachlässigt  werden 
dürfte.     Der   Form    nach   können    gewisse  Hämorrhoidalknoten    sehr 


i)  Vgl.   Max  Joseph,  a.  a.   O.  S.   502 — 503. 

2)   R.    Virchow     Die  krankhaften   Geschwülste,   Bd.   III,  S.  427—428,  Berlin    1867. 


-     76i      - 

wohl  ein  feigwarzenähnliches,  zerklüftetes  Aussehen  haben  und  bei 
der  rein  formalistischen  Auffassung  der  Alten  mit  den  eigentlichen 
Feigwarzen  verwechselt  werden  i).  Dass  die  ovxa,  fici  auch  die  Be- 
deutung „Cond3'loma  acuminatum"  hatten,  zeigt  die  Bemerkung  des 
Hippokrates  und  die  Stelle  des  Aristophanes  von  ihrer  Lokali- 
sation an  der  Conjunctiva,  wobei  man  allerdings  auch  an  Trachom 
zu  denken  hätte,  und  die  Erwähnung  des  Oribasius  von  ihrem 
Vorkommen  am  Kopfe. 

Endlich  dürfte  ein  Teil  der  nicht  näher  beschriebenen  „(pv[.iaxa 
circa  glandem",  der  „Verrucae"  und  „calli"  in  veretro  zu  den  Feig- 
warzen gehören,  während  die  Honiggeschwulst  (fieXiH7]Qig)  und  die 
Fettgeschwulst  (oTedKOfia)  an  den  weiblichen  Genitalien  weiter  keine 
Bedeutung  für  die  antike  Venereologie  besitzen.  Was  unter  dem 
„fungus  in  ano"  des  Celsus  zu  verstehen  sei,  ist  bei  dem  Mangel 
jeder  näheren  Schilderung  nicht  mehr  zu  bestimmen,  wahrscheinlich 
Carcinom. 

Die  hier  gegebene  Uebersicht  umfasst  alle  für  die  antike  Vene- 
reologie in  Betracht  kommenden  Leiden.  Wir  haben  daraus  ersehen, 
dass  es  nur  rein  örtliche  venerische  Leiden  waren:  Gonorrhoe 
mit  ihren  Komplikationen,  einfache  örtliche  Genitalgeschwüre, 
weiche  Schanker  mit  Ausgang'  in  Gangrän  und  phagedänische  serpi- 
ginöse  Ulceration,  Bubonen,  venerische  Vegetationen  nicht- 
syphilitischer Natur,  ausserdem  endlich  das  ganze  Heer  pseudo- 
syphilitischer Affektionen  der  Genitalien,  des  Anus,  des  Mundes, 
der  Haut. 

Unter  diesen  Affektionen  hat  sich  die  Syphilis  nicht  nur  nicht 
nachweisen  lassen,  sondern  es  haben  sich  auch  keinerlei  Anhalts- 
punkte für  ihre  Existenz  ergeben,  da  beinahe  alle  die  beschriebenen 
Affektionen    eindeutig   als  nichts3^philitische  gedeutet  werden  müssen. 

Es  bleibt  nur  noch  übrig,  die  Spuren  angeblicher  ,, Knochen- 
syphilis" und  „hereditärer"  S^'philis  bei  den  Alten  zu  untersuchen. 
Es  ist  bezeichnend,  dass  die  Anhänger  der  Lehre  von  der  Altertums- 
syphilis trotz  eifrigster  Nachforschungen  nur  ein  sehr  dürftiges  Material 
dieser  Formen  zusammengebracht  haben,  eigentlich  nur  einen  Fall 
von  „Knochensyphilis"  und  einen  Fall  von  „Erbsyphilis"!  Denn  die 
sogenannten  ödvvai  oaxoxojioi  bei  Galen  (De  locis  affectis  II,  8  = 
K.  VIII,  91,  104)  konnten  nur  unter  der  Suggestion  des  „Wortzaubers" 


i)  Im  ersten  Teile  (oben  S.  92 — -93)  ist  eingehend  nachgewiesen  worden,  dass  die 
Bezeichnung  „Kondylom"  für  syphilitische  Excresceozen  erst  lange  nach  Einschleppung 
der  Syphilis  aufkam   und  von   den   ältesten  Schriftstellern  gar  nicht  verwendet  wurde. 


—      -jbi      — 

stehende  Forscher  mit  unseren  syphihtischen  „Dolores  osteocopi"  ver- 
gleichen, da  sie  die  von  ganz  anderen  Dingen  handelnde  Stelle 
gar  nicht  gelesen  hatten  und  sich  durch  das  blosse  Wort  ootokötioi 
fascinieren  Hessen.  Die  von  Archigen  es  herrührende  Stelle  lautet 
nämlich: 

ITovsT  8s  7io?.Xdxig  ovrco  xal  rj  EJiKpaveia  Ttal  oi  /nEia^v  xfjg  aagxog  vfisvsg,  oi  xai 
rovg  dtaojiöövzag  növovg  ijiKpsQovai.  rovg  8s  ojiö  rojv  jisgl  zä  ooTsa  uiQoaivjisXg  svgtjasig, 
(bg  avrcöv  8oxeIv  rcöv  doiicov  ovzag  .  .  .  Sri  8'  oi  röov  nsQixsifisvcov  xoTg  daroTg  vfisvtov 
jiövoi  ßv&iol  t'  slalv,  Tovz'  soziv  8ia  ßuOovg  zov  oco/iiazog  sjncpsQOVZEg  al'adrjoiv,  avzöJv  zs 
zöjv  oozöjv  sjiäyovaiv  (paviaoiav  wg  dSv^'Ojfisrcor,  ov8iv  ■dav/.iaazov.  ovofiäl^ovoi  yovv 
avzovg  oazoxojiovg  oi  nXeioroi,  aal  yirovxai  za  tioXXu  ^ih>  sjil  yvftvaoioig,  soriv 
ozs  8s  xal  8ta  yv^iv  rj  nXfjd'og. 

Ergänzt  wird  diese  Stelle  durch  eine  bisher  übersehene  in  dem- 
selben Kapitel  (K.   VllI,    io8): 

'O  (lEV  ovv  EXxd>8r)g  növog  ovx  iv  fiövco  zw  8sQixazi  cpalvszai  owiozüfiEvog,  a.kXa 
xal  8ia  zov  ßädovg  EXZEzajuircog  ä)(Qi  zcöv  öazcjv. 

Es  handelt  sich  hier  also  um  die  Irradiation  von  Schmerzen 
bei  Muskelzerrungen  infolge  von  gymnastischen  Uebungen  (im 
yv/uvaGioiQ),  Rheumatismus  {did  yw^iv)  und  Neuralgien  [diu  jihj&og) 
und  bei  Geschwüren  der  Haut,  bei  denen,  wie  deutlich  gesagt 
wird,  der  Schmerz  oft  so  intensiv  wird,  dass  er  bis  zu  den  Knochen 
hin  gefühlt  wird.  Von  irgend  einer  anderen  Krankheit  ist  hier  nicht 
die  Rede. 

Wohl  aber  sei  hier  noch  daran  erinnert,  dass  den  Alten  der 
Begriff  „Neuralgie"  als  spezifische  Affektion  eines  bestimmten  sensiblen 
Nerven  fremd  war,  sie  vielmehr  die  schmerzhafte  Empfindung  bei 
Neuralgie  mit  Krankheiten  der  Gelenke,  Knochen  oder  Muskeln  in 
Verbindung  brachten  M. 

Aber  selbst  wenn  hier  wirkhch  von  selbstständigen  „dolores 
osteocopi"  die  Rede  wäre,  bewiese  das  nicht  das  geringste  für 
Syphilis,  da  wir  heute  wissen,  dass  diese  nichts  für  Syphilis  Charakte- 
ristisches sind,  sondern  auch  bei  Erkrankungen  der  blutbilden- 
den Organe,  bei  Typhus,  Bleivergiftung  und  anderen  schweren 
Erkrankungen  vorkommen. 

Indem  wir  die  von  Rosenbaum  (a.a.O.S.  138 — 144)  weitläufig 
behandelte  Stelle  bei  Dion  Chry  sostomos  (Orat.  XXXIII,  S.  403 — 4 1 2) 
übergehen,  wo  von  dem  widerwärtigen  „durch  die  Nase  schnarchen" 
(Qeyx^iv)  a.\s  einem  Lockrufe  der  Kinäden  so  eingehend  und  deutlich  die 
Rede  ist,  dass  man  wirklich  nicht  versteht,  wie  jemand  dabei  an  „Nasen- 


i)  Vgl.  August  Hirsch,  Handbuch  der  historisch-geographischen  Pathologie,  Bd.  HI, 
S.   355,  Stuttgart    1886. 


—    763    — 

Syphilis"  denken  kann,  wenden  wir  uns  nunmehr  zu  dem  einen  und  ein- 
zigen Fall,  den  die  Anhänger  der  Lehre  von  der  Altertumss3^philis  als 
scheinbar  stringenden  Beweis  für  die  Existenz  der  tertiären  Syphilis 
schon  in  hippokratischer  Zeit  anzuführen  nicht  müde  werden,  so  in 
neuester  Zeit  noch  Kleinwächter ^). 

Es  handelt  sich  um  die  folgenden  Stellen  im  Corpus  hippo- 
craticum : 

Hippocr.  Epidem.  IV,  19  =  Kühn  III,  520:  rw  jiaiSUo  zw  <pays8aivco&ivTi 
odövrsg  01  vjioxdrcp,  xai  zcöv  ävco  xai  rwv  xdrco  01  ifiTigoa&iov,  dvsjiXsor'.  syxoi?.ov 
si^ov,  oazicov  &v  fisv  ix  zfjg  v ji s q ro t] g  ajisQ^sT^ai^,  fieotj  l'Csi  >/  Qi?-  lov  8s  01 
ävco  odovTsg  01  sfiJiQoo'&sv,  Jilazsta  dxQi], 

,,Bei  dem  Knaben,  welcher  ein  fressendes  Geschwür  hatte,  fielen  die  unteren 
Zähne  und  die  oberen  Vorderzähne  aus,  und  er  hatte  einen  hohlen  (Kiefer-)Knochen.  Bei 
denjenigen,  bei  welchen  (ein  Knochen)  aus  dem  Gaumen  in  Verlust  kommt,  sinkt  die  Nase 
mithin  ein,  bei  denjenigen  hingegen,  bei  welchen  die  oberen  Vorderzähne  ausfallen,  plattet 
sich  die  Nasenspitze  ab." 

(Uebersetzung  von  Robert  Fuchs  II,   200.) 

Hippocr.  Epidem.  VI,  i,  3  =  K.  III,  583:  "Oooig  oazsor  ojid  vjieQMtjg  djirjX&e, 
zovzioiat  f^isot]  l'^si  >/  Qig.     oioiv  8s  oOsv  01  686vzsg,  äxgtj  oi/uovzai. 

„Bei  denjenigen,  bei  welchen  ein  Knochen  vom  Gaumen  abgegangen  ist,  sinkt  die 
Nase  mitten  ein,  bei  denjenigen  hingegen,  bei  welchen  ein  Knochen  da  abgegangen  ist,  wo 
die  Zähne  (sitzen),  plattet  sich  die  Spitze  ab." 

(Uebersetzung  von  Robert  Fuchs  II,   253.) 

In  dem  ersten  Falle  ist  das  typische  und  ganz  unverkennbare 
Bild  eines  lupösen  Geschwüres  des  Zahnfleisches  geschildert,  das 
sehr  häufig  vorkommt  2)  und  die  Zähne  zum  Ausfallen  bringt  und  so 
die  geschilderte  Veränderung  der  Physiognomie  herbeiführen  mag. 
Dass  Lupus  und  Tuberkulose  sehr  wohl  eine  Perforation  des 
harten  Gaumens  herbeiführen  können,  betont  Jadassohn  (a.  a.  O. 
u.  S.  241)  ausdrücklich,  ja  ein  anderer  ebenso  hervorragender  Kenner 
der  Erkrankungen  dieser  Teile,  Körn  er  3),  erklärt  sogar  diese  schweren 
Veränderungen  der  Mund-  und  Rachenhöhle  für  viel  häufiger 
tuberkulös  als  syphilitisch!     Es  sei  auch  auf  die  schon  früher  (S.  452) 


i)  Ludwig  Kleinwächter,  Einige  Worte  zur  Streitfrage  über  die  Herkunft  der 
Lues.     In:  Janus,  S.   246 — 248,   1905. 

2)  Vgl.  J.  Jadassohn,  Die  Tuberkulose  der  Haut  in  Mraceks  Handbuch  der 
Hautkrankheiten,   Bd.  IV,   i,  S.    190,  Wien   1907. 

3)  O.  Körner,  Lehrbuch  der  Ohrenheilkunde,  S.  65,  1906:  „Für  jeden  Arzt,  der 
folgenschwere  diagnostische  Irrtümer  vermeiden  will,  ist  es  nötig,  zu  wissen,  dass  die  an- 
geblich für  Lues  charakteristischen,  weisslichen,  strahligen  Narben  am  weichen  Gaumen  und 
an  der  hinteren  Schlundwand,  sowie  Gaumendefekte  und  Verwachsungen  des  weichen 
Gaumens  mit  der  hinteren  Schlundwand  viel  häufiger  eine  Folge  von  Tuberkulose  als 
von  Lues  sind." 

Bloch,  Der  Ursprung  der  Syphilis.  49 


—    764    — 

mitgeteilten  Aeusserungen  von  Hutchinson  und  Lang  über  die 
häufig  große  Aehnlichkeit  der  lupösen  Defekte  der  Nase  und  des 
Gaumens  mit  den  syphilitischen  Defekten  hingewiesen  (Sattelnase  bei 
Lupus).  Wir  sind  um  so  weniger  berechtigt,  hier  ausschliesslich  an 
Syphilis  zu  denken,  als  die  Schilderung  des  Ausfallens  der  unteren 
Zähne  und  der  Vorderzähne  durch  das  fressende  Geschwür  typisch 
ist  für  die  lupöse  Erkrankung  dieser  Gegend,  nicht  aber  für  die 
syphilitische.  Man  wird  endhch  auch  die  traumatische  Entstehung 
eines  Gaumendefektes  in  Betracht  ziehen  müssen.  Da  aber  sowohl 
Perforation  des  Gaumens  als  auch  Sattelnase  bei  Lupus  bezw. 
Tuberkulose  gar  nicht  so  selten  beobachtet  worden  ist,  da  ferner 
das  an  dieser  Stelle  beschriebene  Ausfallen  der  Zähne  viel  häufiger 
bei  Lupus  vorkommt  als  bei  der  hier  selteneren  Lokalisation  syphi- 
litischer Gummata,  so  können  wir  mit  viel  größerem  Rechte  sagen, 
dass  die  hippokratische  Schilderung  sich  auf  Tuberkulose  bezieht. 
Hier  sind  wirkHch  die  Worte  des  Simon  Pistoris^)  am  Platze:  Non 
deberes  utique  Hippocratem,  quem  recte  laudas,  tuis  facillimis  con- 
jecturis  inquinare. 

Was  nun  zum  Schlüsse  den  einzigen  Fall  von  angeblicher  heredi- 
tärer Syphilis  betrifft,  so  hat  Haeser^)  eine  Stelle  bei  Oribasius 
(ed.  Bussemaker - Daremberg  III,  188— 1 8g)  in  diesem  Sinne  aufge- 
fasst.     Sie  lautet: 

"Ooa  dk  Tf/7  Jiaiöio)  k^avdeZ  xaxa  xo  fiegfia,  yivovTai  jxsv  ra  nolXa  rij  xaxia  zov 
yd?MXTog'  yivszai  öe  xal  t]v  avxo  [xi]  i^ijisy^i]-  xa  ös  Jiov  xai  a.7iö  zcöv  vax eqcöv 
ijveyxe  xrjv  ßkdßtjv. 

„Die  Hautausschläge  beim  Kinde  rühren  meistens  von  der  schlechten  Beschaffenheit 
der  Milch  her,  bisweilen  aber  auch  wenn  das  Kind  diese  nicht  verdaut,  endlich  aber  bringen 
sie  auch  die  Kinder  mit  auf  die  Welt." 

Es  wird  hier  nichts  von  einer  gleichen  Erkrankung  der  Mutter, 
nichts  von  einer  Vererbung  gesagt,  sondern  nur  die  Thatsache  mit- 
geteilt, dass  die  Kinder  bei  der  Geburt  mit  Ausschlägen  behaftet 
waren.  Vielleicht  hat  der  Verfasser  die  Erkrankung  der  Mutter  nicht 
ausdrücklich  erwähnt,  weil  er  diesen  Zusammenhang  als  allgemein 
bekannt  voraussetzte.  Aber  selbst  wenn  es  sich  um  eine  Erkrankung 
beider  Teile  handelte,  braucht  diese  doch  ganz  gewiss  nicht  syphilitischer 
Natur  zu  sein.  Man  hat  ja  Fälle  von  kongenitalem  Pemphigus 
bei  Neugeborenen  mit  und  ohne  Erkrankung  der  Mutter  beob- 
achtet  (vgl.   oben  S.  473),   ferner  Kinder   mit  Varicellen  zur  Welt 


i)  Bei  Fuchs,  Die  ältesten  Schriftsteller  über  die  Lustseuche  in  Deutschland,  S.  i6o. 
2)  Haeser,  a.  a.  O.  Bd.  I,  S.   526. 


—    765    — 

kommen  sehen  (eben  dort),  endlich  giebt  es  eine  Impetigo  neona- 
torum, gonorrhoische  Exantheme  der  Neugeborenen  u.  v.  a. 

Wenn  die  Erbsyphilis,  dieses  gewissem! assen  mit  Händen  zu 
greifende  Paradigma  der  Uebertragung  einer  Krankheit,  von  den 
Eltern  aufs  Kind  im  Altertum  existiert  hätte,  dann  hätte  sie  Galen  i) 
gewiss  an  jener  Stelle  genannt,  wo  er  von  der  Entartung  und  Schädigung 
der  Kinder  durch  eine  leichtfertige  Zeugung  im  Alkoholrausch, 
nach  üppigen  Gelagen  und  anderen  Genüssen  spricht  und  dagegen 
wettert,  daß  die  Frucht  schon  bei  der  Zeugung  verdorben  wird  {Sore 
f]  juev  ägx^]  Tfjg  oxcogäg  ev'dvg  ovxco  nXrjixixEXrjg). 

Aber  weder  hier  noch  an  irgend  einer  anderen  Stelle  in  der 
antiken  Litteratur  finden  wir  eine  solche  Erwähnung  oder  einen 
sicheren  Anhaltspunkt,  der  geeignet  wäre,  die  Eehre  von  der  Existenz 
der  Syphilis  im  Altertume  zu  stützen.  Wer  sich  das  sechste  Kapitel 
dieses  Werkes,  die  Darstellung  der  pseudosyphilitischen  Krankheiten, 
vergegenwärtigt,  der  wird  auch  den  blossen  Verdacht,  der  in  einer 
früheren  Zeit  vielleicht  noch  einige  Bedeutung  hatte,  fallen  lassen 
müssen.  Die  Zeit  für  leere  Hypothesen  ist  vorüber.  Denn  auch  die 
blosse  Möglichkeit  der  Existenz  der  Syphilis  im  Altertum  lässt  sich 
vor  dem  Forum  der  Wissenschaft  und  angesichts  der  Fortschritte  in 
der  historischen  und  dermatologischen  Forschung  nicht  mehr  aufrecht 
erhalten,  weil  sie  weder  in  den  medizinischen  noch  in  den  ebenso 
bedeutsamen  kulturgeschichtlichen  Thatsachen  und  Zusammenhängen 
eine  Begründung  findet. 


l)  Galen,   De  usu  partium   XI,    10  =  Kühn  III,   885—886. 


Druck  von  Ant.  Kampfe  in  Jeua. 


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m  1  4  1996 


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