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Sitzungsberichte
der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften
zu München.
Jahrgang 1867. Band II.
M ü neben.
Akademisclie Bucbdruckerei von F. Straub.
1867.
In Commissiou bei G. Franz.
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2.12
•7
^ot.2
Uebersiclit des Inhaltes.
Die mit * bezeichneten Vorträge sind ohne Auszug.
PhiJosophisch-philol. Glasse. Sitzung vom 1. Juni 1867.
Seite
* Maurer: Die Quellenzeugnisse über das erste Landrecht und
die Ordnung der Bezirksverfassung des isländischen
Freistaates 1
K e i n z : Eine mitteldeutsche Beschwörungsformel (Nachtsegen)
aus dem XIII./XIV. Jahrhundert 1
Plath: Chronologische Grundlage der alten chinesischen Ge-
schichte 19
Lauth: üeber den ägyptischen Ursprung unserer Buchstaben
und Ziffern (mit einer Tafel) 84
Mathcmatisch-plysilal. Classe. Sitzung vom 1. Juni 1867.
Buchner: Neue chemische Untersuchung des Mineralwassers
zu Neumarkt in der Oberpfalz 125
IV
Seite
Buhl: 1) Ueber die Bildung von Eiterkörpern in Gefässepithelien 139
2) Notiz über primäre ästige Osteome der Lunge . . 144
Gümbel: Weitere Mittbeilungen über das Vorkommen von
Phospborsäure in den Schichtgesteinen Bayern's . 147
Historische Classe. Sitzung vom 1. Juni 1867.
*Roth: Ueber Keltische und Germanische Wehrverfassung . 158
*Kluckhohn: Erzählung von der Verschwörung zu Bayonne
im Jahre 1565 158
Nachtrag zur Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 1. Juni.
Hof mann: Bemerkungen zum Nachtsegen 159
Philosophisch-philol. Classe. Sitzung vom 6. Juli 1867.
Prantl: Ueber die Literatur der Auctoritates in der Philosophie 173
Hofmann: 1) Zum altromanischen Leiden Christi und zum
Leodegar 199
2) Zur Gudrun -. . 205
„ Berichtigender Nachtrag zu Heft I. S. 171 der
Sitzungsberichte 336
Seite
Mathematisch-physikalische Classe. Sitzung vom 6. Juli 1867.
Seidel: Ein Beitrag zur Bestimmung der Grenze der mit
der Wage gegenwärtig erreichbaren Genauigkeit . 231
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge 247
v. Ebbeil: lieber den Glaukodot von Hakansbö in Schweden 27G
Voit: Ueber das Zustandekommen der Ilarnsäuresedimente . 279
A. St ein heil: Ueber Berechnung optischer Construktionen . 284
Historische Classe. Sitzung vom 6. Juli 1867.
Kockinger: Ueber drei mit einem Anhange zumLaudrechte
vermehrte Handschriften des sogen. Schwaben-
spiegels auf der Staatsbibliothek zu München 2:>7
*Iliehl: Ueber Sebastian Bach und dessen Stellung zu den
theologischen Parteien seiner Zeit 330
*Kluckhohn: Die Wittenberger Theologen nach Melanch-
thou's Tode 33G
Oeffenttiche Sitzung zur Vorfeier des Allerhöchsten
Geburts- und Namensfestes Seiner Majestät des
Königs Ludwig IL am 25. Juli 1867 .... 337
Neuwahlen 337
VI
Seite
Einsendungen von Druckschriften . . . . , 340
PhüosophiscJi-phüol. Classe. Sitzung vom 9. November 1867.
Hofmann: Zur Gudrun 357
,, Zeugnisse über Bertliold von Regensburg . . . 374
Nachtrag dazu 459
*Plath: Ueber Krause's Unsterblichkeitslehre ..»"... 394
* Müller: Ueber mehrere Nummern des türkischen in London
erscheinenden Journals 'Mukhbir* 394
Mathematisch-physikal. Classe. Sitzung vom 9. Nov. 1867.
Buchner: Ueber die Bildung von Schwefelarsenik in den
Leichen mit arseniger Säure Yergifteteter . . . 395
Voit: Ueber die Fettbildung im Thierkörper 402
* Wagner: Ueber die Entdeckung von Spuren des Menschen
in den neogenen Tertiärschichten von Mittel-
frankreich 407
* S e i d e 1 : Ueber eine Darstellung des Kreisbogens, des Loga-
rithmus und des elliptischen Integrales erster Art
mittelst unendlicher Produkte 407
Historische Classe. Sitzung vom 9. November 1867.
Rockinger: Zur näheren Bestimmung der Zeit der Abfassung
des sogenannten Schwabenspiegels 408
* Graf v. II u n d t : Beiträge zur Feststellung der historischen Orts-
namen von Bayern, insbesondere des ursprüng-
lichen Besitzers des Hauses Witteisbach . . . 450
VII
Seite
Einsendungen von Druckschriften 451
Philosophisch-phüol. Classe. Sitzung vom 7. Dez. 1867.
Zingerle: Bemerkungen zum Nachtsegen 461
„ Meraner Fragmente der Eneide von Heinrich von
Veldeken 471
Hofmann: Eine Anzahl altfranzösischer lyrischer Gedichte
aus dem Berner Codex 389 486
Lauth: Die Achiver (Achäer) in Aegypten 528
Mathcmatisch-physikal. Classe. Sitzung vom7. Dezember 1867.
v. Martius: Beiträge zur Ethnographie und Sprachenkunde
Amerika's, zumal Brasiliens 559
v. Kobell: Ueber die typischen und empirischen Formeln in
der Mineralogie 563
v. Pettenkofer: Ueber den Stoffverbrauch eines Zuckerharn-
ruhr-Kranken von ihm und Hrn. Carl Voit 572
Buchner: Ueber die Beschaffenheit des Blutes nach einer
Vergiftung mit Blausäure 591
Vogel: Gerdiug's Geschichte der Chemie 601
Gümbel: Ueber die geognostischen Verhältnisse des Mont-
Blanc und seiner Nachbarschaft nach der Dar-
stellung von Prof. Alph. Favre und ihre Bezieh-
ungen zu den benachbarten Ostalpen 603
VIII
Seite
Historische Classe. Sitzung vom 7. Dezember 1867.
*Rockinger: Zur äussern Geschichte der Entwicklung der
bayerischen Landesgesetzgebung von Kaiser
Ludwig's oberbayerischen Landrechten bis in
den Beginn des 16. Jahrhunderts ... 637
Sitzungsberichte
der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften.
Philosophisch - philologische Classe.
Sitzung vom 1. Juni 1867.
Herr Maurer behandelte:
„Die Quellenzeugnisse über das erste Land-
recht und die Ordnung der Bezirksver-
fassung des isländischen Freistaates".
Diese Abhandlung wird zum Druck in den Denkschriften
genehmigt.
Herr Hof mann bespricht eine von Herrn Director
Halm entdeckte und von Herrn Keinz bearbeitete
„mitteldeutsche Beschwörungsformel (Nacht-
segen) aus dem XIII./XIV. Jahrhundert."
Bei den Vorarbeiten für die seinerzeitige Drucklegung
des Katalogs der lateinischen Handschriften der hiesigen
[18G7.II.1.] 1
2 Sitzung der pliÜos.-pliilol. Classe vom 1. Juni 1867.
k. Hof- und Staatsbibliothek war vor kurzer Zeit Herr
Director Dr. Halm so glücklich, ein merkwürdiges deutsches
Stück zu entdecken, welches nach den vorliegenden Ver-
zeichnissen bisher der Aufmerksamkeit der Beschreibenden
entgangen *) und daher gänzlich unbekannt war. Eine ge-
naue Untersuchung des zum Theil schwer lesbaren Textes
ergab, dass hier eine durch ihren verhältnissmässig reichen
Inhalt sehr beachtenswerthe Beschwörungsformel aus dem
Ende des XIII. oder Anfang des XIV. Jahrhunderts vorliege.
Die Handschrift trägt jetzt die Bezeichnung Cod. lat.
liionac. 615 und zählt 127 Blätter meist glatten und ziem-
lich starken Pergaments in klein Quart. Der feste alte
Einband, etwa aus dem XV. Jahrhundert herrührend, be-
steht aus Holzdeckeln, mit weichem grüngefärbtem Leder
1) Ueber die (700) Handschriften der alten churfürstlichen Bib-
liothek ist ein, was die lateinischen Stücke betrifft, ungemein aus-
führlicher Katalog von dem kgl. Bibliothekar Ign. Hardt vorhanden.
Zu bedauern ist dabei nur, dass Hardt, wie es scheint, für die
kleineren hie und da vorkommenden deutschen Stücke kein Interesse
hatte; wenigstens sind dieselben in den meisten Fällen höchst un-
genügend behandelt, nicht selten gar nicht erwähnt. Letzteres ist
nun auch bei dem hier in Betracht kommenden Stücke der Fall.
Schmeller aber fand, als er an die ungeheure Arbeit der Beschreib-
ung sämmtlicher hiesigen Handschriften gieng, diesen Katalog vor
und glaubte bei der Genauigkeit, die demselben in obenerwähnter
"Weise eignet, von einer erneuten Durchsicht der Handschriften Um-
gang nehmen und sich für den von ihm anzulegenden Katalog mit
einem blossen Auszug aus dem genannten Verzeichniss begnügen zu
können. Für diese auch sonst feststehende Thatsache liefert ge-
rade die hier zu besprechende Handschrift einen Beleg. Hardt giebt
nämlich die Anzahl der Blätter verfehlt an: 101 statt 127 Blätter,
während er den Inhalt der Handschrift bis zu Blatt 126b beschreibt;
genau derselbe Mangel kehrt bei Schmeller wieder. Daraus erklärt
sich von selbst, dass unsere Formel, nachdem Hardt sie nicht er-
wähnenswerth gefunden hatte, auch in dem Schmellerschen Ver-
zeichnisse fehlen muss.
Keinz: Eine mitteldeutsche Beschcörungsformel. 3
überzogen, das durch eingepresste Linien verziert ist. Von
den Beschlägen sind nur mehr zwei kleine messingene
Schliessen vorhanden.
Ueber die Herkunft des Codex fehlen alle genaueren
Anhaltspunkte. Für das hier zu behandelnde Stück indess
ist die Heimat wenigstens durch die Mundart festgestellt,
welche es als dem mittleren Deutschland angehörig erweist.
Derselben Mundart dürften auch die weiter zu erwähnenden
lat.-deutschen Vocabularien angehören und da diese von
andern Händen, als die Beschwörungsformel sind, so kann
man wohl schliessen, dass wenigstens der grössere Theil der
Handschrift aus jenen Gegenden stamme. Weniger möchte
sich daraus entnehmen lassen, dass eine Hand des 15. Jahr-
hunderts auf f. 125 a den Namen henricus d' prusia (nebst
einigen nicht mehr deutlich lesbaren Buchstaben) einge-
tragen hat.
Der Codex ist zusammengebunden aus vier (resp. 5)
von einander unabhängigen, von verschiedenen Händen her-
rührenden Handschriften (f. 1 — 39, 40 — 73, 74 — 102,
103 — 127). Davon enthält das 1. Stück 'Aristotelis secre-
tum secretorum ad Alexandrum Johanne Patrizii filio inter-
prete'; das 2. Medizinisches, darunter (f. 68b — 72a) ein lat.-
deutsches alphabetisches Vocabular von Kräutern ; das
3. Physikalisches und Naturwissenschaftliches. Das 4. Stück
soll als das zunächst wichtige in folgendem seine besondere
Beschreibung finden.
Dasselbe besteht aus 3 Lagen, von denen die erste
6 Bl. = 3 Doppelbl., die zweite 10 Bl. = 5 Doppelbl.,
die dritte 9 Bl. = 3 Doppelbl. mit 3 einzelnen durch Falze
innen in die Lage eingenähten Blättern enthält. Die erste
Lage kann wieder als ein besonderes Stück betrachtet
werden, da sie eine für sich bestehende Abhandlung 'Ameti
(Amati) filii Abraham epistola' de variis arcanis (ohne
Schluss), ferner anderes Pergament, andere Hand, nur zwei
1*
4 Sitzung der pliilos.-pkilol. Weisse vcm 1. Juni 1867.
Spalten zeigt. Die Anzahl der Linien ist zwar die gleiche,
wie bei den zunächst folgenden Seiten (38), aber es fehlen
die in den beiden folgenden Lagen am obersten Rande ge-
zogenen Doppellinien, und ist nur die erste und letzte Linie
jeder Seite bis ans Ende gezogen, was bei der Mehrzahl
der folgenden Seiten auch mit der Dritten geschehen ist.
Die 2. und 3. Lage zeigen gleiches Pergament und
gleiche Liniirung, nur zählen die ersteren Seiten 38, die
späteren 39 Linien. Die Blätter 109a — 119b sind dreispaltig,
die übrigen vierspaltig. Die dreispaltigen Blätter enthalten
das lat. Vocabular 'Circa instans', die Blätter 119*— 12 4a ein
lat.-deutsches Yocabular von Kräutern, Bl. 124a— 125a mor-
borum nomina, Bl. 125a — 126b nomina herbarum, corticum,
florum, salium etc. (lat)., die erste Seite des letzten Blattes
(127a) endlich unsere Beschwörungsformel, die zweite Seite
desselben ein lat. Verzeichniss von gewissen Fasttagen und
einige Zeilen anderer Schrift, die aber so sorgfältig radirt
ist, dass auch nach Anwendung eines chemischen Reagens
ausser einzelnen Buchstaben nichts mehr zu erkennen war.
Auch auf diesem letzten Blatte sind die 5 doppelten
Verticallinien, durch welche die 4 Spalten begränzt werden,
gezogen, so dass es also ursprünglich für die Vocabularien
bestimmt war, und dann, als leer gebliebenes Blatt für den
erwähnten Zweck benützt wurde.
Nach dem Vorausgeschickten erübrigt für die äusser-
liche Beschreibung dieses Blattes nur wenig. Von den
39 Linien liess der Schreiber die oberste in beiden Spalten
ganz frei; in der zweiten Spalte ist auch die zweite Linie
frei, zeigt aber Rasur, welche indess mit ziemlicher Sicher-
heit-noch erkennen lässt, dass der Schreiber hier die erste
Zeile zweimal schrieb und dann die obere radirte. Die
Zeilen 8 — 10 zeigen dunkle Flecken, deren Ursache sich
erst bei genauer Betrachtung mit Sicherheit herausstellte.
Der gegenüberliegende leere Raum liess nämlich eine sorg-
Keinz: Eine mitteldeutsche Besclncörungsformel 5
faltige Rasur erkennen, aus der ein Reagens die ursprüng-
liche Schrift zum Vorschein brachte. Es stand da die be-
kannte Formel sator arepo tenet opera rotas, einmal in ge-
trennten symmetrisch geordneten Buchstaben, dann in den
vollen Worten; letztere hatten sich, wie aus dem Platze
und selbst aus einzelnen Buchstabenumrissen hinlänglich er-
kennbar, übergedruckt.
Das ganze in sich abgeschlossene Stück wurde von
einer besondern Hand auf die leere Seite eingetragen. Die
plumpe Schrift, welche hie und da die Lesung einzelner
Buchstaben und Silben sehr erschwerte2), die ungleiche
Orthographie, die mehrfachen Correcturen, lassen einen
wenig geübten Schreiber vermuthen; die Schrift weist auf
die erwähnte Zeit, einzelne Reime wie 41 : 42 mutir : gute,
51:52 sugen : Schüben deuten selbst auf frühere Ueber-
lieferung.
Die Verse sind abgesetzt und die Anfangsbuchstaben
nur in einzelnen Fällen durch einen geringen Unterschied
der Grösse, nicht durch besondere Form ausgezeichnet. In
letzterer Beziehung findet sich eine Ausnahme nur bei V. 18,
der mit dem Eigennamen Truttan beginnt und in diesem
die gewöhnliche Form der Majuskel T zeigt.
Die mitteldeutsche Mundart erhellt zur Genüge aus der
Art einzelner Vocale in den Stämmen und Endungen, sowie
aus einzelnen Reimen.
Eine genaue Beschreibung der Handschrift habe ich bei
der Wichtigkeit des mitzutheilenden 'Stückes sowie aus
andern naheliegenden Gründen für nöthig gehalten, damit
Forscher, die nicht in der Lage sind, den Codex selbst ein-
2) Dahin gehören namentlich die Buchstaben ra und n, deren
Striche häufig unten verbunden sind, die Aehnlichkeit von c, c, u,
von c, r und t, die Schreibweise cz und zc für das harte z u. s. \v.
6 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
zusehen, sich eine möglichst genaue Vorstellung davon
bilden können. Zu erklären bleibt noch verschiedenes an
dem Inhalt unserer Formel und es wäre daher zu wünschen,
dass sich unsere bewährten Sagenkenner näher damit be-
schäftigen möchten.
Im Nachfolgenden gebe ich nun den Text des Stückes
nach getreuer Abschrift, auch mit Beibehaltung der offen-
baren oder wahrscheinlichen Fehler, deren Beseitigung sich
für den ersten Abdruck nicht empfahl, da sie grösstentheils
entweder sehr leicht ist oder gefährlich sein könnte. Von
den wenigen Abkürzungen habe ich als störend aufgelöst:
Z. 1 d's = deus 10 b'ge 19 h' 24 leng' 38 m' 41 h'brant
71 t'nitat Z. 57 profüdis (auch mit der gewöhnlichen Ab-
kürzung für pro). In der 10. und 38. Z. des Originals ist
die letzte Silbe in die obere Zeile hinaufgeschrieben. Von
Angabe der erwähnten Correkturen, welche sich in Z. 15,
73 und 57 finden, glaubte ich Umgang nehmen zu dürfen.
Den Abdruck habe ich mehrmals mit der Handschrift ver-
glichen und daher die Beigabe der üblichen 'so' für ent-
behrlich gehalten.
Hinter dem Texte lasse ich zu einigen Stellen noch
Bemerkungen folgen, welche sich auf ihr Aussehen in der
Handschrift beziehen; ausserdem eine Anzahl Erklärungen,
diese jedoch, um nicht blosse Abschriften geben zu müssen,
in den meisten Fällen nur in Form von Verweisungen auf
bekannte tüchtige Werke, welche über die betreffenden Ge-
genstände hinlänglich Aufschluss ertheilen. Für manchen
Hinweis in dieser Beziehung bin ich Hrn. Prof. Hofmann zu
Dank verpflichtet, welcher auch am Schlüsse dieses Heftes
über die in den Versen 14-18 vorkommenden Ausdrücke
besondere Erklärungen bringen wird.
Keim: Eine mitteldeutsche Besclurönoifisformel.
daz faltir deus brunnon,
dazhoyfte num' dyuuion,
daz heylige fancte fpiritus,
daz falus fanct9 dominus,
5 daz mize mich noch hint
bewarn
vor den bofen nach varii
vn muze mich bicrizen
vor den fvarcen vnd' wizen,
dy di guten fin genant
10 vnde zu dem brochelfberge
fin gerant.
vor den pilewizze,
vor den mon ezzen,
vor den wege fchriten,
vor den zcun riten,
15 vor den clingeden golden,
vor allen vneholden,
gloczan vnde lodowan,
Truttan vnde wutan,
wutanes her vn alle fine
man,
20 dy di reder vü dy wit
tragen
geradebrech vü irhangin,
ir fult won hinnen gangen,
alb vnde elbelin
ir fult nich lenger bliben
hin :
25 albes fvestir vü vatir
ir fult uz varen obir de
gatir :
albes murir trute vü mar
ir fult uz zu de virfte vare :
noc mich dy mare druche,
30 noc mich dy trute zeiche,
noc mich dy mare rite,
noc mich dy mare beferite.
alb mit diner crummen
nafen,
ich vorbithe dir aneblafen.
35 ich vorbite dir alb ruche
cruchen vü anehucchen.
albes kind' ir withelin
lazet vwer taftin noch mir
sin.
vÜ du clage mutir
40 gedenke min zu gute,
herbrote vü herbrant
vart uz in eyn andir laut,
duvngetruwe molken ftellen
du faltminir turvorvelen,
45 daz biner vü daz vuz fpor
daz blibe mit dir do vor:
du salt mich nich beruren,
du salt mich nich zuwuren,
du salt mich nich enfeehen,
50 de lebenden fuz abemehen,
daz herce nicht uz fugen,
eynen ftrofwizs dorin fchu-
ben;
ich vorfpige dich hüte vü
alle tage,
ich trete dich bas wan
ich dich trage;
55 nv hin balde du vnreyniz
" getuaz,
8 Sitzung der phüos.-philöl. Classe vom 1. Juni 1867.
wan du weufenf hy nicht bi dem voce meus,
haf; bi dem de profundis,
ich befuere dich vngehure bi dem baben cohoun-
bi dem wazzeir vü bi de tus,
füre, bi dem nüc dimittis,
vn alle dine genozen 70 bi dem benedictus,
60 bi de namen grozen bi dem magnificat,
des fiffes, der da zelebrant bi den aller trinitat,
an der messe wirt genant. bi dem refalin alfo her:
ich befuere dich vil sere daz du vares obir mer
bi dem miserere, 75 vn mich gerures nim'mer.
65 bi dem laudem deus, amen
Bemerkungen.
V. 1 Saltir wohl = Psalter. Das 1 ist höher als gewöhnlich
(eben so das d von daz und das b in brunnon) und
oben nach links gezogen , während es sonst die gerade
Linie hat. Hinter jedem dieser drei Buchstaben ist oben
der r-Hacken angebracht, bei dem ersten in bedeutender
Grösse, was in allen drei Fällen wohl nur die Bedeutung
von Verzierungen haben soll. In andern Zeilen als der
ersten würde diess mehr auffallen.
1—3 Von den ungewöhnlichen Worten der beiden ersten
Zeilen ist nur hoyfte (das für hohiste stehen könnte) ganz
sicher; in brunnon könnten die 6 Striche von unn viel-
leicht auch anders zu verbinden sein; von num' ist die
Zahl der geraden Striche nicht bestimmt zu behaup-
ten, da nur die ersten 6 leicht erkennbar sind, der 7.
sich aber nur sehr schwach zeigt: auch ihre Verbindung,
besonders bei den letzten, ist nicht deutlich; das letzte
Wort der Z. 2 scheint dyuuion zuheissen, das i«ist aber
nachträglich eingefügt. Die Worte sind vielleicht, wie die
Keinz: Eine mitteldeutsche Beschwörungsformel. 9
in V. 64 — 71 stehenden lat. Worte Anfänge von Psalmen
oder damals bekannten Gebeten, möglicher Weise auch
sonst fremdsprachliche Benennungen der Gottheit. Nach
der dritten Zeile zu schliessen, dürfte sich die erste auf
Gott den Vater, die zweite auf Gott den Sohn beziehen.
Anhaltspunkte für die Erklärung konnte ich weder aus
sonst bekannten Formeln, noch aus den vielen Exorcis-
men entnehmen, welche im 'Malleus maleficarum' (ich
benützte die Frankfurter 8° Ausgabe von 1598) im dritten
'Flagellum daemonum' üb er schrieben en Abschnitt des
zweiten Bandes enthalten sind.
5 mize wohl Schreibfehler für muze vgl. V. 7 ; hint == heute
Nacht, dagegen V. 53 hüte = heute.
6 nach varn wohl = nahtvarn. Ueber die Hexenfahrten
(nahtvarä) s. Grimms Myth. 1011.
7 bicrizen. Die Bedeutung des Wortes ist hier jedenfalls
'schützen, sicher stellen1; die Etymologie aber ist unklar;
weder an kreiz noch an criuz erlaubt der durch den
Reim gesicherte Vocal zu denken. — Für bi als Vor-
sylbe hat der Schreiber sonst immer be (V. 5, 32, 47,
57, 63).
8 Ueber die swarzen und wizen vgl. Myth. 412 ff.
10 brochelsberg. Grimm sagt über ihn im Wörterbuch: 'Zu-
erst taucht der name auf in einer geistlichen abhandlung
aus der mitte des 15 jh., die sich in Breslauer Weimarer
und Amorbacher hss. erhalten hat und in Hoffmanns
schles. monatsschr. s. 753, in Kellers fastn. sp. s. 1463
und in Wolfs myth. zeitschr. 1,6 ausgezogen ist'. Mit
obiger Stelle hätten wir also ein etwa anderthalb Jahr-
hunderte älteres Zeugniss 'für den sicher in weit ältere
Zeiten reichenden Volksglauben1 (Myth. 1004).
Eine Zusammenstellung des wissenswerthesten über
den Blocksberg bietet die Inaugural- Dissertation von
Heinrich Pröhle: De Bructeri nominibus et de fabulis
10 Sitzung der philos.-philol. Ciasse vom 1. Juni 1867.
quiie ad eum montem pertinent, Wernigerodae MDCCCLV
wozu noch die Recension darüber in Wolfs (und Mann-
hardts) Zeitschr. für deutsche Mythologie III, 319 ff. ver-
glichen werden kann.
11 pilewiz. Ueber den Bilwiz vgl. Gr. Mythol. 441 ff.,
Schmellers Wörtb. I, 168 und IV, 187 f., Schönwerth
(Aus der Oberpfalz. Sitten und Sagen) I, 426 — 448.
(Letzterer behandelt indess nur eine besondere Art
der Bilwize , den im südöstlichen Deutschland sehr be-
kannten Bilinesschneider). Einen sehr beachtenswerthen
Versuch über die Ableitung des Wortes hat Jul. Feifalik
in der Zeitschr. für die österr. Gymnasien 1858 p. 406 ff.
niedergelegt, in welchem er für die slavische Abstammung
des Wortes und Gedankens eintritt.
12 mon ezzen (o hier für kurzes, wie in V. 38 für langes a)
== Mann -essen, Menschenfresser. Im Nordischen ist die
mannaeta bekannt, im eigentlichen Deutschen möchte
ausser der bekannten Notkerischen Stelle die vorliegende
der einzige Beleg für das Compositum sein. In jener
Stelle, die Grimm Myth. S. 1034 (sie steht auch in
Gratis Sprachschatz I. p. LH.) anführt, fügt Notker, die
ambrones und anthropophagi erwähnend, bei lalso man
chit, taz ouh hazessa hier in lande tuen'. Vgl. übrigens
auch die zu V. 51. 52 ausgezogenen und die übrigen
Myth. 1. c. angeführten Stellen.
13 wege schriten = die an den Kreuzwegen hausenden?
Unter den Namen des Teufels führt Grimm (Myth. 1015)
auch 'Wegetrit' auf, freilich mit Beziehung auf die Pflanze
dieses Namens.
14—18 Ueber die zun riten, die dingenden golden, sowie
über die Namen Gloczan, Lodowan, Truttan vergleiche
die Erklärungen am Schlüsse des Heftes. (Das Wort
zun ist nur vermuthet; man könnte die schlechten Buch-
staben auch zoim oder zeun lesen, ich nahm sie für zcun).
Keinz: Eine mitteldeutsche Beschwörungsformel. 11
18 über Wutan und Wutanes her (wüthendes Heer, wildes
Heer u. s. w.) im Sinne unsrer Zeilen s. Myth. 871 ff.,
Schönwerth II. 143 ff.
20u.21 Die Geräderten und die Erhängten gehören zum
wüthenden Heer, da, wie Grimm (Myth. 872) nach Geiler
v. Keisersberg anführt, alle eines gewaltsamen Todes ge-
storbenen in dasselbe kommen.
23 Ueber die Elbe s. Myth. 411 ff.
26 gatir s. Schmeller II, 80 f.
27u.30 trute. Ueber die Truden s. Myth. 993 (u. 394).
Schmeller I, 476 ff. Schönwerth I, 208— 232.— In V. 30
sieht der erste Buchstabe, weil etwas zerflossen, einem v
ähnlich, doch wird diess kaum zu Zweifeln berechtigen,
murir in Z. 27 Schreibfehler für mutir.
27 u. 30 mar. Die älteste Belegstelle für das Wort dürfte wohl
die des Emerammer Codex Clm 14804 f. 112ft, aus dem
9. Jhd. sein, wo scitropodes (öxv$Q(07tÖTrjs) mit mara. truta
glossirt ist (Graff II, 819). Jetzt ist das Wort nur mehr
erhalten in 'Nachtmahre'. Die in V. 29 erwähnte Thätig-
keit der Mahre, heisst jetzt gewöhnlich das 'Drud-drucken'
hd. das Alpdrücken, das schon im Vocab. theuton. v. 1482
(Graff 1. c.) auf natürlichem Wege erklärt wird.
30 zeiche dem Keime nach wohl Schreibfehler für zuche
(zucke).
33 'Kruminnäsig' ist nach Myth. 1028 ein gewöhnliches Prä-
dikat der 'Hexen1. 'Krumme Nase, spitzes Kinn, sitzt
der Teufel ganz darin. Myth. 1029 Anm. 1. Ein an-
deres Seitenstück wäre etwa die Frau Precht mit der
langen nas. Myth. 255. (Von dem vorderen m in crum-
men ist der erste Strich oben und unten gegen den
zweiten gezogen, so dass sie zusammen ein schlechtes o
bilden. Es wird indess an obiger Lesart kaum zu zwei-
feln sein.)
12 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
34 aneblasen. Zu diesem, wie zu V. 38 tastin, 47 beruren
vgl. Mytk. 429. 'Ihre (der Elbe) berührung, ihr anhauch
kann menschen und thieren krankheit oder den tod ver-
ursachen'.
35u.36 ruche == rauher, behaarter: Grimm führt Myth. 447
besonders die Bilwize als die behaarten, struppigen Elbe
an ; cruchen = mit einer Krücke, einem Hacken fangen?
anehucchen == aufhocken also wohl auch das Alpdrücken.
37 withelin oder wichelin wohl Schreibfehler für wihtelin.
IV, 18. Ueber die Wichtel s. Myth. 408 ff. 428 Anm.,
Schindler IV, 18.
38 tastin s. 34.
39 clage mutir. Ueber die Klagemutter, die Klagefrauen,
Holzweiblein und ähnliche Wesen s. Myth. 403 u. 1088,
Schönwerth I, 266 f. Aus dem Althochd. gehört hieher
die holzmuoja == lamia, ulula deren Name sich als Moi,
Moije nach Panzer (Bayer. Sagen I, 66. 67) noch bis
jetzt erhalten hat. (Das d von du ist nur aus dem obern
schrägen Strich vermuthet; der übrige Theil des Buch-
staben ist verschwunden).
41 Die beiden Wörter sind wohl nur als Namen aufzufassen.
Schwierig dürfte aber dann die Erklärung sein, wie diese
Namen der Heldensage (Herbrot für Herbort) in solche
Gesellschaft gerathen sind.
43 molken stelen =e Milch Diebin, nach Myth. 1026 über-
haupt ein Name der Hexen. In der zu V. 10 erwähnten
Stelle des Grimmschen Wörterbuchs sind unter den zum
Brocken fahrenden Unholden eigens die 'Mülkenstelerin-
nen' aufgeführt. Dass die Milch ein Hauptgegenstand der
Wirksamkeit der Hexen ist, kann als weit verbreiteter
Aberglaube angegeben werden, wovon z. B. bei Schön-
werth viele Fälle gesammelt sind. Selbst ihre besondern
Abzeichen erhalten die Hexen davon, z. B. 'Wer in der
Christnacht während der Metten auf einem Schimmel
Keinz: Eine mitteldeutsche Beschwörungsformel. 13
von neunerley Holz knieet, sieht alle Hexen, die Milch-
meltern auf dem Kopf. (Schönw. I, 366.)
45 biner. So wie das Wort in der Hs. aussieht, ist an der
richtigen Lesung desselben nicht zu zweifeln. Eine Er-
klärung davon kann ich zur Zeit nicht geben. Möglicher-
weise könnte es das Milchgeschirr der Hexe bezeichnen.
Auch über die genaue Bedeutung von vuz spor habe ich
keine mit Sicherheit zu begründende Vermuthung. Wenn
es sich auf einen Zauber bezieht, den die Hexe an den
Füssen des Viehs ausübt, so wäre vielleicht zu spor
Schmellers 'spör' (III, 575 f.) zu vergleichen.
47 beruren s. oben V. 38.
48 zuwuren wohl für das sonst gewöhnliche zefüeren, wozu
auch der Reim: beruren stimmt (auch in V. 22 setzte
der Schreiber ein w statt v). Ueber die Neigung der
Elbe, dem Menschen das Haar zu verwirren, zu verfilzen
(Wichtelzopf Weichselzopf), oder in Knoten zu wickeln
s. Myth. 433. Dasselbe vom pilwiz s. Myth. 442.
49 enscehen halte ich für Schreibfehler statt des gewöhn-
lichen entsehen, von dem Grimm (Myth. 430) sagt 'gleich
dem anhauch hat der blosse blick der elbe bezaubernde
kraft: das nennt unsere alte spräche intsehan (torve
intueri, gramm. 2,810) mhd. entsehen1. Vgl. auch Myth.
1053 f. der böse Blick. Den letztern Gegenstand in der
Anschauungsweise der Alten behandelt 0. Jahn in den
Berichten der k. sächs. Ges. der Wiss. (Phil. -bist. Cl.)
Bd. VU.s. 28—111.
50 den lebenden fuz abemehen, ein Analogon zu dieser
Stelle ist mir nicht vorgekommen. Dass der Bilmes-
schneider mit der am Fusse unter dem Knie angebun-
denen Sichel durch die Felder schreitet, ist bekannt,
dürfte sich aber mit dieser Redensart nicht in Verbindung
bringen lassen.
51u.52 Dass die Hexen den Leuten das Herz aus dem Leibe
14 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 1. Juni 1867.
essen, bezeichnet Grimm Myth. 1034 als in unsern Hexen-
sagen schon zurücktretend , dagegen in der altertüm-
lichen serbischen Volksansicht als ganz voranstehend.
Als Beispiele giebt er indess:
Unsere Berchta, die den Knechten den Leib auf-
schneidet und mit Heckerling füllt, und die besonders zu
obigen Worten stimmenden Stellen a) aus Burchard (Anh.
S. XXXIX.) ut credas te . . . homines interficere et de
coctis carnibus eorum vos comedere et in loco cordis
eorum stramen aut lignum aut aliquod huiusmodi
ponere . . . b) aus einem Gedicht von Stricker oder
einem seiner Lands- und Zeitgenossen3): wie zaeme daz
einem wibe, daz" si snite üz einem übe ein herze,
und stieze dar in strö c) die Anspielung auf diesen
Aberglauben von Seiten eines Verliebten (Herbort 9318 ff.)
si hat min herze mit ir . . . ich hän niht in dem
libe, da min herze solde wesen, da trage ich eine lihte
vesen, oder ein strö, oder einen wisch; und andere
mehr.
53 vorspigen = verspeien, kaum als Zeichen der Veracht-
ung zu nehmen, sondern wohl nach Myth. 1056 als Ge-
genmittel gegen Zauber aufzufassen, wofür Grimm -Be-
lege aus Gebräuchen verschiedener Völker anführt. Aus
Osterode am Harz führt er in der ersten Auflage der
Myth. Anh. Aberglauben Nr. 756 an: £wird die kuh vor
dem haus einer hexe hergetrieben, spuke der treiber drei-
mal aus/
54 baf statt baz wie umgekehrt 55 getuaz statt getuas. Der
Sinn wird sein : ehe ich mich bequeme dich zu tragen,
oder mich von dir drücken zu lassen, will ich dich lieber
treten. Vielleicht galt treten auch als Sicherungsmittel
3) Aus der Wiener Hs. 428 (s. die Stelle Myth. S. 1901 Z.19— 21).
Keinz: Eine mitteldeutsche Beschwörungsformel. 15
gegen die Gewalt des anehucchenden elbes, wie ja Grimm
auch erwähnt, dass "man unbedenklich die Hexe schlagen
soll, dass Blut fliesst\
55 getuas führt Grimm Myth. 433 als eine nachtheilige Be-
nennung eibischer Wesen (und später den Teufels) auf;
ebenda S. 867 vergleicht er dazu litthauisch dwase Ge-
spenst.
56 weusens wohl Schreibfehler statt wesens wie in Z. 58
wazzeir statt wazzer.
Gl Die mystische Bezeichnung 'Fisch/" wird hier wahrschein-
lich im Sinne der alten christlichen Symbolik auf Christus
zu beziehen sein , wozu auch der Beisatz ('celebrant')
stimmt, da Christus der oberste Darbringer des Mess-
opfers ist.
Vgl. hiezu Wolfgang Menzels 'Christliche Symbolik
(Regensburg 1854)' Bd. I S. 286 — 292 und besonders
S. 288 'Christus selbst wird unter dem Sinnbild des
Fisches dargestellt' u. s. f. und S. 289 'In der Kart-
hause von Granada befindet sich ein Bild des Abend-
mahles, auf welchem statt des Lammes ein Fisch in der
Schüssel liegt'; ferner J. B. Pitra's Spicilegium Soles-
mense (Parisiis MDCCCLV) Tomus III p. 499—584
lIX&Y2 sive depisce allegorico et symbolico', wo sämmt-
liche vorchristliche und altchristliche Anschauungen und
Sagen über diesen Gegenstand quellenmässig zusammen-
gestellt und behandelt sind.
64—71 Die in diesen 8 Zeilen folgenden Wörter sind gröss-
tentheils Psalmenanfänge, das nunc dimittis der Anfang
des bekannten Gebets Simuons; laudera deus und voce
meus mögen (vielleicht fehlerhaft verstanden) Anfänge
von bekannten Gebeten gewesen sein.
Unklar bleibt nur V. 68, an dessen baben cohountus
alle Deutungsversuche erfolglos blieben. Das erstere
Wort steht deutlich genug da. das zweite dagegen viel
16 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
weniger; undeutlich ist schon der erste Buchstabe des-
selben, ferner das h, welches allenfalls auch li gelesen
werden konnte (olio untus = unctus macht den ersten
Buchstaben überflüssig und scheint auch nicht zu den
Psalmenanfängen zu passen); am undeutlichsten ist das
zweite u, dessen zweitem Striche eine Krümmung beige-
fügt ist, als ob der Schreiber daraus ein e oder ie hätte
machen wollen. Doch betrachte ich gerade die Endung
us hier als sicher und den Vers als mit den folgenden
verstellt, da auf das sichere profundis das ebenfalls un-
zweifelhafte dimittis reimt, wodurch dann ein Reim auf
benedictus nothwendig wird.
72 Der letzte Buchstabe von '"aller1 ist ganz undeutlich, weil
verklext, man kann n, u, r, o vermuthen, für keines aber
ist besondere Berechtigung zu erweisen.
73 resalin. Ich las das Wort anfangs irsalm = Jerusalem;
aber eine genaue Betrachtung und Vergleichung erwies
diese Lesart als falsch. An dem re der ersten Sylbe ist
nicht zu zweifeln; hinter dem 1 stehen drei Striche und
über diesen, vom ersten an etwas nach aufwärts gezogen
ein Querstrich, wie ihn der Schreiber regelmässig über
das i macht, was dann in (oder iu) ergibt. Für dieses
"Wort habe ich keine Deutung: vielleicht könnte auch so
die erste Vermuthung nicht ganz zu verwerfen sein.
75 in nim' mer hat das zweite m einen Strich zu viel.
Aus einer andern Handschrift der hiesigen Bibliothek
möchte ich bei dieser Gelegenheit einen Wurmsegen mit-
theilen, dessen Unbekanntheit ich daraus schliesse, dass er
in der Sammlung altdeutscher cDenkmäler von Müllenhof
und Scherer' bei der Besprechung des Grazer Wurmsogens
Keinz: Eine mitteldeutsche Beschwörungsformel. 17
Nr. 48,2 (Text p. 140 f. Abhandlung p. 412 ff.) nicht er-
wähnt ist, zu dem er ein Seitenstück bildet. Er lautet
Job läge in de mifte. er rief ze crifte. er chot. du gnadige/
crift. du Ör in demo himile bift. du buoze demo mennif/
ken def wrmif. N. Durch die iobef bete, dier zuo dir tete. /
doer in demo miste lag. doer in demo mifte rief, zuo/
demo heiligin crist. der wrm ift tot. tot ift der wrm. /
Kiriel X K Pat. n. t*b9 uicib;. or . Actionef nraf. qs. dne. a.
Der Segen ist enthalten in einer Handschrift der
früheren churfürstlichen Bibliothek4), jetzt Clm. 536,
XII. Jhd. 4° 137 Bll. Er enthält unter andern Stücken
einen lat. Physiologus f. 82b— 83b eine deutsche Abhandlung
von verschiedenen Steinen und ihren Kräften, f. 86a — 87
eine eben solche von Kräutern und f. 89b eine deutsche
Diebsbesclrwöruug, diese von späterer Hand (XIII. Jhd.).
Die 3 deutschen Stücke sind in der Germania VIII, 300—303
abgedruckt. Obiger Segen findet sich f. 84a also zwischen dem
ersten und zweiten Stück. Zu der erwähnten Diebsbeschwör-
ung ist zu bemerken , dass sich bei der Mittheilung ein
Versehen eingeschlichen hat. Die Worte nämlich , welche
der Beschwörende zu sprechen hat, folgten unmittelbar nach
dem Text. Nach den darüber angebrachten Kreuzen waren
es 7 Worte. Davon sind aber die ersten 6, in der zunächst
folgenden Zeile stehend, so vollständig radiit, dass auch
chemische Reagentien ausser dem letzten Worte keine er-
kennbaren Umrisse mehr zum Vorschein brachten: dieses
scheint aleruba gelautet zu haben; darauf folgt in der
4) Die aber nach einer Eintragung auf p. 102a 'Liber saneti
Viti Pruole' ursprünglich aus dem Kloster Prühl bei Regensburg
stammt.
[1867.11. 1.] 2
18 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
nächsten Zeile cxpc -j- calcat9. Die iin Druck angegebenen
(ungenau gelesenen) Worte pedo perdo pecho ' pecho perdo
pedo stehen am untersten Rande der Seite, während die
deutsche Beschwörung oben anfängt und darauf noch eine
lat. derartige Formel folgt. Nach ihrem ganzen Aussehen
kann ich diese abseits stehenden 6 Worte nur für eine
Federprobe halten. (In der gedruckten Formel selbst ist
hinter enspin das Wort 'stech/ zu ergänzen.) — Dass die
nämliche Handschrift, ebenso wie der Tegernseer Clm 18546.2
auch die Visio Wettini monachi in der Bearbeitung von
Haito enthält, mag als Ergänzung zu dem bei Potthast,
Wegweiser etc. p. 565a gegebenen Verzeichnisse der Hand-
schriften über diesen Gegenstand erwähnt werden.
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 19
Herr Plath trägt vor:
„Chronologische Grundlage der alten chine-
sischen Geschichte."
Unter der alten chinesischen Geschichte verstehen wir
die von Yao und Schün und die der drei ersten Dynastien; über
die frühere Geschichte fehlen zuverlässliche Ueberlieferungen
und die späteren Angaben über diese erfordern eine beson-
dere Untersuchung.
Wir haben in unsern bis jetzt gedruckten Abhandlungen,
wo einzelne Zeitangaben zu machen waren , diese immer
nach der gewöhnlichen Annahme gegeben, dabei aber auch
schon bemerkt, dass diese nicht durchaus zuverlässig sei.
Es ist nöthig, sich über die Grundlage der alten chinesischen
Chronologie klar zu werden, um so mehr, als Sinologen
einerseits allzusehr auf die Zuverlässigkeit der chronologi-
schen Angaben in der alten chinesischen Geschichte pochten,
anderseits sonst achtbare Geschichtschreiber sie allzusehr
herabsetzten. Und doch hatte schon früher Fr er et schätz-
bare Untersuchungen desshalb angestellt und besonders der
gelehrte Jesuit P. Gaubil das schätzbarste Material aus
den chinesischen Quellen fast vollständig geliefert. Ideler
in seiner in der Berliner Akademie der Wissenschaft vor-
getragenen Abhandlung konnte ohne Kenntniss des Chinesischen
nur einen Auszug aus ihm geben. Legge1) hat jüngst den
1) N. Fr er et De l'antiquite et de la certitude de la Chronologie
Chinoise, inMem. de 1' Acad. R. d. Inscr. P. 1 T. X p. 377 Paris 1736
P.II T.XV p. 595. Paris 1753 u. P. III ib. T.XVIU Mem. p. 178 Par.
1773, auch in Freret's Oeuvres; Paris A°. 4 (1796) 12° T. 13. p. 116—331
und T. 14 p. 1 — 268. P. Gaubil in Observations mathematiques,
2*
20 Sitzung der philos.-philol. Gasse vom 1. Juni 1867.
Gegenstand aber nur kurz behandelt. Da die Chinesen
nächst den Aegyptern das älteste historische Volk mit sind,
so ist es schon von allgemeinem Interesse auch für die
Universal -Geschichte zu wissen, wie hoch die traditionelle
Geschichte derselben hinaufreicht.
Man muss aber zu dem Ende auf die chinesischen
Quellen selbst zurückgehen. Freret konnte nächst den Ab-
handlungen von Gaubil und andern in der Handschrift nur
die mangelhaften Uebersetzungen der älteren Missionäre,
die, wie P. Noel, Texte und Scholien nicht unterschieden,
benutzen; Gaubil benutzte die Quellen selbst, führt, wie Biot
schon bemerkt, die chinesischen Autoren aber nur im allge-
meinen, z. B. Meng-tseu, Yo-tseuu. s. w. an, scheintauch meh-
rere zu hoch anzuschlagen. Wir haben daher die von ihm
angezogenen Stellen zunächst nach den chinesischen Quellen
verifizirt,2) dann die einzelnen Autoren ihrer Bedeutung nach
genauer zu würdigen gesucht und zuletzt, was die astrono-
mischen Data betrifft, die er für die Chronologie benutzt,
astronomiques , geographiqu.es , ckronologiques et physiques von
P. Souciet. Paris 1729— 1732. 3 B. in 4; dann seine Histoire de l'Astronomie
chinoise in Lettres edifiantes 1783 T 26, neue Aufl. Lyon 1819 T. 14
und besonders sein Traite de la Chronologie, publie par S. de Sacy.
Paris 1814 4°, auch in d. Mem. conc. la Chine T. XVI. Ideler über
die Zeitrechnung der Chinesen in den Abhandlung, d. Berl. Akad.
aus d. J. 1837 Hist. Cl. p. 199—369 4° und sehr vermehrt Berlin 1839
in 4. vgl. darüber 6 Artikel von Biot im Journal des savants 1839
und 1840 von Dezember bis Mai, und Stern Götting. gel. Anz. 1840
Nr. 201—204. The Chinese Classics by. James Legge. Hong-kong 1865
Vol. III P. 1 Proleg. p. 81—90.
2) Dieses ist sehr mühsam, da die Ausgaben der chinesischen
Originale zwar gute Inhaltsanzeigen der einzelnen Bücher, aber keine
Indices haben, so dass man, ixm eine einzelne Angabe aufzufinden,
ganze Theile des Werkes wiederholt durchgehen muss.
Plath; Chronolog. Grundlage der alten ckines. Geschichte. 21
die Ergebnisse der späteren Forschungen in dieser Hinsicht
berücksichtigt.
Wir müssen zunächst einige Bemerkungen über die
Geschichtschreibung und die Chronologie der alten
Chinesen, namentlich über ihre Cyclen und deren Alter
und Anwendung vorausschicken und werden dann 1. die
allgemeinen Angaben über die Dauer der drei ersten
Dynastien discutiren, 2. die verschiedenen Angaben,
über die Folge und die Dauer der Regierungen der
einzelnen Kaiser der drei ersten Dynastien kurz er-
örtern, und 3. die einzelnen astronomischen und
Cyclus-Angaben, mittelst welcher man eine feste Grund-
lage für die alte chinesische Chronologie gewinnen zu können,
gemeint hat, besprechen.
Was zunächst die Geschichtschreibung der Chinesen
betrifft, so unterliegt es wohl keinem Zweifel, dass die Chinesen,
im Besitze einer alten Bilder- und Zeichenschrift, wie die alten
Aegypter, schon früh historische Aufzeichnungen gemacht
haben werden und viel früher als die Völker , welche , wie
die Inder u. a. . erst später eine aus der Bilderschrift her-
vorgegangene Buchstabenschrift erhielten. Unter der dritten
Dynastie Tscheu, seit dem Anfange des 11. Jahrhunderts
vor Christo gab es nach dem Tscheu -li u. a. besondere
Aemter von verschiedenen Annalisten oder Ilistoriographen,
die alles aufzeichneten, nicht nur am Kaiserhofe, sondern
später auch bei den einzelnen Vasallenfürsten. Für die
erste und zweite Dynastie nahmen die chinesischen Kritiker
dergleichen auch an, so Ma-tuan-lin in B. 51 schon seit
Hoang-ti und er erwähnt des Annalisten (Tai-sse) Tschung-ku
unter der 1. Dynastie Hia und Hiang-sche unter der 2. Dyna-
stie Schang. Legge Pr. p. 12 meint aber, diese Namen hätten
nur die Chronik des Bambubuclies und Liu-schi's Tschhün-
thsieu aus der Zeit Thsin Schi-hoang-ti's, diese seien aber zu
neu und keine genügende Autorität. Das Bambubuch berichtet:
22 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
„unter dem letzten Kaiser der 1. Dynastie Kuei anno 28
verliess der Tai-sse Tschung-ku ihn und floh nach Schang"
und ebenso heisst es später unter dem letzten Kaiser der
2. Dynastie Ti-sin anno 47 : „der Nui-sse Hiang-tschi ging
weg von ihm und floh zu Tscheu." Dasselbe sagt Liü - schi
im I-sse B. 20 f. 17 v. und von dem Geschichtschreiber der
ersten Dynastie im I-sse B. 14 f. 17 v. Wichtiger scheint
Legge die Stelle im Schu-king V, 10, 13, wo Fung die
früheren Beamten der 2. Dynastie Yn und darunter auch den
Tai-sse und den Nui-sse vor der Trunkenheit warnt; ihre
Thätigkeit als Geschichtschreiber erhelle freilich aus diesen
Stellen nicht und Legge T. III p. 410 möchte den Titel
daher lieber 'recorders' als 'annalists' übersetzen. Unter der
3. Dynastie kommen dieselben Aemternamen und noch
mehrere andere wiederholt vor, und wenn wir von ihrer
damaligen Thätigkeit auf die frühere Zeit schliessen könnten,
so fänden wir eine grosse geschichtliche Thätigkeit, obwohl
ihr Amt nicht auf die Geschichtschreibung speziell beschränkt
war. Es gab unter der 3. Dynastie mehrere Arten: den
Grossannalisten (Tai-sse), den Geschichtsschreiber der
Rechten und Linken (Yeu-sse und Tso-sse). „Wenn
der Kaißer sich bewegt (etwas thut) — heisst es im
Li-ki Cap. Yü-tsao 13 f. 2 (12 p. 69) — schreibt der Ge-
schichtschreiber der Linken es auf, wenn er etwas spricht,
verzeichnet es der der Rechten." Ausser dem grossen An-
nalisten (Tai-sse) gab es auch einen kleinen (Siao-sse), der
nach dem Tscheu -li 26 f. 11 fg. die Dokumente unter sich
hatte, welche sich auf die Geschichte und Genealogie der
Vasallenfürsten bezogen. Der Annalist des Innern (Nui-sse)
hatte nach 26 f. 27 fg. es mit den 8 Attributen der kaiser-
lichen Gewalt, der Ernennung zu Aemtern, der Aussetzung
der Gehalte, Absetzungen — Bestätigungen, Hinrichtungen,
Begnadigungen , Gratifikationen und Reduktionen zu thun ;
von allen Reglements bewahrte er Kopien auf, nahm Ver-
Platlr. Chronolog. Grundlage der alten chmcs. Geschichte. 23
Stellungen an, registrirte die Verleihung von Fürsten- und
Beamtentiteln , las alle Eingaben und schrieb alle Erlasse
des Kaisers in Duplo. Der Annalist des Aeussern (Wai-sse)
hatte nach 26 f. 3 alle Schriften unter sich, welche die
Geschichte der 4 Theile des Reiches betrafen, auch die
Ordonnanzen, die sie angiengen. Ausser diesen kommen
auch noch andere vor. Wir wollen aber hier darüber nicht
weitläufiger werden, da wir in unserer Abhandlung über die
Verfassung und Verwaltung China's unter den 3 ersten Dy-
nastien (Abh. d. 1. Cl. d. k. Akad. d. Wiss. X. Bd. II. Abth.
5# 579 — 582) über diese Aemter bereits des Weitere mit-
getheilt haben. Wir erwähnten auch schon, dass seit dem
Verfalle der Kaisermacht alle oder doch mehrere dieser
Aemter auch in den einzelnen Vasallenreichen vorkommen;
so erwähnt der Sse-ki B. 5 f. 6 v. , dass in Thsin unter
Wen-kung A. 13 (753 v. Chr.) man anfing Annalisten zu haben,
um die Begebenheiten zu verzeichnen.
Dass die Erlasse der Kaiser und Minister auch unter
den zwei ersten Dynastien bereits aufgeschrieben wurden,
sagt Legge, ergiebt sich aus Schu-king IV, 8, 1, 2, wo
Wu-ting (1321 v. Chr.) seinen Traum seinen Ministern in
einer Schrift mittheilt (Wang yung tso schu i kao) und aus
IV , 5 , 1 , 2 , wo schon über 400 Jahre früher , Y-yn dem
jungen Kaiser der 2. Dynastie Thai-kia schriftlich Vor-
stellungen macht (tso schu yuei) und schon unter dein
Kaiser Tschung-khang (seit 2158 v, Chr.) der 1. Dynastie
Hia heisst es III, 4, 4 : die Regierungsstatuten bestimmen
(tsching tien yuei), und im Gesänge der 5 Söhne (III, 2, 8)
,, erleuchtet war unser Ahn (Yü) , er hatte Statuten und
Kegeln, die er seinen Nachkommen überlieferte (Yeu tien,
yeu tse, i kue tseu sün)"; der Ausdruck §6 hiün yeu tschi
könnte freilich auch bloss auf eine mündliche Ueberlieferung
gehen.
Dass man Kunde vom Alter thume hatte, ergiebt
24 Sitzung der philos.-philol Classe vom 1. Juni 1867.
schon die Einleitung zu den 4 ersten Kapiteln des Schu-king:
„die den alten Kaiser Yao, Schün u. s. w. untersucht haben,
sagen''; ohne vorhandene Denkmäler ging das nicht. Nach
Schu-king V, 27, 7 wusste Kaiser Mu-wang von der 3. D.
selbst von den Unordnungen Tschi-yeu's (unter Hoang-ti, vor
Yao) nach alten Belehrungen (jo ku yeu hiün) und nach
Schu-king V, 15, 4—7 hatte Tscheu-kung zu Anfange der
der 3. Dynastie Kunde von den früheren Kaisern der 2. Dy-
nastie und wusste z. B., dass Tschung-tsung 75 Jahre, Kao-
tsung 59 Jahre, Tsu-kia 33 Jahre, spätere -Kaiser derselben nur
10, 7—8, 5—6, 3— 4 Jahre regiert hatten. Aus V, 16, 2, 7
sehen wir, dass derselbe nicht nur die Folge mehrerer
Kaiser der 2. Dynastie, sondern auch ihre Minister kannte,
Der Stifter der 2. Dynastie Tsching-thang hatte den Y-yn,
Kaiser Thai-kia den Pao-heng , Kaiser Thai-meu den Y-tschi,
Tschin-hu und Wu-hien, Kaiser Tsu-i den Wu-hien und Kaiser
Wu-ting den Kan-puan zu Ministern. Sie werden da noch
weiter charakterisirt , was wir hier aber übergehen müssen.
Da das Papier in China damals noch nicht erfunden
war, schrieb man auf Bambu-Taf ein, wie die Schriftzeichen
schon andeuten. Confucius im Tschung-yung 20, 2 sagt aber
ausdrücklich: ,,die Regierung von Wen- und Wu (den Stiftern
der 3. Dynastie) ist entfaltet auf Bambu-Tafeln (Pu tsai fang
tse) ; der letzte Charakter, aus Bambu und Dorn zusammen-
gesetzt , zeigt , dass man ursprünglich die Nachrichten auf
Bambu einritzte; Fang sollen hölzerne Tafeln sein, Tse,
was sonst Kien , Bambustreifen , die zusammen gebunden
wurden, bezeichnen. Meng-tseu VII 2, 3, 2 spricht von 2— 3
Tse des Kapitels Wu-tsching im Schu-king (V, 35). Der
Charakter Seh u: Schrift, Buch, aus Cl. 129, der Pinsel und
Cl. 73 Mund, Wort gebildet, weiset daraufhin, dass die
Nachrichten auch aufgeschrieben oder aufgezeichnet wurden.
Es wurden aber auch Begebenheiten in Erz eingegraben.
554v.Chr.sagtTso-chiSiang-kungA.19f.38v.,S.B. 18S. 150fg.
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 25
verfertigte man aus der Beute Geräthe des Ahnentempels
und grub in Erz die glänzenden Verdienste ein, sie zu ver-
kündigen den Söhnen und Enkeln." Siehe weiteres in unserer
Abhandlung über die Glaubwürdigkeit der alt. chin. Ge-
schichte (Sitz.-Ber. 186G I, 4 S. 563 fg. (42.)
So sollte man denken, dass wir viele geschichtliche Nach-
richten, selbst aus den ältesten Zeiten China's überliefert erhalten
hätten ; aber bei den Kriegen und Unruhen ist fast alles aus
der ersten Zeit verloren gegangen und zum Theil absichtlich
zerstört worden. Meng-tseu V, 2, 2, 2 klagt schon ,,dass die
Feudalfürsten zu seiner Zeit aus Interesse viele alte Denkmäler
vernichtet hätten, daher er das Detail der alten Einrich-
tungen nicht mehr wissen könne, doch kenne er den Umriss
derselben (Tschu heu wu khi hai khi ye , eul kiai kiii khi
tse"). Der letzte Charakter ergiebt, dass sie auf Bainbu-
tafeln verzeichnet waren und nach VI, 2, 8, 5 waren diese
Statuten im Ahnensaale aufbewahrt (Tsung miao tschi (den).
Zu Confucius Zeit regierten in dem kleinen Reiche Khi noch
Nachkommen des Stifters der 1. Dynastie Yü und im Reiche
Sung Nachkommen des Stifters der 2. Dynastie und es
hatten sich noch Institutionen derselben, aber nur fragmen-
tarisch, dort erhalten; diese genügten ihm daher nicht. Er
sagt im Lün-iü 3 , 9 ,,Hia's Gebräuche , ich kann davon
reden , aber Ki ist kein genügendes Zeugniss dafür ; Yü's
Gebräuche, ich kann davon reden, aber Sung ist kein genü-
gendes Zeugniss dafür". Vergleiche auch Tschung-yun^ 28,
5 u Sse-ki B. 47 f. 24. So haben wir denn aus der 1. und
2. Dynastie nur sehr spärliche Nachrichten, die Nachrichten
über Yao, Schün und Yü ausgenommen, fast nur die über
den Sturz der Dynastien und das Aufkommen der neuen.
Es ist überhaupt zwar öfter von der geschichtlichen
Aufzeichnung von Gesetzen, Verträgen und Aktenstücken der
Archive die Rede; es mögen auch mit der Zeit geschichtliche
Aufzeichnungen in chronologischer Folge, Annalen oder
26 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
Chroniken verfasst worden sein, wir wissen aber wenig darüber.
In der Chronik des Bambubuches P. 151 heisst es: „Kaiser
Mu-wang A. 24 befahl dem Geschichtschreiber der Linken
(Tso-sse) Jung-fu eiue Chronik abzufassen; so übersetzt
man die Worte „tso ki" und meint, es sei eine Geschichte
über das Emporkommen und den Verfall der Staaten bis
zum Anfange der 3. Dynastie Tscheu gewesen. Die älteste
chinesische Chronik , die wir haben , ist Confucius Tschhün-
thsieu, eine Chronik seines Vaterlandes Lu, in Schan-tung.
Von seinem Zeitgenossen Tso-kieu-ming hat man noch zwei
Werke, den Tso-tschuen, den man unpassend einen Coni-
mentar dazu nennt — es sind vielmehr einzelne, ausführliche
Geschichten nach der Folge seiner Chronik — und dann
den Kue-iü. Nach Meng-tseu IV, 2, 21, 1 gab es zu seiner
Zeit auch eine ähnliche Chronik, wie die des Confucius von
Lu, so vom Reiche Tsin, das Viergespann (Tsching) und vom
Reiche Tschu eine von einem wilden Thiere Tao-uo genannt.
Nach dem Tso-tschuen hätte es 532 v. Chr. noch alte Ge-
schichtwerke, selbst aus der Zeit vor Yao gegeben. Unter
Lu Tschao-kung A. 12 f. 61 v., W. Sitz-Ber. 21 S. 203
rühmt Ling-wang, der König von Tschu, da „seinen Ge-
schichtschreiber der Linken (Tso-sse) Lsiang;3) er könne
lesen die San-fen, U-tien, Pa-so und Khieu-khieu". Es sind
diess alte Bücher, die dort nicht weiter bezeichnet werden.
Nach Kung-ngan-kue bei Legge Prol. T. III p. 14 vergl. Gaubil
Tr. p. 97 handelten die San-(3)fen von den 3 Hoang (Fu-
hi, Schin-nung und Hoang-ti); die U-(5)tien waren Bücher
über die 5 Kaiser (Schao-hao, Tschuen-hiü, Ti-ko, Yao und
Schün) ; die beiden letztern sollen noch in den beiden ersten
Kapiteln des Schu-king , dem Yao- und Schün-tien erhalten
sein. Die Pa-(8)so sollen von den acht Kua's gehandelt
3) Ihn erwähnt auch der Kue-iü 6 f. 4, 6 v. und 9.
Plath: Chr onolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 27
haben; die Khieu-khieu endlich, d. i. die 9 Hügel, sollen
eine Beschreibung der 9 Provinzen China's enthalten haben.
Nach dem Tscheu-li 26 fr. 31 fg hatten die Annalisten
des Aeussern der Dynastie Tscheu unter sich die Geschichte
der 4 Theile des Reiches und die Bücher der San-(3)Hoang
und U-(5)Ti (Kaiser). Diess sollen nach den Schol. der
San-fen und U-tien gewesen sein. Im ersten Jahrhun-
derte n. Chr. wurde ein kleines Werk unter dem Titel
San-fen entdeckt, man wagte aber nicht, es für das alte zu
halten. De Guignes Pref. zum Chou • king p. XX spricht
davon. Nach P. Premare discours prel. zum Chou-king
p. LXXXVII erwähnt Lo-pi es öfters; es erschien erst nach
Pan-ku und er giebt p. CXVII fg. einige Auszüge daraus.
Der I--sse B. 3 f. 3 v. giebt die Stelle über Fu-hi , B. 4
f. 3 v. fg. über Schin-nung und B. 5 f. 6 v. fg. über
Hoang-ti.
Das älteste chinesische Geschichtswerk, welches sich
theilweise erhalten hat, der Schu-king, ist nicht, wie man
vielfach noch meint, eine alte chinesische Geschichte, sondern
nur eine Sammlung einzelner alter geschichtlicher Dokumente
von Kaiser Yao bis Ping-wang, nach der gewöhnlichen Zeit-
bestimmung von 2357 — 720 v. Chr. Er giebt also keine
chronologische Uebersicht, sondern nur bei einzelnen Kaisern
die Dauer ihrer Regierungsjahre an. Confucius' Chronik, der
Tschhün-thsieu, giebt, wie gesagt, die Chronik seines Vater-
landes Lu von 721 — 480 nach den einzelnen Fürsten, Jahr
für Jahr, mit Angabe merkwürdiger gleichzeitiger Begeben-
heiten in den andern kleinen Reichen des damaligen China's.
Wir müssen jetzt die chronologische Bezeichnung
der Chinesen spezieller ins Auge fassen. Sie haben, wie
einst die Griechen, ein Mondjahr, das sie durch einen von
Zeit zu Zeit eingeschalteten Monat mit dem Laufe der Sonne
ausgleichen. Zu diesem Ende bedienen sie sich eines Sonnen-
jahres, von welchem sie im bürgerlichen Leben aber fast
28 Sitzung der philos.-pJdlol. Classe vom 1. Juni 1867.
keinen Gebrauch machen. Sie haben seit den ältesten Zeiten
durch Beobachtung des Mittagschattens mit dem Gnomon
den Tag der Winter - Sonnenwende zu bestimmen gesucht,
auch lange ihr Mondjahr in der entsprechenden Gegend der
Sonnenbahn angefangen. Den bürgerlichen Tag fingen sie
nach Gaubil Lettr. edif. p. 330, 337 u. Tr. p. 34 unter der
1. Dynastie Hia mit Sonnenaufgang, unter der 2. Dynastie
Schang mit dem Mittage, seit der 3. Dynastie Tscheu mit
der Mitternacht, ihren Monat mit dem Tage des neuen Mon-
des an. Ihr Monat hat bald 29, bald 30 Tage; der Schalt-
monat wird unter der Nummer des vorhergehenden Monats
mitinbegriffen. Die Einschaltung war nach Chalmers bei
Legge p. 99 unter der 3. Dynastie Tscheu sehr unregel-
mässig; sie sollte zwischen dem 22. November und 22. De-
zember beginnen; er zeigt aber, dass sie in den Jahren 719,
703, 688, 685, 658, 626 den 16., 20., 4., 1., 3., 8. Januar,
in den Jahren 605, 583, 556, 540, 529, 526 den 18., 16.,
17., 19., 18., 15. November stattfand. Man rechnete nach
Decaden, (Siiin), wie wir nach Wochen Schu-king I § 8, (II,
2, 21, III, 3, 1. u. V, 9, 12.) Nach dem Schol. zum Tscheu -li 26, 4
soll Sui das Sonnenjahr von 365 */* Tagen, Nien das Mondjahr
von 354 Tagen ursprünglich bezeichnen. Der Eul-ya Sche-
thien 8 f. 16 v. sagt : Unter Thang und Yü (d. i. Yao und Schün)
sagte man Tsai; unter der 1. Dynastie Hia Sui; unter der
2. Dynastie Schang Sse; unter der 3. Dynastie Tscheu Nien.
Aber man kann nur sagen, Tsai kommt im Schu-king in der
Geschichte Yao's und Schün's (B. I und II), Sse im Schang-
schu (B. III) vorzugsweise vor. S. den Index von Legge.
Gewöhnlich sagt man: Die Dynastie Hia begann das
Jahr mit dem 2. Frühlingsmonate (yn), die Dynastie
Schang mit dem letzten Wintermonate (tscheu) , die Dyna-
nastie Tscheu mit dem 2. Wintermonate (tseu), (Legge III,
p. 192 und 282). Dies bezweifelt aber Chalmers ib. p. 93.
Der Calender gerieth in grosse Unordnung; 775 v. Chr.
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 29
begann das Jahr im Dezember, 50 Jahr später mit Januar.
Man sieht leicht, welche Schwierigkeiten in beiden Fällen
daraus für die Chronologie entstehen.
Die Zelt wird gewöhnlich nach den Regierungsjahren
der Kaiser bestimmt; das Todesjahr derselben wurde nach
Tschai unter der 3. Dynastie Tscheu ganz dem verstor-
benen Kaiser zugerechnet und die Regierung seines Nach-
folgers datirte erst vom folgenden Neujahr an; anders soll
es aber unter der 2. Dynastie Schang gehalten worden sein
(Legge p. 192).
Eine sichere Chronologie zu erhalten, haben die Chi-
nesen später den 60theiligen Cyklus eingeführt, der
aus dem 10- und 12 theiligen zusammengesetzt wird. Die
Charaktere des ersten heissen die 10 Stämme4) (Kan), die
des 2. die 12 Zweige5) (Tschi); verbindet man beide, so
kehren sie zu derselben ersten Gruppe Kia-tseu erst zurück,
nachdem der Dezimal - Cyklus 6 mal und der Duodezimal-
Cyklus 5 mal abgelaufen ist; man nennt den 60 theiligen
Cyklus nach dem ersten Charakter auch Kia-tseu.
Dieser 60theilige Cyklus , der jetzt in den chinesischen
Geschichtswerken allgemein angewendet wird , kommt aber
zur Bezeichnung der Jahre in alter Zeit noch nicht vor. Im
Schu-king wird er nur zur Bezeichung der Tage verwendet
und zwar zuerst im Kapitel Y-hiün IV, 4, 1 unter Kaiser
Thai-kia von der 2. Dynastie (1753—21 v. Chr.) der
Charakter Y — tscheu; früherscheint, wie Chalmers bei Legge
T. Ill'Prol. p. 96 bemerkt, im Kapitel Y-tsi II, 4, 1, 8 der Cyklus
von 10 allein zur Bezeichnung der Tage verwendet worden zu
sein. Da sagt Yü : „Als ich auf dem Berge Thu-schan heurathete.
4) Der 10 theilige Cyklus ist: 1. Kia, 2. Y, 3. Ping, 4. Ting,
5. Meu, 6. Ki, 7. Keng, 8. Sin, 9. Jin, 10. Kuei.
5) Der 12 th. Cyklus ist: 1. Tseu, 2. Tschheu, 3. Yn, 4. Mao,
5. Tschin, 6. Sse; 7. Wu, 8. Wei, 9. Schin, 10. Yeu, 11. Siü, 12. Hai.
30 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 1. Juni 1867.
(blieb ich zur Hause nur die Tage) Sin, Jin, Kuei und Kia.
Diess sind 4 aufeinander folgende Zeichen des Cyklus von 10. Be-
merkenswerth ist, dass im Schu-king Cap. Pi-ming V, 24, 3
Tscheu-kung einmal sagt: 3 Ki seien verflossen; diess soll
eine Periode von je 12 Jahren, also 36 Jahre, sein und es
eine Umlaufzeit des Planeten Jupiter bezeichnen.6) Von der
Benutzung des Cyklus von 60 zur Bezeichnung der Jahre,
sagt Gaubil Tr. p. 271, sieht man noch keine Spur in der
Geschichte der Thsin, in der Chronik von Liü-pu-wei (etwa
240 v. Chr.) , im Kue-tseu , im Kue-iü, im Tso-tschuen , im
Tschhün-thsieu und im Schu-king. Was den Tschhün-thsieu
von Confucius betrifft, so sagte P. Visdelou zwar, dass Con-
fucius in dieser seiner Chronik bereits den 60jährigen Cyklus
zur Bezeichnung der Jahre angewandt habe, aber Gaubil
Tr. p. 144 bemerkt, dass die Cykluszeichen daselbst erst
vom Astronomen Tu-yü aus der Dynastie Tsin (266 — 422
6) Stern Gott. g. A. 1840, p. 2011 meint, dass ursprünglich die Zahl
der Tage, wie noch jetzt in China nachDecaden mit dem Cyklus von
10 und die Jahre mit dem von 12 bezeichnet worden seien, und
bezieht sich ausser Gaubil Tr. p. V dabei auf Biot Journ. de Savans
1840 p. 143, der 2 Stellen anzieht aus dem Tscheu-li B. 26, 15 und
B. 37 f. 40. Jene lautet: „Der Fung siang schi beschäftigt sich mit
den 12 Jahren, den 12 Monaten, den 12 Stunden, den 10 Tagen und
der Lage der 28 Sternbilder!'. Die 2. Stelle lautet: „Der Thi-tso-schi
schreibt auf Tafeln die Namen der 10 Tage, der 12 Stunden, der
12 Monate, der 12 Jahre und der 28 Sternbilder". Wir haben schon
bemerkt, dass für die Tage in der ältesten Stelle des Schu-king der
10 tägige Cyklus allein angewandt wurde, den 12 theiligen für Jahre
könnte man nur einmal in den 3 Ki sehen, aber sonst wird im
Schu-king nur der 60 jährige Cyklus und zwar bloss zur Bezeichnung
der Tage angewandt. Chalmers p. 96 meint, der 12 theilige Cyklus
sei erfunden, to distinguish the 12 spaces, into which the horizon is
divided; von ihrer Anwendung auf die 12 Monate dann auf die 12 (Dop-
pel-)Stunden des Tages scheine nur ein Schritt; aber diese kam nach
den Chinesen erst unter der Dynastie Han vor. Vgl. Gaubil Tr. p 243.
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 31
n. Chr.), der einen guten Commentar ciazuschrieb, hinzugesetzt
worden seien.
Die sog. Chronik des Banibubuch.es (Tschu-schu-ki-nien),
welche 284 n. Chr. im Grabe der Fürsten von Wei gefun-
den wurde, und wie man annimmt, eine Kaiser-Chronik der
Geschichtschreib er von Wei ist, die von Hoang-ti bis Tscheu
Yn-wang A. 20 (293 v. Chr.) geht, hat neben der Zeitangabe
nach Jahren der Regierung der Kaiser von Yao A. 1 an zu
Anfang der Regierung eines jeden Kaisers auch noch die
Bezeichnung mit dem Cykluszeichen und zwar zuerst mit
dem Zeichen Ping-tseu. Darnach müsste die Anwendung des
60 jährigen Cyklus älter als die 5 Dynastie Han sein.
Aber die Zeitangabe nach Cykluszeichen stimmt da nicht
mit den Angaben der Regierungsjahre im Einzelneu und im
Ganzen. Dass die Annalen des Bambubuches untergeschoben
seien , wie mehrere Chinesen meinten , glaubt auch Legge
nicht, nimmt aber mit Gaubil Tr. p. 221 eine Verderbniss
des Textes, namentlich in der Chronologie an, und meint,
dass die Cykluszeichen von Yao an auch hier erst später zu-
gesetzt seien , — Freret T. 14 p. 95 fg. hielt sie für acht
und alt — da sie auch nach seiner Annahme erst seit den
spätem Han angewendet worden ; mehrere Cyklusdaten (z. B.
S. 120) ständen nur in den Noten und diese seien daher
wohl jedenfalls erst in verschiedenen Zeiten hinzugesetzt
worden; die ältesten Citate der Annalen aus der Dynastie
Tsin und noch spätere enthielten die Cyklusdaten noch nicht ;
das sei entscheidend. Hung I-hiuen, aus der Zeit der jetzigen
Dynastie, sage bestimmt, „die Bücher, welche die Bambu-
annalen anführten , thäten es alle ohne die Cykluszeichen ;
erst in der Geschichte der Dynastie Sui (Sui-schu) in der
Chronologie fände man das erste Jahr Yao's mit dem Cyklus-
zeichen King-tseu und erst später unter der Dynastie Sung
in einem Commentare zur Nacligeschichte des Lu-sse (Lu-
ßse heu-ki-tschu) sei das erste Jahr Yao's mit dorn Cykluszeichen
32 Sitzung der pltüos.-philöl. Classe vom 1. Juni 1867.
Ping-tseu bezeichnet, wie jetzt im Bambubuche. Legge p. 181
giebt den chinesischen Text der Stelle.
Die Angaben, welche die Anwendung des 60jährigen
Cyklus schon dem Ta-nao, einem Beamten des alten Kaisers
Hoang-ti, zuschrieben, bemerkt Legge p. 82 seien alle sehr
neu, erst aus der Zeit der 4. und 5. Dynastie Tshin und
Han, also 2000 Jahre nach seiner Zeit. Er giebt die Stellen
aus dem Schi-pen, — die Stelle findet sich auch in I-sse
B. 5, f. 6 v. — aus Liii-schi's Tschhün-thsieu, Hoang-ti's
Nui Tschuen und dem Yuei Ling tschang keu chinesisch. —
Der Thung-kien-kang-mu B. 1 f. 3 schreibt die Anwendung
derselben sogar schon Fu-hi zu (tso kia li), — aber Ku-yen-wu
aus der jetzigen Dynastie sagt ausdrücklich: Die Alten hätten
den 60 jährigen Cyklus nicht zur Bezeichnung der Jahre
angewandt. (Ku jin pu kia-tseu ming sui) und nach der Vor-
rede zum Wai-ki, einem Supplemente zu Sse-ma-kuang's
Abriss der chinesischen Geschichte, fing man erst unter dem
Usurpator Wang-mang (9—22 v. Chr.) an, ihn anzuwenden.
Ss^-ma-kuang setzte die Cykluszeichen aufwärts nur bis zur
Regentschaft Kung-ho (840 v. Chr.) ; bis zu Yao's erstem
Jahre erst Schao-khang-tsie. Auch Sse-ma-tsien's Werk hat
später Zusätze erhalten. Der Art sind die cyklischen Zeichen
in seinen chronologischen Tafeln (Sse-ki B. 12 f. 4 v.),
aber auch da stehen sie nur vom Jahre 840 v. Chr. ab-
wärts. Das 1. Jahr hat den Charakter Keng-schin. Sie
kommen vor unter der Dynastie Tsin (265 — 419 n. Chr.) bei
Siü-kuang und vorher schon bei Hoang-fu-mi (starb 282 n. Chr.)
(Chalmers bei Legge Prol. 98); nach Gaubil Tr. p. 143 gibt er
Yao's 1. Jahre den Charakter Kia-tschin zuerst. S. die Stelle
aus seinem Ti-wang Schi-ki im I-sse B. 9 f. 9.
Wir haben uns über die Anwendung des 60 jährigen
Cyklus in der chinesischen Geschichte weitläufiger ausgelassen,
da noch Bunsen (Aegyptens Weltstellung B. 5, 5 S. 276)
meint, der 60 jährige Cyklus sei uralt im chinesischen Systeme
Plath: Ghronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 33
und die älteste Form einer uralten, sehr einfachen Gleichung
des Sonnen- und Mondjahres, die auch bei den Aegyptern,
Chaldäern und Juden vorkomme. 7)
Bemerkenswerth ist noch, dass nach dein erwähnten
Ku-yen-wu statt der jetzigen Cykluszeicheu zur Bezeichnung
der Jahre erst andere fremdartig lautende und erst später
die jetzigen angewandt wurden. Chalmers bei Legge Pr.
p. 97 giebt die Liste derselben aus Sse-ma-tsien's8) Tafeln für
die Interkalation für 76 Jahre von 103 v. Chr. an. Er
meint, sie müssten aus einer fremden Sprache sein, wie auch
die Götternamen da, ob indisch ? und legt darauf ein beson-
deres Gewicht, dass im 2. Jahrhunderte v. Chr. die Chinesen
ihre Verbindung mit dem Westen eröffneten. Da diese
Zeichen aber in der chinesischen Geschichte nie angewendet
worden sind, können wir sie hier füglich übergehen.
Wir kommen nun nach dieser Einleitung zur Abhand-
lung selbst, und zunächst 1) zu den allgemeinen An-
gaben über die D auer der 3 ersten Dynastien. Die all-
gemeinste und älteste ist wohl die bei Meng-tseu (VII, 2, 38) :
,,Von Yao und Schün bis Thang , sagt er da, waren über
7) Dass zwischen der Astronomie und Zeitrechnung der Chinesen
und der Chaldäer ein noch viel innigerer und älterer Zusammenhang
stattgefunden habe, sucht Stern Götting. g. A. 1840 S. 2026—38 zu zeigen
und zwar meint er S. 2033 schon vor 1766 v. Chr., da die Chinesen
nur unter der 1. Dynastie Hia (2205 v. Chr.) den Tag mit Sonnen-
aufgang begonnen, wie die Chaldäer, unter der 2. Dynastie Schang
seit 1766 nicht mehr, sondern mit Mittag. Wir müssen das Weitere
unserer Abhandlung: Ueber die Astronomie der alten Chinesen
vorbehalten.
8) Sse-ki Li-schu B. 26 f. 5 v. fg.; sie kommen schon in dem
alten Wörterbuche Eul-ya Kap. Schi-thien8, f. 16 v. mit einigen Ab-
weichungen vom Sse-ki, wo der Scholiast es auch citirt, vor. Auch
der I-sse B. 151 f. 14 f. g. giebt die Stelle des Eul-ya.
[1867. II. 1.] 3
34 Sitzung der philos.-philöl. Gasse vom 1. Juni 1867.
500 Jahre. Yü und Kao-yao9) sahen sie (jene) selbst und
kannten sie so; Thang hörte von ihnen (ihren Prinzipien)
und kannte sie so;'.
„Von Thang bis Wen-wang waren (wieder) über 500 Jahre;
Y-yn und Lao-tschu sahen ihn (Thang) und kannten ihn
(seine Prinzipien) so. Wen-wang hörte von ihm und kannte
sie so'"
,,Von Wen-wang bis Confucius waren (wieder) über
500 Jahre; Thai-kung Wang und San-i-seng sahen ihn und
kannten sie so. Confucius hörte von ihm und kannte
sie so."
„Von Confucius bis jetzt sind über 100 Jahre. (Meine)
Entfernung von des Heiligen (Confucius) Zeitalter ist nicht
so weit; sein Aufenthaltsort war (dem meinigen) nahe;
ist denn nicht einer (bin ich nicht) da im Stande, seine
Lehre zu überliefern?"
Gaubil Tr. p. 250 nennt Meng-tseu: un ecrivain d'une
tres-grande autorite et qui parlait en consequence de ce qu'il
lisait dans l'histoire. Was dann die Bedeutung der Stelle für
die Feststellung der alten Chronologie betrifft , so bemerkt
er p. 92, Meng-tseu werde zwischen 372 bis 74 v. Chr.
geboren sein, er kam 336 v. Chr. an den Hof von Wei und
zog sich 314 vom Hofe des Fürsten von Tsi zurück (seinen
Tod setzt Legge Prol. T. II p. 17 in das Jahr 288 v. Chr.)
Von seiner Zeit bis Yao rechnete Meng-tseu über 1600 Jahre;
es sei das allerdings keine sehr sichere Angabe, aber sie
gewähre doch im Allgemeinen eine ziemlich klare Anschauung
der Zeitverhältnisse.
Wir müssen aber dagegen bemerken, Meng-tseu ist kein
Geschichtsforscher, sondern ein Moralist und Politiker. Es
9) Diese und die im Folgenden Genannten waren Minister der
Kaiser; s. Legge P II p. H78; den San-i-seng erwähnt des Schu-king
V, 16, 12.
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 35
sind durchaus nur ganz allgemein gehaltene runde Zahlen;
man weiss weder, von wo er den Anfang, noch wie er das
Ende einer Periode rechnet, ob von der Geburt, dem Tode
oder dem Regierungsantritte der Kaiser an. Confucius Geburt
fällt nach dem Sse-ki ß. 47 f. 2 unter Lu Siang-kung
a. 22, sein Tod nach f. 28 v. unter Lu Ngai-kung a.16, d.i.
jene in das Jahr 551, sein Tod 479 nach Legge Prol. T.I
p. 59; Meng-tseu's Geburt, wie gesagt. 372. Von 479 (Con-
fucius Todesjahr) bis 372 (Meng-tseii Geburtsjahr) sind
107 Jahre. Wenn Meng-tseu also sagt: von Confucius bis
jetzt sind über 100 Jahre, so versteht er wohl, wie auch
Freret Oeuvr. T. 14 p. 65 annimmt, von Confucius Tode bis
zu Meng-tseu's Geburt und so wiid man dann ähnlich auch
bei den andern Angaben rechnen müssen , und so rechnet
auch Freret p, 109 die 500 Jahre von Wu-wang (der Text
hat aber Wen-wang) bis zu Confucius Geburt. Aber Meng-
tseu will die Dauer der beiden ersten Dynastien gar nicht
angeben,7) son>t hiitte er nicht von Yao und Schün, sondern
von Yü's und VYu-wang's Regierungsantritt rechnen müssen.
Dessen Vater Wen-wang regierte nur in seiner Herrschaft
Tscheu und Wu-wang gelangte auf den Kaiserthron der
3. Dynastie erst seit seinem 13. Regierungsjahre im
Reiche Tscheu.8) Die Dynastie Tseheu war zu Confucius
und Meng-tseu's Zeit in Verfall. In gewissen Zeitperioden,
meinten sie nun , erstanden immer grosse Kaiser , die mit
ihren weisen Ministern die ächten Prinzipien, die in Verfall
gerathen waren , wiederherstellten. Solche waren Yao und
7) Irrig sagt Legge Prol. T. III p. 85 wohl von König Wen bis
Confucius solle heissen: vom Anfange der Dynastie Tscheu; von
Yao und Schün bis Thamr, meint er p. 86, solle die 150 Jahre
jenes und die 431 oder 439 Jahre der Dynastie Ilia in sich begreifen.
8) So wird die Stelle im Schu-king Kap. Thai-tschi V, 1, 1, 1
zu verstehen sein, s. Legge.
3*
36 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
Schün, Wen-wang und Wu-wang, vgl. Schi-king IV, 1, 1.
Die Zeitperiode, sagt er nun, wäre schon mehr als verflossen;
sollte ich nun nicht der Mann sein, der zur Wiederherstellung
der ächten Prinzipien bestimmt wäre? Dass diess sein Ge-
dankengang ist, zeigt deutlich die Stelle Meng-tseu II, 2, 13:
,.Als Meng-tseu Thsi veiliess, heisst es da, fragte ihn Tschhung-
yii auf dem Wege: Meister, dein Aussehen erscheint unbe-
friedigt; vordem hörte ich den Meister sagen, der Weise
murrt nicht gegen den Himmel, grollt nicht den Menschen.
Meng-tseu t-rwiederte : das war zu einer Zeit, diess ist eine
andere: in 500 Jahren erstand immer ein grosser König
(VVang), und in der Zwischenzeit gab es sicher berühmte
Geschlechter (Ming schi) ; seit dem Beginne der Dynastie
Tscheu bis jetzt sind nun schon über 700 Jahre; was die
Zahl (der Jahre) betrifft, ist sie schon vorbei; was die
(jetzigen) Zeitverhältnisse betrifft, wenn man die untersucht,
so könnte man wohl (das Auftreten solcher Männer erwarten),
aber der Himmel will (offenbar) noch nicht, dass das Reich
zur Ruhe gelange : wollte er das in dieser Zeit, wer könnte
das bewirken als ich; wie sollte ich darum nicht beküm-
mert sein."
Hier rechnet er über 700 Jahre von seiuer Zeit bis
zum Anfange der Dynastie Tscheu , aber man weiss nicht,
welchen Zeitpunkt in seinem Leben er meint. Legge Prol.
P. II p. 24 meint, es gehe auf seinen ersten Weggang aus
Thsi und setzt diesen 323 v. Chr. , aber nur nach der an-
gegebenen Dauer der Dynastie Tscheu von 700 Jahren ; seinen
zweiten Aufenthalt in Thsi setzt er p. 34 in das Jahr 311
v. Chr., weil das Reich Yen damals gegen Thsi aufstand,
was Meng-tseu I, 2, 10 fg. und II, 2, 8 fg. erwähne. Meng-
tseu verkehrte damals nach dieser Stelle mit Thsi's König
Siuen-wang; nach dem Sse-ki fand aber der Aufstand erst
unter dessen Nachfolger Min-wang 323 bis 282 statt. Diese
Plath: Clironolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 37
Stelle gewährt uns also auch keine sichere Angabe auch nur
über den Anfang der 3. Dynastie Tscheu.
Eine 3te Stelle bei Meng-tseu IV, 2, 1, 3 hilft auch
nicht viel. Er sagt da : „Schün wurde geboren in Schu-fung,
zog fort nach Fu-hia und starb in Ming-thiao, ein Mann
unter den Ost-Barbaren; Wen-wang, wurde geboren am
Berge Khi in Tscheu und starb in Pi-yng, ein Mann unter
den West-Barbaren. Die Entfernung der Länder betrug über
1000 Li, das Zeitalter des letzteren war über 1000 Jahr
später, aber ihre Absicht beim Walten im Reiche der Mitte
war wie wenn man 2 Siegelhälften zusammenfügt; der
frühern und der spätem Heiligen Principien waren ein- und
dieselben (i)".
Wenn in der ersten Stelle von Yao und Schün bis
Wen-wang über 1000 Jahre gerechnet werden, so hier von
Schün allein, aber die 1000 Jahre, die sie von einander ent-
fernt gelebt haben sollen, möchten keine viel sichere Be-
stimmung sein, als die Angabe der Entfernung ihrer Geburts-
oder Sterbeorte auf 1000 Li s. Legge p. 192 und die
verschiedenen Angaben über den Ort , wo Schün starb , im
I-sse B. 10 f. 14 v. Man kann daher aus diesen Stellen
nur im Allgemeinen entnehmen , dass Meng-tseu von Yao
und Schün, vielleicht von Schün's Tode bis Thang, dann von
diesem bis Wen-wang und von diesem wieder bis Confucius
über je 500 Jahre, also zusammen über 1500 Jahre und
von da bis zu seiner Zeit noch über 100 Jahre , also im
Ganzen über 1600 Jahre, an einer andern Stelle aber von
Schün bis Wen-wang 1000 Jahre und an einer 3ten Stelle von
der Gründung der Dynastie Tscheu bis zu seiner Zeit, 323
oder 311 v. Chr., über 700 Jahre rechnete; welchen Glauben
er aber verdient, bleibt dabei immer noch dahingestellt. Legge
T. II p. 378 sagt: Von Anfang der Regierung Schün's bis
zu der Thang's waren nach der recipirten Annahme 489 Jahre,
38 Sitzung der pMos.-philöl. Classe vom 1. Juni 1867.
von da bis zur Gründung der Dynastie Tscheu 644 Jahre.
Wir werden die andern Angaben weiter unten prüfen.
Der 2te Autor ist der Verfasser des Tso-tschuen. Gaubil
Tr. p. 252 sagt: L'autorite du Tso-tschouen est d'un
grand poids et bien au-dessus de celle du Tchou-chou. Er
lege nun der Dynastie Schang eine Dauer von 600 Jah-
ren bei, vielleicht rechne er aber den Anfang von Wen-
wang an.
Aber Tso-schi ist auch kein kritischer Geschichts-
forscher, sondern das Werk unter seinem Namen, wie
schon erwähnt, nur eine Sammlung von Geschichten aus
der Zeit des Tschhün-thsieu in chronologischer Folge. Die
obige chronologische Angabe beruht aber auf gar keiner
eigenen Angabe von ihm selbst. Man muss die Stelle9)
wieder im Zusammenhange mittheilen, was Gaubil immer
nicht thut. Ein Gesandter des Königs Tschuang- wang von
Tschu fragt da 606 v. Chr. nach den Urnen Yü's, deren
Besitz, wie wir schon anderswo erwähnt haben, (Sitz.-Ber.
1866 1,4 S. 564(42) für ein Palladium der Herrschaft über
das Kaiserreich galt, und der Kaiser- Enkel Muan ant-
wortete ihm: „Kie (der letzte Kaiser der 1. Dynastie) besass
keine Tugend und die Urm-u gingen über an die (2. Dynastie)
Schang. Es vergingen (dann) 600 Jahre. Scheu (der letzte
Kaiser der 2. Dynastie Schang) war gewaltthätig und grau-
sam und die Urnen gingen über an (die 3. Dynastie) Tscheu
(Ting tshien iü Schang, tsai ki lo pe. Scheu pao nio, ting
tshien iü Tscheu). — Einst gab Tsching-wang (der Nachfolger
Wu-wang's) eine bleibende Stätte den Urnen in Kia-jo, er
brannte die Schildkrötenschale (po) und befragte sie hinsichts
9) Tso-schi Siuen-kuug A. 3 f. 5, S. B. 17 S. 23 (auch bei Bazin
im Journ. As. 1839 Ser. III T. 8 p. 368 und Legge Prol. T. III p. 67
not.) und daraus wohl in Sse-ki Tschu Schi-kia B. 40 f. 9 v., S.
B. 44 p. 85.
Flath: Clironolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 39
der Geschlechtsalter , (welche die Dynastie Tscheu dauern
würde) und erhielt deren 30; er brannte sie (und befragte
sie) nach der Zahl der Jahre und erhielt 700 Jahre. So
wurde es durch den Himmel bestimmt; ist nun auch die
Tugend der Tscheu jetzt geschwunden , so ist das Mandat
des Himmels doch noch nicht geändert." Letzteres, eine blosse
Weissagung , die auch nicht eintraf, wie wir sehen werden,
hat gar keinen chronologischen Werth und die Angabe über
die 600jährige Dauer der 2. Dynastie ist wenigstens sehr
problematisch. Die Uebertragung der Urnen fand auch wohl
nicht gerade im 1. Jahre der neuen Dynastie statt ; erstTsehing-
wang (Wu-wang's Nachfolger) gab ihnen so eine bleibende
Stätte, nach dem Bambubuche p. 146 erst in seinem 18. Jahre
in Lo. 24 Jahre nach der Gründung der Dynastie Tscheu
nach der Note p. 158.
Als eine andere Autorität für die mehr als 600jährige
Dauer der 2. Dynastie führt Gaubil Tr. p. 253 den Yo-tseu
an, der vom ersten Jahre Tsching-thang's, des Stitters der
2. Dynastie, bis zum eisten Jahre des letzten Kaisers dieser D.
576 Jalire rechne, des letzteren Herrschaft wählte noch 52.
nach andern 32 Jahre, die Dauer der ganzen Dynastie betrug
darnach also an oder über 600 Jahre. Die ganze Stelle
Yo-tseu's steht im I-sse -B. 14, f. 16 v. und lautet so: „Als
Thang das Kaiserreich regierte, erhielt er den Khing-fu, den
Y-yn und Hoang-li , am Ostthore den Hiü, am Südthore
den Yuen , am Westthore den Tseu und am Nordthore den
Tse und besass so 7 Grossbeamte (Ta-fu), ihn bei der Re-
gierung des Reiches zu unterstützen und das Reich war
wohl regiert 27 Generationen hindurch, zusammen 576 Jahre,
bis auf Scheu." Die Dauer von dessen Regierung, bemerkt
Gaubil, giebt er nicht an.
Hier fragt sich nun vor allem, wer ist dieser Yo-tseu und welche
Autorität hat seine Schrift. Gaubil p. 95 sagt: er gilt für einen
Nachkommen Kaiser Tschuen-hiü's, lebte zur Zeit Wen- und Wu-wang's
40 Sitzung der phüos.-philol Classe vom 1. Juni 1867.
(1122 v. Chr.) und beide befragten ihn über die Regierung und hörten ihn
gerne über das Alterthum und die Wissenschaften reden ; er galt für
sehr gelehrt. Man habe von ihm nur das Fragment eines Buches über
die Moral und die Regierung. Er setzt aber in der Anmerkung
hinzu, die Tao-sse rechneten ihn zu den ihrigen, obwohl er nach
Obigem vor Lao-tseu gelebt und hätten das Fragment, welches von
seinem Buche erhalten sei, herausgegeben. Diess könne verdächtigen,
was man ihn über die Moral sagen lasse, er sehe aber nicht ein, wie
auch das wenige, was er Chronologisches anführe, da es keine Be-
ziehung zur Sekte der Tao-sse habe. P. 253 sagt er aber, obwohl
das Bruchstück des Buches unter dem Namen vielleicht nicht von
dem Zeitgenossen Wen- und Wu-wang's sei, habe es doch einige
Autorität für die Chronologie, da es aus der Zeit vor dem Bücher-
brande herrühre.
Ich vermisse bei ihm aber jeden Beweis für dieses Alter des-
selben. Lie-tseu im I-sse B. 19 f. 9 führt ihn als Yo-hiung und Yo-
tseu auf; nach den Schoben schreibt man den Namen auf beide Arten,
er gehöre zur Secte der Tao, wie auch Lie-tseu, dessen Werk nach
einigen chinesischen Autoren im 4 Jahre von Tscheu Ngan-wang
(398 v. Chr.) herauskam.
Dieser Yo-hiung-tseu wird unter den Vorfahren der Könige von
Tschu aufgeführt, die ihr Geschlecht vom alten Kaiser Tschuen-hiü
herleiteten. Der Sse-ki Tschu Schi-kia B. 40 f. 2 v., S. B. 44 S. 72 sagt:
„Zur Zeit Tscheu Wen-wang's lebte von den Nachkommen Ki-lien's
einer, der hiess Yo-hiung Tseu, der diente Wen-wang und starb
früh," und im Tscheu Pen-ki B. 4 f. 4 nennt er den Yo-tseu unter
den Grossen, welche sich Wen-wang alsbald anschlössen, vgl. auch
I-sse B. 21 f. 11 u. 17. Die Schrift, in welcher seine Gespräche mit Wen-
wang enthalten sind, ist aber offenbar ein späteres untergeschobenes
Werk; der I-sse B. 19 f. 7 — 9 enthält solche angeblichen moralische
Gespräche desselben mit Wen-wang, B. 22 f. 32 v. führt aus ihm einen
Ausspruch Tscheu-kung's an und B. 25 f. 1 — 2 v. werden aus dem
Sin-schu Gespräche von ihm mit Tscheu-kung und B. 20 f. 3 v. mit
Wu-wang angeführt.
Es könnte nun freilich auch ein untergeschobenes späteres Werk
immerhin historische Notizen von Werth enthalten. Wir müssen also
diese specieller untersuchen. Gaubil Tr. p. 95 sagt: er spreche
von den 5 Kaisern (U-ti) vor Yao, die er einzeln nicht nenne und den
3 Königen (San-wang) Yü, Tsching-thang und Wu-wang. Im I-sse
finde ich folgende Auszüge aus ihm. B. 5 f. 1 sagt er : „Hoang-ti kannte
im 10. Jahre Schin-nung's Schlechtigkeit und reformirte seine
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 41
Regierung." B. 7 f. 1 v." einst, da der Kaiser Tschuen-hiü 15 Jahre alt
war, unterstützte er Hoang-ti, im 22. Jahre regierte er das Reich.
Seine Regierung des Reiches war so: nach oben befolgte er Hoang-
ti's Prinzipien (Tao) und übte sie aus (hing), er studirte Hoang-ti's
Prinzipien und machte sie zum beständigen Gesetze (eul tschang
tschi)." Aehnlich heisst es dann B. 8 f. 1: „einst, da Ti-ko 15 Jahre
alt war, unterstütze er Tschuen-hiü und im 30. Jahr regierte er das
Reich. Seine Regierung war so: nach oben befolgte er Hoang-ti's
Principien und stellte sie in's Licht; er studirte Kaiser Tshuen-hiü's
Prinzipien, um sie auszuüben."
Man sieht, in diesen Stellen ist wenig reell geschichtliches. Noch
phantatischer ist, was er B. 12 f. 5 v. von Kaiser Yü sagt. Die erste
Stelle ist zu lang, um sie hier ganz mitzutheilen. „Yü's Regierung
des Reiches — beginnt er, war so: auf die 5 Tonarten zu hören,
hing er am Thore auf die Glocken die Trommeln, die grosse Glocke
(Tho) und den Musikstein (Khing) und regelte sie mit der Hand-
trommel (Thao), um zu erlangen die Beamten (Sse) innerhalb der
4 ,Meere des Reiches u. s.w." Die 2. Stelle giebt positivere Angaben.
„Yü's Regierung des Reiches war so : er erlangte den Kao-yao, den
Tu-tseu-nie, den Ki-tseu, den Schi-tseu Ngan, den Ki-tseu-ning, den
Yan-tseu Schin uud den King-tseu-yü ; nachdem er diese 7 Ta-fu
erlangt hatte, ihn bei der Regierung zu unterstützen, brauchte er
sie, das Reich zu regieren." Die Stelle Yo-tseu's über Tsching-thang
und die 7 Ta-fu, die ihn bei der Regierung nach B. 14 f. 16 v. unter-
stützten , ist schon oben S. 39 angeführt. Wir wissen nicht, woher
er diese Namen hat, da im Schu-king und bei Confucius nnd seinen
Schülern von jenen Beamten Yü's nur Kao-yao, von denen Thang's
nur Y-yn vorkamen. Von Wu-wang sagt er B. 20 f. 25: „Wu-wang
führte die Kriegswagen an (so), um Scheu anzugreifen; der Tiger-
cohorten (Hu-liü, von je 500 Mann) waren eine Million (Pe-wan)
und er stellte sie auf in Schang's Vorstadt (Kiao); er begann mit
dem gelben Vogel bis zur rothen Axt. Die Soldaten der 3 Heere,
die zerstreut waren, verloren nicht ihre Haltung. Wu-wang befahl
Thai-kung. sich zu bemächtigen der weissen Fahne und sie als Signal
zu verwenden und Scheu's Heer kehrte allein zurück." B. 21 f. 11
ist noch eine Stelle über Tscheu-kung. Doch genug zur Charakteristik
des Autors. Wir haben die historischen Stellen aus ihm, auf welche
Gaubil sich nur im Allgemeinen bezieht, genau mitgetheilt, da man
so erst sich ein Urtheil über ihn bilden kann. Wir glauben nicht,
dass es günstig ausfällt.
42 Sitzung der philos.-pMol. Classe vom 1. Juni 1867.
Gaubil Tr. p. 96, 104 und 268 erwähnt noch aus
dem Kue-iü von Tso-schi einige mehr genealogische An-
gaben über die Kaiser der 3 ersten Dynastien.
Ich finde folgende Stellen; im Tscheu-iül f. 30 v. heisst es:
„Einst brachte Kung-kia die (1. Dynastie) Hia in Unordnung
und in der 4. Generation ging sie zu Grunde. Hiuen-wang10)
strebte für Sclrang und in der 14. Generation von ihm er-
hob es sich (unter Tsching-thang). Kaiser Ti-kia (d. i. Tsu-
kia) verwirrte es und in der 7. Generation unter Scheu-sin
ging (die 2. Dynastie) zu Grunde. Heu-tsi (der Ahn der
3. Dynastie) stiebte für Tscheu; in der 15. Generation er-
hob sich (die 3. Dynastie); Yeu-wang, der 12. Kaiser der
Tscheu, brachte sie in Verwirrung. Dass bis zur 14. Genera-
tion ein Schatz bewahrt wird (Scheu-fu), ist viel: so konnten
(die neuen Dynastien sich erheben)." Die Stelle, sieht man,
giebt keinen chronologi>chen Anhalt, sondern nur die Genea-
logien, deren Unhaltjrarkeit , was de Anfänge b's zu den
Stiftern der Dynastien betrifft, de Guignes disc. prel z. Chou-
king p. CXXXIII schon gezeigt hat.
Die 2. Stelle unter Tscheu Ling-wang 1 f. 27 sagt:
„Von Heu-tsi bis jetzt gab es bald rtuhe, bald Unruhen
(Ning locn). Bis Wen- Wu- Tsching- und Khang-wang wurde
mit Mühe gekämpft, das Volk zu beruhigen."
„Seit Heu-tsi begann, den Grund zu legen, dem Volke
Ruhe zu schaffen (Tsing min), und nachdem 15 Könige
gewesen waren, begann Wen-wang es zu beruhigen (Ping-
tschi), und der 18. König (von Heu-tsi) Khang(-wang) erlangte
es erst, es völlig zu beschwichtigen (Khe ngan tschi) : so
schwer war das. Li (-wang) fing an, die Gesetze zu ändern
(Ke tien). Seitdem sind wieder (bis Ling-wang) 14 Könige
10) D.i. Sie, der Minister Yao's nnd Schün's und der angebliche
Ahn der Dynastie Schang, s. Schi-king Schang-sung IV, 3, 4 p. 216.
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 43
gewesen. Nachdem der Grund zur Tugend gelegt war,
begann unter dem 15. Könige erst die Ruhe und als der
Grund zum Verfalle gelegt war, war erst unter dem 15.
keine Hilfe." Man sieht, es sind hier mehr Spekulationen
über den Anfang des Aufkommens und Verfalles der Dyna-
stien nach einer bestimmten Anzahl von Geschlechtern, als
chronologische Data.
Auch der Sse-ki von Sse-ma-tsien hat keine sichern
chronologischen Angaben, sondern nur einige Angaben nach
den Generationen und in runden Summen. So sagt er B. 13
f. 5 San Tai Schi Piao : von Yü bis Kie (dem letzten Kaiser
der 1. Dynastie) seien 17 Generationen (Schi), von Hoang-ti
bis Kie 20 Generationen, von Hoang-ti bis Thang sind nach
der Anmerkung 17 Generationen, von Thang nach f 6 v.
bis Scheu (dem letzten Kaiser der 2. Dynastie) 39 Genera-
tionen, von Hoang-ti bis Scheu 46 Generationen (vgl. Gaubil
Tr. p. 125), nach der Anmerkung ganz unwahrscheinlich von
Ho ing-ti bis Tscheu Wu-wang nur 19 Generationen.
Nach Tsiao-tscheu beim Scholiasten zum Sse-lci zum
Yn Pen-ki B. 3 f. 11 v. dauerte die 2. Dynastie Yn über-
haupt 31 Generationen über 600 Jahre. Ob Gaubil Tr.
p. 129 diese Stelle nicht meint, wenn er sagt: Sse-ma-tsien
sage, die Dynastie Schang habe 600 Jahre gedauert? denn diese
Angabe finde ich im Sse-ki selbst nicht. Seine Angabe, Sse-
ma-tsien sage : seit dem Tode Tscheu-kung's bis zur Geburt
des Confucius seieu 500 Jahre verflossen, steht im Sse-ki
B. 130 f. 8 v. ; er setzt da hinzu : „von Confucius Tode bis jetzt
seien wieder 500 Jahre, und man könne verketten die klaren
Generationen (schao ming schi) , d. h. die Folge derselben
angeben."
Gaubil's Angabe : Sse-ma-tsien sage von Heu-tsi (dem
Ahnen der Dynastie Tscheu), bis Wen-waug seien 1000 Jahre
verflossen, steht B. 13 f. 8 v. fg. Die ganze Stelle lautet:
„Yao wusste, dass Sie (der Ahn der 2. Dynastie) und Tsi
44 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
alle beide weise Männer seien, die der Himmel schuf. Daher
belehnte er Sie mit 70 Li und nach mehr als 10 Genera-
tionen ward sein Nachkomme Thang Kaiser über das ganze
Reich (Wang thien-hia). Yao wusste, dass die Nachkommen
der Söhne und Enkel Heu-tsi's Kaiser werden würden; daher
belehnte er auch ihn mit 100 Li und sein späteres Geschlecht
nach 1000 Jahren gelangte an Wen-wang, der das ganze
Reich inne hatte." Diese weniger chronologischen Angaben,
sieht man, kommen nur gelegentlich und zerstreut vor und
es sind immer nur runde Zahlen.
Wie Sse-ma-tsien, der eigentlich der erste genauere chinesische
Geschicht-Forscher und Schreiber ist, den wir haben, nur chronolo-
gische Angaben in runden Summen giebt, zeigt besonders noch seine
Geschichte der Hiung-nu (Hiung-nu li tschuen B. 110 f. 2 — 5), die
Gaubil nicht anführt. „Als Hia's Prinzipien in Verfall geriethen, gab
Kung-lieu (? 1797 v. Chr.) sein Amt als Aufseher über den Ackerbau
(Tsi-kuan) auf, begab sich unter die Westbarbaren (Si Jung) und
gründete eine Stadt in Pin. Von seinen Nachkommen, — mehr als
oOO Jahre darnach, — griffen die West- und Nordbarbaren den Thai-
wang Tan-fu (1327 v. Chr.) an; dieser zog weg und kam an den
Fuss des (Berges) Ki. Die Leute von Pin aber folgten ihm Alle zu-
sammen und er gründete da eine Stadt. Einer seiner Nachkommen, —
nach mehr als 100 Jahren (1168), — Tscheu, der Führer des Westens,
(SiPe) Tschang (d. i. Wen-wang) schlug dann die Kiuen-I (Barbaren).
Nach mehr als 10 Jahren (? 1122) schlug Wu-wang (den letzten
Kaiser der 2. Dynastie) Scheu. Mehr als 200 Jahre darnach (967)
geriethen Tscheu's Prinzipien in Verfall und Mu-wang griff die Kiuen-
Jung (Westbarbaren) an — Mu-wang's Nachkomme — nach mehr
als 200 Jahren (771) — Yeu-wang überwarf sich aus Anlass der
Pao-sse mit dem Schin-heu ; der griff mit den Kiuen-Jung ihn an, —
Thsin Siang-kung kam den Tscheu zu Hilfe Und schlug die Jung
(770); 65 Jahre später (706) griffen die Berg-Jung Thsi an; 44 Jahre
später (664) dieselben Yen. Thsi Huan-kung schlug sie. Ueber 20 Jahre
später (649) kamen die Jung und Ti bis zur Stadt Lo (-yang) und
schlugen den Kaiser Tscheu Siang-wang. — Nach mehr als 100 Jahren,
da die Jung sich getheilt hatten, waren sie geschwächt und vermoch-
ten nichts. Von da an und (wieder mehr) als 100 Jahren später
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 45
sandte Tsin Tao-kung den Wei-khiung, die Jung nnd Thi zu ver-
einigen11) und sie kamen an den Hof (.von Tsin). Wieder nach mehr
als 100 Jahren (475)12) überschritt Tschao Siang-tseu den Berg Keu
und bemächtigte sich des (barbarischen Reiches) Tai." Um zu zeigen,
wie viel oder wenig diese Angabe in runden Summen mit den
bestimmten Angaben nach der recipirten Annahme übereinstimmt,
haben wir diese in Parenthese hinzugesetzt.
lieber die Dauer der 1. uud 2. Dynastie nach dem
Bauibu buche im Ganzen hat nur die Schlussnote bei der
1. und 2. Dynastie eine Angabe. Von Yü bis Kie (der
1. Dynastie) warm nach p. 124 17 Geschlechter oder Genera-
tionen (Schi) und die Könige regierten mit den Interregnums
(Wang iü pu wang) 471 Jahre. Die Cykluszeicheri er-
geben nach Legge p. 181 aber nur 431 Jahre. Freret
ß. 14 f. 101 vereinigt beide Zahlen, indem er die 471 Jahre
von Yü's Erhebung zum Fürsten eines abhängigen Reiches
durch Schün a. 13 an rechnet. Das ßambubuch p. 115 sagt
aber nur: in Schün's 14. Jahre befahl er Yü, statt seiner
die Geschäfte zu führen (ming Yü tai Yü (d. i. Schün's) sse).
Die zweite Dynastie betreffend, sagt die Note p. 141
„Von der Vernichtung der Dynastie Hia bis Scheu (dem
letzten Schang) waren 29 Könige in 496 Jahren, die Cy-
kluszeichen aber ergeben 508. Freret B. 14 pagina 102 fg.
und Biot Journal As. B. 12 pagina 578 bringen beide
Zahlen wieder in Uebereinstimmung durch die Annahme,
die Note rechne nur bis zur Absetzung Scheu's a. 41 und
Wen-wang's Erhebung zum Regenten, 12 Jahre vor der
gänzlichen Besiegung Scheu's, aber A. 41 ist im Bambubuche
nur vom Tode Tschhang's (d. i. Wen-wang's) die Rede. Der
11) Nach Sse-ki Tsin Pen-ki B. 39 unter Tsin Tao-kung a. 11,
das ist aber 561 v. Chr.
12) Sse-ki Tschao Schi-kia B. 34 f. 13 v. Pfizmaier's Geschichte
von Tschao S. 15.
46
Sitzung der pliilos.-pliilos. Classe vom 1. Juni 1867.
Ti-wang Schi - ki im I-sse B. 19 f. 22 v. sagt zwar schon
Aehnliches: „Als Wen-wang 42 Jahre auf dem Throne (von
Tscheu) war, — erhielt er das Mandat und es war das
1. Jahr, wo er anfing, Kaiser (Wang) betitelt zu werden."
Aber der Schob setzt schon hiezu : „Eine ganz falsche Erklärung
(Kiai wang schue)". Legge p. 181 bemerkt noch, dass auf-
fallender Weise in der Geschichte von Schu-se (lie tschuen
B. 1 21) angegeben werde, dass im Bambubuche^der Jahre der
Dynastie Hia mehr seien, als die der 2. Dynastie Schang
oder Yn (Hia nien tho Yn) , während es jetzt umgekehrt
sei. Ich finde noch im I-sse B. 19 f. 12 zu Ende der 2. Dy-
nastie aus dem (Tschu-schu) Ki-nkn die Notitz , die Legge
und Biot nicht haben, von Paa-keng bis zur Vernichtung
(des letzten Kaisers der 2. Dynastie) Scheu waren 273 Jahre.
Von der Dauer der 3. Dynastie kann das Bambubuch
die Summen nicht angeben, da es nicht bis zum Ende der-
selben hinabgeht. Aber zu Ende der Regierung Yeu-wang's,
des 12ten Kaisers, ist p. 158 die Note: Als Wu-wang die Dy-
nastie Yn vernichtete, war das Jahr Keng-yn ; 24. Jahre
(später) (im Jahre) Kia-yn13) wurden die (9) Urnen in der
Stadt Lo fest aufgestellt. (Von da) bis Yeu-wang waren
257 Jahre, zusammen (mit den 24) 281 Jahre; vom Jabre
Ki-maou), dem 1. Jahre Wu-wang's, bis zum Jahre Keng-u,
(dem letzten) Yeu-wang's, waren 292 Jahre. Freret B. 14
p. 106 fg. bespricht die Stelle, und bemerkt, das Jahr
Ki-mao entspreche Ti-sin's A. 41 , wo Wen-wang's Tod be-
merkt werde und die Summen stimmten mit dem Cyklus-
13) Kia-yn ist aber das 4te Jahr, das 24 te Kia-siü. S. Ideler
S. 64. Die Aufstellung der Urnen in Lo setzt das Bambubuch p. 146
indess auch unter Tschhing- wang A. 18 und da Wu-wang 6 Jahre
regierte, ist das 24 Jahre nach Vernichtung der 2. Dynastie Yn.
14) So p. 158. Das Bambubuch p. 144 hat aber Sin-mao und
so Legge in der Uebersetzung.
Flath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 47
zeichen und der Dauer der einzelnen Regierungen nach dem
Bambubuche, werde also acht sein und stimme mit Meng-
tseu's und Sse-ma-tsien's Angaben, die Wu-wang's erstes Jahr
nur 500 Jahre vor Confucius Geburt (550 v.Chr.), also 1050
v. Chr. setzten. Dies möge also damalige Annahme gewesen
sein ; dass sie aber darum richtig, glaubt er selbst nicht.
Pan-ku, der unter Han Ming-ti (58—70 n. Chr.) an
der Spitze des Tribunals der Geschichte stand, gibt mit
Benutzung von Schriften , die der Astronom und Geschicht-
schreiber Lieu-hin kurz vor Christi Geburt hinterlassen hatte,
seine Geschichte der früheren Dynastie Han (Tsien Han
Schu). ß. 20 Ku kin jin piao giebt die Namen der Kaiser
von Thai-hao oder Fu-hi an mit ihren Frauen, Ministern u. s. w.,
unter der 3. Dynastie auch die der Vasallenfürsten, berühmten
Männer, Weisen, wie Confucius und seiner Schüler, aber ohne
alle weitere Zeitangabe. B.21 (Liu li tschi hia) f. 16 fg. giebt
er nur die Gesammtdauer der Dynastien, nicht die Liste der
einzelnen Fürsten und nur einzelne ausnahmsweise mit den
Regierungsjahren. Vgl. Gaubil Tr. p. 135 — 137 und 237.
So regierte nach ihm Yao 70 Jahre , Schün darauf
50 Jahre; Yü gründete dann die erste Dynastie Hia, die
17 Kaiser in 432 Jahren zählte. Tschhing-thang besiegte
den letzten Kaiser derselben Kie und gründete die 2. Dy-
nastie Schang oder Yn, die unter 31 Kaisern 629 15) Jahre
dauerte. Fälschlich, sagt er f. 16 v. , rechne man sie nur
zu 446 Jahren. Gaubil Tr. p. 137 sagt, er glaubte irrig die
Zeit Tai-kia's durch Vergleichung der Winter-Solstize bestim-
men zu können. Tschhing-thang regierte nach ihm 13 Jahre,
Wu-wang, der Sohn Wen-wang's, besiegte den letzten Kaiser
dieser 2. Dynastie Scheu und gründete die 3. Dynastie
Tscheu. Wn-wang regierte 7 Jahre, dann war Tscheu-kung
(sein Bruder) 7 Jahre Regent und darauf folgte Wu-wang's
15) Nicht 529 Jahre, wie Legge Prol. T. III p. 85 sagt.
48 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
Sohn Tsching-wang 30 Jahre; die 3. Dynastie Tscheu dauerte
unter 36 Kaisern 867 Jahre nach f. 21 v. Die Dauer der
3. Dynastie Tscheu, sagt Gaubil Tr. 136, entnahm er, wie
er sagt, den Aunalen der Fürsten von Lu — die er voll-
ständiger giebt, als der Sse-ki bis zum Stifter. Vom Anfange
des Tschhün-thsieu oder Lu Yn-kung A. 1 (722 v. Chr.)
bis Wu-wang A. 1 rechne er 400 Jahre; wie der Sse-ki,
setzte er den also 1122 v. Chr. B. 21 f. 19 sagt er: „Von
Pe-kin in Lu , dem Sohne Tscheu-kung's, bis zum Tschhün-
thsieu sind 386 Jahre. — Vom 1. Jahre (Yn-kung's) auf-
wärts bis zum Angriffe auf Scheu sind 400 Jahre." Thsin
Tschao-wang A. 51 begann nach f. 21 v. die Vernichtung
Tscheu's. 5 Jahre war kein Kaiser. (Thsin) Hiao-wen-wang
regierte 1 Jahr; nach dem Ende der Tscheu Thsin
Tschuang siang-wang 3 Jahre, Schi hoang-ti dann 37, sein
Sohn Eul-schi noch 3 Jahre, im Ganzen die D. Thsin 5 Ge-
schlechter 49 Jahre ; mit ihm ging die 4. Dynastie zu Grunde,
auf welche die 5. Dynastie Han folgte.
In der Geschichte der Ost-Han wurde Pan-ku vorge-
worfen, die Dauer der 3 Dynastien zu lang angesetzt zu
haben, man sagt aber nicht, in wie ferne und aus welchem
Grunde das behauptet wurde; es scheint, dass man seine
Annahme der Dauer der 2. Dynastie zu lang fand. Dem
Pan-ku folgten unter den Ost-Han Tschao-ki in seinem Com-
mentar zum Meng-tseu, im Ganzen nach Gaubil auch Hoang-
fu-mi (f 282 n. Chr.), nach p. 145 Tsiao-tscheu zu Ende
der 3 Reiche; nach p. 155 Sse-ma-kuang (f 1086), nach
p. 161 Su-tseu aus der Dynastie der spätem Sung u. s. w.
Hoang-fu-mi, der kurz vor der Entdeckung desBambu-
buches starb, schrieb nach Gaubil Tr. p. 142 einen Abriss
des Lebens mehrerer berühmten Chinesen von Yao bis auf
seine Zeit (Kao Sse tschuen) und eine Chronik der Kaiser
und Könige (Ti-wang Schi-ki); ein Anhänger der Tao-sse
habe er deren Fabeln über die Geburt der Kaiser, aber
Plath': Clironölog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 49
nicht ihre phantastische Chronologie; er gebe die meisten
Regierungsjahre vom Ende der 3. Dynastie Tscheu aufwärts
bis Schin -nung, man wisse nicht aus welcher Quelle und eben-
sowenig, auf welchen Grund hin, er das erste Jahr Yao's
zuerst mit dem Cykluszeichen Kia-tschin bezeichne; — die
Stelle hat der I-sse B. 9 f. 1 — die Cykluszeichen der
Regierungen, die man von ihm anführe, stimmten nicht mit
den Totalsummen dieser Regierungen ; dies letztere Werk
desselben existire jetzt nicht mehr, sondern nur Fragmente
davon bei andern Geschichtschreibern ; sein anderes Werk
existire noch, enthalte aber nichts chronologisches. Die
Dauer der 3. Dynastien ist nach Gaubil bei ihm , wie bei
Pan-ku, nur einige Jahre länger. Ich finde von ihm nur
die Dauer der Dynastie Tscheu beim Scholiasten zum Sse-ki
B. 4 f. 33 v. angegeben : 37 Könige in 867 Jahren, wie bei
Pan-ku. Vor Yao nimmt er viele Regierungen an, darunter
Fu-hi mit 110 Jahren (im I-sse B. 3 f. 4), Schin-nung mit
120 Jahren (B. 4 f. 5 v.), Hoang-li und Schao-hao jeden
mit 100 Jahren (B. 5 f. 30 v. und 6 f. 20) u. s. w. Doch
brauchen wir in die Einzelheiten dieser Vorzeit hier nicht
einzugehen. Legge Prol. T. III p. 77 hat seine Angabe über
die angebliche Bevölkerung China'« unter Yü schon der
Kritik unterworfen, und wir haben anderweitig in unserer
Abhandlung über die Glaubwürdigkeit der ältesten chinesi-
schen Geschichte Sitz.-Ber. 1866 I 4 S. 571 fg. davon schon
gesprochen. — Auszüge aus dem Kao sse tschuen hat der
I-sse B. 119 f. 22 v. u. s. w.
Spätere Angaben über die Dauer der 3 ersten Dy-
nastien beruhen wohl, wie schon zum Theil die Pan-ku's, nur
auf astronomischen Annahmen , auf welche wir unten noch
zu sprechen kommen. Zur Zeit von Tsin Moai-ti, sagt Gaubil
p. 145, hatte man eine Steintafel, auf der die Jahre von Yao
bis Hoai-ti (309 n. Chr.) zu 2721 Jahren angegeben waren.
Der Astronom Yü-hi, der Zeitgenosse Tu-yü's, unter der D.
[1867.11. l.] 4
50 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
Tsin (266 — 420), rechnete von Yao bis zu seiner Zeit 2700 Jahre ;
der Bonze und Astronom Y-hang unter Thang Hiuen-tsung
(seit 713) setzte das erste Jahr von Yao 2320 v. Chr., das
erste Jahr von Yü oder der Dynastie Hia 2170 v.Chr. Der
Dynastie Hia gab er 432 Jahre, der 2. Dynastie Schang
628, nur 1 Jahr weniger als Pan-ku. Wu-wang's erstes Jahr
zu Anfange der 3. D. Tscheu setzte er 1111 v.Chr. s. S. 68.
Schao-yung (f 1077) gab nach Gaubil der Dynastie
Tscheu dieselbe Dauer wie Pan-ku. Der 1. und 2. Dynastie
gab er einige Jahre mehr.
Hiü-heng unter Kublai (seit 1280) folgte ihm nach
Gaubil Tr. p. 165 in der Chronologie und rechnete die
Dynastie Hia vom Tode Schün's 441 Jahre, von Yü's An-
nahme zum Mitregenten aber 457 Jahre, die Dauer der
der 2. Dynastie Schang 644 Jahre, die der 3. Dynastie
Tscheu 874 Jahre, immer nach astronomischen Annahmen.
Ihm folgte Ma-tuan-lin(f 1322). DerTseu tschi tung kien
kang mu, aus der Zeit der Dynastie Ming, rechnet B. 4 f. 35 v.
(vgl. Gaubil p. 173) die Dynastie 1 Hia Yü 439 Jahre, von
2205 v. Chr. mit dem Cykluszeichen Ping-tseu an, die Dynastie
2 Schang B. 6 f. 35 zu 644 Jahre, seit 1766 v. Chr. mit
dem Cykluszeichen (Y-wey) an, die 3. Dynastie Tscheu 874
Jahre seit 1122 v. Chr. mit dem Cykluszeichen Y-mao.
Ueberblicken wir alle diese Angaben über die Dauer
der 3 ersten Dynastien, so finden wir keine sichern
Angaben. Die ältesten Angaben sind nur runde Summen
von Nichthistorikern. Sse-ma-tsien, der erste bekannte
Geschichtschreiber China's, hat gar keine Angabe über deren
Dauer. Pan-ku giebt nur gelegentlich eine, man weiss aber
nicht, worauf sie beruht. Im älteren, aber erst später auf-
gefundenen Bambubuche giebt nur eine Note die Summen
der 1. und 2. Dynastie , und sie stimmen weder mit den
Jahren der einzelnen Regierungen , noch mit den , wie man
meint, erst später zugesetzten Cykluszeichen und alle diese
Platli: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 51
verschiedenen Angaben weichen von einander ab, so auch
spätere, die zum Theil erst auf astronomischen Bestimmungen
beruhen. Wir müssen nun 2. die Jahresangaben der ein-
zelnen Regierungen vergleichen.
Wir beginnen mit der 3. Dynastie. In der spä-
tem Zeit lassen die gleichzeitigen Geschichtswerke keinen
Zweifel übrig. Auch die Regierungsjahre der 4. Dynastie
Thsin stehen fest. Die Jahre sind schon oben S. 48 angegeben.
Wir geben zunächst die Liste der Kaiser mit den
Jahren ihrer Regierung a) nach der recipirten Annahme
des Thung kieu kang mu b) nach dem Bambubuche.16)
a) Wu 7 Jahre, Tsching 37, Khang 26, Tschao 51, Mu 55,
b) 6 37 26 19 55
a) Kung 12, Y 25, Hiao 15, I 16, Li 51, Siuen 46, Yeu 11,
b) 12 25 9 8 16 46 11
a) Phing 51, Huan 23, Tschuang 15, Hi 5, Hoei 25,
b) 51 23 15 Li 5 25
a) Siang 33, Khing 6, Khuang 6, Ting 21, Kien 14,
b) 33 6 6 21 14
a) Ling 27, King 25, King 44, Yuen 7, Tsching-ting 28,
b) 27 25 44 7 28
a) Khao 15, Wei-lie 24, Ngan 26, Lie 7, Hien 48,
b) 15 24 26 7 48
a) Schin-tsing 6, Nan 59.
b) 6 Yn
16) Nachdem de Guignes das Bambubuch zum Schu-king schon
bis zum Ende dieses 697 v. Chr. ausgezogen hatte, hat Biot Journ. As. 1841
Ser. III. T. 12 und 13 nach 2 Sammlungen es übersetzt und Legge
Prol. T. III p. 108 — 176 den chinesischen Text dann mit den An-
merkungen und einer Uebersetzung vollständiger herausgegeben. Wir
benutzten noch eine kleine Ausgabe der Staatsbibliothek. Der I-sse
giebt Auszüge daraus unter dem Titel Ki-nien, scheint B. 26 f. 1 bei
Tscbao-wang aber ein noch vollständigeres Exemplar benutzt zu
haben. Der Schluss der Chronik ergiebt seine Abfassung unter Yn-
wang 8. S. 52.
4*
52 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
Was nun zunächst die Namen und die Folge der Kaiser
betrifft, so sieht man, dass die des Bambubuches fast überall
mit den recipirten, wie sie schon im Sse-ki vorkommen, über-
einstimmen; im Bambubuche haben wir nur Li statt Hi, was
aber auch im Sse-ki B. 4 f. 23 v. sich findet, und der Scho-
liast sagt : jenes laute hier Hi. Dann lautet der Name des
letzten Kaisers Yn statt Nan im Sse-ki. Eine Note zum
Tschu-schu p. 175 bemerkt, diess müsse daher kommen, dass
beide Charaktere ähnlich lauteten.
Was dann die Regierungsjahre betrifft, so endet die
Chronik des Bambubuches mit dem 20. Jahre „unser es jetzigen
Kaisers [Yn] (kin-wang)". Der Sse-ki- B. 4f. 33 fg. giebt dem
letzten Kaiser Nan 59 Jahre und lässt dann die Dynastie Tscheu
7 Jahre darauf vernichtet werden. Was die früheren Kaiser
betrifft, so stimmen, wie man sieht, bis Siuen-wang aufwärts
auch die Regierungsjahre im Bambubuche mit der recipirten
Annahme und auch mit den Sse-ki ganz oder bis auf eine unbe-
deutende Differenz, wie Gaubil Tr. p. 234 bemerkt, überein.
Der Sse-ki giebt Siang 32 Jahre, King 42, Yuen 8,
das Bambubuch 33 44 7;
das erste und letzte Jahr gleichen sich aus ; der Unterschied
ist also nur 2 Jahre. Auch die Cykluszeichen stimmen
überein.
Weiter hinauf gibt der Sse-ki die Regierungsjahre der
Kaiser der 3. Dynastie eben so wenig als die der 1. und
2. Dynastie an , nur Wu-waug giebt er 2 , Mu 55 und Li
37 Jahre. Gaubil p. 127 sagt, er wisse nicht, woher er
diese 3 Zahlen genommen habe. Wenn er Wu nur 2 Jahre
giebt, so ist dies offenbar falsch und beruht auf Schu-king
V, 6, 1: ,.2 Jahre nach der Eroberung Schang's erkrankte
der König (Wu)", da das Folgende ergiebt, dass er nachdem
wieder genass. Ueber die 37 Jahre Li-wang's s. S. 65.
Von den Regierungsjahren der ersten 10 Kaiser der
Dynastie Tscheu weichen nun aber namentlich 4 bedeutend ab.
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 53
Nach der recip. Annahme a) Wu 7, Tschao 51, Hiao 15,
im Bambubuche b)- 6 19 9
a) I 16, Li 51 Jahre.
b) 8 26.
Wir wissen weder, worauf die Angabe des Bambubuches,
noch worauf die später recipirte Angabe sich stützt. 7 Jahre
geben Wu Pan-ku B. 21 f. 17 v (vgl. Gaubil Tr. p. 135),
ebenso Kuan-tseu und Y-hang später nach Tr. p. 228.
Einige dieser Abweichungen könnte man durch einen
Ausfall oder eine Verwechslung der zum Theil ähnlichen chine-
sischen Zahlzeichen ausgleichen, aber man weiss nach Ver-
gleichung der blossen Regierungsjahre nicht, welcher Zahl
man den Vorzug geben soll. Die Cykluszeichen stimmen
natürlich hier im Bambubuche mit der recipirten Annahme
auch nicht. Von Gaubils Aushülfe s. unten S. 66.
Seit der Regentschaft Kung- ho war die Kaisermacht geschwächt;
mehrere grössere Vasallenreiche bildeten sich. Sie hatten, wie bemerkt,
auch eigene Geschichtschreiber und so begreift sich, wie wir in Sse-ki
neben der Kaiserchronik B. 1 bis 5 eine Chronik der vornehmsten
einzelnen Vascülenfürsten B. 31 — 47 vgl. I-sse B. 28, mit Angabe der
Regierungsdauer einer jeden haben. Da in der Geschichte der ein-
zelnen Reiche immer auf andere Bezug genommen wird, so gewähren
diese Angaben in der Geschichte der verschiedenen Reiche eine Con-
trolle und Bestätigung der einzelnen chronologischen Angaben nach
841 v. Chr. So bemeikt Gaubil Tr. p. 200, dass wenn im Sse-ki Lu Pen-ki
B. 33 f. 21 v. Confucius Tod unter Lu Ngai-kung A. IG, d. i. 479 v. Chr.,
im Tshin Pen-ki B. 5 f. 15 aber desselben Tod unter Tshin Tao-kung
A. 12 gesetzt werde, diess wieder das Jahr 479 ergebe, und so wird
namentlich die Zeit der Regentschaft Kung-ho in den einzelnen
Chroniken wiederholt übereinstimmend angegeben. Der Anfang, wo den
Namen der einzelnen Fürsten, deren Ursprung meist bis auf den
Stifter der 3. Dynastie hinaufgeht, die Jahre ihrer Regierung beigesetzt
sind, ist in verschiedenen Reichen verschieden. Am weitesten gehen
sie hinauf im Reiche Lu in Schan-tung. De Mailla's Regententafcl
T. 1 giebt die sämmtlichen Fürsten von Tscheu-kung mit 7 Jahren
und seinem Huhne Pe-kin mit 53 Jahren an; der Sse-ki B. 33
f. 7 hat für beide keine Angabe der Jahre; nur die Note sagt: Tsching-
54 Sitzung der phüos.-philol Classe vom 1. Juni 1867.
wang A. 1 belehnte Pe-kin und dieser starb im 46 Jahre unter Kaiser
Kang-wang A. 16; 37 und 16 Jahre geben 53 Jahre und so hat der
Ti-wang Schi-ki und Han-schu im I-sse B. 28 f. 1. Am Schlüsse der
Chronik von Lu , sagt der Sse-ki 33 f. 23 nur: von Tscheu-kung bis
zum letzten Fürsten Khing-kung waren 34 Generationen: Pan-ku
B. 21 hia f. 18 v. — 21 v. giebt, wie gesagt, die Reihe der Fürsten
von Lu mit den Jahren ihrer Regierung vollständiger als der Sse-ki,
nämlich von Anfang an, nach Gaubil Tr. p. 135 wohl nach später
noch erlangten Quellen ; s. oben S. 48.
Im Reiche Thsin in Schen-si giebt de Maiila dem Thsin-Yng
40 Jahre ; der Sse-ki B. 5 f. 4 fg. hat aber erst beim folgenden Thsin-
heu 10 Jahre.
Im Reiche Thsi in Schan-tung war der Stifter der Dynastie
Thai-kung; seinen Tod setzt das Bambubuch unter Khang-wang a. 6.
Die Regierungsjahre seiner Nachfolger giebt auch de Mailla nicht, bis auf
Hu-kung mit 19 Jahren; der Sse-ki B. 32 f. 5, S B. 40 hat erst dessen
Nachfolger Hien-kung mit 9 J. und dann die folgenden. Hier mag noch
bemerkt werden, dass nach Gaubil Tr. p. 112 Yo-y, der Feldherr Yen's,
als er 280 v. Chr. dis Hauptstadt Thsi's einnahm, in einer Denkschrift
an den Fürsten von Yen sagt: man habe die Schätze genommen, die
dort seit 800 Jahren aufgehäuft wurden. Darnach fiele die Gründung
der Stadt unter Thai-kung 1080 v. Chr. Ich habe die Stelle noch
nicht gefunden , indess sieht man , ist auf diese runde Zahl in einer
militärischen Denkschrift nicht viel zu geben.
Das Reich Yen in Pe-tschi-li nahm im Ganzen wenig Antheil an
den Begebenheiten China's. Der Sse-ki B. 34, S. B. 41 kennt den
Stifter Kang-scho , aber erst von dessen 10. Nachfolger Hoei-kung mit
38 Jahren führt er die Jahre an , in seinem 23 Jahre fiel die
Flucht Kaiser Li-wang's und der Anfang der Regentschaft Kung-ho,
von welcher überhaupt erst die genaueren chronologischen Angaben
datiren. Pan-ku B. 20 f. 32 — 68 fg. giebt bei der Zusammenstellung
der Kaiser und Vasallenfürsten der 3ten Dynastie — und zwar nur
bei Yen — bei jedem Fürsten die Zahl der Geschlechter an; der
Letzte ist der 43te.
Der Stifter des Reiches Tsin in Schan-si war Thang-scho,
Wu-wang's Bruder, aber von seine 5 ersten Nachfolgern gibt der
Sse-ki B. 39, S. B. 43 wieder bloss die Namen, ohne Angabe ihrer Re-
gierungsjahre. Der erste mit solchen ist Tsin-heu mit 18 Jahren,
da in seinem 17. Jahre die Flucht Li-wang's fällt. Später traten an
Tsin's Stelle die 3 Reiche Tschao (Sse-ki B. 43), Wei (B. 44) und
Han (B. 45). Das Geschlecht der Fürsten von Tschao wollte nach
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 55
dem Sse-ki vom alten Kaiser Tschuen-hiü (2300 v. Chr.) abstammen ;
einige Ahnen werden genannt, so Tsao-fu, der Wagenlenker unter
Tscheu Mu-wang (950 v. Chr.): sein 6ter Nachfolger rettete Kaiser
Siuen-wang das Leben. Abhängig von Tsin, wurden die Fürsten
dieser 3 Reiche erst später selbstständig; es ist fcber nicht nöthig,
in ihre Chronologie weiter einzugehen.
Ein anderes Wei, — verschieden geschrieben, — (Sse-ki B. 37
Sitz.-Ber. B. 41) lag in Ho-nan und stand unter Nachkommen Khang-
scho's, eines Bruder Wu-wang's. Auch hier sind die 6 ersten Nach-
folger im Sse-ki ohne Angabe der Regierungsjahre, erst Khing-heu
hat solche mit 22 Jahren.
Wir brauchen in die Chronologie der andern kleinen Reiche
Tsai, Tschin (Sse-ki B. 48), Khi, Sung(B.38), Hiü und Tsching
(B. 42), alle in Ho-nan und Tsao in Schan-tung u. s. w. hier nicht
weiter einzugehen; es genügt die Bemerkung, dass die Angaben der
Regierungsjahre ihrer Fürsten alle nicht höher hinauf gehen.
In Hu-kuang war später das bedeutende Reich Tschu oder Tsu
(Sse-ki B. 40, S. B 44),dessenFürsten auch ihr Geschlecht vom alten Kaiser
Tschuen-hiü durch Hiung-yn, dem Zeitgenossen des Stifters der
3. Dynastie, herleiteten. Seine 4 Nachfolger sind ohne Angabe der
Regierungsjahre; erst der 5te Hiung-khiü hat bei Maiila 10 Jahre, im
Sse-ki f. 4 aber erst dessen 3 ter Nachfolger Hiung-yung 10 Jahre und
dann die folgenden.
Die Fürsten des Reiches U in Kiang-nan leiteten nach dem
Sse-ki B. 31 ihr Geschlecht von Thai-pe, dem Oheime Wen-wang's, ab,
aber sie treten erst sehr spät in der chinesischen Geschichte auf,
nemlich mit Scheu-mung (585 bis 560) und schon unter dessen 6ten
Nachfolger Fu-tscha wurde das Reich von Yuei erobert. Von den
Vorgängern Scheu-mung's hat man nur die blossen Namen. Der
Sse-ki B. 31 f. 3 rechnet von Thai-pe bis Scheu-mung 19 Generationen.
Pan-ku B. 20 f. 44 v. reebnet von Scheu-mung bis Tschung-yung, dem
Nachfolger Thai-pe's, aufwärts nur 15 Generationen.
In Tsche-king war das Reich Yuei (Sse-ki B. 41, Sitz.-Ber. 44).
Der Ahn der Fürsten soll ein Sohn von Schao-khang von der ersten
Dynastie gewesen sein. Das Reich tritt aber auch erst spät in die
Geschichte ein. Von Wu-yü giebt der Sse-ki 20 Generationen bis
Yün-tschang; bedeutend wurde es aber erst unter dessen Nachfolger
Keu-tsien seit 496 v. Chr. Erst von ihm und seinen Nachfolgern
werden die Regierungsjahre angemerkt. Pan-ku B. 20 f. 65 rechnet
vom letzten Könige Wu-kiang bis Keu-tsien 10 Geschlechter, der
56 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1 Juni 1867.
Sse-ki B. 41 f. 5 giebt von 5 Nachfolgern bis Wu-kiang die blossen
Namen; das Bambubuch auch ihre Regierungsjahre.
Nach Tschao-hao, dem Verfasser der Geschichte von U und Yuei
(U Yuei Tchhün-thsieu) aus der Zeit der Ost-Han (25—220 n. Chr.)
bei Gaubil Tr. p. "140 endete das Reich Yuei 224 Jahre nach dem
27ten Jahre von Keu-tsien, d. i. nach der Geschichte von Lu 470 v. Chr.,
also wurde das Reich vernichtet 246 v. Chr. Nach Tschao-hao hatte
Kaiser Schhao-khang (der 6te der Dynastie Ilia) das Land Yuei seinem
Sohne Wu-yn gegeben und dessen Nachkommen regierten es nach
ihm 1922 Jahre. Vom ersten Jahre Schhao-khang's bis zum ersten
Jahre von Kaiser Tschuen-hiü waren nach ihm 424 Jahre verflossen,
also bis zum Ende des Reiches 2346 und Tschuen-hiü erstes Jahr
wäre darnach 2592 v. Chr. Der Sse-ki B. 41 f. 1, Sitz -Ber. 44 p. 198 fg.
sagt, dass Keu-tsien's Vorfahren Nachkommen Yü's waren, und dass
der Kaiser der Dynastie Hia Schhao-khang seinen Sohn mit Hoei-ki
belehnt habe, um die Opfer, die Yü dargebracht wurden, fortzu-
setzen und über 20 Generationen später habe Yün-tschang gelebt.
Der Scholiast führt dasselbe aus den U Yuei Tschhün-thsieu an, ■ —
vollständiger steht die Stelle im I-sse B. 13 f. 3 v. — Der Sohn
Schhao-khang's heisst da Wu-yü, aber beide haben nicht die Zeitangabe
Gaubils. Nach der Geschichte von Hoei-ki hiess dieser Sohn Yü-yuei;
das ist aber der Name des Landes. Nach einer andern Nachricht
beim Scholiasten zum Sse-ki f. 1 v. waren über 30 Geschlechter (Ye,
eigentlich Blätter) der Fürsten von Yuei bis unter Kaiser King-wang
(518 bis 474) der Sohn von Yün-tschang (starb 495) bedeutend wurde.
Auch in I-sse B 96 Yuei mie U finde ich die Zeitangabe Gaubils
nicht und sie hat wohl wenig Werth, da, wenn die Abstammung
der Fürsten von Yuei von Schhao-khang auch sicher wäre, die Zeit-
angabe wohl erst aus der angenommenen Zeitbestimmung Schhao-
khang's abgeleitet ist.
Wir kommen nun zur 2. Dynastie Schang oder Yn.
Die wenigen Stücke im Schu-king betreffen nur den Stifter
Thang (IV 1—3), seinen 2. Nachfolger Thai-kia (IV 4—6),
den 19. Pan-keng (IV, 7), den 22. Wu-ting (oder Kao-tsung)
(IV, 8 und 9), endlich den letzten Ti-sin oder Scheu, unter
welchem die Dynastie von den Tscheu vernichtet wurde
(IV, 10).
Wir geben wieder erst die Liste der Kaiser mit den
Plath: Chronölog. Grundlage der alten cltines. Geschichte. 57
Jahren ihrer Regierung a) nach der recipirten Annahme im
Tung-kien-kang-mu B. 5 f. 1 fgg. und b) nach dem Bankü-
bliche.
a) Thang 13, Thai-kia 33,
b) 12 17) \Vai-ping2,Tschung-jin4, 12
a) Yo-ting 29, Thai-khang 25, Siao-kia 17, Yung-ki 12,
b) 19 Siao-keng 5 17 12
a) Thai-meu 75, Tschung-ting 13, Wai-jin 15, Ho-than-kia 9,
b) 75 9 10 9
a) Tsu-y 19, Tsu-sin 16,Yo-kia 25, Tsu-ting 32, Nan-keng25,
b) 19 14Khai-kia5 9 6
a) Yang-kia 7, Puan-keng 28, Siao-sin 21, Siao-y, 28,
b) 4, 28 3 10
a) Wu-ting59,Tsu-keng7, Tsu-kia33, Lin-sin6, Keng-ting21,
b) 59 11 33Fung-sin4 8
a) Wu-y 4, Thai-ting 3, Ti-y 38, Scheu-sin32.
b) 35 Wen-tingl3 9 Ti-sin 52.
Was zunächst die Namen der Kaiser und deren Folge
betrifft, so sieht man, sind diese bis auf wenige wieder über-
einstimmend, nur zwischen dem Stifter Thang und Thai-kia
hat das Bambubuch, wie der Sse-ki nach Meng-tseu, noch
die 2 kurzen Regierungen Wai-ping 2 Jahre und Tschung-
jin 4 Jahre. Der Schu-king erwähnt sie nicht und desshalb
hat man sie später wohl ausgelassen. Die Stelle des Meng-
tseu V, 1, 6, 5 lautet: ,,Yü stand Thang bei, so dass er
Kaiser (Wang) wurde über das ganze Reich. Als Thang
gestorben war, war Thai-ting (bereits todt) nicht auf den
Thron gelangt, Wai-ping 2 Jahre, Tschung-jin 4 Jahre. ';
17) Wenn das Bambubuch p. 129 Tschhing-thang in seinem 18. Jahre
Kuei-hai den Thron besteigen lä?st, so sind die Jahre da nach dem
Antritte seiner Herrschaft in seinem Fürstenthume Schang gerechnet.
58 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
Einige verstehen nun: so lange regierten sie, andere aber:
sie waren erst 2 und 4 Jahre alt und desshalb folgte der
ältere Thai-kia. Meng-tseu fährt fort: ,,Thai-kia stürzte die
Verordnungen und Gesetze von Thang um. Y-yn entfernte
ihn daher 3 Jahr in den Palast Thung." Die Chinesen sind
selber nicht einig, welche von beiden Erklärungen die bessere
sei. Von den andern Namen sind eigentlich nur Thai-
khang und Siao-keng, Yo-kia und Khai-kia, dann
Lin-sin und Fung-sin, diese 2 nur im ersten Charakter ab-
weichend. Was Siao-keng betrifft, so könnte das Siao im
Bambubuche statt Thai aus dem folgenden Siao-kia ver-
dorben sein, wenn nicht einer zur Unterscheidung der beiden
Siao in der recipirten Annahme statt Siao klein, Thai gross ge-
setzt hat. Khang und Keng, im 2. Gliede, Hessen sich bei
der Aehnlichkeit der beiden Charaktere (2535 u. 2512) und
Laute leicht verwechseln. So mag auch der Unterschied
zwischen Wen-ting und Thai-ting bloss auf einer Ver-
wechslung der beiden ähnlichen ersten Charaktere (Cl. 67
und Nr. 1799) beruhen. Wenn der letzte Kaiser im Bambu-
buche Ti-sin statt Scheu-sin heisst, so ist diess keine Ab-
weichung ; Ti heisst bloss der Kaiser, Scheu war sein Name.
Welcher von den abweichenden Namen der richtige ist, ist
schwer zu sagen, auch von keiner grossen Bedeutung. Der
Kue-iü I f 30 v. sagt Ti-(Tsu)-Kia verwirrte Schang und in
der 7ten Generationen (ihn inbegriffen) ging die Dynastie zu
Grunde. Diess stimmt zu beiden Angaben.
Aber sehr abweichend ist die Zahl der Regierungs-
jahre in beiden Listen, wie man sieht. Der Sse-ki giebt
bis auf den Stifter, wie bemerkt, gar keine Regierungsjahre
und woher die abweichende Jahresangabe in der recipirten
Annahme genommen ist, weiss man eben so wenig, als wo-
her die des Bambubuches. Gaubil Tr. p. 120 sagt, die
Liste, der Kaiser des Bambubuches von Nan-wang aufwärts
bis Hoang-ti ist conform der des Buches Schi-pen aus dem
Plath: Clironolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 59
Ende der Dynastie Tscheu, aber er sagt, er habe das Buch
selber nicht gesehen und kenne es nur aus Citaten; es ent-
halte Genealogien von Kaisern, Fürsten und angesehenen Per-
sonen; die Genealogien kritisirten die Chinesen, aber die
Listen der Kaiser habe noch keiner in Zweifel gezogen;
der Schi-pen gebe Schao 84 Jahre, setze den Cyklus von
60 Jahren schon unter Hoang-ti, vor dessen Zeit Schin-nung
und Fu-hi regiert hätten." Diess Alles spricht nicht beson-
ders für dessen Glaubwürdigkeit. Uns steht dieses Werk auch
nicht zu Gebote. Der I-sse giebt eine Menge kurze Stellen
daraus; B87, 1 f. 3 v. u. 101 f. 1 wohl Genealogien, aber nur B. 28
f. 8 v. Zeitangaben der Regierungen der Fürsten von Khi ; ich
weiss also nicht, ob Gaubil recht berichtet war, seine histo-
rischen Angaben bewähren sich sonst immer. Im Schu-king
V, 15, 4 und daraus wohl im Sse-ki B. 33 f. 5 fg. giebt
Tscheu-kung, wie schon gesagt, dem Kaiser Tschung-tsung
oder Thai-meu eine Regierung von 75 Jahren, Kao-tsung
(Wu-ting) von 59 Jahren, Tsu-kia von 33 Jahren und die-
selben Jahresangaben haben beide Listen. Spätere Kaiser,
sagt er, ergaben sich den Vergnügen und regierten daher
nur 10, 7—8, 5 — 6, 4 — 3 Jahre. Welche diese sein sollen,
ist aus den Listen nicht ersichtlich, eher frühere.
Einige Abweichungen in Zahlen könnten leicht verschrieben
sein, indem ein Zahlzeichen (2—5—10) hinzugesetzt oder weg-
gelassen worden; so wenn Yo-ting29 und 19, Thai-khang (oder
Siao-keng) 25 und 15, Wai-jin 15 und 10, Yo- (oder Khai-) kia
25 und 15 Jahre, endlich Thai- oder Wen-ting 3 und 13 Jahre
beigelegt werden ; es ist aber aus den beiden Listen allein
nicht zu entnehmen, welche Zahl die richtige sei, und das
um so weniger, als die Summender Jahre der ganzen Dynastie,
wie wir sahen, so verschieden, von Meng-tsen zu mehr als 500,
bei Tso-schi zu 600, von Yo-tseu ohne dem letzten Kaiser
Scheu zu 576 , von Pan-ku zu 629 Jahren angegeben wird
und die Cykluszahlen des Bambubuches und die Jahre der
60 Sitzung der philos.-phihl. Classe vom 1. Juni 1867.
einzelnen Regierungen mit der Gesammtsnmme der Noten
auch nicht stimmen, indem jene 508, diese nur 496 Jahre
angeben. Gaubil Tr. p. 237 fg. meint es seien im Bambubuche
auch bei der Dynastie Schang die Jahresangaben verdorben.
Es bleibt uns noch die erste Dynastie Hia. Im
Schu-king haben wir wieder nur wenige Dokumente, aus
der Zeit der ersten Dynastie ; ausser den ersten Kapiteln, die
Yao, Schün und Yü betreffen, geht III, 2 auf seinen Nach-
folger Khi, III, 3 auf Thai-khang und III, 4 auf Tschung-
khang.
Wir stellen auch hier erst wieder die beiden Listen,
die recipirte nach dem Thung kien kang mu B. 4 f. 7 — 25
und die des Bambubuches einander als a und b gegenüber;
da die Cykluszahlen bei dieser Dynastie aber von den Re-
gierungsjahren im Bambubuche abweichen, und an diese Fre-
ret T. 14 p. 97 sich hält, setzten wir diese noch als c hinzu.
a) Yü 8, Khi 9, Thai-khang 29, Tschung-khang 13, Siang27,
b) 8 16
c) 11 20
a) Usurpatien 40,
b) 40
c) 40
a) Mang 18, Sie
b) 58
c) 59
a) Khung-kia 31, 1
b) 9 J
c) 35
Die Namen der Kaiser, sieht man, stimmen auch hier
wieder fast bis auf einen Hoai, wofür das Bambubuch Fen
hat, überein. Kao und Hao lauten so ähnlich, als die beiden
Charaktere (8670 u. 3888) es sind ; welcher der rechtesei, lässt sich
aber schwer sagen. Auch die Folge der Kaiser steht fest. Der
4
7
28
6
9
28
Schao-khang 22, Tschu
17,
Hoai 26,
21
17
Fen 44
23
19
44
16, Pu-kiang 59,
Pien
21,
Kin 21,
25 59
18
8
28 59
21
46
ao 11, Fa 19, Kuei
52.
ao 3 7
31.
5 7
31.
Plath: Ghronolorj. Grundlage der alten chines. Geschichte. 61
Kue-iü I, f. 30 v. sagt: Khung-kia verwirrte Hia und in
der 4ten Generation (ihn inbegriffen) ging die Dynastie zu
Grunde. Diess stimmt wieder mit den Listen.
Was aber die Regierungsjahre der einzelnen Kaiser
betrifft, so ist hier die Uebereinstimmung der beiden Listen
noch geringer als bei der 2. Dynastie. Sie findet sich nur
beim Stifter Yü , bei Tschu , bei Pu-kiang und der Usur-
pation. Bei Siang ist der Unterschied von 27 und 28 Jahren
gering und gleicht sich aus durch Schao-khang's 22 und
21 Jahre; w7enn Mang 18 und 58 Jahre hat, könnte eine
Zahl verschrieben sein. Aber diess genügt nicht zu zu einer
sichern Herstellung der Listen , da im ISanibubuche , wie
Legge p. 181 bemerkt, die Cykluszahlen18) und die einzelnen
Regierungen nicht stimmen und eben so wenig die Summe,
welche die Note angiebt. Diese hat p. 127: 471 Jahre, die
Cykluszeichen geben nur 431, die Regierungsjahre nur 403.
18) Zu bemerken ist, dass im Bambubuche und zwar nur bei der
1. Dynastie Hia nach Freret's Bemerkung B 14 p. 92 fg. bei 15 Re-
gierungen die cyklische Note des Regierungsanfanges eines Kaisers
nicht die auf der des letzten Jahres seines Vorgängers folgende ist,
sondern ein Zwischenraum bei 3 Regierungen von je 3 Jahren,
bei den andern von 1 — 2 — 4 Jahren stattfindet. S. bei de Mailla
B. I p. CXLIX die Tafel, z. B. Yü starb nach p. 118 im 8. Jahre
Jin-tseu (das ist 1981), das 1. Jahr seines Nachfolgers Khi ist aber erst
das Jahr Kuei-hai (1978). Die Note sagt: Dieser trat die Herrschaft
an, als die 3jährige Trauer vorüber war, und eben so bei Schün und
Yü , und so erklärt es auch Freret. Bei Yao's Tode sagt dasselbe
von Schün Meng-tseu V, 1, 4, 1 u. 5, 7 und bei Schün's Tode von Yü
derselbe VII, 1, 39 und 40, 2. Wurde die Trauerzeit nicht immer
gleichmässig eingehalten oder gerechnet? In der 2. und 3. Dynastie
enthielt der neue Kaiser die 3 Trauerjahre über sich auch der Re-
gierung, die der Premier-Minister führte — so nach Lün-iü 14, 43 unter
Kao-tsung (1323 — 1263), — aber sie werden nicht abgerechnet.
62 Sitzung der philos.-philol. Clause vom 1. Juni 1867.
Pan-ku giebt der 1. DyDastie 432 Jahre, Meng-tseu in runder
Summe über 500 Jahre.
Yao's und Schün's Regierung vor Yü nehmen beide
Listen zu 100 und 50 Jahre nach dem Schu-king an.
So sehen wir, ist durch Vergleichung der einzelnen Re-
gierungsjahre der Listen zu einer sichern Chronologie im
Einzelnen und im Ganzen poch weniger zu gelangen, als
durch die der blossen Summen. Es bleibt uns nur 3. noch zu
sehen, ob die astronomischen Data und Cyklusangaben
uns nicht zu sicheren Resultaten verhelfen können, wie
die Chinesen schon vielfach versucht haben.
Zur Bestätigung der bestimmten Epochen dienen nun
die Sonnenfinsternisse, die in der spätem Zeit, wie
Gaubil Tr. p. 198 fg. bemerkt, fast immer genau nach
Jahr, Monat und Tag bemerkt sind, so dass wir sie verifi-
ziren können.
Wir übergehen die, welche Gaubil aus der Zeit der
Ost-Han am 10. Mai 31 v. Chr. und aus der Zeit der West-
Kan am 7. August 198 v. Chr. anführt; wir haben gleich-
zeitige Geschichten, welche über die Chronologie dieser Zeit
keinen Zweifel übrig lassen. Da die Geschichte der 4. Dy-
nastie Thsin sich erhalten hat, ist auch deren Chronologie
sicher. Das Ende der 3. Dynastie Tscheu wird 249 v. Chr.
gesetzt. Im Jahre nachher (248 v. Chr.) setzt der Tung
kien kang mu eine Sonnenfinsterniss im Jahre Kuei-tscheu
im 3. Monat ; aber diese kann nach Gaubil Tr. p. 206 nicht
zur Bestimmung des Endes der Dynastie Tscheu dienen, da
wir keine astronomische Angabe aus der 4. Dynastie Thsin
haben, der Text nicht den Stand der Sonne in den Stern-
bildern angiebt und man auch nicht weiss, in welchem Grade
einer Constellation das Winter-Solstiz angesetzt wurde.
In der 3. Dynastie giebt der Sse-ki, wie bemerkt, von
Kaiser Li-wang an die Regierungsjahre und von der darauf-
folgenden Regentschaft Kung-ho an stimmt das Bambubuch
Plath: Chronölog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 63
ganz mit dem Sse-ki und der recipirten Annahme, auch bei
den einzelnen Regierungen. Diese lassen sich nun auch durch
die von Cont'ucius in seinem Tschhün-thsieu angeführten 36
Sonnenfinsternisse sicher stellen. Sie werden nach den
Jahren der Fürsten von Lu, deren Residenz in Yen-tscheu-
fu in Schan-tung war, bezeichnet und da wir aus dem
Sse-ki auch die Namen der andern alten Fürsten kennen, so
können wir auch die Jahre dieser und der Kaiser angebeD.
in welchen sie erfolgten. So soll die erste im 3. Jahre von
Lu Yn-kung am Cyklustage Ki-sse sich ereignet haben. Diess
war unter Kaiser Ping-wang A. 51 oder 720 v. Chr. am
22. Februar und da ist Morgens 10 Uhr und einige Minuten
wirklich eine bedeutende Sonnenfinsterniss in Schan-tung ein-
getreten, s. Gaubil Obs. T. II p. 156 fg. Tr. p. 210 fg.
Die zwischenliegenden führt Gaubil Obs. T. III p. 239 fg.
und Lettres ed. T. 14 p. 371 auf und verificirt sie. Chalmers
bei Legge Proleg. Tr. III p. 103 giebt eine Uebersicht der-
selben, aber mit einigen Abweichungen ; einige wären darnach
freilich in Schan-tung nicht sichtbar gewesen.
Mit dem 14ten Jahre Ngai-kung's von Lu endet die Chronik
des Confucius, sie beginnt mit Yn-kung A. 1, 242 zuvor; in
dessen 3tes Jahr fällt der Tod Kaisers Ping-wang 720 v. Chr.
Aber über das gedachte Jahr hinaus fehlen Angaben von
Sonnenfinsternissen fast gänzlich, so dass die hin und
wieder ausgesprochene Behauptung, die Geschichte der Chi-
nesen beruhe durchgehens auf der Gewährleistung aufgezeich-
neter Sonnenfinsternisse, nur bis zum 8. Jahrhunderte v. Chr.
richtig ist. Aus den 2000 Jahren vor der Zeit des Tschhün-
thsieu sind nur 2 aufgezeichnet, von denen eine noch dazu
ziemlich problematisch ist. Die andere wird in Schi-king
Siao-ya II, 4, 9 in einer Ode aus der Zeit des Kaisers Yeu-
wang , des Vorgängers von Ping-wang — den das Lied aber
nicht nennt, — erwähnt. Es heisst da: „Kiao des 10.
Monats, am 1. Tage Sin-mao war eine Sonnenfinsterniss."
64 Sitzung der plnlos.-plülol Classe vom 1. Juni 1867.
Kiao bezeichnet nach Gaubil Obs. T. II p. 151 fg. und Tr.
p. 215 fg. in der älteren chinesischen Astronomie die Knoten
der Mondbahn, in deren Nähe sich die Finsternisse allein
ereignen können. Nach dem Kue-iü I, f. 9 und Sse-ki re-
gierte Yeu-wang 11 Jahre und nach der Geschichte der
Thsin (Sse-ki B. 5 f. 5) fiel er in einer Schlacht gegen die
Tataren im 7. Jahre von Thsin Siang-kung 771 v. Chr.);
er kam also 781 zur Regierung. Während dieser Zeit war
aber in Si-ngan-fu , in Schen-si , der damaligen Residenz der
Dynastie Tscheu, nur eine Sonnenfinsterniss sichtbar und
zwar nach Gaubil den 6. September 776, am ersten Tage
des 10. Monats nach dem Kalender der Dynastie Tscheu,
gleich dem 8. jetzigen Monate, der wirklich der Tag Sin-
mao war ; diese müsse also gemeint sein. Diess bestätige
auch das Bambubuch, das am Tage Sin-mao den ersten des
10. Monats im 6. Jahre von Yeu-wang im Winter die einzige
Sonnenfinsterniss erwähnt. Diese Berechnung nach P. Adam
Schall, P. Kegler und Gaubil haben auch Lacharme zum
Schi-king p. 284 und de Mailla T. 2 p. 57; ich weiss nicht,
wie Chalmers p. 103 und nach ihm Legge p. 85 sie auf den
29. August 775 v. Chr. berechnet und dann sagt, dass sie
früh Morgens kaum sichtbar war.
Vor Phing-wang regierte nach beiden Listen Yeu-wang
11 Jahre und vor diesem Siuen-wang 46 Jahre; bei der
Regierung der 10 Vorgänger Siuen-wang's weichen die Re-
gierungsjahre in beiden Listen aber, wie S. 53 bemerkt, sehr ab,
namentlich was die Regierung des 4ten Tschao (51 und 19),
des 8ten Hiao (15 und 9), des 9ten J (16 und 8) und des
lOten Li (51 und 26) betrifft.
Die Geschichte von Thsin geht bis 857 v. Chr. hinauf,
wo Thsin-heu zur Regierung gelangte. Bis Li-wang giebt
der Sse-ki die Regierungsdauer der Kaiser übereinstimmend
mit dem Bambubuche an und da die zahlreichen Angaben über
Sonnenfinsternisse im Tschhün-thsieu seit 720 diese bestätigen.
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 65
so kann man auch ohne Bedenken die Chronologie der 3. Dy-
nastie Tscheu von der Regentschaft Kung-ho abwärts als
wohl begründet betrachten; sie trat 841 v. Chr. ein, nach-
dem Li-wang im 37. Jahre seiner Regierung wegen seines
schlechten Betragens entthront worden war. Die beiden
Minister Tschao- und Tscheu-kung retteten nach der Flucht
des Kaisers den Erbprinzen vor der Wuth des erbitterten
Volkes und führten 14 Jahre die Regentschaft, Kung-ho ge-
nannt, d. i. Eintracht und Harmonie, und übergaben dann
die Regierung seinem Sohne Siuen-wang. Die 14. Jahre zu
den 37 Jahren Li-wang's im Sse-ki geben die 51 Jahre des-
selben in der recipirten Annahme.
Die Regierungsjahre der Vorgänger Li-wang's sind aus
der Liste zu ersehen. Eine Stelle, um diese controliren zu
können , findet sich nur in Schu-king im Kap. Pi-ming (V,
24, 1) aus der Zeit des 3ten Kaisers Khang-wang. Da heisst
es: „in seinem 12. Jahre, im 6. Monate, am Tage Keng-u
erschien die Helligkeit (die erste Mondphase) ; der 3te Tag
nachher war Jin-schiu." Lieu-hin und Pan-ku nehmen den
Ausdruck, die Helligkeit erschien, wie die Chinesen allgemein
für den 3. Tag des Monats; der Charakter Pu oder wie
Legge lieset, Fei kommt im Schu-king auch V, 12, 2 vor
und ist zusammengesetzt aus Cl. 74 Mond und Tschu her-
vorgehen. Die recipirte Meinung lässt Khang-wang 1078 bis
1052 regieren. Darnach wäre diess im Jahre 1067 v. Chr.
den 16. Mai gewesen, aber da war der Cyklustag Keng-u
kein 3ter Monatstag. Der chinesische Astronom Y-hang, im
8. Jalirhunderte n. Chr., nahm daher das Jahr 1056 v. Chr.
den 18. Mai an, wo der Neumond den 16. und der Cyklus-
tag Keng-u der 18. Mai war und ihm folgt Gaubil Tr.
p. 223 fg. Damit stimmt aber gar nicht die Chronologie
des Bamlmbuches. Dieses setzt das erste Jahr Khang-wang's
1007 v. Chr. und sein 12. Jahr ist also 996 (60 Jahre
später). Diess reimt sich aber durchaus nicht mit dem
[1867.11. 1.] ö
66 Sitzung der philos.-phüöl. Classe vom 1. Juni 1867.
Schu-king und Gaubil Tr. p. 225 und ebenso Freret T. 14
p. 113 meinen daher, man müsse einen ganzen Cyklus von
60 Jahren hinzusetzen, — und zwar dieser in den 4 Re-
gierungen zwischen Kung- und Siuen-wang, — so erhalte
man dasselbe Jahr 1056 v. Chr. Das Bambubuch erwähnt
da dieselbe Begebenheit so: „im 12. Jahre im Sommer im
6. Monat, am Tage Jin-schin kam der König nach Fung
und ertheilte ein Amt dem Pi-kung." Legge III p. 570 hebt
hervor, dass dieses Kapitel des Schu-king nur im alten
Texte sich finde und bezweifelt werde, aber ein Citat in
Pan-ku's Geschichte der Han (Liü-li tschi B. 21 hia f. 18)
scheine den Text im Wesentlichsten zu bestätigen.
Wenn diese Annahme richtig , wäre das erste Jahr
Khang-wang's 1068 v. Chr. (statt 1078 oder 1007) und man
müsste die Regierungsjahre darnach ändern, in der recipir-
ten Chronologie abwärts bis zur Regentschaft Kung-ho
10 Jahre absetzen, im Bambubuche aber 60 Jahre hinzu-
setzen und zwar wohl bei den oben angeführten Regierungen,
wo die Regierungsjahre beider Listen von einander ab-
weichen.
Die 2te Stelle des Schu-king's, die man zur Controlle
der Listen benutzt, im Kap. Tschao-kao (V, 12, 2) lautet § 1 :
„im 2. Monate, am Tage Y-wei, dem 6. nach dem Vollmonde,
ging der König Morgens von Tscheu aus und kam nach
Fung" — und § 2: „im 3. Monate, nachdem am Tage
Ping-wu der Neumond erschienen war, am Tage Meu-schin
kam der Thai-pao Morgens nach Lo.u Es handelt sich hier um
das 7. Jahr der Regentschaft Tscheu-kung's unter Kaiser Tsching-
wang. Pan-ku und Lieu-hin deuteten es auf das Jahr 1109
v. Chr., aber nach Y-hang, dem Gaubil p. 226 und Freret
p. 75 fg. folgen, entspricht es dem Jahre 1098 v. Chr. ; denn
der 2. Februar 1109 könne nicht der 3teTag des 3. Monats
nach dem Kalender der Tscheu sein, wohl aber der 4. Fe-
bruar 1098 der Tag Ping-wu und der 3te des 3. Monats; in
Plaih: Chr onolog. Grundlage der alten ehines. Geschichte. 67
diesem Jahre war im 2. M. den 18. Januar Vollmond und
6 Tage später der Tag Y-wei, was beides viele Jahre vor und
nachher nicht wieder vorkomme. Dieses stimmt aber wieder
nicht mit dem ßambubuche. Nach diesem regierte Tsching-
wang 1043 bis 1006 und sein 7tes Jahr wäre demnach 1038
(vielmehr 1037), diess passe aber in keiner Weise. Das Jahr
habe den Cyklus-Charakter Kuei-mao, denselben habe aber
auch das Jahr 1098 ; es scheine also wieder ein Cyklus von
60 Jahren da ausgelassen. Diess zeige sich aber auch bei
seiner Angabe des Todes Tsching-wang's. Das Bambubuch
p. 148 lasse ihn, wie die recipirte Meinung, 37 Jahre regie-
ren und im Sommer im 4. Monate, am Tage Y-tschheu sterben;
der Schu-king im Kap. Ku-ming V, 22, 1 setze auch seinen
Tod am Tage Y-tschheu, im 4 ten Monate, aber den Tag nach
dem Vollmonde. § 1 heisst es: „im 4. Monat, da der Mond
begann abzunehmen, war der Kaiser unwohl ; § 2 am Tage
Kia-tseu wusch sich der Kaiser Hand und Gesicht, die Be-
amten setzten ihm den Hut auf, zogen ihn an u. s. w. und
§ 10 am nächsten Tage Y-tschheu starb der Kaiser." Im
Jahre 1008 v. Chr., sagt Gaubil, war der Tag Y-tschheu der
2te März zwar im 4. Monate, aber mehrere Tage vor der
Opposition ; es passt also das Jahr nicht, wohl aber war in
China 1068 den 16. März die Opposition im 4 ten Monate und
im 4 den 17. März war der Tag Y-tschheu; beide Jahre
hätten den Cyklus-Charakter Kuei-yeu und es werde wieder
im Bambubuche ein Cyklus von 60 Jahren ausgefallen sein.
Das erste Jahr Tsching-wang's wäre demnach 1104 v. Chr.,
dieses Jahr hat das Cykluszeichen Ting-yeu; dieses giebt
ihm auch das Bambubuch p. 145, aber im unkorrigirten
Texte ist es da das Jahr 1044.
Auf die Regierung Wu-wang's, des Vaters und Vor-
gängers von Tsching-wang , rechnet der Sse-ki (wie schon
bemerkt, wohl irrig) nur 2 Jahr; Pan-ku B. 21 f. 17 v. und
Lieu-hin, auch Kuan-tseu 7 Jahre, so auch die recipirte
68 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
Annahme. Dieses nimmt auch Gaubi] mit Y-hang an. Dann
wäre sein erstes Jahr wahrscheinlich, meint er p. 231, aber
nicht gewiss 1111 v. Chr., statt nach der recipirten Meinung
1122. Das Bambubuch rechnet 6 Jahre. Im Schu-king im
Kap. Wu-tsching (V, 3, 1) heisst es : ..im ersten Monate
am Tage Jin-tchin war der Tag nach der Conjunktion; den
folgenden Tag Kuei-ki zog der Kaiser des Morgens von Tscheu
aus, Schang anzugreifen und zu bestrafen." § 2 : im 4ten Monate,
als der Mond zuerst wieder erschien , gieng der Kaiser von
Schang nach Fung; § 3 am Tage Ting-wei opferte er im
Ahnentempel der Tscheu und 3 Tage darauf am Tage
Keng-siü brachte er ein Brandopfer dar und verkündete das
Ende des Krieges; § 4 als der Mond begann abzunehmen,
erhielten die Vasallenfürsten ihre Anstellung von Tscheu.
(Der Kaiser hält dann § 5 — 8 eine Anrede an diese). § 9 heisst es :
„am Tage Meu-wu ging das Heer über die Furt von Meng,
am Tage Kuei-hai hielt er eine Revue über dasselbe in der
Vorstadt oder an der Grenze (Kiao) von Schang und er-
wartete des Himmels ruhigen Befehl; am Tage Kia-tseu bei
Tagesgrauen führte Scheu sein Heer heran, wie einen Wald
und versammelte sie in den Gefielden von Mu, aber es leistete
keinen Widerstand unserm Heere." Diess sind die Cyklus-
zeichen, die in diesem Kapitel erwähnt werden. Gaubil sagt,
es muss damals zwischen dem ersten und 4. Monate einen
Schaltmonat gegeben haben; es handelt sich hier von dem
Jahre, wo WTu-wang den letzten Kaiser der Dynastie Schang
schlug, also im 1. Jahre seiner Regierung. Lieu-hin und
Pan-ku nahmen nach Gaubil irrig dafür das Jahr 1122 an,
1123 (1122) sei der Tag Sin-mao (27. November) der erste
des 1. Monats, der Tag Jin-tschin der 2., der Tag Ki-wei
(25. December), der des Solstizes, der Schaltmonat zwischen
dem 1. und 4. Monat gewesen, aber da. müsste man sich
1123 um 3 Tage geirrt haben, denn die Conjunction fand
den 30. November statt. Gaubil nimmt daher mit Y-hang
Plath: Chrouolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 69
dafür das Jahr 1112 an. Am Tage Keng-yn sei da die Con-
junction gewesen, es treffe diess nicht ganz genau zu, doch
hat es nach Gaubil Wahrscheinlichkeit. Nach dem Tschhün-
thsieu von Liü-pu-wei (im I-sse B. 146 hia f. 5) war Wu-wang
schon 12 Jahre Fürst von Tscheu, als er Kaiser wurde —
und damit stimmt der Schu-king Kap. Thai-tschi (V, 1, 1):
,,im 13ten Jahre im Frühlinge war die grosse Vereinigung
an der Furt von Meng(-tsin)." Nach Gaubil starb sein Vater
Wen-wang, also 12 Jahre vor 1111, d. i. 1123 v. Chr.;
er regierte aber (in seinem Lande Tscheu) nach dem Schu-
king Kap. Wii V, 15, § 11: 50 Jahre.
Wenn nach diesem Systeme Gaubil' s Tr. p. 233 die Jahre
der Regentschaft Kung-ho (841 v. Chr.) bis zum ersten
Jahre Tsching-wang's (1104) und auch bis zum ersten Wu-
wang's (1112) im Ganzen sicher sind, so ist diess nicht so
der Fall mit der Vertheilung der Jahre zwischen den ein-
zelnen Regierungen. Tsching-wang regierte nach allen Nach-
richten 37 Jahre, Khang-wang nach beiden Listen 26, ebenso
Mu-wang auch nach dem Ssc-ki 55 Jahre, Kung-wang nach
beiden Listen 12 Jahre, und sein Nachfolger Y-wang 25 Jahre;
aber wegen der Anderen 4 bestehen zwischen beiden Listen
Abweichungen und die Entscheidung über die Dauer der
einzelnen Regierungen ist schwierig.
Eine Note zum Bambubuche p. 149, welche lautet:
„von König Wu-wang bis Kaiser Mu-wang wurde das Reich
100 Jahre, (wie man meint von Tscheu) besessen'" scheint
einen Anhalt zu gewähren zu der Annahme, dass von Wu-
wang bis Mu-wang 100 Jahre verflossen waren; allein hier
wird bloss die Stelle des Schu-king im Kap. Liu-hing (V,
27, 1) zu Grunde liegen, wo derselbe Ausdruck hiang-
kue vorkommt. Legge übersetzte es da : ..der Kaiser hatte das
Reich inne 100 Jahre alt (mao)," obwohl nach V, 15, 4, 5 und 6
(ohnemao) näher lüge die Uebersetzung : „er hatte den Thron
100 Jahr inne,'' wie auch andere chinesische Ausleger annehmen.
70 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
während der Sse-ki ihn 50 Jahre alt den Thron besteigen
lässt. Nun sagt die Geschichte von Tsin (Tsin-schu) im
I-sse26 f. lv. ,,Mu-wang lebte nicht 100 Jahre lang" und
es scheint daher, dass der Notenschreiber, der Unwahrschein-
lichkeit der langen Lebensdauer desselben zu entgehen, die
100 Jahre nur auf die Zeit von Wu-wang bis Mu-wang ge-
deutet habe; dann kann die Note natürlich nichts helfen.
Die Note des Bambubuches hinter den 12 ten Kaiser Yeu-wang
p. 158, die vom 1. Jahre Wu's Sin-mao bis zum letzten
Yeu's Keng-u 292 Jahre rechnet, ist oben S. 46 schon an-
gezogen. Die Summe stimmt nicht zu den einzelnen Regie-
rungen ; die einzelnen Regierungsjahre des Bambubuches geben
nur 269, die Cykluszeichen 279 Jahre, also 23 oder 13 Jahre
weniger. Die Regierungsjahre Tschao's, Hiao's, J's und Li's
sind im Bambubuche geringer, als in der recipirten Annahme,
aber welchen Regierungen die Jahre zulegen? Bis Siuen-
wang A. 826 stimmen beide Listen. Auf seine Vorgänger
rechnet die recipirte Annahme bis 1121: 295 Jahre, das
Bambubuch nur 223 Jahre, wie Legge Prol. T. III p. 85
hat ; bei 5 dieser Regierungen stimmen beide Listen überein,
bei 5 nicht. Man sieht aber keinen Grund, sich für die An-
gabe der einen oder andern zu entscheiden. Wenn Meng-tseu,
sagt Legge, die 500 Jahre und mehr von Confucius bis Wen
bis zum Anfange der Dynastie Tscheu rechne, (was aber nicht
anzunehmen,) falle dieser 1051 — 1161; die recipirte An-
nahme möge sich der Wahrheit nähern, die des Bambubuches
sei zu spät. 51 Jahre werden Tschao-wang, mit dem Namen
Hia, auch in einem Werke Tao-kien-lo, welches Uebersetz-
ungen von alten Inschriften auf Schwertern zu enthalten
scheint, im I-sse B. 26 f. 1 beigelegt, aber da die Inschrift
aus dem 2. Jahre des Kaisers sein soll, ist diese Angabe
des unbekannten Autors wieder von keiner Bedeutung. Es
lässt sich also die Dauer der Regierungen, bei welchen
beide Listen von einander abweichen, nicht genau bestimmen.
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 71
■
Was die 2te Dynastie betrifft, so steht damit die Sache
noch schlimmer. Wir haben gesehen, wie verschieden die
Summe der Dauer der ganzen Dynastie angegeben wird, von
Meng-tseu zu mehr als 500 Jahren, bei Tso-schi zu 600 Jahren, von
Yo-tseu bis zum letzten Kaiser Scheu exclusive zu 570 Jahren,
von Pan-ku zu 629 Jahren. Die Summe der Note des Bani-
bubuches p. 141 496 Jahre stimmt nicht mit den Jahren,
welche die einzelnen Regierungen und die Cykluszeichen er-
geben. Die recipirte Annahme rechnet 644 Jahre bis 1765
v. Chr. Von den einzelnen Kaisern führt der Schu-king im
Kap. Wu-i (V, 15), wie gesagt, nur an Tschung-tsung mit
75, Wu-ting mit 59 und Tsu-kia mit 33 Jahren, andere
nach diesen hätten nur 10, 7—8, 5—6, 4—3 Jahre regiert;
sie werden nicht genannt. — Diese Zahlen möchten aber
für die kleineren Zahlen der Regierungsjahre der 5 nächsten
Nachfolger Tsu-kia's der Listen S. 57 sprechen. Die Stelle
des Kue-iü I, f. 30 v. , oben S. 42 sagt nur: von Ti-kia
bis zum Verfalle der Dynastie sind 7 Generationen; Meng-
tseu II, 1, 1, 8 sagt: „vom Stifter Thang bis Wu-ting
gab es 6 — 7 weise und heilige Fürsten. Scheu, der letzte,
war nicht weit von Wu-ting. Dass Meng-tseu (V, 1, 6, 5)
zwischen dem Stifter Thang und Thai-kia noch zwei Regie-
rungen der Brüder Wai-ping 2 Jahre und Tschung-jin 4 J. setzt,
während andere sie wegglassen, ist S. 57 schon erwähnt. Diese
stützten sich auf den Schu-king im Kap. Y-hiün (IV, 4, 1) ;
da heisst es: „in Thai-kia's erstem Jahre, im 12. Monate,
am Tage Y-tschheu opferte Y-yn dem Könige Vorfahren und
präsentirte respektvoll den König-Nachfolger seinen Ahnen,"
und dann auf die Vorrede zum Schu-king § 18: „Nachdem Thang
gestorben in Thai-kia's 1 stem Jahre, verfasste Y-yn (das Cap.)
Y-hiün.u Nach dem Tso-tschuen war der erste Monat der
Dynastie Schang der 12te im Kalender der Hia und der 2te
in dem der Tscheu.
Pan-ku B. 21 hia f. 16 fg. wollte aus dieser Stelle das
72 Sitzung der phüos.-philöl. Classe vom 1. Juni 1867.
Jahr 1738 v. Chr. als das erste Jahr von Thai-kia und da
Tsching-thang 13 Jahre regierte, 1751 v. Chr. als das erste
Jahr desselben ermitteln. Es stimmt aber nicht damit, dass er
an einer andern Stelle (B. 20 f. 18 v.) VVai-ping und Tschung-
jin zwischen beiden annimmt und Gaubil Tr. p. 240 bemerkt,
der Schu-king sage nicht, dass der Tag Y-tschheu der Tag des
Winter- Solstizes, noch dass er der erste des Monats gewesen
sei, worauf Pan-ku sich stützte. Gaubil nimmt mit dem
Bambubuche 52 Jahre für den letzten Kaiser (der 2. Dy-
nastie) Scheu an, rechnet mit Yo-tseu bis zu diesem 576
Jahre, Hisst Thai-kia unmittelbar auf Thang folgen, nimmt
so 628 Jahre für die ganze 2. Dynastie an und setzt daher
ihren Anfang Tr. p. 242 : 1739 v.Chr.; aber so wenig sicher,
dass er später in seiner Geschichte der Astronomie Lettr.
edif. T. 14 p. 332 dafür das Jahr 1760 annahm. Weitere
Cykluszeichen zu einer Controle der Jahre der 2. Dynastie
giebt es nicht, daher man über ihre Dauer oder die der ein-
zelnen Regierungen derselben bei der verschiedenen Angabe der
Listen nicht entscheiden kann. Legge Prol. III p. 86 sagt: aus
der Summe von 600 Jahren bei Tso-tschüen und 500 und
mehr bei Meng-tseu lasse sich nur schliessen, dass die re-
cipirte Annahme von 644 Jahren zu gross, die des Bambu-
buches von 508 Jahren (die Note hat nur 496) zu gering sei.
Gleiche Ungewissheit herrscht über die Dauer der
ersten Dynastie Hia. Der Schu-king im Kap. Yn-tsching
(III, 4, 4) gedenkt einer Sonnenfinsterniss, die sich unter
dem 4ten Kaiser derselben Tschung-khang ereignet haben
soll. Die Stelle hat der Tso-tschuen Tschao-kung A. 17 f. 10.
Liesse sich das Jahr derselben mit Sicherheit bestimmen,
so würde sie ein Lichtpunkt für die älteste Chronologie
China's sein. Die Worte sind aber zu unbestimmt, sie
lauten: „am ersten Tage des letzten Herbstmonats waren
Sonne und Mond in ihrer Conjunktion nicht in Harmonie
Plath: Chronohg. Grundlage der alten chines. Geschichte. 73
in Fang (tschin fei tsi iü Fang)19); der Blinde rührte die
Trommel (wie bei einer Sonnenfinsterniss üblich), die untern
Beamten und das Volk rannten bestürzt umher". Nach dem
Tso-tschuen ist eine sichtbare Finsterniss hier gemeint. Der
Hof war damals in Ho-nan. bei dem jetzigen Thai-kang
hien 34° 4' der Br. 8' westlich von Pe-king. Der cyklische
Tag der Finsterniss wird aber nicht angegeben und ihre
Epoche steht daher keineswegs fest. Der Thung kien kang mo
B. 4 f. 13 setzt sie in Tschung-khang's A. 1, das Bambubuch
in A. 5 ; diese und andere sind aber alles spätere will-
kürliche Bestimmungen. Gaubil, der sie mehrmals in Unter-
suchung gezogen hat (Observ. T.II, p. 140, hjnter g. Ueber-
setzung des Schu-king p. 372—380, Traite p. 242 fg. und
Lettres edif. T. 14 p. 316) meinte, sie habe im ersten Jahre
Tschung-khang's stattgefunden und zwar den 12. October
2155 v. Chr.20, wo sie nach Flamsteeds Tafeln beim Aufgange
der Sonne 3 Vs Zoll betrug ; diese sei die einzige, auf welche
die Angabe des Schu-king passe. Das Winter-Solstiz war
damals den 7 oder 8. Januar 2154, das Herbstaequinoctium
den 8. oder 9. October 2155 nach chinesischer Bestimmungs-
weise , so dass sich nach ihnen die Sonne am 12. October
3 — 4° östlich vom Herbstpunkte befand.
Die Finsterniss ereignete sich nach ihm also wirklich
im 9. Monate und zugleich in der Station Fang , wenn diese
schon damals, wie später, bestimmt wurde. Aber Delambre
19) Dieser Ausdruck für eine Sonnenfinsterniss, bemerkt Chalmer's
p. 101, ist ungewöhnlich; später heisse es immer: Ji yeu schi tschi;
der Charakter Fang im Tso-tschuen sei sichtlich nicht das Sternbild,
das jetzt so heisse, sondern das jetzige Sehe, und hiess früher Ho
(Scorpion), Fang nur im Li-ki genannt.
20) Legge T. III p. 167 sagt irrig 2159 oder 2158. —Der Unter-
schied eines Jahres hier und sonst rührt nur daher, ob man das
Jahr von Christi Geburt als erstes mitrechnet oder nicht.
7 4 Sitzung der philos.-phüol Classe vom 1. Juni 1867.
Histoire de l'astronomie T. I p. 353 fg. wendet dagegen schon
ein, dass die angenommene Finsterniss nur klein war und
nicht geeignet, das Volk zu erschrecken. Eben so sagt Ideler
S. 324, sie betrug nur 1. Zoll und nach Largeteau bei Biot
Journal des Savans 1840 avril, der sich der verbesserten
Mondtafeln bedient hat, war sie in China gar nicht sicht-
bar und so auch nach Chalmers bei Legge T. 3 p. 168.
Die Chinesen schwanken selber in ihrer Bestimmung. Das
Bambubuch p. 119 setzt sie, wie gesagt, unter Tschung-khang
A. 5 im Herbste, im 9. Monate, am Tage Keng-siü, nach den
Cykluszahlen des Jahres und Tages den 28. October 1948,
wo es aber gar keine Conjunktion , geschweige denn eine
ecliptische gab. Y-hang unter der Dynastie Thang und Ko-
scheu-king unter der Dynastie Yuan behielten die Cykluszeichen
von Tag und Jahr des Bambubuches bei, nahmen aber an,
dass 3 Cyklus von 60 Jahren ausgefallen seien, eine, wie
schon oben angenommen, unter der Dynastie Tscheu und 2
unter der Dynastie Schang und erklärten sich für den 13.
October 2128. An diesem Tage war eine Finsterniss. Chal-
mers p. 102 fand, es gab Sonnenfinsternisse in oder beim
jetzigen Fang, d. i. dem Scorpion.2135 (oder 2136), 2127 (oder
2128) und 2108 (oder 2109), davon war die im Jahre 2127
(oder 2128) in China sichtbar. Rothmann, der sie 1837 in
den Trans, of the Astron. Soc. T. XI berechnete, glaubte
die Angabe der chinesischen Astronomen bestätigt zu sehen,
aber Largeteau bei Biot Journ. d. Sav. 1840 p. 241 , der
sie nochmals berechnete, hat gefunden, dass sie in China
unter 34° oder 35° Br. , wo der Kaiser seinen Hof haben
mochte, eben so wenig sichtbar war, als die Sonnenfinsterniss
vom 28. October 1948.
Mit dem Zusätze eines Cyklus von 60 Jahren zu den
Jahren des Bambubuches kommt man auf das Jahr 2007
(oder 2008.) »Die bedeutende von Cassini berechnete Fin-
sterniss vom Morgen des 25. October 2007 v. Chr. im
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 75
6. Jahre Tschung-khang's, welche FreretOeuvr. T.14p.U3— 173
für die richtige hält, und die noch Bunsen (Aegyptens Stelle
in der Weltgeschichte B. 5 Abth. 4 S. 285) annahm, verwarf
Gaubil p. 249 schon aus mehreren Gründen, besonders weil
sie sich nicht in der Station Fang zutrug, wobei er aber
bemerkte, dass die jetzige Bestimmung der Sieu oder Su,
die aus den Zeiten der Dynastie Han herrührt, auf die
frühere Zeit nicht sicher schliessen lasse. Auch diese war
aber, wie Largeteau sagt, der sie nach den jetztigen Tafeln
verificirt hat, in China nicht sichtbar. Nach allem diesen
weiss man keine Sonnenfinsterniss , auf die die Angabe des
Schu-king passte. Biot fitudes 377 fg. bemerkt, die secu-
läre Beschleunigung der mittleren Bewegung dieses Satel-
liten, die einen so grossen Einfluss auf die Berechnung
alter Ortsangaben habe, sei nach den Mondtafeln Damoi-
seau's und den Sonnentafeln Delambre's , die bisher die
genauesten waren, neuerdings von Adams in England und
Delaunay neuen Untersuchungen unterzogen und er hofft von
solchen künftig noch eine Bestimmung der im Schu-king an-
geführten Sonnenfinsterniss. Aber sie stimmen unter sich und
mit Hansen noch nicht völlig überein und ehe diese nicht
feststeht, ist nach Lamont an eine sichere Anwendung auf
alte chronologische Data nicht zu denken. Dennoch hat J. v.
Gumpach21) neuerdings den 22. October 2156 v.Chr. für diese
Finsterniss angenommen; in jenem Jahre falle der Winter-
anfang auf den 21. November und ebenso der Neumond. Der
vorhergehende Neumond des 22. October sei also in der That
der letzte des Herbstes und der erste Tag des 9. Monats des
Jahres; die Sonne stand 'am Ende der Aequatorial-Abtheilung
Fang, sie fiel in das 4. Jahr Tschung-khang's, ereignete sich
21) Ueber die älteste in der chinesischen Geschichte erwähnte
Sonnenfinsterniss , in dessen Grundzügen einer neuen Weltlehrc.
München 1860 B. 1 Anhang 3. S. 390 — 452. Sein Buch hat aber
bekanntlich Fiasco gemacht.
70 Sitzung der fMos.-pMöl. Classe vom 1. Juni 1867.
in der Höhe des Mittags zu Tschen-siin und war jedenfalls
sehr bedeutend und beglaubige so die überlieferte Chronologie
bis an das 23. Jahrhundert vor Chr. Es fehlen so bisher
uns die Mittel, die Dauer der 1. Dynastie Hia zu bestimmen.
Die recipirte Annahme rechnet 439 Jahre auf die Dynastie
Hia, das Bambubuch 431, die Note 471. Der Unterschied,
bemerkt Legge p. 86, ist nicht gross, obwohl sie nur in
der Dauer von 3 Regierungen übereinstimmen; Meng-tseu's
Angabe, von Yao und Schün bis Thang seien über 500
Jahre, begreife deren Zeit wohl nicht mit. Rechnete er auf
diese auch 150 Jahre, so seien es mit den 431—439 Jahren
unter 600; die gewöhnliche Annahme der Dauer der Dynastie
Hia zu 439 möge daher von der Wahrheit nicht ferne sein.
Was die beiden Vorgänger des Stifters der ersten
Dynastie Yü betrifft, so sagt der Schu-king I, § 12, dass Yao
70 Jahre regiert hatte, als er Schün zum Nachfolger be-
stimmte, er prüfte ihn nach II, 1 § 3 : 3 Jahre, nahm ihn dann
zum Mitregenten an und starb nach II, 1 § 13 und Meng-
tseu V, 1,4, 1: 28 Jahr später und 50 Jahr später dann Schün.
Die Regierung beider soll also 150 Jahr gedauert haben.
Darin stimmen Sse-ma-kuang und das Bambubuch p. 113 und
116 überein. Pan-ku (Tsien Han schu Liü li tschi hia B. 21
f. 15) rechnet nur 70 Jahre auf Yao's Regierung und 50
auf Schün's und lässt die 30 Jahre gemeinsamer Regierung
ausfallen. Diese lange Regierung und das hohe Alter, wel-
ches ihnen beigelegt wird, ist schon bedenklich, noch mehr
sind es die Genealogien der Stifter der 3 Dynastien, die alle von
Hoang-ti abstammen sollen. De Guignes (Mem. de l'acad.
des inscr. T. 36 p. 178) hat schon auf die Unwahrschein-
lichkeiten darin aufmerksam gemacht. Wir brauchen aber
hier nicht weiter darauf einzugehen. Der Schi-king Tscheu-
sung (IV, 4, 2, 4) feiert zwar schon den Heu-tsi, den Mini-
ster Yao's und Schün's, als den Ahn der 3 Dynastie Tscheu
und im Schang-sung (IV, 3, 4) ebenso den Hiuen-wang (d. i.
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte.
i i
Sie) als den Ahn der 2. Dynastie Schang, aber ohne Angabe
der Generationen, die man erst später hinzugesetzt haben mag.
Gaubil Tr. p. 255 setzt das erste Jahr der Dynastie
Hia 2191 v. Chr. und demnach das erste Jahr Yao's 2341
v. Chr., Lettr. ed. T. 14 p. 307-320 aber 2361; die reci-
pirte Meinung setzt es 2357, das Bambubuch 2145 v. Chr.
Gaubil bezieht sich für Yao's Zeit und deren Bestim-
mung nocli auf die Stelle im Schu-king Kap. Yao-tien I.
§ 3 fgg., wo Yao die beiden Solstizien und die beiden Aequi-
noctien nach den Constellationen, das Frühlings- Aequinoctium
nach der Constellation Niao, das Sommersolstiz nach der
Constellation Ho, das Herbst-Aequinoctium nach der Constel-
lation Hiü und das Wintersolstiz nach der Constellation
Mao bestimmt, aber Gaubil Tr. p. 258 sagt selbst, wenn
diese Stelle für ein hohes Alterthum der Himmelsbeobach-
tungen der Chinesen spreche, könne man aus ihr doch keine
bestimmte Zeitepoche gewinnen, denn es sei nicht gesagt, in
welchem Jahre der Regierung Yao's diese Bestimmung ge-
stroffen sei, und mau könne nicht sicher sein, dass man in
so alter Zeit bereits im Stande gewesen sei, genaue Beob-
achtungen zu machen, welche eine so grosse Präcision er-
forderten. Biot Etudes p. 363 fg. giebt die Uebersetzung
der ganzen Stelle von St. Julien. „Yao befahl dem Hi und
Ho, sorgfältig die Bewegungen von Sonne und Mond und
die Zwischenräume zwischen den Sternen zu beobachten und
die Zeiten und Jahreszeiten dem Volke kennen zu lehren.
Er befahl dem Hi-tschung zu weilen in Yü-i , genannt das
glänzende Thal, und da respektvoll wie einen Gast zu em-
pfangen die heraustretende Sonne und gleichmässig zu regeln
die Arbeiten des Ostens (Frühlings). Es ist da der Tag von
mittlerer (Länge) , der (cuhninirende) Stern ist Niao (der
Vogel) , um genau zu bestimmen . die Mitte des Frühlings.
Das Volk zerstreut sieh da; Vögel und Wild brüten und
paaren sich."
78 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
„Er befahl weiter dem Hi-tscho, zu weilen in Nan-kiao
(an der Südgrenze), um genau zu regeln, die Veränderungen
des Südens (Sommers) und ehrfurchtsvoll zu beobachten den
äussersten (höchsten) Punkt der Sonnenbahn. Man sieht da
(das Sternbild) Ho (das Feuer) , um genau zu bestimmen
des Sommers Mitte. Das Volk zerstreut sich da noch weiter ;
Vögel und Wild haben da ein dünnes Fell."
„Er erliess den Befehl an Ho-tschung, zu weilen im
Westen, in dem das dunkle Thai (Mei-ku) genannten Orte,
respektvoll zu geleiten die einkehrende (untergehende) Sonne
und zu regeln die Schlussarbeiten des Westen (Herbstes).
Die Nacht hat da eine mittlere Länge ; der Stern Hiü dient
zur Bestimmung der Mitte des Herbstes. Das Volk fühlt
sich wohl. Der Vögel und des Wildes Haare und Felle
sind in gutem Zustande."
„Weiter befahl er dem Ho-tscho, zu weilen in der Nord-
gegend, genannt die dunkle Residenz (Yeu-tu) , und dort
sorgfältig zu untersuchen den Wechsel des Nordens (Win-
ters). Der Tag ist da der kürzeste, der Stern Mao dient
zur Bestimmung der Mitte des Winters. Das Volk zieht
sich zurück, die Vögel und das Wild haben ein dichtes Ge-
fieder und Felle/'
„Der Kaiser sagte: 0 ihr Hi und Ho! ein volles Jahr
hat 366 Tage (eigentlich 365 '/*, das 4te Schaltjahr dann 366);
mittels des Schaltmonats stellt fest die 4 Jahreszeiten und
bestimmt genau das Jahr u. s. w."
Wir haben die Stelle vollständiger mitgetheilt als Biot,
was nöthig war; er lässt die populären Bezeichnungen der
4 Jahreszeiten nach dem Paaren, Mausern der Vögel u. s. w.
weg; die zeigen aber gerade, wie Legge Pr.p. 89 bemerkt, dass
hier nur von einer populären Anweisung, nicht von einer
exacten astronomischen Bestimmung die Rede ist. Wir fügen
nur das Notwendigste zur Erläuterung hinzu. Was die
Sternbilder betrifft, so ist Niao nach den Astronomen der
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. ,.;79
Dynastie Han das damals Sing genannte Sternbild, nicht
der Name eines Sternes , sondern eines Himmelsraumes,
welcher sich über 112 Grad erstreckt und 7 Sternbilder des
Süd-Quartieres begreift; man kann aber nur einen Stern in der
Mitte daraus hier annehmen. Ein gelehrter Chinese verstand
darunter den Stern Schin-ho, nach Legge das Herz der Hydra.
In der Anmerkung zu seiner Uebersetzung des Schu-king's
p. 4 sagt Medhurst: wenn beim Frühlings-Aequinoctium zu
Yao's Zeit das Herz der Hydra bei Sonnenaufgang culminirte,
so musste die Constellation im Meridiane Mittags , die Pleja-
den im Taurus (Stiere) sein. Da nun nach dem Zurückgehen
der Aequinoctien die Sterne des Thierkreises in 2000 Jahren
nur um ein ganzes Zeichen zurückgehen, so musste es vor
4000 Jahren sein, dass die Sonne beim Frühlings-Aequi-
noctium in den Plejaden stand, und diess bestätige die
Glaubwürdigkeit der recipirten chinesischen Chronologie;
denn 1800 n. Chr. waren die Plejaden 56 Va Grad von dem
Punkte entfernt, wo das Aequinoctium die Ecliptik durch-
schnitt, da das Aequinoctium jährlich 50Vio Minuten zurück-
gehe, erfordere das 4050 Jahre. Yao's Regierung endete
nach den Chinesen aber 2254 v. Chr.; dazu 1800 gebe:
4054 Jahre.
Der 2te culminirende Stern am Sommer- Solstiz Ho22)
(das Feuer), das Sternbild Fang unter den Han, war nach
Legge der Centralstern im azurnen Drachen (Tsang-lung),
der 7 Sternbilder des Ostquartieres begriff und dem Herze des
Scorpions entspreche. Nach einem chines. Schol. in der Ausgabe
des Schu-king von 1730 n. Chr. war die Sonne am Sommer-
22) Chalmers p. 92 bemerkt, dass noch unter der 3. Dynastie
Tscheu der H o ein wichtiger Führer zur Bestimmung der Jahreszeiten
war ; dies sehe man aus dem Tso-tschuen , Kue-iü und Schi-king
Pin-fung (I, 15, 1 p. 66).
80 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
Solstize zu Yao'sZeit im Sing (a. Hydrae Alphard), während
1730 n. Chr. im Tsui (X Orion).
Der 3te culminirende Stern Hiü war in der Mitte des
Hiuen-wu (des dunkeln Kriegers) , der die sieben Constella-
tionen des Nordquartieres begriff und entsprach dem ß des
Wassermannes. Nach dem chin. Schol. stand am Herbst-
Aequinoctium unter Yao die Sonne in Fang (ß d n q des
Scorpions), 1730 n. Chr. dagegen in J (a Crateris (Alkes).
Das 4te Sternbild Mao war im Centrum des Pe-hu
(weissen Tigers), welcher die 7 Sternbilder des Westquartieres
begreift und entspricht unsern Plejaden. Am Winter-Solstiz
stand nach dem chinesischen Schol. unter Yao die Sonne in
Hiü (ß des Wassermannes), dagegen 1730 n. Chr. in Ki (y des
Schützen23). Es wird aber immer die Frage sein, ob diese
Bestimmungen richtig sind ; nur 2, Mao und Hiü, finden sich
unter den Sieu wieder; Niao und Ho identificiren nur die
Ausleger aus der Zeit des Han mit dem damaligen Sing
und Fang24).
Die geographischen Angaben sind noch vager und noch
schwerer zu bestimmen. Die erste Yu-i kommt auch im
Kapitel Yü-kung (III, 1, 1, 23) vor. Einige setzen es nach
Teng-tscheu in Schan-tung, Legge p. 18 meint aber, es
müsse weiter östlich (?) in Corea liegen. Nan-kiao, der 2te Ort,
wird wohl mit Unrecht auf Annam oder Cochinchina ge-
deutet, weil diess auch Kiao-tschi hiess, allein diesen Namen
Querzehe hatten früher auch die Bewohner von Süd-China.
Den 3ten Ort, das dunkle Thal, im Westen setzt man nach
23) Diese Bestimmungen nach John Reeves Chinese Names
of stars and constellations in Morrison's chin. dict. P. II Vol. 1
p. 1063—1090.
24) S. A. Weber die vedischen Nachrichten von den Naxatra
Abh. der Berl. Akad. 1860. 4 S. 287 fg.
PJath: Chronolog. Grundlage der alten chines. Geschichte. 81
Schen-si und die dunkle Hauptstadt (Yeu-tu) im Norden
nach Pe-tscbi-li.
Biot £tud. p. 363 fg. meint auch noch, die 4 angegebenen
Sternbilder seien gerade die gewesen, worin 2357 v.Chr. die
Frühling- und Herbst-Aequinoctien und Sommer- und Winter-
Solstitzen sich befunden haben müssten. Erfunden könne
Confucius sie nicht haben, da zu seiner Zeit (500 v. Chr.)
die 4 Sternbilder des Schu-king nicht mehr die 4 Cardinal-
Punkte der Sonnenbahn bildeten. Das Winter-Solstiz z. B.
hatte das Sternbild Hiü (das22ste) verlassen, war durch das
21. Niü, worin es sich unter Tscheu-kung befand, gegangen
uud stand damals im 20. Sternbilde Nieu und so waren auch die
3 andern dieser Bewegung gefolgt. Confucius und seine
Zeitgenossen und eben so wenig die Astronomen der Dynastie
Han seien aber nicht im Stande gewesen , die frühere Stel-
lung derselben rückwärts zu berechnen. Ideler S. 104 sagt:
Ich habe die gerade Aufsteigung, welche die 4 Sterne vor
2000 Jahren hatten , berechnet indem ich die Vorrückung
der Nachtgleichen wie oben , und die Schiefe der Ecliptik
auf 24 Grad gesetzt habe. — Hiernach trafen das Sommer-
und Winter-Solstizium wirklich auf Sing und Hiü. das Früh-
lings - und Herbst - Aequinoctium gingen nahe vor Mao und
Fang her. Aber natürlich lässt sich umgekehrt auf eine so
schwankende Basis eine Berechnung der Epoche des Yao nicht
gründen, da es sich nur um ganze Stationen handelt u. s. w.
Eben so urtheilt auch Stuhr Untersuchungen über die Ursprüng-
lichkeit und das Alterthum der Sternkunde unter dkl Chinesen
und Indern. Berlin 1831 S. 28. Auch Chalmers p. 92 meint als
Bestätigung der Chronologie sei der Welrth dieser astrono-
mischen Angabe sehr überschätzt. Eine Tradition der Art
müsse der Verfasser des Kapitels Yao-tien wohl vorgefunden
haben. Yao möge die Bestimmung als Tradition überkommen
haben, denn sehen hätten 3 der Astronomen jene Sterne zu
Yao's Zeit nicht können, nur der nach Norden gesandte etwa.
[1867. II. 1.] 6
82 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
Weiter als Yao, wie schon zu Anfang bemerkt, wollen
wir liier nicht hinaufgehen. Wir wollen daher nur noch
hinzufügen, dass wenn Bunsen p. 281, wie de Maiila T. I
p. CXXVIII, noch sehr viel auf die angeblich überlieferte
Beobachtung einer Conjunction der 5 Planeten, unter
welchen Sonne und Mond genannt werden, unter Tschuan-hiü,
die nach Bunsen auf das Jahr 2375 v. Chr. zutreffe — de
Mailla T. I p. 34 setzt sie aber 2461 v. Chr.! — giebt,
Gaubil Tr. p. 269 und auch Chalmers bei Legge Prol. p. 101
schon bemerken , dass nur neuere chinesische Geschichten
von einer solchen Conjunction der 5 Planeten unter Tschuan-
hiü — das Jahr werde nicht angegeben — am Tage des
Li-tschün (15° des Wassermannes) im Sternenbilde Sehe
sprächen ; weder Pan-ku noch Sse-ma-tsien, noch irgend ein
Werk aus der Zeit vor dem Bücherbrande erwähnten sie,
sie sei nicht historisch, sondern eine erdichtete Epoche, die
man nicht verificiren könne ; Kirch und Cassini hätten sie
daher vergeblich zu berechnen unternommen. Ich finde sie
im J-sse B. 7 fol. 1 nur aus dem Werke Ku-sse-kao er-
wähnt ; es ist aber nicht nöthig , hier weiter darauf ein-
zugehen.
Ueberblicken wir die ganze Untersuchung, so
ergiebt sich, dass man bis zum 1. Jahre der Regentschaft
Kung-ho (841 v. Chr.) eine auch im Einzelnen sichere Chro-
nologie hat, und den Anfang der 3. Dynastie nach der re-
cipirten Meinung 1122 oder, wie Gaubil annimmt, 1111
v. Chr. noch mit ziemlicher Sicherheit wird annehmen können
und die Jahre der einzelnen Regierungen nur einzeln einige
Schwierigkeiten bieten, obwohl Legge p. 89 meint, das älteste
sichere Datum gehe nur bis 775 v. Chr. , das bestimmte
Jahr des Anfanges der 3. Dynastie Tscheu wisse man nicht.
Anders aber ist es mit der Chronologie der 1. und
2. Dynastie und der Zeit Yao's und Schün's bei den grossen
Abweichungen in den Angaben der Summen der Dauer der
Plath: Chronolog. Grundlage der alten chines Geschichte. 83
ganzen Dynastien und der der einzelnen Regierungen derselben
und dem Mangel an sicheren astronomischen und cyklischen
Anhaltspunkten, welche zur Feststellung derselben dienen
könnten. Legge meint, man könne nur den Anfang der 1.
Dynastie Hia in das 19. Jahrhundert und Yao und Schün
in das 20. Jahrhundert v. Chr. setzen. Man wird daher am
Sichersten gehen, wenn man, wo das genügt, bei solchen all-
gemeinen Zeitangaben stehen bleibt. Wenn wir , wo eine
bestimmtere chronologische Angabe nöthig ist, bei der reci-
pirtcn Annahme bleiben , so ist es daher nicht, weil wir sie
für sicher halten, sondern nur, um irgend eine relative An-
gabe zu geben , da wir ja wissen , dass auch unsere Zeit-
rechnung nach Christi Geburt nicht ganz richtig ist, sondern
freilich nur um mehrere Jahre fehlgeht.
Das Resultat unserer Untersuchung ist freilich ein mehr
negatives. Aber zu wissen, was man weiss und was nicht, und
auf welchem Grunde unser Wissen beruht, ist auch wissen.
Wo keine sichere Geschichtsüberlieferung ist, kann man keine
giben. Abweichende Angaben künstlich zu vereinigen, wird
oft viel Zeit und Kraft verschwendet ; das Gebiet der sichern
Geschichte ist aber so weit und gross, dass beide besser
auf deren Anbau verwendet werden.
6*
84 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
Herr Prof. Lauth trägt vor:
„Ueber den ägyptischen Ursprung unserer
Buchstaben und Ziffern".
(Mit einer Tafel.)
In unserer bewegten Gegenwart, wo die wichtigen Er-
findungen der Photographie, Telegraphie und Stenographie
Bild und Schrift mit früher nie geahnter Schnelligkeit ver-
vielfältigen und räumlich verbreiten, dürfte ein Rückblick
auf die Entwicklung der graphischen Kunst überhaupt am
Platze sein, um, wo möglich, der Genesis unserer Buch-
staben und Ziffern auf die Spur zu kommen. Schon der
äusserliche Umstand, dass wir bis jetzt keine älteren Schrift-
denkmäler kennen und besitzen, als die ägyptischen,
spricht zu Gunsten der Herkunft unseres Alphabets und
unseres Zahlensystems aus dem merkwürdigen und uner-
schöpflichen Nilthale.
Bereits im Jahre 1855 hatte ich in meinem Werke
„das vollständige Universalalphabet, auf der physiolo-
gisch-historischen Grundlage des hebräischen Systems zu
erbauen versucht" an mehreren Stellen den ägyptischen Ur-
sprung unserer Schriftzeichen wahrscheinlich gefunden z. B.
pp. 8 lin. 21—23, 151 lin. 3, 158 lin. 23, besonders p. 55
„das alte Buchstaben-System, (das ich den Aegyptern —
nicht wegen der Pyramidenform — Form ! — einstweilen
zuschreiben möchte etc.)". In meinem „Germanischen Runen-
fudark" (1857) konnte ich mich, weil bereits mit den Hiero-
glyphen beschäftigt, noch bestimmter ausdrücken p. 185:
„Diese (Griechen) aber empfingen die Schrift von den semi-
tischen Phoenikern, welche ihrerseits selbst wieder nicht die
ersten Erfinder der Schrift und (Ordner?) des Alphabets
hicro<ih7iuraT\[thoen{h liehr. \qricrh\hopt. \7atein.xr
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Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 85
gewesen sind, sondern Beides von den tiefsinnigen Aegyptern
empfangen haben':.
Das letzte Jahrzehend hat diese von mir zuerst ausge-
sprochene Ansicht hauptsächlich durch den Furtschritt in der
Entzifferung der hieratischen Papyrus so ziemlich zur all-
gemeinen Ueberzeugung erhoben , wenigstens unter den
Aegyptologen. So hat z. B. Brugsch in der Zeitschrift für
Stenographie (1864) die ägyptischen Buchstaben mit denen
des phoenikischen Alphabets zusammengestellt, nachdem
schon vorher Vicomte de Rouge 1859 in der Academie
des Inscriptions unter dem Titel: ,, Memoire sur Porigine
egyptienne de P aiphabet phenicien" die nämlichen Grund-
sätze veröffentlicht hatte. Letzterer stützte sich hiebei vor-
nehmlich auf die phoenikischen Schriftzüge des Sarkophages
von Aschmunezer im Zusammenhalte mit den sehr alter-
tümlichen Zeichen des hieratischen Papyrus Prisse,
welcher der XI. Dyn.. d. h. mindestens dem 25. Jahr-
hunderte vor unser er Zeitrechnung angehört. Die neueste
Arbeit des Herrn Francois Lenormant über den Ursprung
des phoenikischen Alphabets, meines Wissens mit dem prix
Volney belohnt, geht von dem nämlichen Standpunkte aus.
Die genannten Versuche geniigen wohl, um die Ableit-
ung der phoenikischen Schriftzeicheu aus dem Hieratischen
plausibel erscheinen zu lassen; allein zur Begründung einer
wissenschaftlichen Ueberzeugung sind sie bei Weitem nicht
ausreichend. Ich werde daher meine Untersuchung da, wo
ich sie vor zehn Jahren gelassen, wieder aufnehmen, die auf
der beifolgenden Tafel (A) befindliche Zusammenstellung im
Einzelnen besprechen, hiebei auf das Koptische die ge-
bührende Rücksicht nehmen, nach den Schriftcharakteren
die Frage wegen des ägyptischen Alphabets behandeln
und am Schlüsse auch die ohnehin naheliegenden Zahl-
zeichen beiziehen.
Wird durch meinen detaillirten Nachweis die Herkunft
86 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
des phoenikischen Alphabets aus der hieratischen Schrift
der Aegypter, wie ich hoffe, unzweifelhaft dargethan, so
lässt sich die Frage: was man von den vielgeplagten Namen
Aleph, Beth etc. zu halten habe, leicht dahin entscheiden,
dass sie nur Gedächtnisswörter mit den betreffenden
Anlauten sein können, und dass die Gestalt der ihnen ent-
sprechenden Schriftzeicheu nichts mit ihrer Bedeutung zu
schaffen hat. Nach dieser nicht unnöthigen Vorbemerkung
gehe ich zur Erklärung der einzelnen Buchstaben über,
wobei ich, wie auf der Tafel, die Ordnung des koptischen
Alphabets beobachte. Bekanntlich ist dieses, analog dem
Gothischen, das sich aus den Runen ergänzte, nichts
weiter als das griechische1), aber um sieben Buchstaben
vermehrt, welche, weil ihre Laute dem Griechischen man-
gelten, aus der demotischen Schriftart beigezogen wurden.
a. Prototyp ist der hieratische Adler oder Falke.
Welchen Namen dieses Schriftzeichen bei den Aegyptern
geführt habe, lässt sich jetzt noch nicht bestimmen; aber
so viel ist sicher, dass er nicht achom (aquila) geheissen
haben kann , weil dieses Wort stets mit dem vertieften ä
(dem Arme) anlautet. Eher liese sich an das koptische
atrocfj falco denken, wenn man es nur in älteren Texten
nachweisen könnte. Indess, die Frage nach den Namen der
Buchstaben wird weiterhin noch ausführlicher besprochen
werden, wo es sich um das ägyptische Alphabot handelt.
Für jetzt genügt die Thatsache , dass die Schreiber kopti-
scher Handschriften2) das aus dem griechischen Alphabete
entnommene A (*) durch Randverzierungen zu einem Adler
oder Falken gestalteten. Hiezu konnte sie nicht der
1) Daher die unverkennbare Aehnlichkeit des gothischen Alpha-
bets mit dem koptischen — beider Anfänge fallen der Zeit nach
fast zusammen.
2) Schwartze: „das alte Aegypten", am Ende.
Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 87
griechische Name aXcpcc, wohl aber die Erinnerung an den
Vogel ihres einheimischen Alphabetes veranlassen. Dieser
Umstand beweist, dass die Aegypter eigentliche Buchstaben
mit Eigennamen besassen.
b. Herr Brugsch hat das Zeichen mit der Lautung
vn dem b gegenübergestellt, sowohl aus palaeographischem
Grunde , als weil das koptische ßrpa (Bida) die Lautung
Vida behaupte. Allein das fragliche Zeichen, schon in den
Hieroglyphen äusserst selten, hat sich im Hieratischen und
Demotischen fast ganz verloren. Palaeographisch empfiehlt
sich ebensowohl der hieratische Ba-vogel, mit dem z. B.
das Wort ba die Seele (Horapollo's ßcct) geschrieben wird.
Was mich zu dieser von De Kouge zuerst aufgestellten An-
sicht besonders bestimmt, ist die Thatsache, dass in der
akrophonischen Litanei an die Hathor, welche Herr Mariette
zu Dendeiah entdeckt hat und die ich weiterhin wegen der
Alphabetsfrnge näher betrachten werde, der frLaut durch
eben diesen ba-\;oge\ vertreten ist. Uebrigens ist die Er-
weichung des b zu v eine ziemlich allgemeine Erscheinung
in der Linguistik.
g. Dem semitischen Gimel fand Brugsch meist ein
ägyptisches Zeichen entsprechend, welches eine Art Eimer
vorstellt. Die characteristischen Striche dieses Zeichens
finden sich in derselben Reihenfolge und Symmetrie, sämmt-
lich in dem Ghiniel der Quadratschrift wieder, welche in
diesem Bpeci eilen Falle eine sehr alterthümliche Form dar-
zustellen scheint. Wenn man aus dem Verschwinden des
ya/ijiia-Lautes in koptischen Wörtern bis auf wenige Spuren
(z. B. anuc = anok ich) den Schluss gezogen hat, dass den
alten Aegyptern der (/-Laut überhaupt fremd gewesen , so
vergisst man, dass sehr viele Gutturalen in die Quetschlaute
djandjia und c'ima übergegangen sind. Für die constante
Vertretung unseres Zeichens durch J citire ich blo^s De
88 Sitzung der philos.-philol. Gasse vom 1. Juni 1867.
Rouge's3) Ausspruch: „3 et £ (gh) sont presque toujours
renclus par" (folgt die Hieroglyphe, welche unserem dritten
Buchstaben entspricht).
d. Dieser Laut wird dem Altägyptischen ebenfalls ab-
gesprochen, weil er nur in griechischen Wörtern und Namen
nicht aber in eigentlich koptischen erscheine. Allein mit
grösserem Rechte als die Media d, könnte mau die Tenuis
t ihm absprechen, da die Kopten, obgleich tuv schreibend,
den Buchstaben doch Bau 4) benennen. Es ist eben im
Koptischen, wie in vielen andern Sprachen, Media und Tenuis
in einen Zwischenlaut übergegangen , den auch die Süd-
deutschen besitzen — ist aber desswegen der Unterschied
dreier Dentalen im Gothischen (d, t, th) ein willkürlicher,
oder nicht lautlich vorhanden gewesen? Zum Beweise aber,
dass bei den alten Aegyptern die Media d bekannt und
üblich war, erinnere ich bloss an die Bemerkung De Rouge's:5)
„le 1 est transscrit par (die Hieroglyphe Hand) avec une
preference marquee", sowie an die weitere Thatsache von
höchster Wichtigkeit für die Palaeographie, dass die hierati-
sche Hand (tot oder dod) mit dem hieratischen Mund (ro)
graphisch so sehr zusammenfällt , dass die gründlichste
Kenntniss der Gruppen dazu gehört, um sie nicht beständig
mit einander zu verwechseln. Wem fällt hiebei nicht die
Aehnlichkeit von Daletht mitResch~ ein? Diese einzige That-
sache dürfte genügen, den Ursprung der semitischen Buch-
staben aus dem Aegyptischen und speciell dem Hieratischen,
bereits als sehr wahrscheinlich zu empfehlen. Das Delta
heisst im Aethiopischen Dent.
e u. e. Die Kopten nennen diese zwei Buchstaben e* u. hida,
3) Chrestomathie egyptienne p. 30.
4) Tnki: Rudimenta linguae coptae sive Aegyptiacae (Rom. 1778).
5) pag. 33 seiner Chrestomathie.
Lairth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 89
genau dem Altgriechischen entsprechend und mit einer Andeut-
ung, dass ihnen die ursprüngliche Bedeutung des H als einer
Gutturalis, (wie im latein. Alphabete H) noch nicht entschwun-
den war. Die palaeographische Herleitung des phoenikischen he
und chet aus den hieratischen Zeichen (der maeandrischen Figur
und des sogenannten Siebes) kann daher, nachdem der laut-
liche Uebergang im Vocale durch anderweitige Analogieen
vermittelt ist, um so weniger eiuer Beanstandung unter-
liegen. Aber die Frage, ob die alten Aegypter unter ihren
phonetischen Hieroglyphen auch eine für den e-Laut gehabt
und gebraucht haben, ist damit noch nicht beantwortet.
Uebrigeus ist dieser Punkt dahin zu erledigen, dass dem e
ein o parallel zu gehen pflegt und dieses letztere in der
älteren Zeit eben so wenig sich ausgebildet hatte, als das
erstere. Die alten Aegypter kannten — und dieser Um-
stand spricht sehr zu Gunsten der Alterthümlichkeit ihres
Schriftsystems — nur die drei Grundvokale a, i, u, deren
pyramidale Entstehung ich am Schlüsse etwas gründlicher,
als es bisher geschehen ist, untersuchen werde. Die Zwischen-
vokale e und o inhaerirten entweder gewissen Consonanten,
o.ler sie blieben, weil in der Sprache nicht anlautend, unbe-
zeichnet. oder sie wurden in Ausnahmsfällen durch eigene
Zeichen ausgedrückt. Auf das e zurück zu kommen , muss
man es dem Altägyptischen einerseits absprechen, anderer-
seits ein Analogon dazu in dem Rohr blatte erkennen,
welches desshalb in gewissen Wörtern (z. B. atef im Vergleiche
mit tef Vater) als leichtester Vocal stehen und wegfallen
mochte. Verdoppelt ergiebt dieses Rohrblatt den Laut i
wie im Englischen ee = i6). Auch im Devanagari wird
das ursprünglich allen Consonanten nachschlagende a später
6) De Rouge findet es p. 26 seiner Chrestomathie wahrschein-
lich, dass das Rohrblatt allein schon dem i-Laute nahe gestanden.
90 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
zu o oder ö, während e und ö als Diphthonge zu betrach-
ten sind. Wie wandelbar die ägyptischen Vokale gewesen,
ergiebt sich aus der Präposition au (ad), die im Koptischen
zu 6 (e) geworden ist. Ob ein langes e allenfalls durch
Verbindung eines a mit i zu ai = e oder sonstwie hervor-
gebracht wurde, lässt sich jetzt noch nicht bestimmen. Das
tj von 'Aqöivöt] wird wenigstens einmal (Lepsius: Königs-
buch Nr. 695) durch ai bezeichnet.
so und ziäa. So nennen die Kopten den 6. und 7.
Buchstaben ihres Alphabets; in der Sprache selbst ist
ersteres nicht, sondern nur als Zahlzeichen für 6 gebräuch-
lich. Aber es verdient Beachtung, dass der Anlaut s, den
sie diesem Zeichen geben, ähnlich wie das griechische Ort
(ödT), dem semitischen sajin noch entspricht. Was das
Zeichen betrifft, das sogenannte iniörifxov ßav , so werde
ich unten beim fei darauf zurückkommen. Das dem Laute
des so (sajin) zu Grunde liegende hieratische Zeichen ent-
spricht palaeographisch dem Z ; es ist nämlich der junge
Adler, welcher nach Horapollo (II, 2) unter anderen Be-
deutungen auch die von ccqqsv jydrov hatte, was durch die
Texte bestätigt wird. Es wechselt dieses Zeichen häufig
mit den dem zade constant entsprechenden Homophonen,
die ich unter Djandja besprechen werde, gerade wie im
Semitischen sajin und zade7) sich beständig gegenseitig
vertreten.
thida. Dieser neunte Buchstabe, aus dem zangen-
artigen Werkzeuge entstanden, wechselt bisweilen mit dem
sogenannten Halbkreise (t) und dem Zeichen für den Laut
th, erscheint dagegen in gewissen Gruppen constant, also
7) Wenn im koptischen an z ehe (schola) ausnahmsweise ein
z erscheint, so lehren alte Inschriften z. B. das Ostrakon des Münchner
Antiquariums, dass dieses Wot in a-nt-sebe „Haus des Unterrichts-'
zu zerlegen und also z = ts zu lesen ist.
Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 91
als eigenthümlicher Laut, den ich mit dh umschreibe. Er
nähert sich palaeographisch dem d (Hand) r (Mund) so
wie dein aus dem segment de sphere entstandenen hierati-
schen Zeichen für t. (Dass letzteres nicht ins phönikische
Alphabet übergegangen ist. erklärt sich au? seiner Rolle
als Artic. femin. postpos. und weil es bisweilen stumm oder
expletiv ist). Desshalb ist der an der Biegung angebrachte
Strich, wenn auch nicht willkürlich, doch in gewissem Sinne
diakritisch und hat sich derselbe bis in's Demotische 8) herab
erhalten. Am deutlichsten zeigt sich dieser Strich in dem
dh des IVschito und des Kufi, weniger im phönikischen und
hebräischen dh B, weil in diesen beiden die Zange nach
oben gerichtet erscheint.
jauda. So nennen die Kopten das 'Iura — ob aus
Reminiscenz an den Namen des i in ihrem einheimischen
Alphabete? Wie schon oben bemerkt, entsteht das ägyp-
tische i durch Verdoppelung des Rohrblattes, im Demotischen
sind es drei senkrechte Striche, und erst aus dieser Form
scheinen sich das phoenikische, aramaeische und samara-
tanische i mit je drei Strichen zu erklären. Dagegen weisen
alle anderen Entwicklungen auf das Doppelblatt, beziehungs-
weise sogar auf das einfache Rohrblatt zurück, weil dieses
durch einen schrägen Querstrich in drei Theile zerlogt wird.
Es gab übrigens schon im Altägyptischen der Hieroglyphen
ein vereinfachtes i, nämlich zwei kleine schräge Striche (so
gestellt, um die Verwechslung mit dem Numerale für 2 zu
vermeiden) und diese bildeten in der mehr cursiven hierati-
schen Schreibweise einen zusammenhängenden Schriftzug.
aus dem sich alle andern Formen mit Leichtigkeit ableiten
8) De Ronge Chrestom. egypt. pag. 50. pl. II unter t hat dieses
demotische Zeichen nicht, sondern dafür das aus 1h entstandene.
92 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
lassen. Das aethiop. jaman „rechte Hand", hängt ver-
muthlich mit dem Kopt. ionam dextra zusammen.
Je, genannt kabba. Man hat bisher zwischen dem so-
genannten Henkelkorbe und dem hebräischen Kaph keine
rechte Aehnlichkeit entdeckt , die doch wegen der Laut-
congruenz zu erwarten stand, weil man die bekannten Ke-
phuloth oder Endbuchstaben nicht gehörig berücksichtigte.
Sobald man diess thut, entsteht eine nicht zu verkennende
Identität zwischen beiden. Im Koptischen c'ima (siehe weiter
unten) ist der K-Laut gequetscht, wie das italienische c und
daher die Entlehnung dieses Zeichens aus dem einheimischen
Alphabete, während für den Laut k das griechische Hanna
verwendet wurde. Dieses K mit seinen zwei Winkelstrichen,
wo man nur einen erwarten sollte, erklärt sich aus der
Quadratschrift, wo eine Basis hinzugefügt wurde, die dann
etwas höher hinaufrückte, z. B. schon im phoenikischen K.
In den älteren Inschriften z. B. der Pyramidengräber bilden
die beiden erhobenen Arme eine häufige Variante des Henkel-
korbes; später wechselt dieses Je mit dem winkelartigen
Zeichen für q. Dieser, obgleich seltenere Wechsel, sowie
die Gruppirung qk ist aus der Vermengung der gutturalen
Liquida mit der Tenuis gutturalis zu erklären, wie man
sich schon aus der Schreibung des Namens Scheschaq
überzeugen kann, der im Aegyptischen als Scheschaq und
Scheschanq erscheint, während ihn Manetho mit Säaoyx1?
umschreibt. Wenn daher das ägyptische Jwqer (fames) mit
unserm ..Hunger" stammverwandt sein sollte, so Hesse
sich der Mangel des n leicht aus der Natur der gutturalen
Liquida begreifen. Eben so erklärt sich das allmälige Ver-
schwinden dieser gutturalen Liquida aus dem Alphabete
durch die Neigung der Liquida n, sich selbständig zu machen.
Daher ward xonna im Griechischen nur als noch Zahl-
zeichen (iniörjfxov) für 90 gebraucht; die Kopten verwende-
Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 93
ten zu diesem Zwecke ihr fei, weil es palaeographisch mit
xonnu zusammenfiel.
I m n r. Diese vier Liquidae, von denen die erste
und letzte sich im Aegyptischen so häufig lautlich gegen-
seitig vertreten, liefern den augenscheinlichsten Beweis für
die Herkunft des phoenikischen Alphabetes aus dem Aegyp-
tischen. Was zuerst das l betrifft, so ist kein Zweifel, dass
der hieratische Löwe das Vorbild des Lamed Xd/iß6ce etc.
gewesen und es möchte sogar der koptische Name laula so
wie das aethiopische Lmvi noch eine Andeutung enthalten,
dass den späteren Aegyptern der Ursprung des betreffenden
Zeichens noch geläufig war. In der That mussten die Ge-
bildeteren, welche nach Clemens mit der demotischen Schrift
anfingen und durch die Mittelstufe des Hieratischen zu den
Hieroglyphen selbst aufstiegen, die ursprünglichen Bilder
wohl kennen und da labi oder lavi der Name des Löwen
war, so konnte mit Rücksicht darauf Xä(iß6a zu laula
werden. Dass die Nachteule (kopt. muladj) den m-Laut
bezeichnet, ist bekannt; ob aber der Name fiv (Kopt. mi)
aus dem semitischen mem verkürzt oder aus einem älteren
mu entstanden ist, lässt sich noch nicht entscheiden. Nach
Horapollo bezeichnet der vvxtix6qu% unter andern auch
xrävavog und die Denkmäler bestätigen diese Angabe, indem
die Nachteule, mit den Deutbildern der Erdscholle und des
abwehrenden Mannes oder dem Determinatice desUebels be-
gleitet, stets Tod oder sterben bedeutet (kopt. mu = mors
und mori). Die palaeographische Vermittlung zwischen der
hieratischen Nachteule und dem semitischen m ist einfach
und leicht zu finden; man braucht nur die ältesten Formen,
die im Papyrus Prisse nebeneinander vorkommen, in ihrem
oberen Theile zu combiniren und zu bedenken, dass das m
der Quadratschrift, (sogar das Kephuloth-w) einen unteren
Querstrich als Basis erhalten hat. Dasselbe gilt vom nun,
nur dass das Kephuloth-M diesen unteren Querstrich nicht
94 Sitzung der philos -philöl. Classe vom 1. Juni 1867.
aufweist, wie es auch in der Ordnung ist. Denn das n ent-
steht palaeographisch aus der Wellenlinie, die im Hierati-
schen zu einer wagrechten Geraden wird, nur dass Anfang
und Ende gewahrt sind, woraus dann ein gezogenes nj
sich mit Notwendigkeit ergab. Unser deutsches Schreib-«
ist sogar zufällig wieder zu der wellenförmigen Linie zu-
rückgekehrt. Der Name nun (vv kopt. ni) könnte daher
recht gut altägyptisch sein, da nach Morapollo (I, 21), den
Denkmälern und dem Koptischen vovv oder vov den Nil9)
oder abyssus überhaupt bedeutet. Ueber r als Vertreter
des l habe ich schon oben gesprochen und werde weiter
unten darauf zurückkommen.
exi und ebsi. Diese beiden Doppelkonsonanten , dem
£ und xp entsprechend, finden sich natürlich im Altägypti-
schen nicht; sie sind ja auch im griechischen Alphabete
eino ziemlich späte Erscheinung. Aber £ nimmt die Stelle
des samech ein, dessen Name (ö(yiia) das alte Oa'v ver-
drängt hat, und es fragt sich daher, welches hieratische
Zeichen dem alten Samech entspricht Lässt man vom
samech der Quadratschrift die Basis weg, so entsteht ein
Zeichen, das dem hieratischen siphon genau entspricht und
sich dem aramäischen samech auffallend nähert. Anderer-
seits wird das hieratische Zeichen zu dem sogenannten
nX6xccf.wg oder S neben 2. Auf einen ähnlichen Vorgang
weist der Gebrauch eines Schlussö/y^ta g neben (7, so wie
unser langes f neben s.
s. Für den s-Laut verwendeten die Kopten das Otypcc
lunatum (C) unter der Benennung sima. Es scheint, dass
die graphische Verwandtschaft des C mit dem c'ima auch
9) Mit Hinzufügung von hei (her = superior) wird daraus Nuhel,
Nahal, Nellos. i
Lautlr. Der ägypt. Ursprung unterer Buchstaben etc. 9;>
die Namens form ung beemflusst hat. Hier will ich nur noch
darauf hinweisen, dass der Vorschlag eines Vokales vor
Sibilanten am Anfange eines Wortes, wie er im Koptischen
so häufig erscheint, auf eine alte Gewolmheit zurückgibt n
könnte, nach der wir den Buchstaben ebenfalls es, nicht se
zu benennen pflegen.
o. Dum semitischen Ain (Oin) y entspricht in Trans-
scriptionen von Namen constant der ägyptische Arm, dessen
Biegung am Ende zu der runden Form unseres o geführt
hat. Das Wort äni, dem hebr. ]"# entsprechend, erscheint
mit der nämlichen Bedeutung (Auge) schon sehr frühzeitig.
p. Alle Formen des semitischen pe entstammen dem
hieratischen Bilde der Matte, besonders wenn man das
Kephuloth-^) berücksichtigt. Es ist nicht ein conventionelles
Bild des Himmels , wie ich selbst früher 10) mit Anderen
angenommen hatte, weilte (im Koptischen „der Himmel")
durch seine Gestalt an das II der Griechen erinnert, sondern
ein Geflecht mit Abtheilung in der Mitte, wie man es unter
den Bastarbeiten noch antrifft. Der homophonisch dafür
eintretende Vogel mit ausgebleiteten Flügeln wurde dem
hieratischen Ja- Vogel zu ähnlich, als dass nicht daraus schon
in uralter Zeit Verwechslungen entstanden sein sollten.
Ueber die nach pe folgenden zaäe und qopli vergleiche man
das oben Gesagte und das weiterhin unter c'ima Beizu-
bringende.
ro. So nennen die Kopten mit den Griechen (qm) den
dem semitischen resch entsprechenden Buchstaben Es ver-
dient gewiss Beachtung, dass der Mund, dessen Bild die
Hieroglyphe und das daraus entstandene hieratische Zeichen
darstellt, im Koptischen noch ro heisst. Ueber die graphische
Verwandtschaft dieses Buchstabs habe ich oben gesprochen,
10) Universal- Alphabet p. 61.
96 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 1, Juni 1867.
ebenso über die gegenseitige Vertretung von l und r. Im
Demotischen wird der Löwe, als einfacher schräger Strich
gebildet, auch zur Bezeichnung des Wortes re (pars) ver-
wendet und erzeugt zuletzt den Bruchstrich, dessen wir
uns fortwährend bedienen, wie denn auch ein hieroglyphisches
/3 = ]/3 ist.
t. Der Name tav wird von den Kopten äau lautirt,
woraus aber gegen die ursprüngliche Geltung des t als
einer tenuis nichts gefolgert werden darf. Denn das hiera-
tische Zeichen, welches ich dem n gegenübergestellt habe,
entspricht diesem palaeographisch und phonetisch zu regel-
mässig, als dass man ihrer Identität zweifeln dürfte. Mit
den sonstigen Uebergängen in verwandte Dentalen habe ich
mich hier nicht zu befassen, nachdem ich oben unter thida
das Nöthige beigebracht habe. Dass Thav nicht das Kreuz
bedeutet hat, wenigstens nicht im Aegyptischen, und dass
es daher nicht nothwendig den Schluss bezeichnet, um, wie
man gemeint hat, die Signatur des Alphabet-Erfinders vor-
zustellen, lehrt ein Blick auf das betreffende hieratische
Zeichen. Es scheint eine Art Beutel zu sein, und dann
liesse sich das koptische thevi (loculus) zur Erklärung bei-
ziehen.
v. Das v ipdöv benennen die Kopten he, wohl nur dess-
halb, weil v als Anlaut im Griechischen nie ohne den Spi-
ritus asper auftritt. Dass v ursprünglich die Lautung u
gehabt, beweist die Stelle dieses Buchstabs im lateinischen
Alphabet hinter t, nicht minder aber auch die sprachliche
Analogie, wonach u zu ü (v) wird, so dass man dann geuöthigt
ist, aus o -f- v = ov sich ein neues Zeichen für den £7-Laut zu
formiren. Dieses nahmen die Kopten mit dem griech. Alphabete
herüber obgleich ihre einheimische Schrift ein eigenes und
einfaches Zeichen für den w-Laut gehabt haben muss, da
er noch im koptischen Lexikon statistisch der häufigste
Vokal ist. In der That zeigen die altägyptischen Wörter fast
Laitth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 97
sämmtlich den Vocal u und zwar unter der Gestalt des
Pharaonenhühnchens, wie ich schon früher11) behauptet
hatte. Vergleicht man nämlich die hieratische Form dieses
Vogels mit V und Y, so wird die grosse Analogie derselben
einleuchten. Wie es gekommen, dass dieser Vokal aus dem
semitischen Alphabet verschwunden ist und in dem akro-
phonischen Psalme durch eine Wiederholung des pe nur
schwach augedeutet ercheint, habe ich ebendaselbst erörtert:
die nahe lautliche Verwandtschaft mit dem Faf (ßccv) be-
wog dazu ; sie ist auch Schuld, dass wir dem v noch immer
den Namen vau beilegen.
Ueber phi, chi, ebsi (xpi) und eo fxeyu brauche ich hier
nichts zu sagen : ihre graphische Entstehung durch Differen-
zirung, Entlehnung der Zahlzeichen oder Verdoppelung habe
ich im Universal-Alphabete zur Genüge behandelt. Es ver-
steht sich von selbst, dass wir die Prototype dieser Buch-
staben nur im semitisch-griechischen , nicht aber im alt-
ägyptischen Alphabete zu suchen haben.
Es folgen nun die sieben letzten Buchstaben des kopti-
schen Alphabets, d. h. diejenigen, welche, weil speeifisch
ägyptische Laute vertretend, die das Griechische nicht be-
sass, aus dem einheimischen Alphabete entnommen wurden.
Wie sicher man hiebei verfuhr, beweist am besten das zu-
nächst folgende schei. Die Griechen hatten diesen breiten
Zischlaut aufgegeben, aber das dorische o~aV, das später als
im'örjfiov für 900 verwendet wurde , was ist es anders als
W ? Die Kopten griffen auf ihr schei zurück, weil sie ein
Zeichen für diesen in ihrer Sprache so häufigen Laut nöthig
hatten, gerade wie Cyrillus für die slavischen Idiome das
hebräische schin entlehnte. Dass dieses slavische seh an
Gestalt dem koptischen schei so identisch ist, rührt daher,
11) Universal- Alphabet pag. 17.
[1867. II. 1.]
98 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
weil auch das semitische seh, wie das koptische, aus dem
hieratischen entnommen war. Dieser Buchstabe bildet einen
starken Beweis für die Herkunft des phoenikischen Alpha-
bets aus dem ägyptischen.
Nicht minder das nun folgende fei. Aus der gehörn-
ten Schlange (xsoaOTrjg) entwickelte sich ein hieratisches
Zeichen, welches dem Faf (l), dem sogenannten Digamma
(richtiger Bccv), dem lateinischen F, dem runischen fey
ebenso zu Grunde liegt, wie dem koptischen fei. Dagegen
ist der nächste Buchstab, nämlich das chei (khei), zum
Ausdrucke der starken Aspirata gutturalis bestimmt, von
X? etwas verschieden, und da die Aspiraten sich auch im
Griechischen erst spät entwickelt haben, auf das ägyptische
Sprach- und Schriftgebiet eingeschränkt gewesen. Hier aber
treffen wir das Zeichen in doppelter Geltung: als Buchstab
und als Zahlzeichen für 1000 mit der Lautung scho, also
sibilirt. Auch palaeographisch erleidet es in letzterer Be-
ziehung eine grössere Veränderung, sobald die Zahlen
2000—9000 dadurch ausgedrückt werden. Aber als Buch-
stab Jchei ist es fast unverändert aus dem ägyptischen in
das koptische Alphabet übergegangen.
An dieses Jchei schliesst sich h mit dem Namen hori.
Es ist vorderhand noch zweifelhaft, ob das koptische hori
aus der maeandrischen Figur oder aus dem sogenannten
Stricke sich' entwickelt hat; vielleicht verhilft uns in der
nächsten Abtheilung sein Name auf die richtige Spur.
Nunmehr kommen zwei Quetschlaute: djandja und
c'ima. Ihre nahe Verwandtschaft wird durch ihren häufigen
Wechsel nahe gelegt; dass aber ursprünglich eine grössere
Verschiedenheit zwischen beiden bestanden hat, beweisen die
älteren Inschriften, wo ihre Prototype niemals wechseln. Es
ist nämlich die Hieroglyphe, aus der das djandja entsprun-
den ist (Champollion übersetzt den Namen mit „Demoiselle
de Nubie") der constante Vertreter des zade. Aber palaeo-
Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 99
graphisch ist zach, besonders in seiner Kephuloth-Form y,
diu Schlange (djatfi) , welche als Homophone für eben
jenes djandja, sowie für das oben erläuterte Prototyp des
sajin einzutreten pflegt. Erst in der jüngsten Epoche steht
bisweilen, z. B. gerade in dem Namen der Schlange (djatfi)
der Anlaut c' (c'atfi), aus welchem urspiünglichen K-Laute,
wie im Italienischen, der Quetschlaut geworden ist. Daraus
erklären sich alle gegenseitigen Vertauschungen in befriedi-
gender Weise.
Den Schluss des koptischen Alphabets bildet dns dei,
ein Syl benzeichen, analog dem thav des semitischen
Alphabets, aber durch seine Syllabität auf den alten Cha-
rakter des ägyptischen Alphabets als eines Syllabariums
noch deutlich hinweisend. Die Aussprache di, welche Tuki
dem Zeichen giebt, wird jetzt allgemein angenommen gegen
die frühere ti, welche aus der unrichtigen Annahme einer
Ligatur aus T -f- I entstanden war. Dieses Sylbenzeichen
di ist das nämliche, von welchem Diodor (III, p. 101 Steph.)
spricht mit den Worten: ,,r&Jv d'dxQooTrjoieov r> iitv öi-^ia
rovg dccxTvXovg ixTiraiurovg s%ovGct Gr^ucch'fi ßi'ov Tto-
QiOfiov". In der That bedeutet di (früher da) beständig
dare, oder vielmehr didorai und ti&tircti zugleich , wie ja
auch das lat. do beide Bedeutungen enthält (z. B. in ab-
scondo).
Mit der Annahme des griechischen Alphabets haben
also die Kopten nur ein uraltes Eigenthum ihrer Vorfahren
wieder an sich gezogen und mit den nöthig gewordenen Zu-
sätzen aus eigenem Schütze versehen, sich daraus ein Al-
phabet gebildet, das auch uns bedeutsame Winke für das
gäyptische Alterthum gibt.
7*
100 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
Indem ich nunmehr zur Beantwortung der Frage über-
gehe, ob die alten Aegypter ein Alphabet, wenn auch vor-
erst nur in dem Sinne eines Syllabar's, gekannt haben, ver-
hehle ich mir die Schwierigkeiten des Unternehmens keines-
wegs. Uebrigens dürfte der Umstand , dass uns zuletzt
sieben Buchstaben mit Eigennamen begegnet sind, ein
günstiges Vorurtheil für die bejahende EntscheiduDg bilden.
Von dem letzten Zeichen dei ist es gewiss, dass es der
alten Schrift entnommen ist ; nur der Punkt bleibt zweifel-
haft, ob zur Zeit der Entlehnung des griechischen Alphabets
durch die Kopten die media dentalis nur noch mit dem in-
haerirenden Vocale * vorkam, oder ob sie auch sonst noch
gebräuchlich war. Der auf speciell griechische Wörter ein-
geschränkte Gebrauch des J (d) beweist, dass ein da, de,
do, du nur in dem Sinne gelten konnte, als sie, wie xav
zu dau, von der Tenuis zur Media gesunken waren. Weit
entfernt also, dass die koptische Sprache der Media entbehrt
hätte, besass sie dieselbe sogar in grösserem Umfange , als
das Altägyptische. Um die verwickelten Erscheinungen des
Wechsels der Dentalen etwas besser zu begreifen, darf man
auch nicht vergessen, dass sich frühzeitig dialektische Ver-
schiedenheiten ausgebildet hatten, so dass z. B. dem the-
banischen (sahidischen) p, k, t oft ein memphitisches <p x,
■fr entspricht , während die baschmurische Mundart dem r
der beiden andern Dialekte fast regelmässig ein l gegen-
überstellt.
Es wird uns jetzt vielleicht der Name hori etwas ver-
ständlicher werden. Unter den Neuern hat Lepsius 12)
dieses hori auf den Namen des Horus gedeutet und ich
war früher selbst13) geneigt, diess anzunehmen, weil auch
12) Zwei sprachvergleichende Abhandlungen p. 68.
13) Universal-Alphabet p. 168, 169.
Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 101
im Aethiopischen der erste Buchstab hol heisst. Allein ich
verhehlte mir nicht, dass im Armenischen das Alphabet mit
aib oder ipe beginnt, welches zu nahe an den von Plutarch
als ersten Buchstab des ägyptischen Alphabets genannten
Ibis anklingt. Allerdings treffen wir den Namen Horus auch
phonetisch geschrieben, aber meist wird er durch sein Sym-
bol, den Sperber, vertreten, der nicht zu den alphabetischen
Zeichen gehört. Ich glaube desshalb, dass wir, wie beim
dei, den Namen hori als das nomen proprium des Zeichens
selbst zu betrachten haben. Unter dieser Voraussetzung
bietet sich das in den koptischen Compositis hre-schi, (tor-
ques) eigentlich funis mensurae — und smchie-hrei (catena)
eig. longitudo funis erscheinende hrei als passendes Substrat
für das strickartige Zeichen, aus dessen demotischer Form
sich das koptische hori leicht entwickeln mochte.
Halten wir diesen Gedanken fest, dass die Namen der
Zeichen von der bezeichneten Sache hergenommen wurden,
so wird sich jetzt auch c'ima erledigen. Im Koptischen be-
deutet c'oome tortum esse und wirklich ist der II enkel-
korb, das Prototyp des Buchstabs c'ima, ein Geflecht, ge-
rade wie der Halsschmuck nebt {nebti = implexio filorum,
opus contextum) dargestellt wird, der bekanntlich die Sylbe
neb in Nexzareßcog ausdrückt. Dieser Parallelismus gereicht
dem c'ima zu einiger Empfehlung.
Schwieriger ist die Herleitung des Namens djandja. Die
„demoiselle de Nubie" kann natürlich nicht befriedigen. Der
Gegenstand selbst, den die Hieroglyphe vorstellt, scheint ein
Gewächs zu sein, das sich aus einer Ebene mit Seitenlappen
erhebt. Sonderbarerweise klingt hier das £i£dnov (lolium)
verführerisch an, und wenn auch das nämliche Kraut im
Koptischen entedj (dj^ntedj) lautet, so wäre es immerhin
denkbar, dass £i£dnov für ein älteres ^dv^iov stünde, wel-
ches dem djandja sehr nahe kommt.
Das mit diesem djaudja homophone c'atfi (Schlange), das
102 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
Vorbild des semitischen zade, erscheint im koptischen Al-
phabete nicht mehr, theils weil es durch djandja schon ver-
treten ist, theils wegen seiner partiellen Ersetzung durch
zida {t,vxa).
Der Name fei für die gehörnte Schlange {xegäör^g)
ist mir im Demotischen 14) und zwar in der Verbindung
sechi en fei = fei (bilis) serpentis", unter der Reduplicativ-
form fetfet 15) als Variante zu catfi und hofi (o<pig) begegnet.
Die nasalirte Form, welche die häufigste ist, lautete fent
(vermis). Alle drei Gruppeu sind durch die gehörnte
Schlange determinirt. Es scheint mir daher, dass der ältere
Name dieses Buchstabs fent gewesen ist.
Das schei stellt eine mit Blumen und Knospen bewach-
sene Fläche dar. Da nun sc7ie und sehe planta und hortus
bedeuten, so brauchen wir nach einem andern Etymon nicht
weiter zu suchen.
Eben so sicher ist hhei (chei) eine Pflanze mit riegel-
haubenartiger B.üthe. Der Umstand, dass dieses Zeichen,
wo es für die Zahl 1000 gebraucht wurde, in die Sibilation
übergetreten ist (scJio = mille). während es als Buch-
stabennamen constant hhei lautete, bestimmt mich, es in
dem so häufigen lihani (vegetabile) wieder zu erkennen,
welches in den ägyptischen liecepten, besonders bei der
Summirung der Ingredienzien, regelmässig getroffen wird.
Sind die bisherigen Ableitungen der Namen aus den
bezeichneten Gegenständen nicht von der Hand zu weisen,
so wird es nunmehr gestattet sein, die Gesammtheit der
phonetischen Hieroglyphen nach Art eines Alphabets mit
ihren Eigennamen vorzuführen. Ich befolge hiebei immer
noch die koptische Ordnung.
14) Papyr. gnost. Leydens. col. XVII.
15) Todtenbuch cap. 154 col. 8.
Laiith: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 103
0. a. Das Rohrblatt aki (kopt. ake = calaraus) zur
Bezeichnung des kurzen Urvokales, das Prototyp des durch
Verdoppelung daraus entstehenden i. Ich habe ihm dess-
halb keine eigene Nummer gegeben.
1. ä. Der Falke afrodj, oft durch das Rohrblatt ein-
geleitet: aä.
2. b. Der i?a-Vogel, als dessen Vertreter und Ein-
leiter oft das Bein, manchmal auch der Hauswidder (ba-
em-pe) erscheint. Von den in der jüngeren Epoche auf-
tretenden Varianten für diese und andere Hieroglyphen ist
hier nicht der Ort zu handeln. Ich habe in einem Auf-
satze16) gezeigt, dass sie einer sehr alten aenigmatischen
Schriftart entnommen sind.
3. g. Der Gegenstand gat, in dem demotischen Texte
der Inschrift von Rosette öfter für vadg gebraucht. Er
könnte übrigens auch einen Eimer17) vorstellen, und dann
wäre das koptische Tcadji situla zu vergleichen.
4. d. Die Hand dod. Im jüngeren Dialekte 18) sogar
zu djidj gequetscht. So ist z. B. sim-en-g'ig' mit der grie-
chisch sein sollenden Uebersetzung N TAKT versehen, wel-
ches man zu ,,sim JV rfaxrwAog" zu ergänzen und zu ver-
bessern hat. Es ist nämlich die Pflanze Digitalis gemeint.
Man sieht, wie dem koptischen Schreiber sein erstes tav = (7
lautete.
5. e. Die maeandrische Figur mit dem Namen hau,
kopt. liyc = mansio.
6. dj. Der junge Adler mit der Aussprache dje {dg-
Qsvoyovog), dem sajin und zida entsprechend.
16) Zeitschrift für aegypt. Sprache und Altertumswissenschaft.
April 1866.
17) Wie Pap. d'Orbiney: „ein Eimer (gai) frischen Wassers", wo
Chabas Melanies II, 245 ,.plat d'eau fraiche" übersetzt.
18) Papyr. gnost. Leyd. Col. VIII lin. 6.
104 Sitsung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
7. eh. Das Sieb oder der Rost eher (chera bei Kir-
cher craticula).
8. dh. Dieser Laut wurde später fast immer gequetscht,
daher dJii (capere) zu dji ward und das Instrument dhi
(forceps die Zange) im Koptischen zu edjo, edju, edjau.
9. i. Der Anlaut i kommt eigentlich nur in den zwei
Zeitwörtern i(u) gehen und iä waschen vor ; denn Wörter
wie iuma = mare (Dt') sind entlehnt. Aber eine Stelle
des Todtenbuchs (c. 102,4) und ein geschichtlicher Text 19)
bieten ein Substantivum iu, determinirt durch die Aehre,
ein Holz oder ein Gerüst. Da nun iot im Koptischen hor-
deum bedeutet und die Soldaten das Doppelgewächs des «',
wenn auch in symmetrischerer Ordnung , auf dem Kopfe
tragen, so scheint dieses iu mit der Bedeutung insigne der
Name des Buchstabs gewesen zu sein.
10. q (ng). Der Winkel Kopt. höh (kenhe, keldje).
Vergleiche weiter unter Nr. 25 c'ima.
IIa. I. Der Name labi (Löwe) klingt noch im kopt.
laula nach.
12. m. Die Nachteule mulag', vielleicht ein Composi-
tum mit dem einfacheren und älteren mu.
13. n. Die Wellenlinie mit der Lautung nu oder nun.
14. s. Entweder as der Sitz, oder die Stuhllehne, die
im kopt. soi dorsum erhalten sein könnte, für das siphon-
artige Zeichen. Für den Riegel sbe pessulus. Vergl. das
Aethiop. sät.
15. o. Die Phonetik des Armes ist noch nicht er-
mittelt. Doch könnte dreh concludere, vergl. mit armus, zu
Grunde liegen.
16. p. Der mit pa oder pu bezeichnete Gegenstand,
19) Dümichen: Histor. Inschriften. Taf. V, col. fi2.
Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 105
eine Art Matte aus Bast, könnte mit pors oder presch storea
zusammenhangen.
IIb. r. ro „Der Mund" hat offenbar dieser Buchstabe
geheissen.
17. t. Ich habe oben thevi loculus vermuthet. Der
Halbkreis tritt sowohl für t, als d, als die Aspiraten dh
und th ein. Seine ursprüngliche Bedeutung noch unermittelt,
vielleicht ihha tumulus.
18. u. Das Pharaonenhühnchen mit der Aussprache ui,
vielleicht in ui „alere" educare des Koptischen der Wurzel
nach bewahrt.
19—26. Die sieben oben ausführlich erläuterten Namen
von schei bis dci. Da letzteres ein Sylbenzeichen , und l
mit r homophon, so ergiebt sich die Zahl von 25 eigent-
lichen Articulationen oder Buchstaben.
Die hier unabhängig gewonnenen Laute, 25 an der
Zahl, werden sofort die Stelle Plutarch's 20) in das Gedächt-
niss rufen, wo er sagt, „die Fünf (aber) bildet ein Quadrat
(25), so gross als die Menge der Buchstaben bei den Aegyp-
tern ist"". Man hat dieses Zeugniss auf das Alphabet der
christlichen Kopten bezogen, ohne zu bedenken, dass der
Schriftsteller diese Zahl von 25 Buchstaben mit den Lebens-
jahren des Stieres Apis, also eines heidnischen Götzen, zu-
sammenstellt. Auch zeigt das kopt. Alphabet 31, nicht 25
Buchstaben. Nach meiner oben gegebenen Untersuchung
wird man daher um so geneigter sein, die Stelle Plutarchs
auf das altägyptische Alphabet zu beziehen, als ohnehin
20) De Is. et Osir. c. 56. Vergl. mein Univ. Alphabet p. 167.
106 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
ausser den 25 phonetischen Hieroglyphen meines
Verzeichnisses keine weiteren Zeichen vorkommen}
die man eigentliche Buchstaben nennen könnte.
Hatte Champollion noch mehrere Hundert angenommen, so
wurde diese Ueberzahl durch Lepsius21) auf ein beschei-
denes Maass zurückgeführt. Wenn aber dieser Forscher
und andre AegypJoVgen in neuerer Zeit die altägyptischen
Articulationen auf 16 oder 15 reduciren, so kann ich aus
obigen Gründen ihnen nicht folgen22).
Hiemit ist die Frage, ob die alten Aegypter ein wirk-
liches Alphabet gekannt haben , so ziemlich in affirmativem
Sinne entschieden, selbst wenn man die Herleitung der
phoenikischen Zeichen aus den hieratischen nicht gelten
lassen wollte. Mit der Existenz des Alphabetes ist aber
zugleich eine gewisse Ordnung der Buchstaben bedingt. Es
erhellt diess zunächst aus einer andern Stelle Plutarch's23),
wo er sagt, dass ,,die Aegypter dem Hermes (Thod) als
dem ersten Erfinder der Schrift zu Ehren den Ibis (sein
Symbol) als ersten Buchstab schreiben".
Diese Worte haben eine mehrfache Auslegung erfahren.
Birch. der verdienstvolle Aegyptologe 24), erklärte sie aus
der Schreibung des Wortes aah (kopt. ioh) Lunus , wie der
Gott Thod so häufig genannt und alsdann mit einer Mond-
scheibe oder Mondsichel auf seinem Ibiskopfe ausgezeichnet
wird. Jenes aäh wird geschrieben mit Rohrblatt Arm Kette.
Allein das ist nicht der Name des Ibis. Ueberhaupt ge-
21) In seinem Briefe von J. 1837 an Rosellini in dem Bulletino.
22) Aehnlich hatte man früher das nordische Futbork von 16
Runen für älter gehalten als das von 24, bis ich den entgegen-
gesetzten Sachverhalt aufzeigte.
23) Sympos. IX. 3.
24) In seiner Introduction to the study of hierogl. Anhang zu
Wilkinson's ,,Egypt in the time of the Pharaohs".
Laath: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 107
hört der Ibis nicht zu den phonetischen und alphabetischen,
sondern zu den symbolischen Hieroglyphen. Dazu kommt.
dass die Auffassung des ägyptischen Hermes als einer Mond-
gottheit (Lunus) sich nicht sehr hoch in's Alterthum zurück
verfolgen lässt. Auch aus diesem Grunde muss man also
den ääh als ersten Buchstab aufgeben.
Die zweite Ansicht, welche H. Deveria aufgestellt hat,
bezieht sich auf die hieratische Schreibung des Ibis, näm-
lich "mittels eines Zeichens, das dem hieratischen Rohrblatte
identisch zu sein scheine. Sie kommt der Wahrheit schon
um desswillen näher, weil wir bisher die hieratischen
Zeichen massgebend gefunden haben. Demnach würde also
Plutarch entweder gesagt haben: ..Das Alphabet beginnt
mit dem Rohrblatte, welches die Lautung a hat", oder:
„An der Spitze des Alphabets steht der hieratische Ibis"
— ob aber als Buchstabe? Wenn irgendwo in einem Texte
das ägyptische Alphabet als solches aufgeführt wurde, so
ist kein Zweifel, dass es als Erfindung des Ibis-Thod dar-
gestellt wurde, der ja beständig „Herr der göttlichen Worte"
betitelt wird.
Eine dritte Ansicht hat neulich'5) H. Mariette ver-
öffentlicht. Er entdeckte nämlich am Tempel zu Denderah
eine Art Litanei an die eponyme Gottheit Hathor, deren
Prädikate in dem bekannten bombastischen Style in ein-
zelnen Reihen von Gruppen aufgeführt werden , je mit an-
derem Anlaute versehen. Die Ordnung nun, in welcher diess
geschieht, ergiebt folgende 16 Buchstaben:
t s o u v f h a p m n eh h n seh b
Damit mau nicht wieder meine, die alte Hypothese von
einem IGtheiligen Uralphabet erhalte hiedurch eine neue
Stütze, bemerke ich. dass h und n sich wiederholen, sowie.
25) Renre archeol. Avril 1867.
108 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
dass wesentliche Buchstaben, wie: l r s k i etc. fehlen. Es
scheint also, auch mit Hinzunahme der folgenden Columnen,
die nach Mariette keine durchsichtige Ordnung mehr dar-
bieten, kein eigentliches Alphabet beabsichtigt zu sein,
sondern nur eine Reihe von Alliterationen, welche natür-
lich indirekt für das Bewusstsein eigentlicher Buchstaben
zeugen. Um nun wieder auf den Ibis als Anfang der Buch-
staben zurückzukommen, so meint Mariette, der Umstand,
dass der erste Anlaut ein t sei, lasse sich auf obige Stelle
Plutarch's beziehen. Dass der Ibis Taaud lautirt werden
konnte, beweisen die vielen Eigennamen, in denen der Name
@(o'i)& als Gräcisirung des Ibis erscheint. Allein diese An-
sicht entfernt uns wieder zu weit von dem Wortlaute der
Stelle tcov yqctiifidTdov Alyxmxioi ngcoTov tßiv ygdcpovOt,
da ein Buchstabe, nicht ein Name damit gemeint ist.
Wollte man zweifeln, ob Plutarch überhaupt von einem Al-
phabete spreche, so belehrt der weitere Zusatz ovx oq&ws
xatce ys T»jV ifirjv 66%uv, ävcivöv) xul dy&oyyaj nqosd Qiav
iv yqdfiiiaaiv dnodovTsg, dass es sich um den Vorsitz unter
den Buchstaben, also um eine alphabetische Reihenfolge
handelt. Mich wundert , dass Mariette sich nicht auf die
6 (7) Zusatzbuchstaben des koptischen Alphabets berufen
hat, da dieses chei und Jiori benachbart zeigt, wie die Akro-
phonien der Hathor. Freilich beweist dieser einzelne Fall
nichts und andererseits sind ja auch sonstige Verwandte,
wie o u f v, h a, m, «, zusammengruppirt. Dass t und s
beisammen stehen , deutet wenigstens auf physiologisches
Verfahren26).
Die phonetische Schreibung des Namens Taaud21) (en
26) Wie ich es im Universal-Alphabet p. 54 lin. 1. und 2. von
unten, ausgesprochen habe.
27) Brugsch Geogr. I Nr. 580 verglichen mit 541 — 543.
Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 109
Pnubs) ist bis jetzt nur ein einziges Mal getroffen worden.
Ich habe diesen Namen zuerst mit dem semitischen "in cor,
Thaddaeus = Lebbaeus identifizirt, nicht nur, weil die Be-
deutung ,,Herz" als der Sitz der Intelligenz nach orientali-
scher Anschauung, zusagt, und so das ,,Taautes Phoenix
litteras invenit" bestätigt, sondern weil die Alten einstimmig
dem Ibis in einer gewissen Stellung, Aehnlichkeit mit einem
Herzen zuschreiben. So sagt Horapollo I, 36: Kaqdiuv
ßovX6f.ievoi ygacpsiv, ißiv £wyQcc<fov6f ro yctQ £<aov ^EgfArj
(pxeicoTai, ndöi]g xaqdiccg xai Xoyiö/Jiov deOnoxi], insl xal
fj iß ig ccvro xcttf avrd %fj xccqdCa sötlv ^icpeQrjg- nsql ov
Xoyog iOTi nXsTotog vcuq Äiyvntioig (fe^o^ievog28). Neuere
Legenden, die man gefunden, bestätigen, ausser den herz-
förmigen Mumien der Ibis, durch die Phonetik selbst die
Nachricht der Alten in dieser Beziehung. Herr Pleyte hat
nämlich statt der gewöhnlichen Gruppe het (cor) mehrere-
mal ab angetroffen und ich habe 29) den Namen der Stadt
Athribis auf Grund dieser Wahrnehmung nach allen seinen
Bestandteilen zu erklären vermocht. Während nämlich das
Etymologicon magnum den vopdg 'A&qißijg wegen seiner
Lage inmitten des Delta mit xaqSia übersetzt, zeigt die
hieroglyphische Schreibung die Gruppe Hat-to-her-ab „Haus
des Landes der Herzensmitte", woraus lA&Qißr[g entstan-
den ist. Hier haben wir bereits den Uebergang des ab,
mit dem vagen Vocale des Rohrblattes geschrieben, in ib,
woher ibis und damit zugleich einen Beleg für die Gleich-
ung llohrblatt = i.
28) Auch Aelian. I c. u. die Scholien zu Platon's Phaedrus p.
356 sprechen von der herzförmigen Gestalt des Ibis.
29) In einem für die aegyptologische Zeitschrift bestimmten
Aufsatze.
110 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
Aber der constante Name des Ibis lautet hab(u) (mäan-
drische Figur, Aar, Bein) was nicht befremden kann, wenn
man bedenkt, dass das Rohrblatt selbst aalce (an zweiter
Stelle mit dem Aar geschrieben) lautete, und dass die Ad-
spiration des maeandrischen Zeichens eine sehr gelinde, ein
wirklicher Spiritus lenis war, wesshalb es in die semitischen
Alphabete als he, in das griechische als * überging. Ein
Zusammenhang beider Wörter ist also sehr wahrscheinlich
und als Verbalwurzel habe ich früher schon30) das so häu-
fige ab vermuthet, dessen Verwundtschaft mit dem latein.
avere und TON (velle , cupere) jetzt vielleicht nicht mehr
beanstandet wird. Ich war eine Zeit lang geneigt, in diesem
habu, ab (Ibis, Herz) eine Bestätigung für das System
meines Universal- Alphabetes zu erblicken, welches mit Spi-
ritus lenis und Urvokal, als den Vertretern der Conso-
nanten und Vocale, beginnt. Damit ich mir aber nicht den
Vorwurf der Rechthaberei zuziehe, muss ich schliesslich noch
einer andern Möglichkeit gedenken . das Plutarchische Ibis-
zuichen an der Spitze des ägyptischen Alphabets zu er-
klären.
Der ägyptische Hermes heisst bekanntlich TQigfxsyiörog,
in der Inschrift von Rosette fityag xai [ts'yccg. Das Cap. 125
des Todtenbuches, ein sehr wichtiges und sehr altes Haupt-
stück dieser Sammlung, führt den Gott TJwd coli. 61, 62
mit den Worten ein : ,, Nicht lasse ich dich (den Verstorbenen)
passiven durch meine Wacht, bevor du genannt mir meinen
Namen". Der Verstorbene sagt hierauf: „Kenner der Herzen,
Prüfer der Eingeweide (Leiber) ist dein Name'". Man fragt
ihn weiter: „Wer ist der Gott in seiner Stunde, welcher ist
es?" Die Antwort lautet: „Der Gott in seiner Stunde, den
du genannt hast, ist der Grosse (tennu) der beiden Welten."
30) Manetho und der Turiner-Königspapyrus pp. 46, 63, 64.
Lauth : Der ügypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. Hl
„Wer ist der Grosse der beiden Welten?'' „Es ist Thod"
(geschrieben mit dem Ibis). Die demotische Redaction dieses
Capitels, welche die Bibliotheque Imperiale zu Paris31) be-
sitzt, bietet unter vielen andern werthvolleTi Variauten statt
des Wortes tennu das Wort aa, dessen Bedeutung gross
längst erhärtet ist. Ferner heisst Thod in den bilinguen
Rhind-papyri, im Papyrus Senkowski und in vielen andern
Quellen As-tennu „der grosse As." Damit wir wegen der
Vieldeutigkeit des Wortes as nicht lange zu suchen brauchen,
erinnere ich an das kopt. as antiquus, woher auch Ids nach
Diodor als nccXaid erklärt wurde und an die Stelle Horapollo's
1,30: *AQ%(xioyoviccv dt- yQtiiyovTsg, tccitzvqov £üryQct(fO~Gi,
ds'Ofirjv. Also eine Papyrusrolle bedeutet aQ^aioyoiiccl In
der That erscheint das Rohrblatt und der Siphon(as), womit
jener Name As-(tennu) geschrieben wird, häufig mit dem Deut-
bilde der Papyrusrolle, um den Begrifi' alt auszudrücken,
so z. B. in der „Bauurkunde von Denderah",32) wo gesagt
wird, dass „der Urplan von Anet (Denderah) gefunden ward
in alter Schrift". Eine solche Papyrusrolle hält aber der
Gott Thod als beständiges Attribut in seiner Hand, und so
(mag denn) As-tennu ihn als den „grossen Alten" bezeichnen.
Daraus würde auch sein hieratisches, dem Rohrblatte gleiches
Siglum, vjelleicht als Abkürzung des Namens Astennu er-
klärlich werden. Thatsächlich steht das hieroglyphische
Rohrblatt a mit dem Zeichen für Gott über dem Ibis;33)
also ist das eigentliche a der Anfang des Alphabetes, nicht
das Siglum des Ibis. Die Stelle Plutarch's verhilft uns somit,
wegen ihrer Vieldeutigkeit, höchstens zu der Wahrscheinlichkeit,
dass der leichte Vokal a den Anfang des ägyptischen Al-
31) Vergl. Brugsch.: Demotische Urkunden Tat'. VII.
32) Düraichen Taf. XV col. o7.
33) Dümichen : Kalender-Inschriften Taf. CXVIII, 2.
112 Sitzung der philos.-phildl. Gasse vom 1. Juni 1867.
phabets gebildet habe. Mariette's Akrophonien beweisen nur,
was schon die altägyptischen Wortspiele nahe legen, dass
die Aegypter das Bewusstsein alphabetischer Zeichen hatten.
Es fragt sich, »ob uns keine andern Quellen zu Gebote
stehen.
Der gnostische Papyrus von Leyden enthält in Coli. XVIII
und XX drei oder vier Alphabete, theils griechischen, (kop-
tischen?) theils ganz willkürlichen Charakters. Sie scheinen,
wie die bei den Ingredienzien im Texte angewendeten Zeichen,
einer Geheimschrift anzugehören, wie ja auch die gnostischen
Scarabäen solche Spielereien aufweisen. An ein altägyptisches
Alphabet ist dabei überall nicht zu denken, weil schon die
Reihenfolge der übergesetzten Buchstaben beweist, dass man
das griechische Alphabet geben wollte. Mehr Wichtigkeit
dürfte der Papyrus Grey34) beanspruchen, wenn die auf
seiner Vorderseite befindlichen 24 oder 25 Zeichen wirklich
ein demotisches Alphabet vorstellen sollen. Die Urkunde
ist datirt vom 28. Jahre des Ptolemäus Philometor (118
v. Chr.) und das fragliche Alphabet beginnt rechts mit dem
demotischen a (Aar) und schliesst links mit einem t, so dass
die Vermuthung nahe gelegt wird, als ob Aleph-Thav, also
wesentlich das phoenikische Alphabet gegeben sei. Allein
eine nähere Betrachtung lässt die Sache in einem andern
Lichte erscheinen. Schon das zweite Zeichen gehört nicht
zu den alphabetischen , sondern ist das Sylbenzeichen ru.
Nr. 3, 4 uud 5 entsprechen allenfalls einem 2>> das 4. dem
syllabischen to, das 5. einem o (?), Nr. 7 einem b, Nr. 9
einem g, 10 einem b, 11 wie 2 = ru, dann folgen ziemlich
deutlich n, m, n, cli (?), w, s, ch, f, a, n, h, a, t. Man
sieht , dass sich mehrere Buchstaben wiederholen , während
andere gar aicht vertreten sind, so dass also aus dieser
34) Young, Hieroglyphics pl. XXXIV.
Lauth : Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 113
Zusammenstellung von Buchstaben sich keine Folgerung auf
das altägyptische Alphabet ziehen lässt.
Gleichwohl dürfen wir an der dereinstigen Entdeckung
des ägyptischen Alphabets auf irgend einem Denkmale oder
in einem Papyrus nicht verzweifeln. Die Aegyptologie hat
schon manche Ueberraschung gebracht, so z. B. die Phonetik
der Zahlwörter im Pap. Leydens. I, 350, wovon ich weiter-
hin noch zu sprechen habe. So gut nun in diesem Documente
die Zahlen nach ihrer natürlichen Ordnung aufgeführt sind,
ebensowohl könnte etwas Aehnliches in Betreff der Buch-
staben stattgefunden haben. Ausserdem liegt die Möglichkeit
nahe, dass die Aegypter ihrem Hange zum Symbolismus
nachgebend, heilige Embleme zu Repräsentanten der ngöora
Oxoi%ilu gewählt haben. Die Vignette zu Cap. 1 — 15 des
Todtenbuch.es zeigt analog Schakal (f), Ibis (ab), Sperber
(ftauk), Stier (jfea), Geier (ä'hretui kopt.), die Locke (Aolk),
die Doppelfeder, erinnernd an den häutigen Titel djai-chu\,
Träger der Fahne, endlich die Adlermumie. Ich behaupte
nun nicht, dass biemit die ersten acht Buchstaben gegeben
seien; denn eine Vergleichung mit vollständigeren Listen
dieser Embleme35) würde den Versuch, obgleich 24 solcher
auftreten , bald scheitern machen. Aber etwas Analoges
dürften wir, unter der Aegide des Thod . irgendwo an-
zutreffen erwarten.
Dass die Aegypter eine gewisse Ordnung der Buchstaben
kannten und befolgten , möchte sich auch aus Folgendem
ergeben. Das Berliner Museum besitzt unter andern einen
griechischen Papyrus , der mit allerlei mystischen Figuren
bedeckt ist und besonders den Vocalen eine geheime Wir-
kung beilegt. Da die sieben Vocale des griechischen Alpha-
bets darin erscheinen . so wird man nicht fehlgreifen , wenn
35) Z. B. Young, Hierogl. II, 6/
[1867.11. 1.]
114 Sitzung der phüos.-pliilol. Gasse vom 1. Juni 1867.
man ihn als gnostisch bezeichnet; in der That ist darin
von einer Zauberlampe (Xvxvog) die Rede, gerade wie in
dem demotischen Papyrus von Leyden gnostischen Inhalts.
Ich setze die neun ersten Zeilen her, mit dem Bemerken,
dass die Urkunde stellenweise zerrissen ist.
TiaqGaqixcog nqog coccöe avxa fit]WGrj Goi
qrjxcog x eixai Goi xai Gv y
nccGctg Gov rag xqiyag . . . rjvrjg xai Xaßcov laqaxa xiq
xaiov anodcoGov eig vrjg GVfM^aGav
xco [i€V xa xixoi dsvGov avxov qaxs
axqcoxiGxcog noGi avxovg ovv%ag Gov Gvv xaig
&qi£i xai Xaßcov yqaye avx ? o xsifisva
xai xi&sig avxovg &qi£i xca xoig ovv^ixai avanXa—
Gov avxov Xißavco axiop a se TjTjiq im ooooo
V V V V V V CO (O CO CO 03 (O (O.
Man sieht, dass es sich um die Anbringung magischer
Charaktere handelt. Unmittelbar daran schliessen sich die
zuletzt in arithmetischer Progression aufgeführten sieben
Vocale noch einmal, aber in folgender Doppelfigur:
a co oo co co co co co
£ £ V V V V V V
TjXJTf] ooooo
l l l l tili
ooooo VW
V V V V V V SB
co co co co co co co a
Begleitet sind diese Figuren von den Worten : xai Xaßoov
xo yaXa Gvv xco . . . vxi anoß\ xsdqivov und anderen minder
lesbaren. Es folgt: xai Xsys xov nqoxei^isvov Xoyov, ver-
bunden mit der oben Zeile 9 gegebenen arithm. Prog. der
7 Vocale und dann heisst es: ^xs (ioi aya&s rsooqys ayad-og
(iiv aqne (fi ßqivxaxr]Vco(pqiZ6) ßqiGxvXfia aqova
S .
36) Dieser Name findet sich öfter im gnost. Papyrus von Leyden.
Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 115
Xccqs . . . (fiv . . . xov [iix[i>ov[.iac0<p. rjxs fioi ayiog Sigioo si-
fievog sv reo ßooQxo6t]ks xai xvXivdovfisvog etc.
Diese Stellen, so werthlos sie sonst auch sein mögen,
bestätigen doch im Allgemeinen die Nachricht: «V Aiyvnvq
6h xai xovg ösovg v/jlvovöi Sid twv snxd yxovyevtwv.31)
Als ich Obiges zu Berlin 1863 copirte, war mein Uni-
versal-Alphabet bereits seit acht Jahren erschienen. Um so
mehr war ich von der pyramidalen Anordnung der Buch-
staben überrascht. Dass nur die Vocale in der Figur ver-
treten sind, erklärt sich zur Genüge daraus, dass diese Cha-
raktere vorschriftsmässig gerufen38) werden sollten, was
bei den Consonauten eben nicht möglich ist.
Aber auch die altägyptische Bezeichnung der drei
Hauptvokale führt zu dem pyramidalen Systeme, wie ich es
in meinem Universal-Alphabet zuerst aufgestellt habe. Es er-
scheint nämlich als Vertreter oder als Vereinfachung des
Rohrblattes a der senkrechte Strich | , für die Verdoppelung
desselben der Doppelstrich, entweder schräg gestellt, um die
Verwechslung mit der Ziffer 2 zu vermeiden, oder auch
senkrecht 1 1 ; als beständiges Aequivalent des u der dreifache
Strich III, so dass die drei Hauptvocale das Grundschema
II d. h. die pyramidale Figur prototypisch u. deutlich aus-
drücken. Nach der statistischen Häufigkeit des Vocalest« imAegyp-
37) Jablonski Prolegg. p. LV— LIX.
38) Darauf beziehen sich wahrscheinlich auch die 7 Hexame-
ter Col. Y:
'OqxiCu) xfqp«Ara« &eov onEQ tcuv OXvfxnog
'OqxiCw acpqaxid'ct &tov ontQ igxiv ogaaig
'0()Xt£(l) /«O« <f6l;lT£Q>)V >}v(f) ?) xoafiog (>/?) £J/«ff£C?
'OqxI^ÜJ XQt]Tt}Q(( &(OV TlXoVTOV XCCTSXoyTt(
Oqxi^ia &tov (chüviov ttiwva re navTtos
'OoxtCw rpvaiv uvrocpvri xquriaxov Aduva^ov)
Oqxt^o} tivvovia xui uvztXkovtu EXioai(ov)
8*
116 Sitzung der philos.-pMol Gasse vom 1. Juni 1867.
tischen könnte man den alten Aegyptern einen gewissen
Labialismus eigenthümlich finden, wie der Gutturalismus
(a) den Semiten und der Cerebralismus (i) den Europäern
eignet. Dieselben 1.2.3. Striche dienen auch zur Bezeichnung
von Singularis, Dualis und Pluralis. Hiemitist der Ueber-
gang zu den eigentlichen Ziffern gegeben, von denen ich
schliesslich noch Einiges beibringen will, um die Ueber-
zeugung zu begründen, dass auch unsere sogenannten arabi-
schen Ziffern aus Aegypten stammen.
Die aegyptischen Ziffern.39)
Der senkrechte Strich, schon im Hieroglyphischen für
die Zahl 1 (ua, auch unbestimmter Artikel) gebräuchlich,
bleibt es auch im Hieratischen. Wird er verdoppelt und
verdreifacht, wagrecht gelegt und durch Schleifung zu einem
Ganzen gestaltet, so entstehen die Ziffern 2 (snau) und
3 (scJwmt). Auch die Ziffer 4 verläugnet diesen Ursprung
aus Strichen noch nicht und man könnte behaupten, dass
unsere vier ersten Ziffern eben so gut aus dem Chinesischen
als aus dem Aegyptischen gezogen sein könnten. Das ent-
sprechende Zahlwort für 4 lautet afdu.
Allein mit der Ziffer 5 befinden wir uns entschieden
auf ägyptischem Boden. Der Stern, nach Horapollo und den
Denkmälern für 5 gebraucht, und regelmässig mit 5 Strahlen
dargestellt, wird hieratisch zu einer Figur, deren nahe Be-
ziehung zur Ziffer 5 unverkennbar ist. In dem uralten Pa-
pyrus Prisse z. B. wird in dem Worte sebait (Unterweisung)
die erste Sylbe schon durch diesen Stern (Kopt. siv) be-
zeichnet. Wie es gekommen, dass das Zahlwort 5 dennoch
eine andere Wurzel darbietet, mag hier unerörtert bleiben;
genug, dass dem koptischen tiu (quinque) entsprechend, der
39) Vergl. die Tafel B.
Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc.
117
Pap. Leydens. I, 350 40) dafür die phonetische Gruppe tiau
bietet. Da nun auch die Hand (tot) vor der Zahl 5 als
phonetisches Zeichen erscheint, so hatte ich doch Recht, in
meinem Buche ,,les zodiaques de Denderah" zu behaupten,
dass der Ausdruck teytcro in teyt-hro zu zerlegen und auf
die fünf Epagomenen zu deuten sei. Wird nicht auch
pantscha (ntfins) von Einigen als Hand (mit fünf Fingern)
aufgefasst ?
Die Ziffer 6 findet sich so, wie wir sie haben, im De-
motischen; das hieratische Zeichen hat gewöhnlich noch
zwei Striche daneben , zum deutlichen Beweise, dass diese
Zitier aus 2X3 Strichen zusammengesetzt gedacht wurde.
Ihre Phonetik war sas und sasch (sex, schesch). Bei der Ziffer 7
sehe ich mich genöthigt, von Lepsius und Pleyte in der Er-
klärung abzuweichen. Letzterer nimmt nämlich an, der in
den Hieroglyphen dafür eintretende Kopf en profil sei eine
irrthüm liehe („fautive") Transscription des hieratischen
Zeichens. Allein unter dieser Voraussetzung müsste man
den irrthum fast als Regel erklären, da der Kopf für 7 so
häufig getroffen wird. Mehrere Stellen beweisen, dass die
hieratische 7 eben so gut als der hieroglyphische Kopf mit
dieser Zahlbedeutung auf einer altägyptischen Anschauung
beruht, wonach dem Kopfe sieben Mündungen (ro) zuge-
schrieben wurden, wohl keine andern als Augen, Ohren,
Nüstern, Mund. So heisst es im Pap. Leydens I. 345
G 3: seine 2 Lippen, welche zum Sprechen; seine 2 Augen,
welche zum Sehen; die Siebenheit der Mündungen seines
Kopfes''. Die nämlichen 7 ouvertures de la tete begegnen
uns in den Rhind-papyri V, 641). Mit der Phonetik des
40) Von Herrn Goodwin (Zeitschrift für Aegyptologie 1864) zu-
erst in seiner Wichtigkeit für die Zahlwörter erkannt. Vgl. in
derselben Zeitschrift Pleyte 1867, 1 — 3. Heft.
41) Vgl. Brugsch: Mater iaux p. 51.
118 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
Zahlwortes hat dieser Kopf nichts zu schaffen. Die Biblio-
theksgöttin Safch, häufig mit dem siebenstrahligen Sterne
geschrieben, wird im Pap. Leyd. I 350 durch die phoneti-
sche Gruppe safch vertreten, deren Verwandtschaft mit dem
kopt. saschfe und dem indogermanischen, ja dem semitischen
Zahlworte für 7 ziemlich einleuchtend ist.
Die Ziffer 8, noch in den beiden aufeinand erstehen den
Rauten unserer älteren Quellen 42) als 2X4 erkenntlich,
verläugnet ihren Ursprung aus Strichen nicht. Namen mit
griechischen Transscriptionen ergeben die Lautung yp\iv,
kopt. sibilirt zu schmun = octo , aber in chemne öctoginta,
noch getreuer erhalten. Merkwürdig ist, dass in der so häufig
erwähnten Achtstadt (Aschmunein — Hermopolis) die hiero-
glyphische und die hieratische Schreibung des Zahlwortes
(auch im Leydens. I 350) constant sescmiu lerntet. Wie mochte
dieses sesennu zu schmoun (semit. schmoneh) werden? Ich
habe längst die Zahlsymbolismen: ,,2. der Isis, 3. der Neph-
thys" auf die Phonetik gedeutet. Snau (">}$) heisst zwei
und son „Bruder"; (s)chom (t) drei und sclwm (Dfl)
„Schwager", so dass also die Stelle besagen würde: ..Ich
(Osiris) bin Bruder der Isis, Schwager (oixsioq) der Neph-
thys". Aehnliche Zahlsymbolismen z. B. 5 oder 9 Striche für
die Wörter Hau und pest Ruhm , Glanz sind auch sonst
nicht selten. So könnte auch sesennu. das bisweilen in der
Schreibung sensennu gefunden wird . „die Verbrüderungen,
Verschwägerungen1' bedeutet haben. Der Wechsel des n mit
m erklärt sich, wieder Monatsname Pharmuti aus Pharennuti.
Ein ähnlicher Lautwandel scheint bei dem Zahlwort
für 9 stattgefunden zn haben. Ursprünglich paut, durch
ein Opferbrod vorgestellt, das auch den ersten Tag des
Monats oder den Neumond bedeutet, lautet es im Kopti-
42) Z. B. des Codex Katisbonensis der Münchener Bibliothek,
von dem ich p. 45 meines Runenfudark gesprochen habe.
Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 119
scheu psit und wird schon in der jüngeren Periode der
Hieroglyphen durch die strahlende Sonne vertreten, weil
pset = strahlen. Aber ein drittes Zeichen, eine Art Sense,
aus welchem offenbar das hieratische Zeichen für 9 und
unser 9 entstanden ist, erscheint als Determinativ zu pant.
Merkwürdig ist nun, dass diese Sense (woyacula das Scheer-
niesser?) häufig zur Schreibung des Wortes neu (maat) ver-
wendet wird, und dass in den indogerman. Sprachen eben-
falls ein Zusammenhang zwischen neu und neun (novus,
novem) zu bestehen scheint. Sollte vielleicht die Verwandt-
schaft von paut und maut zur Wahl des Zeichens für 9
geleitet haben?
Die Aegypter kannten die Null nicht, desshalb trennen
sich von hier an die beiden Systeme, indem das unsrige
(indische?) für 10 schon eine Zusammensetzung anwendet,
während die Aegypter43) für 10, 100. 1000 etc. eigene
Zeichen gebrauchten.
Man hat das hufeisenförmige Zeichen, mit dessen Hülfe
alle Ziffern von 10 — 90 incl. gebildet werden, für die
Hälfte eines Königsschildes gehalten und daraus das kopt.
meti (decem und dimidium) erklären wollen. Allein dies
scheitert an der Unmöglichkeit , das eckige Zeichen f| zu
erklären, das z. B. in der Inschrift von Rosette für 10
vorkommt. Ich glaube, dass die alte Bedeutung und Laut-
ung der Hand (ma geben) Dual mati, das koptische Zahlwort
tneti decem, besonders in Rücksicht auf teilt = quinque
(una manus) besser empfiehlt. Was sodann die Figur der
Ziffer 10 (fl) betrifft, so ist sie nichts anderes als ein po-
tenzirtes 1 1 mit einem Querstriche, gleich als wenn man hätte
ausdrücken wollen, dass es die zweite Stufe der Zahlen vorstellt,
wie Horapollo II, 30: rqafxfxfj dg^fj fxia a/ia YQatilxfJ
inixexanfuvjj dtxct yQanfAciq emntdovg Gi^aivovGi andeutet.
43) Vgl. die Tafel C.
120 Sitzung der philos.-philos. Classe vom 1. Juni 1867.
Diese Erklärung erhält ein bedeutendes Gewicht durch
das Zeichen für 100. Es ist nichts Anderes als das für
das Pharaonenhühnchen eintretende u. Wie konnte aber u
an 100 bedeuten? An sich wohl nicht; aber mit Rücksicht
auf 1 1 1 = u. In der Absicht der Aegypter lag es, so die Zahl
100 als die dritte Stufe darzustellen, ohne damit das Zahl-
wort sehe ausdrücken zu wollen. Im pap. Leydens. I 350
ist schao als die Phonetik von 100 angegeben; ich habe
das Zahlzeichen für 100, mit dem phonetischen Werthe
sehe**) in dem Worte dsche (Ceder) angetroffen. Sollte
letztere etwa wegen ihrer sprüchwörtlichen Erhabenheit den
Namen asche (kopt. multa, abundans) empfangen haben?
Behalten wir die gewonnene Scala bei, so erledigt sich
auch das Zeichen für 1000, nämlich die oben schon bei dem
Buchstaben (khei) besprochene Pflanze Jchaui. Das kopt.
Wort für 1000: schö ist durch Sibilation daraus entstanden.
Mit dem Stamme multus (ascho) ist es, wie aus dem eben
über asche bemerkten zu ersehen ist, nicht verwandt; H.
Pleyte vermengt beide Bedeutungen, wenn er es für möglich
hält, qu'on a pris ia plante comme Symbole du nom de
nombre niille, ä cause de la multitude des vegetaux. Das
Zeichen ist eben kein Symbol, sondern phonetisch und seine
ursprüngliche Bedeutung messen. Wäre es nicht möglich,
dass das Messen mit vier Fingern oder der Fausthöhe
dieses Ma veranlasst habe, als wollte man sagen, dass
1000 die vierte Stufe der Zahlen sei?
Der Finger oder vielmehr der Daumen (in den
grösseren und ausführlicheren Darstellungen) mit der Laut-
ung tab, steht für 10,000. Wenn H. Pleyte sagt: „je ne
connais pas de point de rapport entre la signification du
signe et la prononciation", so hat er nur der allgemeinen
44) Dümichen Kai. Ins. Taf. LKV1I, c. 7; Brugsch, Geogr. III,
Nr. 188, 189.
Lauih: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 121
bisherigen Unkunde Ausdruck gegeben. Nimmt man mit
mir an, dass nach der Faust, als fünfte Stufe der Zahlen,
der Daumen gewählt worden sei, so schwindet das Dunkel
in jeder Beziehung.
So hatten also die Aegypter mittels der zehn Finger
der Hand und allenfalls mit Hinzunahme der Fusszehen,
weil 20 zaut, (djuot) 30 mapu (map) 40 hme nicht als
Multiplicate von 10 in der Phonetik erscheinen, ihr Zahlen-
system bis zu 10,000 resp. 99,999 zu führen vermocht.
Jenseits dieser Grenze treffen wir noch drei Zeichen : die
Kaulquappe (Jiefennu) = 100,000; den Mann mit er-
hobenen Armen (hah) = 1'000,000 und den Siegelring
(chen) für 10'000,000. Diesen drei Begriffen ist die Bedeut-
ung einer grossen Menge (hah z. B. = multus) gemeinsam.
Durch Zusammensetzung mehrerer dieser Zeichen war es
möglich, alle denkbaren Grössen auszudrücken.
lieber die Herkunft unseres Bruchstrichs / aus dem
demotischen re Theil habe ich schon oben gesprochen;
selbst hieroglyphisch erscheint z. B. die Gruppe Theil = 3/4.
Ueber die Aussprache der Brüche , die oft durch wun-
derliche Zusammensetzungen (z. B. 5/6 = 1J2 -f- */* -f- 1lli)
gebildet werden, gebricht es uns bis jetzt an monumen-
talen Haltpunkten ; einige Winke des kopt. Lexicon's z. B.
misi = pars quarta, deuten darauf hin, dass sie Eigen-
namen einfacher Art geführt haben. Dagegen besitzen wir
in dem papyrus Leydens. I 350 für die Zehner und Hun-
derter ziemlich durchsichtige Ausdrücke, die vor allem die
wichtige Thatsache darthun, dass (wie im Semitischen) die
Zahlen 50, 60, 70, 80, 90 als Plurale der Zahlwörter für
5 — 9 erscheinen, während die entsprechenden Zahlzeichen
al> Multiplicate (5 X 10 etc) gebildet sind und insoferne den
indogermanischen Zahlwörtern quinquaginta (= quinque-
dect. mta) vergleichbar sind. Das nämliche Verfahren wieder-
122 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
holt sich bei den Hundertern und Tausenden in Sprache
und Zeichen. Um so auffallender ist es , dass die Zahl-
wörter für 20, 30 und 40, obschon die entsprechenden
Zahlzeichen ebenfalls als 2 X 10, 3 X 10, 4 X 10 sich dar-
stellen, weder als Plurale der betreffenden Einer , noch als
Compositionen mit meti (zehn) erklärt werden können. Der
Papyrus giebt für 20 die Phonetik zaut (Kopt. djuot) —
und zwar als Participium des Verbum's za peragrare , mit
dem Deutbilde des Schiffes begleitet. Es versteht sich
von selbst, dass damit nur die Lautung, nicht die ursprüng-
liche Bedeutung des Zahlwortes zaut geboten werden
sollte.
So viel ist klar, dass die ägyptischen Ziffern und Zahl-
wörter auf dem uralten Decimalsysteme beruhen. Nehmen
wir nun an, dass, wie bei einigen andern Völkern, mit Hin-
zunahme der zehn Fusszehen (digitus, daxrvXog, dexa)
eine höhere Einheit von Zwanzig (score im Englischen)
begründet wurde, so würde sich in dem Verbum djte,
djto = sopire, reclinare, eigentlich ,,alle Viere von sich
strecken" ein passendes Etymon zu dem oben räthselhaft er-
schienenen djuot (zaut) vermuthen lassen.
Die Phonetik des Zahlwortes für 30 lautete mapu(ko\)i.
map), wie H. Chabas scharfsinnig in dem Pap. Anastasi I.
wiederholt gefunden hat. Da nun nach Diodor I, 75 das
Richtercollegium der „Dreissig" (3 X 10 aus Theben, Mem-
phis und Heliopolis) in Uebereinstimmung steht mit den in
ägyptischen Texten so häufig erwähnten ,,Dreissigern", so
ist an dieser Phonetik mapu für 30 nicht zu zweifeln,
wenn gleich uns hier der Pap. Leyd. I 350 im Stiche lässt.
Aber die Erklärung dieses mapu 7 Das einzige hier an-
klingende kopt. Wort ist mpo mutus und man könnte ver-
muthen. dass Horapollo I, 28, wo er acpcovia — che, og
rqisTovg iOvi %qovov dgi^fiög schreibt, missverständlich
aus einer älteren Quelle entnommen habe, wo mpo = tqicc-
Lauth: Der ägypt. Ursprung unserer Buchstaben etc. 123
xovtctsTTjg gestanden. Dadurch wäre aber höchstens die
Lautung mapu bestätigt, nicht das Wort erklärt. Wenn es
erlaubt ist, das Griechische beizuziehen, so dürfte das He-
siodische fiaTKo „taste, berühre" mit mapu stammverwandt
sein, und dieses dann die dreimalige Wiederholung der
beiden Hände, also 3 X 10 um so passender ausdrücken, als
die Endung u ohnehin pluralisch ist und der Plural im
Aegyptischen durch Verdreifachung ausgedrückt wird. Viel-
leicht hat sich in ?»e/)-ouosch desiderium, verglichen mit
ouosch. voluntas (Wunsch) der alte Stamm mapu als Verbal-
wurzel noch wirksam erhalten.
Nun ist es auch gestattet, das bisher unerklärte Jime
= 40 in Angriff zu nehmen. Im Pap. Leyd. I, 150 ist die
betreffende Gruppe undeutlich, wenigstens in ihrem Anfange ;
der Schluss wird durch ein sicheres m gebildet. So viel
dürfte schon hieraus erhellen, dass das altägyptische Zahl-
wort für 40 dem kopt. hme identisch gewesen. Ich habe
in einem Denkmal des Pharao Hop! ra (OvatpQig, 'AnQirjg)*5)
die Stelle ,,ar ham renpetu"' getroffen, welche bedeutet „Es
sind 40 Jahre", wenn die Gruppe ha/m, determinirt durch
den Pelikan, mit 40 übersetzt werden darf. Leider ist der
Text sehr lückenhaft, so dass uns der Zusammenhang und
der daraus zu entnehmende Beweis entgeht. Was aber
meine Auffassung empfiehlt , ist der Umstand , dass der
Pelikun im Kopt. eben auch hme heisst. Die dialektischen
Varr. hme, hemi, hyme, führen auf das Verbum homi cal-
care, so dass demnach die Zahl vierzig ägyptisch entweder
von der Wiederholung des Auftretens mit den zehn Zehen der
Füsse oder zugleich dem Tasten der Hände benannt wäre46).
45) Brugsch Recueil PI. III, lin. 4 von unten.
4G) H. Pleyte, in der oben citirten Abhandlung, denkt bei zaut,
mapu, hme. an Entstehung aus fremden Sprachen ; allein bis jetzt
zeigen sich diese Zahlwörter sonst nirgends.
124 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
Die Zahlwörter von 50 — 90 sind Pluralformen der ent-
sprechenden Einerbenennungeu. Für 60 erscheint statt der
sechsmaligen Wiederholung des Zehnerzeichens ein Quadrat,
für 80 die sonst schep gelesene Hieroglyphe. Beide scheinen
Rückbildungen aus den hieratischen Zügen zu sein, deren
Composition aus 6 X 10, 8 X 10 wenigstens wahrschein-
lich ist.
Für 200 bietet der Pap. Leyd. I 350 scheta, während
er für 100 schao giebt, gerade wie im Kopt. sehe und sehet
aufeinander folgen. Wir werden nicht fehlschliessen , wenn
wir das letztere für den Dual des ersteren ansehen.
Wie sonderbar die Aegypter bisweilen ihre Ziffern
phonetisch verwendeten, ergiebt sich z.B. aus der Schreib-
ung des herodotischen Taxo^ipio. In einer Ptolemaeer-In-
schrift, die sich auf den Jeodsxaoxoivog bezieht,47) ist die
Entfernung von Suen (Syene) bis Takamsu zu 12 ar an-
gegeben. Die letzte Sylbe dieses Namens {su=Ow) ist durch
sechsmalige Wiederholung des Zahlzeichens für 100 bezeichnet,
während das koptische sou-sche sex-centi bietet. Der ägyp-
tische Schreiber spielt mit dem Doppelsinne des Zeichens
der Schlinge, welches als Vocal = w, als Zahlzeichen sehe
lautet und hundert bedeutet, so dass er su (öeo) gelesen
wissen wollte, obgleich er su-sche geschrieben hatte. Solche
Spielereien sind in der jüngeren Epoche nicht selten und
bisweilen von bedeutendem Werthe für die Ermittlung der
Phonetik. Aber auch die älteren Texte wimmeln von Wort-
spielen, sei es zu dichterischen Zwecken, oder dem Hange
zur Symbolik nachgebend, die in dem ägyptischen Schrift-
systeme, wie in keinem andern, ihre Blüthen getrieben hat.
47) Brugsch: Geogr. I, 70 Nr. 356.
Büchner: Mineralwasser zu Neumarkt i, d. Oberpfalz. 125
Mathematisch -physikalische Classe.
Sitzung vom 1. Juni 1867.
Herr Buchner theilt mit:
„Neue chemische Untersuchung des Mineral-
wassers zu Neumarkt in der Oberpfalz".
Das Mineralwasser des eine Viertelstunde von Neumarkt
in der Oberpfalz entfernt liegenden altbekannten Wildbades
ist seit mehr als vierzig Jahren kein Gegenstand genauer
chemischer Beobachtung mehr gewesen. Der verehrte Senior
der k. Akademie, Hr. A. Vogel der Vater, hat es zuletzt
im Jahre 1826 untersucht und das Resultat seiner Analyse,
welche uns zuerst die Natur dieses Wassers genau kennen
lehrte, in seiner Schrift ,,Die Mineralquellen des König-
reichs Bayern. München 1829" bekannt gemacht.
Einer an mich im verflossenen Jahre ergangenen Ein-
ladung, genanntes Wasser einer neuen chemischen Unter-
suchung zu unterwerfen, habe ich schon desshalb gern
Folge geleistet, weil, abgesehen von den jetzigen verbesser-
ten chemisch-analytischen Methoden , welche eine genauere
qualitative und quantitative Bestimmung der in einem
Mineralwasser aufgelösten Stoffe gestatten , gerade die so-
genannte Trinkquelle, welche ich als die gehaltreichste
von den dortigen Quellen erkannt habe und welche, lange
verschüttet , erst in neuerer Zeit wieder besonders zur
Trinkkur benutzbar gemacht wurde , bisher noch keiner ge-
nauen chemischen Untersuchung unterworfen worden war.
Es entspringen nämlich mehrere Heilquellen im Neu-
markter Wildbade. Einige davon, fünf an der Zahl, ver-
einigen sich am Grunde der im Kurhause unter der Kapelle
befindlichen gezimmerten Brunnstube. Eine andere Quelle,
die sogenannte Kapuziner quelle, entspringt in einem
oberhalb des Bades, am Fusse des sogenannten Weinberges
126 Sitzung der math.-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
befindlichen Felsenkeller und wird ebenfalls in die Brunn-
stube des Kurhauses geleitet und mit den zuerst erwähnten
Quellen zum Baden verwendet. Wieder eine andere Quelle,
die Waldquelle, liegt in einem Wäldchen unweit dem
Bade und wird nur zum Trinken benützt, zu welchem Zwecke
das Wasser aus einem zehn Fuss tiefen Brunnen, worin
eigentlich zwei Quellen zusammenfliessen, gepumpt wird. Die
gehaltreichste Quelle endlich, womit die nachstehende Analyse
vorgenommen wurde und welche vorzugsweise zum Trinken
benützt wird, in welcher Hinsicht sie unstreitig den meisten
Werth hat, oder richtiger gesagt, der Zusammenfluss von
drei solchen Quellen in einem 15 Fuss tiefen, auch mit
einem Pumpwerke versehenen Brunnen, befindet sich in einer
neben dem Kurhause erbauten bedeckten Bahn.
Das Wasser der genannten verschiedenen Brunnen zeigt
bei ungleichem Gehalte an darin aufgelösten Stoffen doch
keine wesentliche qualitative Verschiedenheit. Es gehört zu
jenen sonderbaren Wassern, welche Eisen und Schwefel-
wasserstoff zugleich enthalten. Kaum ist das ursprünglich
klare und farblose, stark nach Schwefelwasserstoff riechende
Wasser geschöpft und der Luft ausgesetzt, so färbt es sich
unter schwacher Trübung grünlich-schwarz, was von der
Bildung von Schwefeleisen herrührt. Der am Grunde der
Brunnstube befindliche schwarze Schlamm entwickelt daher
beim Uebergiessen mit Salzsäure Schwefelwasserstoff, er-
kennbar sowohl durch den Geruch als auch durch die
schwarzbraune Färbung eines über die Flüssigkeit gehaltenen
mit Bleiaufiösung befeuchteten Papiers. Bei längerem Stehen
an der Luft verschwindet diese grünlich-schwarze Färbung
des Wassers und die Wände des Gefässes bedecken sich mit
einem bräunlichen ockerigen Absätze nebst zahlreichen Gas-
bläschen. Dies rührt daher, dass das gebildete Schwefel-
eisen durch den Sauerstoff der Luft zu schwefelsaurem Eisen-
oxydul und dieses dann noch weiter zu basisch-schwefel-
Buchner: Mineralwasser zu NeumarTct i. d. Oberpfalz. 127
saurem Eisenoxyd oxydirt wird, welches sich nebst dem
durch Oxydation des überschüssigen kohlensauren Eisen-
oxyduls entstehenden Eisenoxydhydrat nach und nach aus-
scheidet.
Ich bin überzeugt , duss auf dieser Art der Zersetzung
zum Theil die schon oft beobachtete wohlthätige stärkende
Wirkung des Neumarkter Mineralwassers auf den Darm-
kanal beruht, denn das getrunkene Wasser wird sicherlich
im Darmkanal auf gleiche Weise und ebenso rasch, wenn
nicht rascher zersetzt werden als ausserhalb desselben und
das hiebei im Zustande feinster Zertheilung sich ausschei-
dende und wieder oxydirende amorphe Schwefeleisen und
Eisenoxydhydrat werden, indem sie mit der Schleimhaut des
Darmkanales in Berührung kommen, auf diese gelind ad-
stringirend wirken.
Die Beobachtung der Schwärzung des Neumarkter
Mineralwassers an der Luft ist schon längst gemacht worden,
denn schon der dortige Stadtphysikus Dr. Conrad Rumel
sagt in seiner 1598 auf Befehl eines löblichen Magistrates
herausgegebenen und 1682 von dem Physikus Dr. Scheffler
neu aufgelegten Beschreibung des neu erbauten mineralischen
Bades der churfürstlichen Stadt Neuenmarkt in der Obern
Pfalz , dass das Wasser den Sand , da wo es sich heraus
begibt, schwarz mache. Allein die richtige Erklärung dieser
Erscheinung hat erst Herr A. Vogel sen. gegeben; dieser
Chemiker hat zuerst gefunden, dass der schwarze Nieder-
schlag, welchen das Wasser nach kurzer Zeit absetzt, sich
grösstentheils wie Schwefeleisen verhält; bei Erwähnung
dieser Beobachtung in seiner oben erwähnten Schrift macht
er darauf aufmerksam, dass ein freiwilliges Niederfallen von
Schwefeleisen aus einigen Mineralwassern in Frankreich auch
schon von Longchamp, Henry und Vauquelin beobachtet
worden sei.
Der soeben geschilderten Erscheinung will ich, um den
128 Sitzung der math.-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
wesentlichen Charakter des Neurnarkter Mineralwassers vor-
läufis: weiter zu kennzeichnen, sogleich hinzufügen, dass das-
selbe ausser Eisen und Schwefelwasserstoff eine ziemlich
grosse Menge schwefelsaurer Salze, namentlich schwefelsauren
Kalk, schwefelsaure Magnesia und schwefelsaure Alkalien,
ferner verhältnissmässig viel kohlensauren Kalk nebst etwas
kohlensaurer Magnesia, die beiden letzteren mit Hülfe freier
Kohlensäure aufgelöst, enthält.
Das frisch geschöpfte Wasser von der Trinkquelle hatte
im April 1866 eine Temperatur von nur + 6.4° R. oder
-f- 8° C. Es schmeckt daher, an der Quelle getrunken, kühl,
übrigens hepatisch, dann schwach bitterlich-salzig und zu-
sammenziehend, eisenartig.
Das specifische Gewicht des Wassers von der Trink-
quelle wurde als Mittel mehrerer bei einer Temperatur von
-f- 14 bis 16° R. vorgenommener und sehr genau überein-
stimmender Versuche = 1,0021 gefunden. Ein Liter dieses
Wassers wiegt demnach bei mittlerer Temperatur 1002,1
Grammen.
Das Wasser von der Waldquelle zeigte ein specifisches
Gewicht von nur 1,00041, woraus sich schon ergiebt, dass
dasselbe viel ärmer an fixen Stoffen ist als das Wasser von
der Trinkquelle.
Eine Auflösung von Gerbsäure erzeugt im frisch ge-
schöpften Wasser von der Trinkquelle schon im ersten Augen-
blick eine röthlich-violette Färbung und unmittelbar darauf
eine geringe Trübung. Später setzt sich in der Flüssigkeit
ein violett-rother flockiger Niederschlag zu Boden.
Das Wasser von der Waldquelle (auch Stahlquelle ge-
nannt) giebt mit Gerbsäure auch eine solche, aber weniger
intensive Färbung, was beweist, dass dieses Wasser weniger
Eisen aufgelöst enthält als dasjenige von der Trinkquelle.
Das Wasser von der Kapuzinerquelle wird durch Gerb-
säure nur sehr schwach violett gefärbt.
Buchner: Mineralwasser zu Neumarlct i. d. Oberpfalz. 129
Beim Schütteln perlt das Wasser, aber in der Ruhe
verschwinden die Perlen sogleich wieder. Beim Erwärmen
bilden sich ziemlich viele . an der Wand des Gefässes ad-
härirende Gasbläschen von Kohlensäure.
Beim Eindampfen trübt sich das Wasser zuerst schwach
bräunlich und scheidet Eisenoxydhydrat aus. Hieraufschlägt
sich unter weiterer Entwickelung von Kohlensäure kohlen-
saurer Kalk und kohlensaure Magnesia nieder. Der Ver-
dampfungsrückstand sieht bräunlich-weiss , krystallinisch aus.
Beim Glühen schwärzt er sich vorübergehend wegen der
Zerstörung einer darin befindlichen organischen humusartigen
Substanz.
Die einzelnen Bestandtheile , welche bei der näheren
Untersuchung sowohl des Mineralwassers als auch seines
Verdampfungsrückstandes aufgefunden werden konnten, sind:
Basen: Säuren oder diese vertretende Elemente:
Kali, Schwefelwasserstoff,
Natron, Chlor,
Lithion, Schwefelsäure,
Ammoniak, Salpetersäure,
Kalk, Phosphorsäure.
Magnesia, Kohlensäure, sowohl freie als auch
Thonerde, chemisch gebundene,
Eisenoxydul, Kieselsäure,
Maganoxydul.
organische humusartige Substanz.
Es war mir daran gelegen, die Frage bestimmt beant-
worten zu können, ob das Eisen im Mineralwasser zu Neu-
markt als schwefelsaures oder als kohlensaures Eisenoxydul
aufgelöst sei ? Aus den geognostischen Verhältnissen der
Neumarkter Gegend glaube ich schliessen zu müssen , dass
das Eisen als schwefelsaures und nicht als kohlensaures Salz
[1867.11. 1.] 9
130 Sitzung der math.-phys. vom Classe 1. Juni 1867.
in das Wasser gelange. Es ist nicht meine Aufgabe, diese
Verhältnisse hier näher zu schildern. Der frühere Gewehr-
fabrikdirektor im Amberg, Herr Oberbergrath J. von Voit,
hat dieselben klar beschrieben in der 1840 erschienenen vor-
züglichen Badschrift „Das Mineralbad zu Neumarkt in
der Oberpfalz des Königreichs Bayern. Nürnberg,
J. A. Stein'sche Buchhandlung" des Hrn. Dr. J. Bapt.
Schrauth, welcher sich überhaupt um Neumarkt und dessen
Mineralbad sehr verdient gemacht hat, und Hr. Gümbel
hat in neuester Zeit die Neumarkter Gegend ebenfalls zum
Gegenstand seiner genauen geogn ostischen Forschungen ge-
macht. Ich will zum Verständniss der Sache nur erwähnen,
dass der Thalkessel, in welchem Neumarkt liegt, in die
Liasformation eingesenkt ist und dass der Grund1
worin die Bildung des Mineralwassers vor sich geht, aus
mergeligem Kalkstein besteht, welcher ausser Bitumen und
anderen organischen Ueberresten Schwefelkies in grosser
Menge beigemengt enthält. Der in dieser Gegend so häufig
sich findende, leicht verwitternde Schwefelkies muss als der
Ausgangspunkt der Bildung nicht nur des in Nestern dort
vorkommenden Gypses und anderer Mineralien, sondern auch
der wesentlichen Bestamltheile des Mineralwassers angesehen
werden. Indem er bei seiner Verwitterung in schwefelsaures
Eisenoxydul verwandelt wird , gelangt das Eisen zunächst
als dieses Salz in das hinzukommende Wasser, um dann
weiter zersetzt zu werden und andere Zersetzungen zu be-
wirken.
Zu diesen Zersetzungen gehört besonders die Umwand-
lung des schwefelsauren Eisenoxyduls in kohlensaures Salz
mittels des im Wasser mit Hülfe freier Kohlensäure auf-
gelösten kohlensauren Kalkes. Dass diese Umwandlung
erfolgt und dass das Eisen im Neumarkter Mineralwasser
als kohlensaures und nicht als schwefelsaures vorhanden ist,
Buchner: Mineraltvasser zu NeumarH i. d. Oberpfalz. 131
glaube ich durch folgende Wahrnehmungen auf das Bestimm-
teste beweisen zu können:
Setzt man eine Auflösung von schwefelsaurem Eisen-
oxydul der Luft aus, so bleibt die Flüssigkeit ziemlich lange
klar und farblos; erst nach mehreren Stunden färbt sie sich
schwach bräunlich und trübt sich unter Ausscheidung von
basisch-schwefelsaurem Eisenoxyd. Eine Flüssigkeit, welche
kohlensaures Eisenoxydul enthält, trübt sich hingegen an
der Luft sehr rasch und scheidet gelbbraunes Eisenoxyd-
hydrat aus.
Wird eine frisch bereitete Auflösung von schwefelsaurem
Eisenoxydul mit Gerbsäurelösung vermischt und an die Luft
gestellt, so ist anfangs gar keine Veränderung sichtbar; erst
nach einigen Minuten kommt eine schwache röthlich -violette
Färbung zum Vorschein, deren Intensität nach und nach in
dem Masse zunimmt, als die höhere Oxydation der Eisen-
lösung fortschreitet. Wird aber zu einer Auflösung von
kohlensaurem Eisenoxydul Gerbsäure gesetzt, so färbt sich
die Flüssigkeit so zu sagen 'augenblicklich violett und die
Färbung erreicht hier schon nach wenigen Secunden eine
grössere Intensität als diejenige der Auflösung des schwefel-
sauren Eisens nach mehreren Minuten.
Schwefelwasserstoff bringt in einer Auflösung von
schwefelsaurem Eisen oxydul in reinem Wasser keine Ver-
änderung hervor, setzt man aber zu einer Auflösung von
kohlensaurem Eisenoxydul Schwefelwasserstoff- Wasser, so
färbt und trübt sich die der Luft ausgesetzte Flüssigkeit
in kürzester Zeit grünschwarz unter Ausscheidung von
Schwefeleisen.
Vermischt man eine reine Lösung von schwefelsaurem
Eisenoxydul mit Brunnenwasser, welches doppeltkohlensauren
Kalk aufgelöst enthält, oder löst man Eisenvitriol in solchem
Wasser auf, so verhält sich die Flüssigkeit genau so wie
eine Auflösung von kohlensaurem Eisenoxydul : sie trübt sich
9*
132 Sitzung der math.-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
an der Luft ungemein rasch und scheidet einen ockerigen
Niederschlag ab ; mit Gerbsäure wird darin sogleich die vio-
lette Färbung erzeugt und auf Zusatz von Schwefelwasser-
stoff wird sie unter Bildung von Schwefeleisen schwarz
gefärbt.
Aus diesen Reactionen muss also gefolgert werden, dass
schwefelsaures Eisenoxydul , wenn es mit einem Wasser zu-
sammenkommt, welches, wie das mit den meisten Quell-
wassern der Fall ist, doppelt-kohlensauren Kalk in genügen-
der Menge enthält , nicht unzersetzt vom Wasser gelöst
wird, dass schwefelsaures Eisenoxydul und kohlensaurer Kalk
in wässerigen Lösungen nicht neben einander bestehen können,
sondern sich in äquivalenter Menge in schwefelsauren Kalk
und kohlensaures Eisenoxydul umsetzen, welches letztere mit
Hülfe freier Kohlensäure, so lange die Luft abgeschlossen
ist, gelöst bleibt.
Das Neumarkter Mineralwasser enthält, wie bereits er-
wähnt, eine ziemlich grosse Menge kohlensauren Kalkes
aufgelöst; es zeigt ferner ganz entschieden die Reactionen
des kohlensauren Eisenoxyduls, das Eisen ist mithin als Car-
bonat darin vorhanden trotz der nicht besonders grossen
Menge freier Kohlensäure, welche in diesem Wasser nicht
mehr oder kaum mehr beträgt als zur Umwandlung der
darin befindlichen Carbonate in lösliche Bicarbonate erfor-
derlich ist.
Dass übrigens nicht aller im Wasser aufgelöste schwefel-
saure Kalk nebst den übrigen Sulfaten erst im Wasser selbst
durch die besprochene Umsetzung des schwefelsauren Eisens
seine Entstehung findet , sondern grösstenteils auf solche
Weise schon vorher gebildet in das Wasser gelangt, ergibt
sich aus der grossen Menge dieses und der andern schwefel-
sauren Salze im Vergleiche zu der verhältnissmässig geringen
Eisenmenge. Die Bildung der im Wasser aus dem Gesteine
sich auflösenden schwefelsauren Magnesia ist sicherlich auf
Buchner: Mineralwasser zu Neumarkt i. d. Obcrpfalz. 133
ähnliche Weise erfolgt wie diejenige des schwefelsauren
Kalkes, nämlich durch die zersetzende Einwirkung des ver-
witternden Schwefelkieses resp. des daraus entstandenen
schwefelsauren Eisens auf die im dolomitischen Kalksteine
enthaltene kohlensaure Bittererde.
Was die Bildung des im Neumarkter Mineralwasser vor-
handenen Schwefelwasserstoffes betrifft, so unterliegt es kaum
einem Zweifel, dass dieser aus dem schwefelsauren Kalke entsteht,
denn es ist bekannt, dass dieses Salz im Wasser unter dem
Einflüsse darin befindlicher und in Verwesung begriffener or-
ganischer Stoffe (Humusstotfe) neben Bildung von Kohlensäure zu
Schwefelcalcium reducirt und dass dieses durch die im Wasser
gelöste Kohlensäure unter Entbindung von Schwefelwasser-
stoff zersetzt wird. Wäre während der Bildung des Schwefel-
calciums schon Eisen im Wasser gelöst vorhanden, so müsste
dieses als Schwefeleisen ganz oder theilweise, je nach der
Menge desselben, wieder ausgeschieden werden. Aber amor-
phes Schwefeleisen wird, wie ich mich überzeugt habe, von
kohlensäurehaltigem Wasser seinerseits wieder zersetzt und
in kohlensaures Eisenoxydul verwandelt. Trägt man frisch
präeipitirtes und hinlänglich ausgewaschenes Schwefeleisen
noch feucht in freie Kohlensäure enthaltendes Wasser ein
und schüttelt die Mischung in einem verschlossenen Gefässe
nur kurze Zeit , so wird man in der filtrirten Flüssigkeit
kohlensaures Eisen oxydul in mehr oder minder grosser Menge,
je nach der Quantität der vorhandenen Kohlensäure, auf-
gelöst finden.
Aus der Thatsache, dass Schwefelcalcium oder Calcium-
sulfhydrat und ein Eisensalz nicht unzersetzt neben einander
bestehen können, ergibt sich schon, dass der im Neumarkter
Mineralwasser enthaltene Schwefelwasserstoff nicht im ge-
bundenen , sondern nur im freien Zustande vorhanden ist.
Diess muss auch daraus geschlossen werden, dass man aus
diesem Wasser allen Schwefelwasserstoff austreiben kann,
134 Sitzung der viath.-phys. Classe vom 1. Juni 1867,
wenn man hinlänglich lange Wasserstoffgas hindurch leitet,
und dass Nitroprussidnatriuin nicht die geringste blaue Fär-
bung darin bewirkt. +
Frühere Beobachtungen sprechen dafür, dass eisenhaltiges
und schwefelwasserstoffhaltiges Wasser am genannten Wild-
bade gesondert entstehen und sich erst in der Brunnstube
oder im Brunnenschachte vereinigen. So sollen eine eisen-
haltige Quelle von Süden und zwei schwefelhaltige von
Nordost her aus den Seitenwänden der Brunnstube zum
Vorschein kommen und sich in dieser mit zwei anderen, auf
dem Grunde entspringenden eisenhaltigen vermischen.
Nach der im Vorhergehenden gemachten Beschreibung
des Neumarkter Mineralwassers ist es kaum mehr nöthig zu
erwähnen , dass , nachdem während des Eindampfens dieses
Wassers Eisenoxjd, kohlensaurer Kalk und kohlensaure Ma-
gnesia nebst geringen Mengen von Thonerde und Kieselsäure
und Spuren von Mangan und Phosphorsäure unter Entwicke-
lung von Kohlensäure niedergefallen sind, sich bei weiterem
Verdampfen Kryställchen von Gyps und darauf schöne Pris-
men von Bittersalz auscheiden, während die übrigen schwefel-
sauren Salze nebst einer sehr geringen Menge Chlornatriums
und Spuren eines salpetersauren Salzes in der Mutterlauge
bleiben, welche durch einen humusartigen Bestandtheil
gelblich gefärbt ist. Letzterer wird auch von kochendem
Weingeist aufgelöst.
Die quantitative Bestimmung der in diesem Mineral-
wasser in wägbarer Menge vorhandenen Stoffe wurde
nach bekannten bewährten analytischen Methoden vorge-
nommen.
100 C. C. Wasser von der Trinkquelle hinterliessen beim
Eindampfen als Mittel mehrerer Bestimmungen 0,2410 Grm.
scharf ausgetrockneten und 0,2225 Grm. schwach geglühten
Rückstandes.
100 C. C. Wasser von der Waldquelle gaben aber nur
Buchner: Miner altoasser zu Neumarkt i. d. Ober pf alz. 135
0,040 Grm. ungeglühten und 0,039 Grm. schwach geglühten
Rückstandes.
Die Menge des Schwefelwasserstoffes wurde mittelst
einer wässerigen Jodlösung, die in einem Liter 1,27 Grm.
(= 0,01 Mg.) Jod enthielt, bestimmt. Hiebei ergab sich,
dass das Wasser von der Trinkquelle nahezu 22 Mal mehr
Schwefelwasserstoff enthält als das Wasser von den Quellen
in der Brunnstube und fast 26 Mal mehr als dasjenige von
der Kapuzinerquelle. Am ärmsten an Schwefelwasserstoff ist
das Wasser von der Waldquelle.
Die Quantität der im Wasser der Trinkquelle vorhan-
denen freien Kohlensäure wurde nach der nun hinlänglich
bekannten vortrefflichen Methode v. Pettenkofer's l) fest-
gestellt, nur wurde das Mineralwasser wegen etwa vorhan-
dener grösserer Kohlensäuremenge mit mehr Kalkwasser und
wegen der ziemlich grossen Menge Magnesia mit etwas mehr
Salmiaklösung vermischt, als'v. Pettenkofer für die Bestim-
mung der freien Kohlensäure im gewöhnlichen Trinkwasser
nehmen lässt.
In 100 C.C. frischen Wassers wurde 0,0182 und in der-
gleichen Menge Wasser nach mehrwöchentlichem Stehen in
einer verkorkten Flasche 0,0166 Grm. , mithin für 1 Liter
0,182 und 0,166 Grm. freier Kohlensäure gefunden. Da
nun die in einem Liter gefundene Menge der an Kalk, Ma-
gnesia und Eisenoxydul gebundenen Kohlensäure 0,16888 Grm.
beträgt, so ergibt sich, dass dieses Mineralwasser kaum mehr
freie Kohlensäure enthält als nothwendig ist, um diese kohlen-
sauren Salze als Bicarbonate aufgelöst zu halten.
Die Menge der in diesem Wasser vorhandenen orga-
nischen Substanz konnte nur auf approximative Weise
geschätzt werden. Ich nehme nämlich an, dass der gelind
1) S. Sitzungsberichte 1860. Heft III, S. 289.
136 Sitzung der math.-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
geglühte Verdainpfungsrückstand des Wassers bestehe aas
dem bei 180° C. ausgetrockneten Verdampfungsrückstande
minus der Kohlensäure der kohlensauren Magnesia, dem
Hydratwasser des im Rückstande befindlichen Eisenoxydes
und der Thonerde, dem schwefelsauren Ammonoxyde, wel-
ches sich indessen schon während des Eindampfens in
flüchtiges kohlensaures Amnion umsetzt, und der organischen
Substanz. Die Menge der letzteren ergiebt sich mithin an-
nähernd genau aus der Differenz zwischen der Menge des
ungeglühten und derjenigen des geglühten Rückstandes, zu
welcher man die Grössen der oben erwähnten Stoffe mit
Ausnahme der noch zu suchenden für die organische Sub-
stanz addirt hat.
Zusammenstellung des Resultates der chemischen
Analyse des Wassers von der Trinkquelle.
Die folgende Zusammenstellung enthält die Menge der
in 1 Liter (= 1002,1 Grammen) des Wassers von der
Trinkquelle aufgefundenen wägbaren Stoffe in Grammen aus-
gedrückt.
Es wurden gefunden:
Schwefelwasserstoff
Chlor
Schwefelsäure
Kohlensäure, freie
„ gebundene
Kieselsäure
Thonerde .
Eisenoxydul
Kalk
Magnesia
Kali .
Natron
0,00500 Grm.
0,00765 „
1,11468 „
0,18200 „
0,16888 „
0.00118 „
0,00104 „
0,00953 ,.
0,54474 ..
0,30190 „
0,01860 „
0,01496 „
Büchner: Mineralwasser zu NetwtarJct i. d. Oberpfalz. 137
Ammonoxyd .... 0,00175 Grm.
Organische humusartige Substanz 0,15638 „
In unwägbarer oder nicht genau wägbarer Menge wurden
gefunden :
Salpetersäure,
Phosphorsäure,
Manganoxydul,
Lithion.2)
Folgende Tabelle gibt die in diesem Wasser enthaltenen
liestandtheile, die Basen und Säuren zu Salzen verbunden,
sowie deren Menge sowohl in 1 Liter in Grammen als auch
in 1 Pfunde zu 16 Unzen (= 7680 Granen) in Granen
berechnet an. Bei der geringen Differenz zwischen dem
spec. Gewichte von reinem Wasser und demjenigen des
untersuchten Mineralwassers kann man, ohne einen erheb-
lichen Fehler zu begehen, die in 1 Liter enthaltene Menge
der einzelnen Bestandteile auch für 1000 Grammen Wassers
gelten lassen.
Es sind enthalten :
In 1 Liter: In lPfd.=7680Grn.
A. Gasförmige Bestandtheile:
Schwefelwasserstoff . 0,00500 Grm. 0,03832 Gran
= 3,38 C.C. = 0,llCubikzoll
Freie Kohlensäure . 0,18200 „ 1,39483 Gran
= 95,03 C.C. = 3,04Cubikz.3)
2) Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass das zur quantita-
tiven Bestimmung des Kalis hergestellte Kaliumplatinchlorid besonders
auch auf Caesium und Rubidium mittelst der Spectralanalyse und dass
der eisenhaltige Schlamm aus dem Brunnen auf Arsenik untersucht
wurde. Aber es war nicht möglich, Spuren dieser Stoffe deutlich zu
erkennen.
3) Die oben angegebenen Zahlen für das Volumen des Schwefel-
wasserstoff- und kohlensauren Gases sind berechnet für die Quellen-
temperatur (z^-(-80C.) und 760m m Barometerstand.
138 Sitzung der math.-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
In 1 Liter : In lPfd.=7680 Grn .
0,01261 Grm.
0,01896 „
0,03439 „
0,00444 ,,
0,88944 „
0,84348 „
0,01535 „
0,31875 „
0,04355 „
0,00104 „
0,00118 „
0,15638 „
0,09664 Gran
0,14531 „
0.26356 „
0,03403 „
6,81658 „
6,46435 „
0,11764 „
2,44287 „
0,33376 ,.
0,00797 „
0,00904 „
1,19848 .,
B. Fixe Bestandtheile:
a. In wägbarer Menge :
Chlornatriuin
Schwefelsaures Natron .
Schwefelsaures Kali
Schwefelsaures Ammonoxyd .
Schwefelsaurer Kalk
Schwefelsaure Magnesia
Kohlensaures Eisenoxydul
Kohlensaurer Kalk
Kohlensaure Magnesia .
Thonerde ....
Kieselsäure ....
Organische humusartige Sub-
stanz ....
Summe der wägbaren fixen
Bestandtheile
b. In unwägbarer oder nicht genau wägbarer Menge:
Schwefelsaures Lithion,
Salpetersaures Kali,
Phosphorsaurer Kalk,
Kohlensaures Manganoxydul.
Das untersuchte Mineralwasser muss demnach zu den
schwefelwasserstoffhaltigen Eisenwassern mit schwefelsauren
und kohlensauren Salzen, worunter die schwefelsaure Magnesia,
der schwefelsaure und kohlensaure Kalk vorherrschen, gezählt
werden. Die darin vorhandene Menge kohlensauren Eisen-
oxyduls, in einem Pfunde nicht viel über Vio Gran betragend,
ist zwar nicht so gross als in manchen anderen Eisenwassern,
aber immerhin gross genug, um, wie die Erfahrung hinläng-
lich gelehrt hat, bei gehörigem Gebrauche des Wassers eine
heilkräftige Wirkung in mehreren Krankheiten auszuüben.
2,33957Grm. 17,93023Gran.
Buhl: Bildung con Eiterkörpern. 139
Herr Buhl macht Mittheilung :
1) „Ueber die Bildung von Eiterkörpern in
Gefässepithelien."
Vor Kurzem wurde mir ein Stück Leber von einer an
Pylephlebitis verstorbenen Person zur Ansicht überbraclit.
Leider kann ich über den Fall weiter nichts mittheilen, als
eben das Resultat der mikroskopischen Untersuchung, welche
ich an dem Leberstücke ausführte.
Das Lebergefüge war brüchiger als gewöhnlich, gelblich
tingirt, wie bei akuter Atrophie und die sämmtlich darin
verlaufenden Pfortadergefässe mit dickflüssigem Eiter gefüllt.
Thrombose oder überhaupt Gerinsel fanden sich nicht.
Gallengänge, Arterien und Venen waren ohne erwähnens-
werthe Veränderung. Die Leber entsprach auch mikrosko-
pisch einer in akuter Atrophie begriffenen, denn ihre Zellen
waren reichlich mit gallegefärbten Fettkörnchen gefüllt, klein,
dem Zerfalle nahe oder wirklich zerfallen; aus letzterem
Umstände dürfte sich die Anwesenheit einer grossen Menge
freier Fettmoleküle erklären. Zwischen diesen fanden sich
auch kuglige cytoide Körper von der Beschaffenheit der
Lymph- oder farblosen Blutkörper oder wenn man will der
Eiterkörper. Denn der Inhalt der Pfortaderäste würde von
Niemanden für etwas anderes , als für Eiter ausgegeben
worden sein und so mögen die cytoiden Körperchen in der
Lebersubstanz — obgleich sich solche nach meinen Erfahr-
ungen bei jeder akuten Atrophie finden — denn auch für
Eiterkörper genommen werden.
Der Eiter der Pfortade raste enthielt ausser den
Eiterkörpern , d. h. ausser cytoiden kugligen Körpern von
der Grösse der Eiterkörper mit einem durch Essigsäure
140 Sitzung der math.-pliys. Classe vom 1 Juni 1867.
deutlich hervortretenden Inhalt von 1 — 3 Kernen, mit Fett-
körnchen im Protoplasma, auch noch andere relativ grosse
Körper, nämlich Zellen von Spindelform mit ungewöhnlichem
Breite-Durchmesser, gewöhnlich in starker Fettdegeneration,
die keine anderen sein konnten und waren — wie unmittel-
bares Abkratzen von der Innenwand des Gefässes erwies —
als Epithelzellen der Pfortader. Weniger aber durch die
Fettdegeneration war das dickbäuchige Ansehen hervor-
gebracht, als vielmehr durch Eiterkörper, welche zu 1—5
und mehr innerhalb derselben beherbergt waren. Da die
Eiterkörper mit den Fettkörnern der Zellen umhüllt waren,
so fiel der eigenthümliche Inhalt zunächst in solchen auf,
wo die Fettdegeneration unbedeutend war. Hier liess sich
auch hie und da bei guter Lagerung der Zellenkern er-
kennen. Es war somit kein Zweifel, dass eine endogene
freie Bildung von Eiterkörpern in Epithelien vorlag.
Die Sache hat ein mehrfaches Interesse. Sie ist nicht
bloss ein neuer Beleg für die Wahrheit des angegebenen
Modus der Entstehung der Eiterkörper in Epithelzellen
überhaupt , sondern bekömmt, wie ich zu zeigen versuchen
will, Bedeutung für die Vorgänge im Innern der Gefässe
und namentlich auf deren abnormen Inhalt.
Glaubt man den Eiter von Blut und Lymphe wohl
trennen zu können, weniger durch den Mangel an gefärbten
Körpern, die zufällig auch dem Eiter beigemischt, weniger
durch die absolute Menge der weissen Körper, die ja zu-
sammengedrängt sein können , und weniger auch durch den
Mangel an gerinnbarem Stoff, der im Blute fehlen könne,
und endlich weniger durch das emulsive, rahmige, gelblich-
weisse Ansehen, ein Produkt der rasch sich geltend machen-
den Fettdegeneration der Körperchen, die in Thromben auch
beobachtet wird : so war man doch nur dann sicher über-
zeugt davon, dass eine fragliche Flüssigkeit Eiter sei und
nichts anderes sein könne , wenn dieselbe ausserhalb der
Buhl: Bildung von Eiterlcörpern. 141
Gefässe gelegen war. Innerhalb der geschlossenen Blutbahn
gestaltet sich die Sache im entgegengesetzten Sinne. Denn
da man keine mikroskopischen Unterscheidungsmerkmale
zwischen Eiterkörpern und farblosen Blut- oder Lymph-
körpern wusste, so durfte hier auch die eiterähnlichste
Flüssigkeit für keinen Eiter angesehen werden; denn hier
waren es die farblosen Blutkörper, die sich massenhaft zu-
sammen- und die gefärbten verdrängt hatten, hier war der
sie zusammenhaltende Faserstoff durch Fettdegeneration zer-
fallen, welche letztere Degeneration auch dem Ganzen ein
emulsives milchiges Ansehen, selbst die gleiche Farbe gab.
Innerhalb der Blutbahn war also die bezeichnete Flüssigkeit
immer nur verändertes Blut, ausserhalb der Blutbahn war
sie immer Eiter.
Die Anschauung war neu und bequem, ob aber richtig,
ist eine andere Frage. Immer taucht einerseits auch —
doch ohne besonderen Anklang zu finden — der Gedanke
wieder auf, die Eiterkörper ausserhalb der Blutbahn nicht
nur ihrer mikroskopischen Identität, sondern auch wegen
ihrer Entstehung und ihres Sitzes eigentlich für Lymph-
körper anzusehen, obgleich man nicht nur den Entstehungs-
modus, sondern auch den Entstehungssitz der Lymphkörper
viel weniger kennt, als den der Eiterkörper. Und immer
behauptet man andrerseits „unter gewissen Umständen"
wieder, es sei Eiter in den Gefässen und nicht Blut, wenn
man sich auch keine Rechenschaft darüber geben konnte,
wie denn der Eiter darin entstehe. Gerade die Entzündung
und damit bezeichnet man ja den Process, unter dessen
Wirksamkeit Eiter erscheint, gerade die Entzündung der
Gefässwand, deren gefässhaltige bei der Entzündung beson-
ders bethätigte Schichte nach aussen liegt und deren Höhle
nach innen durch eine feste Epithelschichte geschützt sei.
war ein Hinderniss, die Entstehung der Eiterkörper inner-
halb der Blutbahn zuzulassen.
142 Sitzung der math.-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
Durch meine oben mitgetheilte Beobachtung ist man
jedoch gezwungen, die Funktion des Gefässepithels nicht
nur als schützende Decke zu betrachten, die bloss durch
Imbibition, sei es vom Blute, das in der Gefässröhre strömt,
sei es vom Blute in der Adventitia der Gefässwand, nur nutritiv
erhalten wird, sondern das Epithel tritt, wie das Epithel
überall im Körper, auch hier bildend, producirend auf, seine
Zellen sind fähig durch einen im osmotisch aufgenommenen
Safte enthaltenen Reiz ihre lebendige Thätigkeit zu entfalten
und zur Bildung neuer zelliger Körper zu verwenden. Diese
Körper sind im gegebenen Falle Eiterkörper ; allein einmal
eine bildende Thätigkeit in ihnen thatsächlich erwiesen, so
ist damit der Anstoss gegeben, in allen Vorgängen inner-
halb des Gefässrohres nach der aktiven Theilnahme der
Gefässepithelien zu fragen.
Ausser dem pathologischen Interesse tritt uns auch ein
physiologisches vor Augen; denn im gesunden Zustande
giebt es schon Körperchen im Blute, welche histologisch
von sämmtlichen Forschern mit den Eiterkörpern identifizirt
werden und desshalb histogenetisch auf den gleichen Ursprung
denken lassen. Manche Autoren haben auch wirklich den
Gefässepithelien. insonderheit der Milz, die Bestimmung zu-
erkannt, die farblosen Biutkörper zu erzeugen. Analoges
dürfte vom Epithel der Lymphgefässe in Bezug auf die Ent-
wicklungsstätte der Lymphkörper gesagt werden. Die Schwank-
ungen in der Menge dieser Körperchen und noch im Be-
reiche des Normalen (im nüchternen Zustande und in der
Verdauungszeit) dürften auf vorübergehende normale Reize
bezogen werden. Vielleicht giebt die Untersuchung eines
Falles von Leukaemie die nöthigen Anhaltspunkte, ob nicht
die absolute, krankhafte Vermehrung derselben wirklich von
abnorm gesteigerter Bildungsthätigkeit der Gefässepithelien
herrührt, die hier in Bezug auf die Milz, Leber, die Lymph-
Buhl: Bildung von Eiterkörpern. 143
driisen nichts anderes als die Mittheilnahnie der gesteigerten
Bildungsthätigkeit im ganzen Organe ausdrücken würde.
Die Pfortader und ihre Aeste, von welchen obige Be-
obachtung stammt, gehören zum Venensysteme. Eiter findet
sich fast nie in Arterien. Man dürfte daher schliessen,
dass die Eigenschaft, farblose Blut- und Eiter-
körper zu erzeugen, fast ausschliesslich dem Venen-
und dem Lyniphgefässepithel, nicht aber dem Arterien-
epithele zukomme.
Der Zweifel, ob man gegebenen Falles Eiterkörper
oder angehäufte Lymph- oder farblose Blutkörper vor sich
habe, könnte somit gehoben werden, wenn man sich zu der
Anschauung bequemen wollte, dass die Bildung sämmtlicher
genannter Körperchen ausser- wie innerhalb der Blutbahn
auf gleichen Bedingungen beruht. Bei übermässiger Ver-
mehrung wird da, wie dort die sie enthaltende Flüssigkeit
Eiter zu nennen se-in, d. h. es giebt zwischen Eiter-
körpern und farblosen Blut- oder Lyniphkörpern
(auch Schleim-, Speichelkörper etc. gehören hieher) keinen
anderen und keinen schärfer zu begrenzenden Unter-
schied als einen quantitativen; ursprünglich sind die
Körperchen qualitativ identisch, weichen aber durch die
Menge , in der sie vorhanden sind und dadurch in ihren
weiteren Schicksalen von einander ab.
Die gesicherte Thatbache, dass innerhalb der Adventitia
der Gefässe, wie im übrigen Bindegewebe des Körpers, sich
auch Eiter bilden könne , wird damit weder bestritten noch
beeinträchtigt. Gleichwohl ist in Acht zu nehmen, dass im
Bindegewebe Venen und Lymphgefässe verlaufen. Es käme
in Frage, ob ausser der Milz und anderen blutbereitenden
Organen, nicht jedes Organ und Gewebe durch den Besitz
an Venen und Lymphgefässen geeignet wäre, farblose Blut-
körper zu erzeugen und kann man meines Erachtens darüber
nicht absprechen, ob bei eiterndem Bindegewebe nicht ein
144 Sitzung der math.-phys. (lasse vom 1. Juni 1867.
Theil des Eiters im Epithel der Venen und Lymphgefässe
gebildet werde.
Im normalen Zustande mag allerdings die Bildung der
farblosen Blutkörper auf kleine bestimmte venöse Capillar-
bezirke (auf die Milz z. B.) beschränkt sein; unter patho-
logischen Verhältnissen aber kann die gleiche Thätigkeit
in vielen Punkten des Körpers erweckt werden und vom
capillaren Lymphgefäss- und Venensysteme aus sich über
die Lymphgefässe selbst und die grösseren Venenäste aus-
dehnen. Die fortgesetzte Phlebitis und Lymphangitis und
die damit Hand in Hand gehende Thrombose sowohl wie
die Pyaemie und ihre multiplen Herde würden einer sach-
gemässen Erklärung zugängig werden.
2) „Notiz über primäre ästige Osteome der
Lunge".
Kalkige, eine Knochenstruktur nicht besitzende Gebilde
der Lunge sind häufig zu sehen; wirkliche Knochen in
diesem Organe immer eine Seltenheit. Letztere kommen
in der Regel nur sekundär vor; es sind bald Narben, welche
nachträglich verknöchern, bald sind es von einem Körper-
theile aus in die Lunge transportirte, mit Knochengerüste
versehene Neubildungen (sogenannte Osteoide), nämlich
Krebse, Enchondrome, Fibrosarkome. Die grösste Seltenheit
jedoch sind primäre Knochenbildungen im Lungengewebe.
Von den 2 Formen, der ästigen und knotigen, hatte
ich jüngst bei einem 58jährigen Manne, der an croupöser
Pneumonie starb, Gelegenheit, die erstere zu beobachten
und will ich sofort den Befund der verehrten Classe mit-
theilen.
Verästigte Knochenbildungen in der Lunge wurden wohl
von Luschka (Virchow's Archiv 10 Bd. p. 500) zuerst ge-
Buhl: Primäre ästige Osteome der Lwige. 145
nauer beschrieben, wenn sie auch schon Anderen vor ihm
bekannt waren. Ich kann seiner getreuen Beschreibung
kaum etwas beifügen. Bei meinem Falle waren es indess
nicht die Unterlappen der Lungen (Rokitansky, Virchow,
Förster geben als stetigen Sitz den Unterlappen an), in
welchem beim Befühlen die spitzigen Knochenäste sich be-
merklich machten , sondern einzig und allein der rechte
Oberlappen, dessen Pleuraüberzug glatt, glänzend, nur unbe-
deutend verwachsen war. Das ödematöse Lungengewebe
collabirte beim Einschneiden schwer, war etwas dichter,
pigmentreich, seine Bläschen ungleich erweitert, die Bron-
chien mit starkem Catarrh versehen. Von den anderen Or-
ganen ist nichts Erhebliches mitzutheilen ; das Herz war
etwas fettig degenerirt, der Magen in seinem Pförtnertheile
hypertropisch (etat mammelonne), der Bauchfellüberzug von
Leber und Milz verdickt. Der grösste Theil der ästigen
Lungenknochen wurde herausgeschnitten und der Maceration
unterworfen und erhielt ich auf diese Weise eine ziemliche
Anzahl grösserer und kleinerer Präparate. Die kleineren
hatten oft nur 2 — 3 spitze gerade Ausläufer der Aeste,
andere verliefen gebogen; wieder andere endigten anstatt
spitz in ein granulöses, blumenkohlälinliches Kölbchen. Die
grösseren bildeten geschlossene, einfache und mehrfache
Bogen und verzogene Kreise grösseren oder kleineren. Durch-
messers. Die Hauptbalken massen dabei 2 — 5 m/m im
Durchmesser. Luschka hal^ schon jene blumenkohl-ähnlichen
Kölbchen mit den Lungenbläschen , die Kreise und Bogen
mit den Alveolarwänden verglichen — in der That dieser
Vergleich trifft zu.
Unter den verschiedenen Methoden, welche behufs einer
mikroskopischen Untersuchung angewandt wurden , erwiesen
'sich die wenn auch schwierig auszuführenden Schliffe am
besten. Mau sieht die schönsten Knochenkörperchen, lamel-
löse Anordnung derselben , meist der Länge nach , seltner
[1867.11. 1.] ' 10
146 Sitzung der math.-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
concentrisch um einen obliterirten oder offenen Hauers'schen
Kanal herum. An die Hohlwand des letzteren war meist
eine ziemliche Menge schwarzen Pigments eingelagert. Auch
die von Luschka mit dem Hirnsande verglichenen Kalkkörner
(mikroskopisch durchsichtige glänzende Ringe mit dunklem
körnigem Inhalte) fanden sich; sie lehnten sich unmittelbar
an die Knocheubälkchen an. Auf sie erst folgten die Weich-
theile. d. h. farblose oder pigmentreiche Bindegewebziige.
Wie Luschka, Förster etc., bin auch ich der Meinung,
dass die beschriebenen Osteome ursprünglich auf einer Ver-
knöcherung des interstitiellen Bindegewebes, der Alveolen-
und Bronchuolenwände beruhen und von den etwas grösseren
Gefässzweigen ausgehen. Doch bleibt die Bildung nicht
dabei stehen ; denn anstatt der regelmässigen, nur zu Knochen
umgewandelten Zeichnung jener Theile sieht man vielmehr
die grösste Unregelmässigkeit und insbesondere mikros-
kopische epostosenähnliche Verdickungen ; auch in den durch
die Knochenkörperchen angedeuteten Lagerungen und Zügen
wird es deutlich, dass eine wirkliche Knochenneubild-
ung vorliegt. Wie die Hirnsand-ähnlichen Bildungen zu er-
klären sind, möchte ich nicht wagen zu entscheiden.
Gi'tmbel: Vorkommen von Phosphorsäure. 147
Herr Gümbel gibt:
„Weitere Mitteilungen über das Vorkommen
von Phosphorsäure in den Schichtgesteinen
Bayern's."
In einer früheren Mittheilung (Sitzungsber. d. k. Akade-
mie d. Wiss. in München 1864 Bd. II. S. 325) wurde von
mir zuerst auf den hohen Phosphorsäuregehalt gewisser
knolliger Concretionen in verschiedenen jurassischen
Schichten der fränkischen Alb aufmerksam gemacht und
nachzuweisen versucht, dass diese Eigenthümlichkeit sich
nicht nur innerhalb eines sehr mächtigen Schichtencomplexes
vielfach wiederholt, sondern auch über sehr ausgedehnte
Länderstrecken verbreitet zeigt. Die Kenntniss dieses Vor-
kommens hat sich inzwischen beträchtlich erweitert und wir
wissen nun , dass ein mehr oder weniger hoher Gehalt an
Phosphor säure — namentlich an Kalkerde gebunden —
abgesehen von der Knochen-reichen Bonebedlage der rhätischen
Stufe der Trias bereits in den Knollen der Angulatus-Schichten
des untersten Lias beginnt, durch die verschiedenen Stufen
des unteren und mittleren Lias fortdauert, in den Knollen
der Mergel mit Ammonitcs margaritatus sehr reichlich an-
gehäuft vorkommt, dann fast in gleicher Menge in den
obersten Liassehichten mit Ammonites radians wiederkehrt
uud ganz insbesonders die Concretionen innerhalb der sog.
Ornatenthone ausgezeichnet. Dergleichen Knollen finden sich
nach meinen Beobachtungen während der vorjährigen Ge-
birgsuntersuchung überall im fränkischen Jura, wo die ent-
sprechenden Mergellagen zu Tag ausgehen. Sie haben aber
nicht bloss eine ganz allgemeine Verbreitung in unserm
Fraukenjura, sondern lassen sich in ganz gleicher Weise
10*
148 Sitzung der math.-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
auch in den jurassischen Ablagerungen von Württemberg,
Baden, im Allgäuer Jura, ferner bei Braunschweig, im
Wesergebirge , auf beiden Seiten des Teutoburger Waldes,
endlich auch in den ausgedehnten Zügen der Juraformation
Frankreichs und Englands nachweisen. Dadurch, dass sie in
den etwa der Stufe mit Ammonites macrocepJialns entspre-
chenden Ablagerungen des Hirnälaya-Gebirgs, von woher sie
die Hrn. Gebrüder v. Schlagintweit brachten, gleichfalls
reich an Phosphorsäure vorkommen, scheint die Annahme,
dass derartige Phosphorsäure-reiche Knollenausscheidungen
den jurassischen Ablagerungen in allen ihren Verbreitungs-
gebieten eigenthümlich ist, eine wichtige Unterstützung zu
gewinnen.
Die Häufigkeit und allgemeine Verbreitung dieser Phos-
phorsäure-haltigen Knollen legen uns zunächst die Frage
nahe, ob man dieselben nicht mit Vortheil für Agricultur-
zwecke verwenden könne. Bei Beantwortung dieser Frage
dürfen hauptsächlich zwei Punkte, welche von entscheidendem
Einflüsse sind, ins Auge zu fassen sein :
1) ob diese Phosphorsäure hauptsächlich als phosphor-
sauren Kalk (3 CaO, PO5) enthaltenden thonigen und zugleich
auch an kohlensauren Kalk-reichen Knollen — die thonigen
Phosphorite — für die Landwirtschaft nutzbar und mit
Vortheil verwendet werden können, ohne erst den phos-
phorsauren Kalk vor seiner Verwendung in Super-
phosphat zu verwandeln und
2) ob diese thonigen Phosphorite sich in der Natur
in zureichender Menge und in einer Weise gelagert vor-
finden, dass ihre Gewinnung eine andauernde, massenhafte
und wohlfeile — d. i. eine ökonomisch lohnende sein kann.
Bezüglich des ersten Punktes ist zu bemerken, dass
bekanntlich der basische phosphorsaure Kalk, wie er in
der Natur vorkommt, um grössere Löslichkeit zu erzielen, für
Gümbel: Vorkommen von Phosphorsäure. 149
die Zwecke der Landwirtschaft, vor seiner Verwendung erst
in Superphospliat verwandelt wird.
Bei unserem thonigen Phosphorit ist dieses Verfahren
ökonomisch unstatthaft. Denn da derselbe neben phosphor-
saurem Kalk zugleich auch kohlensauren Kalk in beträchtlicher
Menge enthält, so würde die zur Herstellung des Super-
phosphats verwendete Schwefelsäure zuerst den kohlen-
sauren Kalk angreifen und in Gvps verwandeln, der auf
diese Weise erzeugt, viel zu theuer wäre. Die darauf ver-
wendete Schwefelsäure wäre gleichsam verloren und bei dem
hohen Preis der Schwefelsäure würde das weiter erzeugte
Superphospliat kaum ein entsprechendes Werthäquivalent
geben. Es sind mir zwar keine direkten Versuche hierüber
bekanut, indess scheint diess schon von vorneher mehr als
wahrscheinlich.
Die rentable Verwendung der Knollen des thonig-kalkigen
Phosphorites für Agrikulturzwecke dürfte demnach davon ab-
hängig sein , ob das bezeichnete Phosphor säure - haltige
Gestein an sich schon, ohne vorher mit Schwefelsäure be-
handelt worden zu sein, entweder einfach zu feinem Pulver
gepocht, oder erst gebrannt und dann gepulvert und der
Ackerkrume beigemengt, einen dem Aufwand für Herstellung
dieses künstlichen Düngermittels entsprechenden günstigen
Eiufluss auf die Vegetation auszuüben im Stande sei oder
nicht. Versuche, welche man mit dem Phosphorit (nicht Su-
perphosphat) angestellt hat, sprechen für einen sehr geringen
und sehr langsamen Einfluss. Vielleicht würden grössere
Quantitäten aus möglichst feinem Pulver günstiger wirken.
Auch dürfte der Gehalt an Thon und kohlensaurem Kalk
unseres Knollenpliosphorits günstig auf seine raschere Zer-
setzung einwirken. Das Brennen und nachherige Zerkleinern
möchte ganz insbesonders ins Auge zu fassen sein, weil durch
das Brennen der kohlensaure Kalk kaustisch und die ganze
Masse aufgeschlossen wird . zugleich auch , weil die Knollen
150 Sitzung der math-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
im ungebrannten Zustande sehr zäh und schwierig zu pochen
oder mahlen sind. Vielleicht würde auch das Einstreuen des
Pulvers in den Dünger günstig auf einen rascheren Aufschluss
wirken. Es wäre sehr zu wünschen, dass in diesen Richtungen
praktische Versuche von Landwirthen oder landwirtschaft-
lichen Versuchsstationen angestellt würden, weil von der
Lösung dieser Vorfrage alles Uebrige abhängig ist.
In Bezug auf den zweiten Punkt, welcher sich auf die
Häufigkeit des Vorkommens des thonigen Phosphorits bezieht,
habe ich Gelegenheit genommen, in den Sommermonaten
der zwei letzten Jahre eingehende Untersuchungen innerhalb
des ganzen Gebiets der fränkischen Alb anzustellen. Das
Resultat ausgedehnter Gebirgsbegehungen hat zwar das reich-
liche Vorkommen des thonigen Phosphorits in dem obenge-
nannten Ornatenthon an sehr vielen Stellen ausser Zweifel
gestellt. Indess glaubte ich mich nicht damit beruhigen zu
dürfen, sondern direktere Versuche vornehmen zu sollen. An
einem der dem äusseren Ausehen nach ergiebigsten Fund-
punkte unseres Gebirgs , am sog. Zogenreuther Berg bei
Auerbach (a. 0. S. 344) in der Oberpfalz am Ostfusse der
fränkischen Alb. da, wo auf der Höhe des nördlichen Berg-
gehängs die Atmosphärilien den die Knollen einhüllenden Mergel
durch Jahrhundert lange Einwirkung weggewaschen und auf
diese Weise die Knollen an der Oberfläche sich massenhaft ange-
häuft haben, Hess ich die frei auf einer Oedung liegenden Knollen
aufsammeln. Ein Arbeiter konnte hier durchschnittlich in
einer Zeitstunde zwei Zentner solcher Knollen sammeln.
Von diesem eingesammelten Material hatte Hr. Prof. Vol-
hard die Güte, durch den Assistenten bei der landwirth-
schaftlichen Versuchsstation in München, Hr. Dr. Röttger,
eine vollständige Analyse herstellen zu lassen und die Re-
sultate derselben mir gefälligst mitzutheilen. Um den durch-
schnittlichen Gehalt dieser Knollen zu ermitteln, wurde zu
Gümbel: Vorkommen von Phosphorsäure.
151
dieser Durchschnittsanalyse aus 65 Pfd. Knollen die Probe
genommen.
Demnach enthalten die Knollen des thonigen Phos-
phorits von Auerbach im Durchschnitt:
Phosphorsäure ....
22,92
Schwefelsäure ....
1,62
Chlor
0,03
Fluor
. 2,92
Kohlensäure .....
11,64
Kalkerde
44,22
Bittererde
0,77
Eisenoxyd
, 4,85
Eisenoxydul
. 0,86
Unlösliches, Thon, Kieselerde etc.
. 9,97
99,80
Die Untersuchung auf Jod hat dessen Abwesenheit
ergeben. Der hohe Gehalt an Fluor ist besonders bemerkens-
werth. Es scheint demnach der thonige Knollenphos-
phoritaus einem dem Fluorapatit entsprechenden Kalkphosphat
zu bestehen, das mit Thon und kohlensaurem Kalk nebst
geringer Menge kohlensaurer Bittererde und Eisen oxydul
verunreinigt ist. Die Schwefelsäure hat ihren Ursprung in
einem schon mit dem Auge zuweilen erkennbarem Gehalt
an Schwefelkies.
Die Arbeitsleistung eines Mannes , welcher die an der
Oberfläche ausgewaschenen Knollen sammelt, entspricht mit-
hin in der Stunde dem Werthe von 23 Pfd. Phosphorsäure.
Es scheint diesem nach kaum zweifelhaft, dass ein solches
Aufsammeln ein verhältnissmässig äusserst lohnendes Ge-
schäft wäre. Es bedarf aber kaum der Bemerkung , dass
schon nach wenigen Stunden der Aufsammelarbeit die Knollen
fühlbar seltener zu finden sind, dass der Vorrath an Knollen,
welchen die Arbeit des Regens von Jahrhunderten erzeugt
152 Sitzung der math.-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
hat, sich in ganz kurzer Zeit auf weitere Fläche erschöpft
und damit die Aufsammelarbeit ihr Ende erreicht. Es ist
an sich klar, dass nach diesem Versuche die Frage der
lohnenden Gewinnbarkeit sich nicht beurtheilen lässt.
Man muss die Versuche auf die Gewinnung der Knollen
in ihrer ursprünglichen Lagerstätte, wo sie zerstreut im
Mergel eingehüllt vorkommen, ausdehnen. Hierfür scheinen
vor Allem solche Stellen sich zu eignen , wo die Knollen-
führenden Mergelschichten unmittelbar an der Oberfläche
ausgebreitet liegen und eine weitere Abdeckarbeit darüber
liegender Schichten nicht nothwendig ist. Ein unterirdi-
scher Abbau dürfte wegen seiner Kostspieligkeit ohnehin
nicht in Betracht kommen.
Der thonige Knollenphosphorit bildet nämlich
kein geschlossenes Flötz oder Lager , sondern findet sich
zwar lagerweise auf gleichen Schichten, aber immer mehr
oder weniger zerstreut in unregelmässig-länglich runden Con-
cretionen im Mergel eingebettet. Man muss desshalb behufs
seiner Gewinnung die gesammte Mergelmasse hereinhauen
und die Knollen einzeln aus der bröcklichen, zähen, thonig-
mergeligen Hauptmasse herauslesen. An der genannten, für
diese Art der Gewinnung vergleichsweise günstigen Stelle
bei Auerbach kann ein Arbeiter in 10 Arbeitsstunden durch-
schnittlich l\2 Zentner Knollen rein gewinnen und sammeln ;
mithin nur den 7*0 Theil der Arbeitsleistung beim Zusam-
menlesen der auf der Oberfläche ausgewaschenen Knollen
zu Stande bringen. Jedoch ist anzunehmen, dass diese Ge-
winnung nachhaltig stattfinden könnte.
Ob diese Menge von Phosphorsäure, welche durch Ge-
winnung der Knollen auf ursprünglicher Lagerstätte durch
eine tägliche Arbeitsleistung aufgebracht werden kann , die
durchschnittlich etwa 13 Pfund Phosphorsäure entspricht,
hinreichend gross ist, um die Kosten für den Taglohn, Ent-
schädigung an den Grundbesitzer, Verbringung des Roh-
Gümbel: Vorkommen von Phosphor säure. 153
material zur Stampf, des Pochens oder des Brennens und
Pochens, endlich der Verfrachtung des Pulvers bis zum Orte
der Verwendung zu decken und einen kleinen Gewinn in
Aussicht zu stellen, ist natürlich abhängig von der Brauch-
barkeit des erzeugten Produkts für die Landwirtschaft und
lässt sich erst nach Feststellung der letzteren sicher beur-
theilen. Jedenfalls aber scheint es eine wichtige Aufgabe zu
bleiben, noch weitere Versuche behufs Auffindung von Phos-
phorsäure-haltigen Gesteinslagen, welche etwa in geschlossenen
und mächtigen Lagen auftreten, anzustellen.
Die Wahrnehmung, dass die knolligen Concretionen der
jurassischen Gebilde fast durchgehends reich an Phosphor-
säure sind, legt die Vermuthung nahe, dass ähnliche Ge-
bilde auch innerhalb anderer Formationen sich ähnlich zu-
sammengesetzt zeigen würden.
Ich habe bereits in meinem ersten Aufsatze (a. a. 0.
S. 330 und 331) das Vorkommen von Phosphorsäure-
haltigen Knollen in Silurschichten Kanada's, sowie in den
Kreideschichten Englands und Böhmens augeführt, welches
Vorkommen die obige Annahme zu bestätigen scheint. In
der nach allen Richtungen hin so reichhaltigen und im
höchsten Grade belehrenden Pariser Internationalen-Aus-
stellung von 1867 sah ich in der französischen Ab-
theilung der V. Gruppe 40 Klasse Nr. 23 von dem Mini-
sterium für Agrikultur , Handel und öffentlichen Arbeiten
eine Sammlung von Knollen und Steinkernen aus sehr zahl-
reichen Orten Frankreichs aufgestellt, welche als sehr reich
an Phosphorsäure bezeichnet sind und durch die Menge der
ausgestellten Proben den Beweis liefern, welch' hohen Werth
man bereits auf dieses Rohmaterial in Frankreich legt. Es
sollen sehr grosse Mengen dieser Knollen bereits an vielen
Punkten gewonnen und zur Herstellung von Super-
phosphat verwendet worden. Es wurde behauptet, dass sie
sogar bereits nach England uud ins Ausland den Weg ge-
46,64
7,80
10,60
7,20
154 Sitzung der math.-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
fanden haben sollen, und als Snperphosphat, gemengt mit
reichhaltigeren Stoffen, von England aus wieder weiter in
den Handel gebracht werden. Vielfach hört man diese
Knollen als Koprolithen bezeichnen. Diess ist aber ganz
falsch; es sind nur Concretionen und die Ausfüllungsmasse
von Schalthieren sog. Steinkerne.
Eine beigesetzte Analyse giebt die Zusammensetzung
dieser französischen thonigen Phosphorite eines Vorkommens
von Apremont in folgender Weise an:
Phosphorsäure .... 27,76
Thonerde, Eisenoxyd und an Phos-
phorsäure gebundene Basen
Kalkerde ....
Wasser, Kohlensäure etc.
Rückstand in Säuren unlöslich
100,00
Diese Knollen, welche bereits Verwendung finden, ent-
halten also nur um weniges mehr Phosphorsäure, als unsere
jurassischen Concretionen aus Franken im Mittel. Es ist
sehr wahrscheinlich, dass das Mittel bei den französischen
Knollen auch nicht höher geht, da ja einzelne unsern fränki-
schen Knollen einen Gehalt an Phosphorsäure bis zu 36,1
und 40,0 °/o aufzuweisen haben.
Ein aus der Lahngegend gleichfalls in Paris ausge-
stelltes, dem Amberger Phosphorit sehr ähnlich aussehendes
Material enthält nach der beigesetzten Analyse:
Phosphorsauren Kalk 65,00
Eisenoxyd . . . 3,00
Fluor .... 2,00
Kohlensaurer Kalke . 16,00
Bittererde und Alkalien 2.00
Wasser, Jod und Silikate 12,00
100,00
mithin gegen 13°/o mehr phosphorsauren Kalk, dagegen
Gümbel: Vorkommen von Phosphorsäure. 155
weniger, aber doch immerhin eine beträchtliche Quantität
kohlensauren Kalks, so dass immerhin die ökonomische
Möglichkeit der Benützung unseres fränkischen Phosphorits
noch im Auge zu behalten wäre.
Die Substanz der französischen Knollen, welche dem
in Frankreich so weit verbreiteten sog. Galtgrünsand-
stein der unteren Procän- oder Kreideformation angehören,
gleicht in auffallender Weise einer Masse, welche auch bei
uns in dem geognostisch gleichstehenden Galtgrünsandstein
unseres Alpengebirgs vorkommt. Ich durfte daher auch in
diesen einen Inhalt an Phosphorsäure vermuthen. Diess
hat sich in der That bestätigt.
Auch der in den bayrischen, vorarlbergischen
und namentlich schweizerischen Alpen so weit ver-
breitete und in mächtigen Felsen anstehende Galt-
grünsand ist in gewissen Lagen verhältnissmässig
reich an Phosphorsäure.
Ich habe mehrere derartige Gesteinsproben, wie sie
gerade zufällig als versteinerungsführend von mir in den
Allgäuer Alpen gesammelt worden waren (natürlich ohne
Rücksicht auf den damals noch unbekannten Gehalt an Phos-
phorsäure-haltigen Concretionen) untersucht. Diese Proben
stammen von der sog. Schanze am Fusse des Grünten bei
Sonthofen und aus der Nähe von Laugenwang und Tiefen-
bach bei Oberstdorf und ergaben einen Phosphorsäuregehalt
von 5,7 — 16°/o im ganzen Gestein ohne Sonderung der knol-
ligen Concretionen.
Es ist diess jedoch bloss die Phosphorsäure, die im
Gestein an Kalkerde gebunden ist, da ja nur diese bei der
Frage über die Verwendbarkeit zu Agrikulturzwecken zu
berücksichtigen sein dürfte. Ausserdem enthält das Gestein
noch Phosphorsäure, welche an andere Basen gebunden ist.
Obwohl der Gehalt vom 6— 16°/o ein anscheinend ge-
ringer ist, so muss doch bemerkt werden, dass die zur
156 Sitzung der math.-phys. Classe vom 1. Juni 1867.
Analyse verwendeten Proben rein zufällig und ohne Rücksicht
auf die vorliegende Frage gesammelt waren. Ich zweifle
nicht, dass, wenn man die in unsern Allgäuer Alpen an so
vielen Orten zu Tag ausstreichenden Galtgrünsandsteinlagen
(vgl. mein Alpenwerk S. 530 und ff. und Kartenblatt Sont-
hofen) näher zu dem Zwecke untersuchen würde, um mög-
lichst reichhaltige Schichten oder Stellen aufzufinden, es
gelingen wird, Gesteinsproben von weit grösserem Gehalt an
Phosphorsäure als die oben angeführten ausfindig zu machen.
Diess dürfte schon nach dem blossen äusseren Aussehen des
Gesteins leicht zu beurtheilen sein. Denn ich habe gefunden,
dass der Gehalt an Phosphorsäure in dem Galtgrünsandstein
wesentlich gebunden ist an die dunkelfarbigen Concretionen,
Flecken und Steinkerne, welche der Grünsandstein einschliesst
und die sich sehr deutlich von der Hauptgesteinsmasse unter-
scheiden lassen. Je häufiger diese Concretionen eingeschlossen
sind, desto stärker ist der Phosphorsäuregehalt des ganzen
Gesteins oder je mehr dunkelfarbige Flecken zum Vorschein
kommen, desto reicher erweist sich das Material. Diess lässt
sich leicht nach dem Augenmaass beurtheilen.
Diese Gesteinsbildung besitzen wir namentlich in den
Allgäuer Alpen in weiter Verbreitung und in grossen
Felsmassen , welche oft in hohen Riffen aufragen und eine
möglichst einfache und wohlfeile Gewinnung des Gesteins
mittelst Steinbrucharbeit gestatten. Ich glaube daher nicht
unterlassen zu sollen, auf diese neue Quelle von Phosphor-
säure die Aufmerksamkeit namentlich unserer rationellen
Allgäuer Landwirthe hinzulenken, um praktisch zu versuchen,
ob die Landwirthschaft Nutzen aus diesem Vorkommen
schöpfen könne. Insbesondere gewinnt dieser Gegenstand
für die Schweiz grosse Wichtigkeit, weil dort solche knollen-
reiche Galtschichten in besonderer Mächtigkeit und Ausdeh-
nung vorkommen und eine sehr ausgebreitete Benützung
gestatten würde. Es verdient dabei noch erwähnt zu werden,
Gümbel: Vorkommen von Phosphorsäure. 157
dass dieses Material zugleich vielen Glauconit enthält, der
bekanntlich ziemlich reich an Kali ist, so dass durch dessen
Zersetzung wahrscheinlich dem Boden auch Kali zugeführt
werden könnte.
Die eigcnthümlich charakteristische Beschaffenheit der
Masse, aus welcher die Phosphorsäure-haltigen Steinkerne
dieses Galtgrünsandsteines und gewisse Knollen des Ornaten-
Mergels bestehen, leiteten mich weiter auf die Untersuchung
von Steinkernen aus anderen Gesteinslagen, welche aus einer
ähnlichen, stets dunkelfarbigen, im Vergleiche zu Kalk här-
teren, spröderen und schwereren Substanz zusammengesetzt
sind. Solche Steinkerne trifft man in den Procän- oder
Kreidegebilden von Regensburg häufig, sie kehren besonders
ausgezeichnet in den Kressenberger Nummulitenschichten
wieder. Es muss ausdrücklich bemerkt werden , dass nicht
alle Steinkerne die beschriebene Beschaffenheit besitzen, son-
dern nur ein Theil derselben. Meistentheils bestehen sie
bloss aus kohlensaurem Kalk, namentlich die Nummuliten
und die noch mit Schale versehenen Schalthierüberreste und
auch viele Steinkerne der Eisenerzflötze.
Die dichten schweren Steinkerne aus dem Nebengestein
der Kressenberger Eisenerzflötze ergaben mir in der That
einen Gehalt an Phosphorsäure von 5,68°/o
und gleichartige Steiukerne aus dem Grünsandmergel des
Galgenberges südlich von Regensburg 8,19%.
Fortgesetzte Versuche werden, wie ich bereits zu ver-
muthen Grund habe, lehren, dass nicht nur die meisten Con-
cretionen namentlich die Galtschichten in Norddeutschland,
am Harzrande, selbst die Geoden und Steinkerne aus den
Kreidebildungen Indiens Phosphorsäure in grösserer Menge
enthalten, sondern dass wir auch noch andere an dieser
Säure reiche Niederlagen in verschiedenen Schichten der
Sedimentformationen besitzen , die wir vielleicht nutzbar
machen können.
158 Sitzung der histor. Classe vom 1. Juni 1867.
Historische Classe.
Sitzung vom 1. Juni 1867.
Herr Roth hielt einen Vortrag:
„Ueber Keltische und Germanische Wehr-
verfassung".
Herr Kluckhohn machte Mittheilung über die
„Erzählung von der Verschwörung zu Bayonne
im Jahre 1565".
Die Abhandlung wird für die Denkschriften der Classe
bestimmt.
Hofmann: Bemerkungen zum NacMsegen. 159
Nachtrag
zur Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni.
(Vgl. oben Seite 6.)
Herr C. Hof mann übergibt folgende
„Bemerkungen zum Nachtsegen".
Ich habe seit der Sitzung , in welcher ich die Hand-
schrift und die Arbeit des Herrn Keinz der Classe vorlegte,
über manches weiter geforscht und das Manuscript selbst
noch einmal genauer angesehen , als ich beides in der Eile
des ersten Fundes thun konnte. Früher hatte ich nur den
Nachtsegen berücksichtigen können, jetzt bei Einsicht des
übrigen manchfaltigen Inhalts finde ich allerlei, was der Mit-
theilung werth sein und die Forschung weiter führen dürfte.
Zuerst in dem unmittelbar vorausgehenden lateinisch-deutschen
Pflanzenverzeichniss finde ich S. 119 V° Affodillus golde Adera
idem. In dem ersten Kräuterglossar S. 69 V° wird affodillus
erklärt durch goldewrz, und da schon Frisch Goldwurz mit
Asphodelus bulbosus, dann chelidonium erklärt (I. 361), so
wissen wir also jetzt, dass golde = asphodelos, die bereits
mythologische Kartoffel der Hellenen ist. Ich kann freilich
nicht behaupten, dass die dingenden golden in Vers 15
des Nachtsegens damit identisch seien; aber wenn man er-
wägt, dass ein anderes Knollengewächs, die Mandragora oder
Alraun im Aberglauben eine hervorragende Rolle spielt, so
kann man Zusammenhang vermuthen ; denn, wenn die Alraun
menschlich aussehen, leuchten und reden kann (vgl. Grimm
DM. 1153—5), so darf wohl der Affodill auch „klingen".
160 Sitzung der philos.-phüol Ciasse vom 1. Juni 1867.
Ich enthalte mich, die Sache jetzt irgend weiter zu verfolgen,
da es immer höchst misslich ist, auf blosse Wörter hin mytho-
logischen Dingen nachgehen zu wollen. So musste sich ja
z. B. der Bernstein auf Grund eines einfachen Druckfehlers
zu einem Zauberstein erheben lassen. Frisch citirt aus dem
Vocabular von 1482 unter Zober (IL 480) Zoberstein, Bern-
stein alveus lapideus. Wackernagel in Haupts Zeitschrift
IX. 567. fand in diesem Zobers tein einen Zauberstein
und mit dieser Erklärung ging der Bernstein in das mhd. WB.
IL II. 617 ein, welches glücklicherweise das richtige born-
stein unmittelbar daneben setzt. Ein alveus lapideus ist
einfach ein Brunnenstein, Zuberstein oder deutlicher,
steinerner Brunnentrog. Alrun — mandragora kommt
übrigens in unserem ersten Kräuterverzeichniss (S. 70, v°, b)
ebenfalls vor.
Die Sprache des Nachtsegens ist, wie man sieht, mittel-
deutsch ; so ist auch die der beiden Glossare. Aber die
Handschrift gibt uns Anhaltspunkte , die noch viel weiter
führen. Auf Seite 125 r° (also bloss um ein Blatt vom
Nachtsegen entfernt) steht, wie schon oben von Hrn. Keinz
bemerkt ist, von einer Hand des 14/15 Th. Henricus de
Prusia vid. de Rado oder Cado (das letzte Wort undeutlich)
und das erste der Pflanzenglossare enthält im Anfang neben
den deutschen Namen eine Anzahl polnischer . wo bei
einem ausdrücklich noch zugesetzt ist, es sei in polonico und
bei einem zweiten polschy (= polski), nämlich bei anetum,
tille, polschy copr S. 68 v° a. Z. 10 von oben (polnisch
Kopr = Dillkraut). Die polnischen Glossen lauten in ihrer
Gesammtheit so :
S. 68 v°. Incipiunt nomina herbarum, quarum sunt latina
quaedam, barbara uero alia, ut patz (patet od. patebit?)
Artemisia uel matricaria est mater herbarum , quae
vocatur biwz, in polouicabiliza (polnisch bylica=Beifuss.)
Abrotanum. ebireyce. böse dreuno. (poln. bozy drzwka
Hofmann: Bemerkungen zum Nachtsegen. 161
Stabwurz, eig. Gottesbäumchen, weil die Eberesche bekannt-
lich heilig gehalten wird.)
Absintium. wermut. polyn. (poln. piolun = Wermuth.)
Am Rande roth eberwrc.
Azarabacara. haselwrc. copitnik (poln. Kopytnik =
Haselwurz.
Araoglossa. plantago. centeuma vocatur wegebreit,
scorocel.
Am Rande roth vegede.
Anetum. tille. polschy copr (s. oben).
Alleum. scordium. Knoblach. Zosnek (poln. czosnek
Knoblauch).
Acant. igrida. nesle. copriui. (verschrieben für pocriui,
poln. pokrzywa Nessel).
Atrapassa holunder. bezoua (poln. bez. Hollunder
(f° 69. a) Baldemonia. berwrz. olesnik (poln. olesnik Bär-
wurz) , ebenso wird mit olesnik (70 v°) herba thuris erklärt
71 v°, mit olesnik peucedanum.
Das ist, was ich an polnischen Wörtern bemerkt habe.
Der Theil der Handschrift freilich, welcher den Nachtsegen
enthält, ist von anderer Hand geschrieben, als der, in wel-
chem die polnischen Glossen stehen. Die verschiedenen Theile
der Handschrift wurden erst später zusammengebunden ; denn
dem ersten Glossar sind an den Rändern von jüngerer Hand
Glossen zugefügt , die zum grossen Theil vom Buchbinder
beim Beschneiden beschädigt wurden. Auch ist die Zurich-
tung des Pergaments bei beiden Pflanzenglossaren eine
verschiedene. Das erstere hat zwar 39 Querzeilen, wie das
zweite, dagegen stehen sie um vieles enger beisammen und
sind in vertikaler Richtung nur durch 5 Linien geschieden,
bei letzterem durch 10. Doch ist der Charakter der Schrift-
züge homogen und gleichzeitig und wir werden also nicht
weit irren , wenn wir die Entstehung der beiden Glossare
nebst dem zum zweiten gehörigen und natürlich etwas jüngeren
[1867. II. 1.] 11
162 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni 18G7.
Nachtsegen in die Gegend setzen, wo im 13/14. Jh. das
deutsche und das polnische Sprachgebiet sich berührten.
Dass sie auch längere Zeit dort geblieben, scheint die schon
erwähnte Einzeichnung , Henricus de Prusia , zu beweisen,
die um vieles jünger ist, als die beiden Glossare und unge-
fähr gleichzeitig mit der Hand, welche auf S. 71 v° ganz
unten am Rande eingetragen hat scrophalaria est nomen
herbae contra vermes. Zwischen dieser Hand und der des
ersten Glossars finden sich Einträge von 4 verschiedenen
andereu Händen. Wie das Arznei- und Zauberbuch (s. Note
auf pg. 169), so lässt sich sein Gesammtinhalt am kürzesten
bezeichnen, aus den Händen des Henricus de Prusia in die
churfürstl. Bibliothek nach München gekommen, wer dieser
Henricus de Prusia selbst gewesen, das wäre weiterer Aufklär-
ung eben so werth als bedürftig.
Wenn es schon an sich interessant ist, hier Reste ältester
polnischer Sprache zu finden, so wird der Umstand beson-
ders wichtig für den Nachtsegen und die fremdartigen,
sicherlich aus anderer Sprache entlehnten Wörter, die er
bietet. Wir haben nach aller Wahrscheinlichkeit ihre Er-
klärung im Polnischen zu suchen. Gloczan, Lodowan,
Truttan bieten in der That polnischen Stammesausgang.
Das Suffix an kömmt im Poln. z. B. in balwan Block, Götze,
bocian Storch buzdygan Streitkolben roztruchan grosser
Pocal u. s. w. vor. (Ueber das sehr häufige Suffix an vergl.
Miklosich Personennamen S. 10.) Sie sind Masculina. Für
Lodowan bietet sich der Stamm lod (in allen anderen
slawischen Sprachen led, altslawisch ledü xqvötccXXog vergl.
Miklosich Lex. palaeosloven. p. 335) =' Eis, und Bildungen
daraus mit w, lodowaty eisartig, lodowaciec zu Eis werden,
lodowiec Eisstein , lodownia Eisgrube. Dahin könnte auch
unser Lodowan (der Eiskalte?) gehören. Gloczan könnte
zum Stamme glöd Hunger (= goth. gredus) oder der Ab-
leitung nach wohl noch eher zu gol (unser kahl) gehören
Hofmann: Bemerkungen zum Nachtsegen. 163
(altsl. golü yvfivdg goloti xQvataXXog Mikl. p. 135) und
für golocan stehen. Andere Bildungen des Stammes sind
golocic entblössen. berauben, golota armer Teufel, goly nackt,
arm u. s. w. Auffallend ist, dass beide in der Bedeutung
Eis zusammentreffen. Truttan, ebenso gebildet, wie die
zwei andern, macht Bedenken, weil es durch das reimende
Wutan verändert sein kann. Das Polnische bietet trut
Purgirkraut, trutka Gift, truten Drohne, Tölpel, trud Mühsal,
letzteres gleich latein. trudo , goth. f>rjutan, deutsch driezen
(in verdrossen) {>ruts - fill Unqa. Letzterer Stamm dürfte
am ehesten hier zur Anwendung kommen. Auch altsl. finden
sich diese Wörter (bei Mikl. p. 1019) tratü erabro, tradü
dvOevTSQta troudü (p. 1005) novo^ trouditi vexare. Truttan
würde also etwa der Quäler heissen. Man muss hier die
Frage aufwerfen , ob unsere deutsche Drud (Trud) nicht
überhaupt aus dem Slawischen entlehnt ist. An die Druiden
wird heutzutage Niemand mehr denken und eine genügende
Ableitung aus dem Germanischen gibt es meines ^Vissens
nicht, während die von slaw. trud quälen mir sehr passend
erscheint. Die germanische Form wäre druz. Was schliess-
lich das verschiedene Geschlecht des Truttan und der Trut
angeht, so führe ich als Analogon an , dass Jungmann (ich
entnehme das Citat aus Hanusch Slaw. Mythus S. 333),
einer der grössten böhmischen Gelehrten , den Moräs für
dasselbe erklärte, wie die Mura oder Mara (die Mar) den
drückenden Alp, nur männlich gedacht. (Auch in Thelle-
marken heisst die Mar Muro.)
So stünde denn unser Nachtsegen mit einem Fusse auf
slawischem Boden, während er anderseits mit seinen Zaun-
ritten (zeunriten) in Vers 14 bis an die alte Edda hinauf-
reicht, wo diese luftreitenden Wesen im Hävamäl Str. 158
zum erstenmale als tünriÖur vorkommen, in einer sonst
isolirten und schwierigen Stelle, deren grammatische Con-
struetion dadurch bedenklich ist, dass auf das Feminin tuu-
11*
164 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
riÖur das Pronomen und Adjectiv im Masculinum folgen,
nämlich I>eir villir. Was in der grossen Copenhagener Aus-
gabe III, 140. zur Erklärung beigebracht wird, verstehe ich
nicht. Es heisst: £eir villir in gen. niasc. omnes Codices,
etsi praecessit Rifcor faeminina terminatione, nempe cum re
constructio fit nou cum verbo, uti interdum alias. Wenn das
etwa heissen soll , dass die tunriÖur männliche Wesen mit
weiblicher Bezeichnung gewesen seien, so erscheint das höchst
bedenklich, da die nächstverwandten kveldriÖa und myrkrioa
unabänderlich Feminina sind und auch im Lexicon mytho-
logicum p. 754 ist von einer constructio cum re weiter keine
Rede. Sveinbjörn Egilsson beruft sich im Lexicon poeticum
wie gewöhnlich leider nur auf die Copenhagener Ausgabe
und setzt bloss hinzu: quod vertunt sublimes equites id
non secundum etymologiam est. Petersen (Nord. Myth.
S. 150) übersetzt tunriÖur einfach mit Hexen nnd bringt
weiter Nichts zur Erklärung der Stelle bei. Fritzner s. v.
sagt: „einer der Geister, von denen man annahm, dass sie
zu gewissen Zeiten durch die Luft ritten und die Höfe (tun)
zur Nachtzeit besuchten , gleich der Aaske — oder Aas-
gaardsreid nach dem nordischen Volksglauben." Dabei ver-
weist er noch auf Flöamanna Saga Cap. 22, wo aber weder
das Wort tünriÖa noch sonst etwas vorkömmt, was zur Auf-
klärung sonderlich beitragen könnte. Es ist dort von dem
Winteraufenthalt einiger Isländer in Grönland die Rede,
zur Jolzeit hören sie Nachts einen grossen Schlag an der
Thüre, einer springt hinaus, wird wahnsinnig und stirbt am
folgenden Morgen. Am anderen Abend geschieht das Gleiche,
es wird ein zweiter Manu wahnsinnig und erzählt noch, dass
er den Verstorbenen gegen sich habe springen sehen. Was
der zuerst im Wahnsinn Gestorbene gesehen, wird nicht ge-
sagt. So stirbt ein grosser Theil der Gesellschaft und alle
Todteu werden Wiedergänger oder gehen um , bis endlich
fcorgils, der überlebende Hausherr, ihre Leichen gegen den
Hofmann: Bemerkungen zum Nachtsegen. 165
Frühling auf einem Scheiterhaufen verbrennen lässt, worauf
es ruhig wird. Man sieht, dieser Bericht ist zwar für den
Volksglauben recht interessant , lehrt uns aber nichts über
die tünriÖur, Fritzner müsste denn angenommen haben, der
zuerst gestorbene Mann hätte sie draussen in der Luft
fahren sehen oder hören und sei davon wahnsinnig gewor-
den. Indess steht nichts dergleichen im Bericht , mit dem
wir uns daher auch nicht weiter beschäftigen wollen. Die
andere Verweisung auf Aaskereia trifft näher zur Sache,
denn diess ist einfach die wilde Jagd, die aus den Seelen
nichtsnutziger Leute besteht, die für den Himmel zu schlecht
und für die Hölle zu gut sind und ihr Fegfeuer im Luft-
ritte, hauptsächlich um Weihnachten, durchzumachen haben.
Was nun für unseren Fall passt, ist dieses : in einem Bezirk
von Norwegen , in Saetersdal , herrscht der Glaube, dass,
wenn einer sich nicht niederwirft, sobald er das Lufgereite
hört , seine Seele mitfahren muss , während sein Körper
liegen bleibt. Wenn die Seele zum Leibe zurückkehrt, ist
dieser ganz abgemattet und bleibt nachher immerfort kränk-
lich. Auch Pferde werden mitgenommen und kehren übel
zugerichtet zurück (Faye S. 71). Das letztere stimmt insoferne
gut zu unserer Eddastelle , als hier OÖinn offenbar nichts
anderes sagt, als: „wenn die tünriÖur ihren Leib und ihre
Heimath verlassen haben und über mir in der Luft reiten,
so verwirre ich ihre Seelen, dass sie ihre Körper und Woh-
nungen nicht wieder finden hönnen.u
So weit gut, aber damit ist immer noch nicht erklärt
wie das Fem. tünriÖur und das Masc. fceir villir neben-
einander bestehen können. Lüning findet freilich einen
leichten Ausweg, indem er (S. 298) sagt: „Entweder muss
es tünriSar oder I>aer villar heissen." So viel hätten die
früheren Schreiber, Herausgeber, und Erklärer der Edda
wohl auch gewusst; aber es ist keinem eingefallen, mit
einem so wohlfeilen Mittel der Schwierigkeit abhelfen zu
166 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 1. Juni 1867.
wollen. Die Sache muss tiefer angegriffen werden.
Zwischen Entstehung und Aufzeichnung der Eddalieder liegt
ein mehr oder weniger grosser Zeitraum, in welchem die
norroenische Sprache fortschreiten und manche Form erst
archaistisch, dann unverständlich werden musste, die bei
Abfassung der Lieder noch der lebenden Sprache angehört
hatte. Hier ist der entscheidende Punkt, wo die allgemein
germanische Philologie der specifisch nordischen zu Hülfe
kommen kann und muss. Das viel höhere Alter der gothi-
schen, angelsächsischen, althochdeutschen und altsächsischen
Denkmäler , denen der Norden nur einige der ältesten
Kuneninschriften (vor Allem die Blekinger) an die Seite zu
setzen hat , lässt gewisse Erscheinungen in vollkommener
Klarheit erkennen , die vom Standpunkte des nordischen
Sprachbetriebes verdunkelt und unlösbar erscheinen. Ich
beschäftige mich seit längerer Zeit mit einer kritisch-
exegetischen Arbeit über die alte Edda hauptsächlich in
dieser Richtung, und hebe hier anticipando zwei Fälle nur
darum aus , weil das plötzliche und überraschende Auf-
tauchen der zünriten im Nachtsegen mich fast dazu zwingt.
Archaismen der alten Edda sind für uns natürlich am fass-
barsten, wenn sie sich auf Flexionsverhältnisse beziehen, und
werden am leichtesten erkannt, wenn der überlieferte Text
eine auffallende Sinnstörung zeigt, wie hier und in dem
zweiten analogen Beispiele. Nehmen wir das Adj. villr, so
wissen wir, dass es das gothische vilpeis, althochd. uuildi,
altsächs. uuildi , ist , dass es folglich ein dem Worte selbst
angehöriges radicales i hat, zur i-Deklination gehört und so
zeigt sich denn ganz consequent, dass das Femininum im
Plural auch der i-Deklination folgt und villir (nicht villar)
hat. f»eir kann dann gar kein Bedenken machen , da die
graphische Verwechslung von ae und ei bekannt und kon-
statirt ist , vgl. KonräÖ Gislason, um frumparta p. 183 ff.,
wo gerade fceir hervorgehoben wird. Es ist also in Wirk-
Hofmann: Bemerkungen zum Naclitsegen. 167
Hchkeit an unserer Stelle gar nichts zu ändern und einfach
[>aer villir zu lesen. Die zweite vollkommen analoge Stelle
findet sich AtlakviÖa, 18. vinir Borgunda, ein Unsinn, wenn
man vinir als Nom. plur. auf die Hunnen bezieht, die (nach
Liining) clesswegen so heissen solleu, „weil Atli durch Gudrun
mit den Burgunden verwandt ist." Wie schwierig die Sache
den gewissenhaften Herausgebern früherer Zeit vorkam, sieht
man aus der langen Anmerkung, welche die Arnamagnäanische
Ausgabe (II, 383) zur Stelle hat. Nun hat vin oder vinr
ein radicales i gehabt; denn es heisst althochd. uuini, alts.
uuini, ags. vine. Der archaistische Accusativ von vinr hiess
natürlich vini, und das mussten die Schreiber nothwendig
als vinir missverstehen, wenn ihnen einmal die Formen der
i-Deklination ausser Gebrauch gekommen waren, vini Bor-
gunda ist also Acc. und Apposition zu Gunnar. vine Borgenda
heisst nun bekanntlich der ags. Dichtersprachc gemäss Gunnarr
(Güfthere) im Valdhere II, 14 und wenn im Nordischen zu-
fällig vinr mit folgendem Genetiv des Volkes nicht als Königs-
bezeichnnng erhalten ist> so findet sich vinr drcngja, gaeÖinga,
gotna, alda, skatna und hollvinr (Holdfreund) herjar, lofÖda,
s. Gröndal p. 235. Die Stelle der AtlakviÖa Str. 18 heisst
also sehr einfach : die Hunnen banden Günther, den König
der Burgunden (wörtlich, den Freund der Burgunden).
Der Nachtsegen lehrt uns den Namen des Hexenberges
in der ältesten bis jetzt vorgekommenen Form kennen , die
wir für ebenso authentisch halten dürfen, wie die des höch-
sten Götternamons, gut mitteldeutsch Wütan, Gen. Wütanes.
Wir ersehen nun, was .T. Grimm DM. 1004 schon ausge-
sprochen , dass r statt 1 der urprüngliche Laut ist, wie
bereits Leonhard Frisch bezeugt (I, 111): ,, Blocksberg,
besser Brocksberg, wie er in und an den Braunschweigischen
Landen heisst", wobei allerdings zu vermuthen, dass er das
r nur wegen der falschen, auch heute noch nicht ganz auf-
168 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 1. Juni 1867.
aufgegebenen Ableitung von mons Bructerus für richtiger ge-
halten habe. Unter den bisher versuchten Deutungen ist meines
Wissens keine, die besonders besser wäre, als die genannte
und ich erlaube mir daher zum Schlüsse meine eigene vor-
zutragen. Dass der Name mehreren Bergen in Deutschland
geineinsam ist, hat J. Grimm DM. S. 1004 u. 1232 nach-
gewiesen. Die Erklärung darf also nicht den Ausdruck des
Hexenconventikels in dem Worte suchen , wofür sich sonst
das edd. broka=kvinna anbieten würde. Esmuss vielmehr ein
natürlicher Grund der Benennung gesucht werden, und diesen
finde ich in einem Worte . welches sich im Isländischen er-
halten hat. Nach Björn Haldorsen bedeutet das Neutrum
brok nubes albidae, juga montium tegentes. Die Berge,
welche die höchsten ihrer Gegend sind, sammeln bekanntlich
an ihrem Gipfel die Wolken, was namentlich beim Brocken
der Fall ist und so scheint der Name Wolkenberg passend
für unsern . wie für manchen andern. Im Schwedischen ist
das Wort gleichfalls vorhanden. Eietz im Dialektwörterbuch
hat unter brok m. 2. die Bedeutung dunkler Fleck (mörk
fläck), brok 1 , heisst bei ihm so viel als brokig hast
(= geflecktes Pferd), brokug, (bei Ihre I, 272) variegatus.
Auch das Dänische hat broget. bunt, verschiedenfarbig, ge-
fleckt. Wegen des Begriffsübergangs verweise ich auf den
identischen mhd. Fall , wo sprachel Abschneidsei ahd.
sprehhiloht mhd. spreckeleht gefleckt bedeutet, Mhd. Wb.
S. 521. Man wird brock einfach von der Wurzel brik ab-
leiten dürfen , also = fragmentum, Stück einer grösseren
Wolke, brochel ist davon das Deminutivum , welches ober-
deutsch wohl brüchel heissen würde. Brochelsberg hiesse
also wörtlich = Wölkchenberg. Man wird hiebei von selbst
an den schwedischen Hexenberg Bläkulla in der Meerenge
zwischen Smaland und Oeland denken, der seinen Namen
ebenfalls von seiner physischen Erscheinung hat (= die blaue
Kuppe), und noch passender an den schweizerischen Pilatus,
Hofmann: Bemerkungen zum Nachtsepen. 109
den Behüteten (Pileatus) , wie man ihn . sei es mit Recht
oiler nicht, wegen seines oft umwölkten Scheitels deutet,
was neben der Zerrissenheit seines Gehänges (daher der
alte Name Fragmunt = fractus mons) der hervortretendste
Zug an ihm ist.
(Note zu pag. 162.) Es ist wohl der Mühe werth, den Inhalt
der merkwürdigen Sainmelhandschrift , nach sachlichen Gruppen ge-
ordnet, etwas genauer zu charakterisiren. Sie enthält (abgesehen
von dem Eintrag über Fasttage auf der allerletzten Seite) 18 Num-
mern, die sich inhaltlich in folgender Weise ordnen. I. Als Ein-
leitung zum Ganzeu, gewissermassen als Encyclopädie geht voraus
ein Pseudo-Aristotelicum, Secretum Secretorum, aus dem Arabi-
schen übersetzt und in dieser Sprache wahrscheinlich auch ursprüng-
lich verfasst. Die hiesige Staatsbibliothek besitzt den arabischen
Text, vgl. Flügel, Handschriften der Münchner Bibliothek im An-
zeigeblatt der Wiener Jahrbücher XLVJI. Bd. S. 23, und Aumer,
Catalog der arab. HSS. S. 285— fi. Das Werk ist auch für die ger-
manische Literaturgeschichte von Bedeutung, denn Jakob von Maer-
lant, der „Yater der niederländischen Dichtkunst", hat es in seiner
Heymelichede der heimelicheit bei v. Kausler, Denkmäler II,
S. 483 — 556) poetisch verarbeitet, „vorausgesetzt, dass er nach den
Bedenken, die Ciarisse gegen seine Urheberschaft vorbringt, noch
als der Verfasser gelten kann". Da Kausler ebendas. JII S. 289 ff.
gründlich und -gelehrt, wie er pflegt, den ganzen Gegenstand be-
handelt hat, so kann ich auf ihn verweisen, und will nur noch über
die Herkunft unserer HS. eine Vermuthung äussern. Sie scheint
mir aus Südfrankreich zu stammen, wenigstens stimmt sie mit allen
provenzalischen Handschriften, die ich kennen gelernt habe, in der
Rundung der Schrift, Weisse und Glätte des Pergaments, Blässe der
Tinte, dann in besonders charakteristischen Zügen, wie z, vollkom-
men überein. Die Zahl der Capitel ist, wie in dem von Kausler
angeführten Drucke 72.
An dieses einleitende Werk, eines jener absurden, aber allge-
mein studierten Compendien . welche das nach manchen Richtungen
so gewaltige und achtungswerthe Mittelalter gerade für naturwissen-
schaftliche Dinge in unwürdigem Aberglauben erhielten, reihen sich
längere oder kürzere, botanische, astronomische und medizinische
[1867. IL 1.] 11**
170 Sitzung der philos.-phüol Classe vom 1 Juni 1867.
Tractate, endlich das weitaus merkwürdigste Stück der ganzen
Sammlung, ein arabisches Zauberbuch, leider unvollständig, da es
mitten in der „Wunderlampe" abbricht. Auf das Pflanzenreich be-
ziehen sich Nr. 3, das erwähnte Pflanzenglossar mit deutschen und
polnischen Erklärungen, (N° 4 (f° 72) lateinische Homonymen der
Pflanzennamen, N° 14, das zweite deutsche Kräuterglossar (f° 119
v° — 124 r°.) Am umfangreichsten und wichtigsten ist in diesem
Zweige der Naturkunde das Obst- und Weinbuch (f° 88— 101\
ein ganz der Praxis angehöriges Compeudium, unter dem Titel In-
cipit über de insertione arborum et earum fructuum. Von wem
Grundlage und Weiterführung der Arbeit stamme, zeigen die ein-
leitenden leouinischen Verse an:
Palladii librum breviatum per Godefridum
Accipe curta volens rustica rura colens
Palladium tan tum non hie sequor aut Galienum
Pingitur et cespis floribus iste meis
Ordine sub certo nullo pereunte reperto
Scita prius religo munus et hoc tibi do.
Das Ganze hat 4 Tractatus. 1. de plantationibus arborum 2. de
vitibus. 3. de conservatione fructuum. 4. de vino. Der erste Tractat
ist durch zwei Federzeichnungen, den geraden und den schiefen
Oculirschnitt vorstellend, illustrirt. Im vierten Tractat finden sich
die interessanten Paragraphe, wie man erkennt si aqua sit in vino
und wie aqua de vino separetur, dann de deeeptione gustus (nicht
durch Gallisiren), endlich de reformatione vini corrupti. Die zweite
Gruppe bilden Astrologica. N° 8 (f° 75) de effectibus planetarum
f° 80, v° die sogenannten arabischenZiffern, N° 9 (f° 81) Capitulum
in narratione Saturni (am Rande von jüngerer Hand Tractatus Sem
filii Haym). N° 10 (f° 83) Tractatns alius, von den Monaten und
ihrem Einfluss auf das Schicksal der Geburten in physischer und
psychischer Richtung bei beiden Geschlechtern. Die dritte am zahl-
reichsten vertretene Gruppe ist die medizinische, zuerst N° 2. Petx-i
Hispani medicina (f° 41—68), N° 5 (f° 73). Ueber Arzneidosen,
woran sich ironisch N.° 6 Signa morientium unmittelbar anschliesst
Diess ist ein Stück deutscher Herkunft, denn vom Uringlase heisst
es in sumrno staupo (— stouf Becher, poculum maius.) N° 7, ein
einzelnes Blatt de phlebotomia N° 13 (f° 109) Circa instans, ein
Stück eines medizinisch-pharmakologischen Glossars. N° 15 (f ' 124)
Definitionen von Krankheiten, N° 16 (f° 127) Vegetabilische Arznei-
dosen N°17 (fJ 125) eine Pharmakopoe in 14 Abtheilungen. 1. Ver-
schiedenes (26 Species), 2. Kräuter (103), 3. Rinden (10), 4. Blüthen (14),
Hofmann: Bemerkungen zum Nachtsegen. 171
5. Hölzer (6), 6. Wurzeln (53), 7. Säfte (58), 8. Harze (28), 9 Knochen (6),
10. Metalle (7), 11. Steine (30), 12. Salze (8), 13. Fleischsorten (13)
darunter Löwen- und Seepferdfleisch und Wolfsleber. 14. Confec-
tiones durae (18). Man sieht also , 380 Simplicia enthielt diese
älteste Pharmacopoea borussica, deren vollständige Mittheilung für
Fachgenossen ebenso belehrend wie unterhaltend sein dürfte. Dem
Gebiet der Zauberei endlich gehört ausser unserem Nachtsegen
noch ein Spruch von jüngerer Hand an, f° 109 am unteren Rand:
Contra pircil stribraras f iob traezon zcorobon connubia iob f et pone
eqv, hier ist das Uebrige vom Buchbinder abgeschnitten darüber
t esa . . . Wegen des Uebels pircil, gegen welches der Spruch ge-
richtet ist, vgl. man Frisch unter bürzel Seuche und besonders
unter gunbyrzelen, wo der merkwürdige Aufschluss gegeben wird,
dass im Jahre 1387 die in Augsburg von dieser Epidemie Befallenen
unter heftigen Schvveissen (molestissimis destillationibus) 4 — 5 Tage
gerast hätten und dann in den meisten Fällen Genesung eingetreten
sei. Besonders ausgiebig vertreten ist es durch das aus dem Arabi-
schen übersetzte Zauberbuch f° 103 —108 mit der Ueberschrift Epi-
stola Amati filii Abraham qui dignus est vocari filius Macellarii, wie
zu lesen ist, wiewohl ein Ahmad ibn Ibrahim ibnul QaQcäb, wie der
Autor auf Arabisch heissen müsste, sich nicht bei Hadji Khalifa,
dem moslimischen Jöcher, findet. Zahlreiche arabische Wörter, be-
sonders Namen von Hölzern, die zu Bäucherungen verwendet werden,
dann die Anführung arabischer Autoren, der Styl endlich, selbst im
lateinischen Gewände von unverkennbarer Fremdartigkeit, lassen in-
dess keinen Zweifel übrig, dass wir es hier wirklich mit einer arabi-
schen Schrift zu thun haben. Der absonderliche Inhalt, so wie der
zufällige Nebenumstand, dass das Stück mit sehr zahlreichen und
starken Abkürzungen geschrieben ist, die Beschädigung mehrerer
Blätter durch Schmutz und Abreibung machen die Abschrift ungemein
schwierig. Das Ganze theilt sich wieder in zweiTheile, der 1. handelt
von Heilungen durch Zauberei und Sympathie, der zweite von eigent-
lichen Zaubereien. Ich begnüge mich, den Inhalt dieses letzteren
Theiles anzugeben, und ein paar charakteristische Stellen auszuheben.
Die Kapitel handeln 1. Vom Bienenmachen. 2. Von einer Räucher-
ung, die bewirkt, dass videbis orientem totum jam esse rubeum et
aerem totum igneum aut videbis equites cum hastilibus atque equos
et super eos homines ex igne. 3 Eine Räucherung: quando tu fumi-
gabis in die manifeste cum ea, obtenebrabitur mundus et videbis
Stellas omnes et lunam donec timeat mundus ex illo. 4. fumigiuin
ut videatur luna dividi per medium. 5. operatio fumigii ad eclipsim
172 Sitzung der philo* -pli Hol. Classe vom 1. Juni 1867.
lunae faciendam. 6. operatio ut in coelo videantur forme stupe-
facientes. 7. suffumigatio ut in coelo videantur gigantes. 8. suffu-
migatio ut in coelo sint formae magnae. 9. ad faciendam pluviam.
10. ad faciendam pluviam. 11. de remotione pluviae. 12. Modus
domorum qui est facientibus mirabilia, d. h. ein Haus durch Räucher-
ung so zuzurichten, dass die Eintretenden nach Verlauf einer Stunde
scheintodt werden und sie dann wieder zu erwecken. Es wird bei-
gefügt, der Messias solle nach der Aussage einiger nach diesem
altum capitulum Wunder gewirkt haben, sed non est ita. Am Rande
Inquid Hunayn. 13. Operation um die Sonne oder ein Licht grösser
als die Sonne bei Nacht zu sehen, angewandt von solchen, die sich
für Propheten und Weissager ausgeben. 14. Operatio um die Sonne
in Flammen stehend zu sehen. 15. cum volueris convertere formam
hominis in formam symii. Hiebei noch ein capitulum mirabile; quum
volueris ut vidas homines et non videant te, et tu ambulabis in
medio eorum, et per hoc capitulum operantur illi qui attribuunt
sibi prophetiam et qui ascribunt sibi divinationem. ib. si vis videre
ut homines at invicem sint nigrarum specierum, d. h. dass die Leute
einander schwarz vorkommen. 17. Lampas mirabilis. Hier bricht,
wie gesagt, das MS. ab. Obige Auszüge und Inhaltsangabe werden
für den vorliegenden Zweck wohl genügend sein.
Zum Schlüsse habe ich nur noch eine Beobachtung mitzutheilen,
die sich auf die Geschichte der HS. bezieht. Auf dem Rücken ist
ein rundes blaues Schildchen aufgeklebt. Diess bedeutet, dass Docen
sie untersucht und Glossen in ihr gefunden hat, die er sich für
künftigen eigenen Gebrauch in solcher Weise zu notiren pflegte. Ob
er den Nachtsegen übersehen oder gleich dem Muspilli für einstige
Herausgabe zurückgestellt, kann ich nicht entscheiden.
Sitzungsberichte
der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften.
Philosophisch - philologische Classe.
Sitzung vom 6. Juli 1867.
Herr Prantl trägt vor:
„Ueber die Literatur der Auctoritates in der
Philosophie".
Schon in den ersten Jahren einer reichhaltigeren Ent-
faltung der Buchdruckerkunst und in den nächsten darauf-
folgenden Jahrzehenten treffen wir eine ansehnliche Zahl
von Drucken, meistens ziemlich kleinen Umfanges, welche
unter dem Titel „Auctoritates" oder „Repertorium" oder
„Dicta notabilia" u. dgl. eine Blumenlese philosophischer
Sätze, zumeist aus Aristoteles, enthalten und sich in manig-
fachen Wiederholungen oder Variationen sogar bis in das
17. Jahrhundert fortsetzen. Versuchen wir nun, diesen
ganzen Zweig der Literatur im Interesse der Geschichte der
Philosophie zum Gegenstande einer näheren Untersuchung
zu machen, so wird hiebei selbstverständlicher Weise von
den gleichzeitigen „Auctoritates theologiae" und den gleich-
falls auftauchenden „Auctoritates Galeni" völlig abgesehen.
[1867.11. 2.] 12-
174 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 6. Juli 1867.
Was das Material selbst betrifft, so standen mir 38
Drucke zu Gebote, welche sich in folgender Weise in Gruppen
bringen lassen:
A. 1) Repertorium sive tabula generalis auctoritatum are-
stotelis cum commento per modum alphabeti et
philosophorum. Nürnberg 1490. Petrus Wagner 4.
2) Repertorium sive tabula generalis auctoritatum are-
stotelis et philosophorum cum commento per mo-
dum alphabeti. Coloniae 1494. Henr. Quentel. 4.
3) Ebenso ebend. 1495. 4.
4) Auctoritates Aristotelis et aliorum philosophorum
per modum alphabeti cum notabili commento. Liptzk.
1503. Wolfgaog Monacensis. 4.
5) Ebenso ebend. 1510. 4.
6) Repertorium sive tabula generalis authoritatum Ari-
stotelis et 'philosophorum cum commento per mo-
dum alphabeti. Paris 1513. Officina Ascensiana. 4.
7) Axiomata philosophica Venerabilis Bedae ex
Aristotele et aliis praestantibus philosophis etc.
studio Joannis Kroeselii. Ingolstadt 1583. Wolfg.
Eder. 8.
8) Axiomata philosophica Venerabilis Bedae ex
Aristotele et aliis praestantibus philosophis
Quibus accessere theses in diversis Academiis
disputatae. Coloniae 1605. Bernard Gualtherus. 8.
9) Reverendi et clarissimi viri Bedae Presbyteri Axio-
mata philosophica ex Aristotele aliisque praeclarissi-
mis Philosophis. etc. S. 1. 1608. 8.
10) wie 8) Colon 1616. Bern. Gualtherus.
11) ebenso ebend. 1623.
12) Bedae Vener. Opera omnia. Basel. 1563. Vol. I.
13) desgleichen Colon. 1612. Vol. I.
14) und ebend. 1688. Vol. I.
B. 1) Incipit prologus de propositionibus universalibus
Prantl: Literatur der „ Auetor itates". 175
Aristotelis. S. 1. et a. 4. ein äusserst alter Druck
aus einer oberitalischen Offizin). Am Schlüsse sind
beigedruckt Notabilia artis physionomice, und unter
Weglassung dieser ist gleichlautend:
2) Ebenso. Bononiae. 1488. Ugo Bugerius. 4.
3) Propositiones Aristotelis. Venetiis. S. a. 4.
C. 1) Autoritates ArestoteJis, Senece, Boetii, Piatonis,
Apulei Affricani, Porphirii et Gilberti Porritani.
S. 1. s. a. 4 (äusserst alt aus einer deutschen
Offizin).
2) Ebenso. S. 1. s. a. 4. (etwas jünger).
3) Ebenso. S. 1. s. a. 4. (wieder aus einer andern
Druckerei).
4) Ebenso. Coloniae. 1487. Joh. Guldenschaeff. folio.
5) Ebenso. Reutlingen. 1488. Michael Gryff. 4.
6) Ebenso. Spirae. 1496. Conrad Hist. 4.
7) Ebenso, mit dem Beisatz denuo summa cum dili-
gentia revise et correcte. S. 1. 1498. 4 (sicher
Coloniae bei H. Quentel).
8) Ebenso. S. 1. 1503.4 (gleichfalls sicher bei Quentel).
9) Autoritates Aristotelis omnium recte philosophan-
tium facile prineipis, insuper et platonis, Boetii
Senece, Apulei Aphricani, Porphirii, Averroys, Gil-
berti Poritam nee non quorundam aliorum novis-
sime castiori studio recognite et pigmentate. Co-
loniae. 1504. Henr. Quentel. 4.
10) Ebenso ebend. 1507. 4.
11) Ebenso ebend. 1509. 4.
D. 1) Repertorium dictorum Aristotelis, Averoys, aliorum-
que philosophorum (in der Dedications-Epistel an
Hyeronimus Tostinus de Florentiola nennt sich An-
dreas Victorius Bononiensis als Verfasser). Bononiae.
1491. Impensa Benedicti de Hectoreis .... et dili-
gentia Bazalerii de Bazaleriis. 4.
12*
176 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 6. Juli 1867.
2) Prepositiones [sie] ex omnibus Aristotelis libris philo-
sophie. Moralis. Naturalis, et priine. nee non dia-
lectice. Rhetorice. et poeticae. diligentissime ex-
cerpte. et ad certa rerum capita pulcherimo ordine
per tabellain additam redacte. (Zuerst folgt das
alphabetische Register von Benedictus Soncinas ver-
fasst, dann die Propositiones collectae per
fratrem Theophilum de Ferrariis Cremonensem.)
Venetiis. 1493. Joannes et Gregorius de Gregoriis. 4.
E. 1) Dicta notabilia, et in thesauruin memoriae reponenda,
Piatonis. Aristotelis. Commentatoris. Porphirii. Gil-
berti Poretani. Boetii. Senece. Apulei, recens im-
pressa Quibus addita sunt stupenda Aristo-
telis problemata philosophis ac medicis multum
utilia etc. Venetiis 1532. Sebastianus Vincentmus. 8.
2) Dicta notabilia Aristotelis et aliorum quam pluri-
mum [sie] Quibus de recenti Addita sunt Mar-
ciantonii Zimarae Problemata, uua cum CCC Arist.
et Averr. propositionibus etc. Venetiis 1536. Divus
Bernardinus. 8.
3) Ebenso ebend. 1541. 8.
4) Aristotelis, et philosophorum complurium aliorum
Sententiae omnes undiquaque selectissimae. Basileae.
1541. Robert Winter. 8. (Ein Nachdruck von 1 mit
Weglassung der Problemata.)
5) Dicta notabilia sive illustriores sententiae ex
Piatone, Aristotele, et aliis quam pluribus selectae
etc. Venetiis. 1551. Hieron. Calepinus. 8.
P. 1) Florum illustriorum Aristotelis ex universa eius
philosophia collectorum libri tres. Per Jaco-
bum Bouchereau Parisinum. Paris 1563. Hier, de
Marnef. 8.
2) Ebenso. Francofurdi. 1585. Joannes Wechel. 8.
3) Ebenso. Argentinae. 1598. Lazarus Zetzner. 8.
Prantl: Literatur der „Auctoritates". 177
Betrachten wir nun an diesen Drucken vorerst die
äusserlichen literarischen Momente , um hernach auch ein
paar Blicke auf Eigentümlichkeiten des Inhaltes zu werfen,
so ergibt sich aus manigfacher Vergleichung zunächst,
dass der Gruppe A eine andere Entstehung zu Grunde
liegt, als den Gruppen B und C, aber doch die beiden ur-
sprünglich verschiedenen Sammlungen alsbald wechsel-
seitige Entlehnungen und Interpolationen erfuhren, und
ausserdem erhellt, dass der Gruppe A die zeitliche Priorität
gebürt.
Nämlich die alphabetisch geordneten Auctoritates ent-
halten einen ursprünglichen Kern, welcher offenbar bis in
das 14. Jahrhundert zurückfällt. Ja dieser Kern beruht
nicht einmal auf Lektüre der aristotelischen Schriften selbst,
sondern ist aus der Controvers-Literatur des genannten Jahr-
hundertes entnommen, d. h. wer sich in jene Periode der
Geschichte der Philosophie vollständig eingelebt hat, erkennt
sofort, dass nur diejenigen Stcllen-Citate aus Aristoteles,
welche seit Thomas und Scotus am häufigsten in den zahl-
reichen Controversen benützt und als „Auctoritäten" den
Gegnern gleichsam an den Kopf geschleudert wurden, hier
in ein kleines Büchlein zusammengetragen sind. Und des-
gleichen erweisen sich die kürzeren oder längeren Erläuter-
ungen, welche den einzelnen Auctoritates oder Axiornata
beigefügt sind, als Excerpte aus den betreffenden Stellen, in
welchen z. B. Albertus Magnus oder Thomas v. Aquin oder
Robert v. Lincoln u. A. ein aristotelisches Citat besprochen
hatte. Eine gewisse Tendenz aber ist hiebei darin bemerk-
bar, dass die Richtung, welche mit Duns Scotus beginnt
und durch Occam einen gewissen Abschluss erhält, bei dem
Compilator der Auctoritates keineswegs Beifall gefunden
haben muss , sondern derselbe im Gegentheile mehr der
thomistischen Strömung folgte. Der Gedanke, aristotelische
Auctoritäts-Stellen auf solche Weise zu sammeln und dann
178 Sitzung der phüos.-philöl. Classe vom 6. Juli 1867.
alphabetisch zu ordnen, war für jene Zeit gewiss nicht un-
praktisch ; denn so konnte nun zum Behufe einer Schul-
Disputation auch der Unbelesenste in geschwindester Manier
eine staunenswerthe Gelehrsamkeit zur Schau tragen (ähn-
lich wie es für die Parlaments-Redner Englands noch jetzt
Zusammenstellungen von loci communes gibt, aus welchen
der Glanz einer ausgedehnten Belesenheit in classischer
Literatur geschöpft werden kann).
In Folge solcher Entstehung enthielt die alphabetische
Sammlung ursprünglich auch nur solche Auctoritäts-Stellen,
welche schon vor der Renaissance-Periode zugänglich und
in Umlauf waren. So sind es natürlich vor Allem Citate
aus Aristoteles, zu welchen erklärlicher Weise das Organ on
(mit Einschluss des Porphyrius und des Gilbertus Porre-
tanus), die Metaphysik, die Physik und die Bücher De
anima das grösste Contingent liefern, während die Bücher
De coelo bereits eine geringere, die Bücher D. gener. et
corr. wieder eine geringere und Meteor. Die geringste Ver-
tretung finden. An diesen Bruchtheil der Gesammtschriften
des Aristoteles mussten sich nicht bloss das Buch De causis,
sondern hauptsächlich auch die Commentare des Averroes
zu den genannten aristotelischen Werken und auch die
Schrift De substantia orbis anreihen. Ausserdem aber finden
wir, — um von einigen Dutzend herrenloser Citate oder
solcher, welche als „communis regula" bezeichnet sind, ab-
zusehen — noch angeführt: Aristoteles D. gener. an., Probl.,
Pseudo-Arist. D. propr. elem., Secreta secr., Boethius D.
divis., D. defin. D. diff. top., Euklides, Priscianus, Augu-
stinus, Anastasius, Isidorus, Anseimus, Hugo v. S. Victor,
Alanus, Avicenna, die ,, Alchimisten", Wilhelm v. Paris,
Robert v. Lincoln, Albertus Magnus, Thomas v. Aquin,
Petrus Hispanus, Aegidius Romanus, Sacroboscus (jedoch
sämmtliche nur je Ein, höchstens zwei Mal, und Avicenna
fünf Mal). Und sowie wir bedenken müssen, dass all diese
Prantl: Literatur der „Auctoritates'1. 179
Autoren im 14. Jahrh. als Auctoritäten äusserst geläufig
waren, so ist auch sehr zu beachten, dass in sämmtlichen
^übrigen Gruppen dieser Auctoritates-Literatur kein einziges
von diesen letzteren Citaten wiederkehrt. Dass übrigens
der Verfasser einer Conipilation, welche auch die genannten
Schriftsteller des 13. und 14. Jahrhunderts anführt, nicht
Beda Venerabilis, welcher im Jahre 735 starb, sein könne,
bedarf keiner ausdrücklichen Erwähnung; auch hat schon
der äusserst fleissige Oudin (Scriptt. eccl. Vol. I, p. 1687)
dieses chronologische Missverhältniss bemerkt. Möglicher
Weise war es irgend ein „Presbyter Beda", welcher im
14. Jahrh. ein solches Schriftchen zusammenstoppelte und
hiedurch die Verwechslung hervorrief, vermöge deren auch
in den Drucken A, 1 — 6 auf der nach dem Titelblatte
folgenden Seite stets venerabilis Beda presbyter als Heraus-
geber genannt ist; aber mir wenigstens ist ein Autor dieses
Namens aus jener Zeit nicht begegnet.
Aber dieser ursprüngliche Kern der alphabetischen
Auctoritates, welcher nur mittelalterlich-aristotelische Litera-
tur enthielt, wurde zur Zeit der Renaissance allmälig durch
neue Zusätze bereichert, wahrscheinlich schon in Hand-
schriften , sicher aber in den ersten Drucken. Und sowie
wir Grund zur Vermuthung haben, dass die primitive Ge-
stalt dieser Auctoritates in den Thomistischen Schulen zu
Paris und namentlich zu Cöln entstanden , so dürften wir
schwerlich irren, wenn wir annehmen, dass die Bereicherung
und Interpolation von Oberitalien aus stattfand. Zunächst
schon äusserlich kündigen sich Zusätze dadurch an . dass
am Schlüsse der einzelnen Buchstaben noch zahlreiche Auc-
toritäts-Stellen beigefügt sind, welche im Gegensatze gegen
die übrigen eines Commentares entbehren und zuweilen auch
unter der Ueberschrift „Sequuntur auctoritates simpliciter
verae" eingeführt sind. Der Buchstabe 0 ist der letzte,
welcher eine solche Vermehrung zeigt, uud bei den folgen-
180 Sitzung der philos.-pJiilol Classe vom 6. Juli 1867.
den war der Interpolator offenbar schon etwas ermüdet. So-
dann aber bestätigt sich der Charakter der Interpolation
durch den Nachweis der Herkunft dieser Zusätze, welcher
durch folgende Erwägung sich ergiebt : Die Gruppe A, d. h.
die alphabetischen Drucke, enthält nahezu 1100 Auctoritäts-
Stellen. während die Gruppen B und C deren gegen 2700
aufzeigen ; dabei aber ist es selbstverständlich, dass mehrere
Stellen beiden Sammlungen gemeinsam sind, und zwar ist
diess in dem ursprünglichen Kerne der alphabetischen
Sammlung bei ungefähr 175 Stellen der Fall; hingegen die
erwähnten Zusätze, welche am Schlüsse den einzelnen Buch-
staben beigefügt sind, und deren Zahl zusammen 210 be-
trägt, kehren nahezu sämmtlich (d. h. 207 unter den 210)
in der anderen Sammlung wieder. Und es wird dieser Um-
stand um so entscheidender, da ein kleinerer Theil dieser
Zusätze aus Schriftwerken excerpirt ist, welche genau in
der nämlichen Stellen-Zahl in den Gruppen B und C ver-
treten sind, nämlich aus des Aristoteles Hist. an., Oecon.
und Poet., aus den pseudo-aristotelischen Schriften De bona
fortuna, De pomo et morte, De regimine principum, aus
dem platonischen Timäus (d. h. Chalcidius) und aus Apu-
lejus D. deo Socr. zusammen sind es 36 Stellen, deren Auf-
treten in der alphabetischen Sammlung schlechterdings da-
mit zusammentrifft, dass dieselben auch der nicht-alphabeti-
schen Sammlung gemeinsam sind. Und bei einer anderen
Classe von Citaten besteht das nämliche Verhältniss, nur
in geringerem Grade, indem von ungefähr 245 Stellen,
welche aus des Aristoteles Parv. nat., Eth. Nie, Polit.,
Rhet., aus Seneca, aus Boethius D. cons. phil. , und aus
Pseudo-Boethius D. disc. schol. zusammen entnommen sind,
etwa sieben Zehntel (d. h. ungefähr 170) zur Zahl der
späteren Zusätze gehören, welche den beiderseitigen Samm-
lungen gemeinsam sind.
So nöthigt uns gleichsam eine statistische Betrachtung
Prantl: Literatur der „Auctoritates". 181
der Stellen beider Sammlungen zu dem Schlüsse, dass der
ursprüngliche Kern der Gruppe A schon früh aus den
Gruppen ß und C bereichert wurde, indem man von dort
her einen neuen Umkreis aristotelischer Werke und anderer
bis dahin nicht benutzter Autoren behufs der ,, Auctoritates"
beizog. Seit einer solchen ersten Verschmelzung zweier ur-
sprünglich verschiedener Sammlungen wurde dann in einigen
ziemlich unbedeutenden Einzelnheiten auch wieder die nicht-
alphabetische Sammlung aus der alphabetischen bereichert,
so dass die vorhin erwähnten Zahlen-Verhältnisse in ein-
zelnen Drucken kleine Schwankungen zeigen.
Diese Gruppen B und 0 nun, welche unter sich in ver-
wandtschaftlichem Zusammenhange stehen, weisen örtlich
auf Italien und inhaltlich auf ein von der Gruppe A ver-
schiedenes Entstehungs-Motiv hin. Nemlich innerhalb der
Gruppe B gehört der älteste Druck (B 1) ebenso gewiss
einer sehr frühen Periode der Typographie als einer italieni-
schen Offizin an, und er ist überhaupt die älteste unter den
nicht-alphabetischen Sammlungen, in welchen die „Auctori-
tates" oder, — wie man sie in Italien lieber genannt zu
haben scheint — , die ,,Propositiones universales" nach einer
gewissen Reihenfolge der Bücher, denen sie entnommen
waren, geordnet erscheinen. So finden wir in diesem und
in dem mit ihm gleichlautenden Bologneser Drucke (B2)
Auctoritäts-Stellen aus: Arist. Metaph., Phys. ausc, D. coel.,
D. gen. et corr., Meteor.. D. an., Parv. nat., wobei nach
jedem einzelnen dieser Bücher, mit Ausnahme der vier
Bücher Meteor., jedesmal einige Stellen aus dem betreffen-
den Commentare des Averroes folgen, dann aus dem Buche
De causis, dann Arist. Eth. Nie, D. bon. fort., Oecon.,
Polit., Rhet., Poet., nach welch letzterer wieder Averroes,
hierauf aus Pseudo-Arist., Secr. secr., D. reg. princ, D.
pomo et morte , sodann aus dem Organon mit Einschluss
des Porphyrius und des Gilbertus, hernach aus Arist.
182 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 6. Juli 1867.
Hist. an., Averr. D. subst. orb., Seneca ad. Luc, de mor.,
d. form, vit., d. benef., d. remed. fort., Boeth. D. cons.,
D. disc. schol., Plato Tim. und aus Apul. d. deo Soor. Der
Druck B 3, welcher von Parv. nat. an die Reihenfolge mehr-
fach ändert und insbesondere Poet., Rhet., und das Organon
an den Schluss des Ganzen stellt, fügt auch noch Arist. De
mot. anim. und Ps.-Arist. De plantis und De proprietatibus
elementorum ein. Und mit diesem letzteren Drucke ist nun
die ganze in Deutschland gedruckte Gruppe C wesentlich
identisch, nur ist die Schrift D. propr. elem. wieder weg-
gelassen und die Reihenfolge der Bücher in einigen Punkten
geändert, sowie auch Averr. zu Meteor beigezogen und ausser-
dem kehrt hier die Titel-Bezeichnung des Ganzen als „Auctori-
tates" wieder. Es sind nemlich die sämmtlichen Drucke,
welche zur Gruppe C gehören, in Zahl, Reihenfolge und
Formulirung der Autoritäts-Stellen unter sich völlig gleich,
und die in dieser Beziehung waltende Uniformität ist da-
durch nicht gestört, dass die bei Heinrich Quentel erschie-
nenen Drucke, d. h. C, 8—11, einige Eigentümlichkeiten
zeigen. Nemlich in denselben ist die erklärende Begründung
der einzelnen Stellen manchmal durch kleine Zusätze be-
reichert, und am Schlüsse des Ganzen eine Commendatio
philosophiae Aristotelis cum eiusdem vita et moribus nebst
einem (gräulichen) Carmen de operosa virtute beigefügt;
und jener thomistische Aristotelismus, dessen hauptsächliche
typographische Stütze damals Quentel's Offizin war (— mehrere
anderweitige Drucke Quentel's zeigen auf dem Titelblatte
ein Bildniss des Thomas v. Aquin, aus dessen Munde sich
ein Zettel mit der Aufschrift entfaltet, dass ausschliesslich
nur Thomas die Quelle aller philosophischen Wahrheit
sei — ), zeigt sich hier darin, dass vor den der Politik des
Aristoteles entnommenen Auctoritäts-Stellen eine ziemlich
heftig geschriebene „Explosio Piatonis" eingefügt ist; aber
auch die anerkennenswerthe Neuerung finden wir in diesen
Prantl: Literatur der „Auetor itates". 183
Drucken, dass als Verfasser der Schrift De discipl. scho-
lariuui liier nicht mehr Boethius, sondern Thomas Braban-
tinus genannt ist.
Jener schon erwähnte Umstand aber, dass innerhalb
der Gruppen B und C der älteste Druck aus einer ober-
italienischen Druckerei hervorgieng, ist weder zufällig noch
vereinzeint, sowie überhaupt für das Ende des 15. und den
Anfang des 16. Jahrhunderts die Beachtung der Druckorte
manchen interessanten Blick auf die örtliche Verbreitung
verschiedener Partei- Ansichten werfen lässt. Italien, die
früheste und hervorragendste Oertlichkeit der Renaissance,
lieferte die ersten Gesammt- und Special- Ausgaben der
aristotelischen Werke, und hier zuerst lernte man, — ab-
gesehen vom Organon — , den Aristoteles nicht aus den
Commentaren und Controversen eines Thomas und Scotus
und Anderer, sondern aus dem Texte selbst kennen. So
auch schuf man sich zum Behufe der üblichen Schul-Dispu-
tationen eine Sammlung aristotelischer Auctoritäts-Stellen,
welche unmittelbar aus den Drucken aristotelischer Schriften
selbst geschöpft war, ein Geschäft, welches damals juder
Setzer oder wenigstens jeder Vorsteher einer Druckerei be-
sorgen konnte , denn diese Leute standen hinreichend auf
der gelehrten Bildung ihrer Zeit, um sich während des
Druckes oder der Correctur hauptsächliche und hervor-
stechende Stellen des Autors, welchen sie druckten, zu
notiren und zusammenzuschreiben. Für den Leser solcher
Sammlungen war allerdings auch diess eine wohlfeil errun-
gene Belesenheit, wenn er in etwa 3000 Zeilen den ganzen
Aristoteles, Averroes, Boethius, den halben Seneca und noch
ein paar andere vielgenannte Schriftwerke beisammen hatte.
Aber während hierin an praktischer Brauchbarkeit die
Gruppen B und C dem alphabetisch geordneten Stoffe der
Gruppe A nicht nachstanden, hatten sie den Vorzug, dass
sie aus den betreffenden Quellenschriften selbst geschöpft
184 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juli 1867.
waren. Ja man hat es in italienischen Druckereien (z. B.
in der Offizin der Gebrüder de Gregoriis zu Venedig) zu-
weilen auch zweckdienlich gefunden, dem Text-Abdrucke
einer lateinischen Uebersetzung eines aristotelischen Werkes
noch die betreffenden ,,Auctoritates" aus demselben nach-
folgen zu lassen , welche dann im Ganzen so sehr mit den
Stellen in den Gruppen B und C übereinstimmen, dass man
auf den Gedanken kommen könnte , diese letzteren seien
überhaupt nur Abdrücke solcher Zusammenstellungen, welche
am Schlüsse einzelner Text-Ausgaben sich finden. Jedoch
erscheinen derartige „Auctoritates" in den Drucken der
aristotelischen Texte viel zu selten , um eine solche An-
nahme möglich zu machen, und weit eher ist an das um-
gekehrte Verhältniss zu denken, d. h. dass die Sammlungen
der Auctoritates benützt wurden, um die Ausgabe eines ein-
zelnen Buches am Schlüsse mit den es betreffenden Aucto-
ritäts-Stellen zu schmücken.
Unter Bewahrung einer gewissen Selbstständigkeit knüpfte
an die Gruppe B, d. h. an die italienischen Drucke, der
Bolognese Andreas Victorius (D, 1) an, welcher nicht bloss
die Schrift De reg. princ, sondern auch Boeth. D. cons.
und De disc. schol. und den platonischen Timaeus bei Seite
liess, und ausserdem das Uebrige in einer zuweilen umge-
stellten Reihenfolge vorführte. Und gleichfalls auf der
italienischen Grundlage baute Theophilus de Ferrariis (D, 2)
fort, welcher unter Wiederaufnahme des dort üblicheren
Titels „Propositiones" nun ausser Boethius und Plato auch
den Seneca und den Apulejus hinwegliess und somit sich
wesentlich auf die eigentlich aristotelische Literatur (d. h.
mit Einschluss des Averroes, Porphyrius und Gilbertus Por-
retanus) beschränkte, wobei uns nur auffallen mag, dass
die Poetik hier unberücksichtigt blieb , während sogar die
sog. grosse Ethik beigezogen ist. Eben aber innerhalb der
Beschränkung auf Aristoteles ist diese Auctoritäten-Samin-
Prantl: Literatur der „Anctoritates" '. 185
lung bei weitem die reichhaltigste von allen; und indem
gleichsam sämmtliche citirbaren Kernstellen in der Reihe,
wie sie in den Texten nacheinander folgen, zusammengestellt
sind, kann man das Ganze, welches nahezu 10,000 Stellen
enthält (z. B. aus dem Organon bei 2100, aus Metaph.,
Phys. ausc, Eth. Nie. ungefähr je 1100 u. s. f.), als einen
ziemlich vollständigen und auf Text-Lectüre beruhenden
Auszug aller aristotelischen Werke bezeichnen. Zugleich
aber wurde mit diesem Vorzuge grösster Ausführlichkeit
auch das praktische Motiv der alphabetischen Sammlungen
verbunden, indem Benedikt Soncinas jene 10,000 Stellen
nach ihren Schlagworten in alphabetische Ordnung brachte,
und somit zur Bequemlichkeit des Auffindens brauchbarer
Auctoritäts-Stellen ein Register, welches allein 102 Seiten
füllt, vorangedruckt wurde. Dass die philosophische Partei-
stellung auch bei dieser Sammlung dem Thomismus zu-
gewendet war, erhellt aus mehreren Stellen derselben; ja
auch Gratiadei von Ascoli findet hier eine reichliche Ver-
wendung.
Hingegen wieder eine Rückkehr zur Gruppe B hat
stattgefunden in der Gruppe E , wo wir die sämmtlichen
anderweitigen Autoren wie dort aufgenommen finden. Nur
ist die Reihenfolge der Abschnitte darin wesentlich geändert,
dass mit Poet, und Rhet. begonnen wird und dann sogleich
das Organon - folgt ; auch sind bei einigen aristotelischen
Schriften nicht sämmtliche Stellen aufgenommen, welche in
jener älteren Sammlang sich finden, hingegen z. B. bei
Seneca ein paar neue Stellen hinzugefügt.
Endlich insoferne in Bouchereau's Sammlung (Gruppe F),
welche sich wieder ausschliesslich auf Aristoteles beschränkt,
eine Auswahl aus dem reichen Materiale des Theophilus de
Ferrariis in inhaltliche Gesichtspunkte zusammengestellt ist,
entfernt sich dieselbe bereits einigermassen von dem eigent-
lichen Charakter der früheren „Auctoritates" und nähert
186 Sitzung der pliilos.-philol. Classe vom 6. Juli 1867.
sich eher einem selbstständigen Werke , welches nach Mass-
gabe und Fähigkeit des 16. Jahrhunderts eine Darstellung
der gesammten aristotelischen Philosophie genannt werden
könnte.
In literargeschichtlicher Beziehung aber muss noch be-
sonders hervorgehoben werden, dass der ganze Complex der
Auctoritates in verwandtschaftlicher Weise mit zwei ander-
weitigen Zweigen von Schriften zusammenhängt. Vorerst
nemlich ist es die Literatur der damals sogenannten Pro-
blemata ( — oder wie die Schreibweise häufig lautete, ,;Pro-
bleumata") Aristotelis, welche ja auch in obigem Drucke
E, 1 eine Aufnahme unmittelbar neben den Dicta notabilia
gefunden hatten. Und in der That war diess nicht eine
bloss äusserliche Zusammengehörigkrit, sondern diese Pro-
blemata bildeten wirklich eine Ergänzung der üblichen
„Auctoritates", insoferne jenes eigenthümliche Sammelwerk,
welches unter dem Titel „Problemata" in den aristotelischen
Schriften enthalten ist, durchaus nie zu den Sammlungen
der Auctoritäts-Stellen benützt worden war. Aber diese
aus dem Alterthume überlieferten Probleme des Aristoteles
waren nur die äussere Veranlassung der sog. „Probleumata
Aristotelis", und diese letzteren, welche in der Incunabel-
Zeit und den nächstfolgenden Jahrzehenten äusserst häufig
gedruckt wurden (— mir kamen 34 Drucke, darunter 4
deutsche Uebersetzungen, vor — ), sind Nichts weniger, als
etwa Ausgaben der aristotelischen Probleme, sondern es
sind Fragen , deren wohl sehr viele dorther entnommen
werden konnten , aber deren wieder ein grosser anderer
Theil aus anderweitigen naturwissenschaftlichen Schriften
des Aristoteles geschöpft ist. Und die Beantwortung dieser
Fragen, welche zuweilen aus Aristoteles selbst, aber häufiger
aus Avicenna, Averroes , Galenus, einige Male auch aus
Albertus Magnus entlehnt ist, zeigt uns deutlich, dass diese
ganze Ergänzung der Auctoritates von der damaligen medi-
Prantl: Literatur der „Auctoritates". 187
cinischen Wissenschaft ausgieng. Aber eine erklärliche Rück-
anknüpfung an die Richtung der Auctoritates erkennen wir
darin, dass in einem Theile dieser Ausgaben der Probleu-
mata die oben erwähnte Abhandlung de Aristotelis vita et
moribus aus den Kölner-Drucken in metrischer Bearbeitung
Aufnahme fand und hinwiderum in mehreren anderen Aus-
gaben die Problemata des Marcus Antonius Zimara nebst
der von eben demselben veranstalteten Sammlung von 300
Sätzen des Aristoteles und des Averroes beigefügt wurden.
Ein zweiter Zweig aber, mit welchem im damaligen
Schulbetriebe die „Auctoritates" zusammenhiengen, war die
höchst ausgedehnte Literatur der sog. Thesen. Und sowie
die oben erwähnten Drucke A, 8, 10 und 11, welche auf
dem Titelblatte das bekannte Jesuiten-Zeichen tragen, un-
mittelbar an die Axiomata eine lange Reihe von Thesen
anknüpfen, welche seit 1592 in verschiedenen Jesuiten-
Schulen verhandelt worden waren (— Theses disputatae — ),
so treffen wir in der That fast eine Unzahl von Thesen-
Drucken, welche bald Proposita, bald Assertiones, bald
Positiones betitelt sind, und disputable Sätze aus aristoteli-
scher Logik, Physik und Ethik in näherem oder entfern-
terem Anschlüsse an die üblichen „Auctoritates" enthalten.
Dass diese Praxis der Schul-Disputationen sich allmälig in
abgeschwächter Form zu den noch jetzt üblichen Promo-
tions-Thesen umgestaltete, ist ebenso selbstverständlich, als
dass auch die protestantischen Universitäten , welche als
Universitäten überhaupt den Scholasticismus der Vorzeit
nur in das Protestantische übersetzten, an dieser formellen
Tradition sich reichlich betheiligten. Hingegen ein tieferer
culturgeschichtlicher Faden liegt darin, dass der Standpunkt
der Jesuiten, aus deren Schulen im 16. und 17. Jahrh. bei
weitem die grössere Zahl der Thesen-Literatur hervorgieng,
im Allgemeinen nur eine getreue Fortsetzung des Thomis-
mus (d. h. der Dominikaner) war. Und diese Erwägung
188 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 6. Juli 1867.
mag uns den Uebergang zu einigen inhaltlichen Betracht-
ungen machen, welche dem Leser der Literatur der ,,Auc-
toritates" sich aufdrängen.
Insoferne nemlich in dem Paris-Kölner und dem ober-
italienischen Thomismus, welch letzterer in manchen Punk-
ten auch mit dem Averroismus einen ziemlich unvorsichtigen
Frieden eingieng, der inhaltliche Grundton der sämmtlichen
Auctoritates-Literatur liegt, kann dieselbe einen kleinen
Beitrag zur Kenntniss der Renaissance-Zeit und des 16. Jahr-
hundertes , d. h. überhaupt einer Periode liefern , deren
Detail-Erforschung bezüglich der Philosophie immerhin noch
als eine der Wissenschaft erst obliegende Aufgabe bezeich-
net werden darf. Denn sowie man bisher in der Geschichte
der Philosophie selbst bei ausführlicherer Darstellung den
Uebergang von Occam oder etwa auch von Johannes Gerson
und Raimund von Sabunde bis zu Baco v. Verulam und
Descartes etwas allzu rasch zu bewerkstelligen pflegt, und
auch nur sehr wenige Monographien über einzelne der da-
zwischen liegenden zahlreichen Mittel-Formationen verfasst
wurden, so liegen überhaupt noch (— ohne Uebertreibung — )
Hunderte von Drucken aus jener Zeit vor, welche wohl ein
lautes Zeugniss über den damaligen eigenthümlichen Zu-
stand der Philosophie ablegen, aber bis jetzt für die ge-
schichtliche Wissenschaft noch nicht benützt wurden. Einen
grossen Theil derselben wird allerdings die Geschichte der
Logik noch verwerthen müssen , aber indem dieselbe die
Gränzen ihres speziellen Gegenstandes nicht überschreiten
darf, kann sie gewissermassen nur eine Probe oder eine
Anreizung zur Behandlung des übrigen Restes darbieten.
Ein unscheinbarer Nebenpunkt aber, welcher in seiner be-
schränkten Weise sich auf die ganze Philosophie (d. h. auf
Logik, Metaphysik, Physik, Psychologie, Ethik, Politik) er-
streckt, beruht in der Literatur der Auctoritates.
Im scholastischen Mittelalter war theologisireade Schul-
Prantl: Literatur der .,Auctoritates". 189
Philosophie die einzige Existenzweise der Philosophie über-
haupt. Diess änderte sich hernach , insoferne von dem
wiedererwachenden Alterthume und von Mathematik und
Naturstudium her in freierer Strömung eine anderartige
Zeit-Philosophie danebentrat; aber die Aenderung bestand
nicht, darin, dass etwa, wie man gemeiniglich anzunehmen
scheint, seit dem Anfange des 16. Jahrhunderts die Scho-
lastik zu Grabe getragen sei (oder, wie eine beliebte Phrase
lautet , dass der Tübinger Gabriel Biel der letzte Schola-
stiker gewesen sei). Den besseren Theil hatten in jener
denkwürdigen Periode der Renaissance jedenfalls die Hu-
manisten erwählt, aber sie übten vorerst keinen unmittel-
baren Einfluss auf die Zeit-Philosophie aus , geschweige
denn überhaupt irgend einen Einfluss auf die Schul-Philo-
sopliie; und auch die platonische Akademie der Mediceer
brachte in der Tradition des philosophischen Schulunter-
richtes noch weit weniger eine Aenderung hervor, als ehe-
dem das analoge Unternehmen des Julianus Apostata. Andrer-
seits war in Naturkunde und insbesondere Arzneiwissenschaft
bereits während der scholastischen Periode neben Avicenna
auch Galenus getreten , und die Ptenaissance fügte sofort
die Werke des Hippokrates hinzu (allerdings vorerst in
lateinischer Uebersetzung und erst 3 — 4 Jahrzehente später
im griechischen Originale) , so dass in der That eine Reihe
reformatorischer Bestrebaugen in der Philosophie auf Chemie
und hippokratische Ilumoral - Theorie zurückweist. Aber
während es häufig unser »Staunen erregt, mit welch aus-
gedehnter medizinischer Belesenheit im IG. Jahrhundert
z. B. die psychologischen Fragen von Averroisten und Anti-
Averroisten. von Nicht-Aristotelikern und auch einigen Ari-
ßtotelikern besprochen wurden, so erfuhren alle dergleichen
Grundsätze und Meinungen , welche sich von den aristoteli-
schen vier Elementen abwendeten und neue physikalische
Kategorien-Tafeln oder anderweitige Grund-Elemente auf-
[1867. II. 2] 13
190 Sitzung der philos.-pliilol. Gasse vom 6. Juli 1867.
zustellen versuchten, seitens der Schul-Philosophie nur eine
gänzliche und principielle Nichtbeachtung.
Die Katheder-Philosophie war nun nicht mehr, wie im
Mittelalter, zugleich die Zeitphilosophie, und die Inhaber
der philosophischen Lehrstühle waren nicht die Träger des
allmäligen Fortschrittes der Philosophie, sondern nur die
Vertreter einer älteren und bereits stagnirenden Tradition.
Und indem sich der fortschreitende Aufschwung der Philo-
sophie gerade ausserhalb der Hörsäle in individuell gefärb-
ten schriftlichen Schöpfungen vollzog, erklärt sich sowohl
die Polemik der erwachenden Selbstständigkeit gegen den
Schul-Schlendrian als auch die Verfolgungswuth der Ka-
theder-Philosophen gegen die kühnen Neuerer. Was der
studirenden Jugend, welcher z. B. auch Plato verschlossen
blieb, als philosophischer Unterricht dargeboten wurde, be-
stand immerfort noch entweder in thomistischem oder in
scotistischem Aristotelismus oder in sonstigen geistlosen Ex-
cerpten aus Aristoteles auf Grundlage der verschiedenen
sog. Parvuli (Parvulus philosophiae naturalis, Parvulus phi-
losophiae moralis). Und solch magere und verschrobene
aristotelische Tradition schleppte sich an den protestanti-
schen Universitäten ebenso sehr wie an den katholischen fort,
während und nachdem bereits Baco, Descartes, Spinoza und
Leibniz in der Literatur aufgetreten waren; nur in Frank-
reich fand der halbaugustinische Cartesianismus eine Auf-
nahme in den Hörsälen und Schulbüchern der Philosophie
bis weit über Port-Royal hinab. In Deutschland aber war
erst seit Wolff der Fortschritt der Philosophie selbst an die
Universitäts-Lehrstühle geknüpft, und jene nemliche Zeit
war es auch, in welcher erst eine gründlichere Beseitigung
der Scholastik eintrat.
Aber eben zu jener nach dem angeblichen Tode der
Scholastik noch lange fortlebenden Scholastik gehört auch
die Literatur der Auctoritates. Bedenkt man, dass damals
Prantl: Literatur der „ Auetor itates'1. 191
nicht das geschichtliche Interesse der Forschung der Be-
stimraungsgrund war, Etwas durch den Druck zu ver-
vielfältigen, sondern dass man eben druckte, was irgend-
wie im Gebrauch war, so trifft mit der langen Dauer
der Zeit, in welcher „Auctoritates" gedruckt wurden, eine
ebenso lange fortgesetzte praktische Benützung derselben
zusammen, und wir werden sicher keinen Fehlschluss
machen , wenn wir annehmen , dass auch bereits längere
Zeit vor der Praxis der Buchdruckerkunst Aehnliches hand-
schriftlich in Umlauf war. Im Gebrauche aber war diese
Literatur bei den thomistischen Pradikanten sowohl zum
Behelfe der Prediger als auch zur philosophischen Dressur
der Studirenden, wie diess in der Vorrede der nicht-alpha-
betischen Sammlungen deutlich ausgesprochen wird: ,,In-
cipit prologus compendii auetoritatum pro usu intro-
duetionis thematum ipsorum praedicatorum ad populum
simul ac in artibus studere volentium. Cum enim aristote-
licae sententiae tarn ad populum praedicanti (an einer
anderen Stelle wird hiefür auch das Wort arenga gebraucht)
quam in artibus studenti non modicum fulgontioris cogni-
tionis cuiufelibet scientiae praebeant robur et fuleimen, ideo
in praesentiarum pro magistralibus brevibusque sermonum
introduetionibus" etc. etc. (d. h. der Satz ist ein in allen
in Deutschland erschienenen Drucken gleichlautendes Ana-
koluth). Reichen sich so der homiletische und der Schul-
Zweck gegenseitig die Hand (s. z. B. die Verbindung des
Predigt-Stiles und der Logik bei Antonius Anrrroas; m.
Gesch. d. Log. Bd. III, S. 277), so verhielt sich inhaltlich diese
ganze Richtung aus Grundsatz spröd gegen die Renaissance
und deren Wirkung auf die Philosophie. Denn wenn auch
einige rhetorische ,,purpurei panni" aus anderen classischen
Autoren allmälig in diese Schal-Literatur Eingang gefunden
(z. B. die allbekannten horazischen Worte „ampullae" und
„sesquipedalia verba") , so springt in philosophischer Be-
13*
192 Sitzung der phüos.-philöl. Classe vom 6. Juli 1867.
Ziehung vor Allem die grundsätzliche Nichtberücksichtigung
der Schriften Plato's in die Augen. Indem die Auctoritäts-
Stellen aus dem Timäus (d. h. aus Chalcidius) hiegegen
wahrlich keinen Einwand liefern, da ja bekanntlichst die
Uebersetzung des Chalcidius dem Mittelalter vom ersten
Anfang an bekannt war, so verbleiben die „Auctoritates"
bezüglich Plato's gerade vollends bei der mittelalterlichen
Tradition, obwohl die platonische Dialoge bereits seit 1483
in der lateinischen Uebersetzung des Marsilius Ficinus ge-
druckt vorlagen (Drucke des griechischen Original-Textes
erschienen erst 30' Jahre später), und obwohl in sehr be-
nachbarter Nähe der venetianischen und der bologneser
Druckereien die platonische Akademie der Mediceer eine
reichhaltige und fast erschütternde Bewegung in der Philo-
sophie hervorgerufen hatte. Diese thomistischen Prädicanten
wiederholten unbeirrt nur dasjenige, was seit dem Einfluss
der Araber die Majorität des ganzen Mittelalters stets ge-
than hatte; denn alle thomistischen und halb-thomistischen,
sowie alle scotistischen und halb-scotistischen Aristoteliker
stimmten in logischer Verwerfung der platonischen Ideen -
Lehre überein (s. m. Gesch. d. Log. Bd. III, S. 125, 236,
240, 249, 292 f., 309, 316 ff., 325, 358). Auch wurde ja
als brauchbare Beisteuer zur antiplatonischen Tendenz dem
Kölner Buchdrucker Quentel von irgend Jemandem jene
oben erwähnte ,,Explosio Piatonis" aus Firmianus (d. h.
Lactantius) zur Verfügung gestellt, in welcher die platonische
Ehe- und .Kindergemeinschaft vom christlichen Standpunkte
aus verurtheilt ist.
Indem man somit in den „Auctoritates" die platonische
Philosophie überhaupt grundsätzlich ignorirte, schöpfte man
nicht einmal die vier Cardinal-Tugenden aus der ursprüng-
lichen Quelle , sondern merkwürdiger Weise aus jenen apo-
kryphen Briefen an den Apostel Paulus, welche im ganzen
Mittelalter schon seit Johannes von Salesbury für ein Er-
Prantl: Literatur der ., Auetor itates". 193
zeugniss des Seneca gehalten wurden. Nemlich während
man die Lehre von den Cardinal-Tugenden natürlich aus
Augustinus hätte entnehmen können, welcher bekanntlich der
Urheber dieser christlichen Wendung der platonischen Ethik
war, scheint man die Auetori tat eines ,, Philosophen" der-
jenigen eines Kirchenvaters vorgezogen zu haben und so
mochte sich neben Boethius, welcher gleichfalls als Christ
und als Verfasser der Schrift De trinitate galt, ganz be-
sonders der vermeintliche Christ Seneca empfehlen , auf
dessen übrige Schriften von den Pseudonymen Büchern her,
deren wirklicher Verfasser wahrscheinlich der Portugiese
Martinus von Braga im 6. Jahrhundert war, der christliche
Nimbus übertragen wurde. Wenn somit die Beiziehung des
Seneca bei oberflächlichem ersten Blicke wie eine Ausnahme
von der Verschmähung der Renaissance erscheint, so klärt
sich die Sache durch die im Mittelalter über Seneca all-
gemein verbreitete Meinung völlig auf, und wir dürfen mit
Entschiedenheit behaupten, dass die Vertreter der Auc-
toritates-Literatur von den vorhergegangenen und gleich-
zeitigen Strömungen der Pienaissance überhaupt schlechter-
dings Nichts wissen wollten. Und sowie unter allen Drucken
nur der einzige jüngste Venetianer (E, 5 aus d. J. 1551) es
ist , in welchem den üblichen aristotelischen Auctoritäts-
Stellen einige Bruchstücke aus Plato unter dem Titel ,,Gein-
mae Piatonis" vorangeschickt sind, so müssen wir beachten,
dass, wie oben erwähnt, in anderen Drucken das sichtliche
]'. (streben obwaltete, auch den platonischen Timäus und den
Boethius sowie den Seneca u. s. f. zu entfernen und so das
reine Fahrwasser des scholastischen Aristotelismus zu ge-
winnen.
Während aber die früheren Scholastiker in den Werken
des Aristoteles . welche sie auch grossentheils mit einläss-
lichen Commentaren versahen, wirklich selbst belesen waren,
( — mag man von der Art und Weise, wie sie lasen, denken
194 Sitzung der pliilos.-phüol Gasse vom 6. Juli 1867.
was man wolle — ), so sind die Drucke der „Auctoritates",
wenn auch die Eine Classe derselben aus selbsteigener Lee-
türe hervorgegangen war, doch nur darauf berechnet, dass
der Leser sich nicht mehr der Mühe zu unterziehen brauche,
den Aristoteles selbst zur Hand zu nehmen, und es ge-
staltet sich die im Mittelalter überhaupt eingebürgerte Ab-
hängigkeit von vorliegender Ueberlieferung hier förmlich zu
einem Auctoritäts-Schwindel, welcher namentlich im Unter-
richte der Jugend bezüglich eines jeden geistigen Auf-
schwunges, geschweige denn eines Fortschrittes, nur lähmend
und niederdrückend wirken konnte.
Und hiemit hängt zusammen, dass die „ Auctoritates"
in manchen Punkten nur eine stagnirende Tradition jener
Unwissenheit und Halb-Barbarei waren, welche bei Albertus
Magnus noch verzeihlich war, aber in den Jahrzehenteu der
Renaissance keine Entschuldigung mehr erwarten darf. So
wenn wir in der Einleitung über Aristoteles lesen: ,,Eius
ortus primum carpsit huius vitae auras in straguma,
civitate traciae, fuit autem filius nichometi (an einer
anderen Stelle „nichometi vel anthomaci") et festiae, qui
ab esculapio descenderunt" , oder in dem Epiloge des
Ganzen: „Philippus mittit. Alexandrum grammatice tuue
loquentem certis cum oratoribus Athenas ad Lyceum in
asianum gymnasium enixius mandato regis Aristoteli suppli-
cantibus, ut suam philosophiam in hoc adolescente dignare-
tur experimento comprobare", oder ebendaselbst: ,,In re- .
gionem secessit Euboicam, ubi .... in urbe Calcbide
peripatum instituens reliquum vitae in optimo mentis
vigore gloriose transegit, in quo exilio rerum naturae con-
templationem transcendens stupendum opus Metaphysicen
usque ad duodeeim libros absolvit". Aehnlich über
Tlato als Einleitung zu den Stellen aus dem Timäus: „Fuit
autem Plato civis Atheniensis patre ariston de genere
neptuni, matre parcion de genere sapicutissimi SalomoniV.
Vrüntl- Literatur der „Auetoritates". 195
Ausserdem sind neben häufiger Nachlässigkeit der Ci-
tate (z. B. die allbekannte Stelle aus An. post. I „Gau-,
deant universalia , quae, si sunt, monstra sunt" wird dem
Porphyrius zugeschrieben) in manchen Drucken einzelne
Auctoritäts-Stellen durch so grobe Druckfehler entstellt, dass
mancher Prädicant und mancher Student hierüber in die
grössteu Verlegenheiten gerathen konnte. Z. B. aus Me-
taph. V : Aliqua (statt Aqua) est materia omnium liquefacti-
bilium; aus D. vita et m. : Animalia respirantur (statt suffo-
cantur) in humido; aus Polit. VII: Bonum est, pueros esse
sine vitio (statt vino) ; aus Polit. I: Consilium mulierum
est invalidum, pium (statt pueri) autem imperfectum; ebend.:
Desiderium dubium (statt divitiarum) vadit in iufinituui ;
aus Metaph. XII: Entia volunt (statt nolunt) male disponi;
aus Polit. V : Magnae civitates sunt plus (statt plus sedi-
tiosae), quam parvae, aus Phys. ausc. I: Quod non (statt
vere) est, nulli aeeidit ; aus Apul. d. deo Socr. : Conversatio
mutua (statt perpetua) contemptuin parit; u. dgl. m.
Aber auch wenn man auf solche Dinge als auf Zu-
fälligkeiten kein Gewicht legen will , so ist hingegen von
grösserem Belange , dass der Inhalt überhaupt in specula-
tiver Beziehung eine bedauerliche Schwäche zeigt, und dass
aus einer Jugend, welcher solche Nahrung des Geistes ge-
boten wurde , wahrscheinlich keine klaren Denker hervor-
gehen konnten. Jene thomistische Denkweise , welche so
trefflich darauf eingerichtet war, Kamele zu verschlucken
und Mücken zu seihen, blickt in den „Auctoritates ' bei
jeder Gelegenheit durch, da ja die unnatürliche Verbindung
des Aristotelismus und der Principien des Christenthumcs
in den Thomisten-Schulen überhaupt einmal zur süssen Ge-
wohnheit geworden war. Es ist nur der scholastisch (oder
auch jesuitisch) verstandene Aristotelismus , welchen jene
Leute für eine ,,vegeta solidaque philosophia" hielten , ver-
möge deren man sich ,,vel contra Socratem nihil scientem
19G Sitzung der phüos.-philos. Ciasse vom G. Juli 1867.
vel Platonem enygmata cudentern aut Thaletem ignivomum
aut Democritum atomis circumfusum et item omnigenas*
philosophorum hereses undequaque contegere et vin-
dicare" könne (so im Epilog). Und warn sonach jede
andere Philosophie als Häresie galt, so erschien Aristoteles
als jener Philosoph, ,,qui uuum deum, qui entium universi-
tati ut autor et custos sempiternae vigiliae praeesse, ratione
docere tentaret", woran dann folgende Erzählung geknüpft
wird: „Tanta eius philosophia paucis lahentibus annis cepit
auetoritate complecti , quod Athenienses ex ea sufficienter
persuasi in honorem unius dei, quem ignotum appellitabant.
statuam publice erigerent ; quam cum .... Paulus Christi
apostolus coram gentibus nomen dei portaturus Athenis
offenderet, illum esse diebus suis pro salute humani generis
natum et crueifixum illi populo gentili salubriter ex-
ponebat" (ebend.). Bei solch letzterer Ansicht ist es dann
nicht zu wundern, wenn ferner gesagt wird: „In dubium a
nonnulis est quandoque revocatum, an Aristoteles de factu
fuerit in statu salutis vel damnationis aeternae
Quod autem Aristoteles poterat sub lege naturae salutem
aeternae beatitudinis consequi, non videtur probatu diffi-
cile, si modo advertamus, deum pro omni, tempore suffi-
cienter generi humano de illo, quod ei maxime necessarium
erat, providisse; et Paulus vas electionisTimothei
seeundo clamat: Ueus vult, omnes homines salvos fieri et
ad cognitionem veritatis, i. e. dei, pervenire Hie vero
philosophus vitam suam a teneris unguiculis ad supremam
usque diem pro ea re et cognitione veri et boni electione
flagrans ineffabili studio consumpsit. Taceo oi^probria,
quae pro unius dei eultu aeeepit, taceo exilium , quod pro
eodem tarn fortiter pertulit, taceo frequentes elehemosynas
usque ad sui inopiam indigentibus erogatas, taceo item tot
gentes, tot urbes, quas vel ;ib excidio sua sapientia prae-
servavit vel disieetas et prostratas .... restituit .... Nee
VranÜ: Literatur der „Auct&ritates": 197
obstat, si quippiam sub lege scripserit naturae , quod fides
non habet orthodoxa Gentes siquidem, ut vas elec-
tiouis Paulus ad Romanos capite seeundo testis est, non
habentes legem naturaliter ea, quae sunt legis, faciunt (diess
die bekannte neutestamentliche Stelle, welche für die Ge-
schichte der Rechtsphilosophie eine so grosse Rolle spielt) ;
sie Aristoteles ipse sibi erat lex osteudens opus legis, quam
in corde suo scriptam habebat.
Von diesem Philosophen nun, welcher in solcher Weise
gegenüber allen übrigen Heiden mit einer schlechthin unpro-
portionalen Milde behandelt wird und förmlichst das theo-
logische Prädicat ..beatus" zugetheilt erhält (so dass zur
Heiligsprechung nur noch Ein Schritt übrig war), nahm die
thomistische Schul-Tradition in unbeschreiblicher Naivetat;
auch Grundsätze auf, welche der christlichen Theologie ge-
radezu widersprechen ; und aus den ,,Auctoiitates:' lässt sich
eine ziemliche Blumenlese von Stellen erholen , welche ent-
weder in ihrem Wortlaute oder in ihren Consequenzen
nothweudig' zum Scheiterhaufen hätten führen müssen. So
z. B., um nur Einiges anzuführen, die oft wiederholte Be-
hauptung betreffs der Ewigkeit der Welt, Demiich: Mundus
est aeternus (Phys. ausc. VIII.), Coelum est ingenerabile
et incorruptibile (D. coel. I), Non est timendum, quod coe-
lum stet. i. e. a motu quiescat (Metaph. IXj. Motus coeli
est aeternus (Metaph. XI u. Averr. Comm. D. gen. et
corr. U), stellarum natura est aeterna (Metaph. XI), oder
der entschiedene Grundsatz, dass aus Nichts Nichts wird:
Ex nihilo nihil fit (Phys. ausc. I und D. gen. et corr. I)
Impossibile Cot, aliquid lieri ex non ente (Metaph. III), oder
die Hinweisung auf den bekannten tief-philosophischen Aus-
spruch Homo generat hominem (z. B. Phys. ausc. II), in
welchem das Princip des Generatianismus verkündet ist,
oder die aristotelische Detinition der Seele: Anima est
actus corporis organici physici (D. an. II), sogar unter De-
198 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juli 1867.
nützung der Stelle: Anima est unum entmin naturalium
rerurn (D. au. III). oder der ebenso acht antike als anti-
christliche Grundsatz Impossibile est , indigentem operari
bona (Eth. Nie. I).
Nun lag allerdings darin , dass dergleichen Sätze als
Auctoritäts-Stellen gedruckt wurden, nicht etwa gleichsam
eine kirchliche Approbation derselben, sondern man war
eben in Folge der Auctoritäts-Sucht und der so Jange dau-
ernden Geltung des Spruches ,,Ne quid adversus Aristote-
lem" gegen Aristoteles unverhältnissmässig nachsichtiger
als gegen jeden anderen Philosophen, Aber solche Halbheit
war dem Mittelalter überhaupt eigenthümlich , bis gegen
Ende desselben Occam (nicht ohne Anknüpfungspunkte an
Duns Scotus) mit aller Entschiedenheit den Aristotelismus
neben der von ihm getrennten Dogmatik hinstellte. Jedoch
Occam's Lehre wurde aus manchen, hauptsächlich politischen
Gründen von der Kirche verdammt , und die scholastische
Halbheit gewann in den Schulen auf lange Zeit wieder
festen Boden und conservirte sich von Generation zu Ge-
neration, so dass aus derlei Schulen und Universitäten dei
Geist der Neuzeit nicht hervorgieng, sondern der Renaissance
und den Naturwissenschaften die Aufgabe der Umbildung
vorbehalten blieb.
Aber eben jenem noch lange sich fortspinnenden Tho-
mismus der Schul-Philosophie dienten die ,,Auctoritates",
welche somit wahrlich kein erfreuliches Bild , aber einen
Beitrag zur geistigen Culturgeschichte des 15. und 16. Jahr-
hundertes darbieten.
Hofmann: Zum altroman. Leiden Christi. 199
Herr Hofinann giebt Bemerkungen:
1) „Zum altromanischen Leiden Christi und
zum Leodegar".
Die hohe Anerkennung, welche der Gründer und Meister
der romanischen Philologie jüngst (im Jahrbuche für
romanische und englische Literatur) meinem vor 12
Jahren in den Gelehrten Auzeigen unserer Akademie er-
schienenen Versuche zu Theil werden Hess, ermuthigt mich,
einen Nachtrag zu veröffentlichen, die Frucht wiederholter
Beschäftigung in meinen kritisch-exegetischen Collegien über
altromanische Sprache und Literatur. Da Diez den grössten
Theil meiner Conjecturen gebilligt hat, so bleibt mir nur
noch eine Nachlese, die sich freilich meist auf die schwierig-
sten Stellen bezieht, und daher mit um so grösserer Nach-
sicht aufgenommen zu werden wünscht.
Leiden Christi.
Str. 19,1 1. lo sso talant, nach der gewöhnlichen Ver-
dopplung des anlautenden Cousonanten zwischen zweiVocalen
verschiedener Wörter.
Str. 24 glaube ich dem Sinne entsprechender umsetzen
zu dürfen
que faire cove a trestoz
per remembrar sa passiun.
Str. 33,3 lies Judas für Judeus.
Str. 29,3. uduned. Hier ist zu bemerken, daßfi Eder
Instand du Meril (Formation de la langue franyaise 1852),
der die ersten 18 Strophen dcsLeodegar mit den abweichen-
den Lesarten des Hrn. Desbouis, Bibliothekar von Clermont-
Ferrand mittheilt, in der IG. Strophe statt advuat, der
200 Sitzung der philos.-iriüol. Classe vom 6. Juli 1867.
Lesung des Hrn. Valet de Viriville, gleichfalls adunat gibt,
wodurch die Lesart vollends sicher gestellt wird. Ich habe
die Erklärung von Henschel (aus idoneare) angeführt, bin
aber jetzt vollkommen überzeugt, dass die ursprüngliche
Deutung von Diez (aus ahd. sih einon) die allein richtige
und in jeder Hinsicht passende ist. Erstens in formeller
Beziehung; denn adunare ist = aduner. Zweitens für den
Sinn; denn genau dieselbe Bedeutung, welche in unsern
Stellen für s'aduner passt, hat sih einon und gaeinön in
mehreren der zahlreichen von Graff I, 331 ff. angeführten
Belege, sogar in Verbindung mit sprechen, gerade, wie in
unseren romanischen Denkmälern, Leod. 16. dist et adunat.
So N. Psalm. 38,2. ih chad in minemo herzen, unde cinöta
mih sus. N. 101,8. die einöton sih uuider mir jurahant.
Märt, geinun jurasse. N. 118,106. ih suuor unde gee'tnöta
mih, Em. 8. Jcaeinot adunat. Offenbar ist aus dem Begriffe:
eine Vereinigung beschwören, die allgemeinere Bedeutung
schwören, versichern, hervorgegangen, die in unseren beiden
Stellen so vorzüglich passt, während P. Chr. Str. 43,3 in
adunovent das Wort in der gewöhnlichen Bedeutung steht.
Es ist diess einer der vielen Fälle, wo germanischer und
romanischer Ausdruck zusammenstimmen.
Str. 44,4 fehlt eine Sylbe, deren Ergänzung auf dop-
pelte Weise versucht werden könnte, einmal, indem man
neul (zweis.) für nul, oder fedre (fecerat) für feist setzte;
dieses fedre erscheint nemlich in der Str. 47,4 , wo die
Handschrift to hat, was ich in V o trenne und fedre, (nach
Analogie von niedre == miserat) als fecerat fasse (nicht als
ferit), also = wer dir diess gethan hat?
Str. 76,3,4, lese und ergänze ich:
chi per humila (= humla) confession
colpa perdones al ladrun.
Dass in hum va humil stecken müsse, hat Diez schon
gezeigt ; ich glaube nun durch humila auch den Schriftzügen
Hof mann: Zum altroman. Leiden Christi. 201
vollkommen gerecht zu werden, indem ich annehme, dass
humila als humua (hum va des französischen Herausgebers)
verlesen wurde. Die Aussprache war natürlich zweisylbig,
wenn auch humila geschrieben wurde.
Str. S3, 4. Es scheint durchaus nicht, dass für inls
eine andere Besserung gefunden werden könnte, als die von
Diez vorgeschlagene vUs, man müsste denn den ganzen
Reim und damit murir in der vorausgehenden Zeile ändern
wollen.
Str. 86,2 1. qae lli dones.
Str. 88,4 lese ich ant acel temps st. anc a cel, wie
90, 1 fuc für fut steht.
Str. 93,0 regnet pocianz se fena. Wohl die verzweifeltste
Stelle des ganzen Denkmals. Was ich früher umgeworfen,
war nur ein flüchtiger Einfall, dem ich selbst nicht den
geringsten Werth beilegte. Der Fehler muss, wenn wir uns
nur an die französische Ausgabe halten , in pocianz ver-
muthet werden ; denn dieses hat Champollion-Figeac mit
einem Fragezeichen versehen, also stund nicht so in der
Handschrift oder es stund noch etwas dabei, was er nicht
herausbringen konnte. Da der Schluss des Verses fena =
fine auf aucise reimt, so lässt sich auch daraus schliessen,
dass die fehlenden zwei Sylben vor fena gesucht werden
müssen. Indem ich diess erwäge und darauf ausgehe,
ohne Aeuderung eines einzigen Buchstaben den Vers zu
ergänzen , kann ich das Ausgelassene nur in Abkürzungs-
zeichen finden, die wieder um pocianz herum gestanden haben
müssen. Annehmend also, dass in p ein Queerstrichelchen
unten, ferner über dem i eines oben zu ergänzen ist , er-
halte ich perocinanz, dann lese ich ne statt se und er-
halte so:
regnet peroe inunz ne ftna, d. h. (obwohl Christi Leib
getödtet ist) sein Reich darum fortan nicht endet, peroc
(per hoc) und inanz (in ante) worden kein Bedenken finden,
202 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juli 1867.
ebenso wenig die Aenderung ne für se. Die Weglassung
des Artikels oder des Pron. possess. vor regnet ist ein Ar-
chaismus, den folgende Strophen bestätigen, 7. prophetes,
wenn diess, wie ich verrnuthe, der Singular ist, wo dann
dasVerbum in avie oder aveit zu ändern ist, 31 marrimenz.
Da indess eigentlich sos bei regnet zu ergänzen wäre, so
Hesse sich, wenn man regnet (= sein Reich) beanstandet
und nicht annehmen will, dass das de lui der vorausgehen-
den Zeile auch noch für diese Wirkung habe, sehr einfach
sos rengs (Str. 74 en ton reng) setzen. Was den Sinn der
von mir emendirten Stelle betrifft, glaube ich, dass er mit
dem vorausgehenden Verse in so nothwendiger Folge steht,
als diess nur bei einer Conjectur gewünscht werden kann:
wiewohl Christus getödtet ist, so hört sein Reich darum
doch nicht auf.
Str. 98,2 soes scheint mir für foes verlesen, welches
offenbar = fues ist, wie es in 78,4 steht und dort schon
von Diez in furet gebessert ist. Auch an unserer Stelle gibt
füret einen ganz richtigen Sinn und Vers.
Str. 105,1. In diesem seinhe scheint die Urform des
späteren französischen sire zu stecken, nämlich sinre] welches
in seinhe bis auf das schliessende r provenzalisirt wurde.
Str. 107,2 lese ich für soi doi im Anschlüsse an Lucas,
24,13.
Str. 111,3,4. Bei der Verwechslung von e und o, die
in unserem Stücke nach Ausweis des Facsimile sehr leicht
vor sich gehen konnte, glaube ich, dass der früheste Vor-
schlag von -Diez: sa passion peisons testat ganz unbedenk-
lich aufgenommen werden muss, so trefflich auch die Er-
klärung von Delius sonst für tostas passt; denn das Haupt-
gebrechen dieser Strophe, der Mangel des Verbums wird
dadurch beseitigt. Ich gehe noch weiter und finde auch
im 4. Verse ein solches, indem ich statt signa de lese sig-
nave = bezeichnete. Ein solches Imperfectum kömmt zwar
Hofmann: Zum altroman. Leiden Christi. 203
zufälliger Weise nicht in unserem Gedichte vor; aber im
Plural erscheinen die Formen auf avent = event neben-
einander, jene in der Mehrzahl, annavent, nomnavent, porta-
vent, menaven , neben eswardevet, estevent. Ein zweites
Verbum aber in diese letzte Zeile der Strophe einzuführen,
scheint mir darum unerlässlich , weil sonst die Verbindung
nothwondig wäre signa testat d. h. bezeichnete das Zeichen,
was logisch schwerlich zu dulden wäre.
Str. 113,2 möchte als Ergänzung des 2. Verses con-
vcrseit ü = verkehrte er, sich am besten empfehlen. Das
in dieser Str. V. 4 vorkommende regnum darf, ich vielleicht
auch noch als Stütze für meine Auffassung von Str. 93,4
anführen.
Str. 114,1 ist eine der Stellen, die durch Mangel eines
Verbums das meiste Bedenken erregen. Da dieses nur in
codi gesucht weiden kann, so vermuthe ich roa Is = rogat
(oder rogavit) illos. 1 für ls, wie in 113,1 fidel für fidels,
Verwechslung von r und c, hat kein grosses Bedenken. Dass
man roar sagte, beweist roazo.
Str. 125,1 ist eine sehr schlimme Stelle, der ich jetzt
durch einfache Emendation von lui abhelfen zu können
glaube. Die 4 Striche scheinen mir verlesen und sin in der
HS. zu stehen, also: sin qn'c aiude nuls vendra = ohne
dass Jemand (ihnen) zu Hülfe kommen wird , wachsen die
Christen um so mehr, je schlimmer es ihnen der Teufel
macht.
Str. 12 G, 4 könnte man auch sos fidels lesen für los
deu fidels.
Hiemit sind, so viel ich sehe, alle Stellen behandelt,
die im Leiden Christi noch bedeutenden Schwierigkeiten
unterlagen. Im Leodegar ist nur eine einzige noch nicht
aufgeklärt, nämlich Str. 34,1: il mio fraire, micdm mc
hcuure. Wenn man medre = miserat, fedre = feceiat,
erwägt und daneben die Formen fisdra — fedre, misdrent
204 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juli 1867.
= inedrent, so ergibt sich, dass das d in diesen Fällen vor
r einem romanischen z oder sd. und einem lateinischen s
oder c entspricht, mieclra wäre also == misera und mieära
me = misera me d. h. miserere mei. Somit wäre mieclra
eine Uebergangsform zwischen mizra und medra, entsprechend
den vorhandenen misdrent und medre. beuure beseitigt sich
einfach als Wiederholung aus dem folgenden Verse. Nun
bleibt nur noch die Schwierigkeit einer fehlenden Sylbe,
wenn mieclra, wie wahrscheinlich, zweisylbig ausgesprochen
wurde. War es dreisilbig , so braucht der Vers keine Er-
gänzung, und auch der Reim me: porter genügt; sonst
könnte man vor miedra etwa car (das precative doch) ein-
schalten.
Hiemit habe ich alle wichtigen Fälle (nebst einigen
unwichtigen) behandelt, die in beiden Gedichten nach ihrer
bis jetzt bekannten Lesung noch übrig geblieben waren. Ich
hielt mich überall so nahe als möglich an den Buchstaben
der Uebeiiieferung, da ich überzeugt bin, dass bei einer so
grossen und deutlichen Handschrift der Fehler immer nur
in wenigen missverstandenen Buchstaben liegen kann. Was
den Sinn der vorgeschlagenen Emendationen angeht, wird
man mir, glaube ich, zugeben, dass sie sich überall unge-
zwungen dem sonst sicheren Zusammenhange einfügen. Der
Schluss der ganzen Untersuchung, wissen wir, kann erst
dann erfolgen, wenn eine neue kunstgerechte Lesung, oder
noch besser, ein (wo möglich photographisches) Facsimile
vorliegt, wie wir sie von ähnlichen wichtigen Denkmälern
unserer alten Sprache längst besitzen. Gleichwohl müssen
wir in Deutschland uns damit beschäftigen , wäre es auch
nur, weil wir diese altromanischen Denkmäler in den Kreis
unserer akademischen Lehrthätigkeit aufgenommen haben
und darin eine beständige Nöthigung finden, aus inneren
Mitteln zu ersetzen, was äussere Verhältnisse uns ungünstig
verweigern.
Hofmann: Zur Gudrun. 205
2) Zur Gudrun.
Das Urtheil über den ästhetischen Werth der Gudrun-
dichtung steht seit langem fest und an dem, was W. Grimm
9 Jahre nach der ersten Bekanntmachung des Gedichtes
(deutsche Heldensage S. 370) mit feinem Sinne vorgezeich-
net, hat sich seitdem in der Hauptsache durch keinerlei
Forschung oder Erwägung etwas Wesentliches geändert.
Anders mit der Texteskritik und dem Urtheil über die Ent-
stehung des Werkes. Je unsicherer der Boden, desto schroffer
stehen sich hier die Ansichten gegenüber , an deren Ver-
söhnung niemals gedacht werden kann. Dazu kömmt, dass
die Hoffnung, welche man lange auf W. Grimms treue
Pflege des Werkes setzen durfte, sich am Ende hinfällig
gezeigt hat. Schon J. Grimm sagte mir bei seiner letzten
Anwesenheit in München, dass nichts Fertiges für die Gudrun
vorgefunden sei und durch Ernst Martin (Bemerkungen
S. 6) wird diess jetzt weiter bestätigt.
Ich bin hier, wie überall, meine eigenen Wege gegan-
gen, d. h. ich habe den Hagenschen Abdruck vorgenommen,
und zu wiederholten Malen durchgearbeitet, ohne eine der
Ausgaben oder Uebersetzungen aufzuschlagen. Als ich später
zur Vergleichung kam, fand ich, dass meine Kritik viel
radicaler war, als die meiner Vorgänger. Ob darin Ver-
dienst oder Tadel liegt, hat sich zu zeigen. Mein Absehen
war übrigens, wie sich von selbst versteht, ebenso ein exe-
getisches, wie ein kritisches, da mir vorkömmt, dass die
Gudrun dieser Hülfe so bedürftig sei, wie der anderen, und
beide Thätigkeiten ja auf das eine höchste Ziel hinarbeiten, den
geistigen Genuss, wie wir ihn an unseren besten mittelhoch-
deutschen Gedichten haben , mehr und mehr zu verfeinern,
zu vertiefen und durch diese Läuterung den harmonischen
[1867. II. 2.] 14
20G iSitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juli 1867.
Eindruck des einzigen Werkes auch für Laien und Lernende
zu erhöhen, falls nämlich überhaupt Jemand noch so be-
scheiden sein sollte, sich zu diesen zu rechnen, bei dem
kolossalen Aufschwung, den die deutschen Studien, wie man
sagt, seit ihrer Emancipation von den früheren verdriess-
lichen und für geniale Köpfe nur störenden Methoden ge-
nommen haben.
Dass ich meine Bemerkungen auf alleTheile der Gudrun
ausdehne, wird wohl Niemand so verstehen, als ob ich das
Werk in seiner vorliegenden Gestalt für einheitlich oder
ursprünglich hielte.
Wie die Nibelunge ist es durch öde und weitschweifige
theils einer manirirt höfischen, theils einer niedern Ge-
schmacksrichtung schon des 13. Jahrhunderts zur Last
fallende Erweiterungen das geworden, was dem moderni-
sirenden Schreiber der Ambraser Handschrift vorgelegen,
verzerrt und verschwommen, aber auch so ein schwer zu
beklagender und zu ersetzender Verlust. Diese Vorlage
wieder herzustellen ist die noch immer ungelöste Aufgabe,
zu der ich hier einen Beitrag gebe.
Ehe ich zu den einzelnen Stellen übergehe, habe ich
ein bisher in Deutschland unbeachtetes, vielleicht unbekannt
gebliebenes Zeugniss über Verbreitung und Fortleben der
Gudrunsage einzutragen und meine Folgerungen daraus vor-
zulegen. Es findet sich bei Barry , History of the Orkney Is-
lands, London 1808, S. 489—95 unter dem Titel: a ballad,
taken from the mouth of an old man in the same Island
(nämlich Fula), the subject of which is a contest between a
king of Norway and an Earl of Orkney, who had married
the kings daughter, in her fathers absence, and without Ins
consent. Diese ,, Ballade" in 35 vierzeiligen Strophen wurde
im Jahre 1774 dem schottischen Reisenden Low von einem
alten norsischen Bauern (Udaller) in der norsischen Sprache
diktirt, die damals noch von einigen Personen auf dieser
Hof mann: Zur Gudrun. 207
Shetlands - Insel gesprochen wurde. m Ein Blick auf die
Karte zeigt, warum die alte Sprache sich hier am längsten
erhalten konnte. Fula oder Foul, (norw. Fugl oder Fugley)
liegt mit seinen 5 konischen Sandsteinhügeln weit draussen
in der Westsee und ferne von der eigentlichen Shetlands-
gruppe, weshalb man auch seinen Namen (Vogel) von der
Aehnlichkeit mit einem in weiter Ferne schwimmenden See-
vogel ableitet. Da der Aufzeichner indess der Sprache nicht
kundig war, liess er sich auch noch eine Inhaltsangabe des
Gedichtes von dem Erzähler mittheilen, die sich glücklicher
Weise erhalten hat und gedruckt ist, denn das norsische
Original ist so unverständlich, dass ohne diese Paraphrase
sein Inhalt vielleicht für immer verdunkelt bleiben müsste.
Diese weitere Mittheilung findet sich bei Samuel Hibbert,
description of the Shetland islands, Edinburgh 1822 p. 561 ff.
Hibbert berichtet : It was not many years before Mr. Low's
visit to Shetland in the year 1774, that numerous songs,
under the name of Visecks, formed the accompaniment to
dances that would amuse a festal party during a long win-
ters evening. When the com waters of Hamburgh had gone
merrily round, when the gue, an ancient two-stringed vio-
lin of the country, was aiding the conviviality of Juie, then
would a number of the happy sons and daughters of Hialt-
land take each other by the hand, and while one of theim
sang a Nora (= norrönisch) viseck, they would perform a
circular dance , their steps continually changing with the
tune. Dazu der melancholische, aber in allen Ländern
gleiche Schluss: In the nüddle of the last Century, little
of the Norwegian language remained in the country, and
these visecks bcing soon lost, they were followed, as a
clergyman of Unst informed Mr. Low, by playing at cards
all night, by drinking Hamburgh waters and by Scotish
dances. Von diesen Tanzliedern nun , die sich auf den
Färöern zahlreich und bis auf den heutigen Tag erhalten
U*
208 Sitzung der philos.-phüol Ciasse vom 6. Juli 1867.
haben, wusste der Bauer William Henry von Gottorm auf
Fula ganz allein um 1774 noch einige auswendig1), unter
diesen unsre Gudrunsage, auf welche zuerst P. A. Muuch
im Jahre 1839 aufmerksam machte (Samlinger til det Norske
Folks Sprog og Historie 6. Bd. Christiania), in seiner grossen
Abhandlung: Geographiske og historiske Notitser om. Ork-
nöerne og Hetland. Er theilt die Ballade mit, sucht sie so
gut es geht, in einigen Stellen zu emendiren, kommt aber
zu dem Resultate: „Eine genügende Erklärung des Gedichtes
zu geben, ist wohl unmöglich, aber die folgenden Andeut-
ungen werden doch eine Idee von dessen eigentlichem In-
halte geben1'. S. 120 Note 1. Er erkannte natürlich, dass
hier die Hedinsage vorliege, worum sich weder der Pfarrer
Barry noch der Geognost Hibbert noch der Reisende Low
kümmern konnten, und brachte den etwas altmodisch styli-
sirten englischen Prosainhalt in die Form, welche sich für
eine germanische Sage eignet und die ich hier wiedergebe.
Es heisst also: „Hiluge, ein vornehmer Mann am nor-
wegischen Hofe freite um die Königstochter Hildina, erhielt
aber einen Korb, obwohl der Vater ihm hold war. Als ein-
mal der König und Hiluge auf einem Kriegszuge fort waren,
landete der Orkney-Jarl in Norwegen, traf Hildina, verliebte
sich in sie und sie in ihn, sie wurden eins und flüchteten
auf die Orkneys, wohin ihnen nach ihrer Rückkehr vom
Kriegszuge der erbitterte Vater und Hiluge mit grossem
Heere folgten, um den Raub zu rächen. Hildina überredete
den Jarl, unbewaffnet dem Könige entgegenzugehen und um
1) Low sagt: It (the Norse) was evidently much mixed with
English. None of the Natives could write the ancient language and
few could speak it. The best phrases were lost, and little more re-
mained than the names of a few objects and two ar three remnants
of songs, which an old man (William Henry) of Guttorm could re-
peat, though indistinctly.
Hof mann: Zur Gudrun. 209
Gnade zu bitten; er Hess sich rühren, verzieh und gab
sogar seine Einwilligung. Kaum war der Jarl fort, um
Hildina die frohe Kunde zu bringen, als Hiluge, indem er
des Jarls Vermessenheit aufs Schlimmste schalt, den König
zu neuem Grimme reizte und dahin brachte, alle seine Ge-
lübde zurückzunehmen. Es kam nun zum Zweikampfe zwischen
Hiluge und dem Jarl und dieser fiel. Sein Haupt warf
Hiluge mit den härtesten Schmähungen Hildina vor die
Füsse, die ihm mit scharfer Gegenrede im Herzen blutige
Rache gelobte. Sie musste ihm nun nach Norwegen folgen,
wo er seine Freierei wieder anfing. Lange weigerte sie ihre
Hand; aber der Vater setzte ihr mit Bitten zu und endlich
gab sie ihr Wort, unter der Bedingung, dass sie selber
beim Brautfeste den Wein in die Becher schenken dürfe.
Diess wurde zugestanden. Als die Hochzeitgäste beisammen
waren und zu Tische kamen, schenkte ihnen Hildina mit
Schlaf kräutern versetzten Wein und bald lagen Alle in
tiefem Schlummer. Da Hess sie ihren Vater hinaustragen
und warf Feuer ins Gästehaus. Alle wurden darin ver-
brannt. Hiluge, der beim Krachen der Flammen erwachte,
bat um Gnade; aber Hildina antwortete ihm so hart, wie
er, als er ihr des Jarls Haupt brachte und Hess ihn in der
Lohe sterben". Munch bemerkt dazu: „Wenn man hier
den Jarl Hedin nennt, und annimmt, was nicht so unwahr-
scheinlich ist, dass Högnis Person in zwei getheilt ist, den
König und Hiluge, um die Erzählung romantischer zu machen,
finden wir den ersten Theil des orkneyischen Berichtes bis
zum Kampf in hohem Grade mit der Sage übereinstimmend.
Hiluge kann leicht eine Entstellung von Högni 2) sein, -wie
2) Vom Standpunkte der Gudrun aus müssen wir es natürlich
wahrscheinlicher finden , dass Hiluge = Ludwig sei. Ein solcher
Ludwig (Lödver) kömmt auch in der orcadischen Geschichte vor
(Munch II, 132); allein noch näher liegt, Hiluge einfach als Illugi
210 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 6. Juli 1867.
Hildina offenbar eine von Hilde ist. Der Schluss scheint
dagegen eine Nachahmung der Kitterromane des 13. und
14. Jahrhunderts, wie es denn überhaupt nicht unwahrschein-
lich ist, dass die Sage benützt wurde, um als Grundlage
für ein damals verfasstes romantisches Lied zu dienen.
Uebrigens ist das Gedicht äusserst merkwürdig, denn aus
den wenigen Stellen, die man verstehen kann, erhellt, dass
es in ziemlich gutem Norwegisch war und bis auf das ge-
meinsame Versmaass der Kämpevise fast ganz übereinstim-
mend mit den färöischen Liedern." Munchs Bemerkungen
sind in der Hauptsache vollkommen richtig ; es ist die alte
Hedeningensage, erweitert durch ein jüngeres, „romantisches"
Element, wie er es nennt. Gerade dadurch bildet es den
Uebergang zu unserer deutschen Dichtung. Wir haben hier den
gewaltigen Stoff der Gudrunsage, nur mit tragischem Aus-
gange und in jener Gedrungenheit, die wir an den besten
epischen Romanzen der Spanier bewundern. Die tragische
Wendung entspricht der um viele Grade düstreren Grund-
stimmung der nordischen Dichtung, wie ja auch die Sage
von Hildebrand und Hadubrand , die in der späteren deut-
schen Fassung so erheiternd ausgeht, im Nordischen, wie
Unland zuerst nachgewiesen, mit dem Falle des Sohnes und
später des Vaters durch den eigenen Blutsverwandten einen
erschütternden Ausgang nimmt. Freilich ist das keine durch-
greifende Regel; denn die Tristansage, naturalisirt und ra-
tionalisirt im zweiten Theile der Sage von Grettir dem
Starken, bekömmt einen frohen, und sogar frommen und
erbaulichen Schluss in der Geschichte von Thorsteinn und
Spes. Das ,. romantische" Element ist in Wirklichkeit das
= Illhugi — der Bössinnige zu deuten. Auch für die böse Gerlint,
Ludwigs Frau, würde es auf den Orcaden nicht am Vorbild fehlen,
nehmen wir nur Erich Blutaxts Wittwe Gunnhild und ihre Tochter
Ragnhild, die beide der römischen Kaiserzeit Ehre gemacht hätten.
Hofmann: Zur Gudrun. 211
christliche, welches in der Gudrun, wie in den Nibelungen
an die Stelle des heidnischen und fatalistischen getreten ist.
Ich verstehe hier unter christlich nicht den christlichen
Glauben, wovon in die Gudrun so wenig wia in die Nibe-
lungen etwas Anderes eingegangen ist als äussere Züge, die
zum Kostüm der Zeit gehören ; sondern die christliche
Lebensan schauung, welche, auf Dichtung angewandt, sich
mit der fatalistischen Führung der Geschichte, die dem
Heidenthura adäquat ist, ästhetisch nicht mehr befriedigen
konnte und dafür eine freiere Selbstbestimmung als letzten
Grund der Peripetie verlangte. Die fatalistische Führung
ist die frühere und wo sie sich jetzt noch findet, die archai-
stische. Sie herrscht im Indischen, Arabischen (1001 Nacht)
und überhaupt in den orientalischen Literaturen, die unter
indischen Richtungen und Einflüssen stehen, im Occident in
den altnordischen Dichtungen, den kymrischen der Mabino-
gion, obgleich deren Aufzeichnung tief in die christliche Zeit
fällt, und überall im Volksmährchen , welches ohne Präde-
stination gar nicht zu denken ist , und seinen Haupttypus
verlieren würde.
Um nun auf die Gudrun zurückzukommen, so sind die
sämmtlichen nordischen Fassungen der Sage fatalistisch.
1. das betreffende Capitel der jüngeren Edda. 2. Sörla
fcättr (in F. S. N. I, 391 ff. und Flateyarbök I, 275 ff.)
mit angeflicktem christlichen und historisch sein sollenden
Scliluss. 3. Die Erzählung des Saxo Grammaticus, obwohl
schon zur Hälfte in seiner euhemerisirenden Weise. Ich
werde später noch einmal auf sie zurückzukommen haben.
Das Wesentliche , worin diesen drei Fassungen unsere
Gudrun und die Shetlandballade gemeinsam entgegenstehen,
ist die Einführung eines Nebenbuhlers, für den in
der alten Sage noch kein Platz war, den aber die jüngere
nothwendig hatte, um das veraltete fatalistische Motiv zu
ersetzen und somit wieder ein Ganzes hervorzubringen. Auf
212 Sitzung der pMos.-philol Classe vom 6. Juli 1867.
eine nähere Vergleichung beider unter sich will ich der
Kürze wegen nicht eingehen , auch würde sie kaum zu
weiteren sicheren Resultaten fuhren, als denen, die sich so-
fort ungezwungen dargeboten haben. Das Hauptmittelglied,
die ältere Gudrundichtung, wie sie der Verfasser des Alexander
kannte, fehlt ja zur Vergleichung, wiewohl so viel sicher
scheint, dass es in der Einfachheit der Handlung auf Seite
des Liedes, nicht des Gedichtes stund; denn, wenn ich die
Stelle im Alexander recht verstehe, so sagt sie nur: auf dem
Wolfenwerde wurde Hilden Vater Hagene von Waten er-
schlagen, während daneben ihr Bräutigam Herwich mit
ihrem Bruder Wolfwin kämpfte. Dagegen hat mich die
norwegische Ueberlieferung veranlasst , das Geographische
der Gudrun mit Rücksicht auf die Orcaden zu untersuchen
und ich habe da eine Reihe von Thatsachen gefunden, die
in historischer und geographischer Hinsicht so weit zusam-
menstimmen, dass ich sie als Thesis aufstellen zu dürfen
glaube 3).
Ich nehme also an, dass Ormanie = Orcanie, nicht
die Normandie, sondern die Orcaden bedeutet, deren Name
Orcania schon in den besten Handschriften des Nennius
vorkömmt und dann durch das ganze Mittelalter hindurch-
geht. Nicht daraus, dass die Gudrunsage sich auf Shetland
bis 1774 erhalten hat, folgere ich, dass die Nachbarinseln
ein Haupttheil des ursprünglichen Schauplatzes sind , denn
da schon in der nordischen Ueberlieferung die Orkneyinsel
3) "Wenn ich hiebei auf die neuesten Untersuchungen über die
Gudrungeographie nicht näher eingehe , so möge Hr. Joseph Haupt
nicht glauben, dass ich sein Buch nicht gelesen habe. Ich achte
seinen Scharfsinn, seine Gelehrsamkeit und vor Allem seine mann-
hafte Verachtung aller Clique und Reclame, aber zu seinen Resul-
taten kann ich nicht gelangen.
Hofmann: Zur Gudrun. 213
Häey4) (das heutige Hoy, allein durch seine Berge hervor-
ragend, daher sein Name Hochinsel) als Stelle des Kampfes
zwischen Ilögni und HeÖinn (statt des späteren Wülpen-
sandes an der Scheidemündung) vorkömmt, so wäre das
4) Es ist kein Zweifel, dass in jeder kritiklosen und phantasie-
vollen Zeit aus ein paar grammatisch missverstandenen Worten sich
Sagen und Legenden entspinnen können, deren erster Keim ein Irr-
thum, deren entwickelnde Kraft die Logik der Phantasie ist. So haben
wir zwei christliche Kreuzlegenden, die nur auf diese Art entsprungen
sind. Die eine vom Kreuzstamme, der ursprünglich ein Zweiglein vom
Baume des Lebens war, welches dem sterbenden Adam in den Mund ge-
steckt wurde, geht auf eine Stelle des Epiphanius zurück, die bloss erst
sagt, Christus sei über dem Grabe Adams gekreuzigt worden. Das ist noch
nicht das erste Missverständniss ; 6 Xqiotos torccvQaj&t] vnig zov 'Adri/j,
wie wir uns die Urstelle etwa denken dürfen, heisst ebensowohl,
Christus wurde für Adam (zu seiner Ei-lösung) als er wurde über
Adam (über seinem Grabe) gekreuzigt. Wenn wir hier die letzte
Quelle des Irrthums nur mit Wahrscheinlichkeit vermuthen können,
so dürfen wir im folgenden Falle mit dem Finger auf die ipsissima
verba des Neuen Testaments deuten, die zur Longinuslegende ge-
worden sind. Longinus heisst es, war der römische Hauptmann,
der die Seite- Christi mit der Lanze durchbohrte. Er war blind und
wurde sehend, als das Blut am Schafte herab auf seine Augen troff.
Da wurde er der erste Christ. In moderner rationalistischer Zeit hat man
die Legende vernünftig machen wollen, indem man sagte, Longinus sei
nicht blind, sondern schielend gewesen. Sehen wir nun die Stelle Joh.
19,34 — 35 genauer an, so zeigt sich, dass man zunächst hoyyj) für Ab-
kürzung oder 'Aoyxn lyv^e für die volle Form von Aoyyrivog Aoyylvog =
Longinus genommen und tlg rwc aiqaxuoxiüp M>yx$ übersetzt hat unus
militum, Longinus. Was der Evangelist im nächsten Satze von sich selbst
sagt: xui 6 itogaxojs fxffxccQrvgtjxe, bezog man nun ebenfalls auf Lon-
ginus und übersetzte: und dieser, gesehen habend, gab Zeug-
niss. Wenn er gesehen hat, so muss er vorher nicht gesehen haben,
war die Consequenz, also war er blind gewesen. Was konnte ihn
von der Blindheit heilen, als das Blut Christi? Er gab Zeugniss, also
Zeugniss von Christi Gottheit, folglich wurde er Christ. Diess ist
gewiss ein schlagendes Beispiel von dem , was ich oben Logik der
Phantasie zu nennen mir erlaubte, und wobei ich nur bedaure, dass ich
214 Sitzung der phüos.-pliüol. Classe vom 6. Juli 1867.
genügend gewesen , um den Schluss des Liedes dorthin zu
verlegen. Vielmehr ziehe ich meinen Schluss aus einer
Reihe von Thatsachen, die ich eben nur um die Orkneys
herum zusammentreffend finde. Dass Cassiane, die Haupt-
stadt von Ormanie auf einer Insel liege, wird nicht gesagt,
daher denn überhaupt die Ansicht durch das Gedicht geht,
Ormanie liege auf dem Festlande. Die Jarls der Orkney-
inseln waren nun bekanntlich norwegischer Abkunft und
norwegische Vasallen geworden durch Harald Schönhaar,
der es der Mühe werth fand, seine flüchtigen Landeskinder
in eigner Person auf diesen Inseln zu unterwerfen und hier
das Jarlthum einzurichten (um 872), den Stock des grossen
und merkwürdigen Colonialreichs des nordischen Mutter-
landes, welches Hjaltland, Orkneys, Färöer, Hebriden, Man,
Theile von Irland und Schottland begriff. Zunächst unter
den Jarls stund nun die Nordostspitze von Schottland, die
eigentlichen Reste des Pictenthums gegen das von Süden
und Westen vordringende Reich der aus Irland eingewan-
derten Südschotten oder des Kenedischen Stammes. Diesen
Picten, zu deren berühmtesten Häuptlingen Macbeth gehörte,
verdankt ihren Namen die stürmische Meerenge zwischen
der Südspitze der Orkneys und der Nordspitze Schottlands
der Pentlandfirth oder Frith, welches für Pettland = Peht-
land steht, dem ags. Peohtas == Picti entsprechend. Die
Nordostspitze Schottlands besteht aus der Grafschaft Caith-
ness, norwegisch Katanes und im lateinischen Namen dieses
pictischen Wortes finde ich unser Cassiane. Munch theilt
in seiner zweiten ausführlichen Arbeit über diese zwei Insel-
unsern Mythographen , die germanisches Heiden thum überall, nur
nicht, wo es wirklich ist, finden, das Vergnügen geraubt habe,
den blinden Longinus mit dem blinden Hödr, und folglich Christus
mit dem durchbohrten Baldr zusammenzustellen, was sonst ein so
hübscher und besonders so wahrscheinlicher Einfall wäre.
Hofmann: Zur Gudrun 215
gruppen (Annaler for Nord. Oldk. 1857) bischöfliche Ur-
kunden mit, die sich auf die vereinigten Grafschaften Ka-
tanes und Sutherlaud beziehen , deren Kathedralkirche in
Dornoch in Sutherland lag, während der Bischof selbst
doch episcopus Cathanensis oder ep. Cathannie hiess. Ca-
thannie und Cassiane, wird man zugeben, liegen nicht weit
auseinander. Ob die Aussprache von th als s in Anchlag
zu bringen, bleibt fraglich; doch verweise ich auf J. Grimms
Abhandlung über das Necrologium Augiense (in Ant. Tid-
skrift 1843 S. 67-75) wo das nord. p durch z (Thörr
durch Zor, Zur 1852, daneben Dur und Tur, auch Thur
und Dhur) wiedergegeben wird. Ebenda finden sich auch
Olaf, Volaf, Wolf nebeneinander, was ich bei meiner Er-
klärung der Blekinger Runen hätte anführen können und
S. 73 Z. 3 von unten der ahd. Name unserer Heldin,
Gundrun5). Die Urkunden sind von 1223—45 und 1275.
5) Der Name Gundrun findet sich auch auf der letzten Seite der
Füssener HS. der Regula S. Benedicti aus dem Anfange des IX. Jh.
Im sogenannten Strengalthochdeutschen lautet diess allerdings
Kuntrun oder Kundrun , die jetzt beliebte Schreibung Kudrun aber
entspricht gar keinem wirklichen Sprachstande; denn im Nieder-
deutschen, woher unser Name gekommen, heisst es Güdhrün oder
Gudrun und das anlautende G veränderte sich nicht mehr, wenn im
12. Jhd. ein solches Wort ins Oberdeutsche übergieng, Die Schreib-
ung Chautrun der Ambraser HS. beweist für uns gar nichts, als
dass wir Kütrün schreiben müssten, wenn wir consequent sein
wollten. Man wird sich darauf berufen, dass Zingerle den Namen
in Tirol gefunden habe: (Pfeiffers Germania 1865 S. 476) der swai-
chof ze Cautrawn von dem roten burggraven giltet 16 phunt aigen.
Aber ich bin überzeugt , dass wir hier entweder eines der vielen
rhätischen Wörter auf una haben, deren massenhafte Sammlung ein
Hauptverdienst Steubs ist, oder vielleicht Umsetzung aus Caurtawn
ursp. Curtun d. h. romanisch cortone = Hof. welches in der Form
Kardaun bei Steub S. 125 aus der Gegend von Bozen nachgewiesen
ist, und dass dieses Cautrawn so wenig aus dem deutschen Sprach-
216 Sitzung der philos.-philol, Classe vom 6. Juli 1867.
In Cathannia hatten zwar nicht ausschliesslich, aber häufig
die Jarls ihren Sitz und so musste der Name hinlänglich
bekannt sein, um endlich auch in die Dichtung einzugehen,
mit der sehr verzeihlichen Modification , dass der Name
einer Gegend zum Namen einer Burg wurde. Die Fride-
schotten sind dann die am Frith sitzenden Schotten, d. h.
eben die mit Norwegern vermischten Picten von Kaithness
und Sutherland, deren Stellung übrigens nicht mehr klar
genug aus den Angaben der Gudrun hervorgeht. Str. 611
sitzt Ludwig richtig in Frideschotten.
Ein Zug hat sich fest erhalten, der unseren poetischen
Herrn von Ormanie mit den historischen Herin von Or-
cania gemeinsam ist, ihr Vasallenthum. Freilich wird es
vom wirklichen König von Norwegen auf den norwegischen
König in Irland übertragen, indem zu wiederholten Malen
schätze erklärbar ist, als Hrn. Prof. Schneller's Versuch, die soge-
nannten rhätischen Inschriften aus dem Griechischen zu deuten,
wirklichen Bestand haben kann bei allem ., Sprachwitz1', den er un-
läugbar darauf verwendet. Dagegen findet sich in Innsbruck selbst
ein Name des Gudrunkreises. Die Vorstadt jenseits des Flusses
heisst Hötting, alt (XII. Jh.) Heteningen, also die Urform unserer
Hegelinge, altn. Hjaftningar. Freilich braucht hier, wie bei dem
benachbarten Mieming (XL Jh. Mieminga) und Heiming die german.
Heldensage nicht direkt vorausgesetzt zu werden, denn Hedin
(unser Hetel) oberdeutsch Hettin, altn. Heolnn, bei Saxo Hithinus
ist ein Wort allgemeiner Bedeutung und heisst bloss Kämpfer, von
derselben Wurzel, von der hadu = Kampf kömmt, durch das active
Participialsuffix ana-s (goth. n-s, altn. in-n, alts. und ags. en) ge-
bildet und vielleicht schon im Völkernamen XaiStivoC vorhanden,
(welche Ptolemaeus in Zxccvdia neben 3?uv6vcu, $>iQctiGoi, Tovtai,, Jctv-
xiwvtq und Atvwvoi nennt) wenn man dessen at als in e gebrochenes i
fassen darf und nicht vielmehr mit Zeus (D.N.St. 159) von heid" in
Heidmörk u. s. w. ableitet, welchem widerspricht, dass 3" hier radi-
cal ist (goth. haijü, ags haed", engl, heath) und folglich Ptolemaeus
Xca&tivoi hätte schreiben müssen.
Hof mann: Zur Gudrun. 217
gerade der Umstand dem Hartmuot als Grund seiner Un-
ebenbürtigkeit vorgeworfen wird, dass sein Vater Lehens-
maun von Hagen e dem König von Irland gewesen sei. Allein
die Jarls der Orcaden stunden mit diesen irisch-norwegischen
Königen in vielfacher Verbindung, wie denn gleich der
zweite Jarl Sigurd mit König Thorstein dem Rothen von
Dublin sich im Vereine bedeutende Landstrecken unter-
warf und unter andern einen schottischen Häuptling oder
Maormor, Maeldun erschlug. Es ist klar, dass man einen
Jarl, wenn er mit einem König zusammen in den Krieg zog,
als den Geringeren ansehen musste , obwohl historisch das
Reich der Orkneyjarle sich z. B. im 11. Jh. unter Thorfinu
sogar über einen grossen Theil von Irland bis nach Dublin
und über 9 schottische Grafschaften erstreckte. Ganz genau
genommen stimmt die Geschichte sogar auch darin mit dem
Gedichte überein, dass Thorfinn der Orkney-Jarl Katanes
und Sutherland von seinem Grossvater mütterlicher Seite
König Malcolm II. von Schottland zu Lehen erhalten hatte
(vgl. Munch II, 649).
Wie hätte man auf der anderen Seite den Herzog von
der Normandie als einen irischen Vasallen behandeln können,
wenn Ormanie wirklich die Normandie wäre? So viel
musste doch auch ein mhd. Dichter wissen , dass die Nor-
mandie in Frankreich lag und man dahin ebenso wenig
1000 Meilen zu Wasser hatte, als nach Polen. Für poetische
Zwecke mag das Zusammentreffen mit der Wirklichkeit
immerhin genügen. So wird in dem verwandten Gedichte
von Haveloc der Held zum Sohn eines dänischen Königs
Birkabeyn gemacht, während die Birkebeiner — man könnte
es mit Sansculotten übersetzen — in Wirklichkeit eine po-
litische Partei in Norwegen waren , an deren Spitze König
Sverrir, der norwegische Napoleon, auf den Thron gelangte,
ihn behauptete und vererbte.
Eine zweite Reihe von Thatsachen ergiebt sich aus dem
218 Sitzung der philos.-philol. (Hasse vom 6. Juli 1867.
Seezuge der Hegelinge und ihrer Verbündeten nach Ormanie.
Zu Weihnachten lässt Hilde das Aufgebot ergehn. Als das
Heer, 70,000 Mann, beisammen ist, sieht sie es von ihrer Burg
Matelane aus, abfahren. Etmüller hat für Matelane ein ur-
kundliches Matellia (jetzt Metelen) zwischen Rhein und
Maas angeführt, was sehr gut passen würde. Es ist Hetels
Burg in den Niederlanden , wohin der Wülpsensand an der
Scheldem ünduug nothwendig weist und durch welche die
Sage ihren Durchgang genommen haben muss, um nach
Mittel- und Oberdeutschland zu gelangen. Zu Matelane
stimmt die Flottenrevue, die vor der letzten Abfahrt vor
dem Wülpensande gehalten wird. Dann verschlagen sie
Südwinde (Str. 1125) und sie treiben vor den Berg zu
Givers, in das finstere Meer, wo sie von den Magnetsteinen
angezogen werden. Nun beginnt Wate ein Schiffermährchen
zu erzählen, ein wazzermaere, von dem Berge Givers, den
die Darstellung in der Gudrun mit dem wirklichen Berge,
vor dem sie lagen und von dem sie nicht loskommen
konnten, confundirt. Suchen wir zuerst das fabelhafte Givers
auszuscheiden. ,,Zu Givers in dem Berge, erzählt Wate,
ist ein weites Königreich bewohnt, so reich, dass der Sand
silbern und die Mauersteine von Gold 6ind; wen die Winde
wieder von dem Lande heim führen, der ist sein Leben lang
ein reicher Mann". Schlagen wir in der Fundgrube mittel-
alterlicher Gelehrsamkeit, im Isidorus nach, so finden wir
diese Gold- und Silberinsel oder vielmehr Inseln im XIV.
Buch 6 Cap. Chryse et Argyre insulae in Indico Oceano
sitae, adeo foeeundae copia metallorum , ut plerique eas
auream superficiem et argenteam habere prodiderint, unde et
vocabula sortitae sunt. Dass diese Gold- und Silberinsel
wirklich im Norden bekannt waren, beweist nun weiter eine
Stelle aus der ungedruckten Sage von Kirjalax (xvQiog *Ale-
£iog), von welcher Konr. Gislason (in 44 Proever af Old-
nordisk Sprog, Kjöbeuh. 1860 p. 400-406) gerade das
Hofmann: Zur Gudrun. 219
Stück mittheilt, welches wir brauchen. Es heisst dort: Etwas
später rüstet sich Kirjalax vom heiligen Lande (Jörsala-
landi) fortzusegeln und wendet seine Fahrt nach der süd-
lichen Erdhällte. Und eines Tages sehen sie im Meere zwei
Inseln, die ihnen wunderbar vorkamen; denn Nachts erhob
sich von ihnen grosse Helle, von der einen weiss, von der
andern roth. Als sie den Inseln nahe kamen, da fielen
sie steil gegen die See ab und waren mit Felsen umschlossen,
so dass sie nicht hinein kommen konnten. Diese Inseln
nennt Isidorus in seinem Buche Chrisen und Argiren, darum,
weil die eine Gold in so grossem Ueberrlusse wie Steine auf
den Bergen hat, die andere ebenso grossen Ueberfluss an
Silber, und davon entstund die grosse Helle am Firmamente,
welche das glänzende Metall von sich gab. Von da segeln
sie an Indiens Seeküsten". Das Weitere braucht nicht mehr
übersetzt zu werden, es handelt vom indischen Golde,
welches ebenfalls so gemein, wie Bergsteine ist, von Drachen
und Greifen, vom Phönix, von den Zimmetvögeln (fuglar
sem cinnami heita), Papageien, endlich einem mörderischen
Kampfe der Ritter mit Greifen. Dieser Kirjalax hatte die
ganze Welt ausgefahren, Asien, Afrika bis zu den Säulen
des Herkules.
Kein Zweifel, dass wir hier das Original unseres Givers
vor uns haben; sehen wir etwas genauer zu, so stellt sich
auch das Wort ein. Argiren wurde missverständlich in ar
und giren getrennt, indem man ersteres für die nordische
Präposition at = zuhielt und giren als givers verlas. Die Zahl
der Züge ist gleich und die Möglichkeit des Irrthums so
naheliegend, als man es in einem solchen Falle nur wünschen
kann. Das ist also das wazzermaere Wateus. Fassen wir
nun den übrigen Inhalt des Gudrunberichtes , nach Aus-
scheidung der Gold- und Silberinsel, schärfer ins Auge, so
enthält er gar nichts, was nicht ganz genau mit den wirk-
lichen Meeresverhältnissen au der Ostseite der Shetland — und
220 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 6. Juli 1867.
Orkneyinseln übereinstimmte. Die Flotte der Hegelinge ist
in der Nordsee, will nach Cassiane, d. h. an die Nordost-
spitze von Schottland segeln, da wir«! sie von einem Süd-
wind (Str. 1125 sunderwinde) verschlagen, (die sluogens üf
den se) und kommen in ein Nebelmeer, wo sie nicht vor-
wärts und rückwärts können, was sie dem Einflüsse der
unterseeischen Magnetsteine zuschreiben (Str. 1126). Eine
solche Stelle findet sich nun gerade an der Südspitze der
Hauptinsel von Shetland (Mainland). Sie heisst in nor-
wegischer Zeit Dynrastarness, jetzt Dunrossnes, hat zwei Land-
spitzen, den hohen Vorberg Fitfulhead, früher Fitfuglahöffti
im Westen, und SunnboejarhöfÖi (Südbauspitze), jetzt Sum-
burgh Head im Osten. Letzteres ist von jeher durch seine
Strömungen und Stürme berüchtigt, daher der Name Dyn-
röst = brausende Strömung. Man lese folgende Schilder-
ung eines Reisenden, der selbst jene Strömungen in einem
Segelschiffe befahren hat (bei Hibbert S. 240). Es heisst :
,, Ein Gentleman theilte mir mit, dass er fünf Tage in einer
Schaluppe zwischen Fitful Head und Sumburgh Head, die
bloss drei Meilen von einander entfernt sind, Windstille ge-
habt habe (had been becalmed), ohne die eine oder andere
Spitze passiren zu können, indem die eine Strömung das
Schiff in den westlichen, die andere in den östlichen Ocean
trieb. Oft wurde die Schaluppe von der Fluth ganz nahe
an die Küste getrieben, aber die Strömung führte sie immer
wieder ab. Wiewohl von Sumburgh bis Fair Isle (kleine
Insel gerade in der Mitte zwischen Shetland und Orkney)
und ohne Zweifel auch von dort bis Orkney immer ent-
gegengesetzte Strömungen herrschen, so ist doch der Roust
derjenige Theil des Stromes , der in geringer Entfernung
vom Vorgebirge liegt und dessen Gewalt wahrscheinlich
durch die Nähe der Küste und die Seichtheit des Wassers
vermehrt wird".
Man vgl. damit Str. 1132 (die Windstille) und beson-
Hofmann: Zur Gudrun. 221
ders 1133, wo es heisst: vier Tage lang und mehr stunden
die Schiffe an einer Stelle, dass sie nicht von dannen
konnten. Dazu hatten sie Nebel , der in jenen Gegenden
auf der See sehr gewöhnlich ist und schrieben ihre schlimme
Lage dem Einflüsse von Magneten zu , was die Shetländer
noch jetzt thun (vgl. Hibbert S. 564); Felsen nämlich, die
mehr oder weniger nahe an die Oberfläche des Meeres
heraufreichen, den Flutlistrom unterbrechen und dadurch
die Anstauung riesiger Wellen verursachen, wird eine mag-
netische Anziehungskraft zugeschrieben, und in dieser An-
sicht war der Beschreiber der Shetlandsinseln, Debes, (1673)
derselben Meinung mit den Eingebornen: I have been assured,
sagt Hibbert, that the Shetlanders, whose imaginations have
conceived stränge wonders, entertain similar notions of the
existence of submarine magnetic rocks.
In Str. 1134 kommt nun der Westwind und befreit
unsere Gudrunfahrer; natürlich, denn der Ostwind hätte
sie in den atlantischen Ocean hiuaus getrieben. Es kann
keinem Zweifel unterliegen, dass, wenn wir die Orkneys und
Katanes als Ziel der Fahrt annehmen, sie durch einen Süd-
wind gerade an diese Stelle getrieben werden mussten, wo
die Gegenwirkung des aufeinanderstossenden Golfstroms und
Polarstroms die „brausende Strömung" macht und dass nur
ein Westwind sie wieder losbringen konnte. Sie segeln nun
gerade auf Ormanie los, fallen aber in neue Noth (Str. 1137
— 39), indem sie in einen Weststurm gerathen; d. h. sie
kommen dem immer stürmischen Pentlandsfrith zu nahe
und ihr Glück ist nur, wie Fruote Str. 1139 sagt, dass der
Wrind aus Westen bläst, sie vom Frith abtreibt, und ihnen
so gestattet, ihr Ziel an der Nordostspitze Schottlands, Cas-
siane. Cathannia endlich zu erreichen. Ich habe diese Partie
ausführlicher behandelt, weil sich hier eine Reihe von zu-
sammenhängenden Thatsachen verfolgen lässt, während die
übrigen geographischen Angaben der Gudrun meist wirr
[1867. II. 2.] 15
222 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juli 1867. -
und lose durcheinandergehen, was ohne Zweifel der Ueber-
tragung aus Norwegen nach Nieder-, von da nach Ober-
deutschland zuzuschreiben ist. Karade, Karadie kann Cardigan
sein, Salme vielleicht Solway, Hortland, Ortland dürfte das
norwegische HörÖaland, Moren das norw. Moere sein, Cam-
patille hatte ich für Entstellung von Kongahella, dem alten
norwegischen Königssitz am nördlichen Ufer der Gautelf
und hart an der ostgautischen Gränze. Bei der Uebertrag-
ung nach dem Niederlande kam dazu die zweite Hauptstadt
Matelane zwischen Rhein und Maas, wie denn auch im
Niederlande ein zweites Nortmore gefunden ist (Plönnies
S. 308) und die Verwechslung der dänischen Hauptinsel
Seeland mit der Inselgruppe Zeeland an der Scheidemünd-
ung kein Bedenken hätte. Sehen wir somit die Sage im
Umkreise des norwegischen Reiches sich abspielen, so dürfen
wir annehmen, dass sie dort auch ihre Weiterentwicklung
gefunden hat, als deren Reflex die shetländische Ballade
erscheint, die absolut keine andere als norwegische Herkunft
haben kann; wir dürfen ferner annehmen, dass sie durch
niederdeutsche Kaufleute aus Norwegen an die Scheide- und
Rheinmündungen gekommen. Bergen war der Hauptsitz der
deutschen Kaufleute, und wahrscheinlich durch diese ge-
langte die norwegische Gudrunsage nach dem Süden , wie
umgekehrt die deutsche Dietrichssage durch sie nachweislich
dem Norden vermittelt wurde. Ist meine Gleichung Cam-
patille = Kongahella richtig, so muss die Bildung der Sage
vor 1135 fallen; denn in diesem Jahre wurde Kongahella
von einer grossen wendischen Raubflotte überfallen, geplün-
dert und verwüstet, worauf es zur Unbedeutendheit herab-
sank. Damit stimmt denn auch die Erwähnung der Sage
im Alexanderliede. Ich gehe nun zu unserer Gudrun über.
Die erste und zweite Strophe sind durch die dreimalige
Setzung von rieh in 5 Zeilen entstellt. Diess ist bis jetzt
von Niemand hervorgehoben worden; hielt man es nicht
Hofmann: Zur Gudrun. 223
für auffallend oder glaubte man, für den Zudichter der
Greif eogeschichte seien solche Strophen gut genug? Ich
könnte den zweiten Grund nicht gelten lassen , denn wenn
auch diese Vorgeschichte für das eigentliche Gudrunwerk
viel zu fabulos und poetisch zu unbedeutend ist, und daher
von ihm getrennt werden muss, so darf sie doch mit anderen
mhd. Produkten verglichen, nicht so gering geachtet werden,
dass wir nicht versuchen sollten, sie von elenden Strophen
zu befreien. Hier ist nun die Hülfe noch dazu äusserst
einfach. In der zweiten Strophe ist riehen ohnehin zu viel,
der Vers verlangt nur: Gere dem hünige. In 1,4 lese ich
riche für riehen, d. h. der Majestät ziemte ihre Minne, ein
nicht ungewöhnlicher Ausdruck, für den ich zum Ueberflusse
noch Gerhart 115, Crane 119 anführen kann. Im ersten
Falle steht kröne unserm riche entsprechend (vgl. roemisch
ruhe V. 112) ein ivip diu sinem Übe \ gezam und oiich der
kröne. riche in diesem Sinne m u s s t e dcrSchreiber missverstehen.
Str. 2,2. lese ich, er het streichend:
siben fürsten lernt
dar inne het er recken ...
Str. 3,4. 1. das ers mähte deste baz geniezen.
Str. 6,4 1. den edelen küniginnen ivas nach Sige-
bande we.
Nicht seine Mutter kann gemeint sein; denn wenn
Bartsch erklart: ,,sie konnte ihn nicht entbehren", so wider-
legt das die nächste Zeile, wo sie ihm selber räth, ein Weib
zu nehmen. Den Königstöchtern , die er ze reliter siner ö
minnen mochte, war nach ihm weh.
Str. 11,1. bedecket ist nicht zu dulden, es steht im
vorausgehenden Verse von der sträee und kann nicht in
einem Athem wieder von bhiomcn tm&gras gebraucht werden.
Ein Wort, welches zertreten bedeutet (vgl. Str. 183), und
dem Abschreiber als ein ausschliesslich mittelhochdeutsches
nicht mehr geläufig war . muss hier gesucht werden. Ein
15*
224 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 6. Juli 1867.
solches ist geweten oder gewetet, vgl. Otn. 383, dö sach er
daz grüen gras geweten und überhaupt Mhd. WB. 111,535.
Str. 21,3. Hier das Komma zu tilgen und lant zum
Genetiv zu machen, kann nicht angehen, ist auch gar nicht
nöthig, denn es ist einfach als Accusativ zu fassen, von
zergaehe regiert.
Str. 22,1 1. inner drien jären. Dass die drei Jahre die
nächsten sind, versteht sich von selbst und ist ein Zusatz
des Abschreibers.
Str. 23,4 1. sah für sähen, vergl. Grimm DG. IV.
198 ff. und Str. 141 ja lönet im min vater und min
muoter.
Str. 38,2 1. das man von wildem walde muose dar ge-
tragen, wilden und walde zu trennen, geht nicht an, noch
weniger, den ganz spezifischen und bezeichnenden Ausdruck
zu entfernen. Die Menge der zu fertigenden Sitze, will der
Dichter sagen, war so gross, dass man im offenen Walde
grünes Holz dazu schlagen musste.
Walt bedeutet eben auch, wie das gr. vÄt], das lat.
materia (daher der Name Madeira) Nutzholz, wie eine
zweite Stelle der Gudrun klar zeigt, wo freilich erst der
aus Vollmers Phantasie gewachsene, dann in Bartschs Ver-
zeichniss der Eigennamen gewanderte Westerwalt als mo-
dernes Verderbniss zu beseitigen ist. In der Handschrift
Str. 945 steht fraw man sol wenden da zu dem vesten
ivald. Da von Schiffbauen die Rede ist, wozu man Holz
braucht und da Holz schlagen im Mhd. ausgedrückt wird
durch : den walt swenden, so dürfte wohl auch ein Anfänger
eingesehen haben, dass es sich hier nicht um Erfindung
eines geographischen Namens, sondern nur um die Restitu-
tion des mhd. technischen Ausdrucks handeln kann, vesten
ivalt wäre dann gar nicht unbedingt zu verwerfen, es würde
einfach festes Holz bedeuten. Allein, da sich von selbst
versteht, " dass man zum Schiffbau festes und nicht weiches
Hof mann: Zur Gudrun. 225
Holz nimmt, der Ausdruck somit nichtssagend wäre, was
wir in der Gudrun wo möglich vermeiden müssen, so lese
ich besten, also : vromve, man sol sivenden da zuo den besten
walt.
Str. 40,4 ist etwas zu ergänzen, nicht ir, was sich auf
die Ritter beziehen würde, sondern der vrouiven, vgl. Str. 36:
so gib ich besunder fünf hundert vrouiven Meit. vroivcn hat
schon V.
Str. 48,3. Hätten die Herausgeber die hässliche Wort-
stellung doch wohl ändern sollen in: die varnde diet des
moldc lüzzel da verdrießen. Die Wortfolge, die der Ab-
schreiber des 15./16. Jhd. seinem Redegebrauch gemässer
fand, kann uns bei Herstellung fliessender Verse, und solche
verlangt die Gudrun durchaus, doch nicht im Wege stehen.
Str. 52,4. Der Abschreiber hat hier durch Gleich-
machung des Reimes mägen, phlägen den Sinn tief zerrüttet.
Vergleichen wir alle übrigen Stellen des Gedichtes, wo von
dem Verhältnisse edler Kinder zu ihren mägen die Rede
ist, so zeigt sich, dass sie immer von ihnen oder bei ihnen
erzogen werden, eine Sitte, die besonders tief im altnordi-
schen Leben wurzelt und dort auf Schritt und Tritt be-
gegnet. Man vergl. besonders Str. 98. Hagene erzog sich
selber, denn er tuas aller siner mäge eine = er musste
sich seine sämmtlichen Mage ersetzen , ferner Str. 198,
u. s. w. Es darf also in unserer Stelle nicht gesagt sein,
dass die Freunde das Kind den Magen erziehen, denn beide
zusammen erziehen es nur den Eltern, sondern es kann bloss
von den mägen als Erziehern die Rede sein , folglich muss
der Nom. mäge stehen, was den Reimen der Gudrun be-
kanntlich auch sonst entspricht. Nun ist die Emendation
einfach : sus zugcn cz mit vlize sine mäge.
Str. 85,2 braucht gruzez nicht getilgt zu werden, wie
E. V. B. thun. Man lese:
226 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 6. Juli 1867.
Ine iveis von weihen enden geflossen Hier mer
Jcom sen steinwenden ein gröses gotes her.
Str. 91,3 1. den wolte er an der site gerne hän vers-
tunden. ZU als Dativ möchte ich der Gudrun nicht zu-
trauen.
Str. 99.2. Alle Herausgeber haben hier die ruhen
fische, ein Nonsens, von dem noch dazu nichts in der HS.
steht und der wahrlich nicht besser wird, wenn B. ihn auch
noch erklärt: „rauh wegen der Schuppen". Im Binnenlande
gibt es keine Fische mit rauhen Schuppen, und die dorti-
gen Fische kann man ihrer Schuppen wegen nur glatt
nennen. Sollte man dem Dichter der Gr ei fcnaventiure
etwa die Spitzfindigkeit zumuthen, er hätte die Seefische im
Gegensatze zu den glatten Süss wasserfischen sich rauh vor-
gestellt? Aber wir brauchen ihm gar Nichts zuzumuthen,
denn er hat uns hier das richtige Wort in richtiger mittel-
hochdeutscher Form überliefert, raivhen d. h. rcaven =
rohen. Die rohen Fische konnte Hagene nicht gemessen,
weil seine Küche selten rauchte , d. h. weil er noch kein
Feuer hatte, welches er erst Str. 104 aus dem Felsen
schlaft.
Str. 108,4. Den Frauen bringt die Noth des Schiffes,
welches sie im Sturme erblicken, die Rettung; ich möchte
daher statt frowoen lesen ferjen = den Schiffern.
Str. 116,3. Diese Strophe hat das Schicksal gehabt,
ganz ausdrücklich missverstanden zu werden , wiewohl sie
einem der allgemeinsten mittelalterlichen Bräuche ihre Ent-
stehung verdankt. Gästen, die man ehren wollte, gab man
Kleider der Hausgenossen zum Wechseln gegen ihre eigenen.
Der Dichter kann also nicht mit B. gemeint haben: ,,sie
würden mir weise erscheinen, wenn sie diese ungewohnte
Umgebung als eine ihnen angethane Ehre betrachteten", son-
dern er will einfach einen Witz machen: wären sie welt-
läufig (wise) gewesen, so hätten sie die männlichen Pilger-
Hofmann: Zur Gudrun. 227
kutten, die ihnen so ungewohnt vorkamen und welche sie
sich schämten, anzuziehen, als eine ihrem hohen Stande er-
wiesene Ehre (wirde) hingenommen.
Str. 121 lese ich
Dö sprach der rittcr edele: „got hat vil ivol getan,
sit er iueh Vi den mögen niht enwolte län;
ir sit mit sinen gnaden üz grözer not entbunden,
sit icli iueh, meide, so schone hdn an disem Stade funden.
Str. 127,1 1. ist so stark dm llp.
Str. 130,4 wohl am einfachsten: in herten stürmen
slahen nnde vdhen.
Str. 134,4. Hier darf nicht geholfen werden, indem
man für Irret umbe das gleichbedeutende , aber metrisch,
richtige wendet setzt, was ausserdem auch noch widersinnig
wäre, weil man ein Segelschiff nicht wie einen Wagen oder
einen Dampfer plötzlich wenden kann. Der Hauptgrund
ist übrigens noch der, dass der Schreiber der Ambraser IIS.
sicherlich wendet ebenso gut verstanden halte , als leeret
unibe. Entfernen wir den unerlaubten Auftakt höret, so
erhalten wir das Richtige der volge minor lere / unibe iuiver
segele, daz man gegen Irlande höre; denn das Schiff ist
wieder ein tautologiscb.es Einschiebsel des Abschreibers, der
den mhd. Gebrauch des absoluten hören nicht mehr recht
kannte , wiewohl er es zwei Strophen weiter unangetastet
gelassen hat: die selben schifliute muosten dö gen Irlande
hören.
Str. 138,4 1. turne driu hundert, was einen wohlklin-
gendem Vers gibt.
Str. 143,4 1. vor an miner brüste bevinde. vor an ist
zu hart.
Str. 148,1 1. Dö Voten der vrouiven ditze wart geseit
im Anschlüsse an die HS.
Str. 151,3 1. ivcr im ein grüezcn taete, fliessender.
Str. 152,1 Sin in sin lant ist besonders hässlich. Ich
228 Sitzung der philos.-philöl. Geisse vom 6. Juli 1867.
lese der Jcünec in ivillekomen hiez wesen in sin lernt, da
ich mich nicht an dem stumpfen Schlüsse des ersten Halb-
verses willeJcomen stosse , der ja durch Stellen bewiesen
wird, wo man z. B. statt nern ein vermeintliches nerjen
setzen muss, um einen scheinbar klingenden Ausgang zu
bekommen. Es ist das sicher einer der Punkte, wo man
besser thäte, bei dem, was Lachmann gesagt, stehen zu
bleiben.
Str. 153,2. Zu gemach bemerkt B. ., Bequemlichkeit,
bequeme Gelegenheit; der Begriff der Absonderung liegt
darin". Ich bezweifle, ob dadurch der Sinn der Stelle
deutlich werde. Der König sollte die Leute zurücktreten
heissen, damit sein Sohn Hagene mit Anstand seine Brust
entblössen und seine Mutter das Kreuzzeichen auf der Haut
sehen konnte.
Str. 155,3. Die Herausgeber E. V. B. haben hier
wieder das Adjectiv vom Substantiv durch die Cäsur ge-
trennt, was auf jede Weise zu vermeiden ist. Man lese
von sines herzen liebe I uz sinen ongen vlöz;
im viel der heizen trahene / da zetal genuoc.
Str. 159,4 1. sit wurden sie ze vlnde \ den von Irlande
nimmer mere. Ob man die nhd. Wendung: mit einem
Feind oder Freund sein, schon im Mhd. gebraucht hat , be-
zweifle ich einstweilen.
Str. 177. sie sprächen, sie fragten ist eine unerträg-
liche Tautologie, zudem steht sprach am Anfange der vori-
gen Strophe und im dritten Verse der vorliegenden noch
einmal. Man lese:
Wer diu vrouive tvaere, des fragten sine man,
diu vor sinen helden ze hove solde gän.
Str/ 196,3.4. Da* [vorgetane bis jetzt nicht gefunden
ist, so darf man wohl eine kühnere Vermuthung wagen. Ich
lese, indem ich er hiez aus der letzten Zeile, wo es über-
flüssig steht, heraufziehe:
Hofmann: Zur Gudrun. 229
er hiez von shien vorhten nähen unde verren
Volant aller kiinige . . .
vorhten ist die Furcht, welche man vor Hageneu hatte,
vgl. Mhd. WB. III. 385, b. Noch näher läge vorhtsame.
Str. 208,1. Der zweite Halbsvers ist ebenso schlecht
bei V. im dient wazzer unde lant als bei B. tuazzer unde
lant, die ausser der Construction stehen sollen und dgl.
Statt wazzer ist einfach wer zu setzen, im diente mer mit
lant, vgl. Str. 1669. Dass ich hier mit setze, gründet sich
auf Lachmann, der zu den Nibel. 934,2 bemerkt: „Die
Lesart von A darf man aussprechen an uns sorge unt leit.
Denn gerade vor l wird unde auch an dieser Versstelle
verkürzt, bei Walther v. d. V. vor keinem anderen Conso-
nanten als lu.
Str. 233. 1. Er fragte, ob er fiteren solde mit im dan
heim unde brünne od iemen siner man.
der boten sprach dö einer: wir enhörten niht
daz er bedörfte recken u. s. w.
Str. 246,4 finde ich nur eine kleine Aenderung des
Ueberlieferten nothwendig :
der mins gemaches vdret, der sol die selben triuwe von
mir dulden = dem will ich Gleiches mit Gleichem ver-
gelten, darum müsst auch ihr beide als Boten mit mir fahren.
Str. 249,2. ein schif von ciperboumen kömmt mir ver-
dächtig vor. Warum sollte ein Schiff vom Trauerbaum fest
und gut sein? Ich lese cederboumen, denn der Ceder wird
die Eigenschaft beigelegt, nicht von Würmern angegriffen
zu werden, gerade was ein Seeschiff am meisten braucht.
Dass sie im Lande der Hegelinge weder Zedern noch Cy-
pressen zum Schiffbau hatten, braucht den Dichter nicht
zu kümmern.
Str. 260,3. Für tvinters braucht nicht meien gesetzt
zu werden, man lese nach des winters ziten oder vielleicht
dem Texte näher: von des w. z, von in temporalem Sinne.
230 Sitzung der philos.-pMlol. Gasse vom 6. Juli 1867.
Str. 264,4. 1. ivurden wol mit süber gebunden.
Str. 271,4. 1. ja wären sie des hilnec Hetelen Icünne.
Str. 281,2.3. möchte ich lesen: das man das magedin
mit strite erwerben solde, ob sin geschaehe not.
Ueber den Ausdruck not geschult vgl. Mhd. WB. II,
408 Nr. 4. Mit List und Streit zugleich konnten die Ge-
waffneten doch die Maid nicht erwerben sollen. Z. 4 könnte
man willige lesen, um den eigentümlichen metrischen Bau
der 8. Halbzeile herzustellen, vgl. Grimm DG. III, 115.
Str. 288. Diese Strophe ist sehr wichtig, denn in ihr
deutet der Dichter auf eine andere Fassung der Sage hin,
die er verwirft. Es handelt sich um die richtige Deutung
von Polay. Erwägt man, dass im 15. Jhd. n mit dem
zweiten Striche nach unten verlängert vorkömmt, so ergibt
Polay Polan, wohin also die andere Sage den Königssitz
Ha genes verlegte, tobeliche, meint der Dichter, denn nach
Polen hätten die Hegelinge nicht 1000 Seemeilen zu fahren
gehabt, wie nach Irland. Lassen wir Polan gelten, so dürfte
die ganze Strophe so zu lesen sein:
Sie liet ivol tüsent mile das ivasser dar getragen
hin ze Hagenen bürge, sivie wir hoeren sagen,
das er lierre waere se Pölän lästerliche,
sie liegent tobeliche, es enist dem maere niht geliclic.
Eine Andeutung, wie die Sage den Hagene nach Polen
verlegen konnte, findet sich bei Saxo Grammaticus. Er
macht den Höginus, . einen jütischen Unterkönig (regulus)
zum Vasallen des Frotho III, dem er im Kriege gegen die
Slaven hilft, nach deren Besiegung Frotho ihr Land an
seine Unterkönige vertheilt. Es wäre möglich, dass man
auch dem Höginus eine slawische Provinz zugetheilt und
dass daraus in einer weiter fortgesponnenen Erzählung
Polen geworden. Diess wird wohl die einzige Stelle sein,
in der ich von Haupts Gudrunemendationen abweiche.
(Der Schluss im folgenden Hefte).
Seidel: Gegcnivärtige Genauigkeit der Wägungen. 231
Mathematisch -physikalische Classe.
Sitzung vom 6. Juli 1867.
Herr Seidel hielt einen Vortrag, betr.:
„Einen Beitrag zur Bestimmung der Grenze
der mit der Wage gegenwärtig erreichbaren
Genauigkeit".
Die Beurtheilung der Sicherheit, welche den aus Be-
obachtungen abgeleiteten Zahlengrössen beigelegt werden
darf, bildet bekanntlich in den verschiedenen Zweigen der
Messkunst keine leichte Aufgabe , soferne man überhaupt
darauf ausgegangen ist, die Hilfsmittel der Beobachtung und
ihrer Keduction bis zu der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit
wirklich in Anspruch zu nehmen. Es ist eine notorische
Erfahrung, dass aufeinanderfolgende Messungen ein und
und derselben Grösse, oder überhaupt Beobachtungen, welche
mit einerlei instrumentalen Mitteln, unter ähnlichen Um-
ständen gemacht sind, fast jederzeit genauer unter sich
stimmen, als, nach Berücksichtigung aller Reductionen, ihre
Resultate mit denjenigen zusammengehen , welche man mit
anderen Hilfsmitteln oder nach Verfiuss längerer Zeit erhält;
— so dass die Zuverlässigkeit der Zahlen beinahe gewiss
überschätzt wird, wenn man sie lediglich nach dem „wahr-
scheinlichen Fehler" taxiren will, wie er aus dem einseitigen
Materiale nach der Methode der kleinsten Quadrate sich er-
giebt. Natürlich folgt hieraus nicht, dass die Wahrschein-
lichkeitsrechnung, in welcher die genannte Methode begründet
ist, das Urtheil irre führt; denn es ist ja eine ausdrück-
liche Voraussetzung, die bei der betreffenden Probabilitäts-
232 Sitzung der math.-phys. Classe vorn 6. Juli 1867.
Untersuchung zu Grunde gelegt wird, dass positive und
negative Beobachtungs fehler mit gleicher Leichtigkeit sich
ergeben können, — oder mit andern Worten: dass con-
stante Fehler ausgeschlossen sind. In Wirklichkeit ist es
kaum jemals möglich, diese Bedingung genau zu realisiren:
Einflüsse untergeordneter Art, welche während gewisser
Zeit oder bei dem Gebrauche der gleichen Instrumente etc.
in constantem Sinne agiren , werden sich , w^enn die Sache
genau betrachtet wird, fast immer nicht nur als möglich,
sondern selbst als höchst wahrscheinlich vorhanden erkennen
lassen; — und wenn wir, ungeachtet der Einsicht hievon,
doch die Methode der kleinsten Quadrate auf derlei Fälle
anwenden, die ihren Voraussetzungen nicht entsprechen, so
geschieht es deshalb, weil uns die Mittel fehlen, die gesetz-
mässige Art des Wirkens jener Einflüsse zu verfolgen, oder
auch nur zu beurtheilen, ob in dem einzelnen gerade vor-
liegenden Falle die Wahrscheinlichkeit der positiven oder
die der negativen Beobachtungsfehler durch sie ein Ueber-
gewicht erhalten hat. Es würde überdies unmöglich sein,
jedesmal je nach der besonderen Bedingtheit der vorliegen-
den Beobachtungen die ihr individuell entsprechende Wahr-
scheinlichkeits-Aufgabe strenge zu lösen, so wie sie für
jenen einfachsten und gewissermassen normalen Fall durch
die Aufstellung der Methode der kleinsten Quadrate gelöst
ist. Immerhin mag man auch da, wo entstellende Einwirk-
ungen constanter Art nicht undenkbar sind, den sogenannten
„wahrscheinlichen Fehler" ableiten und ihn aufführen als
einen bequemen und allgemein verständlichen Gradmesser
für die Uebereinstimmung der einzelnen Messungen unter
sich: nur darf man nicht sich der Täuschung hingeben,
(von welcher Niemand entfernter war, als die grossen Ur-
heber jener Methode), als ob seine Herleitung die sorg-
fältige Würdigung der Umstände der Messung und der für
die Elimination constanter Fehler getroffenen Cautelen un-
Seidel: Gegenwärtige Genauigkeit der Wägungen. 233
nöthig machte. Der Fall ist sehr wohl denkbar, dass unter
zweierlei Beobachtungsresultaten , die durch verschiedene
Methoden für dieselben Grössen erlangt worden sind, die-
jenigen, welche einseitig berechnet den kleineren wahrschein-
lichen Fehler zeigen, gleich von vornherein und sogar wegen
der Kleinheit dieses Fehlers für die schlechteren zu halten
sind: nemlich dann, wenn Verdacht besteht, dass ihre ge-
naue Uebereinstimmung desshalb zu Stande kam , weil
Fehlerursachen constant wirkten, die in dem besser ein-
gerichteten Beobachtungssystem bald auf die eine bald auf
die andere Seite fallen und so den apparenten wahrschein-
lichen Fehler vergrössern mussten ; — ganz so wie unter
Umständen , ebenfalls nach den Principien der Wahrschein-
lichkeitslehre, die Aussagen zweier Zeugen darum verdächtig
werden können , weil sie gar zu genau übereinkommen.
Massen-Vergleichungen mittelst der Wage gehören in
vielem Betracht zu den einfachsten und desshalb begünstigten
Beobachtungen. Dennoch ist es schwer, wenn man die
letzte Genauigkeit anstrebt, bestimmt festzustellen, wie weit
sie eigentlich geht. Nach einander gemachte Messungen
derselben Gewichtsdifferenz zeigen leicht einen hohen Grad
von Uebereinstimmung: ebenso leicht trifft es sich aber,
dass man an einem andern Tage aus nicht minder gut
unter sich harmoniienden Bestimmungen ein Resultat erhält,
welches nach allen Reductionen um das Zehnfache des ein-
seitig abgeleiteten , .wahrscheinlichen Fehlers" von dem erst
gefundenen abweicht. Sehr häufig wird eine Unsicherheit
über das genaue Gewicht der von den aufgelegten Massen
verdrängten wasserhaltigen Luft die Eutstehung solcher
Differenzen erklären. In diesem Falle hat man einen Theil
der Genauigkeit, die der Akt der Wägung an sich gewährt,
verloren durch ihre nothwendig unvollkommene Reduction.
Wollte man aber zur Vermeidung dieses Uebelstandes die
Wage in ein Vacuum bringen, so wird man in den meisten
234 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
Fällen durch die Unbequemlichkeit der Einrichtung veran-
lasst sein, die Vergleichung nicht so oft, als sonst leicht
geschehen könnte, zu wiederholen, und so auf anderer Seite
einen Theil der erreichbaren Genauigkeit aufzuopfern. Dazu
kommt, dass es überhaupt schwer ist, sich der Unveränder-
lichkeit der Massen bis in die letzten Grössen, für welche
die Wage sensibel ist, zu versichern, dass man also, während
der Zeit nach sich nahe liegende Beobachtungen leicht von
constanten Fehlern entstellt sind, zwischen solchen entfern-
terer Epochen eine Veränderung an den gewogenen Körpern
als möglich in Betracht ziehen inuss. Die beiden französi-
schen Kilogramme-Etalons von Piatina, der Archive und der
Sternwarte, sind bekanntlich von der mit ihrer Herstellung
betrauten Commission für identisch erklärt worden , waren
also ursprünglich jedenfalls um weniger als ein Milligramm
verschieden: im Jahre 1837 ergaben sieben auf Arago's
Veranlassung von Gainbey, Steinheil und von ihm selbst an
vier Tagen vorgenommene Vergleichungen übereinstimmend
einen Unterschied von 4,5 Milligrammen J), der wahrschein-
lichsten Annahme nach herrührend von einer allmählich
eingetretenen Verunreinigung der Oberfläche des Kilogram-
mes der Sternwarte (als des öfter benützten) durch adhäri-
rende fremde Theilchen , die wegen der Weichheit der
Piatina nicht ohne Gefahr zu entfernen sein würden. Ge-
wichte aus anderen Metallen sind aber ähnlichen Aender-
ungen aus anderer Ursache ausgesetzt. Ein genau aus-
gewogener Kilogramm -Einsatz, der aus 13 Stücken besteht,
die zusammen einen Würfel bilden, und mit welchem Stein-
heil und ich 1843/4 viele sorgfältige Wägungen ausführten,
verlor vom 9. November 1843 bis 6. Januar 1844 6,9 Milli-
grammen; weiter von da bis Ende Juni, während welcher
1) S. Steinheü's Abhandlung in den Denkschriften der Münchner
Akademie. 1844. p. 77.
Seidel: Gegenwärtige Genauigkeit der Wägungen. 235
Zeit das specifische Gewicht seiner einzelnen Stücke be-
stimmt worden war, 7,6 M. ; dann durch einmaliges Ab-
waschen seiner Stücke wieder 4,3 M. ; im Ganzen also in
drei Vierteljahren 18,8 M. Ein anderer ähnlicher Einsatz,
dessen Oberflächen sämmtlich zu genauen Ebenen geschliffen,
dann auf galvanischem Wege stark vergoldet und zu Spiegeln
poliert worden waren, nahm zu von 1844 Juli 12. bis
Novbr. 1. um 3,2 M. Am 27. Juli war das specifische Ge-
wicht des Halbkilogramm-Stückes (zum zweitenmale) bestimmt
worden, sonst aber der Einsatz unberührt und wohl ver-
wahrt gestanden. Durch absichtlich vorgenommenes Ab-
waschen verloren diese Gewichte am 3. November nur
0,5 M. , dann am gleichen Tage durch ein wiederholtes
Waschen mit Seifenwasser noch 0,6 M. ; also zusammen
1,1 M., so dass noch immer von 3x/2 Monaten eine Gewichts-
zunahme um 2,1 M. übrigblieb, welche nicht von Unreinigkeit
der Oberfläche herrühren konnte (die einzelnen Stücke waren
beim Gebrauch stets ganz blank und spiegelnd) , und die
vielleicht am ersten auf Rechnung einer unter der Vergold-
ung vor sich gehenden Oxydation des Messings zu setzen
ist. Diese und noch einige ähnliche Erfahrungen über die
Veränderlichkeit der Metallgewiehte gaben damals Veran-
lassung, in der Werksätte der mathematisch-physikalischen
Sammlung einen vollständigen Einsatz aus Bergkrystall her-
stellen zu lassen, bestehend aus einem Kilogramme-Stücke
(welches direct mit dem vorher in Paris durch das Original
der Archive bestimmten und später nach Neapel verkauften
Repsold'schen Bergkrystall- Kilogramme verglichen worden
ist), zwei halben Kilogrammen etc. bis herab zur Gramme,
in Allem 15 Cyliuder (die Kanten durch Kugeliacetten ab-
gerundet) , von höchst vollkommener Gestalt und Politur
der Oberflächen. Da wir allen Grund hatten , diesen Ge-
wichten , die man vor dem jedesmaligen Gebrauche unbe-
denklich mit Weingeist waschen darf, viel grössere Uli vor-
236 Sitzung der math.-phys. Gasse vom 6. Juli 1867.
änderlichkeit als den metallenen zuzuschreiben, so wurden
dann im Jahre 1846 durch eine grosse Beobachtungsreihe,
die wesentlich von mir herrührt, ihre Werthe möglichst
sorgfältig bestimmt, damit für weitere Gewichtsuntersuch-
ungen der Apparat ein für allemal hergestellt sei. Ich
setzte mir damals zum Ziel, die relativen Werthe dieser
Stücke, d. h. ihre Verhältnisse zum grössten, bis auf ein
paar Hundertmilliontel des letzteren zu bestimmen. Die
Unsicherheit in Betreff der Luftgewichte, von welcher vorher
die Sprache war, fällt nämlich vollkommen fort, wenn man
Bergkrystall mit Bergkrystall vergleicht, weil hier gleiche
Massen auch gleiche Volumina bedingen. In dieser Beziehung
lagen uns , schon als der Einsatz hergestellt wurde (dessen
Stücke übrigens alle von demselben Krystall-Blocke her-
rühren) die Bestimmungen der specifischen Gewichte von
sechs verschiedenen Krystall-Körpern vor, deren Einer aus
Brasilien, ein zweiter aus Madagaskar stammte, während
die übrigen wahrscheinlich europäischen Ursprungs sind; —
für diese alle hatten wir, auf so viel Stellen als überhaupt
verbürgt werden können , gleiche specifische Gewichte er-
halten, indem die grösste gefundene Abweichung vom Mittel-
werth sich auf 0,00005 stellte, welche Differenz, wenn sie
selbst reell wäre, doch bei der Masse von 1 Kilogramm
das Gewicht der verdrängten Luft noch nicht um 0,01 M.
verändern würde2). Die weiteren Untersuchungen, für
welche die Herstellung jenes Einsatzes als Vorarbeit dienen
2) Unmittelbare Wägungen im Wasser von der grössten Dichtig-
keit geben das specifische Gewicht des Bergkrystalls = 2,65479.
Aus den Wägungen bei höherer Temperatur hatten wir mittelst der
Hallström'schen. von Bessel reproducirten Tafel für die Ausdehnung
des Wassers zuerst einen kleineren Werth abgeleitet (vgl. Steinheil
a. a. 0.) in Folge der Unrichtigkeit dieser Tafel.
Seidel: Gegenwärtige Genauigkeit der Wägungen. 237
sollte, sind nur zum Thuil ausgeführt worden : bei ihrer
Unterbrechung durch Steinheil's damalige Uebersiedelung
nach Wien blieben die mit bedeutenden Kosten hergestellten
Gewichte sein Privat-Eigenthum. Neuerlich, als die Verhand-
lungen wegen eines gemeinschaftlichen deutschen Maasses
und Gewichtes dem Gegenstand ein erneutes Interesse gaben,
hat die betreffende Commission der IL Classe der k. Akad.
d. W. Anlass genommen, der k. Staatsregierung die Er-
werbung dieser Stücke für Bayern anzuempfehlen , jedoch
ist den desfallsigen Elitschliessungen das Oesterreichische
Gouvernement zuvorgekommen, und hat die Wiener Aka-
demie in den Besitz derselben gebracht. Sie wurden Ende
März an den österreichischen Bevollmächtigten übergeben;
ehe dies geschah, hat mir auf meinen Wunsch das bereit-
willige Entgegenkommen des Hrn. Professors Schrötter,
General-Sekretärs der kais. Akademie, und des Hrn. Ministerial-
Raths Steinheil die Gelegenheit verschafft, einige meiner alten
Gewichtsvergleichungen zu wiederholen. Es lag mir daran,
ehe diese Stücke für immer von hier fort kamen, mich
selbst von der Genauigkeit meiner früheren Arbeit noch-
mals zu überzeugen, und es schien mir, dass es, gegenüber
den mit Metallgewichten gemachten Erfahrungen, von wesent-
lichem Werthe sein würde, wenn der positive Nachweis einer
viel grösseren Unveränderlickeit unserer Krystallkörper durch
eine nach zwanzig Jahren vorgenommene Controlbestim-
mung geführt werden könnte. Dazu kommt noch, dass das
Eine der zur Vergleichung gebrachten Stücke auch noch
für uns in München die Continuität mit dem Original-Ge-
wichte der Archive in Paris erhält: das Halb-Kilogramm-
Stück war nemlich in Bergkrystall deshalb in duplo her-
gestellt wrorden, weil das erste Exemplar in Folge zu rascher
Erkältung nach dem Poliren im Innern einen irisirenden
Sprung erhalten hatte, der sich bis an die Oberfläche erstreckt,
[1867. II. 2.] IG
238 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
obgleich an derselben nicht die geringste Unterbrechung der
Continuität mit dem Nagel zu spüren ist; es wurde darum
dem jetzt verkauften Einsätze nicht einverleibt, war aber
schon in die alten Vergleichungen von mir mit hineingezogen
worden, weil sich bald zeigte, dass der Sprung seine Un-
veränderlichkeit auf der Wage nicht beeinträchtigte. Die
Summe der beiden halben Kilogramme hatte ich 1846 be-
sonders sicher , durch 45 Abwägungen , mit dem ganzen
Kilogramme verglichen: für ihre Differenz (die allerdings
bei kleinerer Belastung, also grösserer Empfindlichkeit, der
Wage gemessen und deshalb schneller mit der gleichen
Genauigkeit erhalten wird) lagen viel weniger Beobachtungen
vor, und die Wiederholung dieser Vergleichung, zu möglichst
sicherer Bestimmung der beiden Halben durch das Ganze,
war deshalb zunächst angezeigt. Für die zweite Controle
wählte ich die erneute Vergleichung des Stückes von zwei
Hektogrammen mit den beiden von ein Hektogramm , weil
ich in den Originalpapieren der alten Wägungen eine 1846
gemachte Notiruug gefunden hatte, dass diese Verbindung,
als etwas unsicherer bestimmt, gelegentlich zu wieder-
holen sei.
Meine diesmaligen Beobachtungen fielen in die Tage
vom 13. bis 27. März 1867; es war mir dazu der südliche
Saal der mathem.-physikal. Sammlung des Staates, in wel-
chem der Heliostat angebracht ist, eingeräumt, und in dem-
selben die Steinheil'sche Schneidewage an der Wand gegen
den südöstlichen Arbeitssaal in ihrem Kasten aufgestellt
worden. Beide Säle blieben ungeheizt, und ich hielt die
Läden desjenigen, in welchem die Wage stand, grössten-
theils geschlossen, und verweilte in ihm nur, während es
zum Ablesen und dann zum Umsetzen der Gewichte nöthig
war: in Folge dieser Vorsicht zeigte das Reaumursche
Thermometer am Barometer kaum Schwankungen von
Vio Grad während der Beobachtungen eines Vor- oder
Seidel: Gegenwärtige Genauigkeit der Wägungen. 239
Nachmittags. Die vortreffliche mit drei auf Achatplatten
spielenden Schneiden versehene Wage, die schon zu den
früheren Bestimmungen gedient hatte (Eine von mehreren
ganz ähnlich hergestellten) ist von Steinheil an anderem
Orte beschrieben ; ihr Balken trägt über seiner Mitte
einen kleinen Planspiegel, der auf eine etwa 12 Fuss
entfernte Scala weist, an welcher die Ausschläge nach
dem Poggendorf-Gauss'schen Principe durch das auf
den Spiegel gerichtete feststehende Fernrohr abgelesen wer-
den. Es galt mir, meinen früheren Erfahrungen nach, als
Regel , die Wage stets nach Umsetzen der Gewichte eine
Viertelstunde lang frei schwingen zu lassen, während sich
Niemand im Zimmer befand, damit im Innern ihres Kastens
die Luftströmungen sich beruhigen und die Temperaturen
sich ausgleichen könnten; nach Ablauf dieser Zeit zeigte
sich' im Fernrohre die Ruhe und Gleichmässigkeit der
Schwingungen nur beeinträchtigt durch vorübergehende in
dem Lokale nicht zu vermeidende Erschütterungen von vor-
beifahrenden Wägen ; wenn zwei nach derselben Seite er-
folgende Ausschläge bis auf ein paar der geschätzten Zehntel
eines Scalentheils gleiche Ablesung gaben (wie dies bei
ruhigem Gange der Wage immer der Fall war), so wurde
der Mittel werth beider mit der der Zeit nach zwischen sie
fallenden Ablesung der entgegengesetzten äussersten Elonga-
tion zu einem Mittel verbunden , welches als die Ablesung
der Gleichgewichtslage der Wage galt. Die Abwägungen
selbst wurden nach der Methode von Gauss gemacht, indem
die beiden zu vergleichenden Körper sich gleichzeitig auf
den beiden Schalen der Wage befanden, und zwischen den-
selben altcrnirten. Der Werth des Auscchlags von einem
Scalentheil wurde mittelst der sehr genau bekannten kleinen
Gewichte von Piatinadraht bestimmt, über welche ich zu-
letzt noch Einiges beibringen werde, natürlich zu wieder-
holten Malen und zwar bald durch Umsetzen des kleinen
16*
240 Sitzung der math.-pliys. Classe vom 6. Juli 1867.
Gewichtes allein, bald auf die Art, dass durch Hinzufügüng
eines solchen zu der leichteren der beiden grösseren Massen
die Differenz auf die entgegengesetzte Seite gebracht wurde.
Dieses letztere Verfahren ist etwas unbequemer als das
erste, giebt aber eine vollkommnere Elimination der von
Unsicherheit des Scalenwerthes herrührenden Fehler. Uebri-
gens ist bei derselben Wage der Scalenwerth natürlich ab-
hängig von der Entfernung zwischen Scala und Wage und
von der Grösse der Belastung; diesmal wurde er für Be-
obachtungen nach dem Gauss'schen Princip gefunden wie folgt :
„ . .. „ . Gewichtsdifferenz, welcher der Aus-
Last auf jeder Seite. , . _;. a , ,, ., , ...
J schlag von Em bcalentheil entspricht.
0,5 Kilogramm 0,0403 Milligramm.
0,2 „ . . 0,0200
0,191 „ . . 0,0184
Für den Gewichtsunterschied der beiden Krystall-
Cylinder von 0,5 Kilogramm (unter welchen der mit dem
Sprung der schwerere ist) lagen mir folgende alte Beob-
achtungen vor:
1) 4 direkte Vergleichungen vom Jahre 1846
hatten ergeben 3,503 Milligr.
2) 2 noch früher von Steinbeil angestellte
(etwas weniger sichere) .... 3,542 „
3) 10 weitere, in den ersten Monaten 1847
von mir gemacht ..... 3,431 ,,
4) Aus 10 Vergleichungen des nicht gesprun-
genen Stückes mit der Summe aller
kleineren Krystallgewichte und aus 5,5
solchen des andern mit derselben Summe
folgte indirect, mit dem Gewichte von
3,55 direkten Vergleichungen (1846) . 3,410 ,,
Im Hauptresultate dieser 4 alten Bestirn-
mungsreihen (20 Messungen) ergab sich, mit
Rücksicht auf ihre Gewichte . . . 3,453 Milligr.
Seidel: Gegenwärtige Genauigkeit der Wägungen. 241
Am 3. März des laufenden Jahres machte M.-R. Stein-
heil mit einer in seiner Wohnung aufgestellten Wage die
ersten neuen Beobachtungen : die Gewichte waren zuvor
sorgfältig abgewischt, aber nicht, wie es mir als Regel galt,
auch mit Weingeist abgewaschen worden; sie schienen ganz
rein. Der Unterschied fand sich jetzt aus 5 Abwägungen
= 3,557 M. Da diese Vergrößerung seines Werthes auffiel,
so untersuchte Steinheil die Oberflächen nochmals genau,
und fand jetzt auf derjenigen des schwereren Stückes zwei
kleine, wahrscheinlich von Fliegen herrührende Flecken,
welche weggewaschen wurden; ein paar vorläufige Beobacht-
ungen zeigten sogleich, dass diese schwer wahrnehmbare
Verunreinigung die Ursache der Differenz gegen das alte
Mittel gewesen war. Die Gewichte kamen jetzt in meine
Hände; es ergaben mir
5) 12 Vergleichungen von März 13. bis 16. 3,394 Milligr.
In den nächstfolgenden Tagen wurde vom Mechaniker
noch eine Justirung am Sperrwerk vorgenommen, durch
welches jedesmal zwischen zwei Beobachtungen der Wage-
balken von den Achatplatten, auf welchen seine Schneide
ruht, und die Wagschalen, die ihrerseits mit Achatplatten
über den beiden Endschneiden des Balkens spielen, von
diesen letzteren sich abheben. Beim Lösen dieser Arretirung
hatte nemlich zuweilen die eine Schale durch eine Reibung
zwischen dem Arme des Sperrwerks und der Fassung ihres
Steines einen Anstoss erhalten , der die Regelmässigkeit der
Initialschwingungen beeinträchtigte. Unterdessen unterzog
ich auch die Krystalle nochmals einer sorgfältigen Reinig-
ung mittelst feiner Seife, die vom Ballen der Hand aus
nass aufgerieben und dann mit reinem Wasser abgewaschen
wurde, und mit Weingeist. Die hiernach am 21. und 22. März
vorgenommenen neuen Wägungen ergaben
0) mit dem Gewichte von 14,5 Bestimmungen 3,455 Milligr.
Daher im Mittel aller 2G,5 neuen Wägungen 3,431 „
"242 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
wenn man den Einzelbeobachtungen der Reihe 6, bei wel-
cher die Wage in besserer Ordnung war, gegenüber den-
jenigen der Reihe 5 ein im Verhältnisse von 4:3 grösseres
Gewicht beilegt.
Das Hauptmittel aus allen alten und neuen Beobacht-
ungen wird dann (da ihre Gesammtgewichte sich sehr nahe
wie 20 : 25 oder wie 4 : 5 verhalten) :
3,440 M.;
vom Mittel der alten allein abweichend um — 0,013, von
dem der neuen allein um -+- 0,009. Man bemerkt noch,
dass unter den alten Wägungsreihen die sicherste (Nr. 3)
ein Resultat giebt, welches mit dem Mittel aller neuen
(3.431) genau übereinstimmt; umgekehrt trifft das Ergebniss
der sichersten unter den beiden neuen Reihen (3,455) bis
auf 0,002 M. überein mit dem Gesammtmittel der alten
Reihen.
Es haben also hier Wägungen, welche um
20 Jahre auseinanderliegen, für die gesuchte Ge-
wichtsdifferenz Zahlen gegeben, die keine Spur
eines constanten Unterschiedes erkennen lassen,
und völlig ebenso gut zusammenstimmen, als die
einzelnen bald nach einander erhaltenen Reihen
unter sich. Zugleich darf man, da das definitive Mittel
bis auf +0,01 Milligrammen mit den beiden Separatmitteln
übereinkommt , demselben einen hohen Grad von Sicherheit
beilegen. Der wahrscheinliche Fehler, nach den Regeln der
Methode der kleinsten Quadrate berechnet , findet sich für
eine einzelne Bestimmung 0.0265 und für das allgemeine
Mittel der sechsundvierzig Wägungen 0,00391; wenn man
aber auch annimmt, (wie ich es thue), dass das letztere
noch um + 0,01 Miligrammen unsicher sein kann, d. h.
um soviel als es von jedem der beiden einseitigen Mittel
abweicht, — so macht dies nur den 50 Millionsten Theil
einer jeden der beiden mit einander verglichenen Massen
Seidel: Gegenwärtige Genauigkeit der Wägungen. 243
aus. Man verdankt die Möglichkeit, solche Genauigkeit zu
erreichen, der chemischen Unveränderlichkeit und der Härte
des Materiales der Gewichte, durch welche allein die un er-
lässlich nothwendige scrupulöseste Reinhaltung der Ober-
flächen unbedenklich gemacht wird. Wo die günstigsten
Umstände, wie in unserem Falle, vorhanden sind, ist man
in der That berechtigt zu sagen, dass die Genauigkeit der
Wägungen weiter geht, als die irgend welcher anderer
Messungen. Ein fünfzig Millionstel des Ganzen würde z. B.
auf die analytische Einheit des Winkels, neinlich denjenigen,
dessen Bogen dem Radius gleich ist, nur ausmachen 0,004
Bogensekunden, d. i. eine Grösse , bis zu welcher die Un-
sicherheit in der Messung eines solchen Winkels durchaus
nicht herabgebracht werden kann.
Für die zweite Controle war, wie schon oben erwähnt,
die wiederholte Vergleichung des Cylinders von 0,2 Kilo-
gramm mit den beiden von 0,1 Kilogramm ausgewählt
worden. Aus drei Wägungen von 1846 war das erstere
Gewicht leichter gefunden worden als die Summe der beiden
anderen um 1,787 Milligramme. Sieben neue Bestimmungen
(vom 22. März 1867) ergaben identisch dieselbe Differenz,
wobei natürlich der Zufall mit im Spiele ist.
Da jede Wage nur bei einer bestimmten Belastung das
Maximum ihre Leistung gewährt, und da überdies bei ge-
ringer Last und grosser Empfindlichkeit der störende Ein-
fluss von Luftströmungen und anderen Fehlerursachen zu-
nehmen muss, so werden nothwendig die Unsicherheiten in
der Bestimmung sehr kleiner Massen verhältnissmässig
grösser, als bei massig grossen. Die absoluten Werthe
der Unsicherheiten aber nehmen allerdings, auch bei unserer
Wage, für kleinere Gewichte noch weiter ab. Zum Beweise
kann ich die Zahlen anführen, welche durch drei verschie-
dene und von einander ganz unabhängige Auswägungen für
die Gewichte der Platin-Drahtstücke erhalten worden sind,
244 Sitzung der math.-phys. vom (Rasse 6. Juli 1867.
welche zu unserem Bergkrystall-Einsatz die Theile abwärts
von der Gramme repräsentiren , und die jetzt auch mit
nach Wien gekommen sind.
Zum erstenmal wurden die betreffenden Stücke im
Januar 1844 auf die Art bestimmt, dass sie einzeln ab-
gewogen wurden gegen Stücke eines ähnlichen Einsatzes von
Platindraht, der dem Staatsrath Schumacher in Altona
gehörte und, dem Decimalsystem entsprechend, Vielfache
und aliquote Theile von dänischen Grains repräsentirte.
Seine Stücke waren von Schumacher 1836 und wiederholt
1838 bestimmt worden; die durchschnittliche Differenz
zwischen beiden Bestimmungen (die zusammengestellt sind
in der schon citirten x^bhandlung Steinheil's von 1844, p. 55)
war 0.013 Milligr.: Einmal erhebt sich der Unterschied
auf 0,039 m. und Einmal ist er 0,032 M. Diese Gewichte,
welche auch schon bei Steinheil's Vergleichungen der Pariser
Originale gedient hatten, waren durch Schumacher's Güte
nach München geliehen worden. Ihre Vergleichung mit den
unsrigen wurde noch nicht mit der Schneidewage vor-
genommen , sondern mit der von Steinheil Anfangs der
vierziger Jahre construirten Bandwage , bei welcher statt
der drei Schneiden Suspensionen an kurzen und schmalen,
oben und unten festgeklemmten Stückchen von dünnem
Seidenband angeordnet waren. — Bei der zweiten Ver-
gleichung, im Juli 1844, diente bereits die Schneidewage;
diesmal wurde die Summe der vier die Ordnung der Deci-
grammen repräsentirenden Stücke unserer Platin-Drähte in
Verbindung gesetzt mit der Gramme des oben erwähnten
Kilogramm-Einsatzes von vergoldetem Messing , dessen Ge-
wichte damals genau bestimmt worden waren, und durch
Vergleichung zwischen den einzelnen Stücken der Uebergang
zu den kleineren Tlieilen gemacht. Nach demselben Principe
und gleichfalls mittelst der Schneidewage wurde die dritte
Bestimmung 1846 ausgeführt, nur beruht sie auf den
Seidel: Gegenwärtige Genauigkeit der Wägungen.
245
Grammen des Bergkrystall-Einsatzes. — In den drei ersten
Columnen der folgenden Tabelle sind die Werthe neben
einander gestellt, welche durch diese verschiedenen Beob-
achtungsreihen für dieselben Gewichte gefunden wurden : die
vierte Columne enthält die definitiv angenommenen Werthe:
I.
IL
III.
Def.
M.
M.
M.
M.
399,868
399,789
399,780
399,780
299,690
299,587
299,580
299,580
199,370
199,354
199,340
199,314
100,676
100,661
100,665
100,662
40,100
40,099
40,097
40,098
30,381
30,390
30,397
30,394
20,118
20,126
20,126
20,126
10,292
10,265
10,257
10,261
3,877
3,901
3,907
3,904
2,921
2,909
2,905
2,907
2,005
1.978
1,969
1,973
0,902
0,920
0,931
0,926
Die Zahlen der ersten Reihe können mit denen der
zweiten und dritten nicht concurriren: denn die Bandwage,
die sich durch die Wohlfeilheit ihrer Herstellung empfiehlt,
stand entschieden hinter der Schneidewage zurück. Andrer-
seits waren die Schumacher'schen Gewichtchen selbst nicht
mit der Sicherheit bestimmt, wie die unsrigen es durch
die zweite und dritte Reihe sind, da in diesen die Differenz
nur Einmal den Werth 0,0 14 M. erreicht, — und es ist
auch die Methode der Bestimmung, von den grösseren Ge-
wichten allmählich herabzugehen, besser als die, Stück für
Stück durch Vergleichung mit bekannten Massen selbst-
ständig zu bestimmen. Uebrigens wTird die Uebereinstim-
mung der Zahlen sub I. mit den übrigen in der Ordnung
246 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
der Decigrammen, wo die ersten durchweg etwas zu gross
sind, sehr bedeutend erhöht, wenn man durch einen an
allen Zahlen dieser Reihe anzubringenden corrigirenden
Factor die Summe der vier grössten Stücke auf ihren besst-
bestimmten Werth 999,366 M. (wie er der dritten Reihe zu-
gehört) reducirt: denn die Verhältnisse der einzelnen
Gewichte kommen in allen dreien noch näher überein als
die absoluten Werthe 3). Die definitiv angenommenen Zahlen
in der vierten Columne wurden aus den angeführten Gründen
blos aus II. und III. abgeleitet: sie sind einfache Mittel
aus den directen Werthen III einerseits und den durch
eine kleine Reduction der eben bezeichneten Art verbesserten
Werthen IL andrerseits. Nach dieser Reduction der Zahlen
II. (im Verhältnisse von 399,391 : 399,366) beträgt ihr Unter-
schied, sowie derjenige der Zahlen III., von den definitiven
Werthen in sechs Fällen kein Tausendtel eines Milligrammes,
zweimal nur ein Tausendtel, etc., und nur Einmal im
Maximum sechs Tausendtel; der durchschnittliche Werth
für die Abweichung der definitiven Zahl von den beiden,
deren Mittel sie ist, beträgt 0,0026, oder ein Vierhun-
derttel Milligramm. Bis auf diese Grösse bei den Unter-
abtheilungen der Gramme, und bis auf ein Hundertel Milli-
gramm bei verglichenen Massen von x|2 Kilogramm kann
also die Unsicherheit der Bestimmung zurückgedrängt werden,
und es ist demnach eine berechtigte Forderung, dass bei
Gewichten, die nicht allein dem öffentlichen Verkehr dienen,
sondern auch für wissenschaftliche Präcisionsarbeiten zur
Grundlage geeignet sein sollen, für die faktisch erreich-
bare Unveränderlichkeit innerhalb so kleiner Grössen künftig
immer vorgesorgt werde.
3) Es versteht sich, dass bei Berechnung der Reihen II. u. III.
die Luftgewichtsunterschiede von Platin gegen Messing und Berg-
krystall in Rechnung gezogen sind.
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 247
Herr Kuhn trägt vor:
„Bemerkungen über Blitzschläge".
Vor einem Jahre hatte ich die Ehre, der hochverehr-
lichen Classe über zwei Blitzesereignisse zu berichten *), die
als geeignet erschienen, um die gewöhnlichen Vorstellungs-
weisen über die Wirkung von Gewitterwolken gegen irdische
Objecte und über die Entstehung eines sogenannten Blitz-
schlages in sachgemässer Weise zu berichtigen.
Bei jener Gelegenheit habe ich die wesentlichen jener
Grundsätze hervorgehoben , durch welche die Wirksamkeit
der Blitzableiter und die Beschädigung irdischer Objecte
durch Blitzschläge ihre sachgemässe Erklärung finden kann.
Ich zeigte dabei, dass bloss die von Seite der Gewitter-
wolke gegen die unterirdische Wusserstrecke ausgeübte In-
fluenz als primitive Ursache eines Blitzschlages angesehen
werden müsse, und dass diesen Influenzwirkungen, die be-
kanntlich entweder selbst wieder die Entstehung von Neben-
wirkungen erzeugen, oder von solchen im Augenblicke der
Entstehung des Entladungsstromes begleitet sein können,
alle Erscheinungen zugeschrieben werden müssen , welche
während des Blitzereignisses an irdischen Objecten beob-
achtet werden können; mögen diese Erscheinungen dabei
als noch so complicirt auftreten, so müssen dieselben,
wenn alle Umstände gehörig erhoben werden können, den-
noch ihre einfache und naturgemässe Erklärung nach den
gedachten principiellen Grundlagen finden können.
Bezüglich der Anordnung der Blitzableiter wurde unter
1) Sitzungsberichte der k. b. Akad. d. W. 1866, Bd. II, p. 192.
(Ausführlicher im Polytechnischen Journal, Bd. CLXXXII, S. 291.)
248 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
Anderm bei jener Gelegenheit von mir besonders hervor-
gehoben, dass vermöge der gedachten Principien auf die
unmittelbare Ausleitung in das Grundwasser zunächst Be-
dacht genommen werden müsse, dass es für einzelne Ge-
bäude, die sämmtlich auf der gleichen Terrainstrecke sich
befinden , keinen Blitzableiter gibt , der alle übrigen oder
auch nur eines derselben selbst kleineres Gebäude gegen
Blitzschläge zu schützen vermag, dass man vielmehr in allen
solchen Fällen — und diess sind gerade die häufigsten —
ein Blitzableiter-System für eine jede der Gebäudegruppen
gemeinschaftlich in sachgemässer Weise herzustellen habe,
dass ferner die noch herrschende Ansicht, als ob ein Blitz-
ableiter mit hoher Auffangstange einen sogenannten Schutz-
kreis für die umgebenden Objecte darbiete , als nicht stich-
haltig bezeichnet werden müsse, dass es vielmehr eine
Wirkungssphäre in dem Sinne, wie man eine solche ge-
wöhnlich anzunehmen pflegt, gar nicht geben könne.
Obgleich eine grosse Anzahl von Blitzesereignissen auf-
gewiesen werden kann, durch welche jene Folgerungen be-
stätiget werden können , so erscheint es dennoch als uner-
lässlich, durch fortgesetzte Registrirung von authentisch
nachgewiesenen Blitzschlägen an irdischen Objecten die er-
wähnte principielle Erklärungsweise und die daraus entnom-
menen Folgerungen wiederholt zu prüfen, und die in Rede
stehende Angelegenheit nunmehr in gründlicher Weise zur
Erledigung zu bringen. Hiefür erscheint es aber als uner-
lässlich, nicht bloss die Bahn der Entladung an allen Stellen
des getroffenen Objectes zu verfolgen, sondern auch und
zwar insbesondere den discontinuirlichen Leitungsbogen auf-
zusuchen, den die Entladung vom Boden aus bis zur
unterirdischen Wasserstrecke einschlug, so weit als
thunlich zu verfolgen.
Unter den im Laufe der gegenwärtigen Gewitterperiode
mir bekannt gewordenen Blitzesereignissen dürften einige
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 249
als interessant genug erscheinen , um an dieselben die oben
gedachten principiellen Grundlagen gleichsam als Prüfstein
anlegen zu dürfen. Auf das erste der Ereignisse, die hier
betrachtet werden sollen, wurde ich durch eine Notiz2) auf-
merksam gemacht, in welcher die Verheerungen geschildert
wurden, welche die am 24. und 25. Juni im Odenwald, am
Rhein und Main bis an die Lahn stattgehabten Gewitter
zur Folge hatten und wobei unter Anderm erwähnt ward,
dass zahlreiche Blitzschläge in der Umgebung von Darm-
stadt und mehrere in Darmstadt selbst vorkamen. Die
Umstände, unter welchen letztere eintraten, veranlassten
mich zur näheren Erholung der Sachverhältnisse. Von den
15 Fragen , welche ich zu diesem Zwecke durch gefällige
Vermittlung der Redaction der Bayerischen Zeitung an den
Verfasser jenes Artikels richten konnte, konnten mir zwar
die wesentlichsten nicht näher erörtert werden; ein Theil
aber wurde in ausreichender Weise beantwortet. Da jener
Herr Correspondent selbst Interesse genug daran fand, um
die mir mitgetheilten Schilderungen in mehreren Artikeln
zum Gegenstand einer öffentlichen Besprechung (in mehreren
deutschen Zeitungen) zu machen, so mag es ausreichen,
aus dem mir zugekommenen umfassenden Berichte 3) so viel
hervorzuheben v als zur Beurtheilung der in Rede stehenden
Ereignisse als nöthig erscheint.
Die (von unserem Gewährsmann) beobachteten Gewitter zogen
von Osten nach Westen, und traten am 24. und 25. Juni in grosser
Ausdehnung und mit grosser Heftigkeit auf. Derlei Gewitter gehören
immer zu den seltenen Erscheinungen; der normale Zug ist fast in
2) Bayerische Zeitung, Morgenausgabe vom 30. Juni 1867.
8) Hiefür habe ich sowohl dem Herrn H. B. in Darmstadt, als
auch den Herren: Director Dr. Hügel, Ingenieur Zaubitz, sowie
den Prof. Dr. Bender und Dr. D res er, welche bei den Ermitte-
lungen sich freundlich betheiligten, meinen Dank auszusprechen.
250 Sitzung der math.-phys. Gasse vom 6. Juli 1867.
ganz Mitteleuropa aus SW. und W. gen NO. und 0. „In Darmstadt
erschien das erste jener Gewitter am 24. um 7 Uhr Abends. Ich
sah es vom grossen Wog aus, einem kleinen See, den der Darmbach
östlich Yon Darmstadt bildet. Ueber das Darmthälchen kam ein
Wolkenzug, der lagerte sich (buchstäblich) tintenschwarz in einem
grossen Bogen über das Thal. Unter ihm her zogen leichtere weisse
Wolken dicht wie der Dampf in einem Dampfbad, wie lange Barte
herabhängend; sie schienen herunter in den Wald zu reichen. Lang-
sam ging das Wetter vorwärts. Auf einmal ein ungeheurer Blitz,
der den ganzen Bogen von S. nach N. spaltete (im Winkel von
etwa 70°), dann in den Wald herein schlug. Bald darauf mehrere
gleiche Schläge; der Himmel wurde immer schwärzer; die Blitze leuch-
teten wie rothglühende Strahlen von geschmolzenem Eisen, die vom
Himmel sprühten; oft spielten sie ins Violette und beleuchteten die
Gegend weithin , wie mit bengalischem Feuer. Nach einer Viertel-
stunde kam ein sanfter Wind, der den See kräuselte, darauf ein
leichter, dann ein heftiger strömender Kegen, der erst zwischen 9
und 10 Uhr aufhörte, währenddem fortwährend heftige Schläge,
ich zählte deren 6 — 8, die in der Nähe vorkamen. Um 12 Uhr kam
ein zweiter Gewitterzug , der bis nach 2 Uhr (den 25. Juni) an-
dauerte. Die Blitzschläge waren noch stärker wie am Abend; sie
gingen meist senkrecht wie am Abend, sie schienen bläulich. Ich
zählte wieder etwa 6, die in nächster Nähe einschlugen (in Nieder-
Ramstadt und Eberstadt). Am folgenden Morgen und um die
Mittagszeit donnerte es fortwährend im Westen; es war ein Gewitter
in Oppenheim, Mainz und Wiesbaden. Am Abend um 10 Uhr kam
der dritte Gewitterzug, gleichfalls aus Osten. Gleich ein furchtbarer
Schlag, wie wenn ein ungeheurer hohler Thurm in sich zusammen-
stürzte; darauf noch mehrere, alle in unmittelbarer Nähe . . . Etwa
fünf Minuten nachher ein neuer Schlag, wie ein heftiges Rotten-
feuer . . . Ich spürte es wie einen Schlag mit der flachen Hand auf
den Kopf. . . . Ich hatte dem offenen Fenster zunächst gesessen)
und gegen eine Commode gelehnt; vielleicht mag ich dadurch die
Erschütterung stärker gespürt haben. Diess war der letzte Schlag;
dann fiel ein Platzregen, wie ich ihn nur einmal in ähnlicher Stärke
in dieser Gegend gesehen habe. — Ich wohne fast auf dem höchsten
Punkte von Darmstadt; kaum ein Dutzend Häuser stehen bis zu
dem Höhenpunkte der hier kreuzenden Strassen — Sand- und Stein-
strasse — , die ziemlich rasch abfallen. Südöstlich von meiner Wohn-
ung — in einer Entfernung von 200 Fuss — hatte der Blitz ein-
geschlagen. Der Blitz war zu gleicher Zeit in zwei Häuser gefahren,
Kuhn: Bemerkungen xiber Blitzschläge. 251
in das katholische Pfarrhaus und in das Schulhaus, die 30 Fuss von
einander entfernt stehen. Ausserdem schlug der Blitz in das Haus
der barmherzigen Schwestern und in einen Hof in der Waldstrasse,
im Ganzen zweimal in auffallender Weise dicht neben Blitz-
ableitern. Das Schwesterhaus und das Pfarr- und Schulhaus liegen
auf derselben Anhöhe, einem hier von Osten nach Westen gehenden
Ausläufer des Neunkircher Höhenzuges, auf der südlichen Seite des
Darmbaches ; das Haus in der Waldstrasse am Ende dieser Anhöhe
in der Ebene. Die drei Blitzorte sind je 6 — 700 Schritte von ein-
ander entfernt. Das Schwesterhaus liegt etwa 300 Schritte vom
Wog und ebenso weit von der Gewerbschule. Letztere ist mit gut
construirten Blitzableitern versehen; auf dem Schwesterhause, dann
auf dem Pfarr- und Schulhause ist kein Blitzableiter, hingegen ist
das Nachbarhaus nach Süden, das (an das Pfarrhaus?) angebaut ist,
mit einem Blitzableiter versehen, und ebenso steht auf dem Hause
in der Waldstrasse ein ■ — 12 Fuss hoher — Blitzableiter. Auf der
Kirche (_im Westen) steht ein Blitzableiter, in horizontaler Richtung
bis zum Pfarrhaus auf 150 Fuss Entfernung. Ferner stehen ringsum
nach N., 0. und S. drei Blitzableiter auf 150 bis 200 F., noch zwei
nach 0. und W. auf 300 F. , -einer auf 400 F., und auf 500 F. (in
der Hügelstrasse) eine ganze Reihe, fünf nebeneinander und einer
gegenüber. Die sämmtlichen Häuser sind fast alle 50 bis 60 Fuss
hoch, die Kirche mit der Kuppel ungefähr 150 F., der Blitzableiter
darauf 30 — 40 F. hoch. Ueberhaupt ist dieser Stadttheil wie fast
die ganze Neustadt mit Blitzableitern reichlich versehen. Die Blitz-
ableiter bestehen fast alle aus 1 bis ll/i Zoll breiten und V3 Zoll
dicken Eisenstangen ; oben ein vergoldetes Kreuz, dann läuft — aber
meist nur ein einziger — Ast über das Dach nach dem Boden hin. Auf
dem Palais des Prinzen Ludwig läuft ein kupferner Blitzableiter über
das ganze Haus; nach 3 Seiten gehen 4 Aeste von V4 Zoll starkem
Kupferdraht in den Boden."
Von dem, was über die Spuren der Blitzeseatladungen an den
angeführten vier Objecten mitgetheilt wurde, mag Nachstehendes
hervorgehoben werden :
„Das Pfarrhaus steht an der Wilhelminen-Strasse 50 Fuss von
der katholischen Kirche; das Schulhaus hinter diesem getrennt im
Huf. Das Pfarrhaus hat ein vierseitiges Dach; der Blitz schlug in
die östliche Wand. Das Schulhaus hat ein zweiseitiges Dach , mit
dem Giebel nach dem Pfarrhaus; der Blitz schlug in diesen west-
lichen Giebel. Das auf der südlichen Seite an das Pfarrhaus an-
gebaute und mit diesem von gleicher — beiläufig CO Fuss — Höhe ist,
252 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
wie erwähnt, mit einem Blitzableiter verseben; hinter dem nörd-
lichen Nachbarhause (des Pfarrhauses) steht ein mit Zink gedeckter
kleiner Anbau, dessen Dach mit einem Bau verbunden ist, an wel-
welchen das Schulhaus mit seiner hinteren östlichen Seite anstösst.
Das Zinkdach, von beiden Einschlagpunkten im Vorder- und Hinter-
haus 30 — 40 Fuss entfernt, ward als unbeschädiget befunden. Von
dem Pfarrhaus führt vom Treppenfenster zwischen dem 2. und 3.
Stocke ein Schellenzug nach dem Fenster der Wohnung des Küsters
im Dachgeschosse des Schulhauses. Beide Fenster sind 40 Fuss vom
Boden; an beiden Punkten schlug der Blitz zugleich ein. Am Vorder-
haus fuhr er gerade an der Oeffnung , durch die der Glockenzug
geht, hinein, am Treppenbau hinab, Zickzack hin und her, dann
durch eine Seitenwand an dem Gussrohre hinab in die Cloake. Am
Hinterhaus fuhr er eine Spanne von dem Schellendrahte entfernt
durch ein kleines Loch in dem Fensterbalken in das Zimmer nach
dem gegenüberstehenden Ofen, von da schlug er ein kleines Loch
durch die Seitenwand, ging durch die untere Wand durch die zwei
Stockwerke, an der senkrechten Wand die Verkleidung los schleissend
und, wie mir scheint zur Hausthüre- (?) hinaus. Der Küster und
seine Frau (kamen mit dem Schrecken davon , denn sie) waren in
der an die Dachstube anstossenden Dachkammer gesessen. Die Frau
sah den Blitz am Boden sich hinbewegen; sie will die Erscheinung
in Gestalt eines Apfels oder einer Birne, als Feuerkugel gesehen
haben. Von dem Schrecken, den diese Erscheinung in ihr erregte,
hatte sich die Frau erst nach acht Tagen wieder erholt. — Die
beiden Blitzhäuser haben keine Gas- und keine Wasserleitung; ein
einfacher verdeckter Brunnen ist im Hof . . ." An dem Blitz-
ableiter des Nachbarhauses sowie auch an dem der katholischen Kirche
waren keine Spuren der Entladung wahrzunehmen. Nachträglich
wird aber im Berichte bemerkt, „dass der Blitzableiter des
(angebauten) Nachbarhauses vor dem Einschlagen gerasselt
habe".
„Das Haus der barmherzigen Schwestern ist zweistöckig, etwa
50 Fuss hoch, steht von Süden nach Norden und ist neu aus Steinen
gebaut. Der Blitz schlug auf der Westseite ins Dach, in das nörd-
liche Dachzimmer, spaltete sich dort, ging mit einem Zug von
einem Balken herab, den er vom Speis entkleidete und wobei einige
Wäsche an einem Nagel gezündet wurde, und gelangte in das untere
westlich gelegene Schlafzimmer der Schwestern, wo die Spuren in
Zickzack an den Betten her wahrgenommen wurden, und von wo
aus der Weg in das untere Zimmer der Oberin und nach dem
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 253
Keller ging. Ein zweiter Zug ging nach der andern Seite durch
die Wand nach dem Treppenhaus, theilte sich da wieder; ein Theil
ging am Treppenhaus herab, ein anderer nach dem Gussrohre in
die Cloake. In den unteren Stockwerken geschah ausser dem Zer-
stören des Schellendrahtes und dem Abschleissen der Speis kein
weiterer Schaden . . . An dem Einschlag war nichts Aussergewöhn-
liches, als dass er nicht auf die Spitze, sondern die Seite des Hauses
traf. Merkwürdig aber war, dass bei diesem augenscheinlich von
Norden kommenden Strahl (?) eine Feuerflamme in dem südlichen
Theil des Hauses gesehen wurde, der von dem Strahl sonst gar
nicht getroffen war. Die Frau Oberin — welche während des Er-
eignisses in der Kapelle auf der entgegengesetzten südlichen Seite
sich aufhielt — will ganz deutlich eine züngelnde Flamme um die
heilige Lampe gesehen haben, ehe sie den Schlag hörte".
„In der Waldstrasse fuhr der Blitz etwa 12 F. vom westlichen
und 4 F. von dem südlichen Flügel herab in den Rasen, beschrieb
im Zickzack einen 6 F. langen, 4 F. breiten Dreiviertelovalring
und verschwand in die Erde. Die Furchen, die er zog, sind 1/i—l F.
tief, an einzelnen Stellen sind V/2 — 2 F. tiefe Löcher. Die Richtung
geht von W. nach 0., vom Blitzableiter her. Der Einschlagpunkt
ist von der Auffangstange kaum 24 F. entfernt; diese schätzte ich
auf 12 F. Höhe . . . Die Theorie (hier meint unser Gewährsmann
die Charles'-Arago'sche Regel für den sogenannten Schutzkreis)
wurde nicht vollkommen entkräftet, weil der Blitzableiter ziemlich
gerostet ist, und nur in trockenes sandiges Erdreich abgeleitet
wird, während unter dem Einschlagpunkt ein Senkloch sich befindet,
das den Blitz anziehen konnte".
Versuchen wir es nun, an die eben erwähnten Blitzes-
ereignisse unsere bei früheren Gelegenheiten auseinander-
gesetzte Erklärungsweise als Prüfstein anzulegen, so können
wir zunächst bestätigen, dass die am Eingänge des vorstehen-
den Berichtes angegebenen Erscheinungen zu den wirklichen
Blitzschlägen gehörton. Vermöge der für solche Vorgänge
äusserst günstigen Terrainbeschaffenheit konnten durch die
langsam vorwärts von 0. gen W. ziehenden und immer
dichter gewordenen elektrisirten Wolkenmassen weit aus-
gedehnte unterirdische Wasserstrecken der Influenz ausgesetzt
werden, mit denen sicherlich einzelne an Abhängen gelegene
[1867. II. 2.] 17
254 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
Bäume oder Bauingruppen des getroffenen Waldes in dis-
continuirlicher leitender Verbindung stehen mussten, da die
Blitzesentladung nicht direct gegen den Wald, sondern in
einem langen Bogen statt fand. Erst als die Wolken-
gebilde auf ihrem Zuge sich tiefer gesenkt hatten, konnte
die Bahn des kürzesten Leitungswiderstandes mittelst der
tief herabhängenden Wolken zwischen dem elektrisirten Ge-
bilde und der unterirdischen Wasserstrecke durch die her-
vorragendsten und am tiefsten wurzelnden etc. Bäume her-
gestellt und die Ausgleichung zwischen der negativ mit der
Wolke geladenen oberirdischen Strecke und einem Theile
der Ladung der Wolke als eigentlicher Blitz auftreten. Da
diese Blitzeserscheinungen — nach der oben gegebenen Be-
schreibung — nicht von momentaner Dauer waren , so
müssen dieselben als eine Folge von discontinuirlichen rasch
auf einander folgender Entladungen bei jedem der am An-
fange statt gehabten Vorgänge betrachtet werden4). Von
den während der Nacht — von 12 bis 2 Uhr — aufgetre-
tenen Ereignissen wurde ohnehin die directe Entladung der
Gewitterwolken gegen die Erde durch unmittelbare Wahr-
nehmung constatirt ; dieselbe war viel heftiger , „die Blitze
gingen meist senkrecht, wie am Abend (?)", es waren näm-
lich die Umstände durch den schon im Voraus stattgehabten
starken Regen noch günstiger vorbereitet, wie am 24. Abends.
Diesen Vorgängen mag es auch zuzuschreiben sein, dass die
innerhalb jener zwei ersten Perioden durch die gleichen
Gewitterzüge5) aufgetretenen Entladungen an oder in der
4) In einem der uns vorliegenden Zeitungsberichte heisst es
unter Anderm (aus Nidda) bezüglich dieser Gewitter: „Das elek-
trische Licht, welches oft 8 — 10 Sekunden dauerte, war so stark und
dicht, dass man in weiter Ferne beinahe den kleinsten Gegenstand
unterscheiden konnte".
5) Am 24. und 25. Juni kamen in den gedachten Gebieten
mehrfach Blitzschläge vor. Ob aber diese sämmtlichen Erscheinungen
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 255
Nähe von Gebäuden im Allgemeinen keine bedeutenden
Wirkungen zum Vorschein kamen, da die Gewitterwolken
den gleichen Gewitterzügen zugeschrieben werden dürfen , oder ob
letztere von einander unabhängig auftraten , lässt sich wohl erst
durch eine nähere Untersuchung entscheiden. Vorläufig dürften
wohl einige Notizen hierüber nicht uninteressant sein ; so wird aus
Nidda vom 25. Juni geschrieben: „Per gestrige Tag — Johanni-
tag — wird Vielen lang im Gedächtniss bleiben. Gestern Vormittag
schon um 9 Uhr donnerte es stark und viele schwere Wetter stiegen
im Westen auf und bewegten sich über das Niddathal nach Osten
hin. Um 41/-* Uhr verkündete starker Donner und Blitz die Rück-
kehr der über unsere Stadt hingezogenen Gewitter...." — 'Aus
Lang-Göns (16 Stunden nordwestlich von Nidda) wird unter Anderm
geschrieben: „Unser Ort wurde am 24. d. Mts. von sehr starken
Gewittern heimgesucht. Dieselben währten fast ununterbrochen von
Morgens bis tief in die Nacht. Fast alle kamen von Nordosten her-
angezogen und schienen sich nur so einander abzulösen. Der Blitz
schlug bei dem ersten Gewitter, das nur aus drei Schlägen bestand,
und sich in unmittelbarer Nähe entwickelt haben muss,
in das hiesige Stationsgebäude (an der Main-Nekar-Bahn, 2 Stunden
südlich von Giessen) ein" In Neuwied — 3 Stunden unterhalb
der Lahnmündung, etwa 30 Stunden östlich von Nidda — kamen
die Gewitter mit Verheerungen zwischen 3 und 4 Uhr vor. Gleich-
zeitig finden wir aus den vorliegenden Berichten über die Gewitter
im Odenwalde, in der Wetterau, u. s. w., dass an dem gleichen
Tage starke Gewitter im Schwaben, in der Rheinpfalz, im Thüringer—
wald, dann im bayerischen Oberfranken, ferner in Mähren u. s. w.
statthatten; es dürfte daher vorläufig anzunehmen sein, dass diese
sämmtlichen Gewittererscheinungen, welche im entferntesten Osten
noch am 28. Juni noch nicht zu Ende waren, wohl einer und der-
selben oder vielmehr einem Complexe primitiver Entstehungsquellen
zugeschrieben werden dürfen , dass hingegen von dem Zuge eines
und desselben Gewitters innerhalb der Periode vom 24. mit 20. Juni
keine Rede sein kann. Eine spätere nähere Untersuchung wird viel-
mehr vermuthlich herausstellen, dass jedes einzelne jener Gewitter
hauptsächlich durch locale Wirkungen bedingt wurde, und dass
daher letztere auf eine und dieselbe Grundursache zurückzuführen
sein dürften.
17*
25G Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
schon vorher auf ihrem Wege über Wasserflächen, Fluss-
thäler und Waldungen einen grossen Theil ihrer Ladung
verloren hatten6).
6) Unter den am 24. Juni am Tage und vom 24. auf den 25. Juni
vorgekommenen Blitzschlägen mögen mehrere hier bloss kurz auf-
gezählt werden: In Lang-Göns wurde beim ersten Gewitter das
Stationsgebäude getroffen und der Telegraphenapparat zerstört, beim
zweiten wurde eine Scheuer getroffen; in beiden Fällen ohne zu
zu zünden. In Neuwied „schlug ein kalter Blitzstrahl gegen halb
4 Uhr in den Thurm der katholischen Kirche" In Gräven-
wiesbach (4 St. westl. von Wetzlar, 9 St. östl. von Nidda an der
westl. Abdachung der Taunushöhe) „brannte eine vom Blitze ge-
troffene Scheune ab und wurde ein Wohnhaus beschädiget, eine Kuh
verunglückte dabei. In Echzell (2 St. südwestwestlich von Nidda)
„fuhr ein Blitestrahl mit furchtbarem Krachen auf den Kirchthurm"
ohne zu zünden; in Melbach (3 St. südwestwestlich von Nidda)
wurde eine Scheuer vom Blitze in Brand versetzt, eine Wohnung
von einem anderen Schlage getroffen ohne weitere Beschädigungen.
In der bei Eberstadt (1 St. südl. von Darmstadt) gelegenen Krugs-
Mühle ist durch den Blitzschlag eine Scheuer in Brand versetzt
worden. In Nieder-Kamstadt (gleichfalls im Modauthal, 1 St. von
Darmstadt) „schlug der Blitz in den Kirchthurm, ohne zu zünden.
In der Nähe von Därmstadt wurden mehrere Bäume vom Blitze ge-
troffen". — In nächster Nähe von Nidda wurden während der beiden
Gewitterzüge 8 verschiedene Bäume getroffen. — In Weiterstadt
(1 St. von Darmstadt nordwestl. von der Eisenbahn nach Mainz)
schlug der Blitz bei Abgang des letzten Eisenbahnzuges am 24. Juni
in eine Signallaterne ... Im Walde nahe bei Wiesbaden wurde am
24. Nachmittags ein junger Mann vom Blitze getroffen uud bedeutend
verletzt. In Günsheim (eine halbe Stunde vom linken Bheinufer,
5 St. von Darmstadt) hat der Blitz am 25. Juni Vormittags 11 Uhr
in das Pfarrhaus eingeschlagen; die Bahn ging vom Schornstein zum
geheizten Heerd und von der Küche in die Erde; dabei heisst es
u. A.: „es scheint, als ob sich die Kraft des Blitzes getheilt habe,
denn hie und da im Hause findet man kleine Beschädigungen".
Weiter kamen Blitzschläge vor, in Speyer und Neustadt (Pfalz), in
Ettenbeuern (Schwaben), in Ebersdorf (in der Rhön), Brückenau,
Kahn: Bemerkungen über Blitzschläge. 257
Was nun die in Rede stehenden Blitzesereignisse vom
25. Juni 10 Uhr Abends betrifft, so muss zunächst ein
Umstand hervorgehoben werden, der uns als besonders
wichtig erscheint. Die beiden in der vorausgegangenen Nacht
vorgekommenen Gewitter hatten nämlich dieselbe Richtung
und waren von nicht geringerer Intensität als das am Abend
des 25., und dennoch wurden bei letzterem solche Objecte von
Blitzschlägen heimgesucht, welche vorher verschont blieben,
und selbst diessmal hat man kein Blitzesereigniss an den-
jenigen benachbarten Gebäuden wahrnehmen können, deren
Blitzableiter weit über die getroffenen hervorragen. Die Ur-
sache des sogenannten Einschiagens darf also — wie wir bei
einer früheren Gelegenheit ausführlich erörtert haben — nicht
bloss in der Anordnung und Beschaffenheit etc. der Ge-
bäude und anderer irdischer Objecte gesucht wurden, über
welche die Gewitterwolke hinwegzieht, sondern sie muss
hauptsächlich von der Terrainbeschaffenheit und von der
Lage des Objectes bezüglich der Gewitterwolke und der
ausgedehnten unterirdischen Wasserstrecken abhängig sein.
In der That finden wir auch aus der vorliegenden Beschreib-
ung, dass Gebäude von geringer Höhe vom Blitzschlage be-
rührt wurden , und dass selbst an jenen die Spuren der
Entladung nicht an den hervorragendsten Stellen , sondern
nur da sich vorfanden, wo sich Strecken von Constructions-
theilen etc. befinden, die der elektrischen Influenz etc. fähig
sind. Ausserdem finden wir aber noch darin den wesent-
lichsten Unistand, dass — vermöge der uns vorliegenden
Zeitungsberichte — vom 24. Juni Nachmittags bis 25.
Morgens 2 Uhr massenhafte Niederschläge in jenen Gebieten
stattgefunden haben, und zwar in solcher Menge, dass tief
Grossostheini (bei Aschaffenburg), Gräfenberg, Forchheim und Selb
(Überfranken) u. 8. w., die wir für jetzt bloss vorübergehend an-
führen; über den in Forchheini wird unten berichtet werden.
258 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
gelegene Wohnungen und Keller schon während der Regen-
güsse unter Wasser standen; um so mehr darf also an-
genommen werden, dass nicht bloss die oberen Erdschichten
an den Abhängen noch am Abend des 25. Juni reichlich
durchnässt waren, sondern dass auch das Niveau des unter-
irdischen Wassers auf eine bedeutende Höhe gestiegen sein
musste und vielleicht sogar noch nicht einmal seine grösste
Höhe erreicht hatte, als der dritte Gewitterzug. herankam.
Jene Anomalie kaun daher nur dadurch ihre erkleckliche
Erklärung finden, wenn wir annehmen, dass die an der ge-
dachten Anhöhe und an ihrem Ende befindlichen Gebäude
die günstigsten Umstände für die bei der gegen das Grund-
wasser von Seite der Gewitterwolke ausgeübten Influenz ein-
getretenen Entladungserscheinungen dargeboten haben, dass
also jene Objecte in nächster Communication mit der unter-
irdischen Wasserstrecke standen. Dass übrigens jene An-
höhe auf Grundwasser ruhen müsse, zeigt uns schon die
Terraingestaltung jenes Gebietes. (In der Nähe eines der
getroffenen Häuser befindet sich ein selbstständiger Brunnen,
wie oben erwähnt wurde, und vermuthlich sind deren noch
mehrere an jenem Abhänge aufzufinden.)
Unsere Erklärung der oben angeführten Blitzesereignisse
auf der von Osten nach Westen gehenden Anhöhe des
Darmthaies besteht daher beiläufig in Folgendem; Die von
Osten nach Westen gezogene elektrisirte Wulkenmasse hat
in einer grossen Ausdehnung die unterirdischen Gewässer,
mit welcher die Thalsohle in leitender Verbindung stand,
nebst der ganzen darüber befindlichen Erdstrecke durch
Influenz in den polarisch elektrischen Zustand versetzt;
in Folge der gegenseitigen Anziehung der Ladung der
Wolke und der mit ihr ungleichnamigen an der Wasser-
oberfläche etc. angehäuften Elektricitätsmenge wurde letztere
über den ganzen Complex der oberirdischen Objecte, die
selbst, je nach ihrer Leituugsfähigkeit an der Influenz An-
Kulm: Bemerkungen über Blitzschläge : 259
theil nahinen, verbreitet und über dieses discontinuirliche
Leitungssystem in der Art angesammelt, wie es die Ver-
keilung unter den herrschenden complicirten Umständen
erforderte. Fand nun die Entladung der Wolke durch einen
wirklichen Blitzschlag statt, so musste die Bahn des kürze-
sten Leitungswiderstandes , welche schon während der In-
fluenz gewählt wurde, als Schliessungsleiter die ungeheuren
Elektricitätsmengen von dem zugewendeten Theile der Wolke
aus bis zum Grundwasser aufnehmen und zur Ausgleichung
bringen, da mau für alle hier vorliegenden Fälle wohl an-
nehmen darf, dass die indifferente Stelle an der Wasser-
oberfläche selbst oder in deren nächster Nähe sich ver-
mutlich befinden musste. Geschah aber die Entladung der
Wolke in der Atmosphäre selbst , so musste in diesem Mo-
mente die ganze durch Influenz nach Oben gedrängte und
an den äussersten Stellen der Gebäude etc. angehäufte
Elcctricitätsmenge in die unterirdische Wasserstrecke sich
ergiessen. Ob nun die Vorgänge in der einen oder anderen
Art statt fanden, kaun aus den hierüber bekannt gewordenen
Mittheilungen nicht beurtheilt werden. In dem einen wie in
dem anderen Falle würden keinerlei Wirkungen im Gebäude
selbst etc. wahrgenommen worden sein, wenn die für die
Influenz ausgewählten Strecken continuirlich und von hin-
reichender Leitungsfälligkeit gewesen wären. Dieser Beding-
ung wurde aber in keinem der vorliegenden Fälle Genüge
geleistet, und gerade hierin ist die Ursache der bei den Blitz-
schlägen aufgetretenen Erscheinungen zu suchen.
Die Bahn des kürzesten Leitungswiderstandes lässt sieh
weder bei dem Blitzesereignisse am Pfarr- und Schulhause
noch an dem im Schwesterhause mit Hülfe der oben an-
gegebenen s. g. Spuren des Blitzes angeben. Mit einiger
Wahrscheinlichkeit kann vermuthet werden, dass am Pfarr-
hause diese Bahn direct vom Grundwasser aus durch die
durchnässten Erdschichten an der Cloakc und endlich durch
260 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
das eiserne Gussrohr und die oberen Theile der östlichen
Mauerwand des Hauses vermittelt wurde. Da diese Bahn
— wie es scheint — nur »um geringsten Theile aus guten
Leitern (Gussrohr, Klammern in den Wänden etc.) be-
stand , die selbst durch die übrigen Strecken von einander
gleichsam isolirt waren, so konnten die in der discontinuir-
lichen Leitungsstrecke befindlichen elektrisirten Leiter selbst
wieder Influenzerscheinungen hervorbringen, welche ihrer-
seits die anderen der beobachteten Nebenwirkungen zur
Folge hatten. Nach den Spuren zu urtheilen , die sich im
Schulhause vorfanden und mit Rücksicht auf die discontinuir-
liche leitende Verbindung , welche vom westlichen Giebel
dieses Gebäudes aus — theilweise auch von dem Zinkdache —
nach dem östlichen Giebel des Pfarrhauses geht, dürfte es
übrigens nicht unmöglich sein, dass in dem Augenblicke,
in welchem der eigentliche Entladungsstrom auf dem ge-
nannten (vermutheten) Wege eintrat, auf der zweiten Bahn
gegen das Schulhaus hin eine Seitenentladung vorkam,
welche oben als ein Zweig des Blitzstrahles bezeichnet wurde,
und welchem alle auf diesem Wege wahrgenommenen Wirk-
ungen dann zuzuschreiben wären. Jedenfalls aber ist das
ganze System in der Nähe dieser Gebäude und daher auch
das Nachbarhaus mit seinem Blitzableiter auf directe oder
indirecte Weise in den influencirten Zustand versetzt worden,
so dass Entladungsströme der verschiedensten Art dabei
vorkommen konnten ; die dabei beobachteten physiologischen
Wirkungen deuten darauf hin, dass Rückschläge auf einem
grossen Theile der betreffenden Erdstrecke stattgefunden
haben müssen. Jener einzige Blitzableiter des an das Pfarr-
haus angebauten Nachbarhauses würde das Eintreten jener
Blitzeswirkungen verhütet haben, wenn seine Ausleitung in
die unterirdische Wasserstrecke vorhanden gewesen und
durch Zweigleitungen der obere Theil desselben mit den
Giebeln und Dachkanten der angrenzenden Häuser in ge-
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 261
höriger Weise verbunden gewesen wäre; die Höhe der Auf-
fangstange selbst hatte dabei im Allgemeinen keinen maass-
gebenden Einfluss.
Die im Hause der bannherzigen Schwestern beobachte-
ten Erscheinungen sind nach der obigen Schilderung viel
zu complicirt, als dass es ohne nähere Kenntniss jener
Räumlichkeiten möglich wäre, die Bahnen des eigentlichen
Entladungsstromes von denen der durch diesen sowie durch
Influenz erzeugten Seiten- und getrennten Entladungen etc. ver-
folgen zu können. Die eigentliche Ausleitung oder vielmehr
der Weg des kürzesten Leitungswiderstandes , auf welchem
vor dem Einschlagen die Influenzelektricität vom Grund-
wasser aus durch die Erdschichten sich verbreitete, kann
sowohl an der Cloake als auch am Keller angenommen
werden ; ob die ungeheuren hier frei gewordenen Elektricitäts-
mengen beide Wege längs der an den Wänden und im
Treppenhaus sowie am Dache sich vorfindenden metallischen
und Halbleiter etc. gleichzeitig angenommen haben, lässt
sich wohl vermuthen, aber nicht mit Sicherheit behaupten.
Alle übrigen im Schwesterhause beobachteten Erscheinungen
dürften lediglich den durch Influenz in grösseren oder
kleineren Entfernungen gegen isolirte discontinuirliche Metall-
strecken entstandenen Entladungsströmen zuzuschreiben sein,
deren nähere Präcisirung weitere Detailuntersuchungen an
den betreffenden Orten selbst erfordern würde.
Die Lichterscheinungen, welche an den beiden soge-
nannten Blitzhäusern am Boden und überhaupt in den
unteren Räumen der Gebäude etc. beobachtet wurden,
bieten nichts Sonderbares, sie mussten sogar in noch grösserer
Zahl zum Vorschein kommen, da an jeder Unterbrcchungs-
stelle, welche einem der eingetretenen Entladungsströme dar-
geboten wurde, solche Lichterscheinungen unter sonst gleichen
Umständen in um so höherem Grade auftreten, je grösser
die Men^e und Dichte der an ihren Enden influencirten
262 Sitzung der math.-phys. Glosse com 6 Juli 1867.
Elektricität und je grösser diese Schlagweite ist. Ob hiebei
zugleich materielle Substrate im feinst vertheilten Zustande
innerhalb des stark erhitzten Luftstromes von einem Ende
der Unterbrechungsstelle zum anderen als leuchtende Materie
geführt werden konnte, dürfen wir — bekannter Thatsachen
halber — nicht in Abrede stellen ; es kann daher allerdings
die Frau Küsterin eine derartige Erscheinung am Boden
der genannten Dachstube zwischen dem eisernen Scharnier
am Fenster oder irgend einem anderen metallischen Ob-
jecte in der Nähe des Bodens und einer kleineren oder
grösseren Metallstrecke am Ofen gesehen haben, über deren
Gestalt wohl schwerlich eine genaue Angabe zu liefern ist;
eine „Feuerkugel" in gewöhnlichem Sinne dieses Ausdruckes
war es nicht. Ebenso ist die Möglichkeit vorhanden, dass
bei einer Ladung von so mächtiger Dichte und Menge wie
sie an der Umfassung des ganzen Hauses der barmherzigen
Schwestern vorkam, unmittelbar vor dem Einschlagen alle
isolirt aufgehängten oder sonst wie angeordneten und isu-
lirten metallischen Objecte durch Influenz elektrisirt wurden,
und in diesem Zustande elektrische Lichtbüschel an Ketten
und anderen metallischen Objecten wahrgenommen werden
konnten. Die züngelnde Feuerftamme, welche die Frau
Oberin an einer Lampe in der südlich liegenden Kapelle
vor dem Einschlagen gesehen hat, möchte daher einer der-
artigen Erscheinung zuzuschreiben sein; letztere musste
auch in dem Augenblicke wieder verschwinden, in welchem
die Entladungsströnie als Blitzschlag auftraten.
Aus den mechanischen Wirkungen und den Detona-
tionen, wie sie oben geschildert wurden , können wir bloss
entnehmen, dass nicht allein die Menge und Dichte der zur
Ausgleichung gekommenen Elektricitäten von mächtiger
Stärke gewesen sein müsse, sondern dass auch gleichzeitig
Entladungsströme an sehr vielen Stellen über schlechte
Leiter — Stein- und Sandschichten etc. — von der ver-
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 263
seliiedensten Beschaffenheit und grosser Ausdehnung sich
verbreiten mussten. Es liisst sich daher vermuthen, dass
auch die nächst liegenden Gebäude in der Sphäre der In-
flueuz sich befanden , dass jedoch bei diesen die Wirkungen
sich lediglich auf die (im Boden wahrscheinlich vorgekom-
menen Durchbohrungen u. dgl. und) heftige Erschütterungen
und Schallerscheiuungen sich beschränkten, weil die an den-
selben befindlichen Blitzableiter den Ladungen und Ent-
ladungen die Bahn schon vorgeschrieben hatten.
Einfacher erscheint das Ereigniss an der Waldstrasse;
hier lässt sich mit grosser Vvahrscheinlichkeit vermutheu,
dass die Bahn des kürzesten Leitungswiderstandes von dem
oben erwähnten Senkloche aus — das vermuthlich dem
Niveau des Grundwassers am nächsten lag — in den feuchten
Eid- und Sandschichten unmittelbar zum unteren Theile des
Blitzableiters selbst ging, der nicht mit dem Grundwasser
in Coiumunication stand , und weshalb jene mechanischen
Wirkungen und JKrdaushebungen den Entladungsstrom be-
gleiteten.
Die vorliegenden Thatsachen über die in Darmstadt
vorgekommenen — Dank der Vorsehung — äusserst seltenen
Blitzesereignisse haben unsere Betrachtung insbesondere des-
halb in so umfassender Weise in Anspruch genommen, weil
dieselben zu den wichtigsten Belegen gegen die Annahme
gehören, als ob der Blitzstoff — wenn wir uns dieses Aus-
druckes bedienen dürfen — von der Wolke gegen die Erde
ströme und hier in der verschiedenartigsten Entladungsweise
durch die im Wege stehenden irdischen Objecte gehen müsse,
um endlich in den Boden selbst gelangen zu können. Unter
Anwendung der einfachsten und längst bekannten Lehren
hingegen lässt sich mittelst jener Thatsachen von Neuem
zeigen, dass die Ursache eines jeden Blitzschlages in der
Influenzfähigkeit der Terrainschichten, über welche die Ge-
witterwolke hinwegzieht, zunächst gesucht werden, al^o von
264 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
der Ausdehnung und der Lage des Niveau's der Wasser-
strecken abhängig sein muss, auf oder an welchen die be-
treffende Erdstrecke sich befindet; dass hingegen die an
der Erde selbst in Folge des Blitzschlages zu Stande ge-
kommenen Wirkungen an Gebäuden, Blitzableitern etc. ledig-
lich den Entladungserscheinungen zugeschrieben werden müssen,
welche jene Influenz zur Folge hatte. Wenn wir so unsere
bei früheren Gelegenheiten erörterte Anschauungsweise und
die dort daraus gezogenen Folgerungen wiederholt als be-
stätiget ansehen, so dürfte nunmehr auf die Umstände selbst,
unter welchen die ihrer Entstehungsweise nach als bekannt
anzusehenden Blitzesentladungen an irdischen Objecten auf-
treten, besonders aufmerksam zu machen sein. Die Wirk-
ungen nämlich, welche hiebei zum Vorschein kommen
können, sind zum Theile noch so räthselhafter Natur, dass
für manche dieser Erscheinungen eine genügende Erklärung
nicht gegeben werden kann, ohne dabei Hypothesen zu Hülfe
zu nehmen, welche durch Analogien bis» jetzt noch nicht
gerechtfertiget werden können. Zu diesen Erscheinungen
gehören namentlich die mechanischen und Wärmewirkungen,
und die sie begleitenden Schallerscheinungen, deren Auf-
treten an eine Quelle von Explosionskräften unwillkührlicl
erinnern muss, für welche uns alle Anhaltspunkte für jetz
noch zu fehlen scheinen. Es ist wohl bekannt, dass alle
Wirkungen eines Entladungsstromes von seiner Stärke, von
der Art und Weise der Entladung, von der Beschaffenheit
und Natur der im Schliessungsbogen enthaltenen Stoffe, von
der Anordnung des letzteren u. s. w. abhängig sein müssen;
die hierüber bekannt gewordenen Untersuchungsresultate
reichen jedoch nicht aus, um die bei Blitzesentladungen zu-
weilen vorkommenden Erscheinungen genügend erklären zu
können , abgesehen davon , dass wir über die Vertheilung
und Anordnung der Elektricität an den durch Influenz von
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 265
Seite einer Gewitterwolke elektrisirten Körpern wohl nie-
mals präcise Aufschlüsse erhalten werden.
Unter den mir bekannt gewordenen während der Ge-
witter des Monates Juni eingetretenen Blitzschlägen verdient
ein in Forchheim vorgekommenes Ereigniss hier noch be-
sondershervorgehoben zu werden, theils deshalb, weil es unserer
gedachten Anschauungsweise abermals einen wesentlichen Be-
leg liefert, nicht minder aber der Wirkungen halber, welche
die Entladung begleiteten. Ueber diesen Fall lasse ich hier
einen sehr gründlichen Bericht 7) im Auszuge folgen, welcher
die Beantwortung mehrerer Fragen enthält , die über die
stattgehabten Vorgänge genügenden Aufschi uss zu geben ge-
stattet; leider konnten die Spuren im Boden selbst nicht
näher verfolgt werden:
,,Das Haus zu Forchheim, in welches der Blitz am 24. Juni 18G7
Abends 4 Uhr einschlug, wird von einem Fallmeister mit Familie
bewohnt, und steht, wie es schon des Fallmeistergeschäftes wegen
sein muss, ganz isolirt auf einem Anwesen , das von anderen Woh-
nungen ferne liegt. In der Nähe des Hauses — 72 bayr. Fuss davon
entfernt — vereinigen sich zwei Arme des Flüsschens Wiesent, das
sich dann in der Nähe in die Regnitz , die in einer Entfernung von
310 Fuss an diesem Hause vorbeifliegst, ergiesst. Der Donau-Main-
Kanal dagegen ist 2080 und die Eisenbahn ist gegen 2790 F. von
diesem Hause entfernt. Das Bezirksamtsgebäude, welches innerhalb
der Festungsmauern liegt und mit Blitzableiter versehen ist, — die
übrigen Gebäude daselbst haben keine Blitzableiter — ist nördlich
vom Hause des Fallmeisters und in gerader Linie 1210 bis 12G0 F.
davon entfernt. Auf die gestellten Fragen wird Folgendes bemerkt:
7) Diesen Bericht habe ich meinem Freunde, dem kgl. Herrn Bau-
beamten Ilatzel in Bamberg zu "verdanken. Mein Freund bemühte
sich auf mein Ansuchen selbst nach Forchheim, und nahm hier in
sachgemässer Weise die Untersuchung so weit vor, als es die herr-
schenden Umstände erlaubten. Die mir freundlichst angelegten
vier graphischen Darstellungen lassen über die Spuren der Entlad"
ung nicht den mindesten Zweifel übrig.
266 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
1) Ueber Richtung, Zug und Dauer des Gewitters am 24. Juni 1867
konnte man keine genauen und zuverlässigen Mittheilungen mehr
erhalten. 2) Das vom Blitz getroffene Gebäude des Fallmeisters ist
nicht mit Blitzableiter versehen. 3) Dieses Gebäude ist zweistöckig,
und hat bis zum First eine Höhe von etwa 27 Fuss. Die an der
Westseite angebauten Nebengebäude sind um 10 F. niedriger, zwei
isolirt südlich davon stehende Nebengebäude sind nur 10 bis 12 F.
hoch. Die östliche — oder vielmehr etwas südöstliche — Giebelseite
des Hauses wurde allein vom Blitze getroffen. 4) Der Haussockel
liegt circa 5 Fuss über dem Niveau des jetzigen Wasserstandes der
Wiesent und Regnitz (vom 18. Juli). Das Terrain um das Gebäude
besteht aus Sand (Alluvium). 5) Im Boden sind keine Spuren des
Blitzschlages bemerkt worden. 6) Die Bewohner wurden vom Blitz-
schlage betäubt, konnten daber keine Aufschlüsse über die Licht-
erscheinungen geben. Von anderen Personen wurde der Blitzschlag
nicht bemerkt, da das Gebäude ganz isolirt liegt. (Die beiden ver-
schont gebliebenen Kinder — s. unten — dürften jedenfalls durch
die Lichterscheinungen verscheucht worden sein)".
„Die Umfangswände des Gebäudes bestehen aus Riegelwerk von
0,5 Fuss starkem Holze, deren Fache mit Backsteinen und Sand-
steinen ausgemauert und mit Mörtel verputzt sind. Die Bahn des
Blitzschlages zeigt sich an allen Stellen der Giebelwand an der
inneren Seite der Wandfläche, nur zwischen dem zweiten und ersten
Stock ist die Spur an der Aussenseite der Wand sichtbar. Der Blitz
schlug unter dem Giebelbrett in das Haus ein, zertrümmerte daselbst
das Giebelfenster vollständig, wovon nur noch kleinere Splitter übrig
geblieben sind, fuhr dann an dem rechtseitigen Fensterpfosten von
Holz herunter bis zu einer eisernen Klammer und versengte das
Holz — es sind schwarzbraune Brandflecken von 3 bis 4 Zoll vor-
handen — . Die eiserne Klammer circa 1 Fuss lang ist mit beider
Spitzen in das Holz geschlagen, so dass der Zwischentheil 1 Zoll
weit vom Holze absteht; auf der Höbe dieser Klammer sind weder
Brandflecken noch sonstige Beschädigungen des Holzes bemerkbar,
vom unteren Ende dieser Klammer abwärts ist jedoch die Bahn des
Blitzstrahles wieder durch Brandflecken bezeichnet. Die Verkohlunc
beschränkt sich jedoch an allen Stellen nur auf die Oberfläche des
Holzes und dringt nirgends tief in dasselbe ein. Das Holzwerk ist
auch nicht in Brand gerathen. Der Blitz fuhr dann durch eine
Fuge zwischen Giebelwand und Dachgebälk hindurch; an der unteren
Fläche des Dachgebalkes werden die hinterlassenen Spuren desselben
wieder sichtbar, indem hier ein quadratförmiges Stück Deckenverputz
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 2G7
der Lattendecke von 0,2 Fuss Seitenlänge scharfkantig wie heraus-
geschnitten, abgesprengt, die Latte darunter stark geschwärzt und
eine kleine Vertiefung eingebrannt ist. Ausserdem ist an dem recht-
seitigen Fensterpfosten oben an der Decke ein Stückholz 0,05 F.
hoch, 3/i Zoll breit und tief in Form einer scharfkantigen Rinne
herausgesplittert, deren Flächen jedoch keine Spuren von Verkohlung
zeigen. Von hier aus fuhr der Blitz durch den zwischen zwei
Fenstern hängenden Spiegel im ersten Stocke, schlug an der oberen
Ecke desselben ein Loch 0,4 F. breit, 0,95 F. hoch in denselben,
ging hinter dem Spiegel diagonal herunter, hinterliess Brandflecken
auf der hölzernen Spiegelwand und auf der Hauswand daselbst, fuhr
an der unteren Ecke des Spiegels durch das Glas heraus und schlug
daselbst ein Loch 0,1 F. hoch und 0,7 F. breit in denselben. Die
Ränder dieser beiden Löcher sind in unregelmässigen Linien aus-
gesplittert, die vorstehenden Spitzen auswärts etwas aufgebogen, und
das Glas auf 0,05 F. bis 0,15 F. Breite sehr stark angeschmolzen,
so dass es auf diese Breite blind, d. h. nicht mehr durchsichtig ist. — ■
Die Fenster beiderseits des Spiegels sind mit eisernen Winkelbändern
beschlagen, die an den Spitzen ebenfalls Spuren von Schmelzung
zeigen. Auf dem Tische vor dem Spiegel (der Tisch befand sich
ebenfalls an der Wand des Zimmers) lagen einige Kleidungsstücke,
welche in Brand geriethen und ein tellergrosses, 7* Zoll tiefes Loch
in den Tisch brannten. Der Blitz fuhr an der Ecke zwischen Tisch
und Fenster durch eine Fuge zwischen dem Brustriegel des Fensters
und der Fachausmauerung hindurch, splitterte dabei ein Holzstück
ab und darunter einige Fenstersplitter aus ; nahm dann seinen Weg
auf der Aussenfläche des Hauses bis zum Fenster des Erdgeschosses".
[„An dieser Stelle der von der Blitzesentladung durchbrochenen
Wand soll eine rinnenförmige Vertiefung, und der Mörtel derselben
wie geschmolzen oder salpetrig gewesen sein. Diese Stelle ist aber
inzwischen wieder verputzt und übertüncht worden1'.] „ Durch das
Fenster (des nordöstlichen Zimmers) des Erdgeschosses ging die
Entladung hindurch, schmolz das Blei an verschiedenen Stellen,
splitterte Glasstücke aus, fuhr in das Zimmer, wo sich die Familie
befand, hinterliess am Tisch und am Fussboden mehrere kleine
Brandflecken, und fuhr durch die östliche Wand an einer Stelle
hindurch, wo am Hause selbst die (aus einer schräg an das Haus
anliegenden Steinplatte bestandene) Ilundshütte war. In letzterer
lag ein grosser Haushund, an einer 7 Fuss langen starken Eisen-
kette angebunden, der erschlagen wurde. Weitere Spuren des Blitzes
vuiii Hunde weg am Boden etc. sollen (?) nicht bemerkbar gewesen
268 Sitzung der math-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
sein". — „So weit gehen die Beobachtungen, die ich bei der Local-
erhebung machen konnte. Ferner hat mir der Fallmeister Folgendes
über die Wirkung des Blitzschlages erzählt. Er sei mit seiner
Familie bei Feier seines Namenstages am Tisch (im nordöstlichen
Zimmer des Erdgeschosses) gesessen , und zwar : eine 16jährige
Tochter und ein lOj ähriger Knabe seien unmittelbar am (letzt-
erwähnten) Fenster auf der (an der östlichen Zimmerwand befind-
lichen) Bank gesessen, und vom Blitz, der — wie gesagt — durch
dieses Fenster fuhr, getödtet worden; die Kleider des Knaben hätten
gebrannt (derselbe sei auch schwarz gebrannt gewesen, während beim
Mädchen nur eine geringe Spur am Arme ersichtlich war). Seine
Frau sei auf dem südlichen Stuhl, er auf dem Stuhle gegenüber der
Kinder und ein Gast auf der Bank an der nördlichen Wand des
Zimmers — und zwar alle drei um den Tisch herum mit ihren
Kindern gesessen. Alle drei — Mutter, Vater und Gast — seien
vom Blitzschlag betäubt worden und in gleicher Richtung (von
Norden gen Süden) auf den Boden gefallen, seine Frau habe eine
Lähmung am linken Bein, wovon jetzt schwache Spuren zurück-
geblieben , er eine vier Tage dauernde Lähmung am rechten Arm
erlitten. Zwei auf der Bank an der (dem Fenster gegenüberliegen-
den) Bückwand des Zimmers sitzende Kinder von 3 und 13 Jahren
seien nicht vom Blitze beschädiget worden, sondern nach dem Blitz-
schlage zur Thüre hinausgelaufen. Unter der Bank am Fenster, auf
welcher die von der Blitzesentladung getödteten zwei Kinder sassen,
seien drei Hunde gelegen, die ebenfalls vom Blitzschlage erschlagen
worden seien. Ausserdem wurde, wie bereits bemerkt, der Haus-
hund ausserhalb des Hauses — der unmittelbar unter diesem Fenster
am Boden lag und mit der genannten Kette (an der Wand (?)) an-
gebunden war — in der Hundshütte erschlagen".
Wenn wir die Spuren der Entladungen nach der eben
vorgeführten Beschreibung (und mittelst der uns vorliegenden
Abbildungen) genau durchgehen, so zeigt es sich, dass der
eigentliche Entladungsstrom nicht am Dache, sondern erst
unterhalb des Giebelbrettes seinen Ausgangspunkt hatte;
von da aus ist seine Bahn durch die Metalltheile am Dach-
fenster, durch mechanische Wirkungen bis zur Klammer
des Gebälkes, von hier abermals durch mechanische Wirk-
ungen und Unterbrechungsfunken bis zur Spiegel folie und
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 269
den dünnen eisernen Fensterbeschlägen, hierauf durch eigen-
tümliche mechanische, Wärme- und Lichterscheinungen in
und an der Mauerwand, dann durch die Metalltheile und die
starken mechanischen Wirkungen am Fenster des Zimmers,
am Erdgeschosse und endlich durch die — vermuthlich an
der Aussenseite des Hauses befestigte — lange starke Kette
des Haushundes und durch letzteren selbst, der auf dem
Boden lag, bezeichnet. Wenn wir nun in Erwägung ziehen,
dass die nächste Umgebung von Forchheim ein auf grosse
Ausdehnung flacher Wiesengrund (mit vielfachen Bewässer-
ungskanälen) ist, dass ferner jenes Haus ohnehin fast un-
mittelbar an grossen Bächen sich befindet, deren Niveau
selbst am 18. Juli noch 5 Fuss unter dem Hause lag, wenn
wir ferner erwägen, dass die im Juni stattgehabten mehr-
fachen Regengüsse einen weit höheren Wasserstand am
Johannitage vermuthen lassen, ferner berücksichtigen, dass
in diesem Sommer das Grundwasser in den Brunnen auf
einem grossen Gebiete in unseren — und vermuthlich
auch in den Main- etc. — Gegenden einen ungewöhnlich
hohen Stand zeigt, so müssen wir schon daraus vermuthen,
dass die Ursache jenes Ereignisses nicht in einer geringen
Entfernung des unglücklichen Hauses von der Gewitterwolke
oder gar am Hause selbst, sondern lediglich in den Terrain-
verhältnissen jenes Stückes Land, über welches die Gewitter-
wolke gezogen und in der vermuthlich äusserst starken
elektrischen Ladung der letzteren gesucht werden müsse.
Die über die Bahn der Entladung berührten Umstände so-
wie die Localerhebungen zeigen uns aber, dass am Dache
selbst keinerlei Beschädigungen vorkamen und dass die In-
fluenzfähigkeit der am Hause und an seinen Wänden etc.
vorkommenden Materialien und Objecte hier gar nicht in
Anschlag gebracht werden kann : es muss also die unge-
heure Elektricitätsmenge, welche beim Blitzschlage zur Ent-
ladung kam, sich lediglich aus der durch Influenz elektri-
[1867. II. 2.] 18
270 Sitzung der math.-phys. Gasse vom 6. Juli 1867.
sirten unterirdischen Wasserstrecke an den genannten Theilen
des Hauses von unten nach oben verbreitet haben; von einem
directen Einschlagen der Gewitterwolke oder des Blitzes
dürfte vermuthlich hier nicht die Rede sein8). Allem Anschein
nach zog letztere von Osten her, die ausgedehnte Grund-
wasserstrecke konnte eine starke influencirende Wirkung er-
fahren; letztere war vermuthlich an der Stelle, wo der
Kettenhund lag, dem Boden am nächsten, und durch diesen
verbreitete sich nun die in Beziehung auf die Wolke nega-
tive Ladung über die bereits beschriebenen Strecken, um
nach genügend grosser Entfernung der influencirenden Wolke
oder nach der Entladung der letzteren in der Atmosphäre
als Entladungsstrom innerhalb der discontinuirlichen Leitungs-
bahn bis zum Grundwasser hin aufzutreten. Das ganze Er-
eigniss scheint bloss ein sogenannter kalter Schlag, also
eigentlich ein Rückschlag gewesen zu sein, deren ausserdem
noch mehrere andere in secundärer Weise gleichzeitig ein-
getreten sein konnten9). Die vorher beschriebene Bahn ist
nämlich augenscheinlich der Weg des kürzesten Leitungs-
widerstandes für den Ladungs- und Entladungsstrom ge-
8) Vergl. Polytechn. Journ. Bd. CLXXXII, S. 295.
9) Ein ähnliches jedoch von unwesentlichen Wirkungen unc
von keinerlei Unfall begleitetes Blitzesereigniss kam bei einer
schwachen von West gen Ost ziehenden Gewitter am 22. Juli d. J.
Abends 10 Uhr am neuen Gottesacker an der Thalkirchner-Strasse
zu München vor. Die Gewitterwolken zogen dabei über das mit
Grundwasser reichlich versehene kleine Thal — zwischen Über-
sendung und der Isar — und der Blitzschlag kam an dem west-
lichen Thorbogen der Umfassungsmauer vor. Die Spuren an der
unteren beiden Enden des Sockels, an dem Bogen, sowie die Zer
Störung des aus Backsteinen bestehenden Kreuzes Hessen erkennen,
dass alle hier befindlichen Metalltheile — Gitterthor, eiserne Stange
des Kreuzes etc. — die discontinuirliche Leitungsstrecke für die ir
fluencirte Ladung bildeten. — ■ Diese Entladung soll von einem
starken (elektrischen oder Ozon-) Geruch begleitet gewesen sein.
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 27 i
weseu; bei einer solch ungeheuren Elektricitätsmenge vop
so bedeutender Dichte, die unmittelbar vor der Entladung
an den verschiedenen Theilen der östlichen Giebelwand also
auch an der untersten Fensterwand, an der Fensterumfassung
und den hier befindlichen Metalltheilen sich anhäufte, konnte
die influencirende Wirkung gegen die beiden unmittelbar am
Fenster gesessenen zwei Kinder sowie gegen die übrigen in
deren Nähe befindlichen Personen uud Objecte nicht unter-
bleiben; theilweise durch ihre Verbindung mit der östlichen
Wand, theils mit dem Boden selbst, konnten die getrennten
Entladungsströme zu Stande kommen, welche natürlich mit
Rücksicht auf die Entfernung von der Wand bei den ver-
unglückten Kindern — die am stärksten influencirt waren —
stärker ausfallen mussten , als bei den übrigen Personen.
Betrachten wir jedoch die Anordnung und Gruppirung der
getroffenen Personen (nach dem uns vorliegenden Grund-
plan) im Erdgeschosse, so möchte es nicht unmöglich sein,
dass die beiden unmittelbar an den Schliessungsbogen an-
gelehnt gewesenen zwei Kinder, sowie die drei Hunde unter
der Bank , auf welcher jene sassen , durch eine Seitenent-
ladung getödtet wurden, dass hingegen der Entladungsstrom,
welcher die drei älteren um den Tisch herum an der
abgewendeten Seite in einer discontinuirlichen Kette befind-
lichen Personen betäubt und oberflächlich verletzt hat, viel-
leicht ein seeundärer oder inducirter war. Mag nun die
Natur dieser Ströme, durch welche das unglückliche Er-
eigniss sich manifostirte, von der einen oder anderen Art
gewesen sein, so können wir immerhin noch ausserdem mit
der grössten Wahrscheinlichkeit annehmen , dass der ganze
Boden , auf dem das Haus ruht , an der Influenz Antheil
nehmen musste; der Rückschlag selbst konnte daher auch
starke erschütternde Wirkungen am ganzen Gebäude und
selbst an den unverletzt gebliebenen zwei Kindern , die an
der Rückwand des Zimmers — vermuthlich mit herunter-
18*
272 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
hängenden Beinen — sassen, auftreten: sowohl die im Zim-
mer wahrgenommenen Entladungsfunken als auch eine etwas
ungewöhnliche Erschütterung verscheuchte dann die erschreck-
ten Kinder aus dem Hause. [Auffallend ist es , dass bei
diesem sowie bei den oben beschriebenen Blitzesereignissen
der eigenthümliche Ozongeruch selbst in der nächsten Um-
gebung nicht wahrgenommen worden ist.]
Sowohl die physiologischen, als auch die mechanischen
und die mit diesen verbunden gewesenen äusserst intensiven
Wärmewirkungen , welche das in Forchheim am 24. Juni
stattgehabte Blitzesereigniss begleiteten , sind so eigentüm-
licher Natur, dass dieselben einer näheren Untersuchung
wohl unterworfen werden dürften . wenn noch weitere Er-
hebungen hiefür möglich gemacht werden könnten; wir
müssen uns auf einige Bemerkungen hierüber beschränken.
Die im Zimmer der Familie des Fallmeisters vorgekommenen
physiologischen Wirkungen dürften uns zunächst zeigen, dass
[was wir übrigens an vielen der schon früher vorgekom-
menen Fälle dieser Art nachweisen könnten] die Tödtung
durch einen sogenannten Blitzschlag bei verschiedenen Per-
sonen im Allgemeinen nicht auf ein bestimmtes Alter oder
Geschlecht sich beschränkt, und dass überhaupt von einer
Auswahl, die eine Blitzesentladung in dieser Beziehung treffe,
keine Rede sein und dass ebenso wenig ein derartiger Unter-
schied zwischen Menschen und Thieren gefunden werden
kann; es sind lediglich die Umstände, unter welchen die
Influenz- und die diese begleitenden Nebenwirkungen etc.,
sowie die aus diesen verschiedenartigen Vorgängen ent-
springenden Entladungssströme zu Stande kommen können,
bei der physikalischen Beurtheilung eines derartigen Falles
ins Auge zu fassen10). Statistische Nachweise solcher Art,
10) Die Untersuchung, welche an der Leiche des 16jährigen
Mädchens und derjenigen des 10jährigen Knabens an der Unglücks-
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 273
wie sie für vorgekommene Fälle von Tödtungen von Per-
sonen durch Blitzschläge in den verschiedensten Gebieten etc.
noch häufig zusammen gestellt werden, dürften wohl ihren
eigenthümlichen Werth haben; in rein physikalischer sowie
physiologischer Beziehung aber dürfte ihre Bedeutung als
zweifelhaft erscheinen. — Als besonders auffallend möchten
die Producte der Wärme- und mechanischen Wirkungen her-
vorzuheben sein, welche nach dem Blitzschlage in dem
Wohnzimmer der Familie aufgefunden worden sind, sowie
jene, welche in der Mauer zwischen dem ersten Stockwerke
und dem gedachten untersten Fenster vermuthungsweise
sich noch vorfinden sollen. Der mir zugekommene Bericht
meines Freundes spricht sich hierüber in nachstehender
Weise aus : „Von anderen Personen, die das Haus am darauf
folgenden Tage besuchten, hörte ich sagen, dass sie förm-
liche Röhren, die der Blitz durch Holz und Mauerwerk ge-
bohrt habe, gesehen hatten (s. o. S. 267); allein dieses be-
ruht auf Täuschung oder falscher Auffassung der Sache,
denn es sind nur ausgesplitterte Rinnen am Holzwerk, und
Aussplitterungen an den Fugen zwischen Holz und Mauer-
werk bemerklich. Ferner soll am Fussboden des Wohn-
zimmers Sand gestreut gewesen sein — nach ländlicher
Sitte geschieht diess in Oberfranken am Vorabende eines jeden
Feier- oder Festtages — , der in der Richtung des Blitz-
schlages geschmolzen und sich in eine Röhre verwandelt
haben soll .... An den Fussbodenbrettern sind übrigens
statte vorgenommen wurde, hat sich, wie es den Anschein hat, bloss
auf eine oberflächliche am Leibe u dgl. beschränkt. Die Spuren
der Entladung an beiden Kindern möchten wohl am Kopfe — unter
den Haaren — oder selbst an anderen blossgelegten zarten Organen
sich vorfinden ; nur dürfte zu deren Unterscheidung, da sie vermuth-
lich in schwachen siebartigen Durchbohrungen bestehen, mindestens
die Anwendung einer Loupe nöthig gewesen sein.
274 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
nur ein oder zwei Brandflecken in Kreuzergrösse" (also kein
Loch in Thalergrösse wie diess von anderer Seite angegeben
wurde) ,,und am Tische unten nur einige Stellen , kaum
merklich versengt, aber kein Strahl mit Brandflecken, wie
er an der Wand im oberen Stocke vorhanden, zu bemerken
ist". Die Entstehungsweise des am Zimmerboden der Un-
glücksstelle vorgefundenen „röhrenförmigen Concrements",
von welchem durch ein Fragment11) nachgewiesen worden
ist, dass diess eine wirkliche Blitzröhre war, muss vor-
läufig als ein in ein Dunkel verhülltes Phänomen angesehen
werden; ein ähnlicher Fall ist meines Wissens bis jetzt noch
nicht bekannt geworden. Jenes Fragment ist beiläufig 1 bayer.
Dec. Zoll lang, ganz unregelmässig gestaltet, seine Grund-
form dürfte etwa als ein stumpfer Kegel mit ovalen Grund-
flächen angesehen werden, von welchen die Hauptaxen der
grösseren beiläufig 6'" und 2'" (b. Dec. M.), jene der
kleineren o'" und l1/«'" sind; dieses Röhrenstück ist sehr
dünnwandig (an der stärksten Stelle etwa 1js bayr. Decimal-
linie dick) an verschiedenen Stellen mit Ausbiegungen und
Zacken versehen, im Innern vollkommen verglast, an den
Aussenflächen rauh und mit weissen Sandkörnern (?) besetzt.
Unwillkührlich taucht beim Anblicke dieses Gebildes — das
mit den gewöhnlichen Blitzröhren volle Aehnlichkeit zeigt —
der Gedanke auf, es müsse auf der angeblich zwei Fuss
langen Strecke der dünnen Saudschichte am Zimmerboden
ein bis zum höchsten Glühgrade erhitzter Luftstrom die
Bahn der elektrischen Entladung bezeichnet haben. — Eine
Nachgrabung im Boden ausserhalb des Hauses wurde bis
11) Dieses Fragment befindet sich im physikalischen Cahinete
des Lyceum's in Bamberg; es wurde mir durch die Güte meines ge-
ehrten Collega Herrn Prof. Dr. Höh zur Ansicht zugesendet; durch
Vermittelung des Untersuchungsrichters Herrn llath Miltner ist
dasselbe in seinen Besitz gelangt.
Kuhn: Bemerkungen über Blitzschläge. 275
jetzt nicht vorgenommen ; ob man hier nicht auf Blitzröhren
bei vorsichtiger Bohrung kommen dürfte, könnte natürlich nur
als eine Vermuthung hingestellt werden.
Durch die über die hervorgehobenen Blitzesereignisse
im Vorstehenden angestellten Betrachtungen dürfte nunmehr
die Anschauungsweise über die Entstehung von Blitzschlägen
als hinreichend begründet angesehen werden. Praktische
Folgerungen aus den durch jene Ereignisse gewonnenen Er-
fahrungen zu ziehen , dürfte hier als unnöthig erscheinen ;
die oben (S. 247) angeführten Sätze erlangen ohnehin hie-
durch eine neue Bestätigung 12). Hingegen mag zum Schlüsse
noch angeführt werden, dass unsere Erörterungen vielleicht
auch für die Häufigkeit der Blitzschläge neue Anhaltspunkte
liefern können. Es scheint uns nämlich daraus hervorzu-
gehen, dass in solchen Jahren, in denen durch massenhafte
Niederschläge während der eigentlichen Gewitterperioden die
Gewässer überhaupt sowie namentlich die unterirdischen
einen hohen Stand annehmen , die Zahl der Blitzschläge
unter sonst gleichen Umständen — also auch bei gleicher
Frequenz und Stärke der Gewitter — grösser sein müsse,
als in Frühlings- und Sommermonaten von geringer Regen-
menge. Ebenso scheint aus den obigen Betrachtungen die
Folgerung gezogen werden zu dürfen, dass bei periodisch
an einem und demselben oder an unmittelbar auf einander
folgenden Tagen auftretenden Gewittern die Wahrscheinlich-
keit des Eintretens von Blitzschlägen bei den folgenden Ge-
wittern um so grösser werden müsse, je grösser die Regen-
menge war, welche die vorausgegangenen Gewittererschein-
ungen als Begleiter und zur Folge hatten.
12) Die bei meiner Besprechung über die neue französische In-
struction für Blitzableiter an Pulvermagazinen [s. Polytechn. Journ.
Bd. CLXXXIV, S. 4G9 , Juni 1867] erhobenen Bedenken werden
durch die eben beschriebenen Blitzcscreiguisse von Neuem gercebt-
fortiget.
276 Sitzung der math.-jphys. Classe vom 6. Juli 1867.
Herr v. Kobell hält einen Vortrag:
„Ueber den Glaukodot von Hakansbö in
Schweden".
Ich habe kürzlich den Glaukodot von Hakansbö unter-
sucht, welcher sich in der Krystallisation von dem Glauko-
dot Breithaupts nur dadurch unterscheidet, dass die
Spaltbarkeit nach der basischen Fläche bei diesem als be-
sonders deutlich angegeben wird, während sie bei jenem
wenig deutlich ist. Die Krystallisation ist bekanntlich die
des Arsenopyrits und konnte ich an den Krystallen von
Hakanbö ein neues Doma 2 P oo beobachten. Meine Analyse
war bereits vollendet, als eine Abhandlung von Tschermak
über dasselbe Mineral erschien, worin auch eine Analyse von
E. Ludwig mitgetheilt wird. Der Inhalt dieser Abhandlung
könnte gegenwärtige Publication als überflüssig erscheinen
lassen, denn ich fand wesentlich ihre Angaben nur bestätigt,
gleichwohl hat die Uebereinstimmung zweier unabhängig
geführten Untersuchungen immer einigen Werth und nament-
lich in Bezug auf die chemische Analyse , welche nicht so
leicht zu revidiren ist als die krystallographischen Verhältnisse.
Ich stelle daher hier die beiden Analysen 1. von Ludwig
und 2. von mir zusammen.
1.
2.
Schwefel
19,80
19,85
1,24
S
Arsenik
44,03
44,30
0,59
As
Eisen
19,34
19,07
0,681
Fe
Kobalt
16,06
15,00
0,508
Co
Nickel
—
0,80
0,027
Ni
Kieselerde
—
0,98
99,23 100
v. Köbell: Der GlauJcodot von HaJcansbö. 277
Die Formel ist 4 ^ + 5 Fe {^,
Die Differenz betrifft nur ein geringer von mir gefun-
dener Nickelgehalt. Ich habe darauf ein besonderes Augen-
merk gerichtet, weil es seltsam ist, dass die bisherigen Ana-
lysen kobalthaltiger Arsenopyrite, eine einzige von Ph. Kröber
ausgenommen, kein Nickel angeben, wie auch keines in dem
analog zusammengesetzten Kobaltin, während im Smaltin
fast immer eine Vertretung des Kobalt durch Nickel vor-
kommt. Ich trennte die beiden Metalle durch salpetricht-
saures Kali. Das erhaltene Nickeloxyd löste sich in Salpeter-
säure mit grüner Farbe und gab mit Ammoniak im Ueberschuss
die himmelblaue Lösung. Die Kieselerde fand sich, als das
mit Wasserstoff reducirte Kobalt in Salpetersäure gelöst
wurde.
Vor dem Löthrohr auf Kohle entwickelt das Mineral
anfangs starken Arsenikrauch , ohne zu schmelzen , nach
längerem Erhitzen aber schmilzt es ganz leicht zu einer
stahlgrauen magnetischen Perle, welche beim ersten Zu-
sammenschmelzen mit Borax ein grünlichblaues, bei län-
gerem Behandeln im Reductionsfeuer ein schön kobaltblaues
Glas giebt. — Dieser Glaukodot ist wie der Arsenopyrit
ein guter electrischer Leiter und überläuft, mit der Zink-
kluppe in Kupfervitriol getaucht, sogleich mit glänzendem
metallischem Kupfer.
Als Pulver mit Eisenpulver gemengt entwickelte er mit
Salzsäure reichlich Schwefelwasserstoff.
Mit Salpetersäure erhält man , unter Ausscheidung von
Schwefel, eine schön rothe Lösung.
Der erwähnte von Kröber analysirte nickelhaltige Ar-
senopyrit stammt von La Paz und Yungas in Bolivia und
enthält 35 Procent Eisen, 4,74 Nickel und nur eine Spur
von Kobalt. Das spec. Gewicht 4,7 ist auffallend gering.
278 Sitzung der mafh.-pliys. Classe vom 6. Juli 1867.
Der Glaukodot von Hakansbö hat nach Tschermak
5,973, nach meiner Wägung 5,96. —
Ich stimme der Ansicht Tschermak's bei, das Mineral
von Hakanbö zum Glaukodot zu stellen und die weniger
Kobalt enthaltenden Verbindungen dieser Art Danait zu
benennen. Wo bei diesen das Kobaltblau mit Borax nicht
mehr sicher wahrzunehmen, da kann man sich vom Kobalt-
gehalt überzeugen, wenn man eine feingeriebene Probe von
etwa 1 Gramm in Salpetersäure löst und die stark ver-
dünnte Lösung mit ehem. bereitetem kohlensaurem Kalk
fällt. Man filtrirt den Niederschlag des arseniksauren Eisen-
oxyds und versetzt das Filtrat mit Schwefelammonium; er-
hält man kein oder ein blass gelblich aussehendes Präcipitat,
so ist kein Kobalt vorhanden, ist aber die Trübung oder
der Niederschlag graulich oder schwarz, so säuert man die
Flüssigkeit mit Salzsäure an und lässt sie durch einFiltrum
laufen. Ohne weiteres Auswaschen trocknet und verbrennt
man dieses Filtrum und schmilzt den Rückstand im Platin-
drath mit Borax zusammen. Man kann so die kleinsten
Mengen von Kobalt in den Arsenik und Eisen enthalten-
den Erzen nachweisen.
Voit: lieber Harnsäuresed hnente. 279
Herr C. Voit berichtet über eine in seinem Labora-
torium und unter seiner Leitung von Hrn. stud. med. Frz.
Hof mann ausgeführte Arbeit
,,Ueber das Zustandekommen der Harnsäure-
sedimente".
Ein Niederschlag von Harnsäure oder harnsauren Salzen
entsteht, wie schon länger bekannt ist, nur in seltenen Fällen
dadurch, dass der Harn wegen Wassermangels mit diesen Ver-
bindungen bei der Temperatur des Körpers gesättigt ist und sie
beim Erkalten herausfallen läset, oder dadurch, dass er aus
irgend welchen Ursachen mehr davon enthält als gewöhnlich.
Das erstere findet nur selten statt, weil der Niederschlag meist
erst längere Zeit nach der Erkaltung entsteht und beim Er-
wärmen auf 38° C. sich nicht wieder löst; das letztere
nicht , weil sich beim Auftreten von Sedimenten meist
keine grössere Quantität Harnsäure findet. Und doch macht
man sich nicht immer von diesem Vorurtheil los, denn man
Bchliesst nur zu oft, wenn mau den Boden des Harnglases
mit dem bekannten Ziegelmehl bedeckt findet, auf eine ver-
mehrte Harnsäureabscheidung. Aber auch bei dem reichlich-
sten Sedimente darf man diesen Schluss nicht machen, dasselbe
sieht nur voluminös aus, denn sobald man zum Harn etwas Säure
zugiesst, verschwindet alles bis auf wenige Harnsäurekrystalle.
Die Menge der Harnsäure, die ein gesunder Mensch im
Tag liefert, kann zwischen 0.4 — 2.0 Gramm schwanken; ich
habe bei Krankheiten nie mehr beobachtet, als normal auch
auftreten kann. Schon vor Jahren habe ich einmal den
24stündigen Harn eines Arthritikers erhalten, welchem kalte
Einwicklungen gemacht worden waren; der Harn war durch
Beine ganze Masse trüb, voll des reichlichsten amorphen
280 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
Sedimentes; man wollte mir damit beweisen, dass unter der
angegebenen Behandlung die Harnsäure aus dem Körper zur
Ausscheidung gebracht werden könne; als ich aber die
quantitative Bestimmung machte, war die Menge der Harn-
säure unter dem Mittel.
Die Harnsäure kann nicht als solche aus der Niere abge-
schieden werden, da sie in Wasser nahezu unlöslich ist, sie
kann nur als harnsaures Salz im frischen Harn enthalten sein,
und muss also irgend woher ihre Basis, meist Natron, nehmen.
Dadurch ist die Menge der in den Harn übergehenden Harn-
säure eine sehr beschränkte, während von dem in Wasser
leicht löslichen Harnstoff unbegrenzte Mengen fortgeschafft
werden können; jeder Mensch kann im Tage, je nach der
Menge des im Körper verfügbaren Alkali's nur eine
begrenzte Harnsäuremenge ausscheiden, und wenn mehr
erzeugt wird, als entfernt werden kann, so muss sie zurück-
bleiben.
J. Scherer hatte vor längerer Zeit eine Theorie ent-
wickelt, die auf die Art der Bildung der betreffenden Sedi-
mente und der Harnsteine das hellste Licht zu werfen schien
und die noch heute allgemein acceptirt ist. Man war da-
mals von dem allgemeinen Vorkommen der Milchsäure im
Thierkörper überzeugt. Man dachte nicht an anorganische
Säuren und man hatte die Gegenwart der Milchsäure in der
sauren Milch erkannt und so musste überall, wo man im
Organismus eine saure Reaktion traf, Milchsäure die Ursache
sein. Die saure Reaktion des Harns leitete man daher auch
von der Milchsäure ab; und da man wusste, dass auf Zu-
satz einer Säure zum Harn Harnsäure niederfalle, so lag nichts
näher, als anzunehmen, die Sedimentbildung käme von einer
Vermehrung der Milchsäure im Harn nach der Entleerung,
von einer sauren Gährung des Harns.
Nun kann man aber im Harn weder Milchsäure finden,
noch eine Vermehrung der Säure beim Stehen.
Voit: Heber Harnsäuresedimente. 281
Man ist nicht im Stande, Milchsäure im Harn nachzu-
weisen. Pettenkofer bemühte sich, die angebliche Milchsäure
darzustellen, er fand dieselbe nicht, jedoch statt ihrer das
Kreatinin. Auch Liebig sagt in seiner berühmten Abhand-
lung über den Harn des Menschen und der Thiere, dass er
nicht eine Spur Milchsäure entdecken konnte; er that aber
dar, dass die saure Reaktion des Harns von sauren Salzen
herrühre, sauren phosphorsauren Alkalien und alkalischen
Erden, sauren harnsauren und hippursaueren Salzen, welche
durch Einwirkung der letztgenannten organischen Säuren
auf das basisch phosphorsaure Alkali des Bluts entstan-
den sind.
Prüft man direkt die Säuremenge des Harns durch die
Menge Alkali, die zur Neutralisation erforderlich ist, so
sieht man die Menge der Säure stetig abnehmen und zu
keinem Zeitpunkte sich steigern; es existirt keine saure
Gährung des Harns.
Es ist das saure phosphorsaure Natron, welches das
im Harn gelöste harnsaure Alkali allmählich zersetzt. Wenn
man ausserhalb des Körpers die Lösungen beider Salze in
äquivalenter Menge zusammenbringt, so fällt nach einiger
Zeit Harnsäure krystallinisch heraus und die Flüssigkeit
reagirt alkalisch, d. h. es nimmt das saure phosphorsaure
Natron ein Aequivalent Natron von der Harnsäure weg und
wird zu basisch phosphorsaurem Natron, wie es im Blute
vorhanden war und die unlösliche Harnsäure muss heraus-
fallen. Dieser Umlagerungsprozess geht um so schneller
vorwärts, je concentrirter die Lösung des sauren phosphor-
sauren Natrons ist.
Diese Thatsachen erklären die Entstehung der harn-
sauren Sedimente vollkommen. Gleich nach der Bildung
des sauren Harns beginnt die Einwirkung des sauren phos-
phorsauren Natrons auf das harnsaure Natron; es fällt harn-
saures Salz und dann Harnsäure aus und zwar um so eher,
282 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
je mehr der Harn saures phosphorsaures Natron enthält. Die
Fällung kann schon in den Harnwegen oder der Blase ge-
schehen, und so zu Harngries oder Steinen Veranlassung
geben oder sie geschieht erst ausserhalb des Körpers.
Es kann eine raschere Unilagerung entweder durch
reichlichere Auscheidung von saurem phosphorsaurern Natron
entstehen oder durch eine Concentration des Harns. Das
erstere tritt seltener ein und kann wohl nur bei reichlicher
Zersetzung eiweissartiger Stoffe im Körper stattfinden; so
sieht man z. B. immer nach reichlicher Aufnahme stickstoff-
haltiger Nahrung, ohne dass weniger Harn entfernt wird,
ein Sediment von Harnsäure auftreten, nur veranlasst durch
die grössere Menge des sauren phosphorsauren Natrons im
Harn.
In den meisten Fällen handelt es sich aber nur um eine
Concentration des Harns und der Lösung des sauren phosphor-
sauren Natrons durch eine geringere Wasserausscheidung. Bei
allen Umständen, bei denen dem Harn Wasser entzogen wird,
treten Sedimente von Harnsäure auf, ohne dass irgend eine
pathologische Veränderung vorhanden zu sein braucht. Haben
wir eine Nacht durch getanzt, so bemerken wir im Morgenharn
ein reichliches Ziegelmehlsediment, ebenso wenn wir geschwitzt
haben, oder wenn durch die Haut durch Vorbeiströmen kalter
trockner Luft , wie bei uns in München , viel Wasser in
Dampfform weggeht. Geht bei Krankheiten auf anderen
Wegen Wasser verloren, so bemerken wir die Niederschläge;
bei jedem Nasenkatarrh zeigt sich ein saturirter Harn und
ein Sediment; ebenso wenn bei Entzündungen sich Wasser
in Organen oder Höhlen anhäuft oder wenn dabei durch die
Haut bei reichlichem Schwitzen Wasser entfernt wird; in
früherer Zeit hat man in diesen Fällen von kritischen
Sedimenten gesprochen.
Aber jeder Harn sedimentirt zuletzt. Eine rasche Wirk-
ung des sauren phosphorsauren Salzes bewirkt den amorphen
Voit: Ueber Harnsäuresedimente. 283
Niederschlag, eine langsamere scheidet die Harnsäure kry-
stallinisch aus, was nur keine so auffällige Erscheinung ist.
Durch die beschriebene Umwandlung nimmt die saure
Reaktion des Harns nach und nach ab. Es kann schon
bald ohne Zersetzung des Harnstoffes und ohne Entstehung
von Ammoniak eine alkalische Reaktion auftreten, wenn nur
gerade so viel saures phosphorsaures Natron vorhanden ist,
um mit dem an die Harnsäure gebundenen Natron basisches
Salz zu bilden. Ist einmal auf diese Weise der Harn alka-
lisch oder schwach sauer geworden, dann beginnt auch die
weitere Zersetzung desselben unter Einwirkung der Pilze
und greift rasch um sich.
Die Ursache der Bildung der Harnsäuresedimente wird
somit in jedem speciellen Falle leicht zu finden sein; es
handelt sich um Prozesse, die in jedem Harn vor sich
gehen und nur manchmal schneller verlaufen, was aber bei
ganz normalem Körper ebenso geschehen kann, wie bei er-
kranktem. —
Die näheren Ausführungen werden in einer eigenen Ab-
handlung von Hrn. Hofmann gegeben werden.
284 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
Herr Seidel berichtet über einen Aufsatz von Hrn.
Dr. Adolph Steinheil:
,,Ueber Berechnung optischer Construktionen"
indem er zugleich Instrumente (Camera obscura und Mi-
kroscop-Objektiv) vorzeigt, welche von Herrn Adolph Stein-
heil nach den in dem Aufsatz dargelegten Principien con-
struirt worden sind, sowie auch Probe-Photographieen , die
damit erhalten wurden.
Nachdem der berühmte Frauenhofer durch Entdeckung
und Anwendung der fixen Linien im Sonnenspektrum ge-
zeigt hatte, wie sich die Eigenschaften der Glassorten präcis
durch Zahlen ausdrücken lassen und dadurch die strenge
Rechnung in der Optik möglich gemacht hatte, verwendete
er diese in der Art für optische Construktionen, dass er
die Lichtstrahlen durch strenge trigonometrische Rechnung
auf ihrem Wege durch ein Linsensystem verfolgte, den Ein-
fluss der Halbmesser und Dicken auf die Vereinigungsweiten
verschiedener Strahlen bestimmte und diese Kenntniss zur
Feststellung derjenigen Dimensionen benutzte , welche für
gegebene Glasarten ein möglichst deutliches Bild eines in
der Axe gelegenen leuchtenden Punktes ergeben.
Seine Untersuchungen bezogen sich zunächst auf das
Fernrohrobjektiv, welches er in zwei Construktionen aus-
führte, sowie auf das einfache Mikroskopobjektiv. Bei letz-
terem und dem für kleinere Dimensionen angewendeten
Fernrohr objektive (mit ineinanderpassenden inneren Flächen)
waren es 3 Bedingungen, die er erfüllte; nämlich: Herstell-
ung einer vorher bestimmten Brennweite bei gleichzeitiger
Hebung des Kugelgestalt- und Farben-Fehlers.
Bei dem Fernrohrobjektive für grössere Dimensionen
Steinheü- Berechnung opt. ConstruTctionen. 285
kam noch eine weitere Bedingung * und die Wahl der Glas-
sorten in Bezug auf secundäres Spektrum dazu. Welches
die vierte Bedingung war , die Frauenhofer zur Annahme
dieser (unter dem Namen Frauenhofer'sche Construktion so
berühmt gewordenen) Form des Objektives bestimmte,
konnte, trotz der gediegenen Untersuchungen in dieser
Richtung, leider nicht mit Sicherheit *) festgestellt werden,
da seine hinterlassenen Arbeiten, soweit sie nicht vor seinem
Tode publicirt waren, als Geheimniss behandelt wurden und
anderweitige direkte Angaben von ihm fehlten. Vielleicht
aber sind gerade durch diesen Umstand die Eigenschaften
des Objektives genauer untersucht und besser bekannt ge-
worden.
Das Objektiv erfüllt:
1) Wie Herschel 2) nachwies , sehr nahe die Bedingung
der Hebung des Kugelgestaltfehlers für nahe und ferne
Objekte.
2) Wie Biot3) zeigte, ist es stabil achromatisch; d. h.
Strahlen von zweierlei Farben, welche vor der Brechung an
der ersten Fläche des Objektives demselben weissen Strahl
angehörten, treten nach der letzten Brechung nicht nur
nach demselben Punkte zielend , sondern auch unter dem-
selben Winkel und an derselben Stelle aus (wieder einen
weissen Strahl bildend). Diese Bedingung ist für einen
1) Ein Ausspruch Utzschneider's, dass Frauenhofer die Fehler
über das ganze Gesichtsfeld möglichst zu heben bestrebt gewesen
sei, lässt die sub 3) angeführte von Prof. Seidel gefundene Eigen-
schaft mit am meisten Wahrscheinlichkeit als die Bedingung er-
scheinen, welche' Frauenhofer erfüllte.
2) Herschel, Dioptrik.
3) Traite elementaire d'astronomie physique par J. B. Biot,
Paris 1844. Tome deuxieme p. 82.
[1867.11. 2.] 19
286 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
Punkt der Oeffnung streng erfüllt und bedingt zugleich die
Hebung des Farbenfehlers ausser der Axe.
3) zeigte Prof. Dr. Seidel4) dahier, dass bei dem
Frauenhofer'schen Objektive die Bedingung der gleichzeitigen
Hebung der Kugelgestalt in der Mitte und am Rande des
Gesichtsfeldes sehr nahe erfüllt ist.
4) fand Hr. Prof. Seidel (und theilte es mir mit der
Erlaubniss zur Veröffenlichung in dieser Abhandlung mit)
dass das Frauenhof er' sehe Objektiv, so definirt , wie er es
in den astronom. Nachrichten Nr. 1029 angenommen hat,
vor allen anderen die Auszeichnung geniesst, dass es keine
Brennflächen erzeugt, so dass die kleinen Lichtscheibchen,
welche man je nach der Stellung des Okulares sieht,
gleichmässig erleuchtet erscheinen, während sie bei jedem
andern Objektive (auch abgesehen von dem Effekte der
Diffraktion) helle Lichtsäume (die Durchschnitte der Brenn-
fläche mit der jedesmaligen Ebene des deutlichen Sehens)
haben; und endlich
5) ergab mir die trigonometrische Rechnung, dass für
den Lichtbüschel parallel zur Axe. der Kugelgestaltfehler
(sekundärer Ordnung) für Strahlen, die bei 2/3 der Oeffnung
des Objektives auffallen, bei dieser Construktion ein Mini-
mum ist; wenn man Dicken und Abstand der Linsen als
Elemente ausschliesst.
Diese grossen Vortheile erreichte Frauenhofer, ohne
dass er mehr als 2 Linsen anwendete. Dadurch war dieses
Objektiv ein Triumph der Wissenschaft, indem es bewies,
dass diese eine zuverlässigere Führerin ist , um unter vielen
Möglichkeiten die günstigste zu wählen, als die Empirie.
4) Gelehrte Anzeigen der k. bayr. Akademie der Wissenschaften
1855 Nr. 16 und 17. Astronom. Nachrichten Nr. 1027—1029.
Steinheil: Berechnung opt. Construltionen. 287
Bei den von Frauenhofer gerechneten Fällen handelte
es sich um Instrumente , welche einen geringen Oeffnungs-
winkel (Verhältniss der wirksamen Oeffnung zur Brennweite)
hatten und bei welchen nur ein kleiner Gesichtsfeldwinkel
(Verhältniss der benützten Ausdehnung des Bildes zur Brenn-
weite) zur Anwendung kam.
Leider ward Frauenhofer durch seinen frühen Tod ver-
hindert eine beabsichtigte gründliche Bearbeitung der Oku-
lare durchzuführen; durch welche die Bedingungen für ein
grosses Gesichtsfeld festgestellt und erfüllt worden sollten.
Trotz der grossen Fortschritte, welche die Theorie der
Optik seit Frauenhofer's Tod durch die Arbeiten von Gauss,
Bessel, Biot, Petzwal, Seidel etc. gemacht hat, wurde sie
doch in Bezug auf Construktionen von der Empirie überholt.
Es wurden zusammengesetzte Mikroskopobjektive mit
sehr grossen Oeffnungswinkeln und Photographenapparate
mit ausgedehntem Gesichtsfelde construirt. Mikroskopobjek-
tive sowohl, wie Photographenapparate wurden in den ver-
schiedensten Construktionen hergestellt, ohne dass behauptet
werden kann, dass die einfachsten und günstigsten Möglich-
keiten dadurch ermittelt worden wären. Es hat eben Frauen-
hofer keinen Nachfolger gefunden, der die Lust und Aus-
dauer besass, auf -dem sicheren aber mühsamen Wege der
trigonometrischen Rechnung, die Eigenschaften der Bilder
genau kennen zu lernen und auf diese Kenntniss gestützt
unter den Möglichkeiten zu wählen.
Dass die Theorie nicht direkte Vorschriften zur Berech-
nung von Construktionen geben kann liegt in der Natur der
Aufgabe. Während schon alle Gleichungen, die den 4,e" Grad
übersteigen direkte Lösung ausschliessen , ist die Zahl der
variabeln Elemente und der zu erfüllenden Bedingungen so
gross, dass eine Orientirung sehr schwierig wird; zumal
wenn man bedenkt, dass die Werthe der variabeln Ele-
19*
288 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
mente 5) innerhalb vorgeschriebener Grenzen gehalten werden
müssen und dass die zu erfüllenden Bedingungen Fehler-
grenzen6) gestatten, die sich nur für den speciellen Fall
bestimmen lassen.
Bei Berechnung optischer Systeme, die grossen Oeff-
nungswinkel besitzen , ist es nicht genügend , die parallel
zur Axe auf ein System fallenden Strahlen streng in einen
Punkt zu vereinigen, selbst wenn ein nur sehr kleiner Ge-
sichtsfeldwinkel benützt wird, wie z. B. bei den Mikro-
skopen; denn es kann der Fall vorkommen, dass das Bild
eines ausser der Axe gelegenen Punktes so grossen Durch-
messer erhält, dass es den Bildpunkt in der Axe deckt und
dadurch undeutlich macht; es darf also in solchen Fällen
nicht ohne Rücksicht auf einen zweiten Bildpunkt vorge-
gangen werden; in Fällen, die grosses Gesichtsfeld verlangen,
natürlich noch viel weniger.
Aus Obigem folgt nun, dass, um sichere Resultate zu
erzielen, die trigonometrische Rechnung auch auf einen
zweiten Bildpunkt ausgedehnt werden muss; und es sollen
nachfolgend die Bedingungen zusammengestellt werden,
welche an die beiden Bildpunkte zu stellen sind.
Der Bildpunkt in der Axe, von einem parallel zu dieser
5) Die Brechungs- und Zerstreuungscoefficienten müssen sich
innerhalb der Grenzen halten, welche durch die Anforderungen der
Dauerhaftigkeit und Farblosigkeit der Gläser gesetzt sind. Die
Längen der Halbmesser sind durch die nöthigen Oeffnungsmaasse
beschränkt; die Dicken einerseits durch diese, andererseits durch
den Kostenpunkt, das Gewicht, die Lichtabsorbtion etc.
6) Es ist die Empfindlichkeit des Auges (oder besser dessen
Unempfindlichkeit gegen kleine Winkelfehler), welche diese Grenze
bildet, je nachdem das Auge ein Bild direkt oder durch eine Loupe
bewaffnet, betrachtet; es ist der absolute Massstab der Instrumente,
der ihre grössten Fehler über oder unter die Empfindlichkeitsgrenze
des Auges bringt.
Steinheil: Berechnung opt. Construktionen. 289
auf das System fallenden Lichtbüschel gebildet, bedingt zu-
nächst die Brennweite des Systemes. Ein, in diesem Licht-
büschel liegender, ganz nahe der Axe einfallender Strahl
ergibt den Brennpunkt als Ende und den Hauptpunkt als
Anfang der Brennweite ; ersteren durch seinen Durchschnitt
mit der Axe, letzteren durch eine sehr einfache Construk-
tion. Verlängert man nämlich den einfallenden Strahl vor
der Brechung an der ersten Fläche in der Richtung seiner
Bewegung und denselben austretenden Strahl nach der
letzten Brechung gegen die Richtung seiner Bewegung, bis
sich beide schneiden, so ergibt ein Perpendikel von diesem
Punkte auf die Axe den Hauptpunkt7) (oder wahren An-
fangspunkt der Brennweite). Hat mit diesem Strahle ein
gleichfarbiger in grösserem Abstände von der Axe einfallen-
der denselben Brennpunkt, so ist der Kugelgestaltfehler ge-
hoben und es ist diess mit dem Farbenfehler der Fall,
wenn dieser nämliche Brennpunkt, auch einem Strahle von
anderer Brechbarkeit zukömmt.
Das Bild eines Punktes ausser der Axe muss untersucht
werden :
1) In Bezug auf seinen Abstand von der Axe,
2) in Bezug auf seine Form,
3) in Bezug auf seinen Abstand vom Hauptpunkte
(oder Knotenpunkt).
Die Bedingungen bezüglich des Abstandes des Bild-
punktes von der Axe ergeben sich aus den Eigenschaften
7) Wie Gauss in seinen „dioptrischen Untersuchungen" nach-
gewiesen hat, besitzt jedes optische System 2 Haupt- und 2 Brenn-
punkte, je nachdem der zur Axe parallele Lichtbüschel von der
einen oder von der andern Seite auf das System fällt. Für die
Bildpunkte in der Axe haben die Hauptpunhte die Bedeutung der
Anfangspunkte der Brennweiten, während die Brennpunkte deren
Enden bezeichnen.
290 Sitzung ätr math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
der Hauptstralilen. — Ein Hauptstrahl ist jeder Strahl, der
vor dem Eintritt in ein Linsensystem denselben Winkel mit
dessen Axe bildet; wie nach seinem Austritte aus demselben.
Ist bei einem Systeme das erste und letzte brechende Me-
dium das gleiche, so werden die beiden Punkte, auf welche
ein, nur sehr wenig gegen die Axe geneigter, Hauptstrahl
vor der ersten und nach der letzten Brechung zielt, mit
denjenigen zusammenfallen , welche die Anfangspunkte der
beiden Brennweiten bilden; diess ist die zweite Bedeutung
der Gauss'schen Hauptpunkte, dass sie die virtuellen Kreuz-
ungspunkte eines Hauptstrahls mit der Axe sind.
Ist jedoch der Brechungscoefficient des ersten und
letzten Mediums verschieden , so heissen die Anfangspunkte
der Brennweiten die Hauptpunkte; die virtuellen Kreuzungs-
punkte eines Hauptstrahls die Knotenpunkte; und fallen
nicht zusammen.
Die Verzerrung ist nun bei einem optischen Systeme
gehoben , wenn bei einem Hauptstrahl , der einen grossen
Winkel gegen die Axe bildet, die virtuellen Kreuzungspunkte
mit der Axe mit den Hauptpunkten (oder Knotenpunkten)
zusammenfallen. Die beiden Haupt- oder Knotenpunkte haben
in einem solchen Systeme die Eigenschaft, dass vom ersten
aus die Objekte unter denselben Winkeln erscheinen , wie
vom zweiten aus deren Bilder.
Haben zwei Hauptstrahlen von verschiedener Brechbar-
keit, welche denselben Winkel gegen die Axe bilden, ge-
meinsame Haupt- oder Knotenpunkte, so sind die Farben
ausser der Axe gehoben; und werden hierdurch, wenn gleich-
zeitig der Farbenfehler für den Brennpunkt in der Axe ge-
hoben ist, die verschieden, farbigen Bilder gleich gross sein
und an derselben Stelle liegen, also sich decken.
Um die Form des Bildes eines Punktes zu bestimmen,
ist es nöthig, in dem Lichtbüschel, der den Bildpunkt ausser
der Axe bildet, ausser dem Hauptstrahle noch 3 weitere
Steinheil: Berechnung opt. ConstruUionen. 291
Strahlen auf ihrem Wege durch das optische System zu
verfolgen und ihren Durchschnitt mit einer zum Hauptstrahl
senkrechten Ebene in dem Punkte zu bestimmen, in welchem
sie sich einander möglichst nahe gekommen sind, d. h. im
Bildpunkte.
Von diesen 3 Strahlen, welche in gleichem Abstände
vom Hauptstrahl anzunehmen sind, liegen zwei in einer
Ebene, die sich durch die optische Axe des Systemes und
den Hauptstrahl legen lässt. Die Ebene, in welcher der
dritte liegt, enthält ebenfalls den Hauptstrahl und steht
senkrecht zur vorher angenommenen. In dieser Ebene ge-
nügt ein Strahl, da der gegenüber vom Hauptstrahl liegende
mit ihm symmetrisch geht.
Liegen im Bildpunkte diese 3 Strahlen symmetrisch
gegen den Hauptstrahl, so ist kein Astigmatismus vorhanden.
Als Bildpunkt ist stets der engste Querschnitt des Licht-
büschels anzunehmen; und es bedingt der Abstand dieses
Bildpunktes vom Haupt- oder Knotenpunkt die Form der
Bildfläche. Ist dieser Abstand dem entsprechenden des
Axenbildpunktes gleich, so liegt das Bild auf einem Kugel-
segmente, das aus dem Hauptpunkte mit der Brennweite als
Radius beschrieben werden kann; und das Bild ist ein ebenes,
wenn die Distancen vom Hauptpunkte im Verhältnisse zur
Sekante des Winkels wachsen, den der entsprechende Haupt-
strahl mit der Axe bildet.
Der Kugelgestaltfehler ausser der Axe kann als gehoben
betrachtet werden, wenn der Bilddurchmesser vom Haupt-
punkte aus unter keinem grösseren Winkel erscheint, als der-
jenige ist, welcher beim Axenbildpunkte unvermeidlich bleibt.
Die Bestimmung der 3 letzten Elemente : Astigmatismus,
Kugelgestaltfehler ausser der Axe und Form der Bildfläche,
wurde mir erst durch die von Herrn Prof. Seidel ent-
wickelten :
„Trigonometrischen Formeln für den allgemeinsten Fall
292 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
der Brechung des Lichtes an centrirten sphärischen Flächen"
möglich.
Bei Berechnung einer optischen Construktion müssen
somit folgende Punkte berücksichtigt werden:
Bei dem ßildpunkte in der Axe:
1) Brennweite.
2) Hebung des Kugelgestaltfehlers.
3) Hebung des Farbenfehlers.
Bei dem Bildpunkte ausser der Axe:
4) Hebung der Verzerrung.
5) Hebung der Farben ausser der Axe.
6) Bestimmung der Form der Bildfläche.
7) Hebung des Astigmatismus.
8) Hebung des Kugelgestaltfehlers ausser der Axe.
Für Fälle, in denen ein sehr grosser Oeffnungswinkel
verlangt wird, müssen den 3 Bedingungen für den Licht-
büschei in der Axe noch 2 weitere beigefügt werden; es
ist nämlich nöthig, den Farbenfehler und den Kugelgestalt-
fehler noch für einen weiteren Punkt der Oeffuung zu heben.
Die Hauptschwierigkeiten bei der Berechnung optischer
Construktionen liegen darin, die richtige Reihenfolge zu finden,
in welcher die Bedingungen erfüllt werden müssen, sowie für
die Auswahl direkt vergleichbare Fälle herzustellen; beob-
achtet man diese beiden Punkte nicht, so tritt sehr leicht
der Fall ein, dass einzelne Fehler wieder wachsen, während
man der Meinung war, alle zu verkleinern.
Es dürfte kaum gelingen, die Bedingungen 7) und 8)
streng zu erfüllen, wenn ein ebenes Bild von grosser (Winkel-)
Ausdehnung verlangt wird; während diess nicht schwierig
ist, wenn das Bild auf einer mit der Brennweite als Radius
beschriebenen Kugelfläche liegen darf.
Schliesslich sei es mir noch gestattet, einige einfache
Construktionen zu erwähnen, welche durch trigonometrische
Steinheil: Berechnung opt. Construktionen. 293
Rechnung festgestellt wurden und die Elemente anzuführen,
welche dabei als veränderliche Grössen in Betracht kamen.
Bekanntlich wäre es unmöglich, achromatische Linsen
mit positiven Brennweiten herzustellen, wenn bei den beiden
verwendeten Glasarten das Verhältniss der Brechungskräfte
dem der Zerstreuungskräfte gleich wäre; wenn z. B. ein
Flintglas, das bei gleichem Prismenwinkel die Ausdehnung
des Spektrum's noch einmal so gross , gibt als ein Crown-
glas, auch einen noch einmal so grossen Brechungscoefflcien-
ten hätte.
Es ist ferner unmöglich, ein achromatisches Objektiv
aus zwei verkitteten Linsen herzustellen, welches gleichzeitig
die Kugelgestalt und Farbenfehler hebt, wenn diejenige Glas-
art , welche die stärkere Zerstreuungskraft besitzt . eine
schwächere Brechungskraft hätte8).
Hieraus folgt die grosse Wichtigkeit, welche die Wahl
der Glasarten in Bezug auf ihre Brechungs- und Zerstreu-
ungskräfte für optische Construktionen haben muss.
Berücksichtigt man nun zur Bestimmung der günstig-
sten Form eines Doppelobjektives die Wahl der Glasarten
in der angedeuteten Weise und den Einfluss der Reihenfolge
der Glasarten, so wird man auf:
1) ein Doppelobjektiv geführt, bei welchem die Flint-
glaslinse vorausliegt und das den Kugelgestaltfehler für 2
verschiedene Distanct-n streng hebt. Dieses Objektiv erfüllt
säniintliche Bedingungen, denen das Frauenhofer'sche genügt
und ist in Bezug auf die Form der Bildfläche besser. Zum
8) Beim menschlichen Auge ist die Anordnung der brechendun
Flächen und die Reihenfolge der Medien eine solche, dass dabei der
Kugelgestaltfehler nicht gehoben werden kann; denn alle Ablenk-
ungen, die ein parallel zur Axe einfallender Strahl erleidet, liegen
in derselben Richtung; er wird stets zur Axe gebrochen.
294 Sitzung der math.-phys. Classe vom 6. Juli 1867.
Gebrauche der opt. und astron. Werkstätte ist dasselbe in
Tafeln gebracht worden.
2) Das monocentrische Objectiv, bei welchem das Bild
auf einer Kugelfläche liegt, deren Radius die Brennweite,
deren Mittelpunkt der gemeinschaftliche Hauptpunkt ist (es
fallen nämlich die beiden Hauptpunkte in einen zusammen).
Es erfüllt sämmtliche 8 oben gestellten Bedingungen und
es ist hiebei nur über 2 Radien, die Wahl und die Reihen-
folge der Glasarten verfügt. Es besteht aus einer Kugel
und zwei gleichen Menisken, in deren innern Flächen die
Kugel eingekittet ist, während die äusseren mit einem (um
die Dicke) längeren Radius aus dem Mittelpunkte der Kugel
gezogen sind. In dem Meridian der Kugel, der senkrecht
zur optischen Axe des Systemes steht, ist eine Blendung
eingeschliffen. Ein parallel zur Axe einfallender Büschel
erfüllt die Bedingungen 1) bis 3); alle Hauptstrahlen gehen
ungebrochen durch das System, alle gegen die Axe geneig-
ten Lichtbüschel erleiden gleiche Brechungen wie der pa-
rallel zur Axe. Für Fälle, in welchen kein grösseres Ge-
sichtsfeld verlangt wird, als beim Fernrohr- oder Mikroskop-
objektiv ist die Kugelform der Bildfläche kein Nachtheil, da
die Sicherheit der Einstellung geringer ist als die Verstell-
ung, welche der Rand eines solchen Bildes gegen die Mitte
erfordert. Bei schlechten Construktionen von Mikroskop-
objektiven ist die Krümmung der Bildfläche eine ausser-
ordentlich viel stärkere. Das Objektiv, welches der Classe
vorgelegt wurde, hat einen Oeffnungswinkel von 14° = V*
der Brennweite und 4'" Aequivalentbrennweite.
3) Das aplanatische Objektiv mit ebenem Bilde erfüllt
die Bedingungen 1) — 6) streng; 7) und 8) sehr nahe; ist
symmetrisch gegen den optischen Mittelpunkt und jede Hälfte
wird gebildet von einem verkitteten Doppelobjektive, das
aus einem positiven und einem negativen Flintglasmeniskus
besteht.
Steinheil: Berechnung opt. Construktionen. 295
Zur Berechnung desselben wurde über 3 Radien, einen
Abstand, sowie über die Wahl und Reihenfolge der Glas-
arten als veränderliche Elemente verfügt. Es gestattet bei
einem Oeffnungswinkel von 9° 10' (gleich V Brennweite)
die Benutzung eines Gesichtsfeld winkeis von 36°; und durch
Anwendung einer kleineren Centralblende bei einem Oeff-
nungswinkel von ca. 2° gleich Vso Brennweite die Benutzung
eines Gesichtsfeldwinkels von 60°.
Bei diesem Objektive sind ausser den für die Richtig-
keit des Bildes nothwendigen 8 Bedingungen noch 2 weitere
erfüllt, welche die Praxis fordert und zwar:
9) möglichste Vermeidung von Lichtverlusten und
10) Vermeidung störender Reflexbilder.
Da das aplanatische Objektiv zunächst zu photographi-
schen Zwecken bestimmt ist, so sind die Helligkeit und
die Tiefe9) der Bilder zwei sehr wichtige Eigenschaften,
welche beide hauptsächlich vom Verhältnisse der Oeffnung
zur Brennweite abhängen. Mit der Vergrösserung der Oeff-
nung im Verhältnisse zur Brennweite nimmt die Helligkeit
zu, die Tiefe der Bilder jedoch nothwendig ab ; desshalb
ist es wesentlich den Einfluss derjenigen Ursachen zu ver-
mindern, welche, ohne die Tiefe zu erhöhen, die Helligkeit
der Bilder verkleinern. Es sind diess hauptsächlich die
Lichtverluste durch Reflexion an den Glasflächen und die
Absorbtion des Lichtes durch die Masse des Glases. Da
die Verluste durch Reflexion mit der Grösse der Einfalls-
winkel und derjenigen des Brechungsunterschiedes der Medien
wachsen, so bietet die Verkittung der inneren Flächen,
9) Ein Apparat gibt tiefe Bilder, heisst, er besitzt die Fähigkeit
von ungleich entfernten Objekten gleichzeitig ein deutliches Bild in
derselben Ebene zu erzeugen.
296 Sitzung der math.-i>hys. Classe vom 6. Juli 1867.
welche viel stärker gekrümmt sind als die äusseren und der
geringe Unterschied des Biechungscoefficienten der beiden
verwendeten Flintgläser in dieser Beziehung bedeutenden
Vortheil. Der geringe Brechungsunterschied der verwende-
ten Glasarten bedingt überdiess noch eine Form der Linsen,
die bei Herstellung eines ebenen Bildes einen nur geringen
Abstand der beiden Objektive erfordert; diess gewährt den
Vortheil, dass auch bei Benutzung eines grossen Sehfeldes
die Linsen nur um Weniges grösser zu sein brauchen, als
es der Oeffnungswinkel (die Helligkeit des Bildpunktes in
der Axe) erfordert; und es ist leicht einzusehen, dass
kleinere Linsen mit geringeren Dicken ausgeführt werden
können; dadurch ist eine Verminderung der Lichtverluste
durch Absorbtion erzielt. Schliesslich bietet die Menisken-
form der beiden Objektive den Vortheil, dass die Reflex-
bilder, welche von Strahlen gebildet werden, die eine gerade
Anzahl von Reflexionen erlitten haben und desshalb in der
Richtung gegen das Bild weiter gehen, sämmtlich zwischen
oder ganz nahe an den Linsen liegen, so dass das von
ihnen ausgehende diffuse Licht in der Bildebene keine
störende Intensität mehr hat, zumal diese Reflexbilder sehr
kleinen Brennweiten entsprechen. Während alle bis jetzt ge-
bräuchlichen Construktionen , bei welchen der Kugelgestalt-
fehler gehoben ist, wenigstens 6 Brechungen von Luft in
Glas haben, hat das aplanatische Objektiv deren nur 4 und
in Folge dessen auch weniger reflektirtes Licht.
Die beiden als Muster der Classe vorgelegten Photo-
graphien sind mit einem solchen Apparate von 19"' Oeff-
nung und 10" Brennweite aufgenommen; der gleichfalls
vorlag.
4) Die aplanatische Landschaftslinse, für Landschaften
und Architekturen bestimmt ist , hat als grösste Helligkeit
nur V24 Brennweite; gewährt aber dabei ein ebenes deut-
liches Bild von 80° und gestattet bei kleineren Blendungen
Eoclcinger: Handschriften zum Schwabenspiegel. 297
Gesiclitsfeldwinkel von 105 Graden. Es gibt bei V" Öff-
nung und 6" Brennweite Bilder bis 16" Durchmesser. Es
erfüllt die gleichen Bedingungen wie das lichtstärkere apla-
natische Objektiv, ist aber aus anderen Glasarten, deren
Brechungscoefficienten nicht 2/3 Procente von einander ver-
schieden sind.
Historische Classe.
Sitzung vom 6. Juli 1867.
Herr Rockinger spricht:
,,Ueber drei mit einem Anhange zum Land-
rechte vermehrte Handschriften des soge-
nannten Schwabenspiegels auf der Staats-
bibliothek zu München."
In den deutschen Rechtsbüchern des Mittelalters und
ihren Handschriften S. 38 und 44 bemerkt Homeyer, dass
in einer heidelberger Handschrift des sogenannten Schwaben-
spiegels (a. a. 0. Num. 317, und in dem der Ausgabe des
Freiherrn v. Lassberg vorstehenden Verzeichnisse der Hand-
schriften Num. 61) das bekannte Buch der Könige mit einer
., Her renlehre" endigt, das ist der Geschichte von der
Zählung Israels durch David, welcher sich dann noch
ltechtssätze in 11 §§ anschliessen. Ferner dass in Hand-
schriften zu Fulda, Königsberg, und einer aus dem Stifte
Weingarten stammenden aber nun zu Stuttgart nicht mehr
vorhandenen (a. a. 0. Num. 206, 364, 649; in Endemanu:s
298 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juli 1867.
Einleitung zum Kaiserrecht S. XLIX. Num. 6 ; bei Freiherrn
v. Lassberg Num. 150) diese 11 §§ ein eigenes zweites
Stück nach dem Buche der Könige bilden. Weiter, dass
die Handschrift zu Herisau, der cod. germ. 553 der Staats-
bibliothek zu München, und zwei der öffentlichen Bibliothek
zu Stuttgart (a. a. 0. Num. 328, 475, 643, 644; bei Frei-
herrn v. Lassberg Num. 69, 105, 146, 147) die Herrenlehre
mit den 11 §§ ohne das Buch der Könige enthalten, die
erstere im Eisgänge , die übrigen am Schlüsse des Land-
rechtes.
Zu den zuletzt aufgeführten zählen von Handschriften
der Staatsbibliothek zu München neben dem cod. germ.
553 noch zwei weitere, welche um so mehr einer kürzeren
Erwähnung werth sein dürften als eigentlich nur der eben
bezeichnete bisher aus der Beschreibung des Freiherrn von
Lassberg Num. 105 näher bekannt ist, der cod. germ. 3967
sogar am eben bemerkten Orte Num. 25 als hier nicht
mehr vorhanden bezeichnet wird, des cod. germ. 4929
aber nirgends sonst genauer gedacht wird.
Gleich der zuletzt aufgeführte = I, mit Ausnahme des
ersten und zwölften wie des (nunmehr ausgeschnittenen)
sechsten und des siebenten Blattes, also der äusseren und
der inneren Lage des ersten Sexternes, welche Pergament
sind, sonst auf Papier in Folio zweispaltig wohl noch in
der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts geschrieben,
im Jahre 1770 dem „Joseph Bernhard Parth Stattschreiber
in Mospurg:t gehörig, enthält von fol. 1—63' Sp. 1 das
Landrecht, welchem unmittelbar bis fol. 64 Sp. 1 die gute
Herrenlehre in nachstehender Fassung folgt.
Nu sült ir edeln tugentlichen herren an disem püch
pesserung lernen an tugentlichem leben, vnd sült alle zeit
in ewerem herzen tragen ditz vorbilde das ew der almächtig
got an disen kunigen vnd an disen herren vnd richtern hat
erzaiget, das ir recht gerichte habt vnd euch arm lewt lat
Bockinger: Handschriften zum Schwabenspiegel. 299
erparmen die kain vbel vnib euch dienen, jst hallt das si
ainualtigklichen schuldig gen ew werdent, dannoch süllen si
euch erparmen, so erparmt sich got vber euch an eweren
lezten Zeiten, vnd ir sült got vor äugen haben, vnd sült
in mynnen vnd furchten, so wachset ewer sälde an leib vnd
an sei, vnd alle ewer lewte vnd das land ist dester säliger,
als an disen herren offte schein ist worden di an disem
buche sind, wann das hat der alniächtig got an manigen
enden erzaiget in der heiligen schrift, alls der herre gottes
willen tet, das alles sein lewt vnd alles sein land dester
säliger was. vnd als der herre wider got iclit tet, so war
er selb des ersten an leibe vnd an seile vnsälig, vnd dar-
nach alle di in an horten, lewt vnd gut vnd land.
Das hat vns got erzeuget an dem edelen heiligen kunig
Dauid. der tet ein klaine sünd wider got. vnd müsten
seiner leut manig tausent menschen den pitern tod dar
vmb leiden , als auch hieuor von maniges küniges schulde
geschach.
Her Dauid der kunig hies im niwan ze einem male sein
lewte zelen wie vil er stritber lewte hetet in seinem lande, dar-
umb wolt got des nicht enpern, er müst dreyer püsse aine dar-
umb leiden, gern oder vngern. wie vil herre Dauid sprach : herre
got, genade, vergib mir dise sünde, ich getun es nymmermer,
vnd vber heb mich dirrer dreier püsse, das half nicht, er
müszte vnd müze dirrer dreier püzze aine nemen, das siben
iar hunger in seinem lande wäre, oder das er vnd alle die
sein drey moneyde vor seinen veinten fluhtich müsten sein,
oder das drey tag grosser lantsterbe in seinem lande wäre,
do der edel vnd der weise herre das vernam , das es de-
hain rat was, er müst der dreier püsse eine nemen, do
sprach der tugendreiche vnd der heilige Dauid also, nym
ich nu di siben hunger iar, so trawt ich doch wol etwas
vinden das ich mich hungers nerte. owe, herre, so stürben
awer alle mein lewte vnd die gar vnschuldig sind an dirre
300 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juli 1867.
sünde. näm ich di drey monede, so entrunne ich ettwo
wol meinen veinden, ich hab gut pürge das ich di drey
monede wol genäse vor meinen veinden. owe, herre, so
wurden alle mein lewte erslagen di an meiner sünd vn-
schuldig sind, herre got, ich wil der zwaier pusse nicht,
seid es kain radt ist, so wil ich, herre, auf dein genad vnd
auf dein erbärmde di drei tag den lewt sterben nemmen. so
triftest du, herre, mich selben als schir als di fremden, wann
ich pin der recht schuldig, herre, ich pin der di sünde
getan hat. dauon lassen auch dein gericht vnd dein räche
vber mich armen nach deinen genaden geen. als do got
sein trewe also lauter vnd also raine sach, do tet er im di
genade : der lewtsterbe der di drey tag solte han gewert,
der werte niwan von prime vntz her zu terzie zeit.
Als genädig ist der almächtig got noch heute, wer also
beschaiden rew gein im hat vmb sein sünde. vnd also ver-
dinent di herren noch hewte mit iren sünden , das in iren
lande vrleuge wirt, oder viehe sterbe, oder hunger iar, oder
ander vngelüke. dauon süllen si sich dester halter hüten
durch ir sälichait leibes vnd seile vnd durch di säligkait
irer lewte und ir landes, das si hie vnd dort herren sein.
Des helfe vns der almächtig got. amen.
Hieran reiht sich nach einem kleinen leeren Zwischen-
räume von fol. 64 Sp. 1 auf fol. 64 Sp. 2 der aus 11 Ar-
tikeln bestehende Anhang zum Landrechte, den wir am
Schlüsse in seinem ganzen Umfange mittheilen, bis fol. 68
Sp. 2. Ihm folgt, wiederum nach einem kleinen leeren
Zwischenraum von fol. 68 Sp. 2, mit fol. 68' Sp. 1 das
Lehenrecht bis fol. 93' Sp. 1, wovon die letzteren Blätter
wie es scheint durch anhaltende Feuchtigkeit gebrochen und
vermodert sind , wie deren Schrift theilweise ganz und gar
unleserlich geworden und auch der mit rothem Leder
überzogene Holzdeckelband durch und durch wurmstichig
und an manchen Stellen ganz gebröckelt ist
Roelciiiger: Handschriften zum Schwabenspiegel. 301
Der cod. germ. 3967 = II, aus dem Stifte St. Ein-
meram stammend, von woher dem Reichsfreiherrn Heinrich
Christian v. Senkenberg die Beschreibung zuging welche er
in seinen visiones diversae de collectionibus legum germani-
carum S. 188 — 190 mittheilte, am 31. Juli des Jahres 1444
von „Johannes die czeyt kyrehner czu Weysselstorff ge-
besen"' auf festem Papiere in Folio in zwei Spalten vollendet,
enthält von fol. 1 — 68' Sp. 2 das Landrecht, welchem sich
ohne alle und jede Unterbrechung unmittelbar bis fol. 73'
Sp. 1 der Anhang hiezu anschliesst, worauf wieder ohne
Zwischenraum bis fol. 74 Sp. 2 die gute Herrenlehre folgt,
welche sogar nach den auf ihrem Schluss roth hinbemerkten
Worten „dictum est. explicit" noehmal bis zu den Worten
„dy kein vbel vmb euch dynen;' angefangen ist, woran ohne
jede Unterbrechung der Zeile unmittelbar der zu Punkt 9
des Anhangartikels 3 über die Handfestenfälschung gehörige
Satz ,,Ist ein czinser an ein goczhawsz" bis zu den Worten
,,vber svmeliche sache der man nicht verkeret" gereiht ist.
Nachdem noch auf fol. 74 Sp. 2 der kleine leere Raum durch
die rothe Ueberschrift des Lehenrechtes ,,Hye hebet sich
daz lehen buch an" und den gleichfalls roth geschriebenen
Vers
Amen solamen.
Si deficit fenum, aeeipe stramen
ausgefüllt ist, beginnt das Lehenrecht selbst mit fol. 74' Sp. 1
und reicht bis fol. 102' Sp. 2, an dessen Schlüsse sich die
Verse
Hie hat diez puch ein ent.
Got vns seineu gütlichen segen sent.
Explicit, expliciunt.
Sprach dy kaez czu dem hunt :
dy fiaden sein dir vngcsvnt
und die Angabe des Schreibers samnit der Datumsbezeich-
nuug finden wovon bereits die Rede gewesen.
[18G7.II.2.] 20
302
Sitzimg der histor. Classe vom 6. Juli 1867.
Der cod. germ. 553 endlich = III, in Folio auf Papier
auch noch in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts
zweispaltig geschrieben, enthält von fol. 1 — 83 Sp. 1 das
Landrecht, woran sich unmittelbar bis fol. 83' Sp. 2 die
gute Herrenlehre anschliesst, worauf nach kleinem leeren
Zwischenräume der Spalte 2 des fol. 83 mit fol. 84 der
bemerkte Anhang zum Landrechte bis fol. 89' Sp. 2 folgt,
welchem sich abermals nach kleinem leeren Zwischenräume
der Sp. 2 des fol. 89 von fol. 90 an das Lehenrecht bis
fol. 122' Sp. 2 anreiht, wie in I und II alles unter rothen
Kapitelüberschriften und mit rothen Initialen des Textes der
Kapitel.
Vergleichen wir nunmehr genauer den Inhalt des
Land- wie des Lehenrechtes unserer Gruppe1) mit
der vom Freiherrn v. Lassberg besorgten Ausgabe des so-
genannten Schwabenspiegels, so stellt sich folgendes Ergeb-
niss heraus.
Das L
andrecht.
L.
I.
IL m.
L.
I.
H.
III
Vorw. a '
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— f
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1 1
4
52)
5
5
1) Vgl. hierüber Ficker über einen Spiegel deutscher Leute
und dessen Stellung zum Sachsen- und Schwabenspiegel S. 150 (2GG)
unter IV c. 3.
2) Die Ueberschrift fehlt hier, indem der dafür leer gelassen
gewesene Raum für die wie es scheint anfänglich vergessenen Schluss-
worte des vorhergehenden Kapitels verwendet worden.
Boclcinger: Handschriften zum Sclacahensiriegcl.
303
L.
I.
II.
III.
L.
I.
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21
21
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12
12
27
21
22
22
1) Die Abtheilung dieser beiden Kapitel gegen den L-Druck 5
S. 8 ist folgende.
Ersteres reicht unter der Ueberschrift ,,Wie die muter mit den
kinden teylt, sagt das capitel'' bis zu den Worten: vnd darnach
gleich teylen unter weyp vnd vnter kint dy vn aus gestewret sein.
Dann folgt das andere unter der Ueberschrift: Von geystlicher
gab sagt das.
2) Durch ein Yerweisungszeichen ist als hieher gehörig nach-
stehender von gleicher Hand auf einem besonderen beigehefteten
Streifen geschriebener Artikel eingetragen:
Von prüdem heyrat
Nement zwen prüder zwo swesster, vnd nyinbt der dritt prüder
ein fremdes weil), jre kind sind doch geleich nahen an der sippe,
jr yetweders des andern erb ze nemen, ob sy ebenbürtig sind.
3) Die Scheidung dieser zwei Kapitel gegenüber dem L-Drucke
22 S. 14 ist nachstehende.
Das erstere reicht unter der Ueberschrift ,,Wy ein man gut
schaffen schol seinen frewnden" bis zu den Worten: ader sy mngen
sich versawmen.
Dann folgt das andere unter der Ueberschrift: „Was ehafft
not sey.
4) Die in Klammern gesetzten Kapitel fehlen gänzlich, indem
das sechste Blatt aus der Handschrift ausgerissen ist.
Das fünfte schliesst mit den Worten L 22 S. 14 Sp. 2 : das si
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L.
I.
II.
III.
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Clause vom G. Juli 1867.
II.
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im slechtes ledig wirt als hie vor geschriben ist. Das siebeute be-
ginnt mit den Worten L 27 S. 17 Sp. 1 unten: hat das selb recht
so si kumbt vber z'welf iar.
1) Beim Beginn von L 67 findet sich keine Ucberschrift , aber-
eiue rothe Initiale.
Hockhujer: ITandsclirlftev r.um Sclncalcnspiegel.
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1) Beim Beginne von L 00 findet sich keine Ueberschrift , aber
der Text fangt mit einer neuen Zeile und einem rothen Anfangs-
buchstaben an.
306
Sitzung der histor. Classc vom 6. Juli 1867.
L.
I.
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III.
L.
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Bock
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Handschriften
zum Schwahensplegel.
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II.
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L.
I.
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178
174
275
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251
174
179
175
276a
1) Zur Geschichte der Caefurnia hat eine flüchtige Hand des
sechzehnten Jahrhunderts, von welcher sich auch sonst an anderen
Stellen Bemerkungen finden, an den oberen Rand von fol. 55' Sp. 2
beigeschrieben :
Nota, non obtenta sententia a Kalfulnea judicj et ceteris asses-
soribus nuda fuerunt ostensa ab eadem posteriora. ob quod inter-
dictum ex post est omnibus niulieribus officium postulandi. nee in
illo casu cesante causa cessat et efiectus. etc.
308
Sitzung der Mstor. (lasse vom 6. Juli 1867.
L.
276b
276c
277 194
278
279
280
281
282
283
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285
286
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299
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205
206
207
208
209
210
211
II.
198
199
200
202
203
204
205
206
207
208
204 209
210
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213
214
215
216
III.
194
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198
199
200
201
202
203
204
205
206
207
208
209
210
211
212
L.
303
304
305
306
307
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310
311
312
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12
213
214
215
216
217
218
313 219
314
3141
220
221
314II 222
315 223
316
317
318
319
3191
320
32
322
323a
323b
324
325
326
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225
226
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232
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IL III.
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217
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219
220
221
226 222
227 223
228 224
229 225
226
227
228
4)
229
230
231
232
233
234
235
1) Das erstere dieser zwei Kapitel reicht bis zu den Worten L
307a S. 131 Sp. 1: der sol im raten als auch an dem buche stet.
Ohne Unterbrechung der Zeile wird dann weitergefahren. Aber
an den Rand ist hiezu mit kleinerer Schrift roth als Ueberschrift
beigesetzt: Von ayden.
2) Vgl. unten Kapitel 280.
3) Vgl. unten Kapitel 287.
4) Vgl. unten Kapitel 282.
Eocl-ingcr: Handschriften zum Schväbenspiegel.
309
L.
I.
IL
III.
L.
I.
IL
III.
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271
265
266
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—
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—
—
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267
274
269
3491b 243
249
245
369
268
275
270
1) Die Abtheilung dieser beiden Kapitel gegen L 350 und 351
ist folgende.
Ersteres reicht bis zu den Worten L 351 S. 150 Sp. 2: darumb
das si nicht mit ein ander sünde tünt.
Dann folgt das andere unter der Ueberschrift: Dem geuangen
lewte entrinett (II: entrienen sint. III: entrinnent).
Zu bemerken ist vielleicht noch, dass sich in I und III beim
Beginne von L 351 ein rother Anfangsbuchstabe findet.
2) Die Ueberschrift fehlt hier. Der Text beginnt aber mit einer
neuen Zeile und rother Initiale.
310 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juli 1867.
L. I. IL III. L. I. II. III.
370
269
278
271
3751
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283
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279
370II
271
277
273
375IV
278
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280
371
273
280
275
375V
279
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373 J
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—
—
377
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279
274
3771
283
290
285
375
275
282
277
— Herrenl.
-2)
Herrenl
Anhang zum Lanclrechte.
—
1
1
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7(a)
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—
2
2
2
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3
3
3
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7(c)
7(c) 7(c)
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1) Vgl. oben Kapitel 319 I.
2) Die Herrenlehre ist hier erst nach dem sogleich folgenden
Anhange zum Landrechte gesetzt, wie oben S. 301 des näheren be-
merkt worden ist.
3) Die Abtheilung dieser beiden Kapitel gegenüber L 1 und 2
ist folgende.
Ersteres schliesst gegen L 1 b S. 171 Sp 2: Darnach geet dew
sibende zal an. da mues dew werlt ein ende mit nemen. weder der
sibenden zal noch tausent iar werden, oder mer oder minder, das
wais nicman.
Bockinger: Handschriften zum Schwabenspiegel. 311
i. ii. in. l. i: IL III.
5
6
6
6
14
20
20
20
6
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7
7
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21
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12
12
18
25
25
25
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13
13
13
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26
26
26
10a
14
14
14
20
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27
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28
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16
16
16
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30
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33 .
33
33
Hierauf folgt als zweites Kapitel die nachstehende Fassung:
Di des herschiltes darbent.
Nu hat man ew genant alle di des herschiltes darbent.
Vnd ist das ein herre ir einem ein lehen leihet, der hat als gut
recht daran als der in dem sechsten herschilt vert. vnd erbent dew
lehen an ire kinder.
Awer vmb alles lehenrecht mügen si nicht vrtail vinden di des
herschiltes darbent wann vor iren herren von dem si lehen haut.
Iren gezeügen den verlegt man wol vmb lehenrecht vor andern
herren on vor jren herren.
1) Die Abtheilung dieser beiden Kapitel gegen L 7 S. 172 Sp. 2
ist folgende.
Ersteres reicht bis zu den Worten : der hilfet im wol mit rechte,
den mag der herre nicht verwerffen.
Dann folgt das andere unter der Ueberschrift : Wie der man
den herren eren sol.
2) Die Abtheilung dieser beiden Kapitel gegen L 13 S. 175 Sp. 1
ist folgende.
Ersteres reicht unter der Ueberschrift „Sprechent zwen ain gut
an dy der gewer darbeut" bis zu den Worten: das müs er erzeugen
zu im mit zwain des herren mannen.
Dann folgt das andere über der Ueberschrift: Gcdingde.
312
Sitzung der histor. Geisse vom 6. Juli 1867.
L.
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
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35
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I. IL III.
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59
-4)
59
60
61
62
1) Beim Beginne von L 33 findet sich hier der rothe Anfangs-
buchstabe N.
2) Die Abtheilung dieser beiden Kapitel gegenüber L 40 S. 181
Sp. 2 und 182 Sp. 1 ist folgende:
Ersteres reicht unter der Ueberschrift „Wem der herre leihen
sol" bis zu den Worten L 40 c: Wem der herre gut gelihen hat, des
kinden mag er nicht verzeihen.
Dann folgt das andere unter der Ueberschrift: An welher stat
man nicht leihen sol.
3) Die Abtheilung dieser zwei Kapitel gegen L 43 und 44 ist
folgende:
Ersteres reicht bis zu den Worten L 43b S. 184 Sp. 2 unten:
der tage sol ie ainer sein vber vierzehen nacht.
Dann folgt das andere unter der Ueberschrift: Dem dreistund
tag gegeben wirt.
4) Vgl. unten die Note zu Kapitel 137.
Rockiiiger: UandacJiriften :.um Scliwubeiispiegcl.
313
L.
I.
IL
III.
L.
I.
IL
III
GO
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64
64
65
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84
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82
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102 j
104 ]
102
1) Beim Beginne von L 72 b findet sich ohne besondere Ueber-
schrift in neuer Zeile die rothe Initiale 0.
2) Nach dem Schlüsse von L 75 findet sich hier noch der
Zusatz :
Vnd kom der man nicht dar, vnd das in des ehaft not latzte,
das müs er selbdritte erzeugen di das wars wissen, damit hat er
awer behabt.
314
Sitzung der histor. Classe vom 6, Juli 1867.
L.
I.
II.
III.
L.
I.
IL
III.
104b
103
105
103
125
120
122
120
105
104
106
104
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123
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106
105
107
105
127
122
124
122
107
106
108
106
128a
123
125
123
108
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107
108
109
110
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113
115
113
134
129
131
129
117
118
119
115
116 1
117
114
115
135
136 \
137 /
130
131 j
132
133
130
/ 131
120
116
118
116
138
132
134
132
121
1173)
1193)
1173)
139
122
123
118
120
118
140
141
> 1334)
>1354)il33'
124
119
121
119
142
-
1) Die Abtheilung dieser beiden Kapitel gegenüber L 111 — 113
ist folgende.
Ersteres reicht unter der Ueberschrift „Lehen an manschaft'1
bis zu den Worten L 112 a S. 204 Sp. 1: on in kirchen vnd in
kirchhöuen.
Dann folgt das andere unter der Ueberschrift in I und III:
Lehentädingk lang vnd vil, in II: Lehen teiding lang ist daz.
Die in I in Klammern geschlossenen Kapitel sind durch Aus-
riss des Fol. 85 nicht mehr ganz vorhanden. Kap. 111 bricht näm-
lich mit den Worten L 112a S. 204 Sp. 2 ab: wo dew stat oder das
dorff sey da er in. Fol. 86 sodann beginnt mit den Worten L 115 b
S. 206 Sp. 2 : schulde als im der herre gedinget ist.
2) Vgl. den Schlussabsatz der vorhergehenden Note.
3) Diesqs Kapitel schliesst schon mit den Worten: vnd gibt
ienem dehein losung, in II: vnd gibt jenem losvnge.
4) Der Schlussatz von L 142 über den Thorwart fehlt hier.
Rockinger: Handschriften sum Schwabenspiegcl 315
L. I.
II.
III.
L.
I.
II.
III.
143 ) 134
144 1 ld4
) 136
} 134
151
152
140
141
142
143
140
141
145 135
137
135
153
142 2)
144 2)
142 2)
146 136
138
136
154
143
145
143
147 137
1'39
1371)
155
144
146
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112 } 138
149a J
} 140
} 138
156
157
145
146
147
148
145
146
149b 139
141
139
158
147
149
147
150 140
142
140
159
148
150
148
Wir sehen hier im Ganzen von einer ausführlichen An-
gabe der Abweichungen ab welche unsere drei Handschriften
in der Trennung einzelner Kapitel des L-Druckes in
mehrere wie umgekehrt in der Zusammenziehung von
so und so vielen Kapiteln jenes Druckes in nur
eines darbieten, oder von einer genauen Verzeichnung der
in unserer Gruppe vielfach anders lautenden Ueberschrif-
ten der Kapitel.
Im übrigen stellen sich bei der Betrachtung unserer
vergleichenden Zusammenstellung nachfolgende mehr oder
weniger wesentliche Punkte heraus.
Zu den letzteren zählen etwa Versetzungen von
Kapiteln, wie im Landrechte von 1257 und 258 =
II 264 und 265 = III 259 und 260 gegen L 3631 und
363 b; oder von 1272 bis 275 = II 279 bis 282 = III 274
bis 277 gegen L 371 bis 375; oder von I 281 und
282=11288 und 289 = 111283 und 284 gegen L 376 und
377; oder noch besonders von II 276 bis 278 gegen L 370
1) Hiezu ist ein kleiner von der gleichen Hand beschriebener
Zettel eingeklebt, welcher das üben fehlende Kapitel L 55 ohne
Ueberschrift mit rotlier Initiale enthält.
2) Der erste nicht daher gehörige Satz L 153a fehlt hier, wo-
selbst der Text richtig beginnt: Der man sol dem herren nicht
wider sagen, noch der herrc dem man, wann si paide etc.
316 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juli 1867.
bis 370 II; oder im Lehenrechte von I und III 69 und 70
gegen L 65 und 66.
Wichtiger ist sodann, dass gegenüber der vom Freiherrn
v. Lassberg seinem Drucke zu Grunde gelegten Haupthandschrift
aus allen drei Gliedern unserer Gruppe die Kapitel
48, 316, 348, 374 des Landrechtes, und die Kapitel 55,
68c, 87, 122, 132a des Lehenrechtes fehlen, und ausser-
dem noch in II das Kapitel 17 des Landrechtes.
Dagegen bietet unsere Gruppe gegenüber der bemerkten
Handschrift nicht blos nach einer Seite hin sondern in mehr-
facher Beziehung ein Mehr.
Ein solches findet sich einmal in III in der Ein-
schiebung des Artikels 7 zwischen L 5 und 6, wovon
S. 303 in der Note 2 die Rede gewesen. Es mag hiezu das
Kapitel 5 der Handschrift von Herrenchiemsee verglichen
werden, welches wir im Berichte der Sitzung vom 26. Jänner
S. 220 mitgetheilt haben.
Sodann finden sich in allen drei Handschriften
unserer Gruppe gemeinschaftlich in dem mit Art. 314
des L-Druckes beginnenden dritten Theile des Land-
rechtes noch die in der Züricher, ebner'schen, wie anderen
Handschriften des sogenannten Schwabenspiegels vorkom-
menden Kapitel des L-Druckes 3141, 314II, 3191, 3271,
3491b, 3631, 3641, 3671, 367 II, 3681, 3701, 370 II,
3741, 3751, 375 II, 375 IV, 375 V, 3771.
Dieses letzte Kapitel „Von huren kinden" weist auch in
seiner Fassung gegenüber dem L-Drucke die bedeutend
weitere Gestalt der Handschrift Basel-Fäsch *) auf, wie
hier folgt:
Hat ein ledig man pey einem ledigen weibe ein kind,
oder mer dann eines, vnd nimbt er darnach ein eweib vnd
gewinnet pey der ekind, was er dem vnelich gibt pey dem
1) In der Ausgabe Wackernagel's Kapitel 334 S. 296 und 297.
Hochinger: Handschriften sam Schwabens]) iegcl. 317
gesunden leibe, das miigendt dew ekind nynnuer wider
sprechen mit rechte, noch enniögen in es mit recht nymer
genemen. an seinem todpette gibt er in wol varend gut on
erbe gut.
Hat awer er das vnelich kinde pey einem eweibe, oder
was er selb ein emau ze den zeiten do si des kindes pey im
swanger ward, dew kind haissent hür kind, vnd habent kain
recht, wenn welherlay gut der vater den kiuden gibt, das
chan noch enmag er in mit nichtew gesteten, im nement
es seinew ekind mit allem rechten wol.
Hat awer er das vnelich kind pey einer seiner niftelen
dew im an der vierden sippe sein mag ist oder näher, wann
so ie näher so ie sünder vnd auch schäntlicher, oder hat
er es pey ainer dew im swagerlichen sippe ist, das ist also
gesprochen: welich weib einen man hat zu der ee oder ze
vne, was dew niftel hat vntz an dew vierden sippe zal,
vnd ligt ein man bey der ainer dew seiner vnelichen frewn-
din oder seiner elichen hausfrawen niftel ist von der vierden
sippe oder näher, der ist ein sippe precher, gar ein grosse
sünde. vnd was ein man also pey den selben fraweii kinde
liat di im fleischliche sippe oder swägerlich sippe sind, dew
kind habent dasselbe recht als dew hür kind, weder minuder
noch rner.
Hat awer er si pey einer geuatern oder pey seiner
toten di er aus der tauffe erhaben hat oder dew in aus der
taufte erhaben hat , dew kind habent alle geleiches recht
sam dew hurkind.
Vnd hat ein man ein kind pey einer nunnen dew orden
in einem kloster empfangen hat, vnd kompt si holt wider
aus dem orden, vnd ist si ausserhalb des ordens lang oder
kürtz, darumb hat dehain man dester pesser recht au ir.
wann wer pey ir niwana ze einem male ligt süntliehen
mit seiner wissen, der ist sozehannt in dem aller höchsten
panne den got enhimel vnd enerde hat. ob man in halt
[1867. II. 2.] 21
318 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juli 1S67.
nymmer ze panne tut, noch ob man in nimmer in keinen
pann gekündet, so ist er doch in den höchsten pann körnen
niwan [vmb] di ainig sünde den got in himel vnd in erde
hat. vnd was auch ein man pey den selben nünnen kinde
hat, dew habendt auch dew recht als dew hüren kind, vnd
si haissen halt von allem recht hürkind.
Weiter schliesst sich dann dem Landrechte noch der
aus den mehr berührten 11 Kapiteln bestehende
Anhang zu demselben unter der Ueberschrift „Das sind
auch landtrechtu an.
Wir haben uns zur Zeit nicht vorgesetzt, des näheren über
ihn zu handeln. Immerhin aber dürfte — abgesehen von an-
derem — die Bemerkung nicht überflüssig erscheinen, dass seine
Kapitel 6 und 7 zu den Kapiteln 88 a und 88 b des Deutschen-
spiegels = Kapitel 89 und 90 der jetzt so bedeutsam ge-
wordenen freiburger Handschrift, wie nicht minder zu den
Kapiteln 71a theilweise und 71b bis f des Deutschenspiegels
= den ihnen entsprechenden Kapiteln der freiburger Hand-
schrift, wozu noch Ficker über einen Spiegel deutscher Leute
S. 25 (137) und 134 (250) verglichen werden mag, stimmen.
Auch ist sodann beachtenswerth, dass die übrigen — mit einer
kleinen Ausnahme bei 10 — sich in einer bisher nicht genauer
berücksichtigten Gruppe der systematisch geordneten Hand-
schriften des sogenannten Schwabenspiegels in die betreffen-
den Abtheilungen aufgenommen finden. Insoferne nun die
genauere Keuntniss seiner Beschaffenheit im Ganzen
für den Behuf der Beurtheilung anderweitiger Handschriften
des sogenannten Schwabenspiegels nicht ohne Bedeutung ist,
glauben wir selben in seinem Zusammenhange nach der
Fassung von I mittheilen zu sollen, welcher wir die ent-
sprechenden Abweichungen von II und III je unter B und
C in den Noten beifügen.
Boclcinger: Handschriften zum Schwabenspiegel. 319
1. Ob ein2) herre ein kirchen leihet.
Vnd ist das ain werltlich herre den gewalt hat das er
ein kirchen leihen sol oder zwo oder mer, vnd pitet in ein
pfaffe oder ein schüler das er im ain kirche leihe, vnd der
herre leihet im di kirchen, vnd kompt dann ein ander pfaffe
oder schüler an den selben herren vnd pitet in auch das
er im di kirchen leihe di er da ienem hat gelihen, das tut
der here wol mit rechte, ob im dirre lieber ist dann iener,
oder ob in des tünkchet das dew kirche an disem pas be-
statet sey dann an ienem, so leihet er si disem wol mit
recht.
Hat awer im der bischof den alter gelihen dem der
herre di kirchen des ersten lech, so mag er si niman mer
geleihön di weile der lebt, dem mag si weder leye herre
genemen noch der bischof.
Alle di weile ein pfaffe oder ein schüler den alter von
dem bischoue nicht empfangen hat, wie wol im der werltlich
herre di kirchen gelihen hat, vnd leihet si der herre einem
anderen, vnd wirt auch dem der alter von dem bischofe
gulihen e ienem, er hat si mit rechte.
Ist awer ein dingk das der werltlich herre dem erern
pffafen 3) oder schüler seinen brief mit insigelen gibt an den
bischof das er im den alter leihe . vnd gereuet den herren
das, vnd sendet dem bischof einen andern brief das er
disen man auf hallte an der geistlichen gäbe , er hab sich
eines Wägern bedacht, das hat dehain kraft, wann wem der
herre seinen brief mit insigel an den bischof gibt, dem müs
der bischof den altar leihen, vnd wäre halt der bischof
dem selben veint, er müs im in doch leihen mit rechte.
Vnd hat auch der herre4) di kirchen in seiner gewalt
2) B: der.
3) B: dem ersten pfarrer.
4) B: der selbe herre.
2V
320 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juli 1867.
vnuerlichen 5) sechs moned oder lenger, so hat er den ge-
walt verloren der lehenunge, vnd sol si der bisckof leihen
wem er wil, baiden kirchen vnd altar.
Wirt awer si darnach ledig, so leihet der herre si awer
wol. er verleuset niwan6) das aine lehen daran.
Dise sache ist werltlichen herren gut zewissen. man
müs awer vor geistlichem gerichte darumb rechten, vnd
gehört auch gaistlich vnd werltlich herren an.
2. Wie man kloster gut kauffen7) sol.
Vnd ist das ain abbt oder ein brobst oder ein abb-
tässin oder ein priorin 8) oder wie er so 9) gehaissen ist der
hauptman oder ein maister oder ein pfleger da ze einem
kloster ist, vnd wil der selb dem kloster ein gut an werden
das vrbor 10) haisset vnd nicht varend gut ist, das mag er
mit recht nymmer on werden dem kloster wie gewaltig er
ist, er bewer dann des ersten drew dingk vor der samnunge
des klosters. vnd ist dew samnunge nicht gar da, also das
man ir nicht gar zu samen pringen mag, so sol zum aller
minsten doch der samnunge das merer tail da sein: vor
denn sol er bewaren ee das er das gut on werde.
Des ersten sol er bewären, das man das gut von dem
kloster gelten süll da durch man das gut on werden müsse.
Zum andernn mal sol er bewaren, das er nindert
wisse dehain varend gut das des klosters sey damit er di
gülten 1 *) vergelten müge.
Zum dritten mal sol er bewarn, das er nindert wisse
5) B und C: vnverlihen.
6) B: nicht wann.
7) B: verkauften.
8) B : ein brior.
9) C: wie so er.
10) B: erber.
11) B; gult. C: gülte.
Rockinger: Handschriften sinn Schwabenspicgel 321
dehaiu ander gut das des klosters sey das mau dem kloster
als vnschedlich an werde als das selb gut.
So wird er das gut an mit rechte.
Vnd der das gut da kauffen wil, der sol pey dem
ersten fragen12) das es der merer tail der samnunge höre,
ob des kloster hauptman dise drey sache bewärt hab. vnd
sind si nicht bewärt, so sol er es nicht kauffen. sind si
awer bewärt, so kauffet er das gut mit recht, vud nem
darüber hantueste der samnunge vnd auch des pflegers. so
kauffet er das gut mit rechte an krieg 13).
3. Ob ein hantueste valsch sey14), wie man das
kiesen16) sol16).
Man velschet ein hantueste mit manigen dingen der di
trieger vnd die velscher vil künnen. vnd darumb süllen wir
di getrewen vnd di geweren leren wi si die valschen hant-
ueste kiesen vnd schauen süllen, das man si desterbas er-
kenne, das di rechten lewte damit nicht geäffet noch 17) be-
trogen werdent.
Ein hantueste wirt entwicht von dem gediente enmani-
gen ende 18). das kan ein wolgelert man wol erkennen, vnd
ettwenne von der geschiente, nennet man vns an einer stat
des ersten, vnd sprich ich das es dew samnung gelobt19)
hab, vnd si des nicht getan hat, so ist dew hantuest valsch.
12) A: sagen.
13) B: an allen krieck.
14) B: ist.
15) B: bessern.
16) Aus dem cod. germ. 553 ist dieses Kapitel abgedruckt in
der Ausgabe L 369 1 S. 157 Sp. 2 und S. 158 , in der Ausgabe W
419 S. 340—34_'.
17) B: lewte icht da mit ge efft vnd. C: vnd.
18) B: an mangen euden.
19) B: sammenunge gar gelobet. C: samnunge gar gelobt.
322 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juli 1867.
Das ander ist, wann man oben vnd niden das insigel
auf clozzet20), vnd maa ein ander seiden darein tut, vnd
das enrniten nicht enist.
Das dritte ist, das man an ertlicher hantueste di seiden
oben Yon ein ander sneidet, vnd sleusset si durch ein ander
hantueste dew nach seinem willen geschriben ist, und man
zaizet21) di seiden dann klaine ausz ein and«r vnd trädt22)
si dann ze samen vnd machet si wider gantz. das müs
awer yon gefügen frawen hannden geschehen.
Das virde ist awer meistic an den newen jnsigeleD, das
man etwenne mit hitze di seiden gar aus zeuhet, vnd tut
newe dar ein durch ein ander hantueste di er auch nach
seinem nuze geschriben hat.
Das fünfte ist da23) man ein hantueste mit velschet,
wenn man si geschahen sieht an der stat da man das da24)
schreibet da si vber gegeben ist. jst aber si geschahen
anderswo dann an der stat da man das da triftet vnd
nennet da si vber geben ist25), als ettwo da di maister ir
kunsc iegent, wie nutz vnd wie gut es sey das si gegeben
ist: ist si da geschahen, das wirret nicht.
Das sechste ist, das man ettwenne machet von weine
vnd von wasser das dew schrift gar ab geet, vnd gibt es
einem biichueller 26) der es mit seiner kunst gar ab tut,
vnd scribet danu wider daran nach seinem willen vnd nach
seinein nutze, das sol man gen der sunnen haben, so mag
20) B: cloesset.
21) B: czeyset. C: zeyzet.
22) B: dret. C: drät.
23) B: ist daa da.
24) B: stat do man do.
25) In B ist dieser Satz durch öfxoiott'Atvxov bis hieher aug-
gefallen.
26) B: buch veller.
Bockinger: Handschriften zum Schcabenspiegcl. 323
man es wol erkennen, so sieht man der allten schrifft
immer27) etwe uil in dem pirniit in28) der newen.
Das sibend ist, das mau ettwenn auch ein klaines per-
mit dünne29) auf di schritt leimet mit einer hausen pla-
teren30), vnd sneidet es dann geleiche als es nywan31) ein
permett sey, vnd schreibet dann auf das chlaine permeit
was im geuellet.
Das achtende ist, so das merrer tail der hantueste ge-
zeugen wider di hantueste sind, so ist si awer valsche.
Das neunte ist, so man an der hantuest leuget also :
das ich mich ze ainem ekind erbewte, vnd ich des nicht
enpin; oder das ich sprich ich sey armm, vnd das ich ain
kirchen han dauon ich mich wol betrage; oder ob ich
sprich ich sey frey, vnd ich aigen pin, oder ein zinser an
ein gotzhaus; oder an manigen dingen wann man gicht des
nicht war ist ; vnd wenne ich der rechten forme nicht enhan
di der stiil ze Rome gibt vber solich32) sache der man
nicht verkeret.
Das zehende ist, das man an neuen hantuesten bewärn
müs das es des herren Schreiber geschriben hab des insigel
daran ist, ob leicht einer ein insigel stäle vnd brächte es
zu ainem Schreiber der im schrib das in gut deucht, oder
ob er des herren insigel sunst fünde da sein aine* vergasse
ein kamerer oder ein Schreiber, oder im süst einpfiele33),
als offt geschieht.
Das aindleffte ist, ob man ein ander insigel grebt' nach
27) A: inner.
28) B: perment boy. C: permit jn.
29) B: perment dvnnz.
30) B: blatern. C: platcrn.
31) B: nicht wann.
32) B: svemlich.
33) B: enpliile.
324 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juli 1867.
clisera. das ist awer leichte ze erkennen der sein wol war
nimpt vnd es zu dem rechten jnsigel habt.
Das zwölfte ist, wa man ein hantueste schreibt vnd man
ze letzt nicht vnsers herren jar daran schreibet wie mauig
iar von vnsers heren Jesu Cristi gepurd sey vntz an den
tag das dew hantueste geschriben ward.
Das dreyzehendc das ist, das man ettwas macht das
linde ist als ein wachs, vnd truket das auf das wachsen34)
insigel, vnd machet das dann herte vnd das es sich doch
nicht erheuet35), das ist gar mülich ze erkennen, vnd
süllen wir es nyman leren machen.
4. Der in dem panne ist.
Vnd ist das ein man in dem panne ist , ob der mit
seinen aigen lewten icht rett36) oder schaffet, di sind dar-
umb nicht in dem panne, ob das in ir herzen ist das si
sein gern vber waren37) das si mit im nicht ze schaffen
hieten die weil er in dem panne ist.
Der im awer also gedenket, we ich wil nur38) dester
mer mit im reden vnd schaffen das ich im dester lieber sey,
der kompt in den selben panne da der herre innen ist.
wann man sol got den himelischen herren harter fürchten
dann den •irdischen herren.
Sein weib vnd seine kind mügen des nicht wol enbern:
si müssen mit im reden.
5. Von der gemeine39).
Wer ein gemaine an spricht, das ein man sich der ge-
34) B: wechsein. C: wähsin.
35) B: erhebet.
36) A und C: reit.
37) B: vberich wem.
38) B: wil nicht wann.
39) C: gemein ist daz.
BocTcingcr: Handschriften zum Sclucabenspiegel. 325
maine vnder windet, cintweder ze wisrnade40), oder äker
daraus machet, oder welherlaye er darauf pauet vnd es in
sein nütz zeuhet, vnd sol doch ein rechte gemaine sein, vnd
spricht jn eiD einig man darumb an das er es ze vnrecht
hab, dem sol er ze recht darumb nicht antwürten, er seze
im dann gut porgen, ob er im enbreste 4 *) , das im vmb
das gut nymermer kain man angespreche , wann es ein ge-
maine ist. enprest41) er dann heut einem, so spräche in
alle tag ein itnewer42) an, wann des landes herre, der
sprichet in wol mit rechte an.
Was gemaine ist, das stillen auch di lewte gemaine13)
ansprechen di es an get44).
6. Wie di kempfen45) auf den ringk süllen komen46).
M
Wer einen seine genos kämpflichen wil an sprechen,
der sol den lichter pitten , das er sich vnder winde eines
fiidbrechen mannes. das sol mit vrtail geschehen.
Vnd ob er sich sein vnderwunden hat, so sol in der
richter vragen im welher weise er den frid an ira geprochen
habe, da mag der klager gespräches vmb begern47), oder
er mag dem richter ze haut wol antwürten. er sol sagen
40) B: entweder wyszmat.
41) B: enbreche.
42) B: ein newer.
43) B: dy gemein lewte.
44) A: geendt.
45) B: kenippfier.
46) Dieses Kapitel entspricht den Kapiteln 88a, 88b, theilweisc
71, 71b, 71c des Deutschenspiegels und den liiezu stimmenden Ka-
piteln der freiburger Handschrift, deren Text die Ausgabe W Ka-
pitel 350, 351, 34(3 bietet, wozu noch der Grossfoliudruck (in Senken-
berg's Ausgabe Kapitel 167 § 8 — 15) verglichen werden mag.
47) B : vmb gern.
326 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juli 1867.
in wellier weise, ob er in beraubet hab auf der Strasse mit
raube oder mit wunden, oder wo es jm geschehen ist, oder
in welher weise er den frid an im geprochenn hab. in der
selben weise sol er auf in klagen.
Schuldiget er in, er hab in gewunndet, vnd ist die
wunde hail, er sol beweisen di masen. dew weisunnge hat
doch48) nicht krafft. er müs di wunden erzeugen selb-
dritte, ob iener seinen aid bewtet. hat er nicht gezeugen,
so sol er im di hant ab ziehen, vnd sol also sprechen:
herr, herr richter, mit ewerem vrlaub so wer ich im den
aid, vnd zeuhe im di hant von dem aide, vnd wil das he-
uerten mit meinem leibe auf seinen leib das ich recht hab.
so sol der richter von in baiden porgschaft nemen.
Den kämpf sol man in gepieten ze laisten vber sechs
wochen.
Sprichet man einen man kämpflichen an nach mitem
tage, er gewaigert sein wol.
Sprichet ein man den andern an kämpflichen der wirs
geporen ist, der waigert sein wol.
Sprichet ein hochgeborn man einen kampflichen an der
nyder geborn ist, der49) mag im nicht gewaigern.
Vnd sprichet einer den andern an ze kämpfe, vnd sind
si also nahen mage , so mag ir ietweder mit dem andern
kempfen50), ob di mage gereiten01) mügen das si zu der
fünften sippe ein52) ander sippe sint. des müs ir vater
mage sibene vnd ir müter mage53) zu den heiligen sweren.
ettwenne was es zu der sibende sippe. nu habent di bäbst
48) In B fehlt doch.
49) In A und C ist von „waigert" angefangen bis hieher aus-
gefallen.
50) B: gekemppfen.
51) B: mage ein ander gereiten.
52) B: sipp czu ein.
53) B: ir vater mage vnd ir muter mage siben.
Rockingcr: Handschriften zum Schwabenspicgel. 327
weib erlaubet ze nemen an der fünften sippe, vnd darumb
hant auch die kunig gesezet das ain ieglich man mit dem
andern wol kempfen sül der im sippe sey vber di fünften sippe.
Der richter sol leihen dem den man schuldiget auf den
man dar54) klaget einen schilt vnd ein swert.
So man da hin kompt da der kämpf da ist, so sol der
richter geben zvven poten zu in baiden55) di das sehen das
man si nach rechter gewonhait an gelege vnd in gärbe 56).
Leder vnd leinein dingk süllen si an legen als vil als
si wellent, haubt vnd fusz57) sullenn in blos sein, vnd an
den hennden sullen si dünne hantschüch58) haben lidrein,
vnd in der hant blos, vnd einen schilt da nicht dann holtz
an sey. ettwo ist gewonhait das si an schilte vehten mit
pugkeleren di eisnein sind, si59) süllen roke an tragen on
ermel.
Auch sol man lewten60) frid gepieten pey dem halsse,
vnd das si nyman irre an61) ir kämpfe.
Ir ietwederm sol der richter einen man geben der ein
stauge trage, di sol der vber den haben der da geuellet.
vnd gibt er, so ist er vbervvunden62). mag er auf, man sol
in auf lan. weder63) der stange mutet, dem sol man si
vnderstossen. das sol der richter erlauben.
Einen ringk sol man in machen, der sol sein zwainczig
füsse oder fünf vnd zwainzig weit, weder63) daraus fleuht,
der ist siglos.
54) A und C: da.
55) B: richter czwen boten czu yn beyden senden.
5G) B: geverbe. C: gaerwe.
57) C: füzze.
58) B: sy bloz hantschue.
59) B: vnd.
60) B: man den lewten.
Gl) A : dann.
G2) A: ist erwunden.
63) B: welcher.
328 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juli 1867.
Di swert di si tragen dt sullen ön ortband 64) sein.
Vor dem richter süllen si baide engegenwert65) sein,
vnd sol der ain sweren das es war sey das er auf in hat
geklagt66), so sol der ander des sweren das er vnschuldig
sey, vnd das in got also helfe zu irem kämpfe.
Di sunnen sol man in mit67) tailen geleiche so man
si des ersten an einander ze sainen lät68).
Wirt der vber wunden auf den man da klagt, man sol
vber in richten, wirt auch der siglos der auf in da klagt,
man richtet auch vber in.
Vnd wer den andern an sprichet vmb den todslag,
weder69) da siglos wirt, dem geet es an das haupt. vnd
ist es vmb ein läme, es geet im an die hant.
Vmb ander wunden di nicht ze uerch geend vnd auch
nicht ze läme gendt, da sol niman vmb vehten : man sol
nicht vmb klain wunden kempfen.
Jst das ein man di notwer bereden wil, der sol also
bereden mit seinem aide, das er da getan habe das hab er
getan in rechter notwer seines leibes. vnd hat der tod
man niman der im den aide mit kämpfe were, so sol der
richter den man behalten sechs wochen vnd einen tag der
di notwer da hat berait. kompt in der weil nimant der
in an spreche, er sol ein ledig man sein vor den di ienner
landes sind, di ausser lanndes sind, den müs er antwurten
vber zehen iar. da sol er dem richter porgen vmb setzen
vntz an das selb zil. vnd stirbet der richter, oder kumpt
sust ein ander richter an sein stat, dem ist er der borg-
schaft auch schuldig als ienem vntz auf das selb zil. vnd
64) B: au ortbant.
65) B: in gewer. C: in gegenwürt.
66) C: in da hat.
67) B: mite.
68) B: ein ander let.
60) B: welcher.
Eockinger: Handschriften zum Schwabenspiegel. 329
als dew zeben iar für kömnient, so ist er ein ledig man vor
allen lewten.
Ein yeglich man waigert wol das er nicht kempfet mit
seinem vndergenossen. ein ieglich man müs kempfen mit
seinem genos.
[b]
Es ist manig man rechtlos, vnd mag doch ein weib 70)
geneuien, vnd ekind pey ir gewinnen, si müzzen awer ires
vater recht haben, si sein dann eines herren aigen oder
eines gotzhauszes.
Dew kind di nicht elich geporen sind di erbeut nicht
ir vater noch71) ir müter gutes nocli dehain irs mages
gutes.
7. Auch von kempfen72).
[a]
Ein freyew frawe mag gewinnen fünf hau de kinde der
ie ains des anderen genos nicht enist, eins das ir genos ist.
also ob ir man ir genos ist. si inage gewinnen einen unteren
freyen, ob ir mau mitterfrey ist. si mag gewinnen ein
lantsässen freyen, ob si einen lantsässen freien zu ir legt,
si mag gewinnen einen dienstman, ob si einen diensteman
nimpt73). einen aigen man dasselb.
[b]
Welich semper freye 74) einen seinen genos ze kämpfe
70) B. ein eweyp.
71) B: vnd.
72) Dieses Kapitel entspricht den Artikeln 71 d, 71 e, 71 f des
Deutschenspiegels und den hiezu stimmenden Kapiteln der frei-
burger Handschrift, deren Text die Ausgabe W Kapitel 347, 348,
349 bietet.
73) B : dinstman czu ir leget.
74) B: freyer herre.
330 Sitzung der liistor. Classe vom 6. Juli 1867.
an sprichet, der mus wissen wer sein vier anen sind ge-
wesen, er niüs si auch nennen, ob ienner wil den er an-
gesprochen hat. vnd nennet er ir75) im nicht, er gewaigert
im mit recht wol das er mit im nicht kempfet.
Wer den ander kempflichen an sprichet, vnd enget er
im mit rechte, er müs im das ze recht büssen das er in
angesprochen hat, vnd müs auch dem richter püssen.
Ditz entsprich ich nicht vmb denn todslag. wann da
gehört nicht wann leib wider76) leib.
M
An elich dingk mag nieman sein aigen verkauffen das
es krafft hab. es antwurt auch dehain man nieman vmb
sein aigen ob man in b. klagt e in vogtes dinge, ob er es
in der gewer hat. ettwa haisset es paudingk.
Gibt ein man sein aigen hin wider seiner erben willen
vnd ön vogtes dingk, si süllen es vor dem richter in seiner
gewalt han versprochen77), vnd der richter sol es den
erben antwurten. etwa ertailt man, es süll der richter in
seiner gewalt han. das stet an des lanndes gewonhait.
8. Der einen man pey seiner konen78) vindet79).
Dise vrtail gehört geistlich gerichte vnd werltlich.es ge-
richte an80).
Vnd ist das ein man den andern81) bey seiner konen82)
75) In B fehlt ir.
76) B: an.
77) B: in seiner versprochen haben.
78) C: koenen.
79) B fügt noch bei: sag das.
80) B : gericht halt an.
81) B: man einen andern man.
82) B: ekonen vindet vnd.
Eochnger: Handschriften zum Schwabenspiegel. 331
begreiffet in der weise das in sein gut gewissen nicht erlät
er müsse im des gedengken das si ir ee mit im geprochen
hab, vnd pringet in sein zoren daran das er si baidew ze
tode siecht, er sol si weder got noch der werlte nicht
püssen. er mag gen got von im selber wol in einer piisse
erscheinen, das ist nicht verloren, wann das tut ainer der
nie mensch ertotte. jn sol awer nieman darzu twingen als
vmb ander schulde, noch83) dehain werblicher richter mag
im mit recht nimmermer 84) pfenning darumb nemen85).
weder mannes frewnd noch weibes freunde mügen in darumb
nymmer an gesprechen vor kainem gerichte.
Mag man awer vier dinge eins auf in bewaren88), so
müs er si got vnd der werlt püssen als ander tod slag.
Der ist eins, mag man bewären auf in das er sein ee
auch ze prochen87) hat seid er di selben fraun zu der ee
nam die er da entleibett hat, so müs er den leib verlorn
han, vnd richtet vber in* als vmb ander88) todslag. hat
awer er sein ee89) haimlich zeprochen als hieuor gesprochen
ist, das man jn sein nicht vberzeugen mag, so mus er si
doch dem almächtigen got püssen zu allem rechten, wann
er ist an irem tode schuldig.
Das ander ist, ob si in des geindert hat mit warten
oder mit gepärden das si geren hette gesehen das er pey
ir gelegen wäre, vnd er das wol weist vnd sein wol innen
wirt das si es es geren sähe , vnd er sein nicht tun wil.
vindet er si darnach pey einem manne, er sol ir an dem
83) In B fehlt noch.
84) In C fehlt mer; in A scheint es durchstrichen.
85) B: mag ym auch nymmer mit rechte pfening dar vmb
genemen.
86) B: bewern.
87) B: auch gebrochen. C: auch zerprochen.
88) B: vmb einen andern.
89) B: er sy.
332 Sitzung der Mstor. Classe vom 6. Juli 1867.
leib nicht tun. nimpt er ir den leib darüber, er sol si got
vnd der werlte püssen. er ist vor got schuldig , awer vor
den levvten nicht, wann es ways nieman wann er vnd got.
Das drite ist, ob ein man aus dem lande varen wil
vnd dew frawe sprichet: vil lieber wirt, wenne körnest du
her wider haim? oder ob er ir vngefragt ein zil gibt, so
das er sprichet: ich kumm vber sechs wochen. oder vber
achtag90), oder vber zwelif, oder welichs zil er ir benennet
langk oder kurtz, das er ir gehaisset er komm her wider
haim jnnen des selben zils , vnd ist er einigen91) ganczen
tag vber dasselbe zil das er ir gehies do er aus für, vnd
kompt er darnach vnd vindet einen man bey ir, er sol ir
nichtes nicht tun an dem leibe, vnd ist das er ir den tod
tut darüber, vnd haut ir freunde des gezeugen siben man
das er ir das zil gab ze komen, sy gewinnent im den leib
an. möchte awer er das selb sibende erzeugen das si vor
dem zil ir e geprochen hette dicweil er vnder wegen was,
er ist ein ledig man. hat awer si ir ee behalten vntz nach
dem zil als hieuor gesprochen ist, vnd tut er ir den tod,
er ist got schuldig an irem tode.
Das vierde ist. ob ein herre mit gewalte zu einer
fraun sprichet oder ir es empeutet das si in zu ir lege oder
er verderbe si vnd iren wirt an leib vnd an gut, ob er vber
si gewaltig ist, vnd sagt das di fraue dem 92) wirte ee das
ir der herre pey93) gelige, vnd vindet er si darnach bey
dem selben herren, er sol ir awer nicht tun, oder er wirt
schuldig an ir vor got. oder ob ein man so bösse an
seinem mute ist das sein e kon gut darumbe nymmet mit
90) B: echte. C: ächte.
91) B: einen.
92) B: irm.
93) B: e das der herre bey ir.
Bockinger: Handschriften zum Schivabcnspiegel. 333
seinem willen, dew sol gar pillichen sicher sein vor allem
vbel, vnd hallt der man darzü der ir das gut da gibt.
Vnd ist der man dirre vier dinge vnschuldig, so püsset
er nieman94) ze recht.
Geschiecht es auch ettwenn vber einer95) fraun willen
das si ein man notzogt, der sol ir wirt auch an irem leibe
nicht tun. der man wäre im zehen tode schuldig wo er in
begreiffen möchte.
9. Ob zwen man vmb ein sache klagent.
Vnd ist das ein man vor gerichte gelobt ein gewiszhait
vmb ein sache, vnd komt ein ander vnd klagt dem richter
auch vber den selben man vmb di selben sache da er di
gewiszhait vmb gelobt hat, er sol im nicht antwurten e das
er ienem empristet96) der in da des ersten ansprach, oder
wirt er schuldig, er püsset awer niewan97) dem einem der
in bey dem ersten an sprach.
Vnd enbristet96) der98) im, vnd ist dew sache dann
ienes der in da anderstund angesprochen hat, er sol im
antwurten.
Vnd ist dew schulde halbe sein , er sol sich an ienen
haben der da behabt hat.
10. Wie man pfenning slahen sol.
Ditze ist von valschen münzzen. es stet noch mer an
disem puche von valschen münssen.
Ditz püch") hat der heilige vnd der sälige kaiser
Karlt geseczet vber die di valsch pfenning slahent.
94) B: nicht.
95) B: der.
96) B: enbrichet.
97) C: er.
98) B: nicht wann.
99) B: recht.
[1867. II. 2.] 22
334 Sitzung der histor. Classe vom 6. Juli 1867.
Welicher munsser valsch pfenning siecht, dem sol man
di hant absiahen.
Wir haissen das valsch pfenning di in dem recht nicht
stendt als si gesezet sind, si sullen also weis sein das von
der markch nicht enge wann ein setin. die pfenning süllen
pfundig sein, nu machent si di herren ettwo ringer. wie
si di herren haissen machen ringer oder swärer, also süllen
si di munzer machen, vnd dehain herre hat des nicht ge-
walt ze rechte, das er die pfennig an der weise icht anders
machen süll wann das ein setin von der marchk gee so
man si ze silber prennet. vnd sind di pfenning icht 10°)
anders, so sind si valsch.
Weliche herren si haissen anders slahen wann als hie
geschriben stet, so hat er des riches huld verlorn.
Vnd ist er ein pfaffen fürste, so sol es der römisch
könig dem pabst haissen klagen, der sol im sein recht tun.
nu was ist sein recht? da sol in der pabst degradiren.
das ist also gesprochen: er sol im all sein pfafflich ere
nemmen. vnd sol darnach der römisch künig vber in richten
als vber einen välscher. dem gerichte ist also: er sol im
das haubt absiahen.
Vnd ist er ein laie der di münsse also geuelschet hat,
dem sol man auch das haubt absiahen.
Man sol di herre dirre sache vberzeugen nicht anders
wann101) mit den pfenningen. der pfenninge so sol man
ein mark nemen, vnd sol di102) sezen in einen tegel in ein
glüt. vnd süllen im das tun vor seinen äugen das er es
gelauben müsse vnd sein nicht gelaugen möge, vnd sol
man di pfenning prennen. vnd hant si ir recht nicht, das
mer dann ein setin von der markt get, so sind si schuldig.
Vnd welich münsser si siecht, dem sol man die hant
100) B: ichtes icht. C: ichte iht.
101) B: nicht wann.
102) B: sy.
Bockinger: Handschriften zum Schwabenspiegel. 335
absiahen, oder welicher Wechsler oder hausgenos si mit
wissen hin wechselt, der hat awer die haut verloren.
Vnd wer auch einen gäben pfenning verwirffet der sein
recht hat vnd als gut ist als ich iezo gesprochen han , der
ist dem gerichte103) schuldig vierzig Schillinge104), diselben
pfenning süllen dem richter halb werden, vnd ienem halbe
des dew münsze da ist. das ist recht, wann wer einen
guten pfenning velschet und verwürffet, der hat den münser
gefelschet. seit nu der münsser so hohe püssen müs ob
er einen valschen pfenning siecht, so wil auch er das man
im püsse der in einen velscher haisset vnd er des vnschuldig
ist. ye doch geschiecht es einem ainualtigen menschen das ,05)
nicht pessers wais noch kan, da hört genade vber.
Welich genmlde ein herre an sein pfenninge sezet, vnd
sezet ein ander herre dasselb gemeide an sein pfenninge, di
pfenninge sind valsch, vnd ist der herre ein välscher. vnd
sol man vber in richten als vber ein välscher.
Vnd ist das iener nicht pfenninge hat der den pfenning
da verwürffet , so sol man vber in richten ze haut vnd ze
har bey dem höchsten, das sind vierzig siege sol man im
slahen106) oder an einen vierzig.
11. Ob zway dorffer kriegent.
Ob zwai dorffer kriegent vmb ein marche , das nächst
dorf das da bey ligt das sol sy beschayden mit getzeugen.
das süllen sein di eltisten vnd di besten, weders dorf der
getzeugen mer hat, das behabt sein marche.
Mag man der nicht gehaben di also alt sind das si
darumb nicht enwissen, so sol man dise marche beschaiden
als das lantrecht püch sagt.
103) B: richter.
104) B: eschillinge.
105) B: einveltigen man der.
10G) B schliesst schon hier das Kapitel.
22*
336 Sitzung der histor. QlassG vom 6. Juli 1867.
Herr Riehl hielt einen Vortrag:
„Ueber Sebastian Bach und dessen Stellung
zu den theologischen Parteien seiner Zeit".
Herr Kluckhohn trug vor:
„Die Wittenberger Theologen nach Melanch-
thon's Tode".
Herr C. Hof mann:
Berichtigender Nachtrag zu S. 171 dieses Bandes
der Sitzungsberichte.
Durch die Güte des Hrn. ßibliotheksekretärs Au in er
bin ich jetzt in den Stand gesetzt, befriedigenden Aufschluss
über den Verfasser des arabischen Zauberbuchs zu geben.
Er theilte mir auf mein Ersuchen Folgendes mit: „Der
arabische Verfasser des besprochenen Zauberbuches dürfte
wohl der von Hadji Kh. an vielen Stellen erwähnte , von
Wüstenfeld in seiner Geschichte der arabischen Aerzte p. 60
und 120 besprochene bekannte Arzt Abu Dscha'far Ahmed
b. Ibrahim Ibn-ul-Dsehezzär (Dschezzär hat nämlich dieselbe
Bedeutung wie Qac^äb) sein. Im Verzeichnisse seiner
Schriften a. a. 0. ist auch ein „Liber experimentorum"
und weiters „Experimenta medica" angeführt."
Ocffentlkhe Sitzung vom 25. Juli 1867. 337
Oeffentliche Sitzung der k. Akademie der Wissen-
schaften
zur Vorfeier des Allerhöchsten Geburts- und
Namensfestes Sr. Majestät des Königs Ludwig II.
am 25. Juli 1867.
Nach den einleitenden Worten des Vorstandes der
k. Akademie der Wissenschaften, Herrn Geh.-Rathes Baron
v. Liebig wurden folgende Wahlen verkündet:
A. Als Ehrenmitglied:
Seine Kaiserliche Hoheit Herr Herzog Nicolaus von
Leuchteubcrg, Präsident der mineralogischen Gesellschaft in
St. Petersburg.
B. Als auswärtige Mitglieder:
a. Der philosophisch-philologischen Classe:
1) Dr. Eduard von Kausler, Vicedirector des k. Württemberg.
Haus- und Staats-Archives in Stuttgart.
338 Oeffentliche Sitzung vom 25. Juli 1867.
2) Cavaliere Giovanni Battista de Rossi in Rom.
3) Wilhelm Henzen aus Bremen, Professor in Rom.
4) Charles Newton, Archäolog in London.
b. Der mathematisch-physikalischen Classe:
1) Carlo Matteucci, Professor der Chemie in Florenz.
2) Arcangelo Scacchi, Professor der Mineralogie in Neapel.
c. Der historischen Classe:
1) Marchese Gino Capponi in Florenz.
2) Franz August Mignet, Sekretär der Akademie der Wissen-
schaften in Paris.
3) Dr. Wilhelm Röscher, Professor in Leipzig.
4) Alexandre Herculano de Carvalho in Lissabon.
C. Als correspondirende Mitglieder:
a. Der mathematisch-physikalischen Classe:
1) Don Ramon Torres Munoz de Luna, Professor der Chemie
an der Central-Universität in Madrid.
2) Pater Angelo Secchi in Rom, Vorstand der Sternwarte
des Collegium Romanum.
3) Henri Hureau de Senarmont, Professor der Mineralogie
an der ecole des mines in Paris.
4) Friedr. Ant. Wilh. Miquel, Professor der Botanik in
Utrecht.
5) Filippo Pariatore, Professor der Botanik in Florenz.
Neuwahlen. 339
b. Der historischen Classe:
1) De Leva, Professor in Padua.
2) Dr. Georg Voigt, Professor der Geschichte an der Uni-
versität zu Leipzig.
3) Dr. Ottokar Lorenz, Professor der Geschichte an der
Universität zu Wien.
4) Dr. Max Büdinger, Professor der Geschichte an der Uni-
versität zu Zürich.
Hierauf hielt Herr Brunn, ordentliches Mitglied der
philosoph. -philologischen Classe, einen Vortrag über
„die sogenannte Leucothea der Glyptothek
Sr. Majestät des Königs Ludwigs I.".
Diese Rede ist im Verlage der Akademie erschienen.
340 Einsendungen von Druckschriften.
Einsendungen von Druckschriften.
Von der Universität in Kiel:
Schriften der Universität aus dem Jahre 1866. Band 13. 1867. 4.
Von der Jcaiserl. Leopoldino-Carol mischen deutschen Akademie der
Naturforscher in Dresden:
Verhandlungen. 32. Band. 2. Abtheilung. 1867. 4.
Vom Hennebergischen alterihumsforschenden Verein in Meiningen:
Neue Beiträge zur Geschichte deutschen Alterthums. 3. Lieferung.
1867. 8.
Vom Gewerbe- Verein, naturforschenden Gesellschaft und bienemvirth'
schaftlichen Vereine in Altenburg:
Mittheilungen aua dem Osterlande. 18. Bd. 1. und 2. Heft 1867. 8.
Von der pfälzischen Gesellschaft für Pharmacie in Speyer:
Neues Jahrbuch für Pharmacie und verwandte Fächer. Zeitschrift.
Bd. 28. Heft. 1. 2. Juli und August. 1867. 8.
Von der deutschen morgenländischen Gesellschaft in Leipzig:
a) Zeitschrift. 21. Bd. 1. und 2. Heft. 1867. 8.
b) Indische Studien. Beiträge für die Kunde des indischen Alter-
thums. 10. Bd. 1. Heft. 1867. 8.
Einsendungen von Druckschriften. o41
Von der deutschen geologischen Gesellschaft in Berlin:
Zeitschrift. 19. Band. 1. Heft. Novbr. Dezbr. 1866. Jan. 1867. 8.
Vom Verein für siebenbürgische Landeskunde in Hermannstadt:
a) Archiv. Neue Folge. 6. Band 3. Heft. 7. Band 1. und 2. Heft.
1866. 8.
b) Jahresbericht. Vereinsjahr 1864. 65 und 1865. 66. 8.
c) Siebenbürgisch- sächsische Volkslieder, Sprichwörter, Räthscl,
Zauberformeln und Kinderdichtungen. Von Friedr. W. Schuster.
1865. 8.
d) Siebenbürgische Chronik des Schässburger Stadtschreibers Georg
Kraus. II. Theil. Wien. 1864. 8.
e) Die Römischen Inschriften in Dacien. Von Michael Ackner und
Friedrich Müller. 1865. 8
f) Flora transsilvaniae excursoria. Auetore Michaele Fuss. Cibinii.
1866. 8.
g) Plan zu den Vorarbeiten für ein Idiotikon der siebenbürgisch-
sächsischen Volkssprache. Kronstadt 1865. 8.
Vom physikalischen Verein in Frankfurt a. M. :
Jahresbericht für das Rechnungsjahr 1865. 66. 8.
Von der geologischen Eeichsanstall in Wien:
Jahrbuch. Jahrg. 1867. 17. Bd. Nr. 2. April, Mai, Juni. 1867. 8.
Von der k. preussischen Akademie der Wissenschaften in Berlin:
Monatsbericht. Mai Juni 1867. 8.
Von der Universität in Heidelberg :
Heidelberger Jahrbücher der Literatur. Unter Mitwirkung der vier
Fakultäten. 60. Jahrgang. 4. 5. 6. und 7. Heft. April — Juli.
1867. 8.
342 Einsendungen von Druckschriften.
Vom Verein für Geschichte und Alterthumslcunde Westphälens in
Münster :
a) Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde
3. Folge. 5. und 6. Bd. 1865. 8.
b) Beiträge zur Geschichte Westfalens. Paderborn. 1866. 4.
Von der Bedaktion des Correspondenzblattes für die gelehrten und
Eeälschulen Württembergs in Stuttgart:
Correspondenzblatt Nr. 5. 6. 7. 8. 1867. 8.
Von der naturforschenden Gesellschaft in Emden:
52. Jahresbericht. 1866. 1867. 8.
Vom Museum Franzisco Carolinum in Linz:
Urkundenbuch des Landes ob der Ens. 4. Bd. Wien 1867. 8.
Von der Gesellschaft der Aerzte in Wien:
Medizinische Jahrbücher. 14. Bd. 23. Jahrg 4. Heft 1867. 8.
Von der physikalisch-medizinischen Gesellschaft in Würzburg:
Würzburger medizinische Zeitschrift. 7. Bd. 4. Hft. 1867. 8.
Vom k. sächsischen Verein für Erforschung und Erhaltung vater-
ländischer Geschichts- und Kunstdenkmale in Dresden:
Mittheilungen. 17. Heft. 1867. 8.
Vom Verein für Geschichte der Mark Brandenburg in Berlin:
Märkische Forschungen. 10. Bd. 1867. 8.
Vom thüringisch-sächsischen Verein für Erforschung des vaterländi-
schen Alterthums und Erhaltung seiner Denkmäler in Halle:
Neue Mittheilungen aus dem Gebiete historisch-antiquarischer Forsch-
ungen. 11. Bd. 1. 2 1865. 67.
Einsendungen von Druckschriften. 343
Von der Pollichia, natunvissenschaftlicher Verein der Bheinyfalz in
Dürkheim :
a) 22.-24. Jahresbericht. 1866. 8.
b) Verzeichniss der in der Bibliothek der Pollichia enthaltenen
Bücher. 1866. 8.
Vom Mährischen Landes- Ausschuss in Brunn:
Urkundenbuch der Familie Teufenbach. 1867. 4.
Vom Voigtländischen-alterthumsforschcnden Verein in Hohenleuben :
37. Jahresbericht. Weita 1867. 8.
Vom historischen Verein für Niedersachsen in Hannover:
a) Zeitschrift. Jahrgang 1866. 1867. 8.
b) Urkundenbuch. Heft. 7. 1867. 8.
c) Katalog der Bibliothek des historischen Vereins für Niedersachsen.
1866. 8. .
Von der landioirthschaftlichen Centralschule in Weihenstephan:
Jahresbericht 14. pro 1865.66. 15. pro 1866.67. Freising 1867. 8.
Von der k. physikalisch- ökonomischen Gesellschaft in Königsberg:
Schriften. 6. Jahrg. 1865. 2. Abthlg.
7. Jahrg. 1866 1. und 2. Abtheilung. 1865. 66. 4.
Von der k. k. mährisch-schlesischen Gesellschaft zur Beförderung des
Ackerbaues, der Natur- und Landeskunde in Brunn:
a) Schriften der histor.-statistischen Sektion. 15. Bd. 1866. 8.
b) Zur Geschichte des Bergbaues und Hüttenwesens in Mähren und
Oesterr. Schlesien. Von Bitter Delvert. 1866. 8.
Von der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur in Breslau:
44. Jahresbericht vom Jahre 1866. 1867. 8.
344 Einsendungen von Druckschriften.
Vom historischen Verein für Steiermark in Grata:
a) Mittheilungen. 15. Heft. 1867. 8.
b) Beiträge zur Kunde steiermärkischer Geschichtsquellen. 4. Jahrg.
1867. 8.
Von der Academie des sciences in Paris:
a) Comptes rendus hebdomadaires des seances.
Tom 64. Nr. 20—25. Mai Juin 1867.
Tom 65. Nr. 1—5 Jaulet 1867. Vol. 65 Nr. 8. 9. 1867. 4.
b) Tables des comptes rendus des seances. Deuxieme Semestre 1866.
Tom 63. 1867. 4.
Von der geologischen Commission der schiveizerischen naturforschenden
Gesellschaft in Bern:
Beiträge zur geologischen Karte der Schweiz.
3. Lieferung. Die südöstlichen Gebirge von Graubünden.
4. Lieferung. Geologische Beschreibung des Aargauer-Jura und
der nördlichen Gebiete des Cänton Zürich. Von C. Moesch.
5. Lieferung. Textband. Tafeln und Karte zur 5. Lieferung.
1866. 67. 4.
Vom Istituto technico in Palermo:
Giornale di scienze naturali economiche.
Vol. 2. Anno 1866. Fase. 2. 3. und 4. 1866. 4.
Von der Accademia delle science in Turin:
a) Memorie. Serie seconda. Tom. 22. 1865. 4.
b) Atti. Vol. 1. Disp. 3—7 gennaio e giugno 1866.
„ 2. „ 1. 2. 3. novbre e decembre 1866. gennaio,
febraio 1867. 8.
Von der Societe imperiale des naturalistes in Moscau:
Bulletin. Annee 1865. Nr. 2. 3. 4.
„ 1866. Nr. 1. 8.
Einsendungen von Druckschriften. 345
Von der Academie imperiale des sciences in St. Petersburg:
a) Memoires. Tome 10. Nr. 3—15. 1866. 4.
b) Bulletin. Tom 10. Nr. 1—4.
„ 11. Nr. 1 und 2. 1866. 4.
c) Melanges physiques et chimiques. Bulletin. Tom. 6. 1865. 8.
Von der Accademia pontificia de1 nnovi lincei in Moni:
A.tti. Anno 19. Sessione I. Decbr. 1865.
„ 19. „ 1.— 7. Gennaio— Giugno 1866. 4.
Von der Sternwarte in Bern:
Meteorologische Beobachtungen. Septbr. Oktober. Novbr. 1866. 4.
Von der naturforschenden Gesellschaft in Zürich:
Vierteljahrsschrift. 9. Jahrg. 1.— 4. Heft. 1864.
10. „ 1.— 4. „ 1865.
11. „ 1.-5. „ 1866. 8.
Von der Academie royale de medecine de Belgique in Brüssel:
Bulletin. Annee 1867. 3. Serie. Tom. 1. Nr. 3. 4. 5. 6. 1867. 8.
Von der Academie royale des sciences des lettres et des beaux-arts de
Belgique in Brüssel:
Bulletin. 36. annee. 2. Serie. Tom. 24.
Von der historischen Gesellschaft in Basel:
Die Schlange im Mythus und Cultus der classischen Völker. Von
J. Maehly. Der naturforschenden Gesellschaft von Basel zur
Feier ihres 50jährigen Bestehens. 1867. 8.
Von der antiquarischen Gesellschaft in Basel:
Ueber die Minerven Statuen von Dr. Bernvalli. Der naturforschen-
den Gesellschaft von Basel zur Feier ihres 50jährigen Bestehens.
1867. 8.
346 Einsendungen von Druckschriften.
Von der antiquarischen Gesellschaft für vaterländische Älterthümer in
Zürich :
a) Mitteilungen, Bd. 15. Heft 7. Pfahlbauten. 6. Bericht. 1866. 4.
b) „ 31. Aventicum Helvetiorum. 1867. 4.
Vom historischen Verein des Gantons Bern:
Archiv. 6. Bd. 1. 2. 3. Heft. 1867. 8.
Von der Asiatic Society of Bengal in Calcutta:
a) Proceedings. Title, index and appendix for 1865.
Nr. 4—12. May— Dec. 1866.
Nr. 1. January 1867. 1866. 8.
b) Bibliotheca Indica a collection of oriental works.
Nr. 216. 217. New Series. Nr. 88. 93. 96. 97. 98. 1866. 8.
Von der geological Survey of India in Calcutta:
a) Memoirs. Palaeontologia Indica. 3. 10 — 13. The fossil Cephalo-
poda of the cretaceous Roks of Southern India. 1866. 4.
b) Memoirs. Vol. 5. p. 2. Wynne. On the Geology of the Island
of Bombay. 1866. 8.
c) Memoirs. Vol. 5. p. 3. Hughnes. T W. H. On the structure of
the Jherria Coal-Field. Stoliczka, Ferd. Geological observations
in Western Tibet. 1866. 8.
d) Annual Report. Tenth year 1865. 66. 8.
e) Catalogue of the meteorites. In the museum of the geological
survey of India. 1866. 8.
f) Catalogue of the organic remains belonging to the Cephalopoda.
1866. 8.
Von der Societe royalc des sciences in Lüttich:
Memoires. 2. Serie. Tom 1. 1866. 8.
Von der Societe d' Anthropologie in Paris:
Bulletins. Tom 1. 2. Serie; 5me Fascicule. Juillet— Decembre 1866.
Tom II. 2. Serie. 1 Fascicule. Jan.— Mars 1867. 8.
Einsendungen von Druckschriften. 347
Von der Chemical Society in London :
Journal. Ser. 2. Vol. 4. Octbr.— Decbr. 1866.
„ 2. „ 5. January— June 1867. 8.
Von der Royal Geographical Society in London:
Proceedings. Vol. 11. Nr. 2. 1867. 8.
Von der Geological Society in London:
Quarterly Journal. Vol. 23. Part. 2. Nr. 90. Mai 1867. 1. 8.
Von der Societe Vaudoise des sciences naturelles in Lausanne:
Bulletin. Vol. 9. Nr. 56. 57. Decembre 1866. Juin 1867. 8.
Von der dänischen Gesellschaft der Wissenschaften in Kopenhagen:
Forbandlinger og dets Medlemmers Arbeider i Aaret 1865. Nr. 4
„ „ 1866. Nr. 2—6
1867. Nr. 1—3
]> ))
Von der Provinciaal Utrechtsche Genootschap van Künsten an Weten-
schappen in Utrecht:
a) Aanteekeningen van bet verbandelde in de Sectie- vergaderingen,
gehouden in bet jaar 1866. 8.
b) Verslag van bet verbandelde in de algemeene Vergadering ge-
bouden den 17. Oktober 1866. 8.
c) De wettelijke Bewijsleer in Strafzaken door Mr. W. Modderman.
1867. 8.
Vom Surgeon General' s Office in Washington:
Reports of Rvt. Brig. Gen. D. C. Mc. Callum and tbe provost mar«
sbal Generals. Part. 1. 2. 1866. 8.
Von der Universität in Leyden:
Annales Academici 1862.63. Lugduni-Batavorum 1866. 4.
348 Einsendungen von Druckschriften.
Von der Societe HoUandaise des sciences in Hartem:
a) Archives Neelandaises des sciences exactes et naturelles.
Tom 1 und 1 5me livraison.
„ 2 „ 1 und 2. livraison. 1866. 67. 8.
b) Natuurkundige Verhandeln! gen. 20. 22. .24. Deel. 4.
c) Beiträge zur Kenntniss der Feldspathbildung von C. F. Weiss. Ge-
krönte Preisschrift. 1866. 4.
d) Untersuchungen über die Form des Beckens javanischer Frauen
von Dr. T. Zaaijer. 1866. 4.
e) Die Basaltbildung in ihren einzelnen Verbänden erläutert von
L. Dressel. Preisschrift. 1866. 4.
Von der R. Accademia economico-agraria de' Georgoßi in Florenz:
a) Continuazione. Nuova Serie Vol. 13. Disp. 3 und 4. 1866.
• „ „ „ 14. „ 1. 1867. Nr. 47—49. 8.
b) Parte istorica 1867. Dispensa 1. 2. 1867. 8.
Vom Verein für Geschichte und Älterthümer in Odessa:
Sapiski Odesskago obschtscheetwa. Denkwürdigkeiten des Vereins.
• Bd. 6. 1867. 4.
Von der Societe de Physique et d'histoire naturelle in Genf:
Memoires. Vol. 19 p. 1. 1867. 4.
Von der Societe d'histoire de la Suisse Eomande in Lausanne:
Memoires. Vol. 22. 1867. 8.
Vom Lyceum of Natural History in New-YorJc:
Annais. Vol. 8. Nr. 11. 12. 13. 14. 1867. 8.
Von der California Academy of Natural Sciences in San Francisco :
Proceedings. Vol. 3. p. 2. 3. 1864—66. 8.
Einsendungen von Druckschriften. 349
Von der Historical Society of Pennsylvania in New- York:
Thirty eight annual report of the Inspectors of the State Peniten-
tiary. 18G7. 8.
Vom Office of the American Ephemer is and Nantical Almanac in
Washington :
Schubert. Tables of Eunomia. 186G. 4.
Vom Bureau of Navigation in Washington:
The American Ephemeris and Nautical Almanac for the year 1868.
1866. 4.
Von der American Academy of Arts and Sciences in Boston:
Proceedings. Vol. 7. Bogen 13—23. 1866. 8.
Von der Academy of Natural Sciences of Philadelphia:
a) Proceedings. Nr. 1—5. Jan.— Decbr. 1866. 1867. 8.
b) Journal. New Series. Vol. 6 p. 1. 1866. 4.
Vom Obscrvatory of Harvard College in Cambridge:
Annais. Vol. 2. p. 2. 1854—1855. 1867. 4.
Von der National Academy of Sciences in Washington:
Memoirs. Vol. I. 1866. 4.
Vom Ohio State Board of Agriculture in Columbus Ohio:
20. Jahresbericht für das Jahr 1865. 1866. 8.
Vom Essex Institut in Salem, Massach.:
Proceedings. Vol. 4. Nr. 1 — 8. Jan.-Decbr. 1866.
„ 5. Nr. 1. 2. 1865—66. 8.
[1867. II 2.] 23
350 Einsendungen von Druckschriften.
Von der Boston Society of Natural History in Boston:
a) Memoirs. Vol. 1. p. 1. 2. 1866—67. 4
b) Proceedüigs. Vol. 10. Bogen 19—27. Schluss.
„ 11. „ 1—6. 1866. 8.
c) Condition and Doings May 1866. 8.
Von der Connecticut Academy of Arts and Sciences in New-Haven:
a) Transactions. Vol. 1. p. 1. 1866. 8.
b) The American Journal of Arts and Sciences.
Vol. 42. Nr. 124—126.
„ 43. Nr. 127—129. 1866—67. 8.
Von der Smithsonian Institution in Washington:
a) Smithsonian Miscellaneous Collections. Vol. 6. 7. 1867. 8.
b) Annual Report of the Board of Regents of the Smithsonian In-
stitution for the year 1865. 1866 8.
c) Pumpelly, Geological Researches in China, Mongolia and Japan
during the years 1862 to 1865. 1866. 4.
Vom United States Naval Obscrvatory in Washington:
Astronomical Observations during the year 1851 and 1852. 1867. 4.
Vom Secretary of War in Warhington'
Report, with aecompany in papers. 1866. 8.
Von der Natural History Society of Montreal:
The Canadian Naturalist New Series Vol. 3 Nr. 1. 1866. 8.
Von der Commission liydrometriqiie in Lyon:
Resume des Observations recueillees dans les bassins. de la Saone,
du Rhone et quelques autres regions. 1866 — 23me Annee. 8.
Vom Beale Istituto Lombardo di scienze e lettcre in Mailand:
a) Memorie. Classe di scienze matematiche e naturali. Vol. 10.
1. Della Serie 3. Fascicolo 3. 1866. 4.
Einsendungen von Druckschriften. - » 351
b) Memorie. Classe di lettere e scienze morali e politiche. Vol. 10.
1. Della Serie 3. Fase. 3. 4. 1866. 4.
c) Rendiconti. Classe di scienze matematiche e naturali.
Vol. 2. Fase 9—10. Septbr.— Decbr. 1865.
„ 3. ., 1—9. Gennajo— Novbr. 1866. 8.
d) Rendiconti. Classe di lettere e scienze rnorali e politiche.
Vol. 2. Fase. 8—10. Agosto— Decbr.
„ 3. „ 1 — 10 Gennajo— Decbr. 1866. 8.
e) Solenni Adunanze del 7. Agosto 1866 8.
fj Annuario 1866. 8.
g) II secondo congresso internazionale samtario ed il regno d'Italia.
1866. 8.
Vom Herrn Bruno Hildebrand in Jena:
Statistik Thüringens. Mittheilungen des statistischen Bureaus ver-
einigter thüringischer Staaten. Band 1. 2. und 3. Lieferung.
1867. 4.
Vom Herrn Christ. Lassen in Bonn:
Indische Alterthumskunde 1. Bd. 2 Hälfte. Leipzig 1867. 8.
Vom Herrn A. Grunert in Greifswahl:
Archiv der Mathematik und Physik. 46. Thl. 4. Hft.
47. „ 1. u. 2. Hft. 1866. 67. 8.
Vom Herrn B. Clausius in Braunschweig :
Abhandlungen über die mechanische "Wärme-Theorie. 2. Abthlg.
1867. 8.
Vom Herrn II. Knoblauch in Halle:
a) Ueber die Interferenzfarben der strahlenden Wärme. Berlin.
1867. 8.
b) Ueber den Durchgang der Wärme und Lichtstrahlen durch ge-
neigte diathermane und durchsichtige Platten Berlin 1866. 8.
*
352 0 Einsendungen von Druckschriften.
Vom Herrn G. Noll in Frankfurt a. M.:
Der zoologische Garten. Zeitschrift für Beobachtung, Pflege und
Zucht der Thiere. 8. Jahrg. 1867. Nr. 1—6. Jan.— Juni. 8.
Vom Herrn J. B. Mayer in Stuttgart:
Die Mechanik der Wärme. 1867. 8.
Vom Herrn Aug. Mor. Franke in Dresden:
Neue Theorie über die Entstehung der krystallinischen Erdrinde-
schichten. 8.
Vom Herrn Theodor Vgl in Greif swald:
Pommei'scke Geschichtsdenkmäler. Zweiter Band. 1867. 7.
Vom Herrn J. Dienger in Braunschweig:
Grundriss der Variations-Rechnung 1867. 8.
Vom Herrn C. H. Davis in Washington:
Astronomical and meteorological observations made at the united
states naval observatory during the year 1864. 1866. 4.
Vom Herrn Gustav Hinrichs in Joiva:
Atomechanik oder die Chemie eine Mechanik der Panatome. Jowa-
City 1867. 4.
Vom Herrn Boucher de Perthes in Paris:
Des idees innees: de la memoire et de l'instinct. 1867. 8.
Vom Herrn F. J. Bietet in Genf:
Melanges Paleontologiques. Deuxieme Livraison. Faune de Berrias.
1867. 4.
Einsendungen von Druckschriften. 353
Vom Herrn C. Piazzi Smyth in Edinburgh:
Life andworth at the great pyramid during the montlis of January,
February, March, and April with a discussion of the facts ascer-
tained. Vol. 1. 2. 3. 1867. 8.
Vom Herrn Eobert Main in Oxford:
Astronomical and meteorological observations made ad the radliffe
observatory Oxford in the year 1864. Vol 21. 1867. 8
Vom Herrn P. Duchartre in Paris:
Elemens de Botanique, comprenant l'anatomie, l'organographie, la
Physiologie des Plantes, les familles naturelles et la geographie
botanique. 1867. 8.
Vom Herrn C. M. Marignac in Paris:
Essais sur la Separation de l'Acide Niobique et de l'Acide Titanique
analyse de l'aeschynite. 8.
Vom Herrn G. J. Adler in New-Yorlr.
a) Wilhelm von Humboldt's linguistical studies. 1866. 8.
b) The poetry of the Arabs of Spam. 1S67. 8. „
Von den Herren W. Fischer, H. Schiveizer-Sidlcr und Kicsslivg in
Basel :
Neues schweizerisches Museum. Zeitschrift für die humanistischen
Studien und 'las Gymnasialwesen in der Schweiz. 6. Jahrgang.
3. Vierteljahr' eft. 1866. 8.
Vom Herrn Baldassare Poli in Mailand:
a) Del lavoro messo a capitale e dclla sua applicazione agli scicnzi
ati e letterati italiani 8.
b) Süll' insegnamento dell economia polilica e sociale in Inghil-
terra. 8.
354 Einsendungen von Druckschriften.
Vom Herrn Ltiigi Magrlni in Mailand:
Sulla importanza dei cimelij scientifici e dei manoscritti di Ales-
sandro Volta. 1864. 8.
Vom Herrn E. W. Ludehing in Heidelberg:
Natuur en Geneskundige Topographie van Agam (Westkust van
Sumatra). Sgravenhage 1867. 8.
Vom Herrn Em est Trumpp in Pfulingen:
SindhlLiterature. The divän of Abd-Al-Latif. Shäh, known by the
name of Shäha Jö Risälo. Leipzig 1866. 8.
Vom Herrn Giuseppe Milani in Mailand:
Sulla scrofola. 1862. 8.
Vom Herrn Studer in Bern:
Die Chronik des Mathias von Neuenbürg. Nach der Berner- und
Strassburgerhandschrift mit den Lesarten der Ausgaben von
Cuspinian und Urslisius. Zürich 1867. 8.
Von den Herren Hirsch und Plantamonr in Genf:
Nivellement de precision de la Suisse. 1864. 4.
Vom Herrn A. Scacchi in Neapel:
a) Sulla poliedra delle faccie dei cristalli. 1S82. 4.
b) Memorie geologiche sulla Campania e relazione delF incendio ac-
caduto nel Vesuvio nel mese di Febbrajo dei 1850. 4.
c) Della polisimmetria dei cristalli. 1867. 4.
d) Sülle combinazioni della litina con gli acidi tartarici. 1866. 4.
e) Esperienze sul cambiamento dei cristalli di nitrato di strontiana
idrato in cristalli anidri e di questi in quelli. 4.
f) Prodotti chiuiici cristallizzati spediti alla esposizione universale di
Parigi. 1867. 4.
g) Dei solfati doppi di manganese e potassa. 1867. 4.
Einsendungen von Druckschriften, 355
h) Della humite e del peridoto del Vesuvio. 1850. 4.
i) Della polisimmetria e del polimorfismo dei cristalli. I8ü5 4.
k) Dei tartrati di stronziana e di barite. 1863. 4.
1) Del paratartrato ammonico-sodico. 18G5. 4.
Vom Herrn Oristoforo Negri in Florenz:
a) La storia politica dell' antichitä peragouata alla moderna. Vol. 1.
2. 3. 1867. 8.
b) Memorie storico-politiche sugli antichi greci e romani. 1864. 8.
Vom Herrn M. A. Quetelet in Brüssel:
a) Memoire snr la temperature de l'air a Bruxelles. 1867. 4.
b) Meteorologie de la Belgique comparee a celle du globe. 1867. 8.
c) Communications. Sur le 17. volume des annales de l'observatoire
royal de Bruxelles. 1866. 8.
d) Deux lettres de Charles-Quint a Francois Rabelais. 1866. 8.
e) De lois mathematiques concernant les etoiles filantes. 8.
f) Communications. Observation des etoiles filantes periodiques de
Novembre 1866. 8.
g) Etoiles filantes. Publication des annales meteorologiques de l'ob-
servatoire royal. Sur l'heliographie et la selenographie. Orages
observes a Bruxelles et a Louvain du 7. Fevrier jusqu'ä la fin
du Mai. 8.
Vom Herrn Emilio Boncaglia iu Modena:
Illusioni commedia. 8.
Vom Herrn Giorolamo Galassini in Modena:
Del miglioramento delle condizioni fisiehe e morali del proletario
specialmente rurale etc. 1865. 8.
Vom Herrn Domenico Mochi in Modena:
Con quali mezzi, oltre i rcligiosi, possa nelF odierna societa re-
staurarsi il prineipio di autoi-itä etc. 1865. 8.
356 Einsendungen von Druckschriften.
Vom Herrn A. Spring in Lüttich:
Symtomatologie ou traite des accidents morbides. Tom. 1. 1 u. 2.
Fase. 18G6. 67. 8.
Vom Herrn Casimir Bicliauä in Born:
a) Sur.la resolution des equations x2— x2 = l. 18C6. 4.
b) Note sur la resolution de l'equation x3-f-(x-j-r)3-(-x-(-2r)3-(-
-Hx+(n — l)r]3 = y2. 1867. 4
Vom Herrn Eugene Catälan in Born:
a) Note sur un probleme d'analyse indeterminee. 1866. 4.
b) Sur quelques questiones relatives aux fonetions elliptiques. 1867. 4.
Vom Herrn Ottav. Fabrizio Mossoti in Rom:
Intorno ad un passo della divina commedia di Dante Allighieri.
1865. 4.
Vom Herrn M. Aristide Woepcke in Rom:
Introduction au calcul Gobäi'i et Hawäi traite d'arithmetique traduit
de Farabe. 1866. 4
Vom naturwissenschaftlichen Verein für Sachsen und Thüringen in
Halle :
1867. 8.
Von der deutschen geologischen Gesellschaft in Berlin:
Zeitschrift. 19. Bd. 2. Heft. Februar, März, April 1867. 8.
Sitzungsberichte
der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften.
Philosophisch - philologische Classe.
Sitzung vom 9. November 1867.
Herr Hof mann übergiebt den Schluss seiner Bemerkungen:
„Zur Gudrun".
Str. 297,4 ist wohl nicht guotes zu ergänzen, sondern
waz sie da veile heten.
Str. 299,4 1. schapel unde vingerl, um die vierte Heb-
ung zu beseitigen, die, von Eigennamen abgesehen, immer
eine sehr störende Wirkung macht.
Str. 303,4. gevazzet mit golde heisst nicht: mit Gold
angefüllt, wie B. deutet, sondern wie das Mhd. WB. richtig
erklärt, bedeckt, überzogen. Der Ausdruck kömmt noch in
der technischen Sprache vor, einen Altar fassen = das
Schnitzwerk daran vergolden. An einer andern Stelle der
Gudrun muss vazzen allerdings die Bedeutung füllen haben,
1131,2 s. Mhd. WB. sub voc. Nr. 6.
[1867. IL 3.1 24
358 Sitzung der phüos.-philöl. Classe vom 9. November 1867.
Str. 322,3 1. unze sie besaezen bi im fürsten riche. Der
Vers bedeutet nicht, so lange sie in seinem Fürstenreiche
sich aufhielten, wie B. und Simrock ihn fassen, sondern,
bis sie von ihm die versprochenen fürstlichen Lehen (vgl.
Str. 316) in Besitz bekommen würden, so lange sollten sie
seine Tischgäste sein.
Str. 333,2 1. der = daz er d. h. gegen Horant konnte
Niemand aufkommen, der behauptet hätte, besser als er ge-
kleidet zu sein.
Str. 346,3. Die Wiederholung von bürge aus der vori-
gen Zeile ist ungeschickt. Die Stelle ist corrupt; denn Weib
und Kind siteen nicht bloss in der Burg, sondern in dem
besonderen Theile derselben, welcher in allen germanischen
Sprachen bür = das Frauengemach, heisst. Man lese da-
her oder hat er in büre ivip Wide Teint?
ich ivaene sie getriutet von siner hende selten sint.
lu dieser Bedeutung war für das Mhd. das Wort bür
schon veraltet, daher der Schreiber bürge dafür setzen
musste.
Str. 350,4 1. von den minen erben belihe ich inner
järes friste staete. B. und Simrock haben die Stelle nicht
verstanden. B. erklärt: Innerhalb Jahresfrist will ich da-
heim sein. S. ungefähr ebenso: mir wird mein Land wohl
wieder binnen Jahresfrist und wenig Tagen. Es handelt sich
hier um die Anwendung einer land- und lehenrechtlichen
Satzung. Binnen Jahr und Tag konnten Erbe und Lehen
nicht rechtsgültig dem Besitzer und seinen Erben entzogen
werden, vgl. Sachsenspiegel I. 38 §. 2. Die 6h jär unde
dach im, dez rtkes ächte sin, die delt man rechtlos, wnde
verdelt in 6gen wnde Un, dat Jen den herren ledich, dat
egen in die JconingWzen geivalt. Ne tut de erven nicht üt
üt der ~komngVtken geicalt binnen jär unde dage mit irme
ede, se verleset it mit sament jeneme, it ne neme in echtnöt,
dat se nicht vore komen ne mögen. Diess ist die Hauptstelle,
Hofmann: Zur Gudrun. 359
ferner III, 34 §. 3 (von der Aberacht) II, 41 §. 2 u. s. w.
Im Schwabenspiegel findet sich die gleiche Stelle Landrecht,
45 (Lassb.), ausserdem vgl. Lehenrecht 11, 25 Schluss,
42 Schluss, 62 Anfang, 76 Anfang, 85. Deutsch. Spieg. S. 58.
Str. 351,1 1. Do sie von dannen giengen, u. s. w. um
die Verbindung mit dem folgenden herzustellen. 3 1. sitzens
von stat regiert oder ze sitzen.
Str. 364. dolte so geradewegs mit B. zu verwerfen, weil es
sonst nicht vorkömmt, ist schwerlich erlaubt. Wenn wir es
von toi ableiten, so können wir es einfach im Sinne unseres
herumtollen = herumtreiben, jagen, nehmen. Im zweiten
Verse gibt begossen brant einen schlechten Vers und ein
barockes Bild; denn einen schwitzenden Menschen mit einem
begossenen Feuerbrand zu vergleichen, ist schwerlich dem
Dichter eingefallen. Ich halte braut für verlesen für brate,
denn das ist bekanntlich das Simile, welches heute noch
wenigstens in ganz Süddeutschland allgemein vom Schwitzen
gebraucht wird und zwar ein familiärer aber durchaus kein
unedler Ausdruck ist. Hatte der Schreiber einmal brat für
brant genommen , so musste er den Brand natürlich auch
begiessen, um ihn dampfen zu lassen.
Ich lese also die ganze Strophe so:
Hagenen sere tolte der liinstelöse man,
daz alsam ein brate riechen began
der meister von dem jünger, ja ivas er starc genuoc,
der tvirt ouch sinem gaste siege unmaezlichen sluoc.
Uebrigens will ich nicht in Abrede stellen, dass die
Vergleichung eines Zornigen, Erhitzten mit einem Brande
zulässig ist. Biterolf Y. 11123
Dieterich roch sam ein hol,
dö diz Wolfhart gesprach.
Freilich darf man hier an Dietrichts Feuerathem denken
und der Zusatz begozzen findet sich auch hier nicht; mit
brunt allein aber lässt sich der Vers nicht herstellen. Am
24*
360 tiitzung der philos.-philol. Gasse vom 9. November 1867.
weitesten in der Anwendung des Vergleiches geht das gro-
teskobscöne Turney von dem czers (v. Keller, Erzählungen
S. 443—459), wo es S. 456 Z. 35 heisst: die aptissyn
dünst recht als eyn smytte. Findet man übrigens meine
Erklärung von tolte zu gewagt, (und ich muss selbst zuge-
stehen, dass sie es ist), so lässt sich mit Hülfe der hand-
schriftlichen Lesung doch eine Emendation gewinnen , die
dem Ueberlieferten die wenigste Gewalt anthut und sich in-
nerhalb des bekannten mhd. Sprachgebrauches hält. Fasst
man nämlich dolte in seiner gewöhnlichen Bedeutung, so
kann der dazu gehörige Accusativ nicht wohl in den Minste-
lösen man gesucht werden; er muss vielmehr in sere stecken.
Man kann diess vielleicht als Accus, des st. Fem. sere (Leid,
Betrübniss) fassen und dann lesen : der künstelöse man d. h.
der arglose Hagene. Doch würde ich in diesem Falle
lieber annehmen, dass sere für swere = swaere (molestiam)
verlesen ist, wodurch jede vom Buchstaben der Ueberliefer-
ung weiter abgehende Aenderung unnöthig würde, auch
vom für den wegfiele. Ich schlage also vor: Hagene swaere
dolte der Jcünstelöse man. Fasst man dagegen sivaere als
Adverbium und bezieht dolte auf den künstelosen man, so
wäre die Sache noch einfacher: Hagano aegre sustinuit
virum armorum imperitum.
Bei unserer noch immer so lückenhaften Kenntniss des
mhd. Sprachschatzes und Sprachgebrauches ist es nicht zu
verwundern, wenn sich für eine Stelle selbst im engsten
Anschlüsse an die HS. zwei, drei Emendationen bieten,
zwischen denen die Entscheidung schwankend bleibt.
Das Wort brant kömmt an einer zweiten Stelle der
Gudrun vor, wo es nicht minder unglücklich erklärt worden
ist. Str. 514,2 schlägt Hagene auf Watens Helm und um-
gekehrt, dass da sach manic degen das fiiver üz keimen
stieben sam die röstbrende. ,, Gleich lichten Feuerbrän-
den4' übersetzt Simrock, und Bartsch erklärt: Feuerbrand,
I
Hofniann: Zur Gudrun. 361
ein angebranntes Stück Holz. Wieder eines jener barocken
und naturwidrigen Bilder, die nicht wirklichen Dichtern,
sondern nur modernen Uebersetzern und Erklärern gut genug
sind. Funken, die aus Helmen stieben, sehen nicht aus,
wie herumfliegende angebrannte Holzstücke, sondern wie die
Funken, die unter dem Schmiedehammer aufstieben, d. h.
die rostbrende = der sog. Hammerschlag, wie sie nach der
Erkaltung genannt werden. In der Schweiz wird röst ==
strues und rost — acrugo in der Aussprache heute noch
scharf geschieden.
Str. 368,2 1. ir sprächet, ir ivelt lernen u. s. w. Der
Wechsel des Tempus ist hier logisch nicht zu beanstanden.
Str. 372,1 an einem ahmt, wie die HS. und alle Her-
ausgeber, auch Wackernagel im LB. bis auf B. haben, ist
grammatisch falsch; denn der Dativ von abent heisst äbende
oder äbiinde. B. setzt üf einen abent, unnöthig; denn an
einen abent ist vollkommen richtig, da man sagt an eine
Sit oder üf eine zit, an oder üf eine stat u. s. w.
Str. 372,3 1. mit herlicher stimme, so ist unnöthig.
Str. 380,4 1. der gast was wol beraten. Es heisst nicht,
wie B. erklärt: etwa mit Zuhörern oder allgemeiner: dem
Gaste ging Alles nach Wunsche, sondern : der Gast hatte
richtig gerechnet, indem ihn die Königstöchter nun wirk-
lich hörte. Simrock lässt vorsichtig stehen ,,war wohl be-
rathen'" , worunter sich jeder denken kann , was ihm am
besten scheint.
Str. 381,2 daz muss in da geändert werden; denn
dass die entzückten Zuhörer neben Hörants Stimme auch
auf das Verstummen der Vöglein horchen sollen, heisst ihnen
zu viel zugemuthet. Z. 3 1. doene vergäben.
Str. 382, 1. 2. 1, Do im ivart gedanket von wiben tmdc man,
dö sprach von Tenen Fruote: min neve möhte län
sin ungefüege doene u. s. w.
Ich will hier eine allgemeine Bemerkung einflechten,
362 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 9. November 1867.
die an jeder Stelle passt. Ein besonderer poetischer Vor-
zug der Gudrun besteht darin, dass die Strophe wo mög-
lich nur einen Satz bildet, wodurch dem Staccato, welches
jede Strophentheilung nothwendig und nachtheilig in dem
epischen Flusse hervorbringt, ein natürliches Gegengewicht
gegeben wird, dessen Wirkung für mein Gefühl wenigstens
eine höchst melodische ist. Die alte vierzeilige Strophe der
Nibelungen war für den reicheren, der typischen Form ent-
wachsenen Ausdruck der klassisch werdenden mittelhoch-
deutschen Sprache zu eng, ebenso wie der Stabreim einer
freieren und tieferen Entwicklung des Gedankens geopfert
werden musste. Daher ihre von richtigem Kunstgefühl ge-
leitete Erweiterung einerseits in der Gudrunstrophe, und
ihrer Fortbildung im Titurelmetrum , auf der andern Seite
in den längeren Sätzen der späteren Volksepik, die einen
ganz anderen künstlerischen Eindruck machen würden, wenn
sie von Dichtern ersten Ranges gehandhabt wären , wie die
Ariosto- und Spenserstanze zeigen. Ganz kurze Sätze im
Gesänge wie in gebundener und ungebundener Eede ver-
langen zu voller Wirkung eine Mächtigkeit des Inhalts, die
bei breiter und ruhig fliessender Darstellung nicht in jedem
Momente sich ansammeln kann, daher der öde Eindruck,
den zerhackte Strophen und Melodieen auf uns machen.
Deshalb suche ich in der Gudrun wo möglich in jeder
Strophe eine syntaktische Einheit mit Entfernung der Zwischen-
schlusspunkte.
Str. 386,2 ist E. Martins Emendation unbedingt anzu-
nehmen, nur dürfte statt triuteclichen zu lesen sein triute-
lichen, welches im Alt- und Mittelhochdeutschen wirklich
belegt ist, vgl. Graff V, 473, Mhd. VVB. III, 112., während
für jenes ein Nachweis zu fehlen scheint.
Str. 391,2. minnert braucht nicht angetastet zu werden,
dagegen ist choren, wie mir scheint, verlesen für cehoren;
also sich oder sin minnert in ze hoeren da von der pfaffen
Hofmam: Zur Gudrun, 363
stmc = Pfaffensang und Glockenklang achteten sie gering,
vergassen sie über Hörants Lied, da von der pfaffe sanc
halte ich darum für unstatthaft, weil es nur auf den Inhalt
dessen, was der Pfaffe singt, gehen kann. Von dem ist aber
hier keine Rede, sondern von der schönen Stimme und dem
kunstreichen Gesänge, minnern ist ahd. und mhd. hinläng-
lich belegt.
Str. 392,4 1. s'äbents oder des äbents, da der Vers
sonst eine Hebung zu viel hat.
Str. 397,1.2. Jcristen darf nicht durch die Cäsur von
mensche getrennt werden, man lese die nie kristeu mensche
gelernte sit noch e. Was Amile ist, hat man bisher nicht
gewusst, doch vernautliet, es sei ein orientalisches Wort.
Ich kann es nun wirklich im Arabischen nachweisen, wie-
wohl damit freilich nicht gesagt ist, dass beide Namen
sich decken müssen. Unter den südarabischen Stämmen
der Jiehlänischen Familie heisst einer Amüeh% wie drei
Autoren, welche davon handeln, Ihn Koteibah, Ihn Doreid
und Ibn Abd Rabbihi, übereinstimmend angeben. Man
sehe die Tafel bei v. Kremer Südar. Sage S. 30. Wie ein
solches arabisches Wort in die Gudrun kommen konnte,
wer wird das ergründen? Dass es möglich, will ich an
einem andern nachweisen, von dem mit Sicherheit behauptet
werden kann, dass es seinen Weg von Südarabien nach
Norwegen gefunden hat. Unter den norwegischen Volks-
märchen (Norske Folkeeventyr von P. Chr. Asbjörnsen und
Jörgen Moe, Christ. 1852) handelt das 27te S. 145 vom
Soria-Moria-Schloss, welches so weit entfernt ist, dass der
Held Halvor Mond und Westwind befragen muss, um
den Weg zu erfahren, und mit letzterem hinzureisen. Nun
liegen wirklich im Südosten von Arabien der Weihrauch-
küste gegenüber zwei Inseln, die Cooria Mooria heissen und
zu denen von Aegypten aus, dem Lande, wo 1001 Nacht
seine letzte Gestalt gewonnen hat, ganz richtig der Nord-
364 Sitzung der phüos.-pMöl. Gasse vom 9. November 1867.
Westwind führt. Hier wird man die Identität der Namen zu-
geben müssen und dass Soria Moria nur aus dem Arabischen
kommen kann, während das Märchen sonst eine ganz nationale
norwegische Färbung hat. In 1001 Nacht steht dafür die
Insel Wäkwäk im indischen Ocean, „wo die Mädchen auf
Bäumen wachsen", deren reale Grundlage Humboldt in dem
Essai critique nachgewiesen hat.
Es bleibt nun noch der 3. und 4. Vers von 397 zu
betrachten. Dass kein Christenmensch die Weise von Amile
jemals anders als auf der wilden Fluth gelernt habe, ist
eine Sonderbarkeit, die, wie mir scheint, nicht dem Dichter
zur Last fallt. Bezieht man das Lernen auf Hörant, so
schliesst sich auch der 4. Vers ungezwungen dem einheit-
lichen Bau der Strophe an, wobei die hässliche Vier-
hebigkeit der ersten Hälfte durch Umsetzung sehr leicht be-
seitigt wird. Ich ändere also:
tvaen, er sie gehörte iif dem wilden fluote,
da mite ze liove diente Hörant der snette degen guote.
Hörant, meint der Dichter, habe die Weise auf einer
seiner weiten Meerfahrten gelernt. Die mythologische Be-
ziehung auf Meerfrauen , Sirenen , Strömkarl, Nix und wie
alle die dämonischen Tonkünstler heissen , wird dadurch
freilich sehr zurückgedrängt, bedenken wir indess, dass diese
Strophe mit ihrer weithergeholten Gelehrsamkeit doch ohne
Zweifel eine jüngere ist, so wird ihr Ausfall weniger zu be-
deuten haben.
Dass die primitive Anschauung, welche anthropomor-
phisch in den wilden und geheimnissvollen Tönen des Meeres
die Quintessenz menschlicher Sing- und Saitenkunst verkörpert,
nicht bloss im Norden zu Hause war, zeigt ausser den im
Altfr. häufig vorkommenden Seraines Sirenen besonders
schön die spanische Romanze vom Grafen Arnaldos (Prima-
vera von Wolf und mir, Nr. 153), der an einem Johannis-
Hofmann: Zur Gudrun. 365
morgen das Glück hatte, die Galeere mit dem Zaubersänger
zu erblicken,
marinero que la manda
diciendo viene un cantar
que la mar facta en calma,
los vientos hace amainar,
los peces que andan 'nel hondo
arriba los hace andar
las aves que andan volando
en el mastel los face %>osar.
Der Dichter schildert hier schön die Wirkung des
Wunderliedes, ein ungeschickter Fortsetzer (a. a. 0. Note 10)
wollte den Text dazu erfinden.
Str. 415,3 1. Das doppelte kröne ist verdächtig. Ich
schlage vor:
swie er nicht entrüege, er dienet im die kröne.
Str. 416,2 1. des gie dem recken not.
Str. 417,1 1. des recken.
Str. 418,1 1. Dem recken wart in sorge ein teil sin
herze ivunt.
Der Vers muss sich auf den Kämmerer und sein Heim-
weh beziehen , wie die zunächst folgenden Verse beweisen.
Str. 420,3, 4 sind im Grunde genommen durch die
Wiederholung von Hilden vollkommen tautologisch. Dem
wird abgeholfen, wenn man mit leichter Aenderung in
V. 3 liest:
das sie durch frouwen hidde koemen zuo dem lande.
Str. 421,3 1. von dem künige.
Str. 428.2 3,4 und 429,1 beginnen alle mit sie. Um
dieser Geschmacklosigkeit abzuhelfen, lese ich :
und sagtenz ouch den degenen : die in den schiffen lägen,
horten z niht un gerne.
So wird das sechsmalige sie in 4 Versen wenigstens
zweimal beseitigt.
ä66 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 9. November 1867.
Str. 435. Viermal daz. Ich lese:
daz uns ere dunlcet, ob ir ez gerne tuot,
daz ir sehet selbe.
Str. 447. Die HS. liest
ivaz ir ir durch streyten
vnns immer eylendt nach
dann wol geicaffent tausent ewr helde.
was die Herausgeber auf verschiedene, wie mir scheint,
durchaus verunglückte Weise verändert haben. Nach meiner
Ueberzeuguug handelt es sich bloss um Entdeckung und
Beseitigung eines ganz unbedeutenden und naheliegenden
Lesefehlers , um in der Vorlage einen sehr guten Sinn zu
finden, immer ist verlesen für minner, also swaz ir uns
durch striten minner Met nach danne wol gewäfent tüsent
iuwer helde d. h. mit weniger als tausend wohlbewaffneten
Kämpfern dürft ihr uns gar nicht zu verfolgen wagen; denn
eine geringere Anzahl werfen wir ohne weiters in die Fluth.
Hagene wusste ja nichts von der Menge der im Kielräume
versteckten Recken, deren mit den andern nach Str. 455
gerade tausend waren.
Str. 475,2. Die Herstellung von so grözem givalde,
die B. versucht, scheint mir unglücklich. Ich nehme gewalte
hier als Fem. und lese : von groezzer gewalte.
Str. 474,4 etwa: ich tvaene, dem degene etc.
Str. 484,2. diu, womit auch der erste Vers beginnt,
ist zu tilgen, ebenso dürfte statt der Wiederholung von siu
in 483,4 und 484.4 besser unt stehen, wodurch beide
Strophen zur syntaktischen Einheit gelangen.
. Str. 486,4 1. in statt nü.
Str. 500 1. Do stuonden wider wehsei mit den herten
spern,
die sich unter Schilden einander wolten wem
wider ist offenbar als under verlesen, wider ivehsel ist
zu fassen, wie wider strit.
Hofmann: Zur Gudrun. 367
Str. 503,3. Diese schöne Stelle scheint mir im strengen
Anschlüsse an die HS. einfacher zu erklären , als die Her-
ausgeber gethan. Dass der Schreiber schneeweiss für den
ihm wahrscheinlich unverständlichen Genetiv sneives gesetzt
hat, ist klar genug; aber warum hätte er für flocken, was
er ganz gewiss verstund, flog setzen sollen? Ich glaube, er
hat nur flog für flügen gesetzt und vor sich gehabt : sam
sn&ves flügen winde — als ob Winde mit Schnee einher-
sausten. Das Fliegen der Winde ist ein natürliches Bild,
welches ich im Augenblicke zwar nur durch ein einziges
Citat belegen kann, welches jedoch genügen wird. Im
Tristan des Eilhart von Oberge hat JDresd. die winde wordin
her gevlogen, Palat. der wind kam dar in geflogen. Ich
wüsste nicht zu sagen, ob mir weitere Belege des Aus-
druckes nie vorgekommen oder von mir als nicht auffallend
vergessen sind.
Str. 504,2. slahen scheint mir ein verdeutlichendes Ein-
schiebsel der dem Abschreiber beliebten Art zu sein, die
sin da begerten genügt vollkommen und darauf führt auch
zunächst das die sy der HS. Der Ausdruck ist nebenbei
gesagt, einer der vielen, in denen deutsche und französische
Sprechweise zusammenfällt. Im Altfr. heisst requerre oder
requerir, wenn von einem .Manne die Rede ist. feindlich an-
greifen, wenn von einem Weibe, um Liebe werben. Im
Mhd. scheint der Ausdruck in der Falknersprache am ge-
wöhnlichsten, gern ist da technischer Ausdruck für angreifen,
vgl. Mhd. WB. I. 532.
Str. 505,1 ist in der Vorlage einer der übelklingend-
sten Verse der Gudrun. Ich lese statt als diu buoch uns
kunt tuont als Zwischensatz diu buoch um künde taont.
Das Adj. künde bedeutet dasselbe, was kunt. Dann scheint
mir der Sinn auch noch einer feineren Modification fähig.
Wie die Strophe jetzt liegt, heisst es: Da die Bücher uns
melden, wie stark Hagene gewesen, so war es ein Wunder,
368 Sitzung der philos.-philol Classe vom 9. November 1867.
dass Hetel vor ihm bestund. Aber warum sollte sich der
Dichter auf die Bücher berufen, um eine Thatsache zu er-
härten, die im ganzen Verlaufe des Werkes fortwährend im
Vordergrund steht, Hagenes Stärke? Ich meine, er wollte
das Zeugniss des Buches speciell für den vorliegenden Zwei-
kampf anführen, und dann muss man im zweiten Verse
Hetele lesen, im natürlich auf Hagene beziehend, also
Ez was ein michel zvunder. diu buoch uns künde tuont,
swie starc Hetele ivaere, daz vor im ie gestuont
der Hegelinge herre.
Str. 509,1 1. Bi im gevriesch dö Hagene.
Str. 510,4. Hier scheint mir ein evidenter Fall vor-
zuliegen, wo der Abschreiber einen ganz geläufigen mhd.
Ausdruck nicht mehr verstanden und durch das dem Laute
nach nächstliegende Wort seines Sprachschatzes ersetzt hat.
Das rüeren hätte den Ringen der halsberge nicht viel ge-
schadet ; der terminus technicus ist gereret = auf den Boden
gestreut, und das wird gestanden haben.
Str. 517 vermuthe ich:
Hagenen brast diu stange, die er ze strite truoc,
üf dem Waten Schilde, der ivas starc genuoc,
ouch enkunde vehten in allen den riehen
rechen baz deheiner
oder mit Beibehaltung der handschriftlichen Ordnung ouch
enkunde baz vehten — recken deheiner.
Str. 518. Dass der alte Wate einen Schwertschlag
durch das Haupt aushalten soll, das heisst bei aller Recken-
haftigkeit ihm zu viel zugemuthet. Es genügt üf daz
houbet vgl. Str. 864 oder durch die hüben — durch die
Helmhaube auf die Schwarte. Im dritten Verse scheint mil-
der Zusammenhang der Strophe schön hergestellt, wenn
wir lesen daz (das fliessende Blut) kuolten im die icinde. im
für nu ist die einfachste Verlesung.
Hofmann: Zur Gudrun. 369
Str. 519,3 1. bouge statt bongen, denn ein Helm hat
nur einen boac (franz. cercle).
Str. 524. In dieser Strophe ist der Sinn vor Allem
herzustellen. Hagenen hier, wo er besiegt ist, den
Uebermüthigen zu nennen, geht nicht an, ihn sagen lassen,
er habe vor Hetels Leuten Respekt bekommen , als er er-
fahren, dass sie mit reichem Gute nach seiner Tochter ge-
fahren, ebenso wenig, denn dazu gehörte weder Witz noch
Math, der dritte Vers endlich, wie er in der HS. und bei
den Herausgebern steht, ist grammatisch falsch, endlich
war, was den zweiten Vers angeht, das Kunststück nicht,
nach seiner Tochter zu kommen, sondern ihr nahe zu
kommen. Aus allen diesen Gründen lese ich die Strophe so:
Do sprach der ungemuote: sit ich hau vernomen,
äaz sie mit maniger Ivuote ir ivären nähen homen,
sit ist iu grbzer eren von helden unzerrunncn;
ir habt mit schocnen listen mine lieben tochter gewunnen.
Str. 329. Von einem arzät sin, glaube ich, konnte
man im Mhd. nicht sagen, wenn man ausdrücken wollte:
von Jemand die Arzneikunde gelernt haben. Am nächsten
käme hier wohl Str. 156,4; genügt aber nicht zum Beweise
für vorliegenden .hall. In arzet waere scheint mir nun die
Verlesung zu liegen und zwar für arzetie laere = dass
Wate die Arzneikunst von einer Waldfrau gelernt habe. Ich
möchte die Strophe dennoch so lesen :
si heten in langer zite da vor wol vernomen
äaz arzetie laere von einem wilden wibe
Wate der vil maere, des gefrumte er manigem an dem Übe
oder äaz gefrumte manigem an dem Übe.
Diesen Gebrauch von lesen belegt Biterolf V. 83.
Aehnlich bedeutet nema im Nord, lernen.
Str. 533,1 1. ich bin ir arzät nicht, denn Wate will ja
nicht sagen, dass er überhaupt kein Arzt sei, sondern nur,
370 Sitzung der philos.-phüos. Classe vom 9. November 1867.
dass er die Sühne zur Vorbedingung seiner Kunstübung
mache.
Str. 534,3,4 1.
deich minen vriunt den besten niht getar enphähen,
in und ouch den sinen, min grüezen ivaene, harte müge ver-
smähen.
Str. 535,4 1. diu woltf den iuivern wunden helfen ob
irz hetet ze minne.
Bei V. hat der zweite Halbvers eine Sylbe zu wenig,
bei B. ist zu weit und unnöthiger Weise von der Vorlage
abgegangen.
Str. 547,3 1. vor dem Mnige statt von, denn die
Krönung wurde ja in der Regel nicht von den Fürsten
selbst, sondern von Bischöfen vollzogen, bei einer Königin
natürlich in Gegenwart des Königs.
Str. 549,2 1. maget diu vil he>e. B. verändert un-
nöthig daz magetin vil tere, V. hat, wie E. und Z. vor
ihm, den falschen Halbvers diu maget vil höre beibehalten,
der nur zwei Hebungen hat, da vil bekanntlich nur dann
vor einem Adjectivum betont sein kann, wenn dieses niitw«
zusammengesetzt ist oder eine tonlose Vorsylbe hat.
Str. 555. Eine feine Strophe, die aber anders herge-
stellt werden muss, als die Herausgeber gethan haben.
Hildeburg, bittet Hagene, soll Hilden ihr grosses Ingesinde
regieren helfen; dann ist aber die Aufforderung, sie solle
selbst ihre zuht zeigen, unmotivirt, ich lese daher:
ez geivirret lihte frouwen an grözem ingesinde;
nu tuo genaediclichen daz man dine zuht an ir bevinde.
Str. 562,3 1. unser juncfrouiven. tohter ist unnöthiger
Zusatz. Im 4. Verse wohl besser durch sie ivart der brün-
nen vil verhouiven, da durch ir ein überhäufter Auftakt ist
und man leicht sieht, dass der Abschreiber durch sie darum
änderte, weil es nach seinem wie unserem Sprachgebrauchs
bedeutete, die Jungfrauen hätten die Brünnen verhauen.
Hof mann: Zur Grudrun. 371
Str. 566. Diese Strophe hisst sich in einen Satz
bringeD, wenn man liest:
Swä Hetele in den landen, diu schoenen magedin
gefriesch von edelem künne, getiuret ivolte er sin,
so er ze hüse bradite im ze ingesinde
alle die dienern willen täten des wilden Hagenen binde oder
alle die willen heten ze dienen des wilden Hagenen kinde.
Str. 585,1. Die Aenderung von hoher muot in höch-
gemiiete, die nach Z. alle Herausgeber angenommen haben,
ist unnöthig und unwahrscheinlich, da der Abschreiber hoch
gcmüete wohl verstanden hätte und daher nicht zu ändern
brauchte. Ich schlage vor Hetelen muot der höhe, wo ihm
nur die Wortstellung anstössig war.
Str. 592,2 1. schaz und ouch geicant; denn oach weg-
zulassen, ist kein Grund und die gewöhnliche Lesung ouch
schaz und geivant gibt einen falschen Vers. Im 4. Verse
möchte ich die Ergänzung nicht, wie B. durch Verlegung
von 3 Hebungen auf Küdrünen versuchen, sondern lieber
annehmen, dass vor küniginne em Adjectiv, wie Mren oder
riehen ausgefallen ist.
Str. 594,2 erde unde mer hätte ich oben zu Str. 208,1
noch als Beleg für meine Conjectur anführen sollen.
Str. 599,4 halte ich die Briefe für einen Zusatz des
Schreibers und vermuthe:
e duz sie'z wol mohten vollebringen.
Str. 605,4 möchte ich, weil der dritte Vers auch mit
sie anfängt, und weil das zweite ze überflüssig ist, lesen:
sus kämen sie ze hove dem künige so sie aller beste künden.
Str. 606,4. Man könnte das Ueberlieferte hier wohl
unangetastet lassen und durch Umstellung helfen:
käme Hetele, iväen, Hartmüote I iht guötes willen wdere
noch verjache
372 Sitzung der philos.-phüöl. Classe vom 9. November 1867.
Str. 619,1, 2 1. Swie der helt gebarte, sivas loten
drumbe reit,
das man der da värte, das was im
grimme leit.
Str. 626,3 1. der ir in herzen gerte.
Str. 631,2,31. haete er tusend stunde eins tages dar gesant,
er vünde da niht anders u. s. w.
Str. 632,1 1. Hetele bat in läsen das werben um sinlcint
4 1. das im schade waere.
Str. 642,2, 3 1. da waere üngerne gewesen dar vor
Gudrunen vater, swieMene er doch waere
oder wenn man lieber einen klingenden Ausgang hat, vater
der Gudrunen. Meine Aenderung bezweckt einen volleren Satz.
Str. 644,3 4 1. Gudrun diu schoene das hete s'ougemveide,
der helt sie dühte biderbe.
Str. 649,4. Die Lesart der HS. ir vater vnd dem
gaste sy wünschte des sy gedachten in beiden wird schwer-
lich eine erträgliche Erklärung zulassen. ,.Sie wünschte
ihrem Vater und ihrem „Liebhaber das, woran sie beide
gedachten". An was dachten sie denn sonst, als einander
zu erschlagen? Das war ja gerade, was Gudrun nicht wollte.
Der einzige Ausweg, den sie fand, um den Streit zu scheiden,
war vielmehr, dass Vater und Geliebter an sie dächten.
Ich schlage daher vor:
do es diu frouive anders mohte niht gescheiden,
ir vater und dem gaste siu wünschte das sie ir gedachten
beide
was nachher auch wirklich geschieht, da sie aus Rücksicht
auf sie (durch der frouwen liebe) vom Kampfe abstehen.
Str. 651,4 1. habende si die sine beste mäge oder was
mir noch viel wahrscheinlicher ist, habe die sine aller beste
mäge.
Str. 654,2. Die HS. hat getswayet mit ir muote, was
Hofmann: Zur Gudrun. 373
die Herausgeber bis auf B. stehen Hessen, der in für mit
setzte, wodurch die Lesart mnote allerdings besser motivirt
wird. Allein gerade in muote liegt der Fehler, denn Gudrun
war nicht zwiespältigen Sinnes, sie wusste im Gegentheile
sein- bestimmt, was sie thun wollte und setzte es rasch ins
Werk. Eine viel leichtere Emendation und ein sehr passen-
der Sinn ergibt sich, wenn wir statt muote einfach muoter
lesen, geziveiet mit einem sin heisst bekanntlich = selbander
mit Jemand sein, und nun zeigt sich, dass in diesem Verse
eine feine und wohlbegründete Rücksicht auf die Schicklich-
keit, nicht bloss des Mittelalters, genommen ist. Unschick-
lich wäre es für Gudrun gewesen, unbegleitet mit dem
Manne, der eben noch ihrem Vater im Kampfe auf Leben
und Tod gegenüber gestanden, Zwiesprache zu halten, um
ihm ihre Hand anzubieten; ganz anders, wenn es in Gesell-
schaft ihrer Mutter und Damen geschah. Ich lese daher
unbedenklich
'Mit hundert siner helde gieng er da ers vant,
gezweiet mit ir muoter von Hegelingelant
Gudrun empfieng in mit anderen vrouioen,
der edele ritter guoter moht in volliclichen getrouwen.
denn niht im 4. Verse muss als geradezu sinnwidrig aus-
gestossen werden , da es dem ritterlichen Herwig ja gar
nicht in den Sinn kommen konnte, seiner Sühne bietenden
Geliebten zu misstrauen,
Str. 655,2 1. daz Herwiges eilen geliebet sich ir sint.
Str. 656,2. Die Verwandlung des handschriftlichen
mich in iuch, welche V. uud ihm folgend B. vornahmen,
scheint mir ungerechtfertigt und der Sinn dadurch weit
weniger passend, als mit Beibehaltung des Ueberlieferten.
Ettmüller scheint derselben Ansicht gewesen zu sein, wenig-
stens liegt in seiner Emendation durch für von ungefähr
angedeutet, was Plönnies in seiner Uebersetzung in deutlicher
und wie ich glaube richtiger Umschreibung sagt:
[1867. II. 3.] 25
374 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 9. November 1867.
„Hart wars von Der zu hören, um die ich viel gewagt."
Str. 657,4 1. holder dann'' ich iu ivaere ist deheiniu die
ir ie gesähet,
mayt ist Einschiebsel des Schreibers, dem entgieng, dass
sich deheiniu auf vromve zurückbezieht, ich iu in i'u zu-
sammenzuziehen, scheint mir in dieser Stelle ganz unzulässig,
da auf ich der emphatische Ton liegt, der durch die Ver-
kürzung nothwendig verloren gienge. Dagegen hindert uns,
um den Vers richtig zu lesen, Nichts, auf holder schwebende
Betonung anzunehmen.
Str. 658,4 1. siu truoc in in ir herzen.
Zu Gudrun Str. 249,2 Heft II. S. 229 ist die Anmerkung ganz
zu streichen. Nachdem mich Hr. Staatsrath von Hermann darauf
aufmerksam gemacht, dass man in Amerika ganze Cypressenwälder
zum Schiffbau abgehauen, habe ich auch im Konrad von Megenberg
(ed. Pfeiffer S. 319) folgende entscheidende Stelle gefunden: des cy-
pressen holz ist gar guot zuo palken in Jcirchen und zuo grözem ge-
päw und ist gar vest , also daz ez gröz und swaer pürd mag auf ge-
halten und getragen.
Derselbe übergiebt:
„Zeugnisse über Berthold von Regensburg".
Roger Bacon (opera quaedam hactenus inedita Vol. I.
ed. Brewer. London 1859, im opus tertium p. 310) spricht
am Schlüsse des Werkes von der rechten Weise zu predigen
und fährt dann fort:
Quae forma praedicandi non tenetur a vulgo theologo-
rum, sed sunt elongati ab ea his diebus. Et quia praelati,
ut in pluribus, non sunt multum instructi in thedlogia, nee
in praedicatione , dum sunt in studio, ideo postquam sunt
praelati, cum eis incumbit opus praedicandi, mutuantur et
mendicant quaternos puerorum, qui adinvenerunt citriositatem
infinitam praedicandi, penes divisiones et consonantias et
concordantias vocales, tibi nee est sublimitas sermonis, nee
sapientiae magnitiido, sed infinita puerilis stultitia et vdifi-
catio sermonum Bei; sicut praeeipue exposui in Peccato
Septimo studii theologiae, in Opere Secando, et in Peccato
Hof mann: Zu Berthold von Regensburg. 375
octavo in hoc Opere Tertio; quam curiositatcm Deus ipse
auf erat ab ecclesia sua, quia nulla utilitas praedicationis
potest fieri per hunc modum. Sed excitantur audientes ad
omnem curiositatcm intellcctus, ut in nullo affectus elevetur
in bonum per eos qui talibus modis utuntur in praedicatione.
Sed licet vulgus praedicantium sie utatur, tarnen aliqui
modum alium habentes, infinitem faciunt utilitatem, ut est
Frater Berthold us Alemannus, qui solus plus facit
de utilitate magnifica in praedicatione, quam fere
omnes alii fratres ordinis utriusque.
Ein glänzenderes Zeugniss über unseren grossen Prediger
dürfte wohl das gesammte Mittelalter nicht aufzuweisen
haben. Gleichwohl wird es durch Umfang und Wichtigkeit der
Mittheilungen noch übertroffen durch das des italienischen
Zeitgenossen Salimbeue de Adam in dessen Chronica Or-
dinis Minorum (in Monumeuta historica ad provincias Par-
mensem et Placentinam pertinentia tom. III. Parmae 1857
p. 325— 329). Diese Chronik geht von 1212—1287 und
giebt über Berthold den ausführlichsten Bericht, der bis
jetzt überhaupt gefunden worden ist und sowohl wegen
seiner Wichtigkeit als der ohne Zweifel geringen Verbreitung
der Monuuienta in Deutschland einen vollständigen Abdruck
verdient. Beide verdanke ich J. v. Döllinger.
„I. Nunc ad l'ratrem Bertholdum de Alamannia
accedamus. Hie fuit ex ordine fratrum Minorum sacerdos
et praedicator, et honestae et sanetae vitae, sicut religiosum
decet: Apocalypsim exposuit, ex qua expositione non scripsi,
nisi de Septem episcopis Asiae. qui in Apocalypsis prineipio
sub angelorum nomine indueuntur, et hoc ideo feci ad cog-
noscendum qui (sie) non fuissent illi angeli, et quia exposi-
tionem abbatis Joachym super Apocalypsim habebam, quam
super omnes alias reputabam. Item per anni circulum fecit
magnum volumen Sermoiium, tarn de festivitatibus quam
de tempore, id est de domiuicis totius anni; ex quibus non-
25*
376 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 9. November 1867.
nisi duos scripsi, pro eo quod optime de Antichristo trac-
tabat in illis. Quorum primus sie inchoabat; Ecce po Si-
tus est hie in ruinam, alius erat: Ascendente Jesu in
naviculani, secuti sunt eum diseipuli ejus: in quibus
plenissime continetur tarn de Antichristo, quam de tremendo
judicio. Et nota quod frater Bertholdus praedicandi a Deo
gratiam habuit specialem; et dieunt omnes, qui eum audi-
verunt, quod ab apostolis usque ad dies nostros. in lingua
theotonica non fuit similis illi.
II. Hunc sequebatur multitudo magna virorum et mu-
lierum, aliquando sexaginta vel centum millia, aliquando
civitatum plurium simul maxima multitudo, ut audirent verba
melliflua et salutifera, quae procedebant ex ore ejus ....
Hie ascendebat bettefredum sive turrim ligneam quasi ad
modum campanilis faetam, qua pro pulpito in campestribus
utebatur quando praedicare volebat, in cujus etiam cacu-
mine ponebatur pennellus ab his qui artinciiyn collocabant,
ut ex vento flaute cognosceret populus in qua parte ad
melius audiendum se ad sedendum collocare deberet. Et,
mirabile dictu, ita audiebatur et intelligebatur a remotis ab
eo sicut ab his qui juxta eum sedebant; nee erat aliquis qui
a praedicatione sua surgeret et recederet, nisi praedicatione
finita. Et, cum de tremendo judicio praedicaret, ita treme-
bant omnes, sicut juneus tremit in aqua: et rogabant eum
amore Dei ne de tali materia loqueretur, quia eum audire
terribiliter et horribiliter gravabantur.
III. Quadam die, dum in quodam loco frater Berthol-
dus praedicare deberet, aeeidit ut quidam bubulcus dominum
suum rogaret ut ad praedicationem fratris Bertholdi audien-
dam eum amore Dei ire permitteret. Cui dominus suus
respondit: ego ad praedicationem ibo, tu vero ibis ad agrum
ad arandum cum bobus . . . Cum autem bubulcus quodam
die summo dilueulo arare inchoasset in agro, mirabile
dictu! statim primam vocem fratris Bertholdi praedicantis
Hofmann: Zu Berthold von Begensburg. 377
audivit, qui illo die per triginta milliaria distabat ab eo;
et statim bubulcus boves disjunxit ab aratro ut boves corne-
derent, et ipse sedendo pruedicationem audiret. Et facta
sunt ibi tria miracula relatu dignissima: prinmm , quia
audivit eum et intellexit, cum ita reniotus esset et per tri-
ginta milliaria distaret ab eo; secundum, quia totain pruedi-
cationem didicit et memoriter tenuit, tertium, quia tantum
aravit, praedicatione finita, quantum aliis diebus continue
arare solebat. Cum autem bubulcus postea a domiuo suo
de praedicatione fratris Bertholdi requireret, et ille eam
nesciret repetere, eam totaliter bubulcus repetiit, addens
quod eam totam audivisset et didicisset in agro. Tunc do-
minus suus, cognoscens hoc ex miraculo accidisse, dedit
bubulco plenariam libertatem ut, quotienscumque vellet, ad
praedicationes fratris Bertholdi audiendas libere posset ire
quantumcumque servile opus facienduin instaret.
IV. Erat autem consuetudo fratris Bertholdi ut, modo
in ista civitate, modo in alia, praedicationes quas facere
intendebat, diversis temporibus ordinaret et locis, ut popu-
lus, qui conveniebat, sine defectu victualia posset habere.
Quodam autem tempore quaedam nobilis domina, magno et
ferventi desiderio inflammata audiendi praedicantem fratrem
Bertholdum, eum per sex annos continuos , per civitatis et
castra cum quibusdam suis sodalibus .... (man ergänze
pro habenda indulgentia secuta) cum eo potuit habere se-
cretum et familiäre colloquium. Cum autem finitis sex an-
nis, et finitis et consumptis suis expensis, in festo assump-
tionis beatae Virginis cum sodalibus suis non haberet domina
illa quid comedere posset, accessit ad fratrem Bertholdum,
et haec omnia quae dicta sunt , per ordinem retulit sibi.
Quae cum omnia frater Bertholdus audisset , misit eam ad
quemdam campsorem *) , qui inter omnes civitatis illius
1) D. h. Wechsler, Bankier.
378 Sitzung der philos.-phüol. Gasse vom 9. November 1867.
ditior habebatur, imponens ei ut ex parte sua diceret sibi
quod daret ei tot denarios pro victualibus et expensis,
quantum valebat una dies indulgentiae , pro qua babenda
fuerat sex annis fratrem Bertbolduni secuta. Quod cum
audisset campsor, subrisit et dixit: et quornodo scire potero
quantum valeat indulgentia diei unius, quo fratrem Berthol-
dum secuta fuistis ? Cui illa respondit : dixit mihi ut di-
cerem vobis, quod poneretis denarios ex una parte in scu-
tellam staterae, et ego in alteram scutellam sufflarem , et
hoc signo poteritis cognoscere quantum valet. Posuit igitur
denarios larga manu et implevit scutellam staterae; ipsa
vero insufflavit in alteram, et statim praeponderavit, et
denarii subito sunt elevati, acsi conversi fuissent in plumeam
levitatem. Quod videns campsor, miratus est vehementer,
et pluries ac pluries denarios ex parte sua supraposuit in
statera, nee sie potuit flatum dominae elevare, quia tanto
pondere eum fixit Spiritus Sanctus, ut scutella lanceae, quae
erat ea parte dominae plena flatu, elevari denariorum pon-
derositate nullatenus posset. Qaod videntes tarn campsor,
quam dornina et aliae mulieres quae erant praesentes, statim
venerunt ad fratrem Bertholdum , et ei per ordinem quae
aeeiderant, retulerunt. Cui etiam dixit campsor: paratus
sum restituere aliena et amore Dei propria pauperibus ero-
gare, et desiderio [lies desidero] effici bonus homo , quia
revera mirabilia vidi hodie. Cui frater Bertholdus imposuit
ut illi dominae , cujus occasione ista viderat , et soeiis suis
victualia tribueret larga manu. Quod diligenter et liben-
tissime adimplevit ad laudem domini nostri Jesu Christi, cui
est gloria et honor in saecula saeculorum, amen.
V. Alio quodam tempore, cum frater Bertholdus per
quamdam viam cum fratre layco socio advesperascente jam.
die transiret , captus est ab assassinis cujusdam castellani
et duetus ad castrum et nocte illa incatenatus et male ho-
spitatus servabatur ibidem. Castellanus vero usque adeo
Hofmann: Zu Berthold von Regensburg. ' 379
concives suos offenderat, ut cjin palatio Communis depictus
esset, quali poena, si caperetur, puniri deberet, scilicet ad
suspendium judicatus. In crastinum autem circa diluculum
accessit magister carnifex ad castellanum dominum suum et
dixit ei: quid jubet dominium vestrum ut fiat de fratribus
illis, qui heri sero ducti fueruut ad nos? Cui castellanus
dixit: ,,quod expedias eos". quod erat dicere: interfice eos . .
Sic erat de castellano isto et assasinis suis, qui aliquos
praedabantur, aliquos interficiebant, aliquos vero ducebant
ad castrum et ponebant in carcere. quousque, pecunia data,
redimi possent ; alios interficiebant omnino. Cum autem
frater Bertholdus dormiret et socius suus frater laycus vigi-
laret, qui matutinum suum dicebat et sententiam mortis
super se a castellano datans intellexisset, eo quod non esset
inter utrosque nisi paries intermedius, coepit frater laycus
fratrem Bertholdum pluribus vicibus inclamare. Cum autem
castellanus nomen fratris Bertholdi audiret, coepit cogitare
ne forte iste famosus ille praedicator esset, de quo mira-
bilia dicebantur; et statim revocato carnifice praecepit ei,
ne laederet fratres, sed ante conspectum suum duceret eos.
Qui cum perducti fuissent, interrogati sunt ab eo , quibus
nominibus vocarentur. Cui frater laycus respondit; nomen
meum tale est; iste vero est frater Bertholdus, famosus et
gratiosus ille praedicator, per quem Deus tot mirabilia
operatur. Cum autem castellanus talia audivisset, statim
prostravit se ad pedes fratris Bertholdi et amplexatus et
osculatus est eum : insuper rogavit eum ut amore Dei ipsum
praedicantem audiret, quia ex multo tempore desiderabat
ab eo verbum salutis audire. Cui frater Bertholdus con-
sensit hoc pacto, quod omnes malefactores , quos secum ha-
bebat in Castro, ante suum conspectum congregaret in unum
ut omnes simul praedicationem audirent : quod ille libenter
se facturum proniisit. Dum igitur castellanus suos maleficos
congregaret, et frater Bertholdus aliquantulum secessisset
380 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 9. November 1867.
ad dominum exorandum , accessit ad eum socius suus et
dixit ei: noveritis, frater Bertholde, quod super nos mortis
sententia ab isto nomine data fuit, quapropter, si umquam
bene praedicastis de poenis infernalibus et de gloria para-
disi, nunc tali magisterro indigetis. Audiens haec frater
Bertholdus totum se contulit ad rogandum Deum, et reversus
denuo illis congregatis ita splendide peroravit et verbum
salutis proposuit, ut omnes amarissime provocarentur ad
flendum, et, antequam inde recederet, omnes in confessione
audivit et praecepit eis, ut a Castro illo discederent et male
ablata restituerent, et toto tempore vitae suae in poenitentia
perseverarent et sie vitam aeternam haberent. Castellanus
vero prostravit se ad pedes fratris Bertholdi et cum multis
lacrymis rogavit eum, ut amore Dei eum ad ordinem beati
Francisci reeipere dignaretur : qui reeepit eum , sperans
quod a ministro 2) hanc gratiam obtineret. Cum autem
fratrem Bertholdum sequi vellet, prohibuit eum frater Ber-
tholdus propter furorem populi quem offenderat, et [qui] de
conversione ejus nihil audiverat. Cum autem pervenisset ad
civitatem frater Bertholdus, voluit ipsum populus praedi-
cantem audire et congregati sunt omnes in glarea cujusdam
fluminis, ubi e regione pulpiti latrones in furcis pendebant.
(Cum talia audis, pone tibi exemplum glaream fluminis Reni
de Bononia d. h. stelle dir den Sand am Reno in Bologna
vor) Castellanus igitur supradictus post discessum fratris
Bertholdi inflammatus amore divino et attractus desiderio
audiendi fratrem Bertholdum, oblitus est omnium malorum
quae umquam intulerat civitati, et veniens solus, ut iret ad
locum ubi praedicabatur , statim fuit cognitus et captus et
sine mora ad suspendium duetus. Currebant autem omnes
post ipsum clamantes et dicentes : suspendatur et morte
2) minister ist entweder generalis (Ordensgeneral) oder provin-
ciae (Provincial).
Hof mann: Zu Berthold von Regensburg. 381
turpissima moriatur iste pessimus inimicus noster . . Cum
autem videret frater Bertboldus populum concurrentem et a
praedicatione sua recedentem, miratus est valde et dixit:
numquam aecidit mihi quod aliquis a praedicatione niea
recederet, nisi praedicatione finita et benedictione accepta.
Cui unus de residentibus dixit : pater, non niireinini ex hoc,
quia captus est talis castellanus, qui erat noster pessimus
inimicus, et ducitur ad suspendium. Audiens hoc frater
Bertholdus, totus contremuit et cum dolore dixit: noveritis
quod confessionem ejus audivi et omnium sociorum suorum,
quos misi ut poenitentiam facerent; et istum ad ordinem
beati Francisci receperam, et modo veniebat ut me prae-
dicare audiret: quapropter curramus omnes et liberemus
eum. Coeperunt igitur omnes velociter currere; cumque
pervenissent ad furcas, jam erat tractus superras et expira-
verat. Depositus est igitur ad jussum fratris Bertholdi, et
invenerunt chartam circa Collum ejus aureis litteris scriptam
et hanc scripturam habentem : Consummatus in brevi ex-
plevit tempora multa; placita enim erat Deo anima ejus:
propter hoc properavit educere illum de medio iniquitatum.
Sap. IV. Tunc misit frater Bertholdus ut venirent fratres
Minores de conventu civitatis illius et portarent crucem,
feretrum et habitum et viderent et audirent mirabilia Dei.
Et factum fuit ita et retulit eis et omnibus totam hystoriam
supradictam, et portaverunt corpus ejus et honorifice sepe-
lierunt illud in loco fratrum Minorum, laudantes Dominum
qui talia operatur.
Hier schliesst leider Salimbenes Bericht, der ausführ-
lichste und in seiner Art merkwürdigste, den das Mittelalter
uns überliefert hat. Der gute Minorit von Parma (er ver-
abscheute diese seine Vaterstadt wegen ihres gottlosen Be-
nehmens gegen die Mönche und die Diener Gottes überhaupt
so sehr, dass er in den 48 Jahren seines Mönchthums nicht
ein einziges Mal dort wohnen mochte, vgl. p. 353) ist eben
382 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 9. November 1867.
kein grosser Geist; hat aber eine so belehrende und an-
ziehende Chronik geschrieben, wie nur irgend einer seiner
Zeitgenossen. Er kümmert sich um sehr kleine Dinge; so
erzählt er S. 222, dass im Jahre 1250 ein Cardinallegat
aus dem (mit dem seinigen rivalisirenden und von ihm an
manchen Stellen angestochenen) Dominikanerorden, ein junger
und spindeldürrer Mensch (juvenis et macilentinus) den
Damen durch das Verbot der überlangen Schleppkleider
(caudae mulierum, mhd. swanz) grossen Verdruss bereitet
habe, im Jahre 1285 eine schreckliche Epidemie unter den
Katzen gewesen sei, anno so und so dagegen die Flöhe besonders
überhand genommen hätten. Wunder- und Teufelsgeschich-
ten berichtet er mit Vorliebe und so darf uns denn nicht
überraschen , wenn der grösste Theil dessen , was er von
unserem Berthold zu sagen weiss , auch schon so weit in
das Gebiet der Wunderlegende streift, dass es aller Forsch-
ung schwer fallen wird, den historischen Kern von der Ein-
kleidung zu sondern. Gleichwohl bleibt sein Bericht auch
nach Abzug alles Wunderhaften einzig und unschätzbar durch
die Fülle der Einzelheiten, die Lebendigkeit der Schilder-
ung und endlich besonders dadurch, dass es gerade ein
Italiäner ist, der mit so begeistertem Schwünge von seinem
gefeierten ultramontanen Ordensbruder spricht. Geistig steht
freilich Roger Bacons Zeugniss noch höher, der von Berthold
ohne alle Ordensrücksichten geradezu sagt, er leiste in der
wahren und rechten Predigtkunst mehr, als beinahe alle
Dominicaner und Franciscaner zusammen ; denn es ist das
Zeugniss eines umfassenden und tiefdenkenden Gelehrten,
dessen überraschend scharfer und klarer Blick in vielen
Dingen, die wir als die Domäne der neueren Wissenschaft
betrachten, auf so manchen Seiten seiner bisher unedirten
Werke in Erstaunen setzt. So verdanken wir ja ihm die
merkwürdige Stelle über die Eintheilung der französischen
und englischen Mundarten (Opera inedita p. 438, 439, 467).
Hof mann: Zu Berthold von Eegensburg. 383
Und auch für die europäische Beiühmtheit Bertholds ist
Bacons Zeugniss höher anzuschlagen, da bei den Verkehrs-
verhältnissen des 13. Jahrhunderts ein Bekanntwerden von
Oberdeutschland aus in Oxford unendlich schwieriger ist,
als im benachbarten Oberitalien, wo der deutsche Kaiser
Herr war und die deutsche Sprachgränze viel tiefer nach
Süden gieng, als wir heutzutage uns vorstellen können, wo
die italienische Sprachgränze uns durch die selbstmörderische
Indolenz der zum Schutze deutscher Mark im Südosten Be-
rufenen und Verpflichteten uns Deutschen im Reiche täglich
näher auf den Leib rückt und rücken wird, so lange jedes
Wehen deutschen Geistes von den Machthabern im Alpen-
lande als Pesthanch der Häresie verpönt und nach besten
Kräften exorcisirt wird. Salimbene selbst giebt uns in
seiner Franziskanerchronik, ohne daran zu denken , einen
höchst schätzbaren Wink über die Fortdauer deutscher
Zunge in Bergamo in Mitte des langobardischen Alpenvor-
landes zwischen den Seen von Como und Iseo, somit weit
westlich von Vicenza's vielgenannten deutschen Sprachinseln.
Salimbene also berichtet unter dem Jahre 1287. Quid am
homines de Bergamo, de maioribus civitatis suae, propter
hon/ieidium, quod fecerant, fuerunt de civitate sua forbanniti
et positi in confinibus sempiternis sine spe ulterius redeundi.
Cum ergo Beginnt (Beggio zwischen Parma und Modena)
devenissent, petierunt a Comnnmi Begino locum , in quo
possent habitare securi. Begini rero hanc eis gratiam con-
cesserunt, ut cireuirent tot um episcopatum eorum et tibi in-
venirent locum non ab aliis oecupatum et ydoneum sibi, ibi
suam munitionem construerent et habitarent; et sie fecerunt
roketam, qaae ab eis dieta est Tiniberga. Wenn verbannte
bergamaskische Patrizier dieses roketa (Bei gschloss), 10 Meilen
von Ueggio und eiue Meile von Sassolo (Saxolo), wie Salim-
bene ebenda S. 394 ff. weiter ausführt, mit einem offenbar
deutschen Namen belegen konnten, so liegt die Vermuthung
384 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 9. November 1867.
wohl unabweislich nahe, dass sie selbst Deutsche gewesen;
denn ein Wort wie Tiniberga für ein schon im Italienischen
eingebürgertes deutsches zu halten, geht kaum. Tiniberganun,
wenn wir uns an den Wortlaut halten, wäre zunächst aus alt-
hochdeutschem Unna, mittelhochdeutschem tinne Stirne, Zinne
abzuleiten und hiesse so viel als Zinneberg. Allein es ist
auch möglich, dass der Abschreiber hier gefehlt und das
Wort liniberga vor sich gehabt, welches im Ahd. hinlänglich
oft vorkömmt und einen guten Sinn an unserer Stelle geben
würde. Es steht bei Graff III. 174 und heisst fulcrum,
pinnaculum, reclinatorium, cancelli, also ein eingeschlossener
Ruhe- oder Zufluchtsort; gewiss ein passender Name für
das Felsennest der verbannten Bergamasken. Verschreib-
ungen dieser Art finden sich auch sonst, so in dem weiter
unten zu erwähnenden Stücke in Versen JEstuans intrinsecus
Strophe 7, Vers. 4 Älachie für Alethiae (vgl. Carmina JBu-
rana Nr. 172 Str. 9, wo ebenso unrichtig Galatiae steht).
(An einer andern Stelle steht in bibliotheca, wo offenbar in
biblia tota das Richtige ist.)
Ich habe mich, natürlich bemüht, über die Mittheilungen
Salimbenes nähere Aufschlüsse zu gewinnen und wo ge-
druckte Werke solche nicht ergaben , zu Schindlers Real-
katalog, der im 25. Cahier Blatt 59 — 80 von Berthold han-
delt, meine Zuflucht genommen, sowie zu seinen so überaus
wichtigen Initien. Bis jetzt habe ich das, was ich zunächst
suchte , nicht gefunden , nämlich die beiden Predigten über
den Antichrist und den Commentar über die Apokalypse.
Die Bibliothek der Franziskaner in Regensburg enthielt
zwar, wie Sanftls Catalog angiebt, einen solchen Commentar,
aber ohne Angabe des Verfassers. Dagegen habe ich bei
Durchgehen der Schmeller'schen Blätter einiges gefunden,
was den Spezialforschern auf diesem Gebiete vielleicht ent-
gangen sein dürfte. Erstens eine authentischere Quelle über
seinen Todestag, als die bisherigen, nämlich das Todten-
Hofmann: Zu Berthold von Regensburg. 385
buch des Franziskanerklosters in Regensburg, wo Berthold
gestorben ist. Es findet sich in der Münchner Hof- und
Staatsbibliothek Ulm. 13030 (Cim. 4) und wird nächstens
von Hrn. Reichsarchivsfunctionär Primbs in den Schriften
des historischen Vereines von Regensburg herausgegeben
werden. Der Eintrag lautet:
XIX. K. J (14. Dcc.) 0. fr. perhtold» magn* ~]>äi-
cator. M.CCLXX11. Am Rande sein Miniaturbild knieend
und betend. In demselben Todtenbuche stehen auch seine
Schwester und sein Schwager.
6 Jd. Junij 0. Elisahet sechsin soror fris perch-
toldi a°. d. 1. 2. 93.
I). V. J. Oct. Item öbitus Merkelini Saxonis qui
hdbuit sororem fratris Perchtoldi magni predicatoris a. d.
1. 2. 82.
Demselben Gelehrten verdanke ich noch folgende Mit-
theilungen.
,,Das antiquum mortiloyium der Franziskaner in
München (Cod. bav. 755 IL pag. 143) gedenkt seiner unter
dem 14. Dec. Fratcr Bertlioldus doctor gentium in Eatis-
%iona. Ebenda wird auch seines Lehrers Frater David in
Augusta am 15. November gedacht.
Das Necrologium des Klosters S. Clara am Anger in
München (Cod. 4,) gleichfalls am 14. Dec. 1272. Frater
Bertlioldus doctor gentium in ratispona.
Die Neurologien von S. Clara und den Franziskanern
in München wurden von Herman Sack, Gardian des
letztern circa 1404 angefertigt. Die Necrologien der Fran-
ziskaner in Kelheim und Nürnberg, sowie Landshut haben
- seinen Todestag nicht1'.
Von Bruder Berthold war die Rede in einem Perga-
ment-Codex der Heilsbronner Bibliothek , welcher leider
nicht mit in die Erlanger gekommen und dessen jetziger
Aufenthalt mir unbekannt ist. M. Job.. Lud. Hocker in
386 Sitzung der philos.-fhilol. Classe vom 9. November 1867.
seiner Bibl. Heilsbr. Norib. 1731.2° p. 35 giebt darüber
folgendes: (302) Opera fratris Bertholdi s. Extravagantes
Busticani. fol. Sermones hie continentur CCXCVII1. prae-
fixa habentes primo Prologum fratris Heinrici tmjusdam
monachi, quo operose Bertholdum commendat atqiie ab aemu-
lis Busticani nomen ipsi impositum vindicat; deinde tripli-
cem indicem u. s. w. Es wäre vor Allem dieser Hand-
schrift und dem Prolog des Frater Henricus nachzuforschen.
Unsere Hof- und Staatsbibliothek besitzt nun einen Codex
von S. Emmeram, Saec. XIV. (Cod. lat. 14093) mit dem
Titel Sermones qui dieuntur rusticani de Saudis per circu-
lum anni, 318 Blätter in 4°. Am Schlüsse steht roth:
Iste Über est fratris Hermanni de ordine fratrum minorum.
Dann schwarz die Verse:
Magni praelati liber explicit atque beati
De Vriberch lati nuper et bene morierati.
Ein Blatt von HoheneichersHand (Rep. 25/61 bemerkt:
Auetor est Bertholdus Batisbonensis , Ordinis Minorum.
Sanftl in seinem berühmten Cataloge der S. Emmeramer
Bibliothek (IH 1540) (ihm hat Hoheneicher seine Notiz ent-
nommen), bemerkt zu demselben Codex: Sermones qui di-
euntur rusticani etc. Auetor est Bertholdus Batisbonensis
vide Kobolt Baier. Gel. Lex. p. 86. In Catalogo Codd.
Mss. Bibliothecae fratrum Minorum Batisbonae, quem supra
pag. 1020 retidi, notatur: Nota de Busticano novo et
antiquo, scilicet fratris Pertholdi, welcher Eintrag
sich denn auch richtig am angegebenen Orte des SanftP-
schen Catalogs ohne weiteren Zusatz findet. Im Original-
Catalog, welchen Sanftl abgeschrieben und der sich eben-
falls noch auf unserer Bibliothek befindet, (Em. B. XX.)
heisst es No de Busticano nouo. et antiq. s. fris. phtoldi.
Die Codices der Regensburger Franziskaner sind nicht alle
in die hiesige Staats-, aus der Regensburger Stadtbib-
liothek übergegangen, wo nun weitere Nachforschungen an-
Hofmann: Zu Berthold von Begensburg. 387
zustellen sein werden. Den hiesigen Codex der Sermones
Rusticani habe ich bis jetzt noch nicht durchlesen können,
enthalte mich also hier vorläufig jeder weitem Bemerkung und
Vermuthung. Dagegen kann ich das folgende Werl> nicht nur
anführen und dabei Hockers Bemerkungen wiederholen, son-
dern es liegt mir durch die gefällige Güte der Vorstände
der hiesigen Staats- und der Erlanger Universitätsbibliothek
der Codex selbst vor. Die Pergamenthandschrift, welche bei
Hocker die Nummer 384, in der Erlanger Bibl. 407 trägt,
enthält Sermones ad religiosos. Auf dem 5 Blatte findet
sich die Rubrik, in welcher der Name des Verfassers der
Predigten genannt ist, den Hocker Bertholdi, Irmischer da-
gegen im Cataloge der Erl. Hss. S. 118 (Nr. 407) Gerholdi
las. Beide haben falsch gelesen ; aber der Grund, weshalb
zwei so tüchtige und achtbare Gelehrte in ihrer Deutung
des Wortes so weit auseinander gehen konnten, ist paläo-
graphisch so interessant, dass ich ihn näher besprechen
muss, so weit diess ohne Facsimile möglich ist. In der
Handschrift selbst steht nämlich unzweifelhaft berholdi. er
ist oben rechts am b durch einen Hacken abbrevirt, der
von oben nach unten geht, und den Irmischer für den
oberen Zug eines grossen G hielt, welcher Zug aber in der
HS. sich nicht in vertikaler, sondern in horizontaler Richt-
ung schlingt. Nachdem Irmischer das b mit seinem abbre-
virten er für G genommen hatte, musste er nun auch die
Abkürzung für er suchen, denn sonst hätte das Wort Gholäi
gelautet. Er fand sie in dem Häckchen, mit welchem h
oben ansetzt und welches gerade so aussieht, wie der An-
fang der gewöhnlichen Abkürzung für er. Um aber wirklich
die Abkürzung er zu sein, müsste das Häckchen für sich
stehen und dürfte nicht den obern Anfang des folgenden h
bilden. Leider sind von der Hand des Rubricators sonst
zu wenige Einträge vorhanden, um die Frage mit absoluter
Sicherheit entscheiden zu können, namentlich findet sich kein
388 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 9. November 1867.
zweites G und kein zweites h. Irmischers Lesung erklärt
und rechtfertigt sich nach allem Gesagten sehr leicht, wäh-
rend Hocker einfach berholdi gelesen und das t als selbst-
verständlich hinein ergänzt haben wird. Ich selbst, meiner
eigenen Erfahrung misstrauend, habe vier der geübtesten
hiesigen Handschriftenleser zu Rathe gezogen. Einer davon
las Gerholdi, die drei andern unbedenklich berholdi, was
also für jetzt die Majorität für sich hat. Der Name Ber-
hold scheint auch nicht vorzukommen, wenigstens findet er
sich nicht bei Förstemann.
Die ganze Rubrik heisst nun so:
Iste est numerus et ordo et materia Sermonum fratris
berholdi ad religiosos et quosdam alios. Dieses Verzeich-
niss enthält nun unter Nr. 91 Regula selbhardi cum offi-
cialibus et officiis suis, also ist kein Zweifel, dass die von
Wackernagel LB. 811 nach R. von Raumers Abschrift niit-
getheilte Regula Selphardi dem Verfasser der ganzen
lateinischen Predigtsammlung zugeschrieben wurde. Hocker,
der nicht an Bertholds Autorschaft zweifelte und die Regula
Selphardi als Specimen des Codex S. 36—37 vollständig
abdrucken Hess, bemerkt dazu: Cur ab aemulis fratribus
Rusticani titulum Bertholdus iste reportaverit , ex hisce 94
sermonibus hinc inde conjectari potest, quanta enim libertate
mores claustralium perstrinxerü, vel sola Regula Selphardi
nomine insignita, quam totam Sermoni 94. praemisit, docet.
Ich kann die Frage, ob diese Predigten und Predigt-
entwürfe (die meisten gehören wohl der letzteren Kategorie
an) von unserem Berthold sind oder sein können, hier aus
Mangel an Hülfsmitteln nicht weiter verfolgen, dass Berthold
Sermones rusticanos geschrieben, sagt auch Joh. Vitodur.
(Pfeiffer Zeugniss 17).
Ein Zeugniss über die Berthold zugeschriebene Gabe zu
prophezeien, liefert uns Bruder Chunrad in den Randbemerk-
ungen des altehrwürdigen Missale von Andechs (And. 5), wo es
Hofmann: Zu Berthold von Regensburg. 389
f. 79bheisst: Noverint xpi fideles, quoclego frater Ch{unradus)
concmtus de monte S. Petri qui dicitur Madron (d. li.
die Kirche in monte Madarano oder auf dem Petersberg bei
Braunenburg), cum edificavimus capellam S. Caterine, in-
venimus plures Jcartas, inier quas una erat, quae sie dice-
bat, quod quadam vice praedieavit frater Perchtöldus prae-
dicator ordinis fratrum Minorum in monte et castroAndess
in praesentia comitis , qui frater Perchtöldus multum dili-
gebatur et commendabatur a praedicto cornite. Inter cetera
prophetisavit sibi in quodam sermone, castrum suum esse
destruendum et . . . (unlesbar) redißcandam (sie) tempore tri-
buhdtonis et pacis. tunc revelabitur yloria domini in loco
isto et veniet consolatio populi et quia prope annus gracie
et magnificabitur locus per edificationem u. s. w.
Das Uebernatüi liehe spielt hier wie in so manchen
andern Erzählungen von Lleithold eine Rolle, die immer
grösser wird, bis sie endlich gipfelt in dem Berichte, den
Hottinger nach der Chronik des Johann Ulrich Krieg wieder-
holt, dass er nämlich einen Todten wieder lebendig gemacht
habe. Nach dem. was in der Helvetischen Bibliothek
Zweites Stück S. 129-182 Zürich 1735 über diese soge-
nannte Krieg'sche Chronik gesagt ist, gehört sie einer so
späten Zeit an, dass wir in ihrem Berichte einen der letzten
Ausläufer von Bertholds legendenhaft gewordener Geschichte
erblicken dürfen, wie sie sich wahrscheinlich auf schweizeri-
schem Boden und unter dem Einflüsse des Zeugnisses von
Johannes Vitoduranus gebildet hat, wie denn auch die irrige
Notiz, B. sei in Winterthur geboren, aus den Angaben des
Winterthurer Chronisten erschlossen sein wird.
Dagegen ist uns in neuester Zeit ein zwar sehr kurzes
und mageres, aber durch seine Gleichzeitigkeit wichtiges
Zeugniss von Laraprecht von Regensburg durch Franz Pfeiffer
(Altdeutsches Uebungsbuch S. 71 Z. 75) zum ersten Male
mitgetheilt. Lamprecht, der unsern Berthold aller Wahr-
[1867. II. 3.] 2G
390 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 9. November 1867.
scheinlichkeit nach persönlich gekannt hat, sagt von ihm
und einein (schottischen?) Ordensbruder, der wohl auch in
Regensburg lebte:
bruder Johan von Engelant
Vn der svzze Perhtolt
liabent der genauen solt
von Jesu enp fangen,
waer ez mir sam ergangen,
daz nem ich vur die richeit
die diu werlt elliu treit.
Zum Schlüsse muss ich noch einmal auf Salimbene zu-
rückkommen , dessen Chronik , abgesehen von ihrer hohen
Bedeutung für Kirchen-, Kloster- und Reichshistorie schon
-in Bezug auf Literatur- und Culturgeschichte einer beson-
dern systematischen Behandlung würdig wäre.
Man sieht, dass die Sage vom gewogenen Ablass, die
ich mit Nr. 4 bezeichnet habe, ihren Weitererzähler gefun-
den hat im 37. Zeugniss Pfeiffers von Marianus aus Florenz
(15./16. Jh.), worauf schon das seltene, beiden Berichten
gemeinsame campsor hindeuten könnte. Wir dürfen an-
nehmen, dass die erste italienische Quelle hier Salimbene
war, dass aber zwischen ihm und dem Erzähler des 16. Jhd.
noch mehrere Berichte in der Mitte gelegen haben werden,
die uns bis jetzt nur noch nicht bekannt sind, denn dass
Marianus aus einem um mehr als 200 Jahre älteren Werke
direkt geschöpft habe, ist im Allgemeinen unwahrscheinlich.
Bei der ethischen und ästhetischen Würdigung dieser Le-
gende müssen wir uns erinnern . dass das Wägen von Im-
ponderabilien durch das ganze Mittelalter bis auf die neueste
Zeit geht und ohne Zweifel einer der vielen Züge geistlicher
Symbolik ist, deren Ursprung wir im Orient zu suchen
haben. Hier ist es Alexanders Fahrt zum Paradiese, (Alex
M. iter ad parad. ed. J. Zacher, Königsberg 1859 S.22— 29),
die wir als Quelle unserer Bertholdlegende ansehen können,
Hofmann: Zu Berthold von Regensburg. 391
da dieser Zug bekanntlich in den deutschen Alexander über-
gegangen ist. Wie dort der einem menschlichen Auge
gleichende Edelstein aus dem Paradiese das sichtbare Symbol
der unersättlichen Gier des Menschenherzens, die nur ruht,
wenn Staub das Auge deckt, so ist in Salimbenes Darstell-
ung noch des Blasen der Dame auf die Wagschale der
materielle Faktor . während ein solcher bei Marianus ganz
fehlt, ebenso wie in der modernen Erzählung, wo vom
Pabst bestimmt wird , wie schwer ein Vaterunser wiegt.
Ueberhaupt darf bei Entstehung religiöser Sagen und
Legenden angenommen werden , dass die einer bestimmten
Zeit, wie die eines bestimmten Landes auch einen gemein-
samen Zuschnitt haben und zwar um so markirter, je
mehr die geistige Entwicklung eines solchen Gebietes eine
isolirte ist, wie man diess sehr deutlich an den so
charakteristischen irischen Legenden studiren kann. Dass
eine solche Legendenwelt dann ihrerseits zurückwirkt
auf die Auffassung der Vorgänge des wirklichen Lebens hat
schon sehr richtig Karl Schmidt (Nicolaus von Basel, Wien
1866 S. 54 ff.) ausgeführt, indem er genau die für solche
Erscheinungen fundamentale Distinction zwischen objectiver
und subjectiver Existenz festhält, jene verwirft, diese zugibt.
Er hätte da wohl in einigen Punkten noch weiter gehen
und in der frühsten Jugendgeschichte des Nicolaus (S. 4)
den realen Reflex der Alexiuslegende in Anschlag bringen
können , deren ethische Wirkung zu allen Zeiten eine ge-
waltige gewesen sein muss, wenn wir bedenken, dass sie
nicht bloss in alle christlichen Sprachen des Mittelalters,
sondern auch in verschiedenen Fassungen in die arabische
übergegangen ist (s. W. Lane Anmerkungen zu der grossen
Ausgabe von 1001 Nights), in einer dem Ali, Sohn des
Chalifen Harun AI Raschid zugeschrieben wird, und noch in
unserer Zeit auf den jungen Göthe einen solchen Eindruck
machte, dass er sie nach der Erzählung einer alten Frau in
26*
392 Sitzung der philos.-pliilol. vom Gasse 9. Nooember 1867.
seinen Schweizer Reisebriefen (Anhang zu Werthers Leiden)
verewigte. Aehnlich dürfte in dem mystischen und aller
Welt, selbst ihren getreusten Anhängern verborgenen Zu-
sammenleben der Gottesfreunde in tiefster Waldeinsamkeit
(S. 44 ff. 51—53) ein Reflex des poetischen Cönobitenthums
der Graaltempleisen im unnahbaren Walde von Munsal-
vaesche sich darstellen.
Unter den literarischen Mittheilungen Salimbenes dürften
folgende zu den wichtigeren gehören. Von vordantischen
Dichtern, die sonst nicht bekannt sind, nennt er S. 189
einen Pelavicino (= Rupf den Nachbar) von Parma als can-
tionum inventor; von sicilianischen Dichtern S. 245 — 6 einen
auch in der politischen Geschichte bedeutenden comes et
camerarius des Königs Manfred (welcher seinen Bruder
König Conrad durch Giovanni da Procida vergiften Hess,
wie man nach S. 245 erzählte), mit Namen Manfredo
Maletta, optimus et perfectus in cantionibus inveniendis et
cantilenis excogitandis, et in sonandis instrumentis non cre-
ditur habere parem in mundo. Am öftesten aber (6 Mal)
citirt er von italienischen Dichtern den magister Gerardus
Pateclus (auch Patecelus geschrieben) vielleicht von Cremona
vgl. S. 21, der ein Buch de Taediis geschrieben, zu dem
Salimbene selbst im Jahre 1260 eine Fortsetzung dichtete,
wie er S. 238 sagt: In supradicto millesimo (1260) habita-
bam in Burgo Sancti Donini et composui et scripsi alium
librum Taediorum, ad similitudinem Patecli. Trotz des
lateinischen Titels sind alle Citate italienisch und das Buch
scheint moralisch-satirischen Inhalts gewesen zu sein, so
dass sein Verlust um so mehr zu bedauern ist, als fast alle
vordantische Poesie bekanntlich in Liebesliedern besteht.
Eine allgemeine, italienische Sprache kennt er natürlich noch
nicht; er unterscheidet S. 351 zwischen tuscice et lombar-
dice et gallice loqui. Hervorzuheben ist auch sein Bericht
über die Geissler und ihre Lieder (S. 238), anno 1260 ve-
Hofmann: Zu Berthold von Regensburg. 393
nerunt verberatores per Universum orbcm et . . . compone-
bant laudes divinas ad honorem Dei et beatae Virginis
quas cantabant, dum se verberando incederent, — über die
cantilenas und scquentias des frater Henricus S. 64. über
das nachher verbranute Buch des frater Ghirardimus de
JBorgo Sancti Bonini (S. 233. 235). und besonders der über
den näheren Inhalt des Commentars über die Apokalypse
vom Abbas Joachym. den wir schon oben in seiner Erzähl-
ung von Berthold erwähnt fanden. Er hiess Über figurarum
und deutete auf die Saracenen, auf Machometh, Muthsel-
mutus, Saladinus und Kaiser Friedrich IL, (S. 224), während
ein anderer Zeitgenosse den König von Castilien für den
Antichrist hielt (S. 234). Ein wahrer historischer Roman
in nuce ist das Leben des Cardinallegaten Philippo von
Ravenna, aus Pistoja, "der in seiner Jugend als armer
Scholar die Hochschule der schwarzen Kunst, Toledo, be-
suchte, aber von seinem Professor, einem berühmten Meister
(capatns, senex, aspectu deformis) als unfähig entlassen
werden musste, weil, wie er sagte: vos Lombardi non estis
pro arte ista, et ideo dimittatis eam nobis Hyspanis, qui
homines feroces et similes daemonibus sumus, tuvero, fili, vade
Parisios et stude in scriptum divina, quia in ecclesia Dei
adhuc futurus es magnus (S. 200). welches testimonium er
indess später als Cardinallegat zu Schanden machte, wo sie
timebant eum sicut diabolum und selbst der schreckliche
Ezzelino di Romano nur partim plus timebatur (S. 204 — 5).
Von noch allgemeinerem und zum Theile actuellem Interesse
wären die Urtheile unseres freimüthigen , charakterfesten
und löblichster Unparteilichkeit (vgl. S. 245) beflissenen
Minoriten über Kirchen- und Staatsverhältnisse , wie z. B.
das über die Erwerbung der Romagna S. 282. Hanc (Ro-
magnolam) Ecclesia romana dono obtinuit a domino Rodulf o,
qui tempore domini Grcgor/i papae X. ad imperium fuit
elcctus. Saepe cnim Romani Pontifices de republica aliquid
394 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 9. November 1867.
volunt emungere, cum Imperatores ad Imperium asswnuntur.
Da indess mein Absehen hier kein historisch-politisches sein
kann, so schliesse ich mit dem Zeugnisse Salimbenes über
eine Persönlichkeit, die in der Literaturgeschichte nicht
minder berühmt ist, als selbst Bruder Berthold, ich meine
den Archipoeta Waltharius oder, wie v. Giesebrechts Unter-
suchungen herausgestellt haben , Walther von Lille (Gual-
terius ab Insulis). Unser Autor kennt ihn genau, citirt ihn
öfter, theilt S. 42 — 45 sein grosses Gedicht, Aestuans in-
trinsecus (= Carmina burana p. 67—71) ganz mit, und
berichtet von ihm, was kein Zeitgenosse weiss (S. 41): Fuit
Ms temporibus Primas canonicus Coloniensis, magnus
trutannus (franz. truan, engl, truant) et magnus trufator et
maximus versificator et velox, qui, si dedisset cor suum ad
diligendum Deum, magnus in litteratura divina fuisset et
utilis valde Ecclesiae Bei. Cujus Apocalypsim, quam fece-
rat, vidi et alia scripta plura. Darauf folgen 6 seiner
Epigramme mit Angabe der Veranlassung, endlich das Ae-
stuans intrinsecus mit folgender Motivirung: Item hie ac-
cusatus fuit archiepiscopo suo de tribus , scilicet de opere
venereo, id est de luxuria, et de ludo et de taberna. Et
excusavit se rithmice hoc modo. S. 357 erwähnt er noch
sein Gedicht De vita mundi und theilt überhaupt 131 Verse
von ihm mit.
Herr Plath trägt vor:
,,Ueber Krause's Unsterblichkeitslehre".
Derselbe behält sich die Verfügung über die Abhand-
lung vor.
Der Classensecretär Herr M. J. Müller berichtet:
„Ueber mehrere Nummern des türkischen in
London erscheinenden Journals 'Mukhbir'",
die der Akademie von der Ptedaktion geschickt worden sind.
Buchner: Bildung von Schioefelarsenik in den Leichen etc. 395
Mathematisch -physikalische Classe.
Sitzung vom 9. November 1867.
Herr Büchner hält einen Vortrag:
„Ueber die Bildung von Schwefelarsenik in den
Leichen mit arseniger Säure Vergifteter."
Die Umwandlung der arsenigen Säure in gelbes Schwefel-
arsenik in faulenden Eingeweiden ist schon öfter als einmal
nachgewiesen worden.
Ich selbst habe eine solche Veränderung vor einigen
Jahren zufällig beobachtet, als ich Theile des Magens und
Darmkanales aus der Leiche eines Menschen , den man für
vergiftet hielt, nachdem dieselben zerschnitten und mit Koch-
salz gemengt waren, der zersetzenden Einwirkung concentrirter
Schwefelsäure unter Mithülfe der Wärme unterwarf, um etwa
vorhandene arsenige Säure in flüchtiges Chlorarsen überzu-
führen. Es fiel mir auf, dass während der Entwicklung des
salzsauren Gases sowohl in der Wölbung und im Halse der
Retorte, worin die Zersetzung vor sich gieng, als auch in
dem Recipienten , der das zur Absorption der salzsauren
Dämpfe nöthige Wasser enthielt, ein gelber Anflug zum Vor-
schein kam, welcher nichts anderes als feinzertheiltes Schwefel-
arsenik war. Das vorgeschlagene Wasser enthielt arsenige
Säure in nicht unbedeutender Menge.
Es ist mir nicht erinnerlich, dass die Schleimhaut dieser
untersuchten Eingeweide , welche trotz der Gegenwart von
Arsenik in starker Fäulniss begriffen waren, einen gelben
Ueberzug hatte, allein es ist eine von mir und Anderen
396 Sitzung der math.-phys. Classe vom 9. November 1867.
schon öfter beobachtete Thatsache, dass Schwefelarseuik
durch heisse concentrirte Salzsäure vermöge chemischer
Massenwirkung zersetzt und in Chlorarsenik und Schwefel-
wasserstoff umgewandelt werden kann, dass hingegen die
beiden letzteren wieder Schwefelarsenik bilden, wenn, indem
^ie sich gleichzeitig mit einem Ueberschuss von Salzsäure
verflüchtigen , der Dampf in kalte Luft oder in Wasser
gelangt, wodurch Salzsäure und Chlorarsenik stark verdünnt
und geschwächt werden. Jener gelbe Anflug musste auf
solche Weise entstanden sein; er rührte ohne Zweifel von
in den untersuchten Eingeweiden vorhandenem Schwefelarsenik
her, welches den zur Hervorrufung der erwähnten reciproken
Verwancltschaftsäusserung nöthigen Schwefelwasserstoff lieferte.
Durch den Ende Januars 1862 in Darmstadt öffentlich
verhandelten Process gegen Jacobi, welcher des Giftmordes,
begangen an seiner Frau, angeklagt war> und dieses Ver-
brechens überwiesen zum Tode verurtheiit wurde, wurden
wir von einem weiteren Fall einer Verwandlung der arse-
nigen Säure in Schwefelarsenik unterrichtet. Frau Jacobi
starb im Monat August ,des Jahres 1861 in Folge einer
Vergiftung mit arseniger Säure, welche ihr, wie sich bei der
Untersuchung herausstellte, von ihrem Manne als Pulver
beigebracht worden war. Zwei Monate darauf, nämlich im
Oktober , nachdem der Verdacht einer Vergiftung rege ge-
worden, wurde die Leiche wieder ausgegraben, und bei der
vorgenommenen Obduction und Section fand man in den
Eiugeweiden eine gelbe Masse und namentlich auf der
Schleimhaut des Magenmundes einen gelben Ueberzug,
welcher bei der von Hrn. Obermedicinalrath Dr. Win ekler
ausgeführten chemischen Untersuchung als Schwefelarsenik
erkannt wurde. Uebrigens war die Umwandlung der arsenigen
Säure in Schwefelarsenik in dieser Leiche nur eine partielle,
wie die nähere Untersuchung dargethan hat.
Einen ebenfalls ganz sicheren Beweis der Umwandlung
Büchner: Bildung von Schwefelarsenik in den Leichen etc. 397
der arsenigen Säure in Schwefelarsenik in faulenden Ein-
geweiden lieferte mir vor zwei Jahren die chemische Unter-
suchung der Eingeweide der Bauersfrau M. T. von G. Dieselbe
erkrankte nach kaum viermonatlicher Ehe plötzlich sehr heftig
und starb kurz darauf am 19. Juli 1864. Dass man damals
trotz der auffallenden Krankheitserscheinungen und des
schnellen Todes au keine Vergiftung dachte , ergibt sich
daraus, dass die Leiche unseccirt und ohne das geringste
Hinderniss nach zwei Tagen beerdigt wurde. Erst einige
Monate später wurde das Gerücht, dass M. T. durch ihren
Ehemann vergiftet worden sei , so laut , dass gegen diesen
die gerichtliche Untersuchung eingeleitet werden musste.
Die Exhumation der Leiche fand am 12. Juni 1865, also
47 Wochen nach der Beerdigung statt. Das ober dem Sarge
befindliche Erdreich war sehr trocken und steinig und der
fichtene Sarg, obwohl er nur 3 l\t Fuss tief mit Erde bedeckt
war, noch vollkommen gut erhalten.
Aus dem Sectionsprotokolle entnehmen wir , dass das
Gesicht der Leiche mumienartig geschwärzt und eingetrocknet
war, ebenso die oberen Extremitäten in ihren Fleischtheilen;
die Glieder der Finger waren nur mehr in einem lockeren
Verbände. An der Brust sowie an der vorderen Bauchdecke
zeigte sich die Oberhaut gleichfalls schwärzlich, während das
darunter liegende Fettgebilde noch ziemlich gut erhalten
war. Auch die Haare am Kopfe und an den Genitalien so-
wie die Nägel an den Zehen und Fingern waren noch gut
erhalten.
Aus der Brust - und Unterleibshöhle quoll bei der
Eröffnung ein höcht übelriechender Dunst heraus; die
Musculatur an der vorderen Brustwand sowie an der Bauch-
decke bot noch eine gut kennbare Röthe dar und in den
Achselhöhlen sowie in den beiden Leistengegenden und in
den noch ziemlich gut erhaltenen Kleidungsstücken hatte sich
bereits viel Ungeziefer eingenistet.
398 Sitzung der math.-phys. Classe vom 9. November 1867.
Als Grund der noch ziemlich guten Conservirung der
Leiche gibt der Sectionsbericht ausdrücklich das trockene
sandige Erdreich und die hohe Lage des Leichenackers an.
Die mir zur chemischen Untersuchung überschickten
Eingeweide dieser Leiche fand ich sehr weich, faulig und
trotzdem, dass sie der Vorschrift gemäss mit Weingeist über-
gössen waren, im hohen Grade übelriechend. Beim Oeffnen
der unterbundenen Speiseröhre war nichts Besonderes zu
beobachten, aber beim Aufschneiden des unterbundenen leeren
Magens und Düundarnies und Besichtigen der inneren Fläche
fiel es mir im hohen Grade auf, dass ein grosser Theil der
blass und wenig geröthet aussehenden Schleimhaut, beim
Magen besonders gegen das Duodenum zu, mit einer lebhaft
gelben Schicht eines zarten Pulvers bedeckt war , was sich
mit Wasser theilweise von der Schleimhaut wegspülen Hess.
Gegen den unteren Theil der Schleimhaut und auf der
Mucosa des Dickdarmes konnte gar nichts davon bemerkt
werden.
Es bedurfte nur weniger Versuche, um über die Natur
dieses gelben Ueberzuges ins Reine zu kommen. Das weg-
gespülte Pulver löste sich in Ammoniak; die ammoniakalische
Lösung hinterliess beim Verdampfen in einem Schälchen gelbe
Ringe ; beim Ansäuern dieser Lösung entstand ein gelbe
Trübung. Beim Erhitzen in einer Glasröhre verflüchtigte sich
das Pulver vollkommen; es bildete sich oberhalb der erhitzten
Stelle ein rothbraunes Sublimat , welches während des Er-
kaltens blassgelb wurde. Als der Dampf in einer zu einer
Spitze ausgezogenen Röhre über glühende Kohleasplitterchen,
welche mit Soda imprägnirt waren , geleitet wurde , legte
sich im weiteren Theile der Röhre ein Spiegel von metall-
ischem Arsenik an.
Diese Erscheinungen bewiesen hinlänglich, dass der gelbe
Ueberzug auf der Schleimhaut aus Dreifach-Schwefelarsenik
bestand. Es war nun die Frage zu erörtern, ob diese
Buchner: Bildung von Schwefelarsenik in den Leichen etc. 399
Verbindung als schon gebildet in den Magen und Darmkanal
der M. T. gelangt sei, d. h. ob die Verstorbene Schwefel-
arsenik bekommen habe, oder ob sie mit arseniger Säure
vergiftet worden sei, welches dann erst in den genannten
Eingeweiden durch den während der Fäulniss entwickelten
Schwefelwasserstoff in Schwefelarsenik umgewandelt wurde?
Diese Frage war leicht mit Hülfe folgender Thatsachen
zu beantworten:
Das auf der Schleimhaut liegende gelbe Pulver zeigte
ganz das Aussehen und die Feinheit des aus einer Lösung
der arsenigen Säure durch Schwefelwasserstoff präcipirten
Schwefelarseniks. Hätte M. T. gepulvertes Auripigment be-
kommen, so wäre dasselbe jedenfalls nicht so feiu gewesen
wie das hier vorgefundene Pulver.
Als ein Theil des Magens und Dünndarmes in einer
Retorte mit Salzsäure gekocht worden war, fand sich in
dem vorgeschlagenen Wasser, in welches man die salzsauren
Dämpfe leitete, so viel arsenige Säure, dass Schwefelwasser-
stoff sogleich eine starke gelbe Trübung darin hervorbrachte.
Diess wäre gewiss nicht der Fall gewesen, wenn diese Ein-
geweide das Arsenik nur als Schwefelarsenik und nicht auch
als arsenige Säure enthalten hätten. Schwefelarsenik wird,
wie schon vorhin erwähnt, durch heisse concentrirte Salzsäure
wohl auch zersetzt und in Chlorarsenik übergeführt, aber
doch nur in geringer Menge, jedenfalls nicht der verhältniss-
mässig grossen Quantität Chlorarsenik entsprechend, das sich
mit den salzsauren Dämpfen entwickelte und durch das vor-
geschlagene Wasser wieder zu arseniger Säure wurde. Dass
auch hier wieder eine theilweise Zersetzung des in diesen
Eingeweiden enthaltenen Schwefelarseniks stattfand , ergab
sich daraus, dass besonders gegen das Ende der Einwirkung
Wölbung und Hals der Retorte sich aus der schon angegebenen
Ursache mit einem gelben Anfluge bedeckten und auch das
400 Sitzung der math.-phys. Classe vom 9. November 1867.
die salzsauren Dämpfe aufnehmende Wasser durch die auf-
tretenden Spuren Schwefelwasserstoff gelblich getrübt wurde.
Reines Schwefelarsenik wird wegen seiner Unlöslichkeit
in Wasser und schwach sauren Flüssigkeiten vom Magen
und Darmkanal aus nicht oder kaum absorbirt und in das
Blut übergeführt. Hätte M. T. Schwefelarsen bekommen, so
wären in deren Leber und Milz kaum mehr als Spuren von
Arsenik übergegangen. Allein diese Organe enthielten, wie
die chemische Untersuchung bewies, ebenfalls eine verhält-
nissmässig grosse Menge Arsenik, woraus geschlossen werden
muss, dass dieses als arsenige Säure in die genannten Ein-
geweide gelangt ist.
Aber den sichersten Beweis, dass in in den untersuchten
Eingeweiden noch arsenige Säure vorhanden war, lieferte
der dialytische Versuch. Klein zerschnittene Theile des Magens
und Dünndarmes mit Wasser, welches nur schwach mit Salz-
säure angesäuert war , in den Dialysator gebracht . gaben
binnen 24 Stunden an das vorgeschlagene Wasser so viel
arsenige Säure ab, dass Schwefelwasserstoff darin eine deut-
liche gelbe Trübung hervorbrachte. Diess wäre gewiss nicht
der Fall gewesen, wenn die Eingeweide bloss Schwefelarsenik
enthalten hätten, denn dieses wird, wie schon erwähnt, durch
schwach angesäuertes Wasser bei gewöhnlicher Temperatur
kaum zersetzt und aufgelöst.
Aus allen diesen Beobachtungen sowie aus den dem
Tode vorausgegangenen Erscheinungen muss mit Gewissheit
geschlossen werden, dass die Bauersfrau M. T. an den Folgen
einer Vergiftung mit arseniger Säure gestorben und dass das
im Magen und Dünndarm der nach fast eilfmonatlicher Be-
erdigung wieder ausgegrabenen Leiche vorgefundene Schwefel-
arsenik das Produkt der Einwirkung des während der
Fäulniss entwickelten Schwefelwasserstoffes auf die arsenige
Säure ist.
Buchner: Bildung von Schwefelarsenik in den Leichen etc. 401
Die Bildung von Schwefelarsenik in den Leichen von
mit arseniger Säure Vergifteten ist der sicherste Beweis, dass
die arsenige Saure in der Menge, in welcher sie bei damit
bewirkten Vergiftungen gewöhnlich in den Leichen bleibt,
die Fäulniss derselben nicht zu verhindern im Stande ist.
Ich werde meine Erfahrungen über diesen Gegenstand sowie
über die sogenannte Mumification solcher Leichen später aus-
führlich mittheilen; vorläufig sei nur erwähnt, dass der Ver-
lauf der Fäulniss und überhaupt der Zersetzung von Leichen,
welche Arsenik enthalten, und von solchen, die frei davon
sind; vorausgesetzt, dass sie sich unter sonst gleichen Um-
ständen befinden, ganz derselbe ist.
Aber es bleibt noch die Frage zu lösen übrig, warum
man die Umwandlung der arsenigen Säure in Schwefelarsenik
in faulenden Eingeweiden bisher nicht häufiger wahrgenommen
hat? Ich habe sie, wie schon erwähnt, nur zweimal beob-
achtet trotz meiner zahlreichen Untersuchungen arsenhaltiger
Eingeweide, welche aus den Leichen in den verschiedensten
Stadien der Zersetzung, vom zweiten Tage nach dem Tode
bis zum fünften Jahre nach der Beerdigung, genommen
worden waren.
Beiläufig will ich noch erwähnen, dass der Bauer T.,
des Giftmordes, begangen an seiner Frau, angeklagt, in der
öffentlichen Verhandlung vor dem Schwurgerichtshofe zu
Straubing dieser That für schuldig befunden und zum Tode
' verurtheilt wurde.
402 Sitzung der math.-phys. Glosse vom 9. November 1867.
Herr C. Voit spricht:
„Ueber die Fettbildung im Thierkörper."
Ehe man mit den Umwandlungen der organischen Sub-
stanzen näher bekannt war, meinte man, das im Thierkörper
aufgespeicherte Fett könnte nur aus dem Fett der Nahrung
hervorgehen ; man musste sich aber bald überzeugen , dass
das in der Nahrung eingeführte Fett in vielen Fällen nicht
hinreicht, um das bei der Mästung von Schweinen angesetzte,
oder das in der Milch von guten Milchkühen abgeschiedene,
oder von Bienen im Wachs producirte Fett zu liefern. Es
war nicht zu verkennen, wie unter dem Einflüsse von Kohle-
hydraten die Thiere Fett ansetzen, und man wurde um so
mehr auf die Möglichkeit der Erzeugung von Fett aus Kohle-
hydraten hingewiesen, als unter den Zersetzungsprodukten
der Kohlenhydrate niedere Fettsäuren gefunden wurden.
Allerdings dachte man auch an die Bildung von Fett aus
eiweissartigen Substanzen; man hatte allerlei Erfahrungen
gesammelt, die einen solchen Vorgang wahrscheinlich machten,
so z. B. die Entstehung des Leichenwachses, das Auftreten
von Fettsäuren bei der Zerstörung des Eiweisses, die fettige
Degeneration eiweisshaltiger Organe, die Umwandlung von
in die Bauchhöhle von Thieren eingebrachten , an Eiweiss
reichen Organen in eine Fettmasse etc. Aber diese Be-
obachtungen waren zum Theil nicht beweisend, zum Theil
zweifelte man, ob aus Eiweiss hinreichend Fett entstehen
könne, um die beobachtete Fettbildung zu decken; nament-
lich dachte man sich bei Pflanzenfressern den Eiweissumsatz
wegen des geringen procentigen Stickstofigehaltes des Futters
für viel zu gering zur Hervorbringung einer grösseren Fett-
menge. Die Sachlage stand so, dass man den Uebergang von
Eiweiss in Fett für sehr wahrscheinlich, aber für unzureichend
Voit: Feltbildang im Thierkörper. 403
hielt, und dass man die Umwandlung von Kohlehydraten in
Fett zwar nicht für bewiesen, jedoch für äusserst wahr-
scheinlich erachtete.
Nach den von Pettenkofer und mir am fleischfressen-
den Hunde gemachten Versuchen konnte der Körper auf
Kosten von reinem Eiweiss fetter werden, denn bei Fütterung
grosser Fleischmengen erschien sämmtlicher Stickstoff der
Einnahmen in den Excreten, während vom Kohlenstoff
beträchtliche Mengen nicht zum Vorschein kamen; bei Dar-
reichung von Fett speicherte sich ein Theil desselben auf,
während bei Darreichung von Stärke allein oder mit Fleisch
ein Ausatz von Fett nicht zu constatiren war. Wir hielten
es nach unsern damaligen Untersuchungen für wahr-
scheinlich, dass jeder Ausatz von Fett beim Fleischfresser
nur durch Fett möglich ist, entweder aus dem in der Nahrung
aufgenommenen Fett, oder aus dem bei der Zersetzung von
Eiweiss im Organismus neu entstandenen.
Eine Reihe von Erfahrungen hielt mich ab, eine prinzi-
pielle Verschiedenheit in den Umsetzungsmöglichkeiten eines
fleisch- und pflanzenfressenden Körpers anzunehmen, ich
erblickte hierin vorzüglich nur quantitative Aenderungen,
veranlasst durch den verschiedenen Bau des Darmes und
die ungleich zusammengesetzte Nahrung; ich wusste ferner,
dass Pflanzenfresser mit eiweissarmer Nahrung sich nicht
mästen lassen und ich kannte den gegenüber den gewöhn-
lichen Vorstellungen höchst bedeutenden täglichen Eiweiss-
umsatz dieser Thiere. Diese Gründe bewogen mich in
einem bei der in München im Jahre 1865 tagenden Ver-
sammlung deutscher Agriculturchemiker gehaltenen Vortrage
es nicht für undenkbar zu erklären, dass auch beim Pflanzen-
fresser die Kohlehydrate nicht in Fett übergehen , sondern
nur das aus dem Eiweiss abgespaltene oder als solches ein-
geführte Fett vor der Verbrennung schützen und so einen
Fettansatz ermöglichen. Damals schlug Herr von Liebig
404 Sitzung der math.-phys. Classe vom 9. November 1867.
ein experimentum crucis vor und empfahl Versuche an
Milchkühen zur Entscheidung der Frage, ob die eiweiss-
artigen Stoffe und das Fett der Milch durch das Eiweiss
und den meist geringen Fettgehalt der Nahrung gedeckt
weiden.
Ich hatte mir damals vorgenommen, die gestellte Frage
zu beantworten. Zunächst machte ich Versuche an einer Hündin
bei verschiedener Nahrung; das Ergebniss derselben war, dass
hier unter allen Umständen das Fett und der Milchzucker der
Milch durch das aus dem Stickstoff des Harns gerechnete
zerstörte Eiweiss geliefert werden könne; der Fett- und Milch-
zuckergehalt der Milch bei Fütterung mit viel reinem Fleisch
war grösser als bei Fütterung mit Fleisch und Kohlehydraten.
Aehnliche Resultate haben schon Ssubotin und Kemme-
rich bei der Untersuchung säugender Hündinnen erhalten.
Ich inusste mich aber entschliessen , den Versuch an einer
Milchkuh zu machen. Da mir meine Mittel die Anschaffung
einer solchen nicht gestatteten, so wandte ich mich im vorigen
Jahre an die Vorstände der hiesigen Veterinärschule , die
mir mit der grössten Bereitwilligkeit eine ihrer besten Race-
kühe zur Verfügung stellten. Ich liess die Menge der Milch
und des entleerten Harns während 6 Tagen bestimmen, aber
es setzten sich dem genauen Aufsammeln des Harns so
grosse Schwierigkeiten entgegen, dass höchstens die Angaben
der 4 ersten Tage auf einige Genauigkeit Anspruch machen
konnten. Das im Körper zersetzte Eiweiss konnte den Fett-
gehalt der Milch bis auf 18°/o liefern; rechnete ich auch
das nach einem Ueberschlag im Futter schon enthaltene
Fett hinzu, so war es im höchsten XJrade wahrscheinlich,
dass weder für das Fett noch für den Milchzucker der Milch
die Kohlehydrate der Nahrung einen Beitrag zu hefern
brauchen. Es war mir lange nicht möglich, den Versuch mit
allen Vorsichtsmassregeln zu wiederholen ; vor einigen Wochen
Voif- Fettbildung im Thierkörper. 405
überliess mir einer unserer besten Mitbürger, Herr Fabrikant
Rieinerschmidt, mit gewohnter Opferwilligkeit seine Milch-
kuh zur Ausführung des Versuchs und meine Assistenten und
Schüler, die Herren E. Bischoff, Fr. Hofmann, X. Petten-
kofer und P. Aichberger unterzogen sich, in Erforschung der
VfahAeit beschwerliche Arbeit nicht achtend, der Aufgabe
6 Tage und Nächte bei dem Thiere zu wachen, um sämmtlichen
Harn und Koth aufzufangen. Das Experiment ist auf diese
Weise vollkommen geglückt, und ich kann das Resultat des-
selben als sicher hinstellen.
Die Kuh verzehrte in den 6 Tagen im Mehl und Heu
1407 Grm. Stickstoff; im Harn, dem Koth und der Milch
wurden dagegen 1440 Grm. entleert, d. h. der Stickstoff
der Einnahmen und Ausgaben stimmt auf 2°/o überein,
das Thier befand sich also im Stickstoffgleichgewicht.
In 80.6 Kilo Heu und 14.7 Kilo Mehl waren 2663 Grm.
Fett, in 178 Kilo Koth befanden sich 1044 Grm., es wurden
also 1619 Grm. Fett in die Säftemasse aufgenommen. In
130.7 Kilo Harn waren 562.4 Grm. Stickstoff ; berechnet man
letztere auf Eiweiss und zieht den Kohlenstoffgehalt einer
dem Stickstoff entsprechenden Harnstoffmenge ab, so erhält
man daraus den Kohlenstoff von '2220 Grm. Fett oder nach
Abzug von 4.5% Kohlenstoff, welche den nach der Abtrennung
des Harnstoffes vom Eiweiss überschüssigen Sauerstoff
binden, 2120 Grm. Fett. Die 57.3 Kilo Milch enthielten aber
1877 Grm. eiweissartige Substanz, 1976 Grm. Fett und
3177 Grm. Milchzucker. Das im Körper zersetzte Eiweiss
kann also 144 Grm. Fett mehr erzeugen , als in der
Milch sich fanden; der Kohlenstoff des Milchzuckers entspricht
1670 Grm. Fett, während vom Eiweiss 144 Grm. und von
dem Fett der Nahrung 1619 Grm. = 1763 Grm. zur Ver-
fügung stehen. Mau braucht somit weder für das Fett, noch
für den Milchzucker in der Milch die Kohlehydrate in Anspruch
zu nehmen und es ist dadurch im höchsten Grade wahrscheinlich,
[1867. II. 3.] 27
406 Sitzung der math.-phys. Classe vom 9. November 1867.
dass auch beim Pflanzenfresser die Kohlehydrate nicht das
Material für die Fettbildung abgeben , sondern nur dieselbe
ermöglichen, indem sie statt des Fettes verbrennen. Bei dem
grossen Sauerstoffreichthum der Kohlehydrate müsste zur
Erzeugung von Fett eine grosse Menge Sauerstoff austreten
oder , da ein solcher Vorgang nicht wahrscheinlich ist , ein
beträchtlicher Theil Kohlenstoff mit dem Sauerstoff sich zu
Kohlensäure vereinigen, so dass nur ein kleiner Theil des
Kohlenstoffs zum Uebergang in Fett übrig bliebe; bei der
Bildung von Fett aus Eiweiss braucht nur */3 so viel Sauer-
stoff auszutreten.
Die Struktur der kleinsten Theile einer Milchdrüse zeigt
uns auch, dass es sich hier um eine Werkstätte zur Zersetzung
von Stoffen handelt und nicht um ein einfaches Filtrations-
organ. Es findet sich dort vorzüglich eine fettige Degenera-
tion eiweissartiger Substanz und vielleicht, wie ich es auch
für die Leber annehme, ein Uebergang von Fett in Zucker.
Sobald eine Milchkuh Fett und Fleisch am Körper ansetzt,
nimmt die Milchabsonderung ab. Eine gute Milchkuh muss
in ihrem Darm viel Eiweiss, Fett und Kohlehydrate aufnehmen
können und bei möglichst geringer Sauerstoffaufnahme wenig
davon verbrennen, sie muss aber auch eine entwickelte Milch-
drüse haben, um aus dem grossen Vorrath von Material die
Bestandteile der Milch abzuscheiden und theilweise zu be-
reiten. Ich glaube, dass ein grosser Theil des Eiweisses in
der Drüse selbst zersetzt wird. Die ausführliche Mittheilung
der Ergebnisse des Versuchs werde ich demnächst in der
Zeitschrift für Biologie geben.
Sitzung der math.-phys. Geisse vom 9. November 1867. 407
Herr Moritz Wagner macht unter Vorzeigung ver-
schiedener Kundstücke einige Mittheilungen
„Ueber die Entdeckung von Spuren des
Menschen in den neogenen Tertiärschichten
von Mittelfrankreich".
Ein umfassender Vortrag darüber wird von ihm nach-
träglich gehalten werden.
Herr Seidel macht Mittheilung:
,, Ueber eine Darstellung des Kreisbogens,
des Logarithmus und des elliptischen In-
tegrales erster Art mittelst unendlicher
Produkte",
in welchen die unendljehe Vieldeutigkeit der genannten
Funktionen durch algebraische Vieldeutigkeiten wiederge-
geben ist.
27*
408 Sitzimg der histor. Classe vom 9. November 1S67.
Historische Classe.
Sitzung vom 9. November 18G7.
Herr Rockinge r gab Erörterungen
„Zur näheren Bestimmung der Zeit der Ab-
fassung des sogenannten Schwabenspiegels".
Wenn wir für heute die weitere Mittheilung der Unter-
suchungen über die hiesigen Handschriften des sogenannten
Schwabenspiegels und ihre Gruppirung unterbrechen, so ge-
schieht dieses in Berücksichtigung eines Wunsches geehrter
Freunde, welche die Veröffentlichung eines für die Frage
nach der Zeit der Abfassung unseres Rechtsbuches
nicht unwichtigen Ergebnisses nicht länger hinausgeschoben
sehen wollten. .
Es enthält nämlich eine der Handschriften welche der
Gruppe des vom Herrn von Berger seiner Ausgabe vom
Jahre 1726 zu Grunde gelegten Codex des Reichsgrafen von
Wurmbrandt angehören Randbemerkungen aus zwei
anderen Handschriften des sogenannten Schwaben-
spiegels, wovon die eine besondere Beachtung für die an-
gedeutete Frage in Anspruch nimmt.
I.
Die Handschrift selbst um welche es zunächst sich
handelt ist gegenwärtig im Besitze unseres geehrten
Collegen Föringer, welcher selbe am 25. April 1833 von
dem seither verstorbenen Hofrathe Hoheneicher käuflich an
Bockinger: Zur Abfassungszeit des Sclnoabenspiegels. 409
sich gebracht und uns seinerzeit zur Vervollständigung unserer
Forschungen über die hiesigen Handschriften des soge-
nannten Schwabenspiegels und ihre Gruppirung in zuvorkom-
mendster Weise überlassen hat, in einer Güte wofür wir
ihm in gegenwärtiger Untersuchung den sprechenden Be-
weis unseres Dankes zu liefern nicht verfehlen.
Nicht durch hohes Alter zieht diese Handschrift an.
Auch nicht durch die Anlehnung an eine der hervorragenden
Gestalten unseres Rechtsbuches, indem sie — wie schon
bemerkt — nur zur Gruppe des v. wurmbrandt'schen Codex
zählt. Auch nicht durch besondere Güte des in dieser Form
vertretenen Textes. Die Randbemerkungen dagegen welche
ihr aus zwei anderen Handschriften, und vorzugsweise jene
welche ihr aus einem alten Pergamentcodex des sogenannten
Schwabenspiegels angefügt sind, sie verleihen ihr einen
Werth ganz besonderer Art.
Was ihre äussere Beschaffenheit anlangt, ist sie
auf sechzehn je unten auf der zweiten Seite des letzten
Blattes mit der entsprechenden Zahl bezeichneten Sexternen
in Folio auf Papier einspaltig — mit Ausnahme des in zwei
Spalten geschriebenen Inhaltsverzeichnisses — von einer nicht
sonderlich schönen Hand der zweiten Hälfte oder wohl eher
des letzten Viertels des 15. Jahrhunderts gefertigt, und in
helles aussen schön geglättetes Schweinsleder in der Weise
gebunden dass über ihren Rücken ein mit dunkelbraunem
Leder überzogenes Holzblatt befestigt ist, welches gegen
oben und unten ein Lederknöpfchen zeigt, während das
Schweinsleder der hinteren Seite noch zum Umschlage über
jenes der vorderen bis in die Mitte reicht und gegen oben
wie unten mit fein gedrehten Spagatschnürchen — von deren
oberem die Enden schon längere Zeit abgerissen zu sein
scheinen — behufs besseren Verschlusses ohne Zweifel zum
Einhängen in die beiden Lederknöpfchen am Rücken ver-
sehen ist. Der erste der genannten Sexterne war Ursprung-
410 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867,
lieh weder foliirt Doch paginirt, während vom zweiten an
bis einschliesslich dem dritten Blatte des sechzehnten die
Seitenzählung 1 — 350 angebracht war. Jetzt ist sie von der
Hand des gegenwärtigen Besitzers foliirt.
Ihren Inhalt bildet zunächst ein Verzeichniss der
Kapitel des Buches der Könige alter E wie des
Land- und Lehenrechtes des sogenannten Schwaben-
spiegels, dann diese drei Stücke, in folgender Weise.
Nachdem auf der ersten Seite des ersten anfänglich
leeren Blattes la der Titel des ganzen Werkes als „Kaiser
Karls dess Grossen Landtgerichts Buech dess Landess zu
Schwaben" sich eingetragen findet, beginnt auf Fol. 1 b Sp. 1
bis Fol. 6 Sp. 2 das Verzeichniss der Kapitel der drei vor-
hin bezeichneten Bestandtheile, und zwar sind den Kapiteln
des Land- und Lehenrechtes des sogenannten Schwaben-
spiegels die je entsprechenden Seiten des nachfolgenden
Textes beigeschrieben.
Auf Seite 1 der alten und Fol. 8 der neuen Bezeichnung
beginnt das Buch der Könige alter E in dem Umfange wie
es uns die Ausgabe Massmann's in des Herrn v. Daniels
Rechtsdenkmälern des deutschen Mittelalters III. Sp. XXXIII
bis CXXII zugänglich gemacht hat, und reicht bis S. 98
beziehungsweise Fol. 56'.
Nachdem das nächste Blatt, ursprünglich' mit S. 99
und aus Ueberzählung 101 bezeichnet, leer gelassen worden,
beginnt mit S. 102 beziehungsweise Fol. 58 ohne besondere
Ueberschrift das Landrecht des sogenannten Schwaben-
spiegels bis S. 284 beziehungsweise Fol. 148', woran sich
ohne Unterbrechung der Seite sogleich ,,kayser Karls lehen
recht puch" bis S. 349 beziehungsweise Fol. 181 anreiht.
Den Schluss dieser Seite und die folgende füllt eine
Anzahl von kurzen Rechtssätzen , wie über ehehafte Noth
und anderes, unter dem Rubrum : Secuntur articuly generales.
Beim Lehenrechte ist der Haupttitel, und bei all den
Bochinger : Zur Abfassungszeit des Sclwabenspiegels. 411
genannten Bestandteilen sind die Ueberschriften der Kapitel
roth eingetragen. Beim Buche der Könige alter E finden
sich überdiess je am Anfange der Kapitel rothe Initialen,
welche von da ab auslassen, so dass sie für das Landrecht
des sogenannten Schwabenspiegels zum grossen Theile gänz-
lich fehlen, während sich gegen den Schluss des Lehen-
rechtes die betreffenden Anfangsbuchstaben schwarz einge-
zeichnet finden.
Was des genaueren insbesondere über das Land- und
Lehenrecht unseres Rechtsbuches zu bemerken ist, behalten
wir uns für die seinerzeitige Besprechung von fünf weiteren
hiesigen Handschriften, welche zu dieser Gruppe ge-
hören, vor.
Theils an den vom Texte der genannten Bestandteile
nicht ausgefüllten Blättern wie theilweise an dem Rande
des Textes selbst begegnen nun noch von einer gewand-
ten Hand des Anfanges des 17. Jahrhunderts ver-
schiedenartige Bemerkungen, von Anfang an zahl-
reicher, weiter gegen die Mitte oder gar das Ende zu
sparsamer.
Die einen bilden Verweisungen auf das sächsische
Landrecht nach einer der bis dahin erschienenen
Ausgaben Zobel's, welche *) jener Schreiber sich aus irgend
1) Wir lassen sie hier in ihrem Zusammenhange folgen.
Auf fol. 59 ist zu den Worten der Vorrede „dar umb so liesz
er zway swert" u. s. w. bis zu den Worten „vnd ander werntlich
fursten betwingen mit der acht" an den Rand bemerkt:
Concordat Artic. 1. Landrecht.
Was hiebei insbesondere den Satz ,,das swert des werntlichen
rechtens das leichet der pabst dem kayser" anlangt, finden wir an
den Rand beigeschrieben:
Haec pon habentur in articulo.
Auf fol. 59' begegnet uns weiter zu den Worten der Vorrede (in
der durch Freiherrn v. Lassberg besorgten Druckausgabe Absatz g)
412 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
welchem Grunde beigezeichnet hat. Die anderen bieten
eine Vergleichung einer einem nicht näher gekenn-
,,vnd sol ain yeglich Christen mensch" bis zu den Worten „da er
gutt jnne hatt" die Bemerkung:
Concordat Landrecht art. 2. Vide ibi latius.
Sodann ist zu Artikel 1 = L Vorwort h an den Rand bei-
gefügt :
Im Landrecht art. 2 werden sie genannt Schöppenbare freyen
seu Banniti; PfleghafFten seu Proprietarij ; Landsessen oder lassen,
Pagani.
Auf fol. 60 zu Artikel 3 = L. 2 bis zu den Worten „ob der
sibende herschilt lehen muge geLaben oder nicht, den sibenden her-
schilt hat ain yeglich man der nicht aigen ist vnd der ain ee kind
ist" finden wir die Bemerkung:
Concordat Landrecht art. 3.
Insbesondere zu dem Satze dass die Laienfürsten den dritten
Heerschild heben ist noch an den Rand beigefügt:
Nota im Landtrecht stehet dabey: seit sy der Bischoff Mann
worden sind.
Zu Art. 4 = L 3 ist bemerkt:
Concordat Landrecht art. 3.
Auf fol. 61 ist zu Artikel 5 = L 4 beigesetzt:.
Concordat Landrecht art. 5.
Auf fol. 61' finden wir zu den Worten des Artikels 6 = L 5 a
„geswistergeit taylent nicht mit jm chain varendes gutt wie vil er
gult haben sulle" an den Rand bemerkt:
Concordat Landrecht art. 5.
Sogleich zu den Anfangsworten der gegen den Schluss dieses
Artikels gegen L 5 a weiteren Fassung „Der pfaffe erbet aigen mit
anderen seynen geswistergeitten, vnd dy lehen nicht, da von ist
das ainem yeglich man der lehen hat des heren man haisset der jm
das lehen leihett. vnd wan all pfaffen frey sind, da von sullent sy
auch dy erben nicht erben" ist an den Rand beigeschrieben:
Landrecht ibidem.
Zu Artikel 7 = L 5b ist an den äusseren Rand bemerkt:
Concordat Landrecht art. 5 et art. 6; ^
und zu den Worten „als erb gutt" an den inneren:
es sey denn lehen.
Bockinger: 7avt Abfassungszeit des Schivabenspiegels. 413
zeichneten Gabriel Mair gehörigen Handschrift des
sogenannten Schwabenspiegels. Wieder andere endlich
sind uns als Nachrichten über eine alte Pergament-
handschrift desselben ungemein willkommen.
Sie sind es denn, mit welchen wir allein fortan uns
beschäftigen wollen.
II.
Der zunächst vor allem wichtige Eintrag findet
sich auf dem früher leeren Blatte zwischen dem Inhaltsverzeich-
nisse der Handschrift und dem Beginne des Buches der Könige,
nunmehr Fol. 7, in deutscher Schrift, während die Anführ-
ungen aus der alten Pergamenthandschrift mit lateinischen
Buchstaben gegeben sind, und lautet in seinem Zusammen-
hange :
Nota bene. Jn einem alten pergamen buch darein
Zu den Worten „selb sibent" daselbst ist beigeschrieben:
Nota. Jus Saxonicum requirit 72 Bannitos testes oder Schöp-
penware leute. ibidem.
Auf fol. 62 zu dem Artikel 8 = L 5c ist bemerkt:
Concordat Landrecht art. 6.
Auf fol. 62' zu Artikel 12 = L 10 steht am Rande:
Concordat Landrecht art. 6 lib. 1.
Sodann zu Artikel 13 = Lllb und c von den Worten „oder
an dem franpotten" an:
Concordat Landrecht art. 8 lib. 1.
Auf fol. 64' zu Artikel 19 = L 17 zu den Worten „Swäbischew
recht zwayent sich nichte zw Sachsen vvan an erb zw nemeu vnd an
vrtail zw geben" ist am Rande bemerkt:
Concordat Landrecht art. 19 lib. 1.
Zu Artikel 20 = L 18 bis zu den Worten „sy sol es aber von
erste den erben an pietten zw losen nach erber luwt rat" finden
wir am Rande:
Concordat Landrecht art. 20 lib. 1.
Alda stehet: Ein ieglich Mann der Ritters arth ist-
414 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
volgend rechtbuch gantz schön vnd sauber geschriben
worden, welches mir herr Nicomad Schwäbl den
7. februar 1609 zu ersehen communicirt, sonst herrn
A gehörig, darinn auch herrn Vrban Trinkhls etwo
dess raths vnd cammerers alhie wappen im anfang zu
sehen, stehen vornher volgende wordt :
Di ss pergamene recht puech ha b ich Hein-
rich der Preckendorffer, zue dem Prek-
hendorff vnd Krebliz doheim, mit mir
auss Schweyttz gebracht.
Schankht vnd vererdt mir ein ritter vnd
burger auss Zürikh als ich der zeyt bey
graf f Rudolff von Habspurg inrt vier heim
edler kriecht gewesen, vnd erdamals sambt
andern rittern vnd knechten auss Zürich
meinem hern dem graffen zu hilff ge-
schikht ward, der dan disser zeit wider
di hern von Regensperg den bischoff von
Bassel vnd zwayen grafen von Toggenburg
krieg gefürth hat.
Vnd bin anno 1264 zu graff Rudolff von
Habspurg komen, vnd anno 1268 vff zu-
schreiben meines prueder Georgen dem
Prekhendorffer abgezogen, laut meines
schrifftlichen redlichen vnd gnedigen ab-
schidt, wie auch in meinem raysbuech
verzaichnet.
Auff der andern seiten diss blats ist obermelter
Prekhendorffer abgemahlt zu sehen, in gantzem kiriss
kniendt vor einem gemaltem crucifix, mit aufgerekhten
henden, blossem grauen haubt vnd bardt , sein heim
auf der erden ligent, gegen vber volgendes wappen:
Rockingcr: Zur Abfassungszeit des Sclnvabcnspiegels. 415
Unter der figur vnd wappen stunden volgende reimb:
Ein edelkhnecht vnd krieger ich XXXI jar war
in V schlachten gnanden, schirm Scharmützeln
one zal,
dorin mich gott liebt vnd Hess genesen.
Achtet besser, ich wer auch todt gewesen,
dan vil bluts ich mein tag tett vergiessen.
Trag sorg, mein kinder Werdens lützel ge-
messen.
Doch der barmhertz gottz icli vertrau,
vnd allein auf gott durch Christum bau.
Fünff sprachen auss meinem mund ich reden
khunt,
Wie man solchs in meinem raysbuch finden
thuet.
Was haben wir hieraus zu entnehmen? Dem Besitzer
der jetzt unserem verehrten Collegen Föringer an-
416 Sitzung der Mstor. Gasse vom 9. November 1867.
gehörenden Handschrift, welche wir fortan als die Hand-
schrift F bezeichnen wollen, gewährte am 7. Februar 1609
ein Herr Niconied Schwäbl die Einsicht einer dem Hein-
rich dem Preckendorfer von einem Ritter und Bürger
aus Zürich zwischen den Jahren 12 64 bis 12 68 ge-
schenkten und von ihm aus der Schweiz mitgebrachten Per-
gamenthandschrift des sogenannten Schwabenspie-
gels, für den weiteren Verlauf unserer Erörterung als Hand-
schrift P getauft, in welcher sich das Wappen eines Kam-
merers und Mitgliedes des inneren Stadtrathes Urban Trinkl
fand, und welche einem Herrn A gehörte.
Fragen wir zunächst nach dem erwähnten Heinrich
dem Präckendorfer oder Preckendorfer, zu dem
Preckendorf und Kreblitz daheim, so werden wir in die
baierische Oberpfalz geführt, in deren Landgerichte Neun-
burg vorm Wald die beiden genannten Orte liegen, heute
Prackendorf und Kröblitz geschrieben.
Weniger einfach ist die Sache bezüglich der übrigen
Persönlichkeiten gelagert welche namhaft gemacht worden
sind. Doch dürfen wir uns aus Gründen , die von selbst
einleuchten, dieser Frage nicht entziehen. Und insoferne
bei Erwähnung des Urban Trinkl die Bemerkung „alhie"
beigesetzt ist, kennzeichnet sich einmal der Besitzer unserer
Handschrift als am 7. Februar 1609 an demselben Orte be-
findlich, und wird auf der andern Seite auch der damalige
Besitzer der in Frage stehenden Pergamenthandschrift wie
nicht minder Nicomed Schwäbl schwerlich anderswo als
eben daselbst zu suchen sein.
Unsere Nachforschungen haben in diesen Beziehungen
auf Regensburg geführt. Die aus dieser ehemaligen
deutschen Reichsstadt in das baierische allgemeine Reichs-
archiv gelangten Urkunden und Akten führen uns nämlich
zu folgenden Ergebnissen.
Was zunächst den bemerkten Urban Trinkl oder
Eockinger: Zur Abfassungszeit des Schwabenspiegels. 417
T r im k 1 anlangt, von welchem eben ganz einfach die Untersuch-
ung ausgehen kann, findet er sich urkundlich in den zwanziger
und dreissiger Jahren des IG. Jahrhunderts zu Regensburg. In
einer Urkunde vom Donnerstage nach Katharina des Jahres
1524, an welcher auch sein Sigel hängt, erscheint Vrban
Trunckl des rates. In einer anderen vom Mittwoche nach
Leonhart des Jahres 1530 begegnet uns Vrban Trunckl des
rates als Zeuge. Nach einer weiteren vom Mittwoche nach
Maria Himmelfahrt des Jahres 1532 ist Vrban Trunckl des
jnnern rates als Schiedsrichter von Kammerer und Rath
von Regensburg verordnet. An einem Aktenstücke vom
Montage nach Lätare des Jahres 1533 sigelt her Vrban
Trunckl burger zu Regenspurg des jnnern rates vnd der zeit
stat camerer. Am Donnerstage nach Jakob des Jahres 1536
sigelt Vrban Trunckl burger vnnd des jnnern rates zw Re-
genspurg als Schiedsrichter des Rathes eine Urkunde. Weiter
begegnet er uns in einer vom Montage nach Bartolomäus
1537. Im Jahre 1540 wird er als verstorben erwähnt.
Gehen wir zu Nicomed Schwäbl über, für welchen
von vornherein der 7. Februar 1609 feststeht, so finden wir
ihn als Sohn des Nicomed Schwäbl, welcher uns gegen
Ende des zweiten Viertels, und als Mitglied des inneren
Rathes und Kämmerer von Regensburg mehrfach mit Dionys
von Preckendorf in Aktenstücken des dritten Viertels des
16. Jahrhunderts2) begegnet, in einer Urkunde vom 6. Febr. 1584
2) Bei der Erbschaftsauseinandersetzung unter die Kinder des
Mitgliedes des inneren Ratlies zu Regensburg Simon Sclvwäbl am
18. Februar 1542 ist er nocb unmündig.
Am 19. Mai 1543 erscheint er als Lehenträger für seinen Bruder
Alexander.
Aus einer Urkunde vom 20. Februar 1548 haben wir Kunde über
die sclnväbl'sche Behausung in Scherer strasz.
418 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
worin dem Christof Schwäbl als Lehenträger seiner Mutter
Elisabet und für sich selbst wie anstatt seiner Brüder Sieg-
mund und Nicomed der Schwäbl von dem confirmirten Bi-
schöfe Philipp von Regensburg Güter verliehen werden. Von
seinem Vetter dem älteren Wolf von Asch und Paimlikhofen
erhielt Nicomed Schwebl des jnnern rhats zw Regenspurg
einen Weingarten nach Urkunde vom Nicolausabende des
Jahres 1586, zu welcher ein Lehenbrief des confirmirten
Bischofs Philipp vom 14. Juni 1588 verglichen werden mag.
Weiter erscheint in einer Urkunde des Herzogs Wilhelm
vom 7. August 1592 Nicomed Schwäbl burger vnnd dess
jnnern raths als Lehenträger seiner Vaterstadt. In einer
vom 19. August 1599 wird Nicomed Schwäbel burger vnnd
des jnnern raths auch statt camerer zw Regenspurg vom
Bischöfe Siegmund belehnt. Wieder treffen wir in einer
vom Herzoge Maximilian zu München ausgestellten und
unterschriebenen Urkunde vom 15. Jänner 1600 als Lehen-
träger des Kammerers und Rathes von Regensburg Nicomed
Am 31. Jänner 1551 wird er für sich und als Lehenträger für
seinen Bruder Timotheus vom Bischöfe von Regensburg belehnt.
Bald finden wir ihn jetzt in Verbindung mit Dionys von Precken-
dorf. So beispielsweise in einer Urkunde vom Mittwoche dem 1. Februar
1553 über die Erbschaftsauseinandersetzung des Alexander Schwäbl,
welche Dionisi von Präckendorf des jnnern ratts vnd burger zu Re-
genspurg sigelt.
Am 25. Oktober 1555 vergleicht er und einige andere Raths-
freunde sich wegen einer ihnen von Kammerer und Rath von Re-
gensburg bewilligten Abwasserbenützung.
Nicomed Schwäbl vnnd Dionisi von Präckhendorff, bede burger
vnnd des jnnern raths zu Regenspurg, erscheinen als Vormünder
über des Dionisi Schiltl Kinder in einem Briefe vom 24. Juni 1565.
Auch war er Lehenträger seiner Vaterstadt , wie wir einer
Urkunde vom 16. März 1557 entnehmen, und leistete nach seinem
Absterben Haubold Flettacher als solcher dem Herzoge Albrecht
am 16. Juni 1571 den Eid.
Rockinger: Zur Abfassungszeit des Schwabenspiegels. 419
Schwäbl burger vnd dess jnnern rhats daselbs. In zwei
Urkunden vom 9. Februar 1604 belehnt Bischof Wolfgang
von Regensburg den Nicomed oder Nicornedt Schwäbel
burger vnd des jnnern raths auch stadt camerer zu gemel-
ten Regenspurg mit verschiedenen daselbst näher bezeich-
neten Gütern. Nach einer Urkunde vom 4. September 1609
gehört er nicht mehr den Lebenden an, indem weillundt
Nicomeden Schwäbeis gewesten jnnern raths vnd statcam-
merers zue Regenspurg hinderlassenen wittib Vrsula vom
Bischöfe Wolfgang mehrere der früheren Lehen ihres ein-
stigen Ehegatten durch ihren Lehenträger Friderich Reitmor
zu Perckhausen (und nach einer Urkunde vom 1. Juli 1615
vom Bischöfe Albrecht durch ihren Lehenträger Andreas
Reitmor zu Deidenhouen) übertragen wurden.
Weniger sichere Anhaltspunkte stehen uns für den da-
maligen Besitzer der Pergamenthandschrift P, wie für den des
Codex F, welcher die Nachricht darüber enthält, zu Gebote.
Sehr natürlich, indem der erstere blos als Herr A bezeichnet
wird, der letztere aber nirgends in der Handschrift selbst
genannt ist. Doch dürfen wir wohl auch über beide einige
Muthniassungen äussern welche nicht allen Grundes ent-
behren möchten, insbesondere wenn wir noch den Gabriel
Mair für diesen Punkt herbeiziehen, welcher auch eine
Handschrift des sogenannten Schwabenspiegels besass über
welche in unserem Codex F Mittheilungen gemacht sind.
Steht fest, dass Nicomed Schwäbl, dessen Vermittlung
am 7. Februar 1609 der Besitzer der uns erhaltenen Papier-
handschrift F die Benützung der sonst oder — wie wir uns
jetzt vielleicht genauer ausdrücken könnten — eigentlich
dem Herrn A gehörigen Pergamenthandschrift P verdankte,
Mitglied des inneren Ratlies und Kammerer zu Regensburg
gewesen, so wird der Herr A kaum anderswo zu suchen
sein. Auch liegt sicher die Annahme sehr nahe, dass er
eine Persönlichkeit war welche mit Nicomed Schwäbl in
420 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
gewissen sei es freundschaftlichen sei es geschäftlichen Be-
ziehungen stand. Nun begegnet uns in der Zeit um
welche es sich handelt Christof Adler sicher im ersten
Decennium dieses Jahrhunderts als Mitglied des inneren
Ratlies zu Regensburg. Er erscheint in zwei Urkunden vom
4. Mai 1607, wovon er eine sigelt, als burger vnd dess
jnnern rathes zu Regenspurg vnnd dissorts verordneter wacht-
herr. In einer vom Herzoge Maximilian zu München aus-
gestellten und unterschriebenen Urkunde vom 12. März 1610
begegnet er uns als Lehenträger des Kammerers und Rathes
von Regensburg. Als solchen treffen wir nach seinem Ab-
leben3) das Mitglied des inneren Rathes Hanns Jakob
Aichinger in einer gleichfalls vom Herzoge Maximilian zu
München am 3. Juli 1616 ausgestellten und unterschriebenen
Urkunde. Auch begegnet er uns ,,des jnnern geheimen
raths" als Zeuge bei einem Kaufe der Stadt Regensburg in
einer Urkunde vom 13. April 1622.
Aus derselben Zeit haben wir dann Kunde von dem
schon berührten Gabriel Mair. In einer auf dem Rath-
hause zu Regensburg am 14. Oktober alten und 24 neuen
Kalenders 1613 vorgenommenen Verhandlung erscheint als
Zeuge Gabriel Mayer burger vnd eines e(rbern) Stattgerichts
beysitzer vnnd assessor. In einer Urkunde vom 6. Oktober 1614
sodann begegnet uns als Zeuge bei einem Kaufe in Regens-
burg Gabriel Meier eines e(rbern) Stattgerichts assessor.
Haben wir es auf solche "Weise — selbst wenn Christof
Adler nicht als nothwendig annehmbar erscheint — mit an-
gesehenen Bürgern der ehrwürdigen Reichsstadt zu thun, so
3) Aus erster Ehe wie es scheint hatte er eine Tochter Susanna,
welche an den Bürger und Stadtgerichtsbeisitzer zu Regensburg
Daniel Eder verheiratet war, wie aus der Urkunde über den Verkauf
ihrer zwei anererbten an dem unteren Wörth zu Eegensburg ge-
legenen Pulvermühlen u. s. w. vom 17. Juni 1G22 hervorgeht.
Rockinger: Zur Abfassungszeit des Sclncahenspiegels. 421
wird vielleicht nunmehr auch ein Schluss auf den Besitzer
der Handschrift F erlaubt sein, welche uns die Einträge
aus dem alten Pergamentexemplare P des sogenannten
Schwabenspiegels erhalten hat. Dass er in engen Bezieh-
ungen namentlich zu Nicomed Schwäbl und Gabriel Mair
gestanden, unterliegt keinem Zweifel, indem beide ihm Hand-
schriften unseres Rechtsbuches zur Benützung gaben. Dass
er selbst ein Mann gewesen der dafür reges Interesse ge-
habt, beweisen die Einträge welche er daraus in sein eigenes
Exemplar machte. Dass wir wohl nicht mit Unrecht einen
rechtsgelehrten Mann in ihm vermuthen dürfen, gründet
sich auf die Betrachtung der verschiedenen Anmerkungen
welche namentlich vom Anfange an — neben den schon
bemerkten Einträgen aus den beiden Exemplaren des so-
genannten Schwabenspiegels — bezüglich der Uebereinstim-
mung mit dem von ihm so bezeichneten Landrechte den
Rand füllen. Nun finden wir gerade in der Zeit welche in
Frage kommt einen Doctor beider Rechte, Paul Dins-
peckh, als Stadtschultheissen von Regensburg. Er wurde
als solcher nach der im baierischen allgemeinen lieichsarchive
aufbewahrten Designation derer Herren Stadt Schultheissen
löblicher Reichs Stadt Regenspurg von Johann Georg Gölgel
im Jahre 1600 bestellt, und sigelte4) mehrfach Urkunden
über verschiedene an Kammerer und Rath daselbst vorge-
nommene Verkäufe, beispielsweise vom 20. Februar und 31. März
1G02, vom 30. Juli und 25. September 1607. Gerade in dem
Jahre in welchem die Einträge in unserer Handschrift ge-
macht worden sind, am 21. August 1G09, kaufte er einen
Acker zu Regensburg vor dem prepronner Thore. Zuletzt
begegnen wir ihm in Urkunden vom 3. Oktober und 24. Jänner
4) Die Umschrift seines Sigels lautet:
Paulus Dinspeccius i. v. d. vnd schvlthais zv Regenspurg.
[1867.11.3.] 28
422 Sitzung der Mstor. Gasse vom 9. November 1867.
1616. Warum soll er nicht Besitzer der Handschrift F ge-
wesen sein können?
Doch gleichviel , ob dem Christof Adler die viel er-
wähnte alte Pergamenthandschrift P gehörte , gleichviel ob
Paul Dinsbeck der Besitzer unseres Codex F gewesen, Re-
gens bürg ist jedenfalls der Ort an welchem beide Hand-
schriften sich am 7. Februar 1609 befanden, denn wenn die
letztere auch nicht dem Paul Dinsbeck gehört haben sollte,
kann nach den obigen Ergebnissen in dem Beisatze ,,alhie"
kein anderer Ort als Regensburg verstanden werden.
"Wie nun dahin die für uns so wichtige Pergamenthand-
schrift P gelangt, vermögen wir nicht sicher zu bestimmen.
Ohne Zweifel durch die Pr ecken dorf er. Auf welchem Wege
aber, wir haben darüber so wenig bestimmte Nachrichten
als über die ältere Genealogie dieses Geschlechtes. Gerade
über den Heinrich wie über seinen Bruder Georg und seine
eigene Familie, welche man annehmen muss da er selbst
von seinen Kindern spricht, fehlen uns im Augenblicke
weitere Anhaltspunkte als was sich aus dem bereits be-
rührten Eintrage in der Pergamenthandschrift P entnehmen
lässt. So interessant sein Reisbuch gewesen sein mag, so
wichtig es nicht allein für die nähere Bekanntschaft mit
dem Manne sondern auch für die in manchen Einzelheiten
noch keineswegs ganz und gar aufgehellten Fehden des
Grafen Rudolf von Habsburg mit den Herren von Regens-
berg, dem Bischöfe von Basel, den beiden Grafen von Tog-
genburg in den Jahren 1264 bis 1268 5) sein dürfte, so
vielfach willkommene geschichtliche und andere Mittheilungen
es ausserdem aus der Feder eines Edelknechtes bieten
5) Wir können für unseren Behuf hier ganz kurz auf Lich-
nowsky's Geschiebte des Hauses Habsburg I. S. 69 ff. und besser
Kopp 's Geschichte der eidgenössischen Bünde II. S. 639 ff. verweisen
Rockinger: Zur Abfassungszeit des Schwabenspicgels. 423
müsste der Herr über fünf Sprachen war und nicht weniger
als ein und dreissig Jahre im Kriegsgetüunnel umherzog, es
liegt uns nicht vor. Mutmasslich blieb es wohl zunächst
im Besitze der Preckendorfer, über welche insbesondere um
die Mitte des 14. Jahrhunderts6) die urkundlichen Belege
6) Wohl noch ziemlich über sie hinauf reicht der Heinrich
Präkendorfer dessen im sechsten Absätze Erwähnung zu geschehen hat.
Jacob der Prakkendorfer stiftet sich am Nicolaustage des Jahres
1358 einen Jahrtag im Gotteshause Maria Magdalena auf prukker
Vorst. Mon. boic. XXVII S. 164 und 165.
Auch treffen wir um diese Zeit herum Glieder unseres Ge-
schlechtes als Lehensleute des Landgrafthums Leuchtenberg.
So begegnet uns in dem ältesten wohl noch im dritten Viertel
dieses Jahrhunderts geschriebenen leuchtenbergischen Lehenbuche
unter der Abtheilung „daz sind di lehen di gehorn zum Lewtem-
berg in die herschaft" auf fol. 18' der Eintrag: Stephan vnd Virich
di Prechendorfer haben zu lehen zwen hof zu Prechendorf mit irr
zuegehorung.
Weiter finden wir daselbst unter der Abtheilung ,,daz sind di
lehen der pürger zu der Weyden1' auf fol. 41 bemerkt: Wolfhart
Pregendorffer vnd sein prüder Jacob habent zu Pregendorf vij gut
vnd einen zehent ze Pernhof vber viiij gut.
Heinrich und Hanns die Pioshawpper mit ihrer Mutter Alhayt
vergleichen sich über die Erbschaft ihres Oheims Haynreichs dez
Präkendorfers mit dem Kloster Schönthal und ihrer Muhme Agnes
der Lichtenekkerin laut Urkunde vom Freitage in der ersten Fasten-
woche des Jahres 1382 , in welcher Steffan der Präkendorfer unter
den Zeugen erscheint. Mon. boic. XXVI S. 219 und 220.
Der Registratur über das Lehenbuch des Landgrafen Johann
des jüngeren von Leuchtenberg entnehmen wir nachstehende vier
Einträge zu den Jahren 1408 und 1416.
Anno 1408 feria quinta ipsa die sanctj Jordanj et Epimachj
martyrum Vlrichen Preckendorffer den sitz zu Preckendorff mit aller
zugehörung an veld wismad darauff er sitzet.
Anno 1408 feria vj,a proxima Niclassen Preckendorffer den sitz
darauff er sitzet zw Preckendorff mit aller zugehqrung an veld wis-
mad vnnd holtze.
28*
4 24 Sitzung der histor. Glasse vom 9. Noveviber 1867.
reichlicher fliessen. An welche von den betreffenden Fa-
miliengliedern es gelangte, wissen wir nicht. Ob und von
Anno 1416 feria quinta octaua beatj Stephanj Lorentz Raschawer
burger zw Vichtag ij lehen zw Preckendorff gelegen die er von
Niclasen Preekendorffer gekaufft hatt. derselb Preckendorffer hatt
den sitz zu Preckendorfl1 darauf? er sitzet mit seiner zugehörung.
Anno et die ut supra Hannsen Raschawer zw Vichtag bey Mu-
rach gelegen gesessen zwey lehen zu Preckendorff jnn newnburger
gericht dietrichskürchner pfarr die sein vatter Raschawer von Ni-
lasen Preckendorffer gekaufft hat.
Andre Prakendorffer oder wie er unten in der Urkunde ge-
schrieben ist Brakendorffer zue Prakendorff stiftet einen Jahrtag im
Kloster Schönthal am 24. Juni 1431. Mon. boic. XXVI S. 391—393.
Die Umschrift in seinem Sigel lautet: Andre Preckendorfer. Ihm
übergab am Franciscustage des Jahres 1433 Landgraf Leopold von
Leuchtenberg drei einstmals dem Niclas Brackendorffer verliehen
gewesene Güter zu Brackendorff welche heimgefallen waren. Auch
als oberpfälzischen Lehenmann finden wir ihn, indem nach Herzog
Johanns Lehenbuche fol.82' dem Endres Praeckendorffer am Dienstag
nach Lucia des Jahres 1434 ein verfallenes Lehen einer bei Prae-
ckendorff gelegenen Wiese übertragen wurde.
Albrecht Präkkndorffer zum Sigenstain erscheint in einem Hof-
gerichtsbriefe vom Freitage nach dem Gilgentage des Jahres 1446
in den mon. boic. XXVII S. 433—435.
Auf den Montag nach Gall des Jahres 1448 fällt eine land-
gräflich leuchtenbergische Belehnung des Sigmund des Prackenn-
dorffers mit dem Sitze Prackenndorff.
Peter Prackendarffer, Richter zu Camb, sigelt eine Urkunde vom
9. August 1454. Mon. boic. XXVI. S. 476 und 477. Die Umschrift
im Sigel lautet: Peter Prackendorffer.
Wir könnten in solcher Aufzählung bis in die zweite Hälfte des
17. Jahrhunderts fortfahren. Doch genügt es uns hier, aus einer
zu Anfang des genannten Jahrhunderts amtlich vorgelegten arbor
consanguinitatis praeckhendorffianae, welche wir mit genauen Be-
legen versehen in der Sitzung der historischen Klassa vom 7. Dezember
mitzutheilen gedenken , die nächste Nachkommenschaft des zuletzt
genannten Peter und jene seines Sohnes Georg vorzuführen , inso-
ferne wir hiemit über das Geschlecht der Preckendorfer bis zur
Rockinger: Zur Abfassungszeit des Schwabenspiegels. 425
welchem derselben es vielleicht mit der Pergamenthandschrift
P des sogenannten Schwabenspiegels, welche sie nach der
heraldischen Erscheinung des Wappens in ihr7) zu schliessen
wenigstens bis gegen das 16. Jahrhundert besessen haben
müssen, nach Regensburg gelangte, woselbst wir sie in den
zwanziger oder dreissiger Jahren dieses Jahrhunderts im
Eigenthume des Urban Trunkl wissen, wir vermögen das
nicht zu entscheiden. So viel übrigens können wir sicher
Uebersiedlung des (Georg und seines Sohnes) Dionys nach Regensburg
soweit als vorerst nöthig unterrichtet sind.
• Petter
i i i i i
Matthes Steffan Albrecht Wolff Georg
Wolff Wolf Sigmundt
Georg
i i i "" "T" "1 i
Georg Christoff Wolff Johannes Dionisi Johannes
7) Wir haben es oben S. 415 genau nach dem Eintrage in der
Handschrift F mitgetheilt.
Man möchte sich hienach der Ansicht zuneigen, vorausgesetzt
nämlich dass die Zeichnung in der Handschrift F wirklich ganz
genau ist, es sei nur eine ältere Darstellung desselben durch ein
späteres Glied des Geschlechtes, in welchem sich der Schatz des
Ahnherrn aus dem 13. Jahrhunderte fort vererbte, übermalt worden,
wie sich von selbst versteht in der heraldischen Form der betreffen-
den Zeit.
Wenigstens zeigt uns das prächtige Aquarell geinäldchen in der
einst im Besitze der Preckendorfer befindlich gewesenen Pergament-
handschrift von des Konrad von Megenberg berühmten Buche von
den natürlichen Dingen, welche uns die oben im Eintrage der
Handschrift F geschilderte bildliche Darstellung in einer
Fertigung etwa aus dem Beginne des letzten Viertels des 14. Jahr-
hunderts erhalten hat, cod. germ. raon. 38, insbesondere den Schild
nicht allein ganz und gar frei und nicht vom Mantel oben auf beiden
Seiten überdeckt, sondern auch in der alten spitzen Form.
426 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
den Fainilienaufzeichnungen entnehmen welche sich in der
einst im Besitze der Preckendorfer befindlich gewesenen
herrlichen Pergamenthandschrift von des Konrad von Megen-
berg berühmten Buche von den natürlichen Dingen, nun-
mehr cod. germ. 38 der Staatsbibliothek zu München, ein-
getragen finden, dass ganz am Schlüsse des 15. Jahrhunderts
Georg von Preckendorf sich mit Agnes vermählte, der
Tochter von Kaiser Friedrichs Rath Konrad Trinkl zu
Hautzendorf, welche nach dem Tode ihres Gatten noch
36 Jahre lang als Wittwe lebte und in Regensburg wohnte,
woselbst sie kurz nach der Mitte des 16. Jahrhunderts als
die letzte ihres Geschlechtes starb. Auf solche Weise möchte
für den Uebergang der fraglichen Handschriften oder wenig-
stens der Pergamenthandschrift des sogenannten Schwaben-
spiegels sowohl dahin als auch in die Hände des Urban
Trunkl ein sehr natürlicher Weg gefunden sein. Auch Hess
sich vielleicht um die Zeit von welcher es sich handelt,
abgesehen von dem berührten Eheverhältnisse, der eine oder
andere aus der preckendorferischen Familie überhaupt in
Regensburg nieder, woselbst wir wenigstens im Jahre 1553
den Dionys von Preckendorf als Mitglied des inneren Rathes
und im Jahre 1559 wie 1572 als Kammerer wie gegen den
Ausgang der siebenziger Jahre dieses Jahrhunderts sogar als
obristen Kriegsherrn8) finden. Doch mag dem so oder »so
8) Vgl. über die Urkunde vom 1. Februar 1553 oben S. 418
Note 2. Die Umschrift des Sigels lautet: S. Dionisi. von. Precken-
dorff.
Herr Dionysi von Praegkhendorff des jnnern raths erscheint als
Zeuge bei einem von Kammerer und Rath von Regensburg ge-
machten Verkaufe am Sonntage den 10. Oktober 1557 nach der
darüber unterm Mittwoche den 16. Febr. 1558 ausgestellten Urkunde.
Herr Dionysi von Prägkhenndorff etc. des jnnern raths der zeit
BocTcinger: Zur Abfassungszeit des Sclnvabenspiegels. 427
sein, es hat am Ende für die Frage welche uns beschäftigt
keine unmittelbare Bedeutung, wiewohl möglicher Weise
etwa über den Ritter und Bürger von Zürich, mit welchem
unser Krieger jedenfalls in innigen Verkehr getreten sein
muss, wenn jener ihm eine so werthvolle Handschrift zu
verehren sich veranlasst gefunden, nicht zu verachtende Auf-
schlüsse aus dem fraglichen Tagebuche zu schöpfen sein
dürften.
Was schliesslich noch gerade dijese schweizer Per-
sönlichkeit betrifft, dürfen wir uns nicht- wie allenfalls
beim Herrn A und beim Paul Dinsbeck lange in Muthmass-
ungen ergehen, sondern ein Eintrag welchen uns die Hand-
schrift F aus P über deren Besitzer erhalten hat bietet die
erwünschteste Auskunft. Es heisst nämlich dortselbst auf
Fol. 182, dass nach dem den Schluss des sogenannten Schwaben-
spiegels bildenden Endartikel = L 159 des Lehenrechtes
und nach der Angabe des Schreibers welcher die Hand-
schrift gefertigt9) noch nachstehende Bemerkung gefolgt sei:
Disz buch höret einem herreu an
der vnrecht ze rechte kan
bringen, ob ers gerne tut.
Gott gebe im ehre vnd gut
hie vntz vf sin ende,
statt camerer ist Zeuge und Sigler für eine Heiratsverabredung am
Samstage den 23. Dezember 1559.
Ueber die Urkunde vom 24. Juni 1565 ist oben S. 418 Note 2
zu vergleichen.
Herr Dionisius von Prägkhendorff dess jnnern ratlis begegnet
uns als Zeuge bei einem Verkaufe Samstags den 11. Mai 1566.
Herr Dionisius von Prackendorff erscheint als einer der Käm-
merer von Regensburg bei einem Vertrage der Stadt mit dem Bi-
schöfe vom 15. Juni 1571 , vom Kaiser Maximilian am 23. August
1572 bestätigt.
9) Vgl. unten S. 436.
428 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
vnd dort on alle missewende
teile mit im froliche
sin ewig himelriche.
Amen.
Herre, were iht bessers gewesen
danne daz ir hie haut gelesen,
daz hette ich gewünschet vf minen eid
iv ze einer selikeit.
Swer mir nu gelikes bitte,
dem müsse gott wesen mitte
hie vnd dort mit wunne.
Swer mir anders gunne,
dem müsse oech also geschehen.
Anders kan ich nicht veriehen:
Gott vns müsse wesen bi
durch sine10) heyligen namen dri.
Aber nu der herre müge genesen
den wir hievor haben gelesen
den disz buch anhoeret.
Es ist ein man der gerne stoeret
daz vnrecht zallen ziten.
Nicht lang ich will biten.
Ich wil iu hie sa ze hant
den ere gernden tun erkant
e daz ich sin vergesse.
Herr Rudiger der Manesse
von Zürich, ein ritter, ist er genant.
Vmb ine ist es so gewant,
daz er vf die rehtekeit
zallen ziten svnder leit
setzet gar den sinen muet.
10) In der Handschrift steht: siner.
Bockinger: Zur Abfassungszeit des Sclnvabenspiegels. 429
Da von im ehre vnd guet
gott soll geben zallen zit
an aller slahte widerstrit.
Keinem anderen demnach als dem berühmten Rudiger
dem M anessen dem alte reu gehörte die fragliche Per-
gamenthandschrift an. Am 1. Juli 1264 erscheint er als
der fünfte unter den bürgerlichen Käthen des in glücklicher
Entwicklung begriffenen Zürichs. Am 15. März 1268 ist er
der zweite unter den Beisitzern des Rathes aus dem Ritter-
stande. Es ist eine bekannte Thatsache, wie mitten unter
dem Waffengeräusche einer kriegerischen Zeit und den
Sorgen des aufstrebenden und bewegten städtischen Gemein-
wesens, woran Rudiger der Manesse u) eifrigsten Antheil
genommen, auch friedlichere Bestrebungen, eine schöne der
Wissenschaft und Kunst gewidmete Müsse in seinem Leben
Raum gefunden. Wie frühe dieses der Fall gewesen, die
fragliche Pergamenthandschrift — woran wir vor der Hand
keine weiteren Folgerungen knüpfen — liefert einen spre-
chenden Beweis hiefür.
Wir könnten sie hienach mit vollem Fuge als manes-
sische mit der Abkürzung als Handschrift M bezeichnen.
Wenn wir diesen Buchstaben oben nicht gewählt haben,
sondern sie nach ihrem nächsten Besitzer als precken-
dorfer'sche unter der Abkürzung als Handschrift P vorführen,
hat dieses seinen Grund lediglich darin, dass auf solche
Weise Verwechslungen mit der seinerzeit auch zur Besprech-
ung zu bringenden Handschrift des Gabriel Mair = M leichter
vermieden werden.
III.
Sind wir auf diesem Wege über die Schicksale der in-
teressanten Pergaiiienthandsehrift P wenigstens bis zum
11) Vgl. Wysa Beiträge zur Geschichte der Familie Maness
S. 4-10.
430 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
7. Februar 1609 ausreichend genug unterrichtet, so gehen
wir nunmehr auf sie selber über, soweit sich nämlich
näheres über sie herausbringen lässt. Die Mittel hiezu bieten
uns die Einträge in der Handschrift F. In diese hat
sich nämlich, wie bereits oben S. 411 — 413 bemerkt worden,
aus ihr wie aus Gabriel Mair's Exemplar Paul Dinsbeck oder
wer eben der Besitzer der noch erhaltenen Papierhandschrift
F gewesen sein mag einfach was ihm bemerkenswert!!
dünkte verzeichnet oder vielleicht richtiger gesprochen
verzeichnen wollen. Es scheint ihm nämlich hiebei im
allmäligen Verlaufe der Vergleichung die Arbeit über den
Kopf hinaus gewachsen zu sein. Denn von Anfang an ging
insoferne die Sache leichter als die Handschriften des soge-
nannten Schwabenspiegels welche der alten und noch nicht
einer so zu sagen systematischen Ordnung folgen in einer
gewissen Weise regelmässig zusammenstimmen, abgesehen
von der Zusammenziehung mehrerer Artikel in einen oder
von der Trennung eines Kapitels in mehrere. Unglücklicher
Weise bot nun aber sein Exemplar die Gestalt jener Gruppe
welche von Artikel 27 des durch Freiherrn v. Lassberg be-
sorgten Druckes an eine hübsche Reihe hindurch jene starken
Versetzungen aufweist welche aus der auf der Handschrift
des Reichsgrafen von Wurmbrandt besorgten Ausgabe des
Herrn v. Berger = B leicht zu ersehen sind. Gleich die
erste :
L F
26 27
27
28
29
39
40
41
B
27
37
38
39
30 \ 421 40
311 43/
L
32
33
34
35
F B
44 41
45
46
47
42
43
44
36 { 48{ 45
l 49 1 46
B
47
48
49
40 53 50
1!) 117 106
41 118 107
L E
37 50
38 51
39 52
L
42
43 55
F B
54 51
44 28
45 56
46
47
52
28
53
61 58
62 59
12) Vgl. Artikel 13.
Bockinger: Zur Abfassuvgszeit des Schwabenspiegels. 431
u. s. w. Hier scheint sich im ersten Augenblicke der gute
Mann nicht mehr recht ausgekannt zu haben. Es hört näm-
lich jetzt die einlässlichere Vergleichung nicht blos.aus der
Pergamenthandschrift P. sondern auch aus Gabriel Mair's
Exemplare auf, von welchem indessen die bis zum Artikel 44
des L Druckes reichenden Verstellungen angemerkt sind,
während bezüglich P auf fol. 67' nur bemerkt ist:
Nota bene. dise vnd volgende titul sein im pergamenen
rechtbuch vil änderst gesetzt vnd geordnet.
Leider ist ihre genaue Folge nicht beigesetzt worden,
während das Verzeichniss der Artikel der Handschrift des
Gabriel Mair vollständig auf den leeren Blättern der Hand-
schrift F nachträglich noch eingefügt wurde. Hört indessen
auch wie bemerkt am angegebenen Orte die eigentliche Ver-
gleichung auf, so wird doch auch fortan an verschiedenen
Stellen noch dieses oder jenes bald mehr bald minder
wichtige theils am Rande theils auf anfänglich leeren Blättern
angemerkt.
Die Nachricht über den ursprünglichen Besitzer
Heinrich den Preckendorfer und die späteren Schick-
sale der Handschrift P, soweit sie bis zum 7. Februar
1609 bekannt sindj sie ist bereits oben S. 413 — 415 mit-
getheilt worden.
Wir lassen nunmehr die übrigen Einträge folgen.
Auf fol. 6' Sp. 2 nach dem Schlüsse des Verzeichnisses
der Kapitel sowohl des Königebuches als auch des Land-
und Lehenrechtes des sogenaunten Schwabenspiegels rindet
sich nachstehende Bemerkung:
In dem pergamenen Buch stunden nachvolgende Raimen:
Hie hat daz lehenbuch ein ende.
Gott vns sich selben sende
ze einem suessen13) tröste.
13) In der Handschrift steht: su eilen.
432 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
Wann er vns eine erloste
von der helle pine,
da von er vns ze schine
sich selben iemer geben wil,
des ist im heren nicht ze vil.
In gottes namen u)
sun wir sprechen Amen.
Auf Fol. 8 zum Eingange des Königebuches lautet in
der Handschrift F der Text : durch den rechten fride, durch
den raynen fride, durch den schadhaften fride, durch staten
fride. Dieser ist dann theils durch Randbemerkung theils
gleich durch Einsetzung in die betreffenden Zeilen selbst
folgendermassen geändert :
durch den rechten fride, vnde durch den seide-
haften fride, durch den raynen fride, durch den
schadhaften fride, vnde durch den staten fride,
wonach eben in den Worten ,, durch den seidehaften fride"
der sinnlose erst weiter unten stehende und daher beim
ersten Lesen nicht allsogleich schon bemerkte Ausdruck
,, durch den schadhaften fride" aus der Pergamenthandschrift
P verbessert erscheint.
Auf Fol. 38 ist zu der Ueberschrift : Von dem chunig
Daio, in welch letzterem Worte über dem i das Abkürz-
ungszeichen angebracht ist, die aufgelöste Form „Dario" an
den Rand bemerkt.
Auf Fol. 62' zu Art. 11 = L 9 des Landrechtes tritt
uns der Eintrag entgegen:
Im peigamenen buch stehet der titul also:
Der man ist der frowen maister,
wobei über dem o in „frowen" noch ein kleines v über-
gesetzt ist.
Auf Fol. 63 zu Art. 16 = L 14 des Landrechtes ist
14) In äer Handschrift steht: In gottes namen amen.
Bockinger: Zur Abfassungszeit des Schwabenspiegels. 433
anstatt der Ueberschrift ,.des suns gut" als solche aus der
Pergamenthandschrift P angeführt:
dess kindes guet.
Auf Fol. 64' zu Artikel 19 = L 17 des Landrechtes
ist uns folgender Text von P am Rande angemerkt:
Die Swabe setzent wol ir vrteil vnder in
selben, vf swebischer [erde] ist daz recht,
vnd ziehend si ouch wol an ein höher ge-
richte. [daz gerichte] mvotzen sie nemen,
vnd band si oech die minren volge. swe-
bisch15) recht zweyen sich etc. ut hie16).
Auf Fol. 67 zu Artikel 27 = L 26 des Landrechtes
ist in den für den rothen Anfangsbuchstaben W leergelas-
senen Raum ein schwarzes S undW eingeschrieben, so dass
es den Anschein hat, es stand anstatt „Wo" in der Per-
gamenthandschrift P: Swo.
Von der auf Fol. 67' zu Artikel 39 = L 27 des Land-
rechtes eingetragenen Bemerkung ist vorhin S. 431 die Rede
gewesen.
Auf Fol. 75' zu Artikel 64 = L 52 des Landrechtes
ist zu den Worten des Textes „mit aynem schilt vnd mit
aynem sper gesitzen mag" an den Rand als Lesart der
Pergamenthandschrift P beigeschrieben :
mit schilte vnd mit schaffte gesitzen mag.
Auf Fol. 98 zu Artikel 145 = L 122 des Landrechtes
ist zu dem falsch geschriebenen Worte jmselsuchtig die Cor-
rectur aus der Pergamenthandschrift P
miselsuhtig
an den Rand bemerkt.
Auf Fol. 100' zu Artikel 155 = L 130 a des Land-
15) In der Handschrift steht: swel.
16) Vgl. oben S. 413 Note 1 zu fol. G4\
434 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
rechtes ist zu den Worten des Textes ,.der vierd an der
wall das ist der herczog von Beyren des reiches schenck"
an den Rand — abgesehen von dem in Gabriel Mair's
Exemplar vorfindlichen Texte17) — bemerkt:
Concordat daz pergamen rechtbuch so anno 1264
schon geschribn gewesen, aberdarinn radürt vnd dafür
gesatzt worden:
der könig von Beheim.
Auf fol. 116 zu Artikel 207 = L 377 II des Land-
rechtes begegnet uns die Randbemerkung :
Nota bene. diser gantz titul ist im pergamenen
puch hieher nicht gesetzt, sonder volgt der titul:
der dess nachtes körn stilt.
Aber folio c vnter dem buch von lehen da wird er
erst gesetzt.
Auf Fol. 123 zu Artikel 222 = L219 des Landrechtes
finden wir an dem untern Rand bemerkt:
Im pergamen buch steht zu ende dess tituls von
mülinen vnd von zöln vnd von münzen:
Hie ist das landrecht buch vsz.
Voigt ein figur eines richters dem einer ein brief
mit sigl vberreicht, vnd volgend titul:
Hie hebt an das edel buch das da haisset daz
buch von lehenrechte.
Das erste. Jn nomine patris et filij et Spiri-
tus sancti. Ob ein kind etc.
Auf Fol. 148' ist zum Anfange des Lehenrechtes am
unteren Rande bemerkt:
Im pergamenen buech:
Hie hebt sich das edle vnd recht lehen buch
an, daz das dritte stukh ist diss buchs.
17) Der vierd ist der kertzog in Bayrn, dess reichs sckenkk.
der soll dem könig den ersten becher tragen.
Eochinger: Zur Abfassung szeit des Schwabenspiegels. 435
Von rechten lehen.
Jn nomine patris et filij et Spiritus sancti.
Auf Fol. 150 ist zu den Worten des Artikels 7 = L 8
des Lehenrechtes „vnd der herczog von Bayren" an den
Rand geschrieben :
Concordat das pergamenen. hier ist aber widerumb
etwas corrigirt, vnd der konig vonBeheimb gesetzt.
Auf Fol. 182 begegnet uns zum Schlüsse des Lehen-
rechtes = L 159 nachstehender Eintrag:
Nota bene. Im pergamenen Buch post § ultimum
„Lehen" etc. post uerba postrema „da von daz er
desz heerschildes darbet" volgt hernach:
Hie hat daz lehenbuch ein ende.
Hie hat daz lehen buch ein ende, elliu18)
lehen reht han ich zu ende bracht diu18)
von lehen rehte sint.
Vnd wissent das lehenreht liht were ze
bescheidene, were der so vil niht die des
vnrehten varent vnd vnreht thun durch
gutes willen das sie ie zu ze rehte sagent
durch ir selber munt. vnd werdent si
des selben sa ze hant gevraget dar nach,
das verkerent si, vnde sagent ein anders.
Es ist nieman so vnrehter, in dunke vn-
billich ob man im vnrehte thut. darumbe
bedarff man wiser rede vnd guter künste
wol wie man sie an di reht bringe.
Swer zallen ziten vf das recht sprichet
der gewinnet mangen vient. des sol sich
der biderman gerne bewegen durch gott
vnd durch sine ehre vnd durch siner seele
heil.
18) In der Handschrift ist das i über das u gesetzt.
436 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
Gott durh sine gute der gebe vns sine
genade, das wir das reht also minnen in
dirre weite, vnd daz vnreht krenken in
dirre weite, das wir sin da geniessen da
sich lip vnde sele schaident. das verlihe
vns der vater vnd der sun vnd der heilige
geist. amen, daz werde war.
Qui wole19) mich geschriben hat,
Wilt schriber nomen habebat.
Die Verse welche hiernach noch über den ursprüng-
lichen Besitzer der Pergamenthandschrift P angereiht sind
haben wir bereits oben S. 427 — 429 mitgetheilt.
Die Bemerkung welche dann noch weiter über Kaiser
Friedrichs IL mainzer Landfrieden folgt werden wir unten
S. 437 berühren.
Auf Fol. 181 endlich ist bezüglich einer Anzahl von
kurzen Rechtssätzen, wie über ehehafte Noth und anderes,
welche in der grossen Mehrzahl der der Gruppe der Hand-
schrift des Reichsgrafen von Wurmbrandt angehörigen Co-
dices als „Generalartikel!i noch nach dem Schlüsse des
Lehenrechtes des sogenannten Schwabenspiegels angehängt
erscheinen, die Bemerkung gemacht;
Nota bene. dise general articul sein im pergamenen
exemplar nit gesetzt.
IV.
Hienach sind wir jetzt in den Stand gesetzt, uns ein
gewisses Bild von der Pergamenthandschrift P zu
machen.
Sie hat zunächst das Buch der Könige wenigstens
der alten E enthalten. Ihm folgte das Land- und das
Lehenrecht des sogenannten Schwabenspiegels.
19) In der Handschrift steht: wele.
BocUnger: Zur Abfassungszeit des Schtvabenspiegels. 437
Weiter fand sich in ihr auch Kaiser Friedrichs IL be-
rühmter mainzer Landfrieden. Letzteres entnehmen
wir noch dem Eintrage der Handschrift F auf Fol. 182'
nach den Versen über den ursprünglichen Besitzer der Hand-
schrift P:
Voigt jm pergamenen Buch Kaiser Fridrich des
andern Landfridt verteutscht, aber nicht gar.
Dessen Eingang ist:
Dirre fride wart gesetzet von dem an-
dern kaiser Fridriche mit der fürsten
vnd anderer hohen herren rate ze dem
grossen hofe ze Megenze ze vnser frowen
mes ze mittem ovgesten do von gottes ge-
burde M° CC° vnd 36 jaren warent.
Wir setzen vnd gebietend von vnserm
keiserlichen gewalte etc.
Betrachten wir uns nun einzeln die vorgeführten Ein-
träge näher, so gestatten sie uns leider ob ihrer nur ge-
ringen Anzahl keineswegs einen Schluss darüber, zu welcher
der bekannten älteren Formen des sogenannten
Schwabenspiegels ein näheres Verhältniss besteht.
Immerhin aber ergeben sich doch einige nicht unwichtige
Folgerungen. Es versteht sich hiebei von selbst, dass wir
vor allem den Deutschenspiegel ins Auge fassen, soweit
uns eben Anhaltspunkte dafür vorliegen, insoferne wir in
ihm zunächst den Ausgangspunkt für den sogenannten Schwaben-
spiegel und den unmittelbaren Vorläufer seiner ältesten Ge-
stalten zu erkennen haben.
Was zunächst die beiden Bemerkungen auf fol. 62' zu
Artikel 11 = L 9 und auf Fol. 63 zu Artikel 16 = L 14
des Landrechtes hinsichtlich der Ueberschriften dieser Artikel
anlangt, schliessen sich selbe eng an den Deutschenspiegel
an, für dessen Artikel 13 und 19 sie lauten: Der man ist
der frowen maister vnd vogt; Der vater erbet des chindes
[18G7. IL 3.] 29
438 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
guot. Es erscheint fast kleinlich auf die Einzeichnung von
Fol. 67 Rücksicht zu nehmen; doch beginnt auch im Deut-
schenspiegels der entsprechende Artikel 28 mit Swa. Nicht
minder stimmt der Eintrag zu Fol. 75' mit dem Texte des
Artikels 49 des Deutschenspiegels, worin es heisst: mit
einem schilte vnd mit einem Schafte gesitzen mag. Das-
selbe lässt sich zu Fol. 98 anführen, woselbst auch im ent-
sprechenden Artikel 295 des Deutschenspiegels miselsuchtig
steht.
Entschieden dagegen weichen die Einträge auf Fol. 100'
und Fol. 150 bezüglich der vierten weltlichen Kurstimme
von der jetzt allein bekannten erst dem 15. Jahr-
hunderte angehörigen Handschrift des Deutschen-
spiegels ab, indem dessen Artikel 303 des Land- und 11 des
Lehenrechtes den in der Pergamenthandschrift P anstatt des
Herzogs von Baiern erst durch Correctur eingesetzten König
von Böhmen aufführen.
Insoferne nun nach Ficker's Untersuchungen der Deut-
schenspiegel nicht lange vor aber auch nicht lange nach
dem Jahre 1260 entstanden ist, möchte man vielleicht bei
Berücksichtigung des Sachverhaltes dass die in Frage
stehende Pergamenthandschrift P zwischen den Jahren 1264
und 1268 unserem Preckendorfer geschenkt wurde, also in
einer Zeit welche ungemein an das vorbezeichnete Jahr der
Abfassung des Deutschenspiegels angränzt, nicht unschwer
auf den Gedanken verfallen, ob wir es nicht vielmehr
mit einem Deutschenspiegel als mit dem sogenann-
ten Schwabenspiegel zu thun haben.
Wir sind dieser Meinung nicht. Sind auch die An-
haltspunkte welche uns zu Gebote stehen ihrer Zahl nach
verhältnissmässig nur wenige, so dürfte sich doch daraus
diese Frage entscheiden lassen.
Einmal ist vor allem nicht zu übersehen, dass der Be-
sitzer der Handschrift F gleich in dem Eintrage wovon oben
Eochinger: Zur Abfassungszeit des Schioabcnspiegcls. 439
S. 413 — 415 die Rede gewesen von der Perganienthandschrift
P mit dürren Worten sagt, dass „darein volgend recht-
buch gantz schön vnd sauber geschriben" gewesen. Insoferne
nun die Handschrift F den mit dem Buche der Könige
alter E verbundenen sogenannten Schwabenspiegel
enthält, welches Werk ihm das „volgend rechtbuch" ist,
erscheint eine andere Annahme als dass die Pergament-
handschrift P auch diesen Inhalt hatte ganz unthunlich. Denn
wenn in ihr etwas anderes gestanden wäre , wie hätte ihm
das wohl bei der Genauigkeit welche wir bei den einzelnen
Einträgen aus ihr finden entgehen können?
Uebrigens ganz abgesehen hievon stehen uns noch andere
Gründe zu Gebot. Zunächst ersehen wir aus der den Ein-
gang des Buches der Könige berührenden Stelle auf
Fol. 8 , dass dieser nicht in der gekürzten Form des
Deutschenspiegels20) gestanden hat, sondern der volleren,
welche wir aus Massmanns Ausgabe in des Herrn v. Daniels
Rechtsdenkmälern des deutschen Mittelalters III Sp. XXXIII
zur Genüge kennen.
Ohne Zweifel dürfen wir auch daraus, dass zum ganzen
Buche der Könige alter E wie es in der Handschrift F
steht — ausser der Auflösung der wie es scheint in der Ab-
kürzung ihrem Besitzer nicht verständlichen Form des Namens
Darius — keine Bemerkung gemacht ist welche das Vor-
handensein grösserer Veränderungen andeuten würde , nicht
ohne Grund den Schluss ziehen, dass es in der Pergament-
handschrift P in demselben Umfange vorhanden gewesen.
Auf das Buch der Könige folgt im Deutschenspiegel
eine Umarbeitung der Präfatio rhythmica des Sach-
senspiegels wie des Prologus und des sogenannten
Textus prologi dieses Rechtsbuches. Wären diese
20) Vgl. hiezu F ick er über einen Spiegel deutscher Leute und
dessen Stellung zum Sachsen- und Schwabenspiegel S. 14 (126).
29*
440 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
Stücke in der Handschrift P vorhanden gewesen, die An-
deutung darüber würde sicher nicht fehlen. Wir ersehen
also hierin einen ferneren Grund für unsere Annahme.
Scheint dann die einzige ursprüngliche Eintheilung
des Deutschenspiegels nur die in eine ungezählte
Reihe kleiner Abschnitte gewesen zu sein, und ist in
ihm noch von keiner Scheidung in bestimmte Abtheil-
ungen die Rede, so dass nicht einmal der Beginn des Lehen-
rechtes äusserlich mehr hervortritt als der eines andern Ar-
tikels , so tritt uns in der Pergamenthandschrift P bereits
die Sonderung des Land- und Lehenrechtes ganz
scharf entgegen, und wird weiter auch das Land recht selbst
durch eine auch sonst in verschiedenen Handschriften auf-
tauchende Abtheilung nach L Artikel 219 als aus zwei
Theilen bestehend vorgeführt.
Hatte weiter der Deutschenspiegel aller Wahrschein-
lichkeit nach keine Artikelüberschriften, und bietet er
auch in der uns erhaltenen Form solche in seinem späteren
Verlaufe nicht, soj entnehmen wir aus den Einträgen auf
Fol. 62' wie 63 und 116, dass in der Pergamenthandschrift P
sich selbe bereits fanden.
Dass umgekehrt in ihr die beiden im Deutschenspiegel
zu den Artikeln 29c und 80b aufgenommenen Gedichte
des Strickers nicht vorhanden gewesen, entnehmen wir
wohl nicht mit Unrecht dem Schweigen das in dieser Be-
ziehung hierüber obwaltet.
Sehen wir uns näher nach dem Inhalte einzelner Ar-
tikel um, so können wir wohl die Theorie von den zwei
Schwertern nicht umgehen. Der Deutschenspiegel weist
noch das weltliche dem Kaiser unmittelbar zu. Wäre diese
Auffassung in der Pergamenthandschrift P vertreten gewesen,
unser Gewährsmann hätte unmöglich eine Anmerkung zu
dem Texte von F, welcher als sogenannter Schwabenspiegel
beide Schwerter dem Pabste zuzuwenden für gut findet,
BocJcinger: Zur Abfassungszeit des Sclnvabenspiegels. 441
unterschlagen können, um so weniger als er gerade bei der
Stelle dass erst der Pabst dem Kaiser das Schwert des
weltlichen Gerichtes leihe die ausdrückliche Bemerkung an
den Rand setzt dass diese im sächsischen Landrechte nicht
vorkomme. Man müsste nur geradezu annehmen, er habe
im vorliegenden Falle die Pergamenthandschrift P einzusehen
vergessen.
Findet sich sodann von der langen Abhandlung über
die Ehe im Deutschenspiegel keine Spur, wohl aber in an-
erkannt alten Handschriften des sogenannten Schwabenspiegels,
wie dem cod. germ. 90 der münchner Staatsbibliothek, der
uber'schen Handschrift zu Breslau, der französischen Ueber-
setzung des sogenannten Schwabenspiegels zu Bern, und
bereits in gekürzter Fassung im Cod. Fäsch zu Basel , und
berichtet uns der Eintrag auf Fol. 116 dass sie in der
Pergamenthandschrift P gestanden, so ist wohl nicht zu
bezweifeln , dass wir es mit einem Codex des sogenannten
Schwabenspiegels zu thun haben.
Auch, nach einer andern Seite hin ist gerade dieser
Eintrag nicht ohne Werth. Iusoferne nämlich die berührte
Abhandlung auf Fol. 100 des Codex P am Ende des Land-
rechtes ihren Platz hatte, ergibt sich für diese Handschrift —
in welcher von Fol. 100 an eben diese lange Abhandlung
und dann erst noch das Lehenrecht folgte — ein Umfang
welcher über den des Deutschenspiegels weit hinausgeht.
Was noch eben das Lehenrecht betrifft, welches im
Deutschenspiegel der Schlussartikel L 157 und 158 und ins-
besondere des Schlusswortes = L 159 des sogenannten
Schwabenspiegels entbehrt, vernehmen wir aus dem Eintrage
auf Fol. 182, dass sein Text in der Pergamenthan dschriftP
mit den Worten ,,da von daz er desz heerschildes darbet" des
im Deutschenspiegel gar nicht vorhandenen Artikels L 154 ge-
endet hat, und das Schlusswort = L 159 in der dem soge-
nannten Schwabenspiegel angehörigen Form in ihr gestanden.
442 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
V.
Steht auf solche Weise fest, dass diese keinen Deutschen-
spiegel sondern den sogenannten Schwabenspiegel enthalten,
so ist nunmehr bei Berücksichtigung des Sachverhaltes dass
sie zwischen den Jahren 1264 und 1268 unserem Precken-
dorfer geschenkt wurde die Zeit der Abfassung des
sogenannten Schwabenspiegels gegen die bisherige
Annahme um etwas hinaufzurücken.
Welches ist der gegenwärtige Stand dieser Frage? Jo-
hannes Merkel, welcher noch vor der Auffindung des Deut-
schenspiegels in seinen Commentarien de republica Alaman-
norum XVI S. 22 — 24 mit den einschlägigen Noten ausführ-
lich über diese Frage handelte, gelangte zu dem Ergebnisse
dass unser Rechtsbuch zwischen den Jahren 1276 und
1281 vollendet worden. Als es Ficker gegönnt war, den
glücklichen Fund der innsbrucker Handschrift des Deutschen-
spiegels mit der ihm eigentümlichen geistreichen Schärfe
zu verwerthen, stellte sich ihm — auf Merkels Forschungen
fussend — in seiner akademischen Abhandlung über einen
Spiegel deutscher Leute und dessen Stellung zum Sachsen-
und Schwabenspiegel S. 164 und 165 das Ergebniss heraus,
dass die Abfassung unseres Rechtsbuches nach seinen staats-
rechtlichen Bestimmungen nicht vor das Jahr 1275 fallen
könne, und sein Alter sich etwa dahin bestimmen lassen
möchte, er könne nicht lange vor und nicht lange nach
1280 entstanden sein. Dem entgegen machte Laband in
seiner Arbeit über den Ursprung des sogenannten Schwaben-
spiegels geltend, dass es in ihm auch nicht an Andeutungen
fehle dass er unter der Regirung König Richards
verfasst worden, worüber er insbesondere in seinen Bei-
trägen zur Kunde unseres Rechtsbuches S. 23 und 24 handelt.
Es war zu vermuthen. dass nach den Untersuchungen welche
er abgesehen gerade von dieser Frage noch am bemerkten
BoeTcinger: Zur Abfassungszeit des Schväbcnspicgels. 443
Orte veröffentlicht hat Ficker sich weiter in der Sache ver-
nehmen lassen würde. Das geschah denn auch in seiner
akademischen Abhandlung zur Genealogie der Handschriften
unseres Rechtsbuches, worin er glaubt, an der bisherigen
Ansicht die Abfassung desselben dürfe wegen der staats-
rechtlichen Sätze nicht vor die ersten Jahre König
Rudolfs gesetzt werden auch nach Erwägung der von
Laband aufgestellten Gegengründe festhalten zu müssen,
worauf er bei anderer Gelegenheit zurückzukommen denke,
wogegen er der Beweisführung des Verfassers, dass das
Verhältniss zum augsburger Stadtrechte eine Ab-
fassung nach 1276 nicht nöthig mache, bereitwilligst
beistimmt, wie er das ja auch schon früher nur bedingt für
diesen Zweck geltend gemacht.
Fragen wir diesen so zu sagen ausschliesslich aus in-
neren Gründen gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnissen
gegenüber nach allenfallsigen Datirungen der zunächst in
Betracht kommenden ältesten Handschriften, so stehen die
zwei Jahrzahlen welche hier vor allem ins Auge fallen mit
jenen Ergebnissen in keinem Widerspruche. Einige Hand-
schriften beziehen sich nämlich auf eine Vorlage vom
Jahre 1282. Die lassberg'sche gibt uns den Beweis, dass
im Jahre 1287 der sogenannte Schwabenspiegel be-
reits vorhanden gewesen. Allerdings sind wir hiedurch
um keinen Schritt für eine nähere Bestimmung der Zeit
seiner Abfassung als die schon aus den eben berührten Er-
gebnissen hervorgehende weiter gefördert.
Wichtig werden in dieser Beziehung die aus einem zu
Anfange des 16. Jahrhunderts gefertigten Einbände eines
Werkes der königlichen Bibliothek zu Berlin abgelösten
Bruchstücke einer Pergamenthandschrift des soge-
nannten Schwabenspiegcls, über welche Pertz in der
Sitzung der historisch-philosophischen Classe der Akademie
444 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
der Wissenschaften daselbst vom 4. Februar 1850 und im
Archive der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtkunde
X S. 415—425 Nachricht gegeben, insoferne nach seiner
Mittheilung „die Schrift noch mehr gegen die Mitte als
den Schluss des 13. Jahrhunderts, mithin in die für
jetzt wahrscheinliche Zeit der Entstehung dieses Rechts-
buches gesetzt werden niuss." Eine nähere Bestimmung ist
natürlich bei der geringen Anzahl dieser so interessanten
berliner Bruchstücke nicht möglich.
Sie wird es nunmehr durch den in unserer Handschrift
F erhaltenen Eintrag, wonach der oberpfälzische Edel-
knecht Heinrich der Preckendorfer von dem be-
rühmten Rudiger dem Manessen aus Zürich eine
Pergamenthandschrift unseres Rechtsbuches zwi-
schen den Jahren 1264 und 1268 zum Geschenke er-
hielt.
In welchem der genannten Jahre das der Fall gewesen,
vermögen wir nicht zu behaupten, da eine nähere Angabe
hierüber nicht gemacht ist, und uns das Reisbuch des be-
neidenswerthen Besitzers der Handschrift nicht vorliegt, aus
welchem vielleicht bestimmtere Anhaltspunkte zu gewinnen
wären.
Von dem Eintrage auf Fol. 100' der Handschrift F,
dass der Pergamentcodex P bereits im Jahre 1264 geschrie-
ben gewesen, machen wir keinen Gebrauch, weil wir nicht
wissen, ob und welcher verlässige Grund für diese Bemerk-
ung den Besitzer von F geleitet haben mag, uns jedenfalls
ein solcher nicht zu Gebote steht.
Sicher ist nur, dass das Geschenk spätestens im Jahre
1268 gemacht worden, in welchem Jahre unser Edelknecht
mit seinem Schatze aus der Schweiz in seine Heimat zu-
rückzog. Bedenkt man nun, dass die jetzigen Annahmen
die Abfassung des Deutschenspiegels wie des sogenannten
Bockinger: Zur Alfassungszeit des Schwabenspiegels. 445
Schwabenspiegels nach Augsburg21) verlegen, dass von da
vielleicht nicht gleich die allerersten Abschriften nach Zürich
gelangten, dass wahrscheinlicher Weise auch Rudiger der
Manesse sein Exemplar nicht schon im ersten Augenblicke
des Empfanges unserem Preckendorfer verehrt, so werden
wir immerhin auf einige Zeit noch vor 1268 oder auch
1267 oder vielleicht 1266 oder am Ende 1265 oder
gar 1264 hingewiesen. Muthmassungen in der Beziehung
hängen vor der Hand in der Luft. Wir nehmen daher
hierauf keine Rücksicht, sondern constatiren zur Zeit nur
gegenüber den bisherigen Ergebnissen das urkundliche
Zeugniss dass spätestens im Jahre 1268 der soge-
nannte* Schwabenspiegel vorhanden gewesen.
VI.
Es ist uns wohl nunmehr noch gestattet, einige Folger-
ungen vorzuführen , welche sich nach der bisherigen Unter-
suchung aus den Mittheilungen über den leider zur Zeit für
verloren zu erachtenden ohne allen Zweifel zu den ältesten
der bisher bekannten Handschriften des sogenannten Schwaben-
spiegels zählenden Pergamentcodex für die früheste oder
wenigstens eine der frühesten Gestalten dieses
Rechtsbuches selbst ergeben.
Was zunächst das Buch der Könige anlangt, hat
Ficker mit guten Gründen ausgeführt, dass es ursprünglich
mit dem sogenannten Schwabenspiegel verbunden22) gewesen.
Dennoch — bemerkt er — erscheint es, abgesehen von den
berliner Fragmenten, in keiner der ältesten Handschriften,
und auch im 14. Jahrhunderte überhaupt nur in fünf Hand-
schriften. Der Pergamentcodex P bietet nun einen ausreichenden
21) A. a. 0. S. 167 (283) — 172 (288).
22) Ebendort S. 12 (124) Ö'.
446 Sitzung der histor. Classe vom 9. November 1867.
Beleg dafür, dass das Buch der Könige wenigstens der alten
E bereits in einer spätestens in das Jahr 1268 fallenden
Handschrift des sogenannten Schwabenspiegels mit unserem
Rechtsbuche verbunden gewesen.
Dass in ihr die im Deutschenspiegel wie in der homeyer'-
schen Handschrift des sogenannten Schwabenspiegels num. 330
erscheinende Umarbeitung derPräfatio rhythmica des
Sachsenspiegels wie des Prologus und des sogenann-
ten Textus prologi dieses letzteren Rechtsbucbes
nicht vorhanden gewesen, davon haben wir oben S. 439
und 440 gesprochen.
Dasselbe ist nach den Andeutungen auf S. 440 bezüglich
der beiden im Deutschenspiegel wie noch in der freiburger
und der bemerkten homeyer'schen Handschrift des sogenannten
Schwabenspiegels begegnenden Gedichte des Strickers
wie des in der herrenchiemsee'schen Handschrift erscheinen-
den Gedichtes des Freidank der Fall.
Fassen wir näher den Inhalt einzelner Artikel ins Auge,
soweit darüber die verhältnissmässig so geringen Einträge
in der Handschrift F einen Schluss gestatten , so erscheint
nach ihnen zu Artikel 155 des Land- und Artikel 7 des
Lehenrechtesdie vierte weltliche Kurstimme im Besitze
des Herzogs von Baiern, welcher erst durch Rasur und
Correctur getilgt ist, und auf diesem Wege im sogenannten
Schwabenspiegel — ob schon vor dem Jahre 1268, können
wir bezweifeln, vermögen es aber nach dem Wortlaute der
Einträge auf Fol. 100' und Fol. 150' nicht bestimmt zu
entscheiden — dem Könige von Böhmen hat Platz machen
müssen.
Betrachten wir einen anderen nicht unwichtigen Artikel.
Hat Laband bereits23) die lange aus Bruder Berchtolds von
23) In seinen Beiträgen zur Kunde des Schwabenspiegels S. 30
bis 32, 45 und 46.
Bockingcr: Zur Abfassungszeit des Schivabenspiegels. 447
Regensburg Predigten entlehnte Abhandlung über die
Ehe als ursprünglich für den sogenannten Schwabenspiegel
in Anspruch genommen so erwächst dieser Annahme ein
bedeutendes Gewicht dadurch dass gerade die in Frage
stehende spätestens dem Jahre 1268 angehörige Pergament-
handschrift P selbe bereits enthalten hat.
Nicht ohne Bedeutung ist sodann die Frage nach der
Eintheilung des gesammten sogenannten Schwaben-
spiegelwerkes sowohl im grossen Ganzen als in seinen
etwaigen Unterabtheilungen.
Was hier zunächst das Landrecht betrifft, machen
viele Handschriften, darunter die im Jahre 1287 gefertigte
oder wenigstens auf einer Vorlage vom Jahre 1287 fussende
lassberg'sche, ohne alle und jede Rücksicht auf einen innern
Scheidungsgrund — welcher eine Dreitheilung in L Artikel
1 bis 117, 118 bis 313 b. 314 bis zum Schlüsse rechtfertigen
würde — nach L Artikel 219 eine Abtheilung, wonach das
ganze Landrecht in zwei Theile zerfällt. Der Eintrag
in der Handschrift F auf Fol. 123 erweist diese Scheidung
als bereits in der Pergamenthandschrift P vorhanden.
Was sodann die Frage nach den Ueberschriften der
iu diesen Hauptabtheilungen erscheinenden Artikel
anlangt, ist nicht nur durch den Eintrag auf Fol. 62' und
63 zu den L Artikeln 9 und 14 erwiesen, dass die Pergament-
handschrift P solche für den ersten Theil des sogenannten
Schwabenspiegels L 1 — 117 hatte, sondern belegt auch der
Eintrag auf Fol. 116, dass sie für den zweiten von
L Artikel 118 — 313b reichenden Theil vorhanden waren.
Was weiter die Frage nach der gleichzeitigen oder
späteren Entstehung des dritten Theiles betrifft, adhuc sub
judice lis est. Bekanntlich hat Ficker sich von der letzteren
Ansicht gegenüber Laband auch noch in seiner akademischen
Abhandlung zur Genealogie der Handschriften des sogenannten
Schwabenspiegels nicht losgesagt. Entgegen hält aber auch
448 Sitzung der histor. Gasse vom 9. November 1867.
Laband die erstere seinerzeit von ihm in den Beiträgen
zur Kunde des Schwabenspiegels geltend gemachte Anschauung
noch fortwährend fest, indem er in der Zeitschrift für Rechts-
geschichte III S. 154 bemerkt, obgleich er gestehe in manchen
Punkten berichtigt worden zu sein , beharre er doch bei
gewissenhafter Prüfung der Streitfrage noch heute bei seiner
Ansicht. Die Einträge welche uns die Handschrift F über
P erhalten hat können uns für eine Entscheidung in dieser
Beziehung keinen Beleg liefern. Es findet sich unter den
leider schon bald nach dem Anfange immer spärlicher er-
scheinenden Bemerkungen zu der ganzen Partie von L Ar-
tikel 314 an bis zum Schlüsse des Land- und Anfange des
Lehenrechtes gar keine. Allerdings dürfen wir wohl annehmen,
dass das Auffallen des Mangels dieser ganzen Partie zu einer
Mittheilung hierüber Veranlassung hätte bieten müssen, ins-
besondere da sich eine solche bezüglich des Anfanges des
Lehenrechtes findet. Und insoferne liegt uns wenigstens ein
Grund zu der Annahme vor. dass wenigstens spätestens
im Jahre 1268 der dritte Theil des Landrechtes
bereits fest mit den beiden ersten verbunden ge-
wesen.
So wichtig eine Entscheidung des berührten Punktes für
die Möglichkeit einer näheren Bestimmung der
Zeit der Hauptentwicklungsstufen des sogenannten
Schwabenspiegelwerkes wäre, die eben beklagte so
geringe Anzahl der noch dazu im allmäligen Verlaufe fort
und fort sich mindernden Einträge, wie sie einerseits die
scharfe Erkennung der Gruppe hindert welche die Perga-
menthandschrift P vertreten hat, tritt sie auch dort nicht
fördernd in den Weg.
Was endlich das Lehen recht anlangt, erscheint das-
selbe nach dem Eintrage auf Fol. 148' neben dem wie bemerkt
in zwei Theile geschiedenen Landrechte ausdrücklich als
BocHnger: Zur Abfassungszeit des Schwab enspieg eis. 449
so bezeichneter dritter Theil des gesanimten soge-
nannten Schwabenspiegelwerkes.
Auch über den Schluss des Lehenrechtes selbst
entnehmen wir dem Eintrage auf Fol. 182, dass der letzte
Artikel desselben L 154 bis zu den Worten „da von daz er
desz heerschildes darbet" entsprochen hat, während uns jener
Eintrag weiter das Schlusswort in der spätestens in das
Jahr 1268 fallenden Pergamenthandschrift P in dem auf
S. 435 und 436 mitgetheilten namentlich vom vorletzten auf
den letzten Absatz zu gegen die Fassung von L 159 nicht
unmerklich gekürzten und in dieser Rücksicht mehr zu den
alten Codices germanici 21 und 23 der münchner Staats-
bibliothek wie theil weise zur ambraser Handschrift stim-
menden Wortlaute vorführt.
VII.
Wie erfreulich nun nach verschiedenen Seiten die Er-
gebnisse sind wozu wir in der vorhergehenden Untersuchung
durch die Einträge geleitet wurden welche die Hand-
schrift F aus der Pergamenthandschrift P erhalten hat, mit
um so grösserem Schmerze muss auf der andern Seite er-
füllen, dass dieses Kleinod selbst nicht zu Gebot steht. Wenn
es nicht die Ungunst der Zeiten vollends vernichtet hat, wo
es allenfalls noch zu suchen und zu finden sein dürfte, wir
vermögen darüber nichts zu bestimmen. Der letzte Anhalts-
punkt welcher uns zur Verfügung steht ist nur, dass es am
7. Februar 1609 sich zu Regensburg und zwar in Privathänden
befand. Ob die Wogen des dreissigjährigen Krieges schon
es von dort oder überhaupt hinweggespült? Ob es späterer
Zeit zum Opfer fiel? Ob es am Ende noch gegenwärtig
irgendwo innerhalb der Mauern der einstigen Reichsstadt
oder anderswo verborgen weilt und endlicher Erlösung
harrt ?
Nachforschungen in dieser Beziehung möchten im In-
450 Sitzung der Mstw. Classe vom 9. November 1867.
teresse des gegenwärtig mehr als je zu einem gedeihlichen
Abschlüsse drängenden sogenannten Schwabenspiegelwerkes
gewiss in hohem Grade angezeigt erscheinen. So wird man uns
denn schwerlich verargen wollen , dass wir mit dem nicht
ungerechtfertigten Wunsche schliessenr es möge den Männern
der Wissenschaft welche hier oder dort hiezu Gelegenheit
und Müsse haben gefallen, ihr Augenmerk hierauf zu
richten.
Herr Graf von Hundt gab:
„Beiträge zur Feststellung der historischen
Ortsnamen von Bayern, insbesondere des
ursprünglichen Besitzes des Hauses Wittels-
bach."
Einsendungen von Druckschriften. 451
Einsendungen von Druckschriften.
Vom Herrn August Grunert in Greif sioalä:
Archiv für Mathematik und Physik. 47. Theil. 3. Heft. 1867. 8.
Vom Herrn M. A. Stern in Göttingen:
Ueber die Bestimmung der Constanten in der Variationsrechnung.
1864. 4.
Vom Herrn Hermann von Meyer in Frankfurt a. M. :
Palaeontographica. Beiträge zur Naturgeschichte der Vorwelt.
17. Band. 1. Lieferung. Kassel. 1867. 4.
Vom Herrn v. Ettinghausen in Wien:
a) Die fossile Flora des Mährisch-Schlesischen Dachschiefers. 1865. 4.
b) Die Kreideflora von Niederschoena in Sachsen, ein Beitrag zur
Kenntniss der ältesten Dicotyledonen-Gewächse. 1867. 8.
c) Die fossilen Algen des Wiener und des Karpathen-Sandsteines.
1863. 8.
d) Die fossile Flora des Tertiär-Beckens von Bilin. 1. Theil.
1866. 4.
Vom Herrn Bioritz Mühlmann in Leipzig:
Untersuchung über die Aenderung der Fortpflanzungsgeschwindig-
keit des Lichtes im Wasser durch die Wärme. 1867. 8.
452 Einsendungen von Druckschriften.
Vom Herrn Matthew Ryan in Washington:
The celebrated theory of paralleles. Demonstration of the celebrated
theorem. Euclid 1. Axiom. 12. 1866. 8.
Vom Herrn E. Hegel in St. Petersburg:
a) Enumeratio plantarum in regionibus eis- et transiliensibus a Se-
menovio 1857 collectarum. Moskau 1866. 8.
b) International-Ausstellung von Gegenständen des Gartenbaues im
Frühlinge 1867 in St. Petersburg. 8.
c) Index seminum, quae hortus botanicus imper. Petropolitanus pro
mutua commutatione offert. 1866. 8.
Vom Herrn Carlo Anselm in Piacenza:
Quadratura del circolo scoperta. 1867. 8.
Vom Herrn Gustav Hinrichs in Jowa, State Jowa:
On the spectra and compositum of the elements. 1866. 8.
Vom Herrn Rudolf Wolf in Zürich:
Astronomische Mittheilungen. 22. und 23. 1867. 8.
Vom Herrn A. T. Kupffer in St. Petersburg:
Compte-Rendu-Annuel. Annee 1894: 1865. 4.
Vom Herrn Giovanni Gozzadini in Bologna:
Di aleuni sepolcri della necropoli felsinea ragguaglio 1867. 8.
Vom Herrn F. J. Pictet in Genf:
Notice sur les calcaires de la porte de France et sur quelques gise-
ments voisins. 1867. 8.
Einsendungen von Druckschriften. 453
Vom Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen in Prag:
a) Mittheilungen des Vereins. 5. Jahrg. Nr. 2— G.
6. „ „ 1. 2. 186G. G7. 8.
b) Fünfter Jahresbericht. Vom IG. Mai 1866 bis 15. Mai 1867. 8.
c) Statuten. 18G6. 8.
d) Mitglieder-Verzeichniss. Geschlossen am 7. März. 1867. 8.
Von der deutschen morgenländischen Gesellschaft in Leipzig:
a) Zeitschrift. 21. Bd. 3. Hft. 1867. 8.
b) Indische Studien. Beiträge für die Kunde des deutschen Alter-
thums. 10. Bd. 2. Hft. 18ö>7. 8.
Vom statistisch-geographischen Bureau in Stuttgart:
Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde. Jahr-
gang 1865. 1867. 8.
Von der Societä italiana di scienze naturali in Mailand:
Atti. Vol. 8. Fascic. 3. 4. 5.
„ -9. „ 1. 2. 3. 1865. 66. 67. 8.
Vom Fondazione scientifica Cagnola in Mailand:
Atti. Vol. 4. Part. 1. 2. 3. 186G. 8.
Von der allgemeinen gcschichts forschenden Gesellschaft der Schiceiz in
Zürich :
a) Archiv für Schweizerische Geschichte. 15. Bd. 186G. 8.
b) Schweizerisches Urkunden-Register. 1. Bd. 3. Hft. Bern 1866. 8.
Vom Musee Teylcr in Ilarlem:
Archives. Vol. 1. Fase. 2. 18G7. 8.
Von der Societe des sciences physiques et naturelles in Bordeaux:
Memoires. Tom. 4. 1. cahier (suite)
., 5. 1. „ 18G6. 67. 8.
[1867.11. 3.] 30
454 Einsendungen von Druckschriften.
Von der Societe imperiale des naturalistes in Moskau:
Bulletin. Annee 1866. Nr. 3. 4. 1866 8
Von der Academie imperiale des sciences, arts et helles lettres in Dijon :
Memoires. 2. Serie. Tome 12. 13. Annee 1864. 1865. 8.
Von der Societe Bolanigue de France in Paris:
Bulletin. Tom. 14. 1867 (Revue bibliographie) C. 8.
Von der Historisch Genootschap in Utrecht:
a) Kronijk. 22. Jaargang. 5. Serie. 2. Deel 1867. 8.
b) Werken. Nieuwe Serie Nr. 7. 1867. 8.
Von der American philosophical Society in Philadelphia:
Proceedings. Vol. 10. 1866. Nr. 75. 76. 8.
Von der Accademia di scienze morali e politiche in Neapel:
Rendiconto. Anno sesto quaderui di Luglio e Agosto 1867. 8.
Vom historischen Verein der fünf Orte Luzern, TJri, Schiuys, Unter-
tcalden und Zug in Einsiedeln:
Der Gescbichtsfreund. 22. Band. 1867. 8.
Von der Academie imperiale des sciences in St. Petersburg:
a) Bulletin. Tom. 11. Nr. 3. 4.
„ 12. „ 1. 4.
b) Memoires. Tom. 10. Nr. 16.
„ 11. „ 1.— 8. 1867. 4.
c) Melanges mathematiques et astronomique. Tom. 4. 8.
d) Jahresbericht am 20. Mai 1866. Dem Comite der Nikolai-Haupt-
Stemwarte abgestattet vom Director der Sternwarte. 8.
Einsendungen von Druckschriften. 455
Von der Academie des sciences in Paris:
Comptes rendus hebdoinadaires de seances. Tora. 05. Nr. 6. 7. 10. 11.
Von der meteorologischen Central- Anstalt der schweizerischen natur-
forschenden Gesellschaft in Zürich:
Meteorologische Beobachtungen. Dezember 1866. Januar Februar
*1867. 4.
Vom koninklijk Nedcrlandsch meteorologisch Instituut in Utrecht:
Meteorologisch Jaarbock voor 1866. 2. Deel. 1867. 4.
Von der kaiserlichen Universitäts-Sternwarte in Dorpat:
Beobachtungen von Dr. H. Maedler. 16. Bd. 1866. 4.
Von der Zoological Society in London:
a) Transactions. Vol. 6. Part. 1. 2. 3. 1866. 67. 4.
b) Proceedings. Part. 1. 2 3. 1866. 8.
Von der Societe des sciences de Finlande in Helsingfors :
a) Acta Societatis scientiarum Fennicae. Tom. 8. Pars. 1. 2. 1867. 1-
b) Bidrag tili Finlands naturkännedom. 10 Heft. 1867. 8.
c) Bidrag tili kännedom af Finlands natur och folk 7. 8. 9. 10 Hft.
1866. 67. 8.
d) Oeversigt af Finska Vetenskaps-Societetens. Förhandligar 6.
7. 8. 8.
Vom Istituto technico in Palermo:
Giornale di scienze naturali ed economiche. Anno 1867. Vol. 3.
Fase 1. 2. 3. 1867. 4.
Von der Royal Society in London:
a) Philosophical transactions. For the year 1866. 1867. Vol. 156.
157. Part. 1.2. 4.
30*
456 Einsendungen von Druckschriften.
b) Proceedings. Vol. 16. Nr. 87—93.
., 16. „ 94. 1866. -7. 8.
c) Fellows of tlie Society. November 30. 1866. 4.
Von der Acadcmie royale des seiences des lettres et des beaux-arts de
Belgiqxie in Brüssel:
a) Memoires. Tome 36. 1867. 4.
b) Bulletins. 35. Armee. 2. Ser. Tom. 22. 1866.
36. „ 2. „ „ 23. 1867. 1866. 8.
36. „ 2. „ „ 24. Nr. 9 et 10. 1867. 8.
c) Annuaire. 1867. 8.
d) Tables generales et analytiques du recueil des bulletins. 2. Serie.
Tom. 1. a 20. 1857 a 1866. 1867. 8.
e) Biograpbie nationale Tom. 1. 2. Partie. Lettre 13. 1867. 8.
Vom Observatoire royal in Brüssel:
a) Annales. Tome 17. 1866. 4.
b) Annuaire. 1867. 34. annee. 1866. 8.
Von der Begia Accademia di scienze, lettere ed arti in Modena:
Memorie. Tom. 7. 1866. 4.
Vom B. Osservatorio in Modena:
Bulletino meteorologico. Vol. 1. Nr. 4 — 7. 4.
Vom Ateneo Veneto in Venedig:
Atti. Serie seconda. Vol. 4. 1867. 8.
Von der k. k. Akademie der Wissenschaften in Wien:
a) Denkschriften. Philosophisch-Historische Classe. 15. Bd. 1867. 4.
b) Sitzungsberichte. Philosophisch-Historische Classe.
54. Band. Heft 1—3. Jahrgang 1866. Oktbr. Novbr. Dezbr.
55. „ „ 1 „ 1867. Januar. 8.
c) Denkschriften. Mathematisch-naturwissenschaftliche Classe. 26 Bd.
1867. 4.
Einsendungen von Druckschriften. 457
d) Sitzungsberichte. Mathematisch-naturwissenschaftliche Classe.
54. Band. 4 und 5. Heft. Jahrg. 1866. Novbr. Dezbr.
55. „ 1 „ 2. „ „ 1867. Januar. Februar.
Erste Abtheilung. Enthält Abhandlungen aus dem Gebiete der
Mineralogie, Botanik, Zoologie, Anatomie, Geologie und Pa-
läontologie. 1867. 8.
e) Sitzungsberichte. Mathematisch-naturwissenschaftliche Classe.
54. Band. 5. Heft. Jahrg. 1866. Dezember.
55. „ 1. u. 2. Heft. Jahrg. 1867. Januar. Februar.
Zweite Abtheilung. Enthält Abhandlungen aus dem Gebiete
der Mathematik, Physik, Chemie, Physiologie, Meteorologie etc.
1867. 8
fj Archiv für österreichische Geschichte. 37. Band. 1. und 2. Hälfte.
1867. 8.
Von der Je. preussiscJien Akademie der Wissenschaften in Berlin:
Monatsbericht. Juli 1867. 8.
Von der pJiysikalisch-mcdicinischen Gesellschaft in Würzburg:
Würzburger medicinische Zeitschrift. 7. Band. 5. und 6. Heft.
1867. 8.
Von der Geschichts- und altcrthumsforschenden Gesellschaft des Oster-
landes in Altenburg:
Mittheilungen. 7. Band. 1. Heft. 1867. 8.
Von der pfälzischen Gesellschaft für Phannacic etc. in Speicr:
Neues Jahrbuch der Pharmacie und verwandte Fächer. Zeitschrift.
Bd. 28. Heft. 4. Oktober. 1867. 8.
Von der l'hilomathie in Neisse:
a) 15. Bericht vom März 1865 bis zum Juli 1867. 8.
b) Geschichte der Stadt Neisse mit besonderer Berücksichtigung des
kirchlichen Lebens in der Stadt und dem Fürstenthume von
A. Kastner. 1866. 8.
458 Einsendungen von Druckschriften.
Vom Verein für Naturkunde in Mannheim :
33. Bericht. Erstattet am 23. Februar 1867. Nebst wissenschaft-
lichen Beiträgen. 1867. 8.
Von der Senkenbergischen natur forschenden Gesellschaft in Frankfurt
am Main:
Abhandlungen. 6. Bd. 3. und 4. Heft. 1867. 4.
Vom Verein für hessische Geschichte und Landeskunde in Kassel:
a) Zeitschrift Statistische Mittheilungen. 9. Supplement. 2. Liefg.
1867. 4.
b) Mittheilungen. Nr. 23. 24 und 1. 2. Dezember 1866— April
1867. 8.
c) Zeitschrift. Neue Folge. Erster Band. Heft 2. 3. 4. 1867. 4.
Von der natur forschenden Gesellschaft in Freiburg:
Berichte über die Verhandlungen. Band 4. Heft 1. 2. 3. 1867. 8.
Von der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften in Görlitz:
Neues Lausitzisches Magazin. 44. Bd. 1. Hft. 1867. 8.
Von der Universität in Heidelberg :
Jahrbücher der Literatur. 60. Jahrg. 8. Heft. August. 1867. 8.
Von der Redaktion der Sitzungsberichte der Gelehrten und Realschulen
Württembergs in Stuttgart:
Correspondenzblatt. Nr. 9. 10. Septbr. Oktbr. 1S67. 8.
Nachtrag. 459
Nachtrag zu S. 392 (Berthold).
Aus dem eben ausgegebenen Hefte des Jahrbuches f.
roman. und engl. Liter. (VIII. 213) sehe ich, dass Pateclus
nicht mehr ganz unbekannt ist, und dass sein verlornes
Werk Enueg (eben unser über de tediis) schon im Jahr-
buche VI. 223 — 224 erwähnt wurde, ferner von seiner
metrischen Paraphrasirung der Proverbia Salomonis in der
Bodleiana in Oxford (Man. Canonici 48) ein Bruchstück
von 38 Hexametern existirt, von welchen A. Mussafiaa. a. 0.
einen neuen Text aus dem in Venedig aufbewahrten hand-
schriftlichen Collectaneen des Apostolo Zeno mitgetheilt hat.
Wir sehen aus diesem der ehemaligen Saibantischen Biblio-
thek in Verona entstammenden Fragmente, dass der Name
des Autors Girard Pateg (da Cremona) geschrieben ist,
was nach Mussafias Ausführung als mundartliche Form
(Patey auszusprechen) für toskanisches Patecchio, latinisirend
Pateclo und gutlateinisch Pateculus, angesehen werden muss.
Sitzungsberichte
der
königl. bayer. Akademie der Wissenschaften.
Philosophisch-philologische Classe.
Sitzung vom 7. Dezember 18G7.
Herr Hofmann legt vor von Herrn Zingerle in Inns-
bruck :
„Bemerkungen zum Nachtsegen."
Die Sitzungsberichte der k. bayer. Akademie theilten
den in mehrfacher Beziehung merkwürdigen , .Nachtsegen"
mit und gaben sowohl bei dem Erscheinen desselben (1867.
IL 1, p. 1 — IG), als später ebenda (p. 159) höchst dankens-
werte Erläuterungen dieses namentlich in culturhistorischer
Beziehung wichtigen Denkmals. Wenn ich mir erlaube,
nochmals darauf zurückzukommen, so möchte ich nur einiges
zur Bestätigung des schon gesagten beibringen ; denn wo
eine so tüchtige Hand schon gearbeitet hat, bleibt einer
zweiten nur eine karge Nachlese über.
Zu v. 1 „das saltir deus brunnon" bietet eine Parallele
die Beschwörung in der Erzählung „Irregang und Girregang"
mit dem Verse:
[1867.11.4.] 31
462 Sitzung der philos.-philöl. Classe von 7. Dezember 1867.
,,Bi deus salter ich dich swer"1).
Wenn „brunnon" berechtigt ist, dürfte damit der
49. Psalm : „Quemadmodum desiderat cervus ad fontes
aquarum etc." oder der 136. : ,, Super flumina Babilonis"
gemeint sein. Ist aber vielleicht nicht zu lesen:
„Daz saltir deus benedictum,
daz hoyste numen divinum"?
Zu v. 6 verweise ich auf „Der Seelen Trost" 32) und
Geilers Emeis.3) Einen der interssantesten Berichte über
die Nachtfahr giebt Vintler in seiner „Blueme der Tugend",
wo er die schon aus Grimms Mythologie p. 1011 mitgetheilte
Legende vom heiligen Germanus erzählt. Da seine Dar-
stellung meist unbekannt sein dürfte, theile ich dieselbe zum
Theile hier mit. Am Schlüsse des Abschnittes über den
Aberglauben seiner Zeit sagt er:
So varen etleich mit der var
auf kelbern und auf pöcken
durch staine uud durch stocken
und fährt dann fort:
Von dem schreibt also Gregorius
in seinem puech dyalogus,
das ain pischolf was,
der hiez Germanus, als ich las,
und was gar ains hailigen leben.
nu was dem selben pischolf geben
ain ander pistum ze Ravenn
als man noch wechselt ettewenn
umb die pistum ietzund.
nu ward dem selben pabest kunt,
1) HGA. LV v. 89.
2) Zeitschrift für deutsche Mundarten I. 183.
3) Stöber. Zur Geschichte des Yolksaberglaubens. Basel 1856 p. 18.
Zingerle: Zum Nachtsegen. 463
er solt den pischolf von Ravenn
schicken in die stat ze Senn,
da er vor pischolf was gewesen
und das er da solte lesen
christenleichen glauben drat.
also für er in die stat
zu ainem wirt, der was unfro
und sprach zu dem pischolf do:
„herre mein, ich wolt dass ir
heint die nacht nicht wärt pei mir,
wann wir haben heint ze schaffen,
darzu wir nicht bedürfen pfaffen."
do sprach der pischolf: „sage an,
was haben dir die pfaffen getan,
das du si nicht leiden wilt?"
„herr do hob wir heint ain spil.
das wir sicher alle sampt
varen mit der var zehant."
do sprach der pischolf: ,,sag mir war,
was ist das, das man die var
haisset hie, mein lieber frewnt?"
„herr das tuen ich ew wol kunt,
unser seind hie in der stat
wol zwainzig, die da in dem rat
sein die pesten sicherlich.
herr, die varen all als ich."
„nu sag, mein frewnt, wo vart ^es hin?"
„herr, wir varen nach gewin.
wo uns nuer der will hin get,
da sei wir für sich an der stet."
„vart es danne ainen steg?"
„nain, es vert iederman sein weg."
,,nu wann kumpt es herwieder?"
„zu mitternacht lass wir uns nider
31*
464 Sitzung der pliüos.-philol Classe vom 7. Dezember 1867.
wider in das selbe liaus,
da wir sein gevaren aus."
„und wie gesecht es auf der strass?"
„herr, wir gesechen pass,
dann ob wir füren ze mittertag."
„nu sag an frewnt, wes ich dich frag:
esset es under wegen nicht?"
„herr, wir haben alleu gericht,
der man nuer gedenken kan.
wo wir wissen ain reichen man,
der do hat kost und wein,
da selbs da varn wir alle ein
und essen was wir bedürfen da."
„nu sag mir, lieber freunt, wa
weit es heinte varen hin?"
„ich sag euchs, herr, als ichs vernim :
wir wellen heinte ain verzeren
des mag er sich nicht erweren,
des sei wir worden in ain,
das er muss sterben an aim pain."
„nu underweise mich auch des:
was habet nuer ze reiten es?"
„herr, wir haben ze reiten gnug
iederman nach seinem fug.
ainer reit ain kue, der ander ain hunt,
der dritt ein kalb, dem vierden pald ain gais kumt,
der fünft ain pack, der sechst ain swein,
der sibent ain stul, der acht ain schrein"
„nu sag mir, zarter wirt mein,
möcht ich nicht ewr geverte sein,
das ich auch sagen kunt davon."
der wirt der sprach: „ia trawn,
ob ir sein euch biet bedacht,
ir möcht halt varen heinte nacht."
Zingcrlc: Zum Nachtsegen. 465
iirnb die zeit als tag unt naclit sich scliait
und umb die ersten hanen krait,
so solt ir kumen in mein kamer.
da vindet ir uns pei einander" etc.
Bei bicrizen v. 7 möchte ich das diabetische kritzen
(Schöpf 347) — eine Kerbe machen — herbei ziehen. Ohne
Zweifel hatte es die Bedeutung durch einen Einschnitt be-
zeichnen, und dann bezeichnen überhaupt. Vielleicht wurde
es auch mit dem Begriffe „zum Schutze, schützend bezeich-
nen" wie segnen gebraucht.
V. 9. Dient das ,,die Guten" schon zur Bezeichnung
der Eiben. Noch heutzutage ist der Name ,, Gütchen"4) ein
fast so allgemeiner Name für elbische Geister wie ,.gute
Holde." Simrock Myth. 482. In derselben Bedeutung kommt
,,guoter" auch schon in der früher genannten Erzählung
Irregang und Girregang vor:
Er solde sin ein guoter
und ein pilewiz geheizen5)
Zu v. 14 bemerke ich , dass in Mähren der Name
Skritek6) gleichbedeutend wie skreti vorkommt. Jedenfalls
möchte ich hier Schrite für gleichbedeutend mit Schrat,
Schrätle nehmen, somit für Kobolde, die auf den Wegen
sich umtreiben und den Wanderer necken und belästigen.
Zu v. 19. Vergleiche Meiers Sagen aus Schwaben
Nr. 140—158. Birlinger Sagen I, 33 ff.
V. 20. 21. Geilers Stelle lautet vollständig: Also redt
der gemein man darvon, das die, die vor den Zeiten sterben
4) Den frommen Gütchen nah verwandt. Göthes Faust II, 51.
Daemones, qui quotidie partem laboris perficiunt, curant jumenta, et
quos, quia generi humano mites sunt aut saltem esse videntur, Ger-
inani Gutelos appellant. Georg Agricola de re metallica (15G1,
XII. p. 492).
5) H G A. LV, 1002.
6) Grohmann, Aberglauben und Gebräuche Nr. 80.
466 Sitzung der phüos.-phüol Classe vom 7. Dezember 1867.
ee den das innen got hat uff gesetzt, als die, die in die
reisz lauffen und erstochen werden, oder gehenckt und ertrenckt
werden, die müszen also lang nach ireni todt lauffen bysz
das das zyl kumpt, das innen got gesetzet hat, und dan so
würckt got mit innen waz sein göttlicher will ist. Und die,
die also lauffen, die lauffen aller meist in den fronfasten,
und vorausz in den fronfasten vor weinnachten; das ist die
heiligest zeit. Und laufft yetlicher als er ist , in seinem
cleide.
Zu v. 23 „alb unde elbelin" vgl. den Anfang eines
Alpsegens: „Alp oder Eibin", den Grohmann in seinen Ge-
bräuchen Nr. 114 mittheilt.
V. 27 u. 30. Das Wort „Mahr" lebt noch in der
Volkssprache fort, s. Kuhn mark. Sagen Nr. 185. Kuhn nord-
deutsche Sagen p. 418. Wolf niederl. Sagen Nr. 249 ff.
Vgl. über Mahr Wolfs Beiträge II, 264 ff.
Ueber Trute vgl. Zingerle Sitten 36, 62, 139, 148, 166,
190. Sagen p. 337, 347, 348, 426, 427.
Truden oder Mahrsegen finden sich häufig: Grohmann
Gebräuche Nr. 113, 114, 130. Kuhn westfälische Sagen
II p. 191. Pröhle Harz -Bilder p. 80. Kuhn nordd. Ge-
bräuche Nr. 458. Grimm Mythologie 1194.
Zu v. 31 und 32 vrgl. die Verse eines Fiebersegens:
Hat dich überritten ein Mann,
so segne dich Gott und S. Cyprian;
hat dich überschritten ein Weib,
so segne dich Gott und Mariae Leib.
Wolfs Beiträge p. 256.
Zu 31 vgl. „dich hat geriten der mar." HGA.
LV, 646.
36. Wenn hier cruchen = mit einer Krücke, einem
Hacken fangen bedeutet, ist wohl an den oftgenannten
Hackemann (Curtze Nr. 61. Meier I, 149. Müller, nieder-
sächs. Sagen Nr. 90 und Anm. Stöber Nr. 324) zu denken.
Zingerle: Zum Nachtsegen. 467
In der Erzählung Irregang und Girregang kommt in der Be-
schwörung vor: „und bi Getanis krükken." H G A. LV,
1320.— Vielleicht steht aber hier „chruchen" für chriechen? —
„anehuchen" bedeutet hier wohl aufhocken, aufsitzen.
Kobolde und Geister lieben es, Wanderern aufzuhocken und
sich von ihnen tragen zu lassen, vgl. Lütolf Sagen p. 126,
Zingerle Sagen Nr. 250, 251. Pröhle Harzsagen p. 77, 117.
Grimm Sagen I, 129. Panzer I, 178. Bechstein, thüringer
Sagenbuch I, 105. Kuhn, norddeutsche Sagen p. 120. Groh-
mann Gebräuche Nr. 58.
V. 39. Der Volksglaube von der Klage, Klagemutter
(Ulula) lebt heute noch fort, vgl. meine Tiroler Sitten Nr. 367.
368. Grohmann Gebräuche Nr. 31.
V. 41. Herbrant, vrgl. Kuhn westfäl. Sagen II, 26.
„Den Dräk nennt man in Freckenhorst Herbrant. Wenn
der Hiärbrand in ein Haus fällt, so brennt dasselbe nach
sieben Jahren ab." Vrgl. Wöste Volksüberlieferungen p. 40
und Montanus p. 39. Es vertritt dies Herbrant den tirol-
ischen Alber. Herbrote ist wohl nur als Feminin zu Her-
brant zu fassen, wie vermuthlich v. 23: „alb unde elbelin"
letzteres für eibin steht. Vrgl. in einem Segen (Wolf Bei-
träge I. 254) „do mutten ihnen Alf medi Alfinne."
Zu „Molkenstellen" v. 43 vgl. Lütolf Sagen p. 575.
Zingerle Sagen Nr. 545. Vonbun p. 20. Müller, sieben-
bürgische Sagen p. 106. Wolf, niederländische Sagen p. 370.
Rochholz II, 167. Viutler sagt:
und vil iechen, man stele der chue
die milch aus der wammen.
und Geiler predigte über diesen Glauben (Stöber p. G2).
V. 45. vuzspor ist wohl eine Krankheit an den Füssen,
vgl. das volksthümliche : Maulsperr, herzgespor, herzgespör,
Schöpf Idiot. 687.
Zu v. 49 entsehen, vgl. Geiler: Item wir sahen men-
schen , die mit dem gesicht sollen ein Ding vergiften ; als
468 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 7. Dezember 1867.
dick beschicht, dasz zauberer oder hexen ein kind ansehen,
so sol es nimer guot mee thuon, und dorret und verdirbt etc.
Stöber zur Geschichte d. V. A. p. 45. Ueber das Entsehen
theilt Grohmann viele Aberglauben mit p. 155 ff.
Zu v. 50. In Patznaun schreckt man die Kinder mit
dem Waldmännlein Märzhackel und sagt: Geht nicht allein
in den Wald , sonst kommt das Märzhackel und schneidet
euch die Schinken ab. (Meine Gebräuche Nr. 18.) Hieher
beziehen kann man auch Vintlers Stelle :
So sein ettleich als behend,
das sew varen hundert meil
gar in einer kleinen weil;
sunderleich die prechen leuten ab
die pain, als ich gehöret han.
V. 51. Vom Saugen der Trude sagt Vintler:
so spricht maniger tummer leib,
die trutte sei ein altes weib
und chunue die leut saugen.
Der Glaube , dass Truden , Hexen etc. das Blut aus-
saugen, lebt noch fort. Zingerle Sagen Nr. 750. Vonbun
p. 23. Schönwerth I, 211. Grohmann Gebräuche Nr. 117,
118, 124. Vgl. auch dort das Bluttrinken in den Zauber-
segen Nr. 1144, 1248. 1300.
Zu v. 55 vgl. die Verse:
dich hat geriten der mar,
ein elbischez äs,
du solt daz übele getwäs
mit dem kriuze vertriben
HGA. LV. 646 und
nü sagä mir, elbischez getwäs.
Ebendort v. 1310.
V. 68 ist vermuthlich ,,bi dem babes olio untus = oleo
unctus" zu lesen. Der babes, wahrscheinlich steht bäben für
Zingerle: Zum Nachtsegen. 469
bäbes, oleo unctus würde verinuthlich Aaron sein, von dem
Rudolf in seiner Reimchronik sagt :
daz heilic öl er im do göz
üf daz houbet sin, daz ran
unz an den pari dem reinen man,
als an dem salter noch da stät.
Davit da von gesprochen hat:
als diu salbe, diu so schone
ran nider Aärone
von dem houbet in den part,
und vürbaz ran nach siner art
unz an sin gewandes ort.
Es wäre dann der 32. Psalm gemeint, in dem man
liest: „sicut unguentum in capite, quod descendit in barbani,
barbam Aaron, quod descendit in oram vestimenti ejus." —
V. 65. 66. Unter laudem deus ist vermuthlich der
108. Psalm mit dem Anfange: ,,Deus laudem meam ne ta-
cueris", sowie ,,bi dem voce meus" der 76.: „Voce mea
ad dominum clamavi" gemeint.
V. 73 ist ohne Zweifel „Jerusalem" zu lesen und dabei
das Himmelreich , das Jerusalem der Apocalypse zu ver-
stehen. Auch die Stadt Jerusalem wird in Segen und Be-
schwörungsformeln öfter genannt z. B. Kuhn westfälische
Sagen II, 198, 207. Birlinger I, 204. Meier Sagen 525.
Zu V. 74 „daz du vares obir mer" vgl. die Verse in
den Alpsegen : „Alle Wasser sollst du waten" (Grohmann
Gebräuche Nr. 113) „Olla Wosser woten" ebendort Nr. 114.
„Bevor du nicht gezählt den Sand im Meer" ebendort
Nr. 130 und ähnl. Grimm Myth. 1194. Haupt Zeitschrift III,
350. Kuhn westfäl. Sagen II, 191 oder im Spruche gegen
den Rothlauf, „Kommst du aus dem Wasser, geh ins Meer.
Im Meere schöpfe das Wasser, zähle den Sand, diesen Leib
aber lass in Ruh." Ebendort Nr. 1138 und ähnliche Stellen
bei Grohmann Nr. 1143, 1256, 1300.
470 Sitzmg der philos.-phüöl. Glosse vom 7. Dezember 1867.
Seit dem Erscheinen des Nachtsegens habe ich in
Konrads von Megenberg Buch der Natur (ed. Pfeiffer S. 107)
eine auf V. 61 bezügliche Stelle entdeckt, die merkwürdig
genug ist, um hier noch mitgetheilt und besprochen zu werden.
Konrad handelt im 33. Capitel von dem Erdbeben und sagt:
Nun wissen gemeine Leute nicht, woher es komme; darum
dichten alte Weiber, die sich gar klug dünken, es sei ein
grosser Fisch, der Celebrant heisse und auf dem das
Erdreich stehe. Er habe seinen Schwanz im Maule, und
wenn er sich bewege oder umwende, so erbebe das Erd-
reich. Das ist ein Riesenmärchen und nicht wahr und gleicht
wohl der Sage der Juden von dem Ochsen Vehemot.
Man sieht hier die Verquickung der germanischen Welt-
schlange (mi&garSs ormr) , die zu einem Fische geworden,
mit dem symbolischen christlichen ix&vs, der für die obige
Stelle des Nachtsegens gewiss feststeht. Das Mittelalter war
bekanntlich immer sehr darauf bedacht, „das Kind beim
Namen zu nennen." Woher er kam, und ob er passte, war
Nebensache. So wird man hier zugeben müssen, dass der
Name Celebrant nur aus einer mit dem Verse des Nacht-
segens inhaltlich identischen Stelle dem Weltungeheuer des
heidnischen Mythus aufgebracht sein kann.
Herr Dr. R. Hildebrand hat mir zu bicrizen in V. 7 fol-
gende Aufklärung mitgetheilt. „daz selbe schülkint ging in di cap-
pelle der heiligen lantgrävin unde pam .... eine rebe (Rippe) üz
dem grabe unde bekreiz sine ougen unde sine kel in spotte unde
in unglouben da mite. Koediz von Saalfeld, Leben des heil. Ludwig
78,17. Ich denke, es ist Alles klar, w.e nicht oft: der kreiz war
eine heilige Form, mit einer Reliquie beschrieb man um das zu
heilende Glied , um eine zu bezaubernde Stelle einen Kreis oder
Kreise. Zu V. 36, cruchen bemerkt er: Es bedeutet mitteldeutsch noch
jetzt und bis ins 16. Jahrhundert bezeugt, kriechen, genauer sich
ducken, sich einziehen und so wo hineingehen, zu V. 10, dass im
16. Jahrhundert Brockel bezeugt ist, „Melibocus mons der brockel
quod latine dicitur mons rupium vel confragus". Bald. Trochus
Ascaniensis vocabulorum rerum promptuarium Lpzg. 1517. d. &> Noch
bemerke ich, dass Herr Jaffe in Vers I deus bravium, in 2 numen
divinum und in 68 baben conjunctus gefunden hat, endlich, dass in
V. 58 wazzere, und in V. 75 numermer zu lesen ist.
C. Hofmann.
Zingerlc: Zur Eneide Heinrichs von VeldeJcen. 471
Von ebendemselben:
„Meraner Fragmente der Eneide von Heinrich
von Veldeken," jetzt in der Münchner
Staatsbibliothek.
Ich bin so glücklich dem neuen Quellenmateriale , das
unlängst Professor Dr. Pfeiffer zur Eneide (Wien, 1867)
veröffentlicht hat, die spärlichen Bruchstücke einer sehr alten
und werthvollen Handschrift anzuschliessen. Am 3. Oktober
d. J. schrieb mir mein Freund Dr. David Schönherr, dem
ich schon so oftmals liebevolle Förderung meiner Forsch-
ungen zu danken hatte, dass er im Stadtarchive zu Meran
auf einem Gerichtsbuche des 14. Jahrhunderts drei mit
Versen beschriebene Pergamentblätter gefunden habe und
hatte die Güte, mir dieselben zur Ansicht zu übermitteln.
Es war ein Doppelblatt und ein Einzelblatt mit Versen aus
der Eneide. Dies enthält ein Fragment, das nach Ettmüllers
Ausgabe mit V. 204.17 beginnt, jenes giebt nach Ettmüller
die Verse 240,15 — 244,10 und 260,13 — 264,7. — Leider
haben die Blätter theils durch Verschneiden , theils durch
Abnützung und Feuchtigkeit so sehr gelitten, dass viele Verse
selbst nach Anwendung von Reagentien unleserlich bleiben.
Dennoch sind uns im Ganzen circa 340 Verse einer Hand-
schrift erhalten, die jedenfalls, das Regensburger Bruchstück
ausgenommen, die übrigen an Alter übertrifft. Höchstens
könnten Pfeiffers Bruchstücke ihr den Vorrang noch streitig
machen. Die Blätter in Quart sind doppelspaltig beschrieben,
je die Spalte mit beiläufig 38 Versen. Die Schrift ist durch-
aus sehr sorgfältig, schön, ja zierlich und kann noch in das
Ende des 12. Jahrhunderts zurückreichen, spätestens gehört
sie noch dem Anfange des 13. Jahrhunderts an. Durchaus
hat sie nur langes s , nur in Eigennamen und im Anfange
472 Sitzung der plülos.-philol. Ciasse vom 7. Bezemler 1867.
der Verse macht sich manchmal grosses S bemerkbar; u
wird immer durch v oder ü bezeichnet, w durch vv, für z
steht noch immer das alte Zeichen 7 oder 7, das im 13. Jahr-
hundert nur selten mehr begegnet. *) Die schlichten Initialen
sind roth. Der erste Buchstabe eines jeden Verses ist etwas
hinausgerückt und durch ein rothes Pünktchen ausgezeichnet.
Die Eigennamen sind öfters durch grosse Schrift hervor-
gehoben z. B. PALLAS, ENEAS etc. Von andern Eigen-
tümlichkeiten ist nur die Doppellung des z und f zu bemerken
z. B. liezzen 205,18, 240,18, lazzen 205,6, »ebenmazzen 205.5,
geheizzen 242.9, grozzen 262.25, begriffet 262,22, waffen
262,27, slaffen 262,28. Statt ge findet sich oft gi z. B. gi-
waltlich 207,32, giwalt 207,29, ginesen 207,33, ginuoch
207,36, gitun 241,1, ginutzen 243,26, ginomen 260,24 u. a. m.
V. 242,31 ist, „waeren" für wem geschrieben. In V. 262,16
steht „entswebet" für entsebet, welch letzteres Wort unserm
Schreiber nicht verständlich sein mochte, da es wohl nur
im „Mitteldeutschen" gebräuchlich war. V. 262,24 ist „sel-
went" Schreibfehler fürt selwet. Unser Text stimmt mit dem
der Berliner, noch mehr aber mit der Münchner Handschrift
überein, theilt aber nicht die Wortschreibung der letztern,
welche das i manchmal schon in ei und ü in au auflöst
z. B. 241,7 smaechleiche , 241,16 stetechleichen . 261,14
saelichleiche, 244.6 durchlauchtet. 244,8 lauchte. — Wie in
den Handschriften B und M fehlen auch hier die Verse =
Ettm. 205, 21— 26 und 262, 27 — 28 und sind die'' folgenden
V.- 27 und 28 umgestellt. Wie in M sind die Verse 244, 7
und 8 auch' hier verwechselt. Ich stelle, um die Ueberein-
stimmung zu zeigen, noch folgende Belegstellen zusammen.
205,10 dar quam B M G. 206,14 stunt er B M. 206,21
der herre Pallas B M. 240.39 unzalihaft B. 240,40 Kamille
1) Germania III, 344.
Zingerle: Zur Eneide Heinrichs von Veldelcen. 473
da vaht B G M. 242,38 liaz B G H M. 243,16 do enuam
B M. 243,19 prister B. priester M. 243,20 meister BGH
M. 261,28 anegenge B G M. 261,32 niemen enmach B M.
262.33 vil misliche BMGE 262,37 enkau enmach B G
HM. 262,39 daz ich B G H M. tohter du erchennest B M.
264,1 tut dicclie B M. ze groz M B. Mit B allein hat sie die
Lesearten 206,17 vnder dem halsperge 243,9 ritterliche, gemein.
Viel zahlreicher sind die Fälle, wo unsere H S.
meist mit der Münchner allein stimmt z. B. 205,14
und 242,3 ors. 205,34 der herre P. 206,21 do lac der
herre Pallas erslagen. 206,23 veige G H M. 207,30
sit vil sere. 240,17 erstochen. 241,1 siz wol torste getün.
241,16 stetechleichen M. 242,4 selbe räch si. 242,21 niemer
me M G. 242,32 harte wol G M. 242,40 ein ritter der.
243,1 Troyanen H M. 243,2 alze na. 243,33 andere. 243,39
er mohte bezzer. 244,3 vn vor an dem. 244,4 ein granate
iochant. 244,6 durchlauchtet. 260,21 schoniu. 260,31 als/ als.
260.34 dir wol aller M G. 261,14 saelichleiche. 261,19 denne.
262,12 deD andern gewisen G M. 263,3 denne M H. 263,24
grozzer. 263,34 iesliche. 263,37 muge eh. Zu andern Hand-
schriften neigt sich unser Text selten vrgl. z. B. 204,28
wan er PI. 207,34 niwan durch daz G. 242,26 in unschöne
H. 243,26 genuzzen G. 261,6 deheine H. 261,37 bechennen
H. 262,36 von ir G H. 263,19 wie ich dir b. H. 263,20
von leide G. Manchmal weicht unsere Handschrift von den
übrigen Texten ab und ich gebe hier die wichtigeren Fälle.
204,24 wol geneset. 204,12 ander ächein sin schulde. 207,31
do der herre Eneas. 267,36 entgalt ouch crs. 240,19 unz
an (bis an G II). 240,38 -helide die da. 242,21 f «sprach.
242,23 in daz. 242,24 des ir. 242,29 bieten. 242,39 geschehen.
243,15,17 enheinen. 243,18 herre. 260,28 din wol wert.
260,30 du tusent stunt. 260,36 erchennest. 261,4 rechter
solt. 261,23 ob erz. 261,33 dehein. 262,4 weder ich tuo.
262,23 begarwe. 262,40 denne. 263,18 erfurhte. 263,34 ze
474 Sitzimg der philos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
allem Dinge i. 263,40 da vorn. Wir haben in den Meraner
Fragmenten somit einen Text, der der Münchner Handschrift
an Alter vorangeht, ja vielleicht dieser als Vorlage gedient
hat, und ein neuer Herausgeber der Eneide wird desshalb
auf unsere Fragmente immer vorzugsweise Rücksicht nehmen
müssen. Zum Schlüsse theilen wir eine diplomatisch genaue
Abschrift mit. ("Was cursiv eingesetzt ist, hat Herr Hofmann später
gefunden.) A. d. R.
I.
(= Ettmüller 204,17—205,32.)
fliehen la
v nt . . . liehen ziehen
d iv wol . . . denden swert,
20 o b ir des libes iht gert,
v nt slaht, die iueh wellent.
daz dvnchet mich baz getan,
daz ir gute knehte weset
vnt mit eren wol geneset
25 vnt rüm erwerbet,
. . . . schänden sterbet.
D o -sp'ch aber Pallas,
w ann er ein helt was :
,,ich wil . . . . verzaget.
30 der ivch da her hat geiaget,
ich wil des gedingen
vnt wil in dar zu bringen,
daz ers niht me entü .
. . . . wider sten nu,
35
den andern lege . . .
(Lücke von Vers 37—205,3.)
getorste lb
5 . . . . ebenmazzen
lazzen,
Zingerle: Zur Eneide Heinrichs von Veldeken. 475
D o sagte im Pallas
. . rehte, wer er was
vnt daz er im waere gram
10 vnt daz er durch daz dar qvam,
daz er im schaden wolde,
dvrch ander deheine sin [durchstr.] schvlde.
daz was Tvrno vil zorn,
daz ors rürt er mit den sporn.
15 alse tet ouch Pallas .
daz sine vil snel was .
er wolte im niht entwichen.
si liezzen dare strichen,
die zwene degen riche
20 . Ihten sich riterliche
. 10 . he . geliehen
si griifen . . den swerten,
des si sere gerten.
die helde vil milte
25 zerhiewen die Schilde
ze spaenen vil chleine.
si zwene waren da eine,
daz niem da bi in was .
do slüch der herre Pallas
30 . . . einen solhen slach,
. r nider lach. .
. innen .
dann noch Reime . . . erte . . . cli . . . lü.ch
(= Ettmüller 206,9—208,5.)
der maere helt lvssam lc
10 vf div knie er nider qvam
vor Pallas an den sant.
daz swert behielt er in der hant,
er moht deheinen slach er zien.
alda stynt er vf knien,
476 Sitzung der pliilos.-phüol Classe vom 7. Dezember 1867.
15 er het sich gerne erwert,
e r stach Pallas daz swert
vnder dem halsp-ge in den lip,
so daz er im lant vnt wip
i mmer me mit fride liez :
20 toten er in der nider stiez.
D o lach der herre Pallas erslagen,
den sine frivnt wol müsen chlagen,
daz er also veige was,
der ivnge künich Pallas.
25 do was der iamer vil groz,
d az er des vbele ginoz,
daz er dvrch ere dar qvam.
d er maere helt lvssam ,
ez was ein vil vbel zit,
30 erne was in stürm noch in strit
da bevor nie chomen e
noch getet sint nimmer nie.
dennoch was ez im ze frü.
er greif vil manlichen zu
35 d er helt vnbescholten.
er hete sich vergolten
da bevor allen d .
daz er mit . .
w an er het ...
hvndert m . .
207 d az half in . .
wan das man
vnt div t .
w aere er m . .
5 d az al \evsmgen tuaere
Zingerle: Zur Eneide Heinrichs von Veldeken. 477
D . . . .
10 daz . . .
vnt , . .
ein . . .
den . . .
daz . . .
15 dvr . . .
dvr . . .
daz . .
ez . . .
vnt . . .
20 mit . . .
daz was ein sma . . .
Tvrn9der helt chüne
v ergaz sin selbes sere dar ane.
e danne er eher . . dane.
25 abe dem vinger . e . im nam,
daz im sit ze vnstatten qvä.
er tet oveh bösliche
T vrnus der riche
vnt harte sinen giwalt,
30 des er sit vil sere engalt,
do der herre Eneas
sin so giwaltlich was,
daz er wol ginesen mohte sin,
nivwan dvreh daz vingerlin
35 daz er in darvmbe slücli.
damit engalt ouch ers ginüch.
D o Tvrnvs da mit vmbe giench
. sin dinch ane viench,
. im selben geviel,
. was da bi in eime kiel
208 . . schvtze mit eine pogen.
. schoz Tvrnü den herzogen
[1867. II. 4.] 32
478 Sitzung der philos.-philol. Gasse vom 7. Dezember 1867.
. . den halsp'ch in die sit .
. elben ze vbeln zite . . ,
5 . . erz mit dem libe g . . .
II.
(= Ettmüller 240,15-244,10.)
15 z e Lavrent hin wider 2a
do gelag ir vil da nider
erstochen und erslagen.
also liezzen si sich iagen
vaste vnze an daz wichüs
do sprancte 5 *
(Lücke von Vers 20—31.)
. michel gedranch
. witen gevilde.
hiwen si die Schilde
35 . . helme gute
. von dem blute
. ne gras al rot.
die helide, die da lagen tot,
die waren vnzalhaft.
s tarche Camille da vaht,
241 wan siz wol torste gitün.
do was de riter Darcvn
ein harte hobsch Troian
vnt ein riter wol getan,
5 hofsch vnt gutes willen.
er sp'ch ze frowen Camillen
ein teil smäeheliche
D orcon der riche :
„w az meinet daz, frowe maget,
10
Zingerle: Zur Eneide Heinrichs von Veldeken. 479
i ch waene ez übel ende ... 2b
15 d az ir svs gerne stritet
v nt staotichlichen ritet.
i ch sage iv waerlichen daz,
ein ander stvrm zaeme iv baz,
waere daz irs pflaeget
daz ir . . . laeget
(Lücke von Vers 20—30.)
242 D arcvn sweich do stille,
do rürte frowe Camille
d az ors vaste mit den sporn,
selbe räch si ir zorn
5 d en ir Darcon sprach,
d vrch den lip si in stach
d az er schiere tot lach,
ein sin neve daz gesach
d er was geheizzen Flemin.
(Lücke von Vers 10 — 15.)
15 bar
. . de einiv giwar
. . . Tarpite,
diu het in dem strite
r iterschefte vil getan.
20 s i stach den einen troian,
d az er nimmer me wort ensp'ch.
Camille den andern stach,
d az er tot viel in daz gras.
si sp'ch, des ir ze mute was
25 z e dem riter Darcone.
s i grüzte in vnschone.
si sprach: ,,nv lige hie!
wie getorste dv mir ie
boese rede bieten?
30 dvne darft mich niht mieten.
480 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 7. Dezember 1867.
s vs sol man chlafiaer waeren.
ich mach harte wol enbern
d iner phenninge.
nv hastv din gedinge
35 v ergolten mit dem lebene.
nvne hast dv niht ze gebene
weder rede noch schaz.
dv bist givarn in gotes haz.
Do daz also geschehen was,
do was ein riter, der hiez Arras
243 mit den Trojanen da.
Camillen reit er al ze na
verre allen den tach.
der marchte vnt sach,
5 wie si sluch vn wie si stach,
vnt wie si ir sper brach.
vn wie si ivstierte,
vnt wie si pvngierte
vnt wie riterliche sie sluch.
io : . •
das er
15 erne hetes enheinen willen. 2
do ennam frov Camille
enheiner slahte war des.
do reit der herre Chores,
der Trojaere priester
20 vnt ir e meister,
vnt was doch riter vil gut
vnt hete manlichen mut.
v ri chünde wol an riterschaft.
groz was sin giselleschaft
Zingerle: Zur Eneide Heinrichs von Veldeken. 481
25 riter vnt schvtzen.
er chvnde wol ginvtzen
beicliv buch vnt swert.
daz ross was manges pfvndes wert,
da der helt vffe saz.
30 er was gewaffent baz
danne iemen da waere
vnder den troiaere
ode in andere site
in allen dem strite.
35 se den selben stvnden
hjet er vf gibvnden
'einen heim schoene vn so lieht,
d . . . man vns niet,
d az er molite bezzer sin.
z e oberst stünt ein rvbin
244 v nt al vmbe an der liste
s maragde un amatiste
vn vor an dem nasebant
ein granat iochant,
5 ginüch groz vnt gut,
dvrchlvhtet rot sam ein blüt.
er lvhte engegen dem tage.
waz mag ich iv me sage?
d iv küniginne Camille
10
III.
(= Ettmüller 260,13—264,7.)
. . was div
eins abendes spate 3"
in ir chemenate .
15 ir tohter si fvr sich nam,
ein frowen lussam.
482 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 7. Dezember 1867.
einer rede si begvnne,
die si vil wol ehünde,
m it michelni sinne.
20 do sp'ch div kvnneginne:
,,s choeniv Lavine,
liebiv tohter mine,
nv mag ez lihte so chomen,
daz dir din vater hat ginom
25 michel gut vnt ere.
Tvrnvs der helt here,
der diner niinnen starche gert,
der ist din wol wert.
daz ist mir wol chvnt
30 vn waerest dv tüsent stvnt
als schcene vn als gut,
so ... st dv wol dinen müt
gerne an in che . . .
i ch gan dir wol aller eren
35 vnt wil daz dv in minnest
vnt daz dv wol erchennest,
d az er ein edel fvrste is.
darvmbe warn ich dich des
v mbe den helt lvssam
vnt wis Enease gram,
261 dem unsaeligen Trojan,
d er in ze tode wil erslan,
den, der dir ist von hercen holt.
dar zu hastv rehten solt,
5 daz dv im vngenaedich sis
vfi im deheine wis
(Lücke von Vers 7 — 11.)
vn wil erben 3b
dines vater riche .
o b dv saelichliche
Zingerle: Zur Eneide Heinrichs von Veldeken. 483
15 vn wol wellest tun,
toliter so minne Tvrnvm."
w arnit sol ich in minnen ?
,,mit dem herceu vn mit den sinnen."
sol ich im denne min herce geben?
20 .,ia dv." wie sol ich denne gileben?
„dvne solt ez im so geben niht."
w az ob ez nimmer geschiht ?
„vn waz, toliter, ob erz tut?"
frowe. mie mohte ich minenjnüt
25 an einen man gecheren?
„div minne sol dichz leren"
dvrch got, wer ist div minne?
„si ist von anegenge
gewaltlich vb" die werlt al
30 vnt immer me wesen sal
vnze an den ivngisten tach,
d az ir niemen enmach
d ehein wis widerstan,
w an si ist so gitau,
35 daz mans enhoeret noch ensiht"
frowe, der erchenne ich niht.
„dv solt si bechennen noch."
wan mvgt irs erbeitten doch.
i ch erbeitte es gerne, ob ich mach.
„lihte gilebe ich noch den tach,
262 daz dv vngebeten minnest.
swenne du beginnest,
d ir wiit vil liebe darzü."
ich enweiz, frowe, weder ich tu
5 dv mäht . . wesen gewis"
(Lücke von Vers 6 — 10.)
so gitan
d az ez rehte nieman 3°
den andern gewisen chan,
484 Sitzung der phüos.-phüol Classe vom 7. Dezember 1867.
d em sin herce so stet,
daz si drin nine get,
15 der so steinliche lebet:
swer aber ir rehte entswebet
vnt zu ir cheret,
vil si in des leret,
daz im e was vnchvnt.
20 si machet in schiere wünt,
ez si man ode wip,
si begriffent im den lip
vn die sinne begarwe
vn selwent im die farwe
25 mit vil grozzer gewalt.
si machet in vil diche ehalt.
s olich sint ir wafien
si benimt im daz slaffen
v n ezzen vn trichen.
30 si leret in gedenchen
v il misliche.
niemen ist so riche,
der sich ir mvge erwern
o de sin herce von ir ginern
35 noch enchan noch enmach.
nv ist des vil manich tach,
daz ich nie so vil dar abe gisp'ch"
fröwe ist denne minne vngimach?"
263 „nein si, niwan nahen bi."
ich waene, daz si stercher si,
denne div suht ode daz lieber.
si waeren mir beidiv lieber,
5 w an man . . . dem siveizze
minne tut ehalt un heisze
d er denne . . . tage rite.
(Lücke von Vers 8=13.)
Zingerle: Zur Eneide Heinrichs von VeldeTcen. 485
. . . . mich mvzze 3d
15 . en vnt vermiden.
wie solt ich die not . . erliden?
Div müter aber wider sp"ch:
„niht enfvrhte daz vngemach,
m ei che wie ich dir bescheide :
20 michel liep chvmt von leide,
r üwe chvmt nach vngimache.
daz ist ein trostlich sache.
g emach chvmt von der arbeit
d iche ze grozzer staeticheit.
25 v on röwe chvmt wünne
vnt frovde manger chvnne.
t raren machet hohen müt,
div angest machet die staete gut.
d az ist der minne zeichen :
30 lieht varwe chvmt nach der bleichen,
div vorhte git guten trost,
. . . re . . . erlost.
das darben tut daz herce riche.
z e disem dinge iesliche
35 hat div minne solhe büzze."
si ist aber von erst vil vnsüzze,
e div senfticheit müge chonf.
„t ohter, dv erchennest ir niht ze from"
Si sünet selbe den zorn;'
div qvdle ist ze groz da vorn.
264 „si tut diche vnder stunden.
d az si heilet die wunden
a ne salben vn ane tranch."
div arbeit ist aber e vil lanch.
5 ,,t ohter, daz stet an de gelüch,
s o man geqvilt ein lanch stüch
vn mit arbeiten gilept
486 Sitzung der pliilos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
Herr Hof mann legt vor:
„Eine Anzahl altfranzösischer lyrischer Ge-
dichte aus dem Berner Codex 389".
Ich gebe hier den vorläufigen Schluss meiner Mittheil-
ungen aus dem Berner altfranz. Codex 389, dem ich die
vor zwei Jahren publicirten 20 Pastourelles entnommen habe.
Noch mehr Stoff liegt im Pulte und soll seiner Zeit verar-
beitet werden. Aber, dass ich es hier schon sage, dieser
grosse Trouverecodex, die Perle der kleinen, aber unschätz-
baren Bongarsischen Sammlung, verdient vollständige und
baldige Herausgabe. Er ist für die altfranzösische Lyrik
der klassischen Zeit, was der Manessische Codex für die
Minnesinger, eine Quelle, die, wenn auch der grossen Masse
wegen nicht immer an Reinheit, so doch an Reichheit alle
andern weit übertrifft. Was ich hier gegeben, was W.
Wackernagel in den Altfranzösischen Liedern und
Leichen (Basel 1846) mitgetheilt, ist doch nur ein klein-
ster Theil dieser einzigen burgundischen Liederhandschrift,
deren Fülle man am besten aus dem Verzeichnisse aller
Liederanfänge ersehen kann, die mein Freund Paulin Paris
dem VI. Bande seiner Manuscrits francois de la Bibliotheque
du Roi S. 48 — 100 beigegeben, und das, nebenbei gesagt,
die beste existirende Vorarbeit für das Studium der Trou-
veres, wie sein Romancero frangois (Paris 1833) noch immer
die wichtigste Publication lyrischer Texte ist. — Mehrere Ver-
besserungen sind mit Cursiv gleich in den Text aufgenommen.
I.
C. Bern. 389. f. 2r.
Jeus partis. Cunes de Betunes. (was offenbar falsch ist.)
1 Amis Bertrans, dites moy le millor
d'un jeu partit, de vos le veul oir:
Hof mann: AUfranzösische Gedichte. 487
ki de s'amie auroit eü l'amor
et parleraent de li a son plaisir,
et c'elle adonc sens forfait s'en partoit
por autre ameir et pues paix refaisoit
por lui tenir de samblaut sens plux mais,
li keis valt inuelz, tous jors guerre, ou teil paix?
Sires Guichairs. saichies, ceste dolor,
ke je vos oi resconteir et jeliir,
ont autre fois eü tost [1. tuit] li pluxor.
sovent voit on ceste chose avenir,
teil dame lait son boen amin sens droit,
ke s'en repent, quant eile s'en persoit.
guerre en amors n'est prous, por ceu m'en tais.
la paix valt muels, servir a euer verai.
Amis Bertrans, li cuers urais [1. verais], por voir,
est per tout bons, ceu sai certainnement,
et eil est fols selonc le mien savoir,
ke fauce dame aimme a son essiant,
ke bien saveis, k'en reprovier dist on,
ke leires est li compans a lairon,
et eil est folz et fait gabeir de lui,
c'on sert de bordes et on festoie autrui.
Sire Guichart, or puet en bien savoir,
ke vos d'amors savois pouc ou noiant;
car je veul muelz toz jors de li avoir
k'elle m' esgairce bien debonairement
a bei semblant et a douce raixon,
c'avoir a li mellee ne tenson.
soffrirs atrait amors, certains en sui,
et orguels fait a mainte gens aniii.
488 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
5 Amis Bertrans, vostre sens n'est pais grans,
ou on vos ait, espoir, en vain chargie,
ke tout prandreis a greit com peneans.
ains ne vi home de si pou apaier;
quant d'un samblant et d'uu trespovre ris
vos puet tenir, trop estes vrais amis.
celui sembleis, cui on tolt son chaistel,
ke pues en prent decoste. 1. bei juel.
6 Sires Guichairs, jai nulz saiges amans
ne me tanrait por ceu mal afaitie,
se j'en greit pran doulz mos et biaul [1. biauls] semblantz
ains ke tot laisse, se seroit malvoistie.
aincor valt muelz avoir, ce m'est avis,
pou, ke mans [1. rians], car de ceu seux toz fis,
ke per dousor fait on savaige oxel
saige et priveit et guerpir son rivel. (riuel) = Wildheit,
rebellion)
per deu, Bertran, vos permenteis molt bei;
mais n'i aurai avant [1. auan] talent novel.
II.
C. Bern. 389 f°. 3. r°.
Jugemans d'amors. (Von Gillebert de Berneville nach Paris.)
1 Amors, je vos requier et pri,
ke vos me faites jugement
d'une amie et de son amin
ki entreameit s'ont longuement
des pues k'il furent jovencel,
or sont si grant, ke del donsei
ait on piece ait fait chevelier,
et c'est prous, mais j'o tesmoignier,
ke il ne poroit barbe avoir.
puet l'amor dureil' ne valoir?
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 489
2 „Guillebert, por verteit vos di,
ke la chose est si faitement,
ke, pues ke Tuns l'autre ait choisi,
je veul, k'il aince loiaulmant.
quant il est [l'J un et l'autre bei
l'amor ferme de mon saiel.
et quant li dui euer s'entr'ont cbier,
je les veul ensemble laissier.
eil iront outre mon voloir,
ki les en voront reruovoir."
3 Amors, se ne doutoie si
vostre ire et vostre maltalent,
jai auries la tenson a mi,
quant obei'ssies a teil gent.
ne sont digne d'avoir juel,
k'a dame soit, nes .1. cliaippel,
ne de roze ne d'auglentier [1. aiglentier]
ne lor devroit dame baillier,
et Celle ferait graut savoir,
se celui met en nonchaloir.
4 „Gillebers, por vostre merci !
pairleis un pouc plux bellement.
tuit ne sont mie si joli
com vos estes, mien esciant.
s'une dame aimme .1. garsencel,
se li semble il peirs de chaistel,
lai fais je mon droit avancier •
et ma signorie enforcier,
ke pues c'on aimme ou blanc ou noir,
tuit semble [= semblent] boen, si com je crov."
5 Amors, je croy et sai de fi,
k'elle n'ait desir ne talent
490 Sitzung der philos.-pJiüol. Classe vom 7. Dezember 1867.
ne euer, ki puist ameir celui
per enfance a comancement.
sens tricherie ou sans rivel
on ne poroit .1. sac [1. sec] paxel (= paxillus pr. paisselh
Pfahl)
faire florir ne verdoier;
niant plux puet montiplier
l'amor de lui, je V sai de voir,
ne il ne doit amie avoir.
6 „Gillebers, vos parieis ensi
com uns hom sens entendement.
se j'avoie celui trai
et vers lui ovreit faucement,
je sembleroie lou rainxel
ki se ploie a chaseun oixel,
s'en feroie moins a proixier.
vos me voleis mal consilier,
si com je croi a mien espoir.
querons, ki nos en die voir."
7 Amors, la contesse en apel,
se nuls hom, ki ait teil musel,
doit per amors dame enbraiscier.
chaistelains, veneis moy aidier !
de Biaume, tost fereis paroir
lou droit et le tort encheoir.
m.
C, Bern. 289. f°. 11. v°.
1 An .1. florit
vergier jolit
Pautre jor m'en entroie.
dame choisi
Hof mann: Altfranzösische Gedichte. 491
leis son rnari
ki forment la chaistoie,
se li ait dit:
„vilains floris,"
la dame simple et coie,
„j'ai bei amin
coente et joli
a cui mes cuers s'otroie.
ne soies de mois jalous,
maix aleis vostre voie;
car, per deu! vos sereis cous,
por riens ne m'en tenroie."
„C'est grans folors
et desonors,
dame, ke m'aveis dite;
car vostre amor
aveis mis tout
dou tout en vostre eslite.
jai en nul jor
n'eii serez [1. vos]
certes per moi despite;
maix des plusors
et des millors
en sereis vos desdite.
et se je puis, per mon chief!
vos n'en sereis pais kite,
mavaixe robe en aureis
et livrexon petite."
Vilains bossus
et malestrus
et toz plains de graipaille,
vos crolleis tous,
reposeis vous,
seeis sus vostre celle.
492 Sitzung, der philos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
je ne quier maix
avoir per vos
ne sorcot ne cotelle.
vezsi le dous tens ou vient,
ke renverdist la pree,
s'irons moi et mon ami
coillir la flor novelle."
IV.
C. Bern. 389. f° 30 v°.
Blondelz.
1 Bien c'est amors trichie,
quaat eile m'ait ocis,
ki m'ait fait sens aurie
ameir tant com fui vis.
mors sui, se m'est avis,
por ceu ke je n'ain mie
ne jaimaix en ma vie
ne serai fins amis.
2 La joie m'est faillie,
ke m'ait faite toz dis
amors per tricherie,
ke toiit avoit conquis.
lais! je m'estoie mis
dou tout en sa baillie;
or c'est de moy partie,
ja maix ne serai pris.
3 Pris? je per coy seroie,
quant je sui eschaipeis?
ne sai maix teil folie,
ke pues revient aisseis
lai, dont il est greveis.
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 493
deuö ! se jeu seu faissoie.
plux douce inort auroie;
maix trop m'en sui blaimeis.
4 Je m'en repontiroie,
se j'estoie escliaipeis.
per foit, ke je parloie,
com hom desespereis.
aiuors, cor m'ocieis!
certes, je le voldroie,
la forcu n'est pais nioie
vers vos, bien lou saveis.
5 Dame, cest douls martyre
doi je bien endureir,
ne jaimaix nostre siie
ne me puist amandeir,
se je m'en quier oster.
se me devies occire,
je ne puis pais elire
millor mort ne trouveir.
6 D'amors ne sai ke dire;
quaut muels i veul penseir,
l'une lioure me fait rire,
l'autre me fait ploreir.
jai ne m'en doit blasmeir,
maix malz talens et ire
me fait dire et desdire
et folement pairleir.
V.
C. Bern. 389. f. 31. r°.
1 Bels m'est l'ans en may, quant voi lou tens florir,
oxel chanteut doucement a 1'enseriV.
[1867.II.4.[ 33
494 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Dezember lt>67.
toute nuit veil et tressaul, ne puis dormir,
car a cen [1. ceu] m'estuet penseir ke plux desir.
molt hei ma vie,
s'a teil tort nie fait morir
rua douce araie.
2 Lais, por coy nie fait la belle mal sentir,
quant del tout seux atorneis a li servir?
je ne veul ne se ne puis de li partir,
car ne puis de ines dolors sens li guerir.
molt hei ma vie
s'a teil tort me fait morir
ma douce amie.
3 Nuls ne seit, a keil dolor je ni'en consir;
ains ne li osai mon euer del tout gehir.
siens seux et fui et serai sans repentir.
tous jors veul lou sien Service maintenir.
molt hei ma vie
s'a teil tort me fait morir
ma douce amie.
4 Deux, com sont en grant doutance de faillir
eil ki aimme de boin euer et sans trair!
losenjor, ke por noient suellent mentir,
fönt bone amor remenoir et depairtir.
molt hei ma vie
s'a teil tort me fait morir
ma douce amie.
5 Nuls ne puet de fauce amor a bien venir,
car chaseuus veult puue ameir et bien joir.
li malvaix l'ont les cortois avelenir,
Hofmann: Ältfransösische Gedichte. 495
nuls ne seit iriaix cui ameir ne cui servir.
Kiolt hei ma vie
s'a teil tort me fait niorir
ma douce ainie.
6 Tresor veul ma retrowange defineir [1. definir].
Gontier pri molt k'il la chant et faice oir.
ou pascor, quant on vairait lou bruel norir,
chevelier la chanterout per esbaudir.
or aim ma vie;
car del tout m'ait afieit
ma douce amie.
VI.
C. Bern. 389. f°. 58 r°.
Kreuzlied ohne Bezeichnung.
1 Douce dame cui j'ain en bone foi,
de loiaul euer sens jamaix arier traire,
mercit. dame, a mains jointes vos proi.
se seux croixies, ne vos doie desplaire;
desoremaix ai talent de bien faire,
aleir m'en veul a glorious tornoi
outre la meir, ou la gent sont sens foi,
ke Ihucrist firent tant de mal traire.
2 ,,Biauls dous amis. certes, se poise moi,
ains maix mes cuers ne fut si a mesaixe,
c'outre la meir vos en irois sens moi.
j'amaixe muels tous jors vestir la haire;
maix pues k'il veult a deu et a vos plaire,
je ne veul pais k'il remaigne por moi.
a mains jointes a la meire deu proi,
ke vos ramoinst et vos laist grant bien faire.''
3 Molt me mervoil, se del sen ne mervoi.
quant je dirai : .,a deu jusc'a repaire,"
a ma dame, ke tant ait fait por moi,
33*
496 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
ke lou diine n'en sauroie retraire;
maix nuls ne puet trop por damedeu faire.
quant me nienbre, que il morit per moi,
tant ai en'lui de pitiet et de foy,
riens, ke je laisse [1. lais], ne me poroit mal faire.
VII.
C. Bern. 389. f°. 59. v°.
Li cuens de Cousit. (fehlt bei P. Paris.)
1 De jolit euer enamoreit
chansonete comencerai,
por savoir, s'il vanroit a greit
celi, dont jai ne pertirai,
ains serai en sa volenteit.
jai tant ne m'i aurait greveit,
ke ne me truist amin verai.
2 Quant son gent cors et son vis cleir
et sa grant valour acoentai,
lors la trovai si a mon greit,
ke toute autre amor obliai;
si ne fut pais por ma santeit,
aineois cuit bien tout mon aie
languir, ke jai ne li dirai.
3 Raixons me blaime durement
et dist, ke ne Tai pais creü,
quant d'ameir si tres hautement
ai trop mavaix consoil eü;
maix pities ki le [1. les] vrais amans
fait estre iries lies et joians,
et [1. ce] dist, c'ancor m'estrait ran du.
4 Dame, se j'ain plux hautement.
ke mestiers ne me soit eü,
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 497
la grant bialteis. c'a vos apent,
ait si raoii couraige meü,
se vos pri mercit doucement.
VIII.
Cod. Bern. 389. f° 69 v°. (alte Foliirimg 71).
Adefrois li baistairs.
1 En novel tens pascour ke Aorist Taube espine,
espousoit li coens Guis la bien faite Aglentine.
tant jurent doucement brais a brais soz cortine
ke .VI. biaus fils en ot, pues li moustrait käme
por ceu ke inuels amait sa pucelle Sabine.
ke covant ait a mal marit,
trop sovent voit son euer marrit.
2 Li coens por sa biateit l'ania tant et tint chiere,
ke de li ne se pot partir ne traire ariere.
tant li semont ces cuers ke s'amor li requiere,
ke per devant li vient por faire sa proiere.
ke covant ait a mal marit etc.
3 „Sabine, fait li coens, vostre amor m'atalente,
la vostre vos requier, la moie vos presente;
et se vos me faillies, mis m'aveis en tormente."
et la belle respont: ,,jai deus ne le consente,
k'en soignantaige soit usee ma juvente."
ke covant ait a mal marit etc.
4 „Sabine, dist li coens, tant vos voi debonaire,
ke de vos ne me puis partir ne arrier traire,
et se vos me voleis et mes boens voleis faire,
n'ait hörne en mon pooir. s'il en voloit retraire
malvaix rnut, ke les euls ne li feisse traire."
ki covant ait etc.
498 Sitzung der philos.-philol. Glosse vom 7. Dezember 1867.
5 Tant ait li coens cloneit et promis a la belle,
ke il li ait tolut le clouls nora de pucelle,
toutes ces volenteis fait de la damoiselle.
Aglente s'en persoit, son seignor en apelle,
por pouc ke ne li pairt li cuers sous la mamelle.
ki covant ait a mal etc.
6 La dame en sospirant ait moustreit son coraige:
,,sire, por deu merci! trop m'aveis en viltaige,
ke devant moi teneis amie en soignointaige;
se nie mervoil coment me faites teil hontaige,
car onkes en moi n'ot folie ne outraige."
ki covant etc.
7 ,, Aglente, bien aveis vostre raixon moustree.
sor les euls vos comant ke veudies ma contree
et gairdeis ke n'i soit seüe la rentree;
car maintenant seroit la vostre vie outraie."
ki covent ait a mal marit etc.
8 Aglente c'est en pies, vosist ou non, drescie,
en plorant prant congie, dolente et correcie,
de ces enfans nidier a tous les barons prie,
pues les baisse en plorant et il Tont embraissie.
quant pertir Ten covient, a pouc n'est enraigie.
ke covent ait a mal marit etc.
9 La dame, a duel k'elle ot, est cheüe sovine.
quant redrescier se pout, dolente s'acliamine,
del euer vait sospirant et de ploreir ne fine.
les lairmes de son euer corrent de teil ravine
ke ces bliaus en rnoille et ces mantels hermine.
ke covant ait a mal mari,
trop sovent voit son euer marrit.
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 499
IX.
C. Bern. 389 f°. 73. r°.
1 E amerouse, belle de biaul semblaut,
deignies chanteir la chanson vostre amin
ki angoissous et pensis et trauiblans
a euer dolant de vos se departi.
bien nie peüstes veoir esbahi,
quant je vos dix: „male riens sens merci,
n'a deu n'a sains vostre cors ne comans,
ains vos deinant ma mort et bien vos di,
k"en grant torment m'avels niis, mar vos vi."
2 Lais moi cbaitif! mar la vi voirement,
mar la conu, mar m'i delitai si
en remireir son cleir vis bei et gent
et ces vairs euls ke m'ont mort et trai't.
trop durement laissiet m'ont et saixit.
quant en seux Ions, nulle lioure ne m'obli,
tous jors m'est vis k'elle me soit davant.
dormant vaillant la reclam et depri,
nes en sonjaut son nom sovent escri.
3 Li deus d'amors m'ait pris a lais coursour,
se ne li puis de son lais esehaipeir;
maix tost auroit en ris torneit mon plour,
se per amors faifc de celi ma peir,
ke deus formait por cuers de gens embleir.
nuls ne puet riens en li a droit blameir,
tant i ait sen, cortoisie et valour.
muels ain doloir por li en grief penseir,
ke d'autre avoir lou desduit ne le greit.
4 Dame plaixans. trop belle a pouc d'ator,
molt vos avient a rire et a pairleir.
vostre biaultcis voint roze et lis et flours,
500 Sitzung der pliilos.-philol. Classe vom 7. Dezemher 1867.
ne je m'en puis recroire ne laissier
de vos samblans amerous recordeir
ne des biaus euls ke tant peux compareir,
k'en esgairdeir moi firent tant bei tour.
plains de dousor les vi vers moi torneir,
mil fois le jour m'en covient sospireir.
5 Je vos ain, dame, et bien i ait por coy
je doie estre vostre loiauls amins;
car en vos sai trestous les biens et voi
ke puissent estre en cors de dame aissis.
gens cors, frans cuers, belle bouche et cler vis,
ki seroit dont vers vos fauls ne faintis,
tant eüst mal ne folie en soi?
molt m'en coentoi, quant de vos seux sospris,
k'en noble poent m'ait li deux d'amors mis.
X.
C. Bern. 389. f°. 76.
De nostre daime.
1 Fins de euer et d'aigre talent
veul un serventois comencier
per loweir et regraicier
la roine dou firmament.
de sa loenge et de son nom
muevent tuit mi lai e mi son,
ensi veul useir mon juvent
en li servir en boen espoir
de tant, com j'aurai de savoir.
2 Gabriel gloriousement
alait ceste dame noncier,
k'en li se devoit herbegier
et panre cbarneil vestement
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 501
eil ki fist Adam purement.
la virge, ke fut en frison,
lou creit et fut eiTammant
parolle chairs, et consut l'oir
ki poissance ait a son voloir.
Nes plux ke li aire se mue,
quant on i giete im esprevier,
ne muait eile a l'enchairgier
ne a naistre de son enfant.
virge portait son enfanson,
virge le tint en son giron,
virge li vit mort recevoir
et virge en paradix seoir.
S'en ceste dame eüst noient,
ke trop ne feist a preixier,
jai eil, ki tout puet justicier,
n'i fust enclos si longuernent.
mais, se tuit ierent Salemon,
home et oixel, beste et poixon,
et la loescent bonement,
ne porroient dire le voir
de s'onor et de son pooir.
Tres douce danie, a vos me rant.
se vos me voleis consillier,
je n'ai gairde de perillier
*)de nesciteit [= pr. nescietat] ne de torment.
meire a l'aignel, meire a lion
meire a vrai [1. verai] fil Salemon,
meire, ou tres tous li biens resplant,
meneis nos en vostre menoir,
ou nuls malvais ne puet menoir.
*) HS. da nerciteit.
502 Sitzung der philos.-phüol. vom Ciasse 7. Dezember 1867.
XI.
C. Bern. 389 f°. 80 v°.
Adefrois li baistars.
1 Fine amor en esperance
m'ait mis et doneit voloir
de chanteir por aligence
des inals, que me fait avoir
celle, ke bien ait pooir
d'amenuisier ma grevence;
maix paour ai et doutance,
ke per felon losengier
ne me veulle justicier.
2 Tant me piaist sa contenence
et ces gens cors a veoir
et sa tresdouce semblance,
ke veul en greit recevoir
kan ke m'i ferait doloir,
c'ades en ai remenbrance,
ke biaus servirs et sousfrance
fait fins amans avancier
et sevoir croistre et haucier.
3 Per sa tresdouce acoentance
et per son bei decevoir
fist mes cuers de moi sevrance
et prist leis le sien menoir,
tant li piaist a remenoir,
k'il aimme la demourance;
maix ains n'i out retenance,
ains crien orguel et dongier,
ki me fait colour chaingier.
4 Sovent ai ire et pesence
d'amors, ke tant suelt savoir.
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 503
or ai torneit en enfance
sa coentixe et sou savoir,
quant ceaulz met en nonchaloir,
ki por li ont mesestance,
et ceauls done recovrance,
ki se poennent de boixier
et de faulz cuers renvoixier.
Dame debonaire et franche,
bien me faites persevoir,
ke fins cuers sens repentence
ne m'i puet mais riens voloir [1. valoir].
vostres seux, saiclries de voir,
se per vos n'ai delivrance,
cui je ne puis eslongier
ne ma dolour aligier, [fehlt ein Vers.]
(Jhancon, vai ramentevoir
a la plux belle de France,
de pair moi li fai moustrance,
ke ne me sai revengier
fors ke per mercit proier.
XII.
C. Bern. 389 f°. 87.
C'est dou conte de Bair et d'Ocenin son ganre (nach P.
Paris le conte Henri de Bar).
Gautiers, ki de France veneis
et fustes aveuc ces barons,
cor me dites, se vos saveis,
keilz est la lor entensions ?
durrait maix tous jors lor tensons,
ke jai ne s vairons acordeis
ne jai ne s vairont si melleis,
ke percies en soit uns blasons?
504 Sitzung der pliüos.-philol Classe vom 7. Dezember 1867.
2 Pieres, se nostre coens Henris
en est creüs et li Bretons,
et li Bretons k'est si ozeis,
et li sires des Borgignons,
ansois ke paissent rouvexons,
vaires Baicles si raüsseis,
ke lors bobans serait mateis.
jai rois ne lor iert guerixons.
3 Gautiers, trop dure longuement
eist meneciers et si valt pou,
mal semble, k'il aient talent
d'ous vengier, si ont il per foit.
chaseun jor asembleis les voy
de loing venir atout grant gent,
bien perdent honor et argent,
quant il ne fönt ne ceu ne coi.
4 Pieres, on ait veüt sovent
mesavenir per grant desroi.
honor ont fait a esciant
et li chardenal et li roi,
ki les ait moneis en besloi
per lou consoil dame Hersant;
desore irait la paille avant,
ceu puet chaseuns penseir de soy.
5 Gautier, je ne m'i os fieir,
trop les voi lens a cest raestier.
lou bei tens ont laissiet paisseir
tant com doit plovoir et negier,
et quant plux les voi correcier
et de la cort por mal torneir,
s'en fönt 11. ou 111. demoreir
por truwe en covert raloignier.
Hof mann: Ältfranzösische Gedichte. 505
Piere, ne fönt pais a blameir
eil, ki eu partirent premiers,
k'ains pues ne vorent demoreir,
maix nostres coroneis ligiers
por lou chardenal losengier,
cui il n'oserent rien veeir,
et por ceuls de blame geteir,
firent la ferne un pou laissier.
XIII.
Aidefroi
Kant je voi et fuelle et flor
colur mueir,
c'oisilloz por la froidor
n'osent chanteir,
adonkes sospir et plor,
car conforteir
ne m'i .sai, tant sent dolor
por bien ameir,
car soffrir ne puis sens morir
cors, ki sent teil mal longuement,
car la nuit, quant me despeul
et dormir veul,
sovent meul [HS. moul]
mon lit, tant plourent mi eul.
Trop me piaist et nuit et jor
a remireir
son gent cors et sa faisson
et son vis cleir.
e lais! je cuidai en li
mercit trover.
por coi j'apris la folor,
ke je compeir.
quant jehir
C. Bern. 389 f°. 115. v°.
506 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1861
osai mon desir,
folenient a son bei cors gent,
lors ine heit et moustre orguel
et mon acuel,
c'avoir suel,
ai perdut, dont trop nie duel.
3 Son gent cors mar acoentai,
ou faut mercis,
sa biaulteit mar regardai,
por coy languis.
grief poene et dolor entrai
et asseis pis,
et sai bien, jai n'en guerrai,
ke bien m'est vis,
k'en pensant sa cbiere riant
davant moi et nuit et jor voy.
li tres bei eul de son front
en mon euer sont •
et seront,
je cuitj tant ke mort m'auront.
4 De nioy nul consoil ne sai,
tant seux sospris,
fors en vos belle, ke j'ai
mon penseir mis.
mercit tant vos proierai
com serai vis,
et bonement atandrai
com fins amis;
maix itant vos veul dire avent,
se de moy pities ne vos prent,
certes trestuit eil del mont
vos blameront
et tanront
a cruel quant lou sauront.
Hofmann: Ältfranzösische Gedichte. 507
3 Mors seux, de mercit li pri,
car certains sui,
jai n'aurai de li
coufort de mon anui,
car folement m'enbati
lai ou ne dui,
et a mon pooir clioisi
ceu, qu'iert autrui,
dont movoir
ne puis ruon voloir,
ke piece ait retint et laissait
mon euer per moi ostaigier.
a comencier
ke laissier
le peiisse de legier.
XIV.
C. Bern. 389. f°. 123. r°.
Cunes de Betunes (bei P. Paris Rom. fr. S. 89 fehlt die
4. Strophe).
L L'autrier un jor apres la saint Denise
iere a Butimeö, ou j'ai estei sovent.
remenbrait moi des gens de male guisse.
ke m'ont sus mis mensonge a esciant,
ke j'ai chanteit des dames folement;
mais il n'ont pais ma chanson bien aprise,
k'ains n'en chantai fors d'une soulement,
ke me fist taut, ke vengence en fut prise.
! II n'est pas drois d'un home desconfire,
se vos dirai bien la raison, coment:
s'on prant per droit d'un lairon la justice,
k'en afiert il a loiaul de noient?
niaut. per deu! ke raixon i entent;
mais la raixon est si ariere mise,
508 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
ke ceu, c'on doit loweir, blaiment la gent
et lowent ceu, ke li saige liioins prisent.
3 Dame, lonc tens ai fait vostre servixe.
la mercit deu! or n'en ai maix talent,
c'une autre amor ra'est el euer si asisse,
ke tous li cors m'en alume et enprant
et me semont d'ameir si hautement.
et j'amerai. ne puet estre autrement,
k'en raoy ne truis ne orguel ne faintixe,
se me metrai del tout en [1. sa] franchixe.
4 En la millor del roiame de France,
voire del mont, metrai tout mon penseir;
maix ceu me fait sovent estre en doutance,
ke sa valor ne me taigne en vilteit.
mais ceu m'en ait mainte fois conforteit,
k'el monde n'ait nulle si grant fierteit,
c'amors ne puist plaissier per sa pouxance.
XV.
C. Bern. f°. 129. r°.
Gavaron Grazelle (am Rande von anderer Hand als die ge-
wöhnliche und unsicher; es ist dieselbe Hand, welche die
zwei letzten Zeilen beifügte).
1 L'autrier lou premier jor de mai
jueir m'alai dehors Parix
con eil ki est en grant esmai
d'une amor ou j'ai mon euer mis,
s'o'i chanteir a haute voix
dame amerouse, se m'est vis:
„mes peires ne fut pais cortois,
quant vilain me donait marit.
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 509
2 Si tost com la darae escoutaj,
vers li m'en voix et pues li dix:
„dame, deus sault vo cors lou gai!
k'aveis, porcoi ploreis ensi?"
eile raoi dist: „sire, per foi!
j'ai un vilain ki m'ait trait."
3 ,,Daine, jai ne vos quier nientir,
en moy ait nn euer ainerous.
loiaul de euer seus repentir,
sens tricherie et sens folour
vos servirai com fins amis."
,,biaul sire, et je vos doing m'amor,
mes cuers vos est a bandon mis
sens penseir nulle autre folour."
4 Tout maintenant l'alai saixir,
si la jetai sor la verdor.
trois fois li fix sens defaillir
lou jeu c'on appelle d'amors.
eile moi dist: ,,biaus douls amis,
onkes mes inaris a nul jor
ne fist vers moi, je vos plevis,
por coi deüst avoir m'amor."
5 Per grant solaus, per grant deduit
me dist la belle et per' amor:
„faites le moy aincor, amis."
lors rencomensai sens demor
lou jeu, k'elle m'avoit requis ;
et g'i failli, s'en fui irous.
6 Et eile dist: „sire, per foi!
vos estes fols et jangleos.
il fait trop malvaix acoeutier
[1867.11. 4.] 34
510 Sitzung der phüos.-philol. Gasse vom 7. Dezember 1867.
home ke si est vanteou«.
fueis de ci. faulz cuers faillis!
je ne vos pris un vies tabour.
honie soit dame de prix
ke a vilain done s'amor."
dann folgt von anderer jüngerer Hand auf der leergeblie-
benen Stelle der Zeile
certes dame ne Ai'en chaut,
que ge en ai purtei la flour.
was offenbar ein müssiger Zusatz ist.
XVI.
C. Bern. 389. f°. 139. ,v°.
Anonym.
1 Lors quant l'aluelle
et la quaille crie,
chante l'arondelle,
la rose est florie,
lais ! dont sospir,
ke plux desir
la tresplux belle del mont
sens mentir,
mout me satelle [1. sautelle]
li cuers et oxelle,
quant la cuit tenir.
deux, k'en apelle,
m'en doinst la novelle
de joie a oir.
2 Se mon fol couraige
me convient a plaindre,
si baie a outraige,
n'i porai ataindre
nes por morir.
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 511
bien doi hai'r
icelle raige
ke me fait languir,
et cest damaige
k'ai per mon folaige,
quant ne Tos jehir
ne a niessaige
jor de mon eaige
n'ou ferai oir.
Prieir la voloie,
non ferai eincore,
k'aiseis tost auroie
pix ke n'en ai ore;
ains la reinir
a mes euls aisseis m'otroie
son cors a sentir
s'or la nietoie de s'amor envoie;
bien sai sens mentir,
k'iere sens joie avoir en poroie.
muels m'en veul souffrir.
Molt est debonaire,
ceu ine resconforte,
bien me sait atraire
ces cleirs vis ke porte.
longues souffrir et esbaudir
moy covient faire.
por gent signorir
Ten ne vaut gaire,
cui joie n'esclaire
sens mal soustenir.
n'en sai ke faire,
tant ain son repaire.
deux m'i doinst venir!
34*
512 Sitzung der phüos.-philol. Gasse vom 7. Dezember 1867.
5 Deux! com dure vie
est en moy enclose,
cor ne 1 seit m'amie
ne dire ne l'ose,
ke je m'esmai
et si ne sai
ke celle pense,
dont j'ai lou euer gai.
molt me tormente
celle k'est plus gente
ke la rose en mai.
bone fiance
i ai sens doutance,
ke s'amor aurai.
XVII.
C. Bern. 389. f°. 151 r°.
Robers de l'Epiz a Maheus de Gan. (sie) Jeu parti.
1 Maheus de Gans, respondeis
a moi com a vostre amin:
chanones d'Ares sereis
tot vo vivant per ensi,
ke jai amie n'aurais
awan; maix [1. ou] toute vo vie
sereis sens la chanonie.
dites lou keil vos prandeis.
2 Robers, bien seux apeuseis
de respondre a jeu parti. n
prevendes et richeces [1. richeteis]
ne tien je pais en despit;
maix muels ameroie aisseis
d'estre ameis la [1. ke] siguorie.
Hofwann: Altfranzösische Gedichte. 513
ki ke lou tiengne a folie,
iteille est ma volenteis.
Maheus, riches et moules
fait boen estre, je 1 vos di,
niolt est eil bieneüreis
ki est issus de nierci.
tous riches ameir poeis,
ceu est trop d'avoir amie.
ki aimme sens triclierie,
tout son sen ait oblieit.
Robert, d'amors recreeis,
pues c'aveis moible choisi.
cuers ki est enamoreis,
doit tout ceu nieitre en obli,
et d'autre pairt bien saveis,
c'amors ait en sa baillie
sen, honor et cortoixie,
ke inuelz valt k'estre renteis.
Maheu, mal vos deffendeis,
a muels prendre aveis failli.
se d'amie est fais vos greis,
jai pues, n'aureis euer joli.
vos desirs est achieveis,
ceaus recroit, ke maix ne prie.
requise ne deffent mie,
(Ton aint trop, grant tort aveis.
Robert, ains pues ke fui neis,
si esbahit ne vos vi,
ou la raixon n'entendeis.
avoirs vos ait si sougit,
ke jamaix bien n'amereis.
amors loiaul dru n'oblie, [HS. loiauls— oblieis]
514 Sitzung der phüos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
ne ne veult, k'en velonnie
chiece ne en povreteit.
7 Boutilliers, or i penseis,
li keils ait millor partie,
ou rieh es, ki merci krie
sa danie, ou povres ameis.
Coppin, lou keil muels loeis,
ou avoir sa druerie
del tout sens mal acomplie.
ou estre riches clameis?
XVIII.
Anonym.
1 Or cuidai vivre sens amors
des or en paix tout mon aie,
maix retrait m'ait en la folour
mes cuers, dont l'avoie eschaipeit.
enpris ai grignor folie
ke li fols enfes, ki crie
por la belle estoile avoir,
k'il voit hault el ciel seoir.
2 Coment ke je me desespoir,
bien m'ait amors gueridonei
ceu, ke je Tai a mon paoir
servie sens desloiaulteit,
ke roi m'ait fait de folie.
se si gart bien, ki [1. s'i] fie,
de si haut rnerite avoir.
3 S' [1. N'J est mervelle, se je m'air
vers amors [1. amor], ke si m'ait greveit.
C. Bern. 389. f°. 175.
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 515
deus! cor la puisse je tenir
un soul jor a ma volenteit;
eile compairroit sa folie,
si nie faice deus aie!
a morir la covenroit,
ce ma dame ne m'ooit [HS. ocit].
Hai, frans cuers! ke tant covoit,
ne beies a ma foleteit.
bien sai, k'en vos ameir n'ai droit,
s'amors ne m'i eüst doneit;
maix efforcies fais folie,
si com fait neif ke vans guie,
ke vait lai, ou il l'eüpoent,
si ke toute et [zu tilgen] esmie et fraint.
Dame, ou nuls biens ne souffraint,
merci per franchise et per grei!
pues k'en vos sont tuit mal estaint #
et tuit bien vif et aluin ey,
cognoissies, dont la folie
me vient, ke me tolt la vie?
k'a riens n'oz faire clamour
s'a vos non de ma dolour.
Chanson, ma belle folie
me salue et se li prie,
ke por deu et por s'onor
n'ait jai euls de traitor,
ke bien seivent li pluxor,
ke Judas fist son signor.
516 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
XIX.
C. Bern 389. f°. 182.
Le duchaise de Loraiane.
1 Per maintes fois aurai estei requise,
ke ne chantai ensi com je soloie,
ke tant per seux aloignie de joie,
ke je vodroie estre muels eutreprise.
[1. jai] a mien veul moroie en etail guisse
com fist celle, cui resembleir voldroie,
Dido ke fut por Eneam occise.
2 Biaus douls amins, tout a vostre devise
ke ne fix jeu, tandis com vos avoie!
gens vilainne, cui je tant redoutoie,
m'ont si greveit et si ariere mise,
c'ains ne vos pou merir vostre servise.
s' estre pooit, plux m'en repentiroie,
c'Adam ne fust [1. fist] de la pome c'ot prise.
3 Per deu, amors! en grant dolor m'ait mise
mort vilainne, ke tout le mont guerroie.
tolut m'aveis la riens ke plux ainoie;
or seux Fenix, laisse, soule et eschive,
dont il n'est c'uns, si com on le devise.
or veul doloir en leu de moneir joie,
poene et travail iert maix ma rante asise.
4 Ains por Forcon tant ne fist Anfelixe,
com je por vos, amis, se vos ravoie;
maix se n'iert jai, se aincois ne moroie,
ne je ne puis morir en itel guisse,
c'aiucor me rait amors joie proinise.
maix a mien veul se m'en repentiroie,
se por tant n'iert, c'aimors m'ait en jostice.
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 517
XX.
C. Bern. 389 f°. 190.
Anonym.
Per une matineie en mai
por moi deduire et soulaicier
a une fontenelle alai,
s'oi chanteir en [un] vergier
lou rosignor si doucement
ke tous li cuers d'amors m'esprent,
et se vi leans consillier
une dame et un chevelier.
am" er me traix seleement,
ke ne lor voloie anoier.
Ensi com je m'en retornai
per un estroitelet sentier,
une damoiselle trovai
seant en l'onbre d'un rozier.
lou chief ot blond e lou cors gent,
uns euls por traire cuers de gent,
bouche bien faite por baissier.
deus ! ke la poroit enbraissier,
et tenir nue a son talent,
jamaix de muels n'aurait mestier.
Cortoisement la saluai,
car molt me piaist a acoentier,
et li dix: „belle, je serai
vostre amis de fin euer entier.
a vos m'otroi et doing et rent,
faites vostre comandement
de moi com de vostre amin cliier.
mains jointes mercit vos requier,
518 Sitzung der philos.-phüol. Classe vom 7. Dezember 1867.
de vos ma grant lionor atent,
ke d'autre avoir ne la quier."
4 „Certes, sire, de cest present
vos doi je savoir molt boen grei;
maix uns autres a moi s'atent,
et cui j'ai euer et cors donei,
n'autre ke lui je n'amerai ;
car si fin et franc le trovai
et del tout a ma volentei,
ke jai nul jor de mon ae
de m'amor ne lou boiserai,
ains li porterai loiaultei."
5 „Belle, Pamor ke me souprant,
vient de vostre fine biaultei,
si me fait perleir folement.
or me soit por deu perdone,
ke ja maix ne vos proierai,
ne jai jor ne me recroirai
de vos ameir sens faucetei,
aincor m'aies vos refuseit,
et sai ke tout cest duel moinrai
ke jai ne m'iert gueridonei."
6 Quant vi ke n'en auroit [1. ne vauroit] noient
li proiers, si la rant a dei.
n'o gaires aleit longuement
fors c'un palis ou trespaissei
et vers lou vergier resgairdai,
et vi la tresbelle a cors gai
ke son amin ot acollei
et si li rist une bontei
davant moy, dont je grans duels ai;
maix jai per moi n'iert rescontei.
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 519
XXL
C. Bern 389. f°. 202.
Messires Ferris de Ferrierez (bei P. P. anonym aus 1989
und nur 4 Str.)
1 [Quant li roisignors jolis
chante sor la flor d'estei,
ke naist la rose et li lis
et la rousee el vert prei,
plains de bone volentei
chanterai com fins amis;
maix de tant seus esbaihis,
ke j'ai si treshaut pensei,
c'a poenes iert acomplis
li servirs dont j'aie grei.
2 Leiement ont entrepris
sil ke tant m'auront grevei,
mi fol eul volenteis,
ki tant auront esgairdei
lai, ou je n'ai mie osei
dire ke j'estoie ainins.
ieul, per vos seux je trais,
voirs est, mal avais errei;
maix or en aies merci
et tout vos soit perdonei.
3 Tout ce n'est poent ke noiant,
je ne vos puix mal voloir;
car la belle, cui j'am tant,
est si plaixans a veoir.
sovent m'en estuet doloir,
car trop me secorreis lent;
maix li rasuaigement
des grans biens, k'en cuis avoir,
520 Sitzung der philos.-philol. Gasse vom 7. Dezember 1867.
nie fönt doubleir mon talent
et servir en boen espoir.
4 Benois soit li herdemens
ke m'ait doneit teil pooir,
amors, eürs et talens
me poroient bien valoir.
tout ceu doie je voloir,
k'a li soie, ke g'i pens
voire, se j'ai tant de san,
c'on ne s'en puist persevoir,
aincor vaurait leus et tens
de ma tres giant joie avoir.
5 He deus ! quant vanrait li jors,
ke j'ai tous tens desireit,
ke ma dame per amor
m'acömplist ma volenteit?
lors auroie conquesteit
lou gueridon a estrous
de trestoutes mes dolors,
ke j'ai ades endureit.
lors auroie boen secors,
c'elle me doignoit ameir.
XXII.
C. Bern 389. f°. 226. V.
Colins Muzes.
1 Sospris seux d'une amorete,
d'une Jone pucelete,
belle est et blonde et blanchete
plux ke n'est une erminete,
s'ait la color vermoillete
eDsi com une rosete.
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 521
2 Iteile est la damoiselle.
fille est a roi de Tudelle,
d'un draip d'or ke restancelle
ot robe frexe et novelle,
mantel sorcot et gonelle
molt siet bien a la donselle.
3 En son chief sor [zu tilg.] ot chaipel d'or
ki reluist et estancelle,
saiffirs, rubis i ot entor
et maintes [1. mainte] esmeraude belle,
et m [he mi?] ke fuise jeü
amins a la damoiselle.
4 Sa seinture fut de soie,
d'or et de pieres ovreis
tous li cors li reflamboie
si com fust enlumineis.
or me doinst deus de li joie,
k'aillors nen ai ma pensee.
5 Jeu esgardai son cors gai,
ke trop me piaist et agree.
j'en moHrai, bien lou sai,
tant Tai de euer enamee.
non ferai, se [a] deu piaist,
airieois m'iert s'amor donee.
6 En trop biaul vergier
la vi celle matinee
jueir et solacier.
jai per moi n'iert obliee,
car bien [1. par mien] cuidier
jai si belle n'iert trovee.
522 Sitzung der phtlos.-pMos. Classe vom 7. Dezember 1867.
7 Leis un vergier c'est asise
la tresbelle, la senee.
eile resplant a devise
com estoile a l'anjornee.
s'ainor m'anprant et atixe
ke ens ou euer m'est entree.
8 A li resgardeir m'obliai
tant k'elle s'en fut aleie.
deus, tant mar la resgardei!
quant si tost m'est eschaipeie
ke jamaix joie n'aurai,
se per li ne m'est doneie.
9 Tantost com l'o esgardeie,
bien cuidai, k'elle fuist feie,
ne lairoie por rien nee,
k'aincor n'aille en sa contree
tant ke j'aie demandeie
s'amor, ou mes fins cuers beie.
10 Et c'elle devient m'amie
ma grant joie iert asevie,
ne je n'em penroie mie
le rouame de Surie,
car trop moinne bone vie
ki aimme teil signorie.
Deu pri, k'il men faice aie,
ke d'autre nen ai envie.
xxm.
C. Bern 389. f°. 247. V.
Colins Musez.
1 Une novelle amorete, ke j'ai
me fait chanteir et renvoixier,
Hofmann: Ältfranzösische Gedichte. 523
lou euer enamoreit et gai,
ne jai de ceu partir ne quier.
rose ne lis ne floretes de glai
ne le me fait comencier
fors la blondete, por cui je morrai,
se mercis ne m'i puet aidier.
2 Mercit dement, mercit requier,
mercit veul et merci desir.
a la blonde(te) le veul proier,
c'autre ne m'en poroit guerir,
n'autre ne m'en poroit aidier,
n'autre n'est tant a mon plaixir.
je la servirai sens dongier,
se tost ne le me veult merir.
3 Beile et blonde, je vos amerai
de fin euer loiaul et entier,
ne jai de vos ne me departirai;
muels me lairoie depecier.
en ceste bone pensee serai,
nuls ne m'en puet geteir;
maix trop me tiennent en esmai
li felon mavaix losengier.
4 Je redout tant lor encombrier,
k'ades se poenent de trair
seaus ki bien aimment sens trichier,
et jai ne s en vaires joir.
bien s'en doit blondete alongier,
c'ades veullent d'ami servir.
ne moy ne li nen ont mestier
por nostre joie departir.
524 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 7. Dezember 1867.
5 L'autrier un jor a l'entree de mai
l'oi\chanteir en un vergier;
maix onkes niais si belle ne trovai,
ceu vos poroie fiancier.
deus, tres dous deus! et keille amorete ai,
se de s'amor puis esploitier,'
ne jamaix jor sens joie ne seroie,
c' eile la nie veult otroier.
6 Je desir tant li embraissier
et li veoir et li oir,
se de li ai un douls baixier,
ne me poroit nuls mals venir,
ne me poroient forjugier
mavaixe gent per lor mentir.
coi k'il m'en doie avenir,
je Patandrai tout a loisir;
car fine amor me fait cuidier:
boens servixes ne puet perir.
XXIV.
C. Bern 389. £°. 247. r°
Le duchase de Lourainne (sie).
1 Un petit davant lou jor
me levai l'autrier
sospris de novelle amor,
ke me fait vellier.
por oblieir mes dolors
et por aligier,
m'en allai collir flors
dejoste un vergier.
lai dedans en un destor
oii un Chevalier,
desor lui en haute tour
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 525
dame ke raolt Tot chier.
eile ot frexe color
et chantoit per grant dousor
uns dols chans pitous
melleit en plor,
pues ait dit com loiauls drue :
,, Amins, vos m'aveis perdue,
li jalous m'ait mis en mue."
I Quant li chevaliers oi't
la dame a vis cleir,
de la grant dolor, k'il ot,
comance a ploreir,
pues ait dit en sospirant :
„mar vi enserreir,
dame, vostre cors lou gent,
ke doie tant ameir.
or m'en covient durement
les dous biens compaireir,
ke volentiers et sovent
me solies doneir.
lais! or me vait malement,
trop ait ci aipre torment.
s'il nos dure longuement,
tres dous deus! ke devanrons nos?
je ne puis dureir sens vos
et vos sens moy, comant durereis vos?"
Dist la belle: ,,boens amis,
amor me maintient.
aisseis est plus mors ke vis,
ki dolor soustient.
leis moi geist mes anemis,
faire le covient,
[1867. IL 5.1 35
526 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
et se n'ai joie ne ris,
se de vos ne vient.
j'ai si mon euer en vos mis,
tout ades m'en sovient.
se li cors vos est eschis,
li cuers a vos se tient.
si faitement Tai empris,
ke je serai sens repentir
vostre loiaul amie.
por ceu, se je ne vos voi,
ne vos oblierai nrie."
4 „Dame, je 1 cuit bien savoir,
tant Tai esprovei,
k'en vos ne poroit avoir
euer de fauceteit;
maix ceu me fait molt doloir,
ke j'ai tant estei,
dame, de si grant valor,
or ai tout pansei.
deus m'ait mis en nonchaloir
et de tout oblieit,
ke je ne puisse cheoir
en gringnor povreteit;
maix jeu ai molt boen espoir,
k'encor me puet molt bien valoir.
drois est, ke je lou die,
se deu piaist, li jalous morait,
si raverai m'amie."
5 „Amins, se vos desireis
la mort a jalous,
aincor la desire jeu
cent tens plux de vos.
Hofmann: Altfranzösische Gedichte. 527
il est vieis et rasoteis
et glous comme lous,
et si est niaiges [1. maigres] et pailes
et si est lais,
tant putes taiches ait aisseis
li deloiaus. li rous.
la gringnor bonteit k'il ait,
c'est de ceu k'il est cous,
et dist: „lais! tant mar fu neis,
c'aitres en ait ces volenteis.'1
drois est, ke je m'en plaing,
coment guerirait dame sens am in?"
,,Biaus amins, vos en ireis,
car je voi le jor.
desormaix i poeis
faire trop lonc sejor.
vostre fin euer me laireis,
n'aies pais paour.
c'aveuc vos en portereis
la plux fine amor.
des ke vos ne me poeis
geteir de ceste tor,
plus sovant la resgairdeis
por moi per grant dousor."
et sil s'en part toz iries
et dist : „lais, tant mar fu neiz !
dolans m'en pairt,
a deu comans je mes amors,
ki les me gairt."
35*
528 Sitzung der philos.-philol Classe vom 7. Dezember 1867.
Herr Lauth trägt vor:
„Die Achiver (Achäer) in Aegypten".
Es sind erst sieben Jahre her, seitdem ich auf einem
Bruchstücke (Nr. 112) des Turiner Königspapyrus die Spuren
der Hykschös-Dynastie ausfindig machte, welche bis dahin
als solche nur auf dem Zeugnisse Manetho's beruhte und
daher von der Kritik bald angezweifelt, bald ganz und gar
als ungeschichtlich verworfen worden war. Meine Vermuth-
ung, soweit sie sich auf das Fragment einer so arg zer-
bröckelten Urkunde stützte, schien allerdings schwach be-
gründet und weiterer Bestätigung dringend bedürftig; allein
im Zusammenhalte mit den andern vierzehn Dynastieen
jenes Papyrus ergab sich die Dynastie der Hirtenkönige mit
zwingender Notwendigkeit als die fünfzehnte, wie sie in
dem Auszuge des treuen Africauus wirklich beziffert ist. *)
Die Inschrift des Schiffsobersten Aahmes in El-Kab 2), welche
1) Wie trotzdem Hr. Knoetel in seinem „Cheops der Pyramiden-
Erbauer" und in seinem Aufsatze im Khein. Mus. 1867 fortfahren
kann, alle Könige Aegyptens von der IV.— XXVIII. Dynastie zu
Hykschos zu stempeln, ist unbegreiflich.. Wenn Herodot II. 128
von den Pyramiden-Erbauern sagt: rovrovg vno fxiatog ov xtiqxa
Skkovai Aiyvnxioi wofici^Biv, JMk xal rüg nvQaftidag xaUovdi -noiy.ivog
&iXi'(ff)xiog, og xovxov xov xqvvov ivs/xs xxtjvstt xaxd ravxcc tu /wpi'er,
so unterscheidet er ja ganz bestimmt die Könige Cheops und
Chephren von den Hirten.
2) Hr. Chabas hat die Kichtigkeit des Ausdrucks 'Yxcwg (Euseb.
'Yxovoowg cf. Jos. dx — vx = ai^fiakayroi — es ist die mit der Nord- I
pflanze anlautende Gruppe haq vincire) bezweifelt, weil sie hier i
mena kopt. mone = pastor genannt seien, vergessend, dass I
schasu eiu acht ägypt. Wort ist und den Wandernden oder No- 1
maden bedeutet. Das Szepter haq ist noch in unserm Bischofs-
stabe getreu erhalten.
Lauth: Die Achiver in Aegypten. 529
De Rouge schon vorher übersetzt hatte, lieferte das Binde-
glied zwischen dem Schlüsse der Fremdherrschaft und dem
Haupte" des Neuen Reiches: Amosis, der nach einer Stele
im Mokattamgebirge (von seinem 22. Jahre datirt) die Stein-
brüche von Rofui (Kopt. Liui das ägypt. Troja-Tura) zur
Wiederherstellung der Tempel von Memphis und Theben
ausbeutete, also wieder im Vollbesitze des Landes sich be-
finden musste. Der wichtige Papyrus Sallier I. bestätigte
dieses Ergebniss, indem er einen zuerst gesandtschaftlichen
Verkehr zwischen Seqenen (Soikunis des Eratosthenes), dem
unmittelbaren Vorgänger des Amosis, und dem letzten
Hirtenkönige Apophis erzählt, woraus zuletzt der Ent-
scheidungskrieg und die Vertreibung der Hykschos aus
Aegypten erfolgte.
Seitdem hat Mariette durch seine Ausgrabungen in
Tanis , durch die Porträtsphinxe mehrerer Hirtenkönige,
durch die Auffindung eines vollständigen Namenprotokolles
von Apophis, den Beweis erbracht, dass ich Recht gehabt
hatte, die ausländische Herrschaft der Hirten als eine ge-
schichtliche in vollem Sinne des Wortes aufzustellen. Ja,
eine von ihm aufgefundene Stele enthält, ausser andern
werthvollen Angaben, die bis jetzt einzig dastehende Er-
wähnung einer Aera. Ein Beamter, Namens Seti, stiftet
unter der Regierung Ramse's II. (Sesostris) das betreffende
Denkmal und datirt es mit dem Jahre 400 eines Königs
Set-Nubti, in welchem ich den Vorgänger des Apophis
erkennen zu dürfen glaubte. Man begreift so auch, warum
auf einer Statue des grossen Ramses II. dieser König ein
„Liebling des von Apophis in Havaris durch einen Tempel
geehrten Sutech'" (Baal) genannt werden konnte. Wir be-
sitzen somit eine annähernde Bestimmung des Zeitabstandes
zwischen den Hirten und dem Ende der XVIII. Dynastie,
und da die Dauer der Hykschosherrschaft in runder Summe
260 Jahre betrug, so ergiebt sich für den Anfang ihrer In-
530 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
vasion das Jahrhundert 2100—2000 vor unsrer Zeitrech-
nung. In der That bemerkt Manetho bei dem ersten Wahl-
fürsten der Hirten: Salatis, er habe Havaris (Ha-vare
.,Haus der Flucht") hauptsächlich gegen die damalige Ob-
macht der Assyrier befestigt.
War somit dieses Ergebniss für den nationalen Ge-
schichtschreiber Manetho und die Aegyptologie ein äusserst
günstiges zu nennen, so zeigte eine Entdeckung des H.
Chabas, dass auch die Bibelerklärung aus der neuen Wissen-
schaft Nutzen ziehen kann. Dieser scharfsinnige Forscher
identifizirte nämlich die dreimal genannten ,,Aperiu, welche
Steine schleppen zu dem Baue der Stadt Ramses" — mit
den Ebräern, welche nach Exodus I bei den Arbeiten der
Städte Pithom und Ramses Frohndienste leisten mussten.
Eine Steinbruchinschrift von Hamamat zeigte die nämlichen
Aperiu als ziemlich zahlreiche Bergbaucolonie und ein noch
unedirter Papyrus (im Besitze des Herrn Harris) spricht
von ., Aufsehern oder Edlen (marina) der Aperiu".
Man glaube nicht, dass dieses Resultat, so natürlich es
jetzt auch scheinen mag, ganz mühelos zu erreichen war.
Es mussten zuerst durch gesunde Kritik die Hindernisse be-
seitigt werden, welche der unbesonnene Eifer von Enthu-
siasten wie Lenormant und Heath aufgethürmt hatte. Diese
waren nämlich der Ansicht, das Volk Israel werde durch
die so häufig erwähnten Semat- Leute als Semiten be-
zeichnet. Allein Hr. Chabas hat siegreich nachgewiesen,
und ich konnte in meinem Vortrage zu Augsburg 1862 sowie
in meiner Abhandlung über den Bokenchons der Münchner
Glyptothek seinen Fund bestätigen, dass jene Semat- Leute
nichts anderes waren als Tempelhörige, also nicht ein-
mal nothwendig Ausländer, abgesehen davon, dass der Name
Semiten eine ganz moderne Formation der Gelehrten ist,
welche damit die Abkömmlinge des biblischen Sem im
Gegensatze zu den Chamiten und Japhetiten bezeichnen.
Lauth: Die Achiver in Aegypten. 531
Eine ähnliche Barre war durch missverständliche An-
wendung einer Hieroglyphe vor die Erkenntniss des wahren
Namens der Griechen oder Jon i er3) in ägyptischen
Texten gelegt worden. Weil nämlich in dem Namen der
Königin Arsinoe der Vokal i auch durch das Auge (iri)
vertreten erscheint, so glaubte man den Volksnamen, der
mit Auge Hase Adler geschrieben wird, Juna lesen und auf
die Jonier deuten zu müssen. Das fragliche Volk bildet
einen Bestandteil der grossen vorderasiatischen Confoedera-
tion gegen Ramses II, dessen Heldenthaten gegen dieselbe
im Papyrus Sallier III. von dem Dichter Pentaur besungen
werden (auch die ägyptische Ilias genannt). An und für
sich betrachtet, würden zu den Joniern, als Bewohnern
Kleinasiens, die folgenden Völker als Verbündete nicht übel
passen: Die Cheta und Kaschkasch (anderwärts Kar-
kischa, entsprechend den Chithi und Girgaschi (Josue
24,21), die Masa oder Maausa den Mas-Mysiern (1 Moses
10.20), Chirabu dem Chalybon, Qadesch dem häufigen
Qodesch (Heiligthum), Luka den Lykiern, Aradhu den
Bewohnern von Aradus, die Dardani auch Dandani,
(Dodanim?) den Dardanern, Patasu dem niföctdog, Qar-
qamascha dem Karkemisch (Circesium). Ueber die
Akerit oder Aktera, die Qazawatana und die oben an-
gedeuteten Ariuna, die vermeintlichen Juna, fehlen uns
bis jetzt Anhaltspunkte zur Vergleichung mit biblischen oder
classischen Völkernamen. — Ich habe in einem Aufsatze der
„Zeitschrift für ägyptische Sprache und Alterthumskunde::
nachgewiesen, dass die Verwendung der syllabischen Hiero-
glyphen zu Buchstaben nur in der aenigmatischen Schreib-
art vorkommt, dass somit jener Volksname Ariuna, nicht
Juna zu lautiren ist. Damit fallen nun zwar die Jonier
3) Die jonischen Hirtenkönige Champollion's beruhten auf einer
falschen Lesart von Goar, dem ersten Herausge!>er des S^ucellus.
532 Sitzung der phüos.-phüöl. Classe vom 7. Dezember 1867.
hinweg; aber es fragt sich, ob wir sie nicht unter einer
andern Namensform doch antreffen, die sogar bis in die
Zeit der XI. Dynastie (2600 v. Chr.) zurückreicht.
In dem Programme, dessen Abfassung mir für das
eben abgelaufene Schuljahr zugefallen war, habe ich, unter
dem Titel ,, Homer und Aegypten" die Beziehungen zwischen
dem ältesten Dichter der Hellenen und dem Pharaonenlande
nachzuweisen gesucht. Wenn ich in Betreff des Namens der
Jonier und anderer im Verlaufe dieses Aufsatzes mich öfter
auf diese meine Untersuchung berufe, so wird man mir diess
nicht als den Versuch einer Reclame für ein Buch miss-
deuten. Denn das gedachte Programm ist nur in der bei
den Anstalten üblichen Auflage erschienen, dem eigentlichen
Büchermarhte also von vornherein entzogen. Aber gerade
dieser Umstand möchte es rechtfertigen, dass das grössere
Publikum, welches sonst nicht leicht damit bekannt werden
dürfte, mit Hülfe der wissenschaftlichen Sitzungsberichte der
kgl. Akademie auf die Resultate der neuesten Forschungen
aufmerksam gemacht wird.
Unter dem vorletzten Könige der XI. Dynastie: Sanch-
kera, den mir in meinem „Manetho" sowohl der Turiner
Königspapyrus als die jüngst entdeckten Tafeln von Abydos
und Saqqarah urkundlich an die Hand gaben, erscheinen die
fremdländischen Haunebu (so las man bisher) als eine be-
siegte Völkerschaft zum ersten Male. Von da an treffen
wir sie in allen Perioden der ägyptischen Geschichte in feind-
licher Berührung mit den Pharaonen, bis sie zuletzt durch
Alexander den Grossen und die Dynastie der Ptolemäer als
s iegreiche Eroberer im Nilthale erscheinen und sich drei
Jahrhunderte hindurch behaupten. Aus dieser Zeit stammen
die zweisprachigen Inschriften von Rosette und Tanis, aus
denen wir die Gewissheit schöpfen, dass jene Haunebu
nichts anderes sind als die Hellenen. Der demotische
Text des Decretes von Rosette gebraucht die Namensform
Lauth: Die Achiver in Aegypten. 533
Uinen, woraus dann das koptische Ueinin abgeleitet ward.
Da die jüngere Schriftart des Demotischen sich an die Hiero-
glyphen an^chliesst, so niusste die Voraussetzung entstehen,
dass Uinen aus Haunebu durch Abschleifung sich gebildet
habe. Ich übergehe die verschiedenen Versuche, die man
angestellt hat, um beide Formen mit einander zu ver-
mitteln, und wende mich sofort zu dem Ergebnisse, zu wel-
chem ich in meinem oben erwähnten Programme gekommen
bin. Auf Grund einer alphabetischen Litanei an die Hathor
(Venus) zu Denderah, wo der streitige zweite Bestandtheil
(nebu) unter den Anlaut v gestellt ist, nahm ich eine alte
Metathesis bei der Aussprache des Sylbenzeichens nebu an
und fand mich dazu durch das Dinkawort ben (Herr) =
neb (dominus) sowie durch analoge Fälle bestärkt. Der aus
dem Papyrus Grey bekannt gewordene Name eines Grabes:
Ovvccßovvovv zerlegt sich , wie neuere Denkmäler beweisen,
in T-hy-nab-unun ,,das Haus des Nabunun" (Priesters der
Hathor). Daraus würde, mit Zulassung der Metathesis, die
so häufig sich geltend macht, für das fragliche Zeichen sich
die Lautung ban oder van ergeben. Die Bedeutung an-
langend, so erhielten wir für Hau-vanu ,,die hinter den
Wassern". Die Vermittlung mit Javan, Javones, Jones unter-
liegt alsdann keiner weiteren Schwierigkeit.
Aber wozu, könnte Jemand fragend einwerfen, der müh-
same Nachweis eines classischen Namens mit Hülfe ägyp-
tischer Texte, zumal das Ergebniss doch noch zweifelhaft
genannt werden muss? Was letzteren Einwand betrifft, so
ersehe ich aus einem erst unlängst ausgegebenen Werke:
„Die Chronologie des Manetho" von G. F. Unger p. 145,
dass auch ein Anderer unabhängig und vielleicht aus anderen
Gründen auf die nämliche Ansicht in Betreff der Hauvanu
= 'Idfoveg gerathen kann. Anlangend den Zweck dieses
Nachweises, wird es hoffentlich vor gebildeten Lesern, wie
ich sie bei diesen Blättern voraussetze, nicht erst einer Ent-
534 Sitzung der phüos.-phüol. Classe vom 7. Dezember 1867.
schuldigung bedürfen, wenn ich versuche, dem Stamme der
Jonier, dem wir so Vieles verdanken, seine Stelle unter
den von den uralten Aegyptern gekannten und genannten
Völkern anzuweisen. Auch erheischt die neue Fackel,
welche die Pfahlbauten4) über die Ureinwohner Europa's
angezündet haben, eine gründlichere Prüfung der ältesten
Monumentalquellen, die uns zu Gebote stehen.
Mit Uebergehung des Danaos und der andern zu
Aegypten in Beziehung gesetzten Einwanderern Griechenlands
und mit Beiseitelassung des für mythisch geltenden Zuges
der Argonauten nach Kolchis, wende ich mich gleich zu der
Frage: Lässt sich in den vor den trojanischen Krieg fallen-
den Zeiten auf einem ägyptischen Denkmale ein griechischer
Stamm genügend nachweisen? — Selbstverständlich kann
hierauf nicht ein mehr oder minder wahrscheinlicher An-
klang von Namen, sondern nur ein zucammenhängender
Text die Antwort geben. Es trifft sich für die allgemeine
Orientirung recht günstig, dass das betreffende Denkmal5)
dem Meneptah angehört, d. h. jenem Pharao, unter den
man den Exodus der Kinder Israels anzusetzen vielfach be-
rechtigt ist, so dass über den Zeithorizont des geschilderten
Ereignisses kein Zweifel besteht , wenn auch die spezielle
Chronologie dieses Königs bis jetzt nicht endgültig bestimmt
werden kann6).
In einem für die Zeitschrift der Deutsch-Morgenländi-
schen Gesellschaft nach Leipzig eingesendeten und jetzt er-
schienenen Artikel hatte ich schon zu Ostern dieses Jahres
4) Vergl Herodot. V, 16.
5) Von Lepsius, Brugsch und jetzt vollständiger von Dümichen
veröffentlicht in seinen Histor. Inschr. Taf. I — VI.
6) Meneptah ist der 13. Sohn und unmittelbarer Nachfolger des
Eamses II. Miamun Sesostris, von dem Aristoteles Polit VII. 9 sagt:
noXv yccQ vntQTiivti roig xq6voi$ ti\v Alivw ßaoiXiiav t] 2'f a w ar qi of.
Lauth: Die Achiver in Aegypten. 535
die ganze Inschrift analysirt und übersetzt; einzelne Theile,
zum Beispiele gerade die fremden Völkernamen , habe ich
meinem Programme ,, Homer und Aegypten" einverleibt. Je
wichtiger diese neuen Namen für die Ethnographie und Ge-
schichte der sog. vorhistorischen Zeiten mir erscheinen mussten,
desto grössere Vorsicht glaubte ich anwenden und desshalb
meine Identifikationen vorerst nur als Vermuthungen bieten
zu sollen. Wenn ich sie heute mit etwas grösserer Zuver-
sicht ausspreche, so veranlasst mich dazu der Umstand,
dass unterdessen ein französischer Aegyptologe ersten Ranges,
kein Geringerer als Herr Vicomte de Rouge7) selbst, in
vollkommen unabhängiger Weise, wie ich meinerseits, zu
den nämlichen Lesungen und Deutungen jener Völkernamen
gekommen ist. Und zwar nicht auf Grund des lautlichen
Anklanges, sondern geleitet von dem Inhalte und Zusammen-
hange des Textes. Wo sich Abweichungen finden , rühren
sie von der Verschiedenheit der Copien her, die wir beide
dabei benützten. De Rouge konnte seine eigne an Ort und
Stelle gemachte Abschrift zu Rathe ziehen, während mir
Dümichen's „Historische Inschriften" vorlagen.
War der Einfall der Hykschos von Osten her erfolgt,
und zogen sie, wie später die Kinder Israels, die man nicht
mehr, wie es früher geschehen ist, als identisch mit ihnen
ansehen kann, in derselben Richtung nach Asien zurück, so
versetzt uns der 77 Columnen betragende Siegesbericht Me-
neptah's an das entgegengesetzte Ende des Delta, nämlich
in einen Memphis benachbarten Gau auf dem westlichen Ufer
des Niles. Der Pharao spricht in den sechs ersten Vertikal-
streifen von der Conföderation der feindlichen Völker, —
die wir der Reihe nach später zu betrachten haben werden —
von seinem Siege über dieselben mit Hülfe Amon's und
7) In der Revue archeol. p. 45 des Juliheftes.
536 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 7. Dezember 1867.
aller andern Schutzgötter, sodann von der grossen Gefahr,
welche das Land Aegypten bedroht hatte, indem die Invasion
der fremden Eindringlinge Schutzmassregeln fürMemphis und
Heliopolis nöthig gemacht hätte. Die Erwähnung der
letztern Stadt unter der Form Nu-n-Tum „Stadt des Tum"
woher auch, beiläufig bemerkt, die Variante Nov&wix für
Etham bei den LXX erklärlich wird, muss auffallen, da der
Angriff von Westen aus geschah. Allein eine weitere Stelle
des Textes belehrt uns (col. 19), dass die Feinde nicht bloss
zu Lande die Gefilde von Kemi (Aegypten) betraten, sondern
auch durch den Fluss (atur) in das Innere zu gelangen
wussten. Schon dieser Umstand setzt voraus, dass den Ver-
bündeten Schiffe zu Gebote standen, ein Postulat, das
durch den weiteren Verlauf mehr als befriedigt wird.
(Col. 7) Die Feinde lassen sich nieder unter Zelten 8) im An-
gesichte der Stadt Pabari auf einem Terrain, das wegen der
Einfälle der Neunvölker schon seit alter Zeit öde nnd den
Viehheerden als Weideplatz überlassen war ; die Bevölkerung
hatte sich daraus zur Zeit der unterägyptischen Könige
(d. h. des Hykschoseinfalles ?) in die Mitte ihrer festen
Plätze zurückgezogen und durch einen Wall abgesperrt, aus
Mangel an Soldaten und Miethlingen. Aber der Pharao
„Meneptah, sitzend auf dem Throne des Horus, schützte
seine Unterthanen mit mächtigem Arme; er entsandte Fuss-
truppen und Streitwagen und Kundschafter nach allen Richt-
ungen, er der Gepriesene im Munde der Menschen, der
nicht nöthig hat Hunderttausende am Tage der Schlacht".
Die Kundschafter bringen die Meldung, dass „der nichts-
würdige und verworfene Grosse des Landes Lebu (Libyen):
Marmeriu, Sohn des Dide sich dem Lande der Tha-
hennu (westlich vom Delta) nähere mit seinen Miethlingen
8) ahel (^nx). De Rouge's Copie bietet dafür Chennu.
Lauth: Die Achiver in Aegypten. 537
und den Fremdvölkern: Schardana, Schakalscha, Aqai-
wascha. Leku, Tuirscha. In der Lücke des Textes
standen vermuthlich die später erwähnten Maschawascha
und Qahaqa. Diese 8 Völker also begannen die Feind-
seligkeiten, und dass es hiebei nicht auf einen vorüber-
gehenden Raubzug , sondern auf förmliche Ansiedelung in
Aegypten abgesehen war, beweist der Zusatz, dass ein Theil
der Bundesgenossen, die Tuirscha, Weiber und Kinder mit-
gebracht hatten (col. 14). Die Verbündeten machten rasche
Fortschritte : eine neue Meldung berichtet, dass sie die West-
grenze des Reiches auf den Gefilden von Paari (II. Gau
des Delta) erreicht hätten. ,,Da ward seine Majestät wüthend
wie ein Löwe" gegen seine Grossen, die es an Wachsam-
keit hatten fehlen lassen , und er richtet an sie die strafen-
den Worte : „Vernehmet meine Reden und beobachtet, was
ich euch zu wissen thue, nämlich: Ich bin der Fürst, der
euch leitet und meine Kurzweil ist aufzufinden (die Mittel-
Lücke) um euch zu erhalten, wie ein Vater seine Kinder,
ernährend eure Leiber wie die von Mastgänsen. Aber ihr
erkennet nicht das Gute, das er euch erweist, erwiedert
nicht (seine Sorgfalt) ! Das Land wird verwüstet, offen steht
es dem Angriffe einer jeden Fremdrage; die Neunvölker
(Heiden) plündern seine Grenzbezirke , die Unreinen über-
schreiten sie jeden Tag; die Seeräuber (?)9) berauben die
Stationen, dringen ein in die Gefilde von Kemi durch den
Strom (c. 19). Siehe sie verweilen Tage, ja Monate lang
ruhig sitzend darin. So haben sie erreicht den Berg von
Heseb (sonst auch uta gelesen, und als wein reich ge-
schildert) — und zerstreuen sich auf dem Bezirke von
Toahe (Heptanomis); wohl nie hat man aber solches, seit
es Könige des Oberlandes gibt, in den Annalen der anderen
9) Leider in einer Lücke des Textes verschwunden !
538 Sitzung dtr philos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
Zeiten gekannt : sie kriechen wie die Schlangen, nicht gibt
es, die mehr in ihren Bauch thun; sie begehren nach Tod
(Mord), hassend das Leben; ihre Verwegenheit ist höher
als das Firmament. Ihr Grosser beschäftigt sie mit Ver-
wüstung des Landes , indem sie kämpfen, um ihren Bauch
zu füllen allezeit. Sie ziehen wider das Land Kemi, um zu
suchen den Unterhalt ihrer Mäuler; ihre Herzen verlangen
nach meinen Tributen, wie ein Netz nach Fischen. Ihr
Grosser (Führer) benimmt sich wie ein Hund (wau-wau,
onomatopoetisch 10) , ein verwünschtes Individuum, ohne
Herz."
Der König rühmt sich sodann seiner Wohlthaten gegen
das Volk der Wüste (Petischu), das er habe Getreide holen
lassen auf Schiffen „um zu beleben dieses Land Chet . ."
— vielleicht Scete bei den Natronseen. Der Zusammen-
hang dieser Stelle mit dem Vorhergehenden ist leider durch
mehrere Lücken unterbrochen.
Von hier an (col. 24) spricht der König sein Vertrauen
aus auf den Beistand Amon's in Theben, und die Drohung,
dass er die Maschawascha und Thamahu (Vertreter der
libyschen oder weissen Menschenrage) heimsuchen und züch-
tigen werde, sowie die Lebu: ,, indem seine Soldaten aus-
ziehen wider die Feinde, ist die Hand des Gottes mit ihnen,
Amon-Ra als ihr Schild. Und er sprach zum Lande Kemi:
Haltet euch bereit auszuziehen in 14 Tagen ! Siehe , da
schaute Seine Majestät- ein Traumgesicht im Schlafe, wie
wenn ein Bild11) des Ptah stünde am Lager des Pharao
10) In Dümichens Zeichnung col 23 ein Schakal, aber bei
Brugsch und nach De Rouge ein deutlicher Hund von der Art, wie
die wau-wau, denen Anepu sein der Frau Putiphra in allem
gleichendes Weib wegen Verläumdung seines Bruders Batu, eines
Seitenstücks zum Joseph, vorwarf (Roman der ,,zwei Brüder".).
11) De Rouge übersetzt hier: „comme si le (fils?) unique de
Lauth: Die Achiver in Aegypten. 539
mit Leben Heil und Kraft. Es schien zu erheben seine
Stimme und zu ihm zu sprechen : ,,0 ! beendige das Zau-
dern!" und ihm die Siegeswaffe reichend: „Du beseitige die
Unentschlossenheit aus dir!" Da erwachte der Pharao mit
Leben, Heil und Kraft und sofort entsendete er seine Fuss-
truppen und Wagenstreiter , vor denen Niemand sich halten
kann , auf den Weg ausserhalb Paari. Alsdann wurde der
niederträchtige Grosse der Lebu handgemein mit ihnen;
diese Begegnung fand statt am 1. Epiphi früh Morgens (das
Jahr ist in einer Lücke verschwunden). Mit den Soldaten
und Wagenkämpfern Seiner Majestät war Amon-Ra, Nubti
(Baal) reichte ihnen die Hand. Daher wälzten sich die
Feinde bald in ihrem eigenen Blute ; keiner blieb übrig von
ihnen; die Bogenschützen Seiner Majestät verbrachten sechs
Stunden im Kampfe mit ihnen; dann wurden sie (die Feinde)
der Schneide des Schwertes überantwortet.
Während nun die Fremdvölker so bekämpft wurden,
siehe ! da erschrack der niederträchtige Grosse von Lebu,
sein Herz ward muthlos. Siehe ! er wandte sich zu eiliger
Flucht mit Hinterlassung seiner Sandalen , seines Bogens,
seiner Köcher (aspatha = niBWJK), kurz alles dessen , was
er bei sich gehabt, in dem Wunsche, seine Glieder zu be-
schleunigen. Grosser Schrecken durchbebte seine Glieder.
Er verlor all seinen Besitz an Spangen (manudatha =
nl331[9 12)) Silber und Gold, seine Gefässe aus Metall, den
Schmuck seines Weibes, seine Bogen, seine Waffen, kurz
Alles, was er mit sich geführt hatte. Diese Gegenstände
Ptah se tenait debout und bemerkt in der Note, dass ua „un, uni-
que" auch dard bedeuten könnte. Aber es folgt auf ua ein tut
und dies bedeutet sicher ,,Bild'-.
12) Gesenius bemerkt bei diesem Worte eigens, dass es trans-
ponirt sei aus nlT3y.9 von der Wurzel -jjj; (chald.) binden.
540 Sitzung der philos.-philol Gasse vom 7. Dezember 1867.
wurden zu dem Palaste gebracht, um aufgeführt zu werden
mit den Gefangenen. Unterdessen war der niederträchtige
Häuptling der Lebu auf eiliger Flucht in sein Land. Und
das Verzeichniss der Feinde, so getödtet wurden durch die
Schläge der Schneide, ward überreicht den Offizieren, welche
auf den Streitwägen Seiner Majestät sich befanden, und nach
ihnen das Verzeichniss der lebend Gefangenen. Gross war
die Zahl der Feinde gewesen : man hatte Nichts Solches ge-
sehen zur Zeit der Könige Unterägyptens, als dieses Land
in der Feinde Gewalt war und das Unglück so lange fort-
dauerte, als die Könige Oberägyptens nicht die Kraft be-
sassen, sie auszutreiben".
Herr Vicomte de Rouge sieht in letzterer Stelle eine
Anspielung auf den Einfall und die Herrschaft der Hyk-
schos — gerade wie ich es ebenfalls in meinem Aufsatze zu
Ostern gethan ; eine um so merkwürdigere Uehereinstimmung,
als die betreffende Columne sehr lückenhaft ist. Der Text
fährt fort: „Das habe ich gethan aus Liebe zu den Be-
wohnern, um zu schützen Kemi als Herr des Landes, um
zu retten die Tempel des Deltagebietes. Darauf sprachen
die Leute der westlichen Stationen in einer Botschaft zu
dem Palaste des Auserwählten mit Leben, Heil und Kraft
mit den Worten: ,, Sintemal der gestürzte Maurmeriu
flüchtig gegangen in Person und seine Wenigkeit entronnen
ist den Menschen mit Begünstigung der Nacht auf abge-
legenen Wegen , verfolgt von jedem Gotte in Kemi — die
Prahlereien, so er geäussert, in Nichts zerstieben, und alle
Worte seines Mundes zurückfallen auf sein eigenes Haupt;
da man nicht kennt die Art seines Todes: so überlasse
ihn seinem Schicksale; sollte er noch leben, so wird er sich
nicht wieder aufrichten: er ist gestürzt, ein Spott seiner
Soldaten. Du aber, o König, bist es, der uns mitgenommen,
um zu vollbringen die Tödtung der Feinde im Lande der
Thamahu. Setzen die Lebu einen andern an seinen Platz
Lauth : Die Achiver in Aeyypten. 541
von seinen Verwandten (Brüdern) . welche beim Kampfe
waren, so sieht er gebrochen die Grossen wie die Kleinen."
, »Alsdann brachten die Hülfstruppen , die Soldaten und
Wagenkämpfer, die Veteranen alle des Heeres und die Jung-
mannschaft (Naruna = "p")}^) gefesselte Feinde vor sich
her; Lasten von unbeschnittenen13) Phallen der Lebu und
abgehauenen Händen aller Fremdvölker, die mit ihnen gewesen
waren , in Häuten auf Brettern , endlich allerlei Beute , die
man genommen aus ihrem Lande.
Alsdann ward das ganze Land Aegypten aufjubelnd bis
zum Himmel; die Flecken und die Städte waren in Wonne
über jene Wunderthaten. Die Flüsse führten Festfeiernde.
Alles ward vor den Balkon gebracht, auf dass schauete Seine
Majestät die Ergebnisse seines Sieges: das Verzeichniss der
Gefangenen , herbeigeführt aus diesem Lande der Lebu und
den übrigen Fremdvölkern, sowie der Beute zu dem „Neuen
Hause" des Pharao Meneptah, des Ueberwältigers der Tha-
hennu, welches in Paari."
Von col. 50 an, die jetzt folgt, bis zu col. 62 erscheinen
die detaillirten Angaben über die Verluste der Feinde. Vor
allen werden die Phallen von sechs Individuen aufgeführt,
die „Söhne der mit dem Lebufürsten verbündeten Häupt-
linge" genannt werden. Dann getödtete Lebu, deren Phallen
eingeliefert wurden: 6359: Zusammen (6365)".
Die Zahl der getödteten Schaida(i)na, Schakalscha,
Aqaiwascha „von den Gegenden des Meeres" ist nicht ganz
13) Der Ausdruck ist zweifelhaft; de Rouge übersetzt: ,,dresses
en cornes" wohl desshalb, weil ihn das offenbar unägyptische Wort
qarenatha an Wj cornu mahnte — sollte es aber nicht erlaubt
sein, an ^nj; unrein, unbeschnitten zu denken, da l auch in CJ/'^D
= sanohem locustae ein aegypt. n vertritt, und das y häufig für
anlautende Gutturale steht?
[1867. II. 4.] 30
542 Sitzung der phihs.-philöl. Classe vom 7. Dezember 1867.
erhalten; nur die der Schakalscha : 222 ist vorhanden mit
dem Beifügen: Betrag an Händen: 250. Von den Tuirscha
fielen 742, Betrag an Händen: 7.90. Die nächste Summe
6111 scheint sich auf die Maschawascha zu beziehen.
Man sieht aus diesen Verlusten, dass die Schlacht bei Paari
(/7o^gbeiSteph.?) eine mörderische gewesen sein muss. Die Zahl
der lebendig Gefangenen steht dazu in einem gewissen Ver-
hältnisse: ,,2 18 Lebu, die Weiber des verworfenen Häuptlings
der Lebu, die er mit sich geführt hatte, lebendige weibliche
Lebu 12. Summe der Gefangenen 9376. Waffen und Fahnen,
welche in den Händen der gefangen Eingeführten waren,
Schwerter der Maschawascha: 9111." Es folgt die ungeheure
Zahl 120,214, die sich auf einen Theil der Beute bezieht,
der in einer Lücke verschwunden ist. „Pferde, die das Eigen-
thum des Fürsten der Lebu und seiner Söhne gewesen,
wurden 14 Gespanne erbeutet." Den Schluss des Verzeich-
nisses bilden 1314 Stück Grossvieh, Ziegen (zerstörte Summe)
sodann 54 verschiedene Gefässe aus Gold ; an Silber, Krüge
zum Trinken '(Zahl zerstört) ; au Erz , Schwerter , Dolche,
Kürasse und Schienen, verschiedene Geräthe : 3174, offenbar
den Meeresvölkern angehörig.
„Nachdem diese weggeräumt waren, legte man Feuer
an ihr Lager und an das Zelt (qaii matha — ?) ihres
Herrn." Den Schluss macht die schmeichelhafte Selbstbe-
lobung des ägyptischen Pharao Meneptah : (col. 70) „Die
Lebu hatten Schlimmes gesonnen wider Kerni ; aber siehe,
sie sind gestürzt; ich tödtete sie und machte sie zu einem
Wahrzeichen. Ich versetzte das Deltagebiet in Sicherheit
und Frieden : es lieben mich die Bewohner, wie ich sie liebe,
indem ich ihnen gewähre den Lebensathem. Es jubeln ihre
Städte auf bei meinem Namen, als des Oberen der Länder.
Man wird meine Zeit als eine glückliche preisen im Munde
der Geschlechter der Menschen, gemäss der Grösse der
Wohlthaten, die ich ihnen erwiesen. Und All dieses ist Wahr-
T.anth : Die Ächiver in Aegypi n 543
heit durchaus." Die fünf letzten Columnen (73 — 77) ent-
halten die Bestätigung des eben vom Pharao Gesagten yus
dem Munde seiner ünterthanen.
Das ist weit ausgeholt, wird mancher denken, um die
Anwesenheit von Achivern in Aegypten zur Zeit des Pharao
Meneptah wahrscheinlich zu machen. Der billig Urtheilende
wird aber, abgesehen von dem. sonstigen Interesse des In-
haltes der historischen Inschrift, anerkennen, dass ohne einen
solchen Zusammenhang der Beweis für meine neue14) Thesis
völlig in der Luft schweben würde. Was die ( ebersetzung
anbelangt, su möchte der Umstand, dass zu gleicher Zeit
zwei Acgyptologen, einer zu München, der andere in Paris,
unabhängig den nämlichen Text auf gleiche Art aufgefasst
haben , jener noch immer bestehenden Zweifelsucht endlich
den letzten Stoss versetzen. Mit denjenigen, die sogar die
Richtigkeit der g lesenen Vöikernamen bezweifeln , will ich
mich nicht aufhalten ; sie haben es ihrer eigenen Bequem-
lichkeit zuzuschreiben, wenn sie über die Elemente einer der
wichtigsten Entdeckungen unseres Jahrhunderts auch jetzt
noch in Unkenntniss verharren , wo die gesteigerten Hülfs-
mittel es jedem Wollenden ermöglichen, sich in einem halben
14) In der bekannten Stelle vonPlaton's Timäns, wo Kritias das
Gespräch des Solon mit „dem Kundigsten der ägyptischen Priester-
schaft" erzählt, ist gesagt: oau ift /,' tici^ v/uty }j rr,de .... y.ct'Aw
iij fiiy« yiyovtv, tiuvtk yiyqauuivu ix naXuiov tJJcT iaxiv iv to?~ froolg
xcä ataioauiva. Das r#cf« bezieht sich auf Haie, in dessen Nachbar-
schaft Paali (Paali. //«/«•?) und der Neubau des Meneptah lagen, wo also
der erwiesenermassen wiederholte Text ebenfalls angebracht sein konnte.
Nimmt man noch die weitere Sage über die Atlantis, über die Inva-
sion Aißvqg und EvQdintjg [it/Qi TvfjQtjyt'ag hinzu, besonders: -notäu
fiip ovp iftioi' y.i'.i fiByaXa t'qy« i7t$ nu'/.twc (Athens) Tijd't ytyQUfifiiya
!iuvit('Xti«i — so wird man geneigt sein, darin geradezu eine Bestät-
igung unserer Inschrift und der Anwesenheit der Achiver in Aegypten
zu erblicken. Herr Collega Christ hatte die Güte, mich auf diese
auch sonst merkwürdige Stelle aufmerksam zu machen.
36*
544 Sitzung der pliilos.-philol. Clasxe vom 7. Dezember 1867.
Tage von der Sicherheit des ägyptischen Alphabets zu über-
zeugen. Mögen sie also sich nicht mehr hinter der Maske
der kritischen Zweifels verstecken dürfen!
Ich habe mit H. Vicomte de Rouge die gleiche Ansicht
in Betreff der vier Völkernamen Tuirscha, Schakalscha,
Schardaina und Aqaiwascha15) ausgesprochen, dass sie
nämlich den klassischen T urs kern (Tyrrhenern), Sikelern,
Sardiniern und Achivern entsprechen. Die Mascha-
wasch a hatte schon Brugsch mit den Md£vsg Herodots,
einer libyschen Völkerschaft, verglichen. Ueber die Qahaqa
haben wir noch keine Anhaltspunkte iti den Klassikern
gefunden; es müsste denn allenfalls der Name Krjv§, den
ein König von Trachin in Thessalien und später mancher
Sclave in Rom geführt, hieher zu ziehen sein oder Caicus
(Verg.)? Oder vielleicht Herodots (IV, 193) Zavrjxeg? Wenn
ich bei den Luka diesmal an die Lucanier (bos Lucae) oder
an die Ligurier (Ligys) dachte, während de Rouge sagt:
,,nom qui designe probablement lesLyciens" — so ist die
Entscheidung über diese Frage noch offen; die Luka Asiens
habe ich ebenfalls mit den Lyciern identificirt.
Es ist nicht der äusserliche Anklang dieser Völkernamen,
welcher uns zu den betreffenden Gleichstellungen bestimmt
hat, sondern der innere Zusammenhang des Textes, der den
Schardana, Schakalscha und Aqaiwascha wörtlich die
Herkunft von den Gegenden des Meeres zuschreibt. Für
die ersteren wusste man aus andern Texten bereits , dass
sie mit Inseln des grossen Beckens d. h. des Mittel-
meeres in Beziehung stehen und darum hat auch H. Chabas
in seiner meisterhaften Arbeit über den Papyrus Anastasi I
die Schardana mit den Sardiniern identifizirt. Abgesehen
davon , dass unser Text auch die Varianten Schardina und
15) In meinem Aufsatze der Z. d. DMG habe ich dabei auch an
Aequus erinnert.
Lauth: Die Achiver in Aegypten. 545
Schardaina liefert, stimmt Schardana zu dem homerischen oaq-
däviov und zu YVW. Sollte man in Betreff der beiden andern
das kritisch sein sollende Bedenken vorbringen, dass iu 2ixsX6g
und 'A%aif6g die Endung og nicht zum Stamme gehören
könne, so erinnere ich an den sichern Namen Ntari wusch
== JccQsTog, wo das gl ichische og ebenfalls einer wurzel-
haften Stammsylbe entspricht. Das Digamma in yA%aif6g
anlangend, so wird es schon durch die lateinische Form
Achivus verbürgt.
Endlich dürfte selbst der Accent dieser beider Völker-
namen einen Fingerzeig enthalten , dass die Endsylbe als
Stamm mit eigener Bedeutung gefasst wurde — und die
ägyptische Schreibung beweist jetzt, dass in älterer Zeit diese
Endung wie osch d. h. mit der Geltung des dorischen
Oav16) (schin) ausgesprochen, wurde.
Was ferner den Umstand betrifft, dass die Aqaiwascha
von den Gegenden des Meeres herkamen, so lässt sich diess
ebensowohl auf eine Insel, als auf ein Küstenland beziehen:
die Bezeichnung Peloponnesus, die „Pelops-Insel", die Lage
der Landschaft Achaja am korinthischen Meerbusen , die
Anwesenheit von Achajern auf Ithaka, wie an der gegen-
überliegenden Küste, endlich die Ausdehnung der Benennung
Achaja auf ganz Griechenland unter der römischen Herr-
schaft — alle diese Einzelheiten, auch von Homer's Gebrauch
der 'Ayaipoi abgesehen, führen auf den Schluss, dass Aqai-
wascha ein uralter Name für einen zahlreichen hellenischen
Stamm gewesen. Während aber Javan und Danaos sich aus
dem Aegyptischen ohne Zwang , sogar mit einer gewissen
Notwendigkeit als ,,die hinter den Wassern" und als „die
16) H. de Rouge brauchte die Belehrung über den „son chuin-
tant" des dorischen <r«V nicht erst aus Lenormants Preiswerk zu
entnehmen; das Wesentlichste darüber steht schon in meinem Uni-
versal-Alphabete p. 67 vom Jahre 1855.
546 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1862.
Ausländer (tanau)" erklären, widersteht der Name Aqai-
waseha einer Herleitung aus dem Aegyptischen. Wir haben
daher die Etymologie dieses Namens auf griechischem Boden
selbst zu suchen. Hier bietet sich der Stamm aiyiaXog11)
Compos. von aXg (die Salzfluth) mit der Bedeutung „Ufer, Küste"
ziemlich ungezwungen dar, und da es nach Herodot (VIII,
94) üeXaOyol cäyictXseg gab , so wäre ihre Verwandtschaft
mit den Achäern wahrscheinlich gemacht und wir bekämen
für beide die Gesammtbedeutung „Küstenbewohner1'.
Vielleicht verhilft uns diese , allenfalls pelasgisch zu
nennende Wortformung zu einer befriedigenderen Etymologie
des bisher so räthselhaft gebliebenen Namens derPelusger
selbst. Man hat sie in der Pulista der ägyptischen Texte
finden wollen. Allein diese entsprechen denn doch eher den
Philistern (Q>vXiöt£i[jC), und. der angenommene Wechsel
zwischen t und g (T, .T), wenn er auch paläographisch leicht
zu erklären wäre, ist sonst durch Nichts belegt. Auch hat
der Pulista (Brugsch Georgr. II Taf. XI, 26) eine Kopf-
bedeckung (Federkrone), die nur bei semitischen Stämmen
getroffen wird. Es sieht Pelasgos doch ziemlich griechisch
aus und wenn wir auch die Spielerei der Alten, welche den
Namen dieses Volksstammes wegen seiner Züge in die Ferne
mit nsXaqyoC „die Störche" (schwarz-weiss) zusammenbrachte,
nicht weiter beachten, so drängt sich doch pelas „nahe"
mit fast unabweisbarer Notwendigkeit auf. Die neuere Zeit
bietet ein Volk, dessen Namen auf den nämlichen Stamm
zurückgeht: die Preussen. Sie sind nicht, wie man wegen
des lateinischen Borussia gemeint hat, die an Russland
grenzenden oder unter Russland stehenden, wie Pomerania
von po und mor „am Meere'" vgl. des celtische Armorica —
17) Herr Collega Christ denkt an sanskrit. aghavya, „Streit,
Kampfruf"'.
Lautli: iJie Achiver in Aegypten. 547
und Morea, den slav. Namen des Peloponneses — sondern nach
unseres gründlichen und nach seinem Tode besser anerkann-
ten Landsmannes Zeuss Ansicht von dem slavischen prus (vgl.
plesion) „der Nachbar" abzuleiten. Aehnlich mögen die
Preussen des Alterthums, nämlich die Pelasger, ihren
Naiven vun der Nachbarschaft am Lande der Achiver er-
halten haben und die Lautverhindung 07 eben jener breiten
Aussprache des odv als Ueberbleibsel zu danken sein.
Dem sei indess, wie da wolle: wie ich in meinem Pro-
gramme „Homer und Aegypten' weder die Phaeaken noch
ihr Land (nicht Insel) Scheria {px^qoe — %£qqoc, %zqGoq
trocken) mythisch gefunden, sondern in Epirus, dem Festlande
*ar' e%o%i]v mit Bezug auf das platauenblattförmig gespaltene
peloponnesische Griechenland, wieder getroffen habe, so sind
mir die Pelasger kein mythischer Name, sondern ein wesen-
haftes, den Hellenen benachbartes, und vielleicht für ihre
Sprache und Cultur vorstufiges Yrolk, dessen Existenz nicht
später als die der nunmehr monumental erwiesenen Aqai-
wascha zu setzen ist.
Hr. de Rouge bemerkt zu col. 60, dass die letzten 17
Columnen ihm an Ort und Stelle wie eine Restauration aus
späterer Zeit erschienen seieu, woraus sich die leeren Stellen
erklaren würden. Sicherer ist, und aus Dümichen's pl. I A
mit fünf oben nicht zerstörten Columnenanfängen, die den coli.
37 — 41 entsprechen, ersichtlich, dass ein Duplicat des Textes
in Karnak selbst existirt hat. Ja ein Dichter jener Zeit hat uns
im Papyrus Anastasi II pag. 3, 4 unter andern die Verse
geliefert: „Die Lebu stürzen von seinem Schlage :- sie werden
getödtet von seiner Schneide." pag. 5, 2: Die Schardana
führst du her durch dein Schlachtschwert -'■ es züchtigt sie
das Volk der Mahautu (Beduinen, ähnlieh den Gensdarmen
Mazaiu lin. 2 und den Naruua (Recruten) des Textes) —
,,tiar erfreulich ist dein Kommen nach Theben -:■ triuni-
phirend wird dein Wagen gezogen von Händen — die Iläupt-
548 Sitzung der philos.-philöl. Classe vom 9. Dezember 1867.
linge wandeln gefesselt vor dir her -:- du führest sie vor
deinem Vater Anion."
Ist es nun zufällig, dass Herr Vic. de Rouge in seinem
Artikel auf diese nämliche poetische Production verfallen ist,
wie ich in meinem zu Ostern nach Leipzig eingesendeten
Aufsatze, worin ich noch ein weiteres Duplicat (Pap. Anast.IY, 5)
aufgezeigt habe, zum Beweise, dass der zu Theben ange-
schriebene Sieg des Meneptah über die Libyer und die mit
ihnen verbündeten Schardana, Schakalscha, Tuirscha, Aqai-
wascha, Maschawascha , Leku und Qahaqa von den Zeitge-
nossen anerkannt und dichterisch besungen wurde.
Wie '? wird Mancher denken, konnte man hieroglyphisch
oder hieratisch18) dichten?! Unglaublich! und doch verhält
es sich so. Je zwei durch rothe Punkte in dem Papyrus
unterschiedene Halbverse bilden einen Gedanken und da der
Hexameter, ohnehin durch die Hauptcäsur in zwei Stücke
zerfallend , in alten Schriften wirklich zweitheilig getroffen
wird, so wäre am Ende auch diese Blüthe der klassischen
Sprache aus ägyptischem Boden erwachsen? Dieser Gedanke
lässt sich nicht gerade desshalb abweisen, weil man bisher
noch nicht darauf verfallen war.
Die oben dargelegte Inschrift des Meneptah wird auch
noch in anderer Beziehung, abgesehen von der Gleichung
Aqaiwascha = 'Axaipos ,19) von hoher Wichtigkeit als
geschichtlicher Hintergrund des trojanischenKrieges.
So z.B. für den bekannten Schiffs.katalog der Ilias (B 494
sqq.) Es ist nicht zufällig, dass die Pteihe durch die
Boeoter eröffnet wird; denn es heisst v. 496:
18) Mit Namen „quae versu dicere non est" (Horat.)
19) Die in der Inschrift des Meneptah aufgeführten Beinschienen
gehören vermuthlich zu den Aqaiwascha und bestätigen aufs Schönste
Homers tvy.ytjfiidctg lä^aiovg. Kommt einmal eine bildliche Dar-
stellung zu Tage, so darf man sicher sein, auch seine xdqr, xofxo-
lavxag und ^«/ixo/üwy«f illustrirt zu sehen.
Latäh: Die Achiver in Aegypten. 549
ol' #" Yq(rtv ive/novro xal AvAi'da nsTq^eGOav. In Aulis
war aber der Sammelplatz aller Schiffe und von da lief
die vereinigte Flotte zu ihrem Unternehmen aus. Die fünfzig
Schiffe der Boeoter mit je 120 Mann (also im Ganzen 6000)
scheinen sogar einem authenthischen Verzeichnisse entnommen
zu sein, welches zu Aulis vor Antritt der Fahrt alle Schiffe
umfasste. Die Zahl 6000 stimmt zu den analogen Ziffern
der Contingente der libyschen Conföderation und ihre spe-
zielle Angabe gerade20) bei denBoeotern und bei Achil-
leus (II, 168—170:50x50) dürfte ebenfalls auf Aulis als
die Quelle des Katalogs hinweisen. Daher die Ueberschrift :
Bomxutt rj xura'koyog vecov. Die zunächst folgenden Völker-
stämme: Orchomenier, Phoker, Lokrer, Euböer etc.21)
bestätigen diese Annahme, dass Aulis, wie der Ausgangs-
punkt für die Fahrt nach Troja, so auch der Ursprung des
Schiffskatalogs gewesen.
Noch eine andere Erwägung dürfte gerade die später
wegen Zurückbleibens in der Cultur so oft bespöttelten Boe-
oter als Urheber dieses Verzeichnisses empfehlen. Es ist
bekannt und ausgemacht, dass die Griechen ihre Buchstaben
yqumxuxa (poinxria und xadur/Ca (Herodot.) auch (poivixta,
(foivixixd, wegen der durch den Phöniker Kadmus geschehenen
Uebermittelung genannt haben. Auch zeugt die Paläographie
selbst für diese Thatsache. Wenn bisweilen die Benennung
yqdfifjLazu ntkuOyixd vorkommt, so steht diess im schönsten
20) Auch bei den sieben Schiffen des Philoklet v. 719, wo je 50
iqiiai zugleich als Bogenschützen erwähnt sind. Thucydid. I, 10.
21) Wem die öfter (zehnmal) vorkommende Zahl 40 wegen der
biblischen nnd arabischen arbainat (40) verdächtig ist, der bedenke,
dass die 118G Schiffe, durch die 29 Stämme dividirt, gerade die Durch-
schnittszahl 40 ergeben. Thucydid. I, 10 hat 1200 , was aber bei dem
dann nothwendigen Divisor SO wieder die Durchschnittszahl 40 blank
ergibt. Somit wäre das gesammte Griechenheer etwa 60,000 Mann
stark anzunehmen.
550 Sitzung der phüos.-philol. Gasse vom 7. Dezember 1867.
Einklänge mit der Vorstufigkeit der Pelasger in Bezug auf
die Griechen und mit ihren speziellen Wohnsitzen in Dodona
und Epirus (Scherie), wie ich sie oben wahrscheinlich gefun-
den habe.
Eine schöne Entdeckung vonBrandis22) über die sieben
Thore Thebens fügt ein neues Glied in die Kette der Beweise.
Dieser Forscher hat nämlich mit siegreichen Gründen dar-
gethan, dass die sieben Thore Thebens,23) wie di'e sieben
Mauern von Ecbatana und der siebenstufiige Baltempel Ba-
bylons (Herodot I, 98, 181), nach den fünf Planeten mit
Sonne und Mond gebildet und benannt waren. Dadurch
erhält die Deutung des Namens Kddfxoq, von Clp. der Orient,
eine nicht unerhebliche Bestätigung und Buttmann's Ver-
muthung, dass in der Sage von Kadmus und Europa (ZFM
Abend cf. s'geßog dunkel) uralte Beziehungen zwischen Morgen-
und Abendland enthalten sind , wird dadurch wesentlich
empfohlen.
Wenn daher Aeschylos in seinem Stücke sntd ini
Grjßag v. 159 — 165 mit dem ^AtiöXXwv die (.idxsiq' avaöOa
"Oyxa als Hauptschutzgötter der siebenthorigen Stadt an-
rufen lässt, so erhält diess jetzt einen vollgültigen Sinn, seit-
dem uns die ägyptischen Denkmäler die beiden Gottheiten
Baal und Anuqa24) als speziell phönizische wie bei (Pau-
22) Zeitschrift Hermes II, 2 1867 — Vergl. Allgemeine Zeitung
Beilage Nr. 282, 9. Oct. 1867.
23) Cf. II. J 378 ttga 7iqo; Ttixta Btjßrjg. Dass die "Oyxa 'A&dva
der Venus (Freitag) entspricht, ist um so sicherer, als die ägyptische
Venus, nämlich Hathor, geradezu auch mit der Anuqa identificirt
wird (DümichenRecueillV, XXXVI, 12b, unmittelbar hinter An atha.)
24) Diese vom Auslande in das ägyptische Pantheon frühzeitig
aufgenommene Göttin bildet als "Avovxig mit der lang und dem
Xyovßcg (Kneph, Chnum) die Triade der Katarakten ; auf dem Thier-
kreise von Denderah habe ich die Anuqa zweimal als Wasserfrau
getroffen.
Laiith : Die Achiver in Aegypten. 551
sanias) kennen gelelut haben. Erstem- ist sogar, wie "A-nöl-
Xcov (n oder kv sein. Artikel) mit dem bestimmten Artikel
versehen: Pe-Baal85), und letztere erscheint mit einem eigen-
tümlichen Kopfputze, den man die Philisterkrone genannt
hat , weil die Abbildungen der Ohänaaniten sie aufweisen.
So viel über den phöni zischen Ursprung gewisser
Einrichtungen im kadmeischen Theben. Da nun jedenfalls
der Zug der Sieben gegen Theben vor die Troica füllt , so
lässt sich das Dasein schriftlicher26) Verzeichnisse, also
auch die Möglichkeit und Wirklichkeit eines geschriebenen
Schiffskatalogs für diese Zeit recht wohl begreifen — um
so mehr, als uns die ägyptischen Denkmäler dieser und viel
älterer Zeiten nicht nur Schrift in Ueberfülle, sondern auch
bildliche Darstellungen zeigen. Besonders will ich hier
noch der Pulista mit ihrer Federkrone, die auch dieDan-
auna tragen— und der Schardana27) erwähnen, welche seit
Sethosis I als Gefangene oder als Bundesgenossen in pitto-
resker Tracht auftreten. Es verdient gewiss Beachtung, dass
auch Vicomte de Rouge den Verso des Papyrus Anastasi II,
wie ich selbst in meinem Aufsatze für die Zeitschrift der
DMOr, auf diese Tracht bezieht. Der Text besagt: „Die
Schar dana des grossen Beckens, welche zu den Gefangenen
seiner Majestät gehören, sind geschmückt mit Waffen allerlei,
in den Hallen ; sie bringen die Tribute an Getreide und ent-
laden den Inhalt ihrer Gespanne." Ihr Helm gleicht einer
Pickelhaube, nur dass er oben zwei lunulae zeigt und in eine
25) Dümichen Hist. Insch. Taf. XXIV col. 43; Taf. XIX col. 33,
34 sind dem Baal die Göttinen Anatha (Avains) und Astartha
(AoTKQTrj) beigesellt.
26) Der Vers Ilias B, 340 iv nvqi &rj ßovkaC re yivoiuxo fttj&ea
t' uvdQwv lässt sich auch auf geschriebene Beschlüsse deuten (?) cf.
A 158: uXiov nt'Ati, als Erläuterung hiezu.
27) Vergl. Brugsch Geogr. II, Taf. IX und X.
552 Sitzung der philos.-philol. Classc vom 7. Dezember 1867.
Scheibe oder Kugel, statt in eine Spitze endigt. Das Schwert
ist pyramidal geformt, der Schild mit (11) Buckeln versehen
und die Gewandung nicht gar einfach, sondern durch Streifen
Linien und Punkte gegliedert. Langen Bart und Locke zeigt
das Bild des Maschawascha (Mdgveg Herodot IV, 191),
während das des Tuirscha (Thiras DTfl , Tursce . Tvq-
Orjvoi)2s) bartlos und ohne Locken erscheint.
Wenn daher vun den euboeischen Abantes II. B 542
gesagt ist , sie seien om&ev xofjbdcovvsg gewesen , so rindet
dieser Zug, sowie ähnliche andere, die sich auf Besonderheit
der Tracht und der Bewaffnung beziehen , nunmehr seine
vollgültige Erklärung in den ägyptischen, treu porträtirenden
Darstellungen der auswärtigen Völker und braucht daher
nicht gerade als ein poetischer Schmuck angesehen zu werden.
Liess ja doch Hamilton den Homer seine Schlachtberichte
geradezu nach den ägyptischen Darstellungen gestalten!
Der griechischen Conföderation steht die trojani-
sche feindlich gegenüber. Es gereicht mir zu besonderer
Genugthuung, auch in diesem Betreffe constatiren zu können,
dass Vicomte de Rouge gleich mir, und ebenso unabhängig,
auf die Gleichung Dardani = Jccqöccvoi, die von Brugsch
(Geogr.) noch ausdrücklich verworfen wurde , gekommen
ist,29) nicht aber wegen des verführerischen Gleichklanges,
sondern gestützt auf die Inschriften und Texte, namentlich
das Gedicht des Pentaur über die Grossthat des Ramses II
Sesostris , welcher die Cheta und ihre Verbündeten bei
Qadesch besiegte. In dieser grossen vorderasiatischen Con-
föderation erscheinen neben den Dardani auch die Pidasa
(IIr}dcc6og), die Leku (Lykier), die Tekkaru30) (Tsvxqoi),
28) Brugsch 1. c.
29) Revue arch. August 1867.
30) Auch Tekuri geschrieben (Brugsch Geogr. II, Taf. XI Fig. 25).
Sie tragen die Philister kröne, und erweisen sich dadurch als
Stammesgenossen der Pulista [4>v^iartifj). In der That würde ihr
Lauth: Die Achiver in Aegypten. 553
die Mausa (Mvoof) und einige andere, noch nicht identifi-
cirbare oder hieher gehörige Völker. Die Analogie gebietet
demnach, auch in den Versen des Ilias (B 816 — 877), welche
die Troer und ihre fremdsprachigen (II. B. 804) Bundes-
genossen behandeln, nicht blos die Möglichkeit, sondern
auch die Wirklichkeit eines geschichtlichen Kernes anzuer-
kennen. Der Ort, wo die Troer und ihre Verbündeten sich
aufstellten: Barieict (öf^ia noXvöxaQ&iioio MvQivrjg31) in
der Göttersprache) hat einen durchsichtigen Namen. Er
bedeutet eine dornichte Höhe, wie üirveia (v. 829) eine
mit Fichten bewachsene.
Auf die Frage : wie es komme , dass auch auf troja-
nischer Seite neXaOyoi (B 840) erscheinen : dass Tsvxqos
auch ein griechischer Name ist, dass der hellenischen JSXe'vi)
auf trojischer Seite ein "EXsvog entspricht — kann hier nicht
eingegangen werden. Nur so viel möchte zu bemerken sein,
dass , sowie uns das kadmeische Theben eine Amalgamation
phönikischen und pelasgisch - griechischen Wesens darstellt,
so auch analog Pelasger in Vorderasien ihr Larissa {AagiGct
B 841) gründen und zu den Dardanern in das Verhältniss
von Bundesgeuossen gerathen mochten.
Habe ich durch die bisher ermittelten Symptome die
Geschichtlichkeit mancher Angaben der Ilias darzuthun ge-
sucht, so erhält der trojanische Krieg selbst dadurch
einen historischen Boden von ziemlicher Mächtigkeit.
Schon die Alten betrachteten, wie Herodot I 1 — 5 aus-
führt, dt'n trojanischen Krieg unter demselben Gesichtspunkte,
Name regelrecht aus ^j mas, «('(>w entstehen und die „Mann Hohen"
oder „Martialischen" bedeuten. Diese eigentümliche Kopfbedeckung
erklärt uns das xo<n<[h<iolo$ "Exrtaq besser, als die bisherigen Ueber-
setzungen: ,.helmbuschschüttelndL> und ,,eristatus".
31) Man vergl. den Hügel fTHtö Morijah mit dem Salomonischen
Tempel, wenn auch nur zu mnemotechnischem Zwecke.
554 Sitzung der pJälos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
wie den Raub der Jo durch die Phöniker (Punt-Poeni,
Punier) , die Entführung der Europe durch Hellenen,
(Kreter?) — vergl. oben Kadmus und Europa — den Zug
der Argonauten nach Kolchis unter Jason, um das goldene
Vliess und die Mr^ösia zu holen ; auch in der Sage über
(pQil-og und "Eklrj scheint eine alte Beziehung zwischen Phry-
giern und Hellenen angedeutet zu sein. Der pragmatisirende
Thycydides I 1— 12 hebt das Seeräuberwesen des alten
Hellas gebührend hervor und erklärt ziemlich nüchtern die
lange Anwesenheit der Griechen auf trojanischem Boden
(c. 11) unter andern auch daraus, dass sie sich nqog yecog-
yiav xr^g XeQQorrföov XQccTtößsvoi xal hjGxsiav nicht mit
aller Gewalt auf die Troer warfen, wesshalb diese ihnen zehn
Jahre Widerstand leisten gekonnt. Vergleicht man hiemit
Verse wie II. T 72, 93, 255 etc.
Rcrjiictff sXuh* sv Tcävxa, yvvaixd xs oTxad' dysG&M —
so fühlt man sich versucht, die 'EXs'vrj selbst als eine Per-
sonifikation des Raubes {eXslv) aufzufassen und den Namen
Jldqig von -flS „der Trenner"32) zu erklären, wie Hero-
dot. I 1 die Phöniker nach persischer Quelle als xfjg dia-
yoqfjg alxiovg darstellt. Daher ruft Hector r 86, 87
xe'xkvxe fisv, Tqcosg xal ivxvrj^uSsg Uftaifot,
ixv&ov 'AfegdvdQOlo, xov sl'vsxa veixog oqcaqsv.
und Menelaos spricht V 100: 'AXsgdvdqov Hvsx' axrjg,
wie auch Helena Z 356. Näher scheint mir auf die Etymo-
logie des Namens angespielt zu sein in den Versen -T 321 sqq:
32) Aus dem Semitischen würde sich auch Keßgiöv^g , der vo&og
vlog des llgiapog II 738 erklären; denn gebur (ll2D) bedeutet Held
und wird das Wort im Texte Ramses III Kepur geschrieben (vergl.
Apriu =i 'Eßgatoi). Demnach scheint Homer H 751 in KsßQioi'y
rj()(üi Namen und Bedeutung nebeneinander zu geben.
Lanth: Die Achiver in Aegypte». 555
dnndrsQoq rdds i'qyct f.ier' df.i(fotäQoiüiv £\h)xsvy
rov 6dg dno<fx)-i(X€Vov dvrca döfxov "Aidog stüto —
womit nur Paris gemeint sein kann, um so bemerkens-
werter, als diese Ansicht den Achäern und Troern ge-
meinschaftlichbeigelegt wird, wie auch T455 hov yÜQ o<piv
TiäOiv dn^xd-sro xijqX fieXaivrj,
Paris ist eigentlich nur eine menschliche Nachbildung
der "Eyig, wie sie besonders A 73 sqq. erscheint (Vergl.
<I> 359, 360); r 100: il'vfx £/t*~c sgidog xai 'JXegdvdyov
Hvex äv^g. Wenn wir nun gegenwärtig in der oben behan-
delten Inschrift des Meneptah ähnliche Verhältnisse berichtet
finden : einen Raubzug ausgeführt von einer (Jonföderation
verschiedenen ■achiger Stämme (äXXrj <T a'XXtov yXwOöct no-
XvOTteqeoiV äv&QoSntov II. B 804) mit eigenthümlicher Phy-
siognomie. Haltung, zum Theil pittoresker Kleidung, Be-
waffnung; wenn gesagt wird, dass sie, wie zu bleibender
Niederlassung ihre Frauen und Kinder mitbrachten (II. K
420 heisst es von Bundesgenossen der Trojaner, offenbar
im Sinne einer Ausnahme:
ov yctg 0(fiv netto sg ö/frfoV al'arai. oi>6i yvvatxeg — )
wenti. wie natürlich zu erwarten, die Besiegten, soweit sie
nicht getödtet waren, sammt ihren Weibern und Kindern
gefangen genommen und als Sclaven behandelt oder ver-
kauft wurden — wenn der ägyptische Pharao bei Nennung
seiner Feinde niemals vergisst, beschimpfende Beiwörter zu
gebrauchen, die aus. analogen Vergleichen hergenommen
sind, wie die Schimpfreden der homerischen Helden: so
bildet dieses Gemälde, in welchem ebenfalls Schiffe fjgu-
riren, einen Hintergrund für die trojischen Ge-
schichten, wie er zu der Erklärung Homers nicht besser
herbei gewünscht werden kann. Ich habe mich schon in
meinem Programme: „Homer und Aegypten" p. (i gegen
die Sucht, die homerischen Völkernamen als mythische
hinzustellen, offen ausgesprochen. Die dort angeführte Be-
556 Sitzung der phüos.-philol. Ciasse vom 7. Dezember 1867.
merkung von Ameis zu v 383: ,,2ixeXovg, mythischer Name
einer Völkerschaft, die einen berüchtigten Sclavenhandel
trieb" — veranlasst mich, an den Sikelern noch etwas aus-
führlicher zu zeigen, dass Homer acht geschichtliche Völker-
namen überliefert.
Dass die Siculer vor der nach ihnen benannten Insel
einen ziemlichen Theil des hesperischen Festlandes bewohn-
ten, wissen wir aus Thucydides, welcher meldet, dass sie
vor ihrem Ueberschreiten der Meerenge (300 Jahre vor der
Ankunft griechischer Colonien auf Sicilien) und noch zu
seiner Zeit, Italien bewohnten, wo sie Spuren der ursprüng-
lichen Anwesenkeit ihres Stammes gelassen hätten. Der
Betrieb des Sclavenhandels, welcher ihnen nach Homer33)
nicht abgesprochen werden kann , setzt eine Seemacht vor-
aus. Wirklich erscheinen sie im Texte des Meneptah mit
den Schardana und Aqaiwascha als Völker, ,,die gekommen
von den Ländern des Meeres" , womit augenscheinlich
Küstenstriche gemeint sind. Waren sie diesmal gegen
Meneptah in ihrem Unternehmen unglücklich — 222 abge-
schnittene Phallus und 250 ditto Hände bezeichnen ihren
Verlust an Todten; — die Zahl der aus ihren in Gefangen-
schaft und Sklaverei gerathenen steckt in der Gesammt-
summe 9376, sowie ihre Waffen auch gemeinschaftlich mit
der übrigen Beute aufgeführt wird — so konnten sie ein
ander Mal Erfolg haben und selbst Schlaven und Schätze
erbeuten. Wir treffen sie wirklich wieder unter RamsesIII.
unter der angreifenden Coalition, leider wieder ohne Zahl,
doch mit Abbildung. Was nun den Namen betrifft, so ist Scha-
kal seh a mit 2ixsXdg leicht zu vereinigen , wenn man das
Vage des ägyj (tischen a — es ist = s im Namen der
KlsondxQct — und die von mir frühzeitig entdeckte Gelt-
ung des altgriechischen Oav = seh überlegt. Dieser breite
33) Cf. Ottlr. Müller Etrusker p. 10.
Lauth: Die Achiver in Aegypten. 557
Zischlaut, den die alterthümlichen Dorier am längsten bei-
behielten und der noch heute bei den Palikaren von Aeolien
gehört wird, ist, wie ich nachgewiesen, auch palaeographisch
aus dem ägyptischen seh ei entstanden, wie nicht minder
das semitische Vf. Dieser breiten Sibilante schlägt im
Aegyptischen gewöhnlich ein a nach, das, nach Mascha-
wascha = Mdgvsg, zu schliessen, nicht nothwendig lautirt
werden muss. Es könnte aber auch, wie so häufig, nur
eine graphische Metathesis für Schakelasch sein, womit
man dem 2ixsX6g (man bemerke den Accent!) bedeutend
näher kommt. Dabei bemerke man, dass der Schakalasch
(Brugsch Geogr. II. p. 85) ganz dieselbe Federkrone tragt,
wie der Pulista, Tekuri, und Daanauna, deren semiti-
sches Gepräge augenfällig ist (Cf. Daneon portus maris
rubri bei Plinius VI c. 29). Für den semitischen Ursprung
der Sikeler spricht auch Sicania (vgl. Sicca Venerea =
Succoth benoth) nach den Höhlen m'3p, welche jetzt noch
bei Syraeus zu sehen sind (Seume Spaziergang p. 232.).
Welcher Sprache dieser Name angehört, ist demnach
ziemlich leicht zu beantworten. Beachtet man den gleichen
Uebergang der Vokale, wie er in Oi'yXog GixXog siclus im
Vergleiche zu 2ixsX6g, Siculus, vorliegt, so ist man fast ge-
nöthigt, Schakalscha mit dem semit. bj)W Schekel zusammen-
zustellen. Dieser Name eines Gewichtes von V2 Loth oder
eines Werthes von dem retQccSQaxiiog, stammt von der
Wurzel schakal ,, wägen" was für ein handeltreibendes
Volk eben keine unpassende Benennung abgeben würde.
Da uns unser ägyptischer Text auch das Prototyp von
Tursce an die Hand gegeben hat, so wird es nicht über-
flüssig sein, etwas bei diesem Namen zu verweilen. Die
Tuirscha34) verloren in der Schlacht von Paari 742 Phallus,
34) Das sc ha anlaugend, vergleiche men das Rexuscha =
Rexus bei Mommsen: Unteritalisch. Diall. p. 6.
[1867. II. 4] 37
558 Sitzung der philos.-philol. Classe vom 7. Dezember 1867.
790 Hände und eine entsprechende Anzahl Gefangene. Es
heisst von ihnen, dass sie von den Ländern des Meeres ge-
kommen , dass sie den ganzen Krieg begonnen und ihre
Weiber und Kinder mitgebracht hatten. Auf dem Schlacht-
gemälde von Ramses III. hat der Tuirscha eine feine,
geradestehende Nase, langen Spitzbart; sein Helm gleicht
den etruskischen Casketen, nur ist er etwas höher und spitz-
zulaufend.
Schon hieraus dürfte erhellen, dass die Tuirscha den
tyrrhenischen Pelasgern entsprechen, wie von Ottf.
Müller und Lepsius schon längst behauptet worden ist. Da-
mit wird zugleich die alte Etymologie etwas bestätigt,
welche diesen Volksnamen mit turris xvoOiq Thurm zu-
sammenbrachte, weil die Tursker frühzeitig mit Mauern
und Thürmen befestigte Städte gründeten und bewohnten.
Diese Gleichstellung verhilft uns vielleicht zu der früher 35)
schon von mir ausgesprochenen Ueberzeugung , dass die
Tursker Indogermanen , also die etruskischen Inschriften
demgemäss zu erklären sind. Indess, wenn auch solche
sprachliche Vergleichungen noch zu wünschen übrig lassen,
so werden uns doch Texte der ägyptischen Denkmäler, wie
der des Meneptah, zu einer ungleich besseren Kenntniss des
Realen im Alterthume und bei den Klassikern verhelfen,
als sie mit den bisherigen Mitteln zu erreichen war. Möge
Vorstehendes zu weiteren Forschungen auf diesem grossen
Gebiete anregen.
35) „Die Geburt der Minerva auf der Cospianischen Schale"
Programm des Wilhelms-Gymnasiums in München 1852.
v. Martins: Beitrüge zur Ethnographie etc. Amerika' 's. 559
Mathematisch -physikalische Classe.
Sitzung vom 7. Dezember 1867.
Der Classensecretär Herr Geheinirath v. Martius legt
der Classe seine :
„Beiträge zur Ethnographie t und Sprachen-
kunde Anierika's, zumal Brasiliens"
vor, und bemerkt nach Anderm Folgendes:
Bei mir war durch die Erfahrung von der ausser-
ordentlichen Zersetzung und Vermischung der amerikanischen
Bevölkerung die Annahme gewaltiger Katastrophen vorbereitet
worden, welche gegenwärtig ihre Bestätigung in den merk-
würdigen antiquarischen Entdeckungen in Guatemala, Hon-
duras und Mexico findet. Die neuerlich gewonnenen Thatsachen
scheinen die Hypothese zu rechtfertigen : dass die Amerikaner,
als ein grosses Ganze aufgefasst, sich dermalen bereits nicht
blos in einem secundären sondern vielmehr in einem tertiären
Zustande befinden.
Da anthropologische Resultate, dergleichen vorzugsweise
in den Bereich der mathematisch-physikalischen Classe fallen,
bei meiner ethnographischen Darstellung nothwendig in den
Hintergrund treten müssen , so wage ich nicht ausführlicher
über meine Arbeit zu referiren.
Nur das Einzige sei mir erlaubt hier noch auszuführen,
dass mir die Tupi-Sprache , welche gegenwärtig, mehrfältig
abgewandelt, zu einer Lingua franca geworden ist, ein Mittel
an die Hand gegeben hat , viele sogenannte Völkerschaften
(Nacoes) als das zu erkennen , was sie in der That sind,
nämlich einzelne Familien oder kleine Gemeinschaften , die
37*
560 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867,
ohne eine abgeschlossene, ihnen eigenthümliche Sprache, in
beständiger Vermischung mit Andern und in einem fort-
währenden Umguss der Leiber begriffen, in ihren Sitten und
Gebräuchen aber zu einer gewissen Gleichförmigkeit mit vielen
andern nivellirt sind.
In vielen Flussgebieteu , deren jedes seine Natureigen-
thümlichkeiten hat und dadurch das Leben der Indianer
beeinfiusst, haben sich die Nachbarn zu einer gewissen Ge-
meinschaft zusammengelebt, und werden desshalb auch oft
als ein grösserer und mächtiger Stamm mit einem Namen
bezeichnet, so z. B. die Pamauris oder Purupurus am Puruz,
die Arinos und Guaupes an den Flüssen gleichen Namens.
Sie sprechen aber nichts destoweniger in jedem Gau , im
Gebiete eines jeden Nebenflusses einen mehr oder weniger
verschiedenen Dialekt (oder richtiger ein Kauderwälsch, Geri-
gonza , Giria) , worein Worte der Tupi-Sprache in verschie-
denem Verhältniss eingemischt sind. So schwinden die Hunderte
von Nationen , die man nennen hört , in wenige grössere
Gruppen zusammen; aber auch diese darf man nicht als
Völker in historischem Sinne betrachten. Während des „todten"
Schraubenganges, in welchem die Geschicke der amerikan-
ischen Menschheit seit Jahrtausenden begriffen sind, hat
keiner der gegenwärtig angenommenen Stämme ein hohes
Alter. Es ist an diesen regellos umherschweifenden oder die
Sitze wechselnden Menschen nichts so alt als ihre sich stets
erneuernde Vermischung. Daher kommt es auch, dass ein
und derselbe Volks- oder Stamm-Name an Menschengruppen
ertheilt wird , die weit von einander entlegen sind und in
keinem näheren Verhältniss der Abstammung zu einander
stehen. So ist z. B. der Name Gi-uära, d. i. obere Männer
oder Leute die (weiter) oben wohnen, eine am hohen Ama-
zonas und seinen südlichen Beitiüssen (dem Guallaga, Ucay-
ale u. s. w.) weitverbreitete Bezeichnung für eine sehr gemischte
Bevölkerung, und das Wort, in Jivaros, Jeveros, Jeberos
v. Martius: Beiträge zur Ethnographie etc. Jmerika's. 561
umgewandelt, bezeichnet oft auch keine reine Indianer-Ge-
meinschaft , sondern Mischlinge von Negern und Cafusos
(aus Indianer und Neger). Die Guaypunavis der Spanier am
Orinoco und die Maquiritares, welche Alex. v. Humboldt
als eine von den vier weissesten Nationen am obern Orinoco
nennt, lassen sich auch auf keine selbstständige Nationalität
zurückführen. Der erstere Name bedeutet die Sperber-Männer
(guibo, Sperber; aba zusammengezogen aus apiaba Männer),
eine Bezeichnung, die vielen nomadisirenden Indianer gegeben
und in der französischen Colonie in Emerillons übersetzt
wird. Die Maquiritares sind die Hangmatten-Diebe, die Ta-
rianas die Diebe überhaupt, die Miranhas die herumstreifenden
(nhanhe) Leute (Myra) , die Giporocas , jene , welche ihre
Häuser (oca) oben haben. Unter Birapugapara, die in Matto
Grosso und am Tapajoz augegeben werden, ist keine Nation
zu verstehen : es sind Vogelsteller nnd ebenso die Parapitatäs
solche, die Nachts mit Feuer in den Kähnen zu fischen
pflegen.
Der Tupi-Sprache angehörende Namen von Indianer-
Gemeinschaften kommen weit jenseits der Grenzen Brasiliens
in der Guyana und in Venezuela vor, wie z. B. Giräo-uara,
Pfahlbauten-Männer (Warraus).
Ausser den hie und da in Brasilien auftauchenden Tra-
ditionen von den Wanderungen nach Norden und dem sieg-
reichen Eindringen der kriegerisch wohlorgauisirten Tupis
zwischen die dort wohnenden Stämme, lassen viele Ortsnamen
und Worte in der Sprache der Caraiben auf den an tillischen
Inseln unter dein Winde kaum einen Zweifel darüber, dass
man diese Tupis in nächste Beziehung mit dem sogenannten
Volke der Caraiben bringen muss. Ja, noch mehr, ich halte
mich zu der Annahme berechtigt, dass es ein einheitliches
Volk der Caraiben nicht gegeben habe, sondern dass die
Tupis zwischen die dort hausenden Horden eindringend und
sie unterwerfend oder zu Theilnehinern ihrer Raubzüge
562 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
machend Veranlassung gegeben haben, zu jener Unterscheidung
zwischen einer friedfertigen Bevölkerung und grausamen
Anthropophagen (Caraiben, d. i. Cariaiba, böse Männer),
welche schon Columbus antraf. Sie setzten den überwundenen
Horden Häuptlinge (Porocotö , von Pora Volk und cotuc
ordnen) , und die Bezeichnung von Cumanacotes , Pariacotes
für die Bewohner von Cumana und Paria , u. s. w. ist ein
Rest jener Hegemonie . während die Verbindung der sieg-
reichen Eindringlinge mit andern Stämmen den Verlust
ihrer Sprache und eine tiefgreifende Vermischung der leib-
lichen Typen zur Folge gehabt hat. Auch in der Sprache
der Insel - Caraiben finden sich Beweise für diese Annahme,
indem sie viele Tupi- Worte verdorben enthält. So ist z. B.
der Amazonenstein, ein Amulet oder „Zauberstein" Jta curao
zu Tacaoua oder Taculoua geworden. Auf Trinidad und
mehreren der kleinen Antillen stiessen diese kriegerischen,
sich zu Wasser und zu Land ausbreitenden Tupis unter an-
dern Stämmen auch auf die milderen Arawaken (Aruac),
welche fleissig Mandioccamehl (Aru) bereiteten, und desshalb
die „Mehlmänner" genannt wurden. Bis in das Mosquitos-
Land drangen diese Tupis vor, und zahlreiche Ortsnamen
bezeugen, dass sie hier, an der Küste, zur Zeit vorherrschten.
v. KobeU: Typ. und empir. Formeln in der Mineralogie. 563
Herr v. Kobell liest
„Ueber die typischen und empirischen For-
meln in der Mineralogie".
Die Typentheorie wählt bekanntlich gewisse chemische
Verbindungen als Typen für andere , welche mit Austausch
ihrer Elemente nach Atomen oder auch Atomgruppen jenen
gleichgebildet erscheinen. Die wichtigste Rolle spielt nam ent-
heb für die Oxyde und Oxydverbindungen der Typus des
Wassers, indem dessen Wasserstoff durch die Elemente
solcher Verbindungen, welche nicht Sauerstoff sind, in der
Art ersetzt wird , dass von diesen entweder 1 Atom auch
1 Atom Wasserstoff ersetzt, oder dass 1 Atom 2 Atome
Wasserstoff ersetzt oder 3, 4, 6 etc. Diese Ersetzungs-
fähigkeit verschiedener Elemente hat man deren Atomig-
keit genannt. So sind Chlor und Fluor einatomig, weil
1 Atom derselben 1 Atom Wasserstoff ersetzt, ebenso
Kalium, Natrium u. a. ; dagegen sind Sauerstoff, Schwefel,
Calcium, Magnesium etc. zweiatomig und ersetzt 1 Atom
derselben 2 Atome Wasserstoff; Silicium ist vieratomig,
Aluminium sechsatomig u. s. w.
Die neuere Chemie hat die Atoraigkeit der verschie-
denen Elemente oder auch gewisser Gruppen derselbe (Ra-
dikale) ausgemittelt und danach chemische Formeln ent-
worfen und sind die in der Natur vorkommenden Silicate
von ihr dem Typus des Wassers zugetheilt oder auf analog
gebildete Kieselsäuren (Kieselsäurehydrate) bezogen werden.
Es entsteht nun die Frage, ob es für die Mineralogie
zweckmässig sei , ihre bisherigen chemischen Formeln auf-
zugeben und die neuen der Typentheorie einzuführen. Eine
Betrachtung der Silicate in dieser Beziehung dürfte zur Be-
antwortung dienen.
564 Sitzung d^r math.-phys. Ciasse vom 7. Dezember 1867.
Was zunächst das Hypothetische an den älteren und
neueren Formeln betrifft, so haben beide daran gleichen
Antheil, denn in welchem Zustande die Elemente in einer
chemischen Verbindung wirklich vorhanden, wissen wir nicht,
und die Begriffe der Atomigkeit und die Aufstellung der
Radikale haben das Gebiet der Hypothesen eher erweitert
als verringert1).
Es handelt sich daher bei den Formeln wesentlich
darum, mit Hilfe von Hypothesen solche zu geben , welche
der Art und dem Verhalten der betreffenden Verbindung
möglichst entsprechen und geeignet sind, eine Vergleichung
mit andern in einfacher Weise zu vermitteln, auch Anhalts-
punkte zur Beurtheilung der Analysen zu geben und un-
wahrscheinliche Verhältnisse als solche zu kennzeichnen.
Dabei offenbaren sich gewisse Gesetze, welche an den ein-
facheren Verbindungen zunächst erkannt, in den complicir-
teren wiedergefunden werden und die Combinationen regeln
und * beschränken.
Wenn die Mathematik angiebt, wie aus einer bestimm-
ten Krystallform alle übrigen, die man kennt oder die man
haben will, abgeleitet werden können, so offenbart sie da-
mit kein Naturgesetz, und wenn jedes Silicat, auch ein ganz
willkührlich erdachtes , auf eine "Siliciumsäure bezogen und
dem Typus des Wassers zugetheilt werden kann, so ist da-
mit ebensowenig ein Naturgesetz angezeigt. Das ist aber
nach den neueren Anschauungen bei den Silicaten der Fall.
Weltzien2), welcher den grössten Theil der bekannten
Silicate berechnet und nach der Anzahl der Siliciumatome
classificirt hat, fuhrt über 100 Siliciumsäuren (Kieselerde-
1) Vergl. Wittstein. „Widerlegung der chemischen Typenlehre.
München 1862."
2) Systematische Uebersicht der Silicate. Gieseen 1864.
v. Kobell: Typ. und empir. Formeln in der Mintralötjie. 565
hydrate) an und darunter Reihen von gleichem Silicium-
gehalt, deren gesain tute Sauerstoffatome sich in fortlaufen-
den Zahlen von 15 bis 28 und von 19 bis 36 steigern;
diese Säuren sind, ein Paar ausgenommen, sämmtlich hypo-
thetisch und da keine Schranke besteht, dergleichen noch
mehr anzunehmen, so erscheint jedes Silicat als gesetzmässig
gebildet, wenn es auch ganz beliebig construirt ist. Da
nämlich die Atomigkeit der in den Silicaten vorkommenden
Elemente doppelt so gross genommen ist, als die Zahl der
Sauerstoffatome, welche sich mit ihnen im Silicat verbinden,
so muss immer eine Mischung vom Typus des Wassers ent-
VI
stehen. So ist AI -f- 30 = 6H -f 30;
Ca + 0 = 2H-f 0; K2 + 0 = 2H -f 0 u. s. w.
Die Kieselerde wird Si gesetzt und ihre Atomigkeit als
IV angenommen, es verbinden sich also n At. Silicium mit
2n At. Sauerstoff und da n At. Si = 4nAt. H, so stellt
sich der Wassertypus her, da 4 At. H -f- 2 At. 0 = H =
Wasser. Es ist noch streitig, ob die Kieselerde Si oder Si,
wenn letzteres angenommen wird , so müsste die Atomigkeit
der Kieselerde auf VI erhöht werden, dann wäre es wieder
das Nämliche. Ich habe mehrmals daran erinnert, dass
wenn man sich für Si auf den Isomorphismus gewisser
Fluoride mit Zinn und Silicium beruft, doch die zunächst
liegende und überall zu beobachtende Thatsache, dass der
Quarz und der Zinnstein nicht entfernt isomorph sind, auch
in Betracht zu ziehen sein dürfte und dass dieses Verhält-
niss mehr für eine verschiedene als für eine analoge Zu-
sammensetzung der betreffenden Oxyde spreche. — Um ein
Beispiel zu dem oben Gesagten anzuführen . so ist die
typische Formel des Leucit
566 Sitzung der math.-pkys. Classe vom 7. Dezember 1867.
AI
K2 J
entsprechend: Kieselerde 54,9
Thonerde 23,6
Kali 21,5
012*)
100
Wenn man diese Mischung um ein Kleines verändert,
z. B. setzt: Kieselerde 56,4
Thonerde 22,8
Kali 20,8
100
so giebt die Typentheorie ohne Schwierigkeit die Formel
Si17
Bei einer Reihung der Silicate nach der Zahl der
Silicium-Atome kämen diese Mischungen weit auseinander,
obwohl sie sich so nahe stehen, dass die Differenz als un-
wesentlich betrachtet werden muss. Dieses Nahestehen tritt
aber beim Anblick der Formel nicht sogleich hervor. Sucht
man dagegen, nach der bisher üblichen Weise eine Formel
für das letztere Silicat, wie es vorliegt, so gelangt man zu
keiner annehmbaren und hat keinen Grund eine solche Ver-
bindung als eigentümliche Species anzuerkennen. Es ist
gewiss , dass das Vertheilen der Kieselerde unter die Basen
nach den üblichen Formeln sehr verschiedene Ansichten zu-
lässt und schwer zu erweisen, ob diese oder jene berech-
tigter sei, das Umgehen solcher Schwierigkeit, indem man
*) Si = 28, Al = 55, K = 39, 0 = 16.
p. KobeU : Typ. und empir. Formeln in der Mineralogie. 567
nur die Zahl der Atome der constituirendeu Elemente an-
giebt, entspricht aber noch weniger, denn bei jener Ver-
keilung wird man wenigstens auf gewisse Unwahrscheinlich-
keiten der Auffassung aufmerksam gemacht, bei der blossen
Angabe der Zahl der Atome und des höchst elastischen
Typus aber nicht.
Was die Reactionen und die Vorgänge bei chemischen
Zersetzungen betrifft, so lassen sich diese mit den typischen
Formeln in vielen Fällen einfacher erklären als mit den
nichttypischen und bieten auch jene mannigfaches Material
zu interessanten Speculationen , gleichwohl stehen sie in
anderen Beziehungen den letzteren nach. Die nichttypischen
Formeln zeigen die näheren Verbindungen der Elemente,
wie sie durch die Analyse zur Charakteristik der Verbind-
ung in Betracht kommen, während man sie aus den typi-
schen meistens erst herstellen muss und wie dieses zu ge-
schehen habe, muss man anderswoher wissen und giebt das
Zeichen darüber keinen Aufschluss. Wer den Leucit als ein
Silicat erkennen will, muss aus ihm Kieselerde darstellen
und die Formel KaSi -f ÄlSi3 oder Ka3Si2 -f 3AlSi2
zeigt diese Kieselerde unmittelbar an; nach der typischen
Formel muss er wissen, dass dem Silicium, welches sie an-
giebt, so viel von dem Collectiv-Sauerstoff der ganzen Ver-
bindung angehört, dass es zur Kieselerde wird und während
die gewöhnlichen Formeln ohne weitere Betrachtungen und
Erwägungen sagen ob in der Kieselerde 2 oder 3 Atome
Sauerstoff angenommen seien, ist dieses bei den typischen
Formeln nicht der Fall und muss erst mit Berücksichtigung
der anderen Oxyde ersehen werden. Ebenso ist es bei den
sog. empirischen Formeln, welche wie die typischen, nur
ohne Rücksicht auf das Gesetz eines Typus, das relative
Verhältuiss der Zahl der Atome verbundener Elemente an-
geben; ein Verhältniss, welches sich auch aus den gewöhn-
568 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
liehen Formeln leicht herausfinden lässt, indem man die
Zahl der gleichartigen Atome addirt. So ist die ältere
rationelle Formel des Plagionit Pb4S-b3 und man erhält die
empirische leicht = Pb4&b3S13; die letztere Formel zeigt
aber nicht wie die erstere an, dass das Mineral einer Ver-
bindung von 4 At. Galenit und 3 At. Antimonit gleich-
komme und dass, wie es der Fall, das Sb des letzteren
durch Kalilauge extrahirt und an dem durch Ansäuren ent-
stehenden charakteristischen Präcipitat leicht als solches er-
kannt werden kann.
Aus den bisher angeführten Beispielen ersieht man
auch, dass weder die typischen noch die empirischen For-
meln in Beziehung auf Kürze einen besonderen Vorzug vor
den gewöhnlichen haben und wenn auch Rammelsberg's
Formel für den Nosean = NaCl + 3(NaSi + AlSi)
-h 10(NaS + 3(NaSi + AlSi)
lang genug ist, so ist die typische
Si66
(SO2) 10
VI
AI 33
Na88
Q284
Cl2
auch nicht viel kürzer oder einfacher zu nennen.
Streng4) hat in einer sorgfältig gearbeiteten Ab-
handlung die angenommene Atomigkeit der Elemente für
das Verhältniss der Isomorphie mehrerer Silicate bespro-
chen und ist, indem er auch die Atom-Volume berücksich-
tigte, zu dem Schlüsse gekommen, dass in gleichgestalteten
Verbindungen sich die Bestandtheile nicht nur nach einzelnen
Atomen vertreten und ersetzen, sondern an die Stelle von
4) Neues Jahrbuch für Mineralogie von G. Leonhard und H.
B. Geinitz 1865 p. 411.
v. Kobett: Typ. und empir. Formeln in der Mineralogie. 569
a Atomen des einen Körpers können b Atome eines anderen
treten ohne Aenderung der Form, wenn die sich ersetzenden
Mengen chemisch gleichwertig oder äquivalent sind.
II IV
So ist nach ihm R3Si309 isomorph oder isomorpher
II VI ,, IV VI
Vertreter von R3i\l209 und werden 3Si durch 2A1 ersetzt,
indem beide 12 chemische Einheiten repräsentiren , ebenso
„ VI VI II II VI
ist 3R isomorph mit Fe; 3 Fe isomorph mit 9R; RAl isom.
IV II VI IV
mit Si2; R2A1* = 7 Si etc.
Die Formeln für den Anorthit und Albit schreibt
Streng, um eine allgemeine Uebereinstimmung derselben
zu erzielen, wie folgt :
II VI
Anurthit == nlVI
RAl
Albit
II VI
RAl
IV
Si2
Si4 016
IV II
Si4 016
und leitet die zwischenliegenden Feldspathe aus der Ver-
I£ VI IV
tretung von RAl und Si2 in verschiedenen Verhältnissen ab.
Für den Mejonit, Sarkolith und Humboldtilith , welche
isomorph, schreibt Streng:
»r • ., R 6 I VI IV II
Mejonit == VI \ Al2 Si9 036
AI 2
Sarkolith =
Humboldtilith =
R6
R3
VI
AI
VI
AI 2
IV
Si9
036
11 1
VI
' AI 2
rv
Si9
ii
0 36
570 Sitzung der math.-phys. Gasse vom 7. Dezember 1867,
Dem Epidot und Orthit, welche mit dem Mejonit von
analoger Zusammensetzung aber von sehr verschiedener
Krystallisation, giebt er nachstehende Formeln, obwohl sie
unter die vorhergehenden eingereiht werden können:
Epidoth : : vT [ ^13 gi9 036
Orthit = nv \ AI 3 Si9 036
R3
Es sind dieses Anwendungen bekannter in der Typen-
lehre aufgestellter Vertretungen, welche sich aber einfacher
so bezeichnen lassen, dass man sagt, Oxyde und Oxyd-
verbindungen vertreten sich isomorph, wenn die Zahl ihrer
Sauerstoffatome gleich ist, wie das schon von Laurent und
Dana5) ausgesprochen wurde; 2 Al = 3 Si; 3 R = Fe;
3 Fe = 9 R; RAl = 2 Si; R2Al4 = 7 Si etc. So hat
Dana aufmerksam gemacht, dass man die Formel des
Granats R3Si + ÄlSi auch schreiben kann (f/»R3 + a/2Al)Si
und hat in dieser Weise den Isomorphismus von Augit und
Spodumen erklärt. Augit = R3Si2, Spodumen = (R3,Ä)Si2,
genauer (1/6R,+,il/65)Si*J
Die Räthsel des Isomorphismus scheinen sich gleichwohl
mit den Versuchen ihrer Lösung nur zu mehren und die
Verhältnisse des Pseudodimorphismus von Descloizeaux6),
wonach kalkhaltiger Pyroxen klinorhombisch, kalkfreier
rhombisch und der manganhaltige Rhodonit klinorhomboi-
disch krystallisiren , wonach das schwefelsaure Kali rhom-
5) James D. Dana „A System of Mineralogy 1854". p. 208.
6) Mem. sur le Pseudodimorphisme etc. Ann. de Chimie et de
Physique. 4. ser t. I.
■c. KobeU: Typ. und empir. Formeln in der Mineralogie. 571
bisch, mit theilweiser Vertretung durch Natron aber hexa-
gonal; diese Verhältnisse werden zu einem neuen Hinder-
niss der Erkenntuiss , denn danach können Misch ungstheile
unter Umständen vollkommen isomorph und doch auch
wieder, und sogar in dreierlei Krystallsystemen heteromorph
sich zeigen, wie denn ihrerseits die Typentheorie in manchen
Fällen dasselbe Atom zwei- vier- und sechswerthig auftreten
lässt oder das einfache Atom zweiwerthig, das doppelte aber
sechswerthig, die Radikale CIO, CIO2 und CIO3 gleich-
werthig u. s. w.
Aus dem Gesagten aber dürfte genügend hervorgehen,
dass es zur Zeit kein Bedürfniss sei, die typischen oder auch
die empirischen Formeln statt der bisherigen in die Minera-
logie einzuführen.
572 Sitzung der math.-phys. Clause vom 7. Dezember 1867.
Herr v. Pettenkofer trägt vor:
„lieber den Stoffverbrauch eines Zuckerharn-
ruhr-Kranken von ihm und Herrn Prof. Dr.
Carl Voit."
Schon in der Sitzung am 10. November 1865 haben
wir über das Piesultat eines Versuches berichtet, den wir
mit einem Zuckerharnruhrkranken angestellt. Die weitere
Untersuchung führte uns auf die Notwendigkeit von Stoff-
wechselversuchen mit dem normalen Menschen, worüber wir
in den Sitzungen vom 10. November 1866 und 9. Februar
1867 der Classe Bericht erstattet haben. Wir theilen nun
einiges von den weitern Ergebnissen unserer Untersuchungen
mit dem Diabetiker zum Vergleich mit dem normalen
Menschen mit.
Vom August 1865 bis August 1866 haben wir an dem-
selben diabetischen Individuum sieben 24stündige Beobacht-
ungen im Respiratiousapparate unter Berücksichtigung aller
Einnahmen und Ausgaben des Körpers angestellt und haben
zwei davon in 12stündige Abschnitte getheilt. Ausserdem
hat einer von uns, (Voit) noch eine Anzahl von einzelnen
Bestimmungen nur der Ausscheidungen durch Darm und
Nieren im Zusammenhalte mit dem Genuss verschiedener
Kost gemacht, die in der Zeitschrift für Biologie mitgetheilt
werden sollen , in der überhaupt eine ausführlichere Dar-
stellung unserer Untersuchungen demnächst erscheinen wird.
Die folgende Tabelle enthält die Zahlen über die in der
Respiration ausgeschiedenen Menge (Gramme) Kohlensäure,
Wasser. Wasserstoff- und Grubengas und über die aus der
Luft aufgenommene Menge Sauerstoff; dann die sogenannte
Verhältnisszahl, nämlich den Quotienten, wie viel Procente
des aufgenommenen Sauerstoffes in der Form von Kohlen-
säure wieder ausgetreten sind, ferner über die im Harn
ausgeschiedenen Mengen Harnstoff und Zucker; endlich das
Körpergewicht des Kranken zu Anfang und am Ende jeden
Versuches in Kilogrammen.
v Pettenkofer: Stoffverbrauch bei Zuckerharnruhr.
573
Gemisclito
Kost in 2
Tageshälften
VII.
14. August
1866.
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VI.
10. August
1866.
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Reine
Fleisch-
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V.
19Januar.
1866.
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III.
27 Dezbr.
1865.
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Sehr reich-
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1. Februar
1866.
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Kohlensäure 24 Stunden
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Nacht
Wasser 24 Stunden
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Sauerstoff 24 Stunden
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Nacht
Verhältnisszahl 24 Stunden
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Harnstoff 24 Stunden
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Zucker 24 Stunden
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[1867.II.4.[
38
574 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1887.
Die Versuche wurden ebenso wie beim Gesunden bei
verschiedener Ernährung, ja einer selbst bei Hunger ange-
stellt, wozu sich der Kranke, der noch lebt, bestimmen
Hess, obschon ein fast unersättliches Verlangen nach Speise
zu den constanten Symptomen seiner Krankheit gehört. Um
ihm den Hunger erträglicher zumachen, reichten wir ihm in
seinem Getränk, das nur aus Wasser bestand, in 24 Stunden
eine geringe Menge Fleisch extrakt , was wir auch bei den
Hungerversuchen mit dem normalen Menschen gethan hatten.
Ueberblickt man die Zahlen der einzelnen Versuche und
vergleicht man sie mit denen des normalen Menschen, so
treten gewisse Untei schiede mit aller Bestimmtheit hervor.
Betrachten wir vor Allem die Grösse der Stickstoffausscheid-
ung im Harne, so finden wir mit Ausschluss der beiden
Versuche bei Hunger und bei eiweiss- (stickstoff-) freier
Kost im Mittel 65 Grmm. Harnstoff in 24 Stunden, während
unsre Tabelle vom normalen Menschen nur ein Mittel von
44 Grmm. ergiebt. Man sieht, dass die Eiweisszersetzung
im Körper des Diabetikers eine viel grössere als beim Ge-
sunden ist, was auch schon Houghton1) und Andere beobachtet
haben. Die mittlere Kost, welche den normalen Menschen im
Stickstoffgleichgewicht erhielt, und wobei er etwa 28 Grmm.
Harnstoff ausschied, reichte dem Diabetiker (Versuch III),
nicht aus, welcher dabei 48 Grmm. Harnstoff entleerte.
Er scheint eine reichliche Zufuhr von Eiweiss auch
viel schneller und leichter zu zerstören, als der Gesunde,
und damit sein Vorrathseiweiss nur sehr wenig oder nur
auf sehr kurze Zeit, sein Organeiweiss gar nicht vermehren
zu können; denn seine Harnstoffausscheidung steigt und fällt
mit der Eiweisszufuhr viel rascher, als beim Gesunden. Die
eiweissreiche Kost des Gesunden (Versuch X) enthielt 43 Grmm.
Stickstoff, die Fleischkost des Diabetikers (Versuch V) 46.
Davon schied der Gesunde am ersten Tage nur 67 , der
1) On Diabetes mellitus. Dublin 1861.
/■. Pettenkof'er : Staffverbrauch bei Zuckerharnruhr. 575
Diabetiker schon 74 Procent wieder aus. Ebenso verhält
sich auch das Fallen bei mangelnder Zufuhr. Wenn man
bei den Hungerversuchen den Harnstoff, welcher dem Stick-
stoffgehalt des gereichten Fleischextraktes entspricht, in Ab-
rechnung bringt, so schied der normale Mensch am ersten
Hungertage (Versuch I) noch 24.3, der Diabetiker nur mehr
20.5 Harnstoff aus, obwohl dieser unmittelbar vor dem
Hunger eine viel grössere Harnstoffzahl hatte als der Ge-
sunde. Hiemit stimmt auch ganz das Resultat überein,
welches die Versuche mit eiweissfreier Kost ergeben haben.
Der Gesunde, dessen Harnstoffzahl 40 selten überschreitet,
schied bei diesem Stickstoffhunger (Versuch XII) noch 27.7
Harnstoff aus, der Diabetiker, der für gewöhnlich viel mehr
Harnstoff ausscheidet, nur mehr 19.4.
Diese Thatsachen lassen also von zwei entgegengesetzten
Richtuugen her nur zu deutlich das gleiche Resultat er-
kennen , dass nämlich der Diabetiker das in der Nahrung
enthaltene Eiweiss nicht wie der Gesunde zur Vermehrung
seines Vorrathes im Körper und seiner Organe, sondern
nur zur raschen Zerstörung und Ausscheidung zu verwenden
vermag. Es ist nicht unwahrscheinlich , dass damit theil-
weise auch das unaufhörliche Gefühl der Erschöpfung und
der Ermüdung und des Hungers zusammen hängt, wor-
über diese Kranken beständig klagen.
Beim Gesunden steigt mit der Zufuhr und dem Um-
sätze von Eiweiss auch die Menge Sauerstoff, welcher aus
der Luft aufgenommen wird, (Banting-Cur) — beim Dia-
betiker ist die Sauerstoffaufnahme bei gleichem Eiweiss-
umsatze wesentlich geringer, wie beiin Gesunden. Das geht
übereinstimmend aus allen Versuchen hervor. Es finden
sich unter den am normalen Menschen angestellten einige,
welche nahezu den gleichen Stickstoffumsatz nachweisen,
wie in entsprechenden Fällen beim Diabetiker, z. B. das
Mittel der beiden Versuche X und XI mit eiweissreicher
38*
576 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Kost beim Gesunden und der Versuch V mit reiner 'Fleisch-
kost beim Diabetiker. Das Mittel der Versuche X und XI
ergiebt in 24 Stunden 61 Grmm. Harnstoff, der Versuch
mit dem Diabetiker 62. Unter diesen Umständen zeigt der
Gesunde eine Sauerstoffaufnahme von 863, der Diabetiker
nur Yon 613. Ebenso lehrreich sind die Versuche mit mitt-
lerer Kost, bei denen der Gesunde durchschnittlich 830
Grmm. Sauerstoff, der Diabetiker, nur 680 aufnahm, ob-
schon er einen noch höhern Eiweissumsatz hatte, als der
Gesunde. Nicht minder beweisend sind die Versuche mit
eivveissfreier Kost, bei welcher der Gesunde 850, der Dia-
betiker nur 610 Grmm. Sauerstoffaulhahme zeigt.
Am schlagendsten aber ist der Hungerversuch. Der Ge-
sunde schied im Mittel nach Abzug des auf das Fleisch-
extrakt treffenden Harnstoffs 23 Grmm. Harnstoff aus, der
Diabetiker nach Vornahme derselben Correktion nahezu 21.
Der Gesunde nahm dabei 760, der Diabetiker nur 344 Grmm.
Sauerstoff auf, mithin weniger als die Hälfte.
Wir haben in unsrer ersten Mittheilung schon die An-
sicht ausgesprochen, dass die verringerte Sauerstoffaufnahme
zu den wesentlichsten Momenten der Zuckerharnruhr gehöre.
Kühne meint in seinem jüngst erschienenen vortrefflichen
Lehrbuch der physiologischen Chemie, diese Ansicht könnte
ein Zirkelschluss sein, die Sache verstehe sich aus der ge-
steigerten Zuckerbildung überhaupt von selbst. Wir glauben
aber, dass den nun vorliegenden Thatsachen gegenüber jeder
Zweifel schwinden muss. Man weiss ausserdem mit aller
Bestimmtheit, dass nur die Eiweisskörper (wesentlich die
Blutkörperchen) das Geschäft der Condensation des in der
Atmosphäre enthaltenen Sauerstoffes und dessen Einführung
in den Kreis des Stoffwechsels besorgen: wenn man nun
thatsächlich wahrnimmt, dass der Diabetiker bei einem
gleichen , ja selbst bei einem grösseren Eiweissstoftwechsel
viel weniger Sauerstoff aufnimmt, als der Gesunde, dafür
v. Pettenkofer : Stoffverbrauch bei Zuckerharnruhr. 577
aber Produkte des Stoffwechsels, wie den Zucker, den der
Gesunde nur zu Kohlensäure und Wasser verbrannt aus-
scheidet, unverändert von sich giebt, so wird man wohl
nicht leicht anders schliessen können, als wir gethan haben.
Es wäre nur denkbar, dass nicht die verringerte Sauer-
stoffaufnahme, sondern nur eine vermehrte Zuckerbildung
die nächste Ursache der Zuckerausscheidung sei, wenn man
annehmen dürfte, dass unser Organismus bestimmte Vorricht-
ungen besässe, welche von dem aufgenommenen Sauerstoff
nur einen bestimmten Theil zur Zuckerverbrennung , den
übrigen zu andern Verbrennungen in Bereitschaft setzten.
Dieser Ansicht steht aber die Thatsache entgegen, dass der
Gesunde die verschiedensten und wechselndsten Mengen
Zucker, Fett u. s. w. zu verbrennen im Stande ist, wie aus
unsern Versuchen an dem normalen Menschen hinreichend
hervorgeht. Mit andern Worten, wenn wir einem Gesunden
verhältnissmässig dieselbe Menge Zucker reichen , die ein
Diabetiker erzeugt und unverbrannt im Harn entleert, so
wird der Gesunde bei dem entsprechenden Eiweissumsatze
diesen Zucker doch verbrennen, — mit noch andern Worten:
selbst der reichlichste Zuckergeuuss ist nicht im Stande,
Diabetes mellitus zu verursachen, denn es treten nur Spuren
von Zucker in den Harn über, wenn auch sehr grosse
Mengen auf einmal genossen weiden, und somit ist auch nicht
denkbar, dass eine blosse Steigerung der normalen Zucker-
bildung einem Menschen Zuckerharnruhr verursachen könnte,
wenn diese Steigerung nicht zugleich mit einer verhältniss-
mässigen Verringerung der Sauerstoffaufnahme zusammenfällt.
Wie das nun zugehe, dass beim Diabetiker der Zucker,
sowohl der von Aussen eingeführte, als der im'Organismuss
erzeugte, den Sauerstoff zu seiner Verbrennung nicht findet,
sondern im Harn austritt, darüber wagen wir vorläufig keine
bestimmte Meinung zu äussern: aber wir glauben durch
unsere Ansicht auf keinen Irrweg zu leiten und glauben,
578 Sitzung der math -phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
dass in der von uns eingeschlagenen Richtung die Antwort
auf die Frage zu finden sein müsste.
Der Stoffwechsel des Diabetikers im Hungerzustande
ist so lehrreich und wichtig, dass wir noch näher darauf
eingehen müssen. Wir wissen durch unsere Untersuchungen,
dass der normale Mensch im Hungerzustande ausschliesslich
von Fleisch (Eiweiss) und Fett seines Körpers und vom
Sauerstoff der Luft lebt. Wir vermögen nun auch für den
hungernden Diabetiker eine Stoffwechselgleichung aufzu-
stellen, aus der sich auf den ersten Anblick zu ergeben
scheint, dass er ebenso von vorräthigem Eiweiss und
Traubenzucker lebt, wie der hungernde Gesunde von
seinem Eiweiss- und Fett-Vorrath. Aus der Stickstoffaus-
scheidung beim Hungerversuche ergiebt sich, dass der
Kranke so viel Eiweiss zersetzt haben musste, als317Grmm.
Fleisch entspricht. In der Kohlensäure der Respiration
wurden 137 Grmm. Kohlenstoff entfernt, wovon 35 dem
Eiweiss entstammen konnten, nachdem sich die Elemente
des Harnstoffs abgetrennt hatten. Denkt man sich die
übrigen 102 Kohlenstoff als Zucker, so waren zur Verbrenn-
ung der beiden Gruppen 114 -f- 272 Sauerstoff nöthig.
Vergleicht man die auf diese Art berechnete (386) mit der
durch den Versuch gefundenen Menge (344) Sauerstoff, so
reicht der aufgenommene Sauerstoff nicht einmal ganz zur
Bildung der Kohlensäure aus. die theilweise auf Kosten des
Sauerstoffs im Wasser, durch eine Art Gährung, bei welcher
H oderCH2 auftritt, entstanden gedacht werden könnte. Die
fehlenden 42 Grmm. Sauerstoff erforderten das Auftreten
von etwa 5 Grmm. Wasserstoff, einer Menge, die in den
Versuchen, wo sie wirklich bestimmt worden ist, viel mehr
als erreicht wurde.
Wir können aber auch annehmen, dass der Kohlenstoff
der Kohlensäure in der Respiration nicht von Fleisch und
Zucker, sondern wie beim hungernden Gesunden von Fleisch
v. Pettenkofer : Stoffverbrauch bei Zuckerharnruhr. 579
und Fett geliefert worden sei, und dann sehen, wie bei
dieser Annahme Rechnung und Versuch zusammenstimmen.
In diesem Falle wäre zur Bildung der Kohlensäure 486 Grmm.
Sauertoff nöthig gewesen, was also die wirklich beobachtete
Menge um mehr als 140 Grmm. hinter sich lässt.
Dieses Verhältniss tritt auch noch bei einer andern
Rechnungsart des Hungerversuches hervor, zu welcher wir
die Daten in der Zeitschrift für Biologie mittheilen werden.
Stellt man sämmtliche Einnahmen und Ausgaben einander
gegenüber, so findet man, dass der Körper in 24 Stunden
161,8 Kohlenstoff * . ,
10,8 Stickstoff } VeH0ren md Um
63,7 Wasserstoff 1 zugenommen hat (wesentlich vom ge-
479,4 Sauerstoff / trunkenen Wasser).
Rechnet man nun aus der Stickstoffausgabe den Ei-
weiss- (Fleisch-) Umsatz, so ergeben sich 72 Grmm. trocknes
Fleisch mit 39,6 Kohlenstoff,
5,4 Wasserstoff.
10,8 Stickstoff und
16,2 Sauerstoff.
Setzt man die Elemente des Fleisches in Einnahme, so
bleibt noch eine Abnahme von 122,2 Kohlenstoff und
eine Zunahme von 58,3 Wasserstoff und
463,2 Sauerstoff.
Diese 122,2 Kohlenstoff lassen sich nun in einem Falle
als Zucker, im andern als Fett in die Rechnung einführen.
Stickstoff und Kohlenstoff der Einnahmen und Ausgaben
heben sich hiebei auf, es bleibt ein Ueberschuss von Wasser-
stoff und Sauerstoff, die sich naturgemäss zu Wasser er-
gänzen sollten. Je näher dieser Rest oder Ueberschuss der
beiden Elemente mit der Zusammensetzung des Wassers
stimmt, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit für die
Richtigkeit der hypothetischen Annahme. Ich lasse die Rech-
nung mit den beiden Annahmen folgen i
580 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Erster Fall mit Zucker.
Einnahmen.
C.
H.
N.
0.
Wasser , Fleischextrakt und
Sauerstoff aus der Luft
7,0
290,4
3,4
2662,4
Eiweiss vom Körper
39,6
32,1
10,8
230,1
Zucker ,', ,,
122,2
20,3
—
162,5
168,8 342,8 14,2 3055,0
Ausgaben.
Harn, Koth und Respiration 168,8 226,7 14,2 2183
Differenz ^~ 116,1 ^~ 872
116 Wasserstoff erfordern 928 Sauerstoff zur Wasser-
bildung, also 56 mehr als die Hypothese mit Zucker ergiebt.
Zweiter Fall mit Fett.
Einnahmen.
C.
H.
N.
O.
Wasser , Fleischextrakt und
Sauerstoff aus der Luft
7,0
290,4
3,4
2662,4
Eiweiss vom Körper
39,6
32,1
10,8
230,1
Fette „
122,2
17,0
—
15,5
168,8 339,5 14,2 2908,8
Ausgaben.
Harn, Koth und Respiration 168,8 226,7 14,2 2182
Differenz — 112,8 ^~ 725
112,8 Wasserstoff erfordern 902 Sauerstoff, um Wasser
zu bilden.
Man sieht, wie viel mehr die Rechnung stimmt, welche
auf die Hypothese gegründet ist, dass die 122 Grmm. Kohlen-
stoff in der Form von Zucker, als in der Form von Fett
beim Stoffwechsel betheiligt waren. Im ersten Falle differirt
Rechnung und Hypothese nur um 56, im zweiten Falle um
177 Sauerstoff, so dass der Unterschied mehr als ein drei-
facher ist.
Dass in jedem Falle Wasserstoff im Ueberschuss er-
scheint, könnte auffallen, erklärt sich aber sehr einfach aus
v. Pettenkofer : Stoff'verbraueh bei Zucke rhu rn rühr. 581
dem Umstände, dass die Bestimmung des gasförmig aus-
tretenden Wasserstoffs bei diesem Respirationsversuche nicht
gemacht wurde und zwar aus dem Grunde , weil wir zur
Sicherheit die Kohlensäure- und Wasserbestimmung doppelt
machen mussten, wozu wir aller 4 Untersuchungspumpen
des Apparates benöthigt waren, von denen sonst 2 zur Be-
stimmung von H und CH2 dienten. Für den Fall nämlich,
dass die einfache C02 oder HO-Bestimmung durch einen
Zufall verunglückt wäre, hätten wir den ganzen Versuch
wiederholen müssen , und wir hatten Ursache zu zweifeln,
erstens ob der Kranke sich nochmal dazu entschliessen
würde und zweitens, ob wir den Hungerversuch mit ihm
überhaupt nochmal wagen dürften , da er der Natur seiner
Krankheit so sehr widerstrebt. Es gieng übrigens besser
als wir vermutheten, er befand sich während und nach dem
Versuche nicht schlechter wie sonst. Wenn man nun an-
nimmt, dass während der 24 Stunden 7 Grmm. Wasser-
stoff ausgeschieden worden sind, eine Annahme, die nach
den sonstigen Bestimmungen gar nichts unwahrscheinliches
an sich hat, so stimmen Rechnung und Hypothese im ersten
Falle vollkommen überein, im zweiten aber fehlt es noch
um 121 Grmm. Sauerstoff. Man könnte somit mit aller
Zuversicht annehmen , dass der Diabetiker im Hunger von
einem Vorrathe an Eiweiss und Zucker in seinem Körper
zehrt.
So sehr alle Zahlen mit der Annahme stimmen , dass
der Diabetiker im Hunger nicht wie der Gesunde vorräthiges
Fett, sondern einen Zuckervorrath verbrennt , so unwahr-
scheinlich wird diese Annahme, wenn man bedenkt, wo
diese Zuckermenge (im gegebenen Falle 305 Grmm.) im
Körper irgend aufgespeichert sein sollte. Man weiss, dass
der gebildete Zucker, soweit er nicht zu Kohlensäure und
Wasser verbrennt, beständig und rasch durch den Harn ent-
fernt wird, gerade so wie der Harnstoff, und es ist nicht
582 Sitzung der math.-phys. Clause vom 7. Dezember 1867 .
zu glauben , dass sämintliche Organe eines Diabetikers zu-
sammen, wenn sie auch alle als etwas zuckerhaltig ange-
nommen werden, je einen Vorrath von 300 Grmm. enthalten
könnten. Wir müssen desshalb uns auch noch nach einer
andern Erklärung umsehen. Die Annahme, dass ein Vorrath
von Zucker verbrannt sei, beruht theils auf einer Beobacht-
ung, theils auf einer Voraussetzung; auf der Beobachtung der
in 24 Stunden aufgenommenen Menge Sauerstoff, und auf
der Voraussetzung, dass wahrend dieser Zeit kein anderer
Sauerstoff in den Stoffwechsel eingriff. Nun haben wir in
unsern Versuchen am normalen Menschen mehrfach gesehen,
wie sehr in gleichen Zeiträumen die Aufnahme und Abgabe
von Sauerstoff divergiren können, und es könnte sehr wohl
sein, dass der Diabetiker im Hunger ebenso von dem Ei-
weiss und Fett seines Körpers zehrt, wie der Gesunde, dass
er aber nicht genug Sauerstoff aus der Luft aufnehmen
kann, dafür aber von dem vorhandenen Sauerstoffvorrath in
seinem Körper verbraucht. Im vorliegenden Falle hätte
diese Menge gerade so viel betragen, als das Fett zu seiner
Umwandlung in Zucker bedarf, etwa 100 Grammen.
Je mehr man alle Umstände erwägt, um so wahr-
scheinlicher wird diese zweite Annahme. Der Vorgang ist
durchaus nicht ohne Beispiel beim Gesunden. Vergleichen
wir die Hungerversuche mit dem normalen Menschen bei
Ruhe und Arbeit, so zeigt sich, dass derselbe zwar in der
Ruhe sogar etwas mehr Sauerstoff aufnahm, als zur Ver-
brennung des umgesetzten Eiweisses und Fettes nöthig war,
dass er hingegen bei der Arbeit beträchtlich Sauerstoff von seinem
Körper hergegeben haben musste. Diess spricht sich am ein-
fachsten in der Verhältnisszahl aus, welche in der Ruhe 68
und 69, bei der Arbeit aber 80 beträgt. Selbst bei den Ver-
suchen mit mittlerer Kost zeigt sich an den Arbeitstagen
noch eine Erhöhung der Verhältnisszahl, wenn auch in viel
geringerem Maasse , bei den Versuchen im August von 94
r. Pettenliofer : Stoff verbrauch bei ZueVerharnruhr. 583
auf 98, bei denen im Dezember 1866 von 74 und 78 auf
82. Der Diabetiker würde sich daher im Hunger uud bei
Ruhe ähnlich verhalten , wie der Gesunde im Hunger uud
bei anstrengender Arbeit, es wäre nur die Differenz noch
grösser, indem die Verhältnisszahl im Mittel aller Versuche,
bei denen der Diabetiker Nahrung erhielt, zwischen 75 und
106 im Hunger schwankt.
Nimmt man beim hungernden Diabetiker die Sauerstoff-
abgabe vom Körpervorrathe und damit die Verbrennung
von Fett an, so hätte er im Ganzen etwa 100 Grmm. Sauer-
stoff zusetzen müssen. Diese Zahl erscheint nicht gross,
wenn man bedenkt, dass der hungernde Gesunde beim Ar-
beitsversuch eine noch grössere Menge verloren hat. Wir
haben mit dem Diabetiker allerdings nur einen Versuch bei
Hunger gemacht, aber wir halten das Resultat nichts desto
weniger für sicher, weil wir die Kohlensäure- und Wasser-
bestimmung der Perspiration doppelt machten, und beide
Bestimmungen sehr genau zusammengehen.
Unsere zweite Erklärung ist daher nicht nur möglich,
sondern viel wahrscheinlicher als die erste; sie stimmt auch
sehr gut mit der Thatsache, die sich bei allen übrigen Ver-
suchen in den Vordergrund drängt, nämlich dass der dia-
betische Organismus in der Fähigkeit, Sauerstoff aus der
Atmosphäre zu ziehen, irgend eine wesentliche Beschränkung
erleide.
Was die Zuckerausscheidung anlangt, so richtet sich
die Menge hauptsächlich nach der Grösse und Beschaffenheit
der Nahrung. Bei reiner Fleischkost sowohl als bei Hunger
scheidet der Diabetiker bekanntlich immer noch Zucker ausi
obschon beträchtlich weniger, als bei einer Kost, welche
aus Fleisch (Eiweiss) Fett und Kohlehydraten gemischt ist.
Bei reiner Fleischnahrung haben wir nahezu das gleiche
584 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Verhältniss zwischen Fleischeinnahme und Zuckerausscheidung,
wie Gri es ing er2) beobachtet. Die Kohlehydrate der Nahrung
scheinen im Leibe des Diabetikers einfach in Traubenzucker ver-
wandelt und als solcher ausgeschieden zu werden, vorausgesetzt,
dass daneben so viel Eiweiss und Fett zur Disposition ist, um
die Menge Sauerstoff zu belegen, welche sein Körper über-
haupt aufzunehmen vermag. Es ergiebt sich aber in solchen
Fällen, dass bei einer Kost, wenn sie auch an Kohlehydra-
ten bereits sehr reich ist, immer auch noch Zucker aus Ei-
weiss oder Fett gebildet wird. Beim Versuch II am 5. August
1865 , in welchem die grösste Zuckerausscheidung zu be-
obachten ist, genoss der Kranke, soviel er nur mochte. In
seiner Tageskost waren so viel Kohlehydrate enthalten, dass
daraus 529 Grmm. Zucker gebildet werden konnten, er
schied aber 644 aus, also 115 Grmm. noch mehr.
Fehlt es aber in der Nahrung an Eiweiss und Fett, so
wird auch von dem aus den Kohlehydraten gebildeten Zucker
verbrannt, wie das neben dem Hungeversuche auch noch der
Versuch mit eiweissfreier Kost gelehrt hat. Im letztern
war die Nahrung so zusammengesetzt, dass die Einnahme
an Kohlenstoff 354 Grmm. betrug. Aus den Kohlehydraten
konnten etwa 670 Grmm. Zucker gebildet werden; ausser-
dem genoss er noch 105 Grmm. Fett und l1/« Liter Bier.
Er schied nur 429 Zucker im Harn aus. Die Stoffwechsel-
bilanz zeigt ferner, dass der Kranke an diesem Tage über-
diess noch 72 Grmm. Kohlenstoff in irgend einer Form von
seinem Körper zugesetzt hatte, während der normale Mensch
der in seiner eiweissfreien Kost (XII) im Ganzen nur 229
Grmm. Kohlenstoff zugeführt erhielt, nur 18 Grmm. C von
seinem Körper hergab. Man sieht, um wie viel mehr der
2) "W. Grieeinger, Studien über Diabetes Archiv für pbysiolog.
Heilkunde 1859. S. 1.
r. l'rttenkofcr: Stoff'rerbrauch bei Zuckerharnruhr. 585
Organismus im einen und im andern Falle verbraucht, und
wie wenig dem grössern Stoffaufwand des Diabetikers auch
nach dieser Richtung hin ein grösserer Nutzeffekt entspricht.
In den sieben Versuchen mit dem Diabetiker haben
wir viermal auf die Ausscheidung von Grubengas und
Wasserstoffgas untersucht. Leim Versuch III erreichten
beide Gase ihr Maximum. Bei dem Versuch V mit reiner
Fleischkost ergab sich nur H, kein CH2. Wir sind nicht
im Stande, bestimmte Ansichten über die Ursachen der
vorgekommenen Schwankungen aufzustellen, aber das Auf-
treten dieser Gase überhaupt in so grosser Menge
(15 Grmm. Wasserstoff nehmen den Raum von 166 Litern
ein) scheint uns von Bedeutung für den Prozess des Stoff-
wechsels bei dieser Krankheit zu sein. Neben der unvoll-
kommenen Oxydation gehen beträchtliche Gährungserschein-
ungen im Darm, vielleicht auch in andern Organen einher.
Bei unserm Kranken machte sich die auffallend starke Gas-
entwicklung auch noch durch eine Nebenwirkung, durch
Verbreitung sehr übler Gerüche bemerkbar. Er hatte seine
Verpflegung für gewöhnlich in dem Krankenzimmer des
Reisingerianum's, -welches er meistens mit noch 2 andern
Kranken theilte, die sich nicht selten über die Ausdünst-
ung des Diabetikers ernstlich beklagten.
Was endlich die Verhältnisszahlen, die Quotienten aus
dem der Luft entzogenen und in der ausgeschiedenen Kohlen-
säure wieder enthaltenen Sauerstoff anlangt, so überraschen
sie in der Mehrzahl der Versuche durch ihre niedrigen
Ziffern, als ob die Nahrung nur ans Flusch und Fett be-
stände. Wann Fett allein, aber vollständig verbrennt, sollte
die Verhältnisszahl 73, bei Fleisch allein 82 , bei Zucker
(Kohlehydraten) allein 100 sein. Mit Ausnahme des Hunger-
versuches bewegt sich die Verhältnisszahl sogar etwas unter
der Grösse, die sie bei gleicher Nahrung beim normalen
Menschey erreicht. Das ist eine nothwendige Folge der
586 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Zuckerbildung aus Eiweiss und Fett, wozu Sauerstoff aus
der Luft nöthig ist und dann des Nichtverbrennens des ge-
bildeten Zuckers, d. h. eine Folge des Austretens eines
Theiles des aus der Luft aufgenommenen Sauerstoffs nicht
in der Form von Kohlensäure durch die Lungen, sondern
in Form von Zucker durch den Harn. Die höchste Zahl
(106) zeigt sich beim Hungerversuche. Aehnliche Zahlen
haben Regnault und Reiset *bei ihren Versuchen mit Gras-
fressern und wir bei Fütterung des Hundes mit Fleisch und
Zucker gefunden, und man kann, wie ich oben auseinander
gesetzt, die niedrige Zahl beim hungernden Diabetikers so
auffassen, dass er entweder wie die Grasfresser von Eiweiss
und überwiegend von einem Kohlehydrat, von Zucker lebt,
oder dass er Sauerstoff von seinem Körper verliert.
Die Wasserverdunstung durch Haut und Lungen ist im
Ganzen geringer als beim Gesunden und gleichmässiger, was
wahrscheinlich nur eine Folge der trockenen Hautbeschaffen-
heit und der geringen Wärmeentwicklung des Kranken ist.
Wie sehr eine gesteigerte Verbrennung, eine dadurch vermehrte
Kohlensäurebildung sonst die Wasserverdunstung steigere,
geht aus unsern Versuchen am normalen Menschen hervor,
wenn man Ruhe- und Arbeitstag vergleicht. An den Arbeits-
tagen wurde durchschnittlich eine doppelt grössere Menge
Wasser verdunstet, als an den Ruhetagen. Einen Arbeits-
versuch mit dem Diabetiker zu machen, war natürlich wegen
seiner völligen Kraftlosigkeit eine Sache der Unmöglichkeit,
da er sich in der Ruhe schon viel müder fühlt, als der Ge-
sunde nach dem anstrengendsten Tagwerk.
Auch die Theilung der 24stündigen Stoffwechselversuche
in zwei Hälften, in Tag und Nacht lässt einige weitere in-
teressante Gesichtspunkte erkennen. Diese Theilung wurde
bei den Versuchen VI und VII vorgenommen. Diese sind
zunächst vergleichbar mit den Versuchen V, VI, VII und
XIV am normalen Menschen. Es wurde dafür gesorgt, dass
v. Pettenkofer: Stoft'verb rauch bei Zuckerharnruhr. 587
bei diesen Versuchen der Kranke am Tage sich nicht der
Ruhe im Bette hingeben konnte; er sass den Tag über auf
dem Stuhle, strickte, las und sprach oft laut, gieng auch
in der Kammer zeitweise auf und ab. Am 10. August (VI)
nahm er seine Kost zu gewöhnlichen Zeiten, wesentlich am
Tage; am 14. August (VII) erhielt er sie in zwei gleichen
Hälften. Morgens zu Anfang des Versuches die erste , und
12 Stunden darnach die zweite. Man ersieht, dass der
Unterschied in der Kohlensäureausscheidung zwischen Tag
und Nacht nie so gross ist, wie beim normalen Menschen.
Es ist auch kein wesentlicher Unterschied, üb mau dem
Diabetiker die Kost in einer Abtheilung oder auf zwei gleiche
Zeithälften vertheilt gab.
In der Sauerstofl'aufnahme zeigt sieh , dass auch der
Diabetiker in der Nacht mehr als am Tage aufnimmt. Auch
beim Diabetiker wird der Unterschied durch Vertheilung der
Kost auf zwei gleiche Tageshälften grösser, ebenso wie beim
Gesunden (XIV).
Noch auf einen andern, wie uns scheint, nicht unwich-
tigen Umstand wurden wir durch die in zwei Abschnitte
getheilten Versuche aufmerksam, nämlich auf die in gleichen
Zeitabschnitten und bei einer analog zusammengesetzten
Nahrung ausgeschiedenen Mengen Harnstoff und Zucker, mit
andern Worten auf den gleichzeitigen Gang der Eiweisszersetz-
ung und der Zuckerbildung im Körper. Sie gehen, was die
Zeit anlangt, auffallend parallel. Wir wollen dem Ergebniss
der Versuche VI und VII vom 10. und 14. August, die in der
Tabelle aufgeführt sind, noch das eines andern am 11. August
angestellten hinzufügen, wo die Nahrung ähnlich wie am 10.
war, aber die Produkte der Respiration unberücksichtigt
blieben. Es wurde an diesen 3 Tagen ausgeschieden
588 Sitzung der math.-phys. Classe vom ?. Dezember 1867.
a. b. c.
Harnstoff bei Tag 29,7 20,7 35,4
„ Nacht 20,1 22,4 30,5
Zucker bei Tag 246,4 167,6 275,4
„ Nacht 148,1 188,2 259,9
Ein gewisser Parallelismus ist unverkennbar , und es
lässt sich bei diesen drei analogen Versuchen aus dem Harn-
stoff nicht nur die Zuckermenge im Ganzen, sondern auch
für die einzelnen Zeithälften ziemlich annähernd berechnen.
In diesen 3 Tagen wurden 157,8 Harnstoff und 1285,6
Zucker entleert, was im Mittel auf 100 Harnstoff 814 Zucker
entspricht.
Es ergiebt nun
für -24 Stunden
a. b. c.
die Rechnung 405 350 536 Zucker
der Versuch 394 356 535
ferner für den Tag
die Rechnung 242 168 288 „
der Versuch 246 167 275
für die Nacht
die Rechnung 163 182 248 „
der Versuch 148 188 259
Diese Uebereinstimmung zwischen Rechnung und Ver-
such ist gewiss kein Zufall und deutet auf eine innige Be-
ziehung zwischen Eiweisszersetzung und Zuckerbildung bei
analoger Nahrung hin.
Vergleichen wir zum Schluss noch einen Augenblick
den Diabetiker mit dem Manne Nr. II in unsern Normal-
Versuchen, mit dem wir nur einen einzigen Versuch (XV)
angestellt haben. Wir hatten den Mann Nr. II ausgewählt,
weil derselbe für gewöhnlich sehr schlecht und kümmerlich
sich nährte, klein und mager, aber sonst gesund war. Wir
v. Pettenkofer: Stoff verbrauch bei Zuckerharnruhr. 589
wollten nur sehen, wie ein solcher Körper mit der mittleren
Kost, die den kräftigen und wohlgenährten Mann Nr. I ganz
auf seinem Bestände erhielt, haushalten würde. Es war
vorauszusehen, dass er seine Nahrung nicht sofort in 24
Stunden umsetzen, nicht so viel Sauerstoff aufnehmen und
nicht so viel Kohlensäure erzeugen würde, wie Nr. I, weil
alle seine Organe kleiner und mangelhafter ernährt sein
mussten; wir wollten nur sehen, wie viel Ansatz und in
welcher Form er zunächst erfolge. Die in der Zeitschrift
für Biologie bereits mitgetheilte Stoffwechselgleichung2) zeigt
deutlich, dass Nr. II. wohl in's Stickstoffgleichgewicht mit
seiner Nahrung gekommen war , aber 90 Grmm. Kohlen-
stoff nicht ausschied, die er nach dem Ergebniss der Gleich-
ung als Fett (114 Grmm.) zurückbehalten hat.
Bei derselben mittleren Kost zeigte der Diabetiker nicht
nur kein Stickstoffgleichgewicht, sondern gab noch 24 Pro-
cent darüber von seinem Körper her. Er setzte auch keinen
Kohlenstoff an, wie der Mann Nr. II, sondern verlor bei
dieser Kost noch 67 Grmm. von seinem Körperkohlenstoff-
vorrath dazu. Merkwürdiger Weise schied der kleine Mann
Nr. II bei einer Aufnahme von nur 594 Grmm. Sauerstoff
mehr Kohlensäure aus, als der Diabetiker der 680 Grmm.
0 aufnahm und setzte noch 114 Grmm. Fett an; er würde
sich mit derselben Kost also, mit der der Diabetiker seine
Ausgaben nicht entfernt bestreiten konnte, in kurzer Zeit
gemästet haben.
Hätte man nur den Versuch XV am normalen Menschen
und den Versuch III am Diabetiker zum Vergleiche, so
könnte man der Ansicht Raum geben, dass der wesentliche
Unterschied darin bestehe, dass der Gesunde das Eiweiss
in Harnstoff und Fett umsetze und letzteres, wenn es keine
2) Zeitschrift für Biologie. Bd. II. S. 514.
[1867. II. 4.] 39
590 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Gelegenheit zu verbrennen findet, im Körper aufspeichere,
der Diabetiker aber es in Harnstoff und Zucker verwandle,
und grossentheils im Harn ausscheide. Diese Anschauung
wäre im Sinne der Schi ff sehen Hypothese, dass die nächste
Ursache des Diabetes mellitus nur eine gesteigerte Zucker-
bildung sei, eine Anschauung, der auch Kühne huldiget, der
wir uns aber aus den oben angeführten thatsächlichen Grün-
den nicht anschliessen können.
Wir halten durch unsere Untersuchungen, in welchen
wir die ersten vollständigen, von allen hypothetischen Zahlen
freien Stoffwechselgleichungen für eiuen kranken Menschen
geliefert haben , für constatirt , dass beim Diabetiker ein
grösserer und schnellerer Eiweissumsatz stattfindet, feiner
dass der Kranke bei gleichem Eiweissumsatz weniger
Sauerstoff aufnimmt, als ein Gesunder; dann dass er
im Hungerzustande entweder von einem Vorrath an
Eiweiss und Zucker in seinem Körper lebt, oder, was
wahrscheinlicher ist, eine beträchtliche Menge Sauerstoff
von seinem Körper verliert, und endlich, dass die Bildung
und Ausscheidung von Harnstoff und Zucker einen gewissen
Zusammenhang sowohl nach Zeit als nach Menge verrathen.
Diese vier Thatsachen scheinen uns feste Grundlagen für
weitere Forschungen über diese Krankheit abzugeben.
Büchner: Vergiftung mit Blausäure. 591
Herr B u c li n e r sprach :
„Ueber die Beschaffenheit des Blutes nach
einer Vergiftung mit Blausäure".
Beobachtungen über die Beschaffenheit des Blutes von
Thieren, welche mit Blausäure getödtet worden waren, sind
in neuester Zeit mehrere gemacht worden. In München
haben hierüber die Herren Collegen Voit und Heinrich
Ranke genaue Versuche angestellt und in Bonn hat Hr.
Dr. W. Preyer die Blausäure zum Gegenstand einer aus-
führlichen physiologischen Untersuchung gemacht, deren bis-
herigen Ergebnisse er in seiner vor wenigen Tagen er-
schienen Schrift: „Die Blausäure physiologisch unter-
sucht. Erster Theil. Bonn 1868" bekannt gemacht hat.
Der am 21. November dieses Jahres in München
geschehene Mord an der Frau Gräfin Chorinsky Ledske,
welcher, wie schon die Section vermuthen Hess und wie die
darauf von mir vorgenommene chemische Untersuchung
ausser Zweifel stellte, mittelst Blausäure verübt worden war,
hat mir Gelegenheit verschafft, die Beschaffenheit von mensch-
lichem Blute nach einer solchen Vergiftung näher kennen zu
lernen, denn unter den mir zur chemischen Untersuchung
übergebenen Objecten befand sich auch das bei der Section
der Leiche der genannten Gräfin gesammelte Blut, dessen
Menge 285 Gramme, mithin etwas über x\% Pfund betrug.
Meines Wissens ist man über die Art und Weise, wie
der genannten Gräfin das Gift beigebracht wurde, noch voll-
kommen unaufgeklärt. Der Rest des Thee's , den die Un-
glückliche unmittelbar vor ihrem Tode in Gesellschaft ihrer
angeblichen Mörderin getrunken', so wie die übrigen auf
dem Tische vorgefundenen Flüssigkeiten, nämlich Milch,
39*
592 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Rum und Trinkwasser, dann der Inhalt des Nachttopfes ent-
hielten weder Blausäure noch Cyankalium ; auch die anderen
zur Untersuchung gebrachten Gegenstände aus der Wohn-
ung der Gräfin waren mit Ausnahme eines Gläschens mit
Kirschlorbeerwasser , welches aber noch ganz voll war und
dessen Inhalt der Aufschrift zufolge als ein Mittel gegen
Leibschneiden benutzt werden sollte, vollkommen frei von
diesen Giften.
Die aufgeworfene Frage, ob Gräfin Gh. mit freier Blau-
säure oder mit Cyankalium vergiftet worden sei, konnte
durch die chemische Untersuchung nicht bestimmt beantwortet
werden, wohl aber kann ich mit Gewissheit behaupten, dass
vier Tage nach dem Tode das Cyan im Mageninhalt und
auch im Blute nur als freie Blausäure und nicht als Cyan-
kalium vorhanden war und dass folglich, wenn auch Gräfin
Ch. Cyankalium bekommen hätte, dieses durch chemische
Zersetzung vollkommen in Cyanwasserstoff (Blausäure) ver-
wandelt worden wäre.
Der dickbreiige Mageninhalt, welcher hauptsächlich aus
zerkleinertem Schinken und Kartoffelresten bestand, roch
etwas faulig, aber ausserdem so auffallend nach Blausäure,
dass man schon dadurch auf die Vermuthung einer Blau-
säure-Vergiftung geführt wurde. Dieser mit Wasser gehörig
verdünnte Magenbrei röthete Lackmuspapier ziemlich stark;
als ein Theil davon destillirt wurde, gieng gleich AnfaDgs
so viel Blausäure über, dass das Destillat nicht nur den
charakteristischen Blausäure-Geruch im hohen Grade besass,
sondern auch die bekannten chemischen Reactionen der Blau-
säure in unverkennbarer Weise zeigte.
Dass der Mageninhalt ausser Blausäure nicht auch
Cyankalium oder eine derartige Cyanverbindung enthalte,
konnte schon aus der sauren Reaction desselben geschlossen
werden, indessen wurde, um den Beweis davon vollständig
zu liefern, die Destillation des Magenbreies mit Wasser so
Buchner: Vergiftung mit Blausäure. 593
lange fortgesetzt, bis keine Blausäure mehr überging, worauf
man den Destillationsrückstand mit Phosphorsäure vermischte
und abermals destillirte. Aber diessmal konnte im De-
stillat keine Spur von Blausäure mehr entdeckt werden.
Ich habe, um die Menge der im Mageninhalt am
9. Tage nach dem Tode der Gräfin Ch. noch vorhandenen
Blausäure beiläufig zu bestimmen, die Quantität dieser Säure
in jenem Destillat, welches aus ungefähr einem Drittel des
Magenbreies erhalten worden war , ausgeraittelt. Es ergab
sich hiebei eine Menge, welche auf den ganzen Mageninhalt
berechnet nahezu 0,075 Grmm. oder 1,2 Gran wasser-
freier Blausäure entspricht. Eine solche Menge ist in einem
Quentchen der officinellen Blausäure und in ungefähr zwei
Unzen Bittermandel- oder Kirschlorbeerwassers enthalten.
Gräfin Ch. musste aber eine grössere Menge Blausäure er-
halten haben, weil ein Theil des Giftes, abgesehen von der
Verdunstung, in das Blut und in andere Organe überging
und desshalb nicht mehr im Magen gefunden werden konnte.
Nebenbei will ich bemerken, dass das wässerige De-
stillat aus dem Speisebrei Lackmuspapier nicht röthete und
dass demnach dieser Chymus ausser Blausäure keine andere
flüchtige freie Säure und namentlich keine freie Salzsäure
enthielt. Die das Lackmuspapier röthende Substanz blieb
im Destillationsrückstand und ist demnach fixer Natur;
dieser saure Rückstand lieferte nach dem Filtriren und durch
Eindampfen auf ein kleines Volumen eine gelbliche Flüssig-
keit, welche bei der Dialyse an das vorgeschlagene Wasser
hauptsächlich die Säure und einige Salze abgab. Diese
Flüssigkeit wurde bis zur Syrupsconsistenz eingedampft und
dann ein paarmal mit warmem Weingeist behandelt, wobei
sich ein Theil auflöste. Der Verdampfungsrückstand der
weingeistigen Flüssigkeit röthete Lackmus sehr stark, zeigte
sich aber frei von Phosphorsäure; die darin vorhandene
fixe Säure war vielmehr organischer Natur und verhielt sich
594 Sitzung der math.-phys. Glasne vom 7. Dezember 1867.
wie Milchsäure; die Asche, welche beim Verbrennen zurück«
blieb, reagirte nicht mehr sauer , sondern im Gegentheil
schwach alkalisch; Kali war darin in nur sehr geringer
Menge und, wie es scheint, als Chlorkalium vorhanden; der
Hauptsache nach bestand diese Asche aus Chlornatrium.
Der in Weingeist unlösliche Theil des Dialysirten rea-
girte schwach sauer und war reich an Phosphorsäure und
an Kali; ausser phosphorsaurem Kaü konnte darin nichts
Beinerkenswerth.es gefunden werden.
Das ganze Verhalten der in Wasser löslichen Stoffe
aus dem Destillationsrückstande des Mageninhaltes stimmt
also mit demjenigen des Fleischsaftes überein; dasselbe
unterstützt keineswegs die Annahme, dass Gräfin Ch. durch
Cvankalium vergiftet worden sei.
Was nun die Beschaffenheit des Blutes aus der Leiche
der Gräfin Ch. betrifft, so bot dasselbe einige auffallende
Verschiedenheiten von gewöhnlichem menschlichen Leichen-
blute dar. Es fiel zunächst auf, dass dieses Blut eine helle
kirschrothe Farbe hatte und diese Farbe mehrere Tage lang
behielt, so wie dass dasselbe am fünften Tage und auch
noch längere Zeit nach dem Tode nicht geronnen, sondern
vollkommen flüssig war. Erst nach einigen Wochen fand
mau denjenigen Theil des Blutes, welchen man in einem
lose bedeckten Gefässe bei ziemlich niedriger Temperatur
der Luft ausgesetzt hatte, in eine dünne Gallerte verwandelt.
Der hohe Grad der -Unveränderlichkeit dieses Blutes gab
sich feiner durch seine lange Unfähigkeit zu faulen zu er-
kennen. Am fünften Tage nach dem Tode roch es, obwohl
vor dem Zutritt der Luft nicht geschützt, wie ganz frisches
Blut; später nahm es einen etwas ranzigen Geruch, dem-
jenigen alter Butter nicht unähnlich, an; ein Theil des
Blutes, welcher in einem verschlossenen Glase aufbewahrt
wurde, zeigte erst nach mehreren Wochen schwachen
Fäulnissgeruch. Auch konnte an dem der Luft ausgesetzten
Büchner: Vergiftung mit Blausäure. 595
Blute lange keine Schimmelbildung beobachtet werden; erst
als das Blut etwas geronnen war, waren auf seiner Ober-
fläche einzelne Sehimmelpartien zu bemerken. Ich habe
diesem noch hinzuzufügen, dass bei einer wenige Tage nach
der Section vorgenommenen mikroskopischen Beobachtung
des Blutes die meisten rothen Blutskörperchen darin zer-
stört waren.
Um zu sehen, ob sich in diesem Blute, welches, wie
vorhin erwähnt, wie ganz frisches Blut aber durchaus nicht
nach Blausäure roch, diese Säure am fünften Tage nach
dem Tode chemisch nachweisen lasse, wurde ein Theil des-
selben gehörig mit Wasser verdünnt und der Destillation
unterworfen. Die erste Portion des Destillats, welche be-
sonders aufgefangen wurde, besass den Geruch nach Blau-
säure ganz unverkennbar. Silberlösung brachte darin so-
gleich eine weisse Trübung hervor, die sich beim Schütteln
zu einem flockigen, sich wie Cyansilber verhaltenden Nieder-
schlag zusammen begab. Das mit Kalilauge und hierauf
mit ein Paar Tropfen Eisenoxyduloxyd-Lösung vermischte
Destillat wurde beim Ansäuern mit Salzsäure intensiv blau
und bildete nach einiger Zeit einen Niederschlag von Ber-
linerblau. Mit einigen Tropfen Schwefelammonium ver-
mischt und auf ein kleines Volumen eingedampft, gab es
mit Eisenchlorid eine intensiv blutrothe Färbung, die bewies,
dass sich hier llhodanammonium gebildet hatte, welches nur
aus der im Destillat vorhandenen Blausäure entstanden sein
konnte.
Durch diese Versuche ist also der Beweis auf das Be-
stimmteste geliefert, dass sich noch am fünften Tage nach
dem Tode Blausäure in dem Blute damit Vergifteter sicher
erkennen lässt. Es ist mir diess selbst ein paar Wochen
später noch gelungen , ja sogar in dem fast vertrockneten
Blute, welches sich aus der Mundhöhle der Leiche über den
oberen Theil der Kleidung und auf die Stelle des Zimmer-
596 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
bodens, auf welcher Gräfin Ch. am zweiten Tage nach
ihrer Ermordung liegend gefunden wurde , ergossen hatte,
konnte ich auf die vorhin beschriebene Weise Spuren
von Blausäure deutlich nachweisen, ebenso in den mir zur
Untersuchung überschickten Eingeweiden und namentlich in
der Leber und Milz.
Als die empfindlichste Methode, um geringe Spuren
von Blausäure zu entdecken, hat sich hiebei die von Hrn.
v. Liebig ausgemittelte *) gezeigt, welche auf der leichten
Umwandlung der Blausäure in Rhodanammonium durch
Schwefelammonium und der Reaction des Eisenchlorides auf
das Rhodanammonium beruht. Dieser Methode am nächsten
steht hinsichtlich der Empfindlichkeit die Umwandlung der
Blausäure in Berlinerblau. Aber man muss, um bei sehr
geringen Spuren von Blausäure die blaue Färaung sichtbar
zu machen, das mit Kalilauge versetzte Destillat zuvor auf
ein kleines Volumen eindampfen, ehe man sie mit einem
oder zwei Tropfen Eisenoxyd-Oxydullösung vermischt und
mit Salzsäure ansäuert. Auch kommt der Niederschlag von
Berlinerblau in Form blauer Flöckchen oft erst zum Vorschein,
wenn man die Flüssigkeit in einer Probirröhre ein Paar Tage
lang massiger Wärme ausgesetzt hat. Spuren von Blausäure
weiden auch durch Silberlösung angezeigt, allein da das
Cyansilber keine charakteristische Farbe hat und Spuren
desselben von Chlorsilberspuren nicht wohl unterschieden
werden können, so würde natürlich diese Reaction allein
nicht hinreichen, um eine sehr geringe Menge Blausäure
sicher zu erkennen. Ich habe mich übrigens jüngst bei der
Untersuchung des mir von Hrn. Collegen Voit zur Verfüg-
ung gestellten Blutes von einem Hunde, der mit einer Mini-
1) Annalen der Chemie und Pharmacie 1847 LXJ, 127.
Buchner: Vergiftung mit Blausäure. 597
maldosis voti Cyankalium getödtet worden war, überzeugt,
dass in dem Destillat eines solchen mit Phosphorsäure an-
gesäuerten Blutes weder durch Silber- noch durch Eisen-
lösung, sondern nur durch dieRhodanreaction an der Gränze
chemischer Wahrnehmung stehende Blausäurespuren wahr-
genommen werden konnten.
In neuester Zeit hat Hr. Schönbein in Basel ein sehr
interessantes Verhalten der Blausäure zu den Blutkörperchen
beobachtet und in der Zeitschrift für Biologie 2) beschrieben,
welches, wie auch ich mich überzeugt habe, als das em-
pfindlichste Reagens auf Blausäure und namentlich zur
Nachweisung derselben im Blute bezeichnet werden muss.
Dieser Chemiker hat schon vor einigen Jahren gefunden,
dass die Blutkörperchen in einem ausgezeichneten Grade die
Fähigkeit besitzen, nach Art des Platins das Wasserstoff-
hyperoxyd in Wasser und gewöhnlichen Sauerstoff umzu-
setzen. Diese Fähigkeit, welche offenbar von dem wesent-
lichen Bestandtheil der Blutkörperchen, dem sauei stoff-
saugenden Häinaglobin herrührt, hat auch das mit Wasser
verdünnte entfaserte Blut, worin die Blutkörperchen aufgelöst
sind, denn auch dieses katalysirt das Wasserstoffhyperoxyd
mit stürmischer Lebhaftigkeit. Fügt man aber nach Schön-
bein eine nur sehr geringe Menge wässeriger Blausäure zu
solchem mit zwei Raumtheileu reinen Wassers verdünnten
Blute, so wird die kataiytische Wirkung der Blutkörperchen
oder vielmehr des Hämaglobins so sehr geschwächt, dass
bei der darauf folgenden Vermischung mit Wasserstorlhyper-
oxyd eine kaum noch merkliche Entbindung von Sauerstoff-
gas bewirkt wird.
Sehr bemerkenswerth ist die weitere von Schönbein
festgestellte Thatsache, dass das verdünnte blausäurehaltige
2) Jabrgang 1867. III. 3. Heft.
598 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Blut durch Wasserstoffhyperoxyd bis zur Undurchdringlich-
keit gebräunt wird, was auf eine tief gehende Veränderung
hindeutet, welche das Hämaglobin unter diesen Uniständen
erleidet.
Dass die Blausäure für sich allein auf das Hämaglobin
weder chemisch noch anderweitig einwirkt, ergiebt sich schon
aus dem Umstände, dass die Färbung der Blutflüssigkeit
nach Zusatz von Blausäure unverändert bleibt (bei mehr
Blausäure sich höher röthet) und dass blausäurehaltiges, mit
Wasser gehörig verdünntes Blut im Spectrum die zwei so
charakteristischen Absorptionsstreifen des sauerstoffhaltigen
Hämaglobins (Oxyhämaglobins) zeigt. Schönbein hat ge-
funden, dass 'solches Blut seine frühere katalytische Wirk-
samkeit wieder äussert , nachdem man aus ihm die Blau-
säure hat verdampfen lassen. Die blausäurehaltige Blut-
flüssigkeit, welche man mehrere Stunden lang in einem
flachen Gefässe und an einem massig erwärmten Ort offen
an der Luft hatte stehen lassen, vermochte das Wasserstoff-
superoxyd wieder lebhaft zu zerlegen, ohne durch Letzteres
im Mindesten gebräunt zu werden , während die gleiche in
einer luftdicht verschlossenen Flasche' Tage lang gehaltene
Flüssigkeit Wasserstoffhyperoxyd immer nur schwach kata-
lysirte und durch dieses stark gebräunt wurde.
Die Eigenschaft blausäurehaltigen Blutes, durch Wasser-
stoffhyperoxyd tief gebräunt zu werden, macht es möglich,
in jener Flüssigkeit noch eine verschwindend kleine Menge
von Cyauwasserstoffsäure nachzuweisen. Um dieses zu be-
weisen, hat Schönbein 50 Gramme entfaserten Ochsen-
blutes mit 450 Grammen Wassers und 5 Milligrammen
Blausäure (auf die wasserfreie bezogen) versetzt. Dieses
Gemisch wurde durch Wasserstoffhyperoxyd noch tief ge-
bräunt, obgleich darin nur ein hunderttausendtel Blausäure
enthalten war. Ja es konnte die Mischung noch mit der
siebenfachen Menge Wassers verdünnt werden, so dass es
Büchner: Vergiftung mit Blausäure. 599
nur noch V800000 Blausäure enthielt, um beim Zufügen von
Wasserstoffhyperoxyd noch immer auf das Deutlichste ge-
bräunt zu werden.
Schönbein konnte bei Anwendung dieses Verfahrens
in gewöhnlichem Kirschwasser noch augenfälligst Blausäure
nachweisen, die darin durch kein anderes Reagens mehr zu
erkennen war; er bezeichnet desshalb die Blutkörperchen in
Verbindung mit Wasserstoffsuperoxyd als das empfindlichste
Reagens auf Blausäure. Uebrigens ist es, um die beschrie-
bene Reaction zu erhalten, keineswegs gleichgiltig, in welcher
Aufeinanderfolge man Blausäure und Wasserstoffsuperoxyd
zu der Blutflüssigkeit fügt; denn wird das Superoxyd in
einiger Menge zuerst beigemischt, so verursacht die Blau-
säure nicht die geringste Bräunung und wird das Wasser-
stoffsuperoxyd ebenso lebhaft katalysirt, als wenn keine
Blausäure in dem Blute vorhanden wäre.
Ueber das Absorptiousspectrum des durch Wasserstoff-
hyperoxyd gebräunten blausäurehaltigen Blutes hat Hr. Prof.
Hagenbach in Basel Versuche angestellt. Er hat gefunden,
dass in eben dem Masse , als die rothe Farbe der Blut-
flüssigkeit in die braune übergeht, die beiden charakteristi-
schen, zwischen E und D liegenden Absorptionsstreifen des
Oxyhämaglubins im Spectrum verschwinden, ohne dass dafür
ein neuer Streifen aufträte. Es erstreckt sich dann die Ab-
sorption ziemlich gleichmässig über das Spectralfeld , das
Roth ausgenommen, welches bei einiger Concentiation der
Blutflüssigkeit allein noch durch dieselbe dringt. Dadurch
kann man das blausäurehaltige durch Wasserstoffhyperoxyd
gebräunte Blut von demjenigen, dessen Bräunung durch
Schwelelsäure bewirkt ist, und welches jenem bis zum Ver-
wechseln gleicht, unterscheiden, denn die schwefelsäure-
haltige Blutflüssigkeit zeigt einen deutlichen Absorptions-
streifen im Roth , welcher dem durch Wasserstoffsyperoxyd
gebräunten blausäurehaltigen Blute vollkommen fehlt.
600 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Der an Gräfin Chorinsky begangene Giftmord bot
mir eine ganz passende Gelegenheit dar, die Tauglichkeit
des Schön b ein' sehen Verfahrens zur Nachweisung der
Blausäure im Blute eines mit Blausäure vergifteten Menschen
zu erproben. Ich brauche kaum zu sagen , dass ich hiebei
die Angaben Schönbein's vollkommen bestätiget gefunden
habe. Das Blut aus der Leiche der Gräfin Ch. hat sich
auch bei dieser Prüfung als ein verhältnissmässig stark
blausäurehaltiges erwiesen. Ich habe seitdem schon öfter
dieses Verfahren an blausäure- sowie an cyankaliumhaltigen
Blute geprüft und mich dabei von dem hohen Grade seiner
Empfindlichkeit überzeugt. Das Blut von dem Hunde, welchen
Hr. Collega Voit mit einer sehr geringen Menge Cyan-
kaliums vergiftet hatte, wurde beim Vermischen mit Wasser-
stoffhyperoxyd auf das Deutlichste gebräunt, obwohl sich
aus der Flüssigkeit ziemlich viele Sauerstoffbläschen ent-
wickelten, während in demselben Blute, wie oben erwähnt
wurde, bloss noch durch die Rhodanreaction an der Gränze
chemischer Wahrnehmung stehende Blausäurespuren entdeckt
werden konnten. Das durch Wasserstoffsuperoxyd erfolgende
Dunklerwerden eines Blutes, welches nur Spuren von Blau-
säure enthält, nimmt man am besten durch einen verglei-
chenden Versuch wahr , indem man von gleichen Hälften
des zu prüfenden Blutes die eine mit Wasserstoffhyperoxyd
und die andere mit demselben Volumen reinen Wassers
vermischt und dann die Farbe der beiden Flüssigkeiten be-
trachtet ; wenige Tropfen Blutes genügen zu diesem Versuche.
Ich halte das Schönbein'sche Verfahren für das be-
quemste und empfindlichste zur Nachweisung der Blausäure
im Blute. Aber damit man die Erscheinung des Dunkler-
werdens durch Wasserstoffhyperoxyd wahrnehmen könne,
darf das Blut nicht schon so alt sein, dass es durch frei-
willige Zersetzung dunkler geworden ist, denn ein solches
blausäurehaltiges Blut wird durch Wasserstoffhyperoxyd in
Vogel: Gerding's Geschichte der Chepiie. 601
seiner Farbe nicht mehr verändert. Im Blute aus der Leiche
der Gräfin Ch. habe ich noch lange, nachdem Wasserstoff-
hyperoxyd keine Farbenveränderung mehr darin bewirkte,
mittelst der anderen Reagentien Blausäure nachweisen
können.
Herr Vogel legt
„Gerding's Geschichte der Chemie". (Leipzig
1867) im Auftrage des Verfassers der Classe vor
und berichtet darüber Folgendes:
Gerding's Geschichte der Chemie umfasst die historische
Entwicklung der gesammten chemischen Wissenschaft in zwei
Theilen ; der erste Theil behandelt die allgemeine Geschichte
der Chemie in vier Hauptperioden, chemische Kenntnisse
des Alterthums, Zeitalter der Alchemie und medicinischen
Chemie, das phlogistische Zeitalter und das quantitative Zeit-
alter, mit Rücksicht auf die hervorragendsten Chemiker und
deren Leistungen. Der zweite Theil begreift die specielle
Geschichte der Chemie oder die Geschichte der wichtigsten
Lehren, Theorien und einzelnen Stoffe.
Kopp's Geschichte der Chemie — dieses anerkannt
classische Werk — hat dem Verfasser als leitendes Muster
gedient und es möchte vorliegendes Coinpendium neben jener
unübertrefflichen Geschichte der Chemie beinahe als ein ge-
wagtes Unternehmen erscheinen. Dieses Bedenken ver-
schwindet indess bei der Erwägung, dass jenes vier Bände
umfassende Werk während der Jahre 1843 bis 1847 er-
schienen ist und seitdem eine ausserordentliche Menge neuer
Thatsachen. welche ihre Verzeichnung in den Annalen der
602 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Geschichte wohl verdienen, zu Tage gefördert wurde. Ausser-
dem bietet Kopp's Geschichte der Chemie ein so umfang-
reiches ausführlich behandeltes Material, dass neben der-
selben eine gedrängtere Bearbeitung des reichhaltigen
Gegenstandes als eine nicht unwillkommene Erscheinung
betrachtet werden dürfte. Die au historischen Quellen so
glänzend ausgestattete Bibliothek der Georgia Augusta ist
dem classisch gebildeten mit gründlichen philologischen
Kenntnissen ausgerüsteten Verfasser bei seinen mühsamen
und tief eingehenden Vorstudien wohl zu Statten gekommen;
es ist ihm gelungen, aus den ältesten historischen Werken
die schönsten Citate und Belege zu einem entsprechenden
Ganzen zu vereinigen. Der durch zahlreiche literarische
Leistungen schon rühmlichst bekannte Verfasser hat sich
mit seiner vorliegenden Arbeit, welche die Forschungen der
neuesten Zeit selbstverständlich nur aphoristisch behandeln
konnte, vollen Anspruch auf Anerkennung erworben.
Gütnbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 603
Herr G um bei trägt vor:
,.Ueber die geognostischen Verhältnisse des
Mont-Blanc und seiner Nachbarschaft nach
der Darstellung von Prof. Alph. Favre und
ihre Beziehungen zu den benachbarten üst-
alpen."
Wenn es richtig ist, dass mit der Arbeit unsere Kraft
wächst, so muss man es ebenso natürlich als erklärlich finden,
dass in der Schweiz, dem Lande der Hochgebirge und der
mannichfaltigsten Felsmassen, welche diese zusammensetzen,
der menschliche Geist sich schon frühzeitig mit allem Kraft-
aufwand an der Lösung der grossen Probleme versuchte,
welche die gewaltige Alpennatur hier in so reicher Fülle uns
unmittelbar vor die Augen gestellt hat.
Hier war es daher auch, wo ein Saussure, gegen das
Ende des vorigen Jahrhunderts unter wenigen Gebirgsforschern
einer der Ersten , welcher mit der bis dahin vorherrschend
speculativen Richtung brach, und, mit einer Unermüdlichkeit,
Unbefangenheit und Treue, die uns in Staunen versetzt, und
mit einer Beobachtungsgabe und mit einem Scharfblick, die
den ächten Naturforscher kennzeichnen, sich der directen
Naturbeobachtung zuwandte und den fruchtbaren und sicheren
Weg exakter Forschung mit kühnen Schlitten betrat. Eine
lange Reihe glänzender Namen seiner Landsleute hat die
Wissenschaft zu verzeichnen, welche die von Saussure ein-
geschlagene Richtung in den heiniathlichen Bergen weiter
verfolgten und geleitet von dem Lichte der unaufhaltsam
fortschreitenden Wissenschaft mit steigerndem Erfolge das
Räthsel des Gebirgsbaues der Alpen zu lösen strebten. Wenn
hierbei ein grosser Unterschied zwischen den Ergebnissen
604 Sitzung der math.-phys. (Jlasse vom 7. Dezember 1867.
der Forschungen früherer Zeit und der Gegenwart sich be-
merkbar macht, so entspricht dieses eben dem Standpunkte
der Wissenschaft von damals und heute und es ist von
hohem Interesse, diesen Unterschied zu erkennen und uns
des grossartigen Fortschritts zu freuen.
Saussure hatte ganz besonders die Umgegend von
Genf und den Stock des Mont-Blanc-Gebirges zum Gegen-
stand seiuer bewunderungswürdigen Forschungen gewählt und
eine Fülle von Thatsachen festgestellt, welche uns eine un-
veränderliche Errungenschaft für die Wissenschaft bleiben
werden. Die allgemeine Aufmerksamkeit der Gebirgsforscher
war seit dieser Zeit auf diesen Theil der Alpen gelenkt
worden und fast alle bedeutenden Geologen der neueren
Zeit haben sich an der Fortführung der Gebirgsuntersuchung
im Gebiete des Mont-Blanc's betheiligt. Der jüngsten Zeit
aber war es vorbehalten, ein umfassendes Werk über die
geognostischen Verhältnisse jenes riesigen Alpenstocks und
seiner Umgebung an's Licht treten zu sehen, welches ganz
im Sinn und Geist eines Saussure gehalten, sich den Vor-
zug zu eigen gemacht hat, auf der Höhe der fortgeschrittenen
Wissenschaft unserer Zeit zu stehen. Es sind diess die
„Recherches geologiques dans les parties de la Savoie,
du Piemont et de la Suisse voisines du Mont-Blanc" von
Alphonse Favre, Professor der Geologie an der Akademie
zu Genf, 1867 in 3 Bänden mit einem Atlas von 32 Blättern.
Mit grosser Freude begrüssen wir ein Werk, in welchem
der berühmte Verfasser die Ergebnisse seiner vieljährigen
mit Saussure'schem Fleiss. Unermüdlichkeit und Gründlich-
keit angestellten und bis ins kleinste Detail ausgeführten
Untersuchungen, welche immer die Feststellung von That-
sachen mit grösster Unbefangenheit und unbekümmert um
jede theoretische Erklärung als höchste Aufgabe sich gestellt
hatten und mit einer der grossen Aufgabe vollständig gewach-
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 605
senen scharfen Beobachtungsgabe angestellt wurden , uns so
eben vorgelegt hat.
Die Fülle der Detailbeobachtung, die Richtigkeit in der
Beurtheilung der Gebirgsverhältnisse und die Klarheit der
Darstellung muss uns mit Bewunderung erfüllen, wenn
man die Schwierigkeiten erwägt, welche den Alpenforschungen
nach allen Seiten sich in den Weg stellen, und wenn man
die verwickelten Verhältnisse berücksichtigt, welchen wir in
den Alpen fast Schritt für Schritt begegnen. Der kühne
Alpengeologe hat seine schwierige Aufgabe glücklich und
meisterhaft gelöst. Wenn derselbe sich aber nicht blos
darauf beschränkt, uns mit den Thatsachen bekannt zu
machen, welche er durch Beobachtung feststellte, sondern
auch aus diesem Detail mit seiner fast verwirrenden und
den Ueberblick erschwerenden Ausführlichkeit heraus sich
auf den höheren Standpunkt des Zusammenfassens und der
Folgerungen erhebt, soweit sie sich aus der grossen Menge
von Einzelheiten mit Sicherheit und nach den Erfahrungen
der Wissenschaft unserer Tage vorurteilsfrei gewinnen lassen,
so können wir dem Verfasser nur Dank wissen für die vielen
und höchstwichtigen Schlüsse über die Entstehung der Ge-
steine und die Bildungsweise jener Gebietsteile der Alpen,
welche er zum Gegenstand seiner Studien gewählt hat.
So sehen wir durch diese Meisterarbeit, welche durch
die Beigabe einer äusserst zahlreichen Menge von sehr klar
dargestellten Profilen, Gebirgsansichten und Abbildungen von
eingeschlossenen organischen Ueberresten sehr an Verständ-
lichkeit gewinnt, und einer schon früher publicirten sehr
gelungenen geognostischen Karte der betreffenden Gegend
(Carte geologique des parties de la Savoie, du Piemont et
de la Suisse voisenes du Mont-Blanc, Winterthur 1862) sich
anschliesst, eine fühlbare Lücke in der Reihe der in neuerer
Zeit erschienenen monographischen Schilderungen der geogno-
stischen Verhältnisse einzelner Alpengebirgsglieder in West
[1867. II. 4.] 40
606 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1S67.
und Ost auf die würdigste Weise ausgefüllt und eine passende
Gelegenheit gegeben, aus dem reichen Inhalt dieser Schrift
einiges Wenige hervorzuheben, welches durch Vergleichung
mit den geognostischen Verhältnissen unseres bayerischen
Antheils an der grossen Alpenkette erhöhtes Interesse ge-
winnen dürfte.
Es scheint diess um so mehr gerechtfertigt, als der
Verfasser, der mit einer äussersten Gewissenhaftigkeit die
gesammte französische , englische und italienische Literatur
zu Rathe zieht, vergleichsweise seltener Veranlassung nimmt,
auf deutsche Arbeiten sich zu beziehen.
Prof. Favre führt uns zuerst in die Ebene des Genfer
See's und macht uns hier mit einer Menge von geogno-
stischen Erscheinungen in einer Ausführlichkeit bekannt,
welche diese Untersuchung über die jüngeren Ablagerungen
vollständig zu erschöpfen scheint. Besonders ausführlich
werden die Verhältnisse der Gletscher und der Glacial-
gebilde im Allgemeinen besprochen. Er glaubt keine feste
Grenze zwischen den Gebilden der gegenwärtigen Zeitperiode,
der sogenannten historischen Zeit und den zunächst voraus-
gehenden Ablagerungen der sonst wohl auschliesslich als quatär
oder diluvial bezeichneten Periode ziehen zu dürfen. Er fasst
beide als Quatärschichten der Ebene (terrains quaternaires)
auf und unterscheidet vom jüngeren zum älteren fortschreitend:
1) Modernes Alluvium,
2) Terrassen Alluvium (nachglaciale Bildung),
3) Glacial-Gebilde,
4) Alte Alluvionen mit Mergel und Lignit.
Das Interesse, welches sich an diese gründlichen Unter-
suchungen Favre's über den Boden der Ebene zwischen
dem Alpenzug und der Jurakette für uns insbesondere knüpft,
bezieht sich auf die geognostische Beschaffenheit der soweit
ausgedehnten Hochebene, welche sich bei uns vor dem Hoch-
gebirge nordwärts ausbreitet und es entsteht die Frage, ob
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 607
wir auch bei uns gleiche Erscheinungen als das Resultat
gleicher Ursachen , wie in jener äussersten SW. - Ecke der
grossen nordalpinen Verebnung wahrnehmen. Ich habe in
meiner Beschreibung des bayerischen Alpengebirges und seines
Vorlandes1) eine Bildung der Quatärzeit beschrieben, welches
ich Terrassen-Diluvium nenne (S. 800), und ich glaube,
dass dieses Gebilde dem Favre 'sehen Terrassen Alluvium
entspricht. In den bayerischen Alpen findet sich dasselbe
ziemlich hoch über dem jetzigen Wasserstand 60 — 75 Fuss
über den Thalsohlen und liefert, wie bei Genf, den Beweis
eines früheren höheren Laufs der Gewässer, die nun nach und
nach ihr Bett sich eingetieft haben. Da solche Gebilde in
unsern Alpenthälern vorkommen, darf man mit Grund schliessen,
dass zur Zeit ihrer Bildung das Alpengebirge bereits die
Hauptform angenommen hatte , die es jetzt besitzt und die
Thalungen bereits , wenn auch weniger tief als- jetzt , ihre
Furchen zu ziehen begonnen hatten. Indem solche Terrassen
staffeiförmig an den Thalgehängen bis zur jetzigen Sohle
sich herabziehen, verbinden sie die Erzeugnisse einer älteren
Periode durch allmählige Uebergänge mit den Alluvionen
der Jetztzeit. Bei uns fehlen darin organische Einschlüsse,
welche bei Genf vorkommen. Wenn hier neben Elephas pri-
migenius und Cervus tarandus Ueberreste von Mastadon
gänzlich fehlen , so scheint diess ein neuer Beweis dafür
zu sein, dass letztere Art in Europa früher ausstarb, als in
Nordamerika.
Von ganz besonderer Wichtigkeit auch für uns sind die
Erzeugnisse der sogenannten Glacialzeit, welche Favre
mit besonderer Vorliebe und Gründlichkeit beschreibt. Er
giebt zugleich in grosser Vollständigkeit eine geschichtliche
1) Geogii. Beschr. d. bayer. Alpengebirges und seines Vorlandes
von C. W. Gümbel 1861.
40*
608 Sitzung der math.-phys vom Classe 7. Dezember 1867.
Entwicklung der sogenannten Eisz eittheorie, um sie dann ein-
zeln kritisch zu beleuchten und um endlich für die Annahme
die schlagendsten Gründe aus dem reichen Schatze seiner
Erfahrungen aufzuhäufen, dass die ungeheure Ausdehnung
der Gletscher, selbst bis über den Genfersee hinaus einfach
aus dem Zusammentreffen einer Reihe nasser Jahre mit
reichem Schneefall, wie sie bisweilen jetzt noch eintreten,
(1816 — 1818), wie sie früher einmal vielleicht im verstärkten
Maasse und länger andauernd sich gezeigt haben können in
Verbindung mit der grösseren Höhe, welche das Alpengebirge
bei Beginn der Quatärzeit ohne Zweifel eingenommen haben
inuss, als alle Gesteinsmassen, welche jetzt die weitausge-
dehnten Ebenen vor den Alpen als Geröll und Schutt erfüllen,
noch nicht aus demselben fortgeführt worden war, zu er-
klären sei. Auch mag die gesteigerte Verdunstung der bei
der Alpenerhebung aus der Wasserbedeckung aufgetauchten
ausgedehnten Ländermassen viel zur Depression der Tem-
peratur beigetragen haben. Wir finden kaum irgendwo eine
lichtvollere , ruhigere und vollständigere Darstellung aller
hierher gehörigen Erscheinungen und deren Erklärungsweisen
als in dem diesem Gegenstand gewidmeten 10ten Capitel, nachdem
der Verfasser in den vorausgehenden Abschnitten vorerst die
Thatsachen genau beschrieben hatte, welche im Gebiet seiner
Darstellung zu beobachten sind. Es sind hier eine Menge der
interessantesten Beobachtungen zusammengehäuft, auf Grund
derer er sich gegen die Annahme mehrerer Eiszeit-
perioden ausspricht und das Vorkommen von geschichteten
Lagen oder von Lignitflötzen zwischen zwei Glacialschutt-
massen, wie bei den Lignitflötzen von Dürnten und Utznach,
nur als Folgen einer Episode eines Gletscherrückzuges und
erneuten Vordringens zu erklären versucht. Wenn nun die
allgemeine Vergletscherung unseres Alpengebirgs während
der Diluvialzeit schon längst keine blosse Theorie mehr ist,
sondern zu einer wissseuschaftlich festgestellten Thatsache
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 609
sich erhoben hat, so sind doch mit derselben an verschiedenen
Stellen des Hochgebirges und seiner Vorländer so vielfach
verschiedene Erscheinungen verknüpft , dass es gewagt er-
scheint, den Verhältnissen eines Theils derselben zum all-
gemein gültigen Muster für die Glacialerscheinungen aller
übrigen Theile aufstellen zu wollen. In der Gegend des Genfer
See's und im benachbarten Alpenstock lassen sich die Glacial-
erscheinungen au jetztnoch bestehenden Gletschern bis in die
Ebene herabverfolgen : Gletscherschliffe, Moränen, erratische
Blöcke, Glacialschutt und es scheint mit Recht hier angenom-
men werden zu dürfen , dass einst der Rhonegletscher oder
wie diese Quatärgletscher sonst heissen mögen, bis zu einer
Seefläche herabgereicht , diesen selbst bedeckt und dadurch
möglich gemacht habe, nicht nur, dass erratische Blöcke,
welche unzweideutig aus dem Mont-Blanc - Ui gebirgsstock
stammen, über die Seefläche hinüber bis zum Jura transportirt
wurden , sondern dass auch die Vertiefung des Seebeckens,
weil mit Eis bedeckt, nicht mit Schutt ausgefüllt worden sei,
sondern sich als Seevertiefung nach dem Wegscbmelzen des
Eises bis in die Neuzeit erhalten habe. Die Persistenz
vieler Voralpenseen ist unzweifelhaft durch diese Vergletscher-
ung bedingt; ohne sie würden dieselben mit Gebirgschutt
eingeebnet worden sein, wie der übrige Theil der alpinen
Hochebenen. Auch von dem Bodensee glaubt man das Er-
fülltsein mit Gletschereis als Grund annehmen zu müssen,
dass er sich bis in die Gegenwart erhielt, obwohl ringsum
so grossartige Geröllmassen angelagert wurden, die ihn aus-
zufüllen vollständig ausgereicht hätten. Der höchst merk-
würdige Fund von Steinwaffeu und Rennthierknochen bei
Schussenried am Rande einer Moräne, oder doch einer
Glacialschuttmasse, welche von Fr aas eingehend geschildert
wurde, spricht sehr zu Gunsten dieser Annahme. Auch liegen
erratische Blöcke weit verbreitet in dem Hügelland nördlich
vom Bodensee. Besonders schwierig wird es , die Giacial-
610 Sitzung der math.-phys. Olasse vom 7. Dezember 1867.
erschein ungen weiter östlich vom Bodensee in jenem bergigen
Vorlande zu verfolgen, in welchem die weichen Molasse-Sand-
steine, Conglomerate und Mergel so sehr vorherrschen. Fehlt
es auch hier nicht an einzelnen sicher erkennbaren Moränen,
wie z. B. bei Immenstadt von der Hier seitwärts vor der
breiten Mündung des Thals, wo dasselbe aus dem Hoch-
gebirge heraustritt, so scheinen doch weder die Kalkgebirgs-
schichten noch die Molasse fest genug oder gegen die Ober-
flächen Verwitterung zureichend widerstandsfähig , um die
Streifeneindrücke , wenn Gletscher über sie hinweg fort-
schreitend ihre Furchen gezogen haben, bis jetzt sichtbar zu
erhalten. Ueberhaupt ist es sehr bemerkenswerth, wie selten
man in diesen allerdings fast blos aus kalkigen Gesteinsarten
aufgebauten Alpengebirgstheilen auf glatte oder gestreifte
Flächen stösst, die sich mit einiger Sicherheit als Gletscher-
schliffe deuten Hessen.
Die zweite Reihe der Glacialerscheinungen, die
confuse Gemenge von meist scharfkantigen und gestreiften
Gesteinsbrocken mit Lehm, welche als Ueberbleibsel der
Moränen beim Rückzuge der Gletscher zu betrachten sind,
erlangen in unseren Alpen ebenfalls nicht den so scharf
ausgeprägten Charakter, wie in den westlichen Alpen. Wir
begegneten auf unseren geognostischen Wanderungen sehr
zahlreichen Ablagerungen wirr durch einander gelagerter
Brockengesteine in den verschiedensten Gegenden. In den mit
Molassegebilden erfüllten Ebenen, in welchen neben Sandstein
und Mergel die aus Urgebirgs- und Kalk-Rollsteinen gemischt
zusammengesetzte Nagelfluhe ungemein häufig ein mächtiges
Glied der Tertiärformation ausmacht, unterliegt es ganz be-
sonderen Schwierigkeiten, bei solchen Geröllschuttmassen zu
unterscheiden zwischen ächten Glacialgebilden und den durch
Auflockerung der benachbarten Nagel fluhschichten und durch
Vermengung mit verwittertem Mergel der nächsten Nähe
entstandenen Schutt- und Trümmermassen, weil denselben die
GHitnbd: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 611
zwei charakteristischen Kennzeichen des ächten Gletscher-
schuttes, „scharfkantige und gestreifte Gesteinsbrocken" fehlen,
vielmehr deren Rollstücke vollständig abgerundet und glatt
erscheinen. So begegnet man in den Allgäuer Vorbergen
zwischen Bodensee, Immenstadt und Kempten ziemlich häufig
solchen Schuttmassen mit abgerundeten Rollstücken von
zweifelhaftem Charakter. Die Schwierigkeit der Unterscheid-
ung wird hier noch durch den Umstand vermehrt, dass die
zunächst diesem Distrikt angeschlossenen Hochalpen aus Mo-
lasse mit zahlreichen Nagelfluhbänken, (Riedalphorn 5618')
bestehen, und dass man in deren Vorland einheimische, von
weiter aus den Molasse-Alpen hergebrachte Gesteine nicht
unterscheiden kann. Auch im Kempter - Walde dehnen sich
zwischen mächtigen Versumpfungen Lagen von Lehm mit Ge-
rollen z. B. bei Bodelsberg aus, die für Glacialgebilde gehalten
werden können, während am Südgehäuge des Peissenbergs eine
sehr mächtige Schuttmasse von wirr durcheinander gemengter
Rollstücke und von Lehm mit grösserer Wahrscheinlichkeit als
ein Zersetzungsprodukt der dort unter steilen Winkeln auf-
gerichteten Molasse und Nagelfluh des Untergrundes zu be-
trachten sein dürfte.
Eine andere Erscheinung in unseren Alpen, die ich unter
der Bezeichnung Hochgebirgsschotter (S. 802 meines
Werkes) zusammengefasst habe, nimmt unsere Aufmerksam-
keit in gesteigertem Maasse in Anspruch. An zahlreichen
sehr hochgelegenen Orten unseres Kalkalpengebirgs breiten
sich meist confuse Schuttmassen mit stark abgerollten
Urgebirgs- und Kalkbrocken aus, die nach ihrer hohen
Lage (bis 5000' ü. M.) und ihrer Unabhängigkeit von dem
Bestände der jetzigen Thalungen unbedenklich als Gletscher-
gebilde angesehen werden müssten, wenn sie nicht nur abgerollte
Gesteinsfragmente in sich schlössen. Besonders ausgedehnt
sind diese Schuttmassen S. vom Zugspitzgebirge an der Leut-
asch gegen das Innthal und in jener Gerölllage auf dem Sattel
612 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
der Hochalpe im Wilden-Kaisergebirge (4200') mit völlig ab-
gerundeten Urgebirgsfragmenten. Mag auch noch manche
dieser Ablagerungen bei genaueren Untersuchungen als
Glacialgebilde gedeutet werden können, immerhin bleibt der
Charakter in den Ostalpen gegen jenen in den Westalpen
auffallend verschieden. Gleichwohl begegnen wir auf der
andern Seite wieder ganz übereinstimmenden Verhältnissen,
z. B. in den Lignitlagen der Illerthalgehänge bei Sonthofen,
der Terrassen bei Gross Weil und Ohlstadt, in denen wir
die Analogie mit Dürnten und Utznach nicht verkennen
können (S. 804 m. W.). Leider fehlen bei uns Thierreste
in denselben, das Holz der Lignite dagegen besteht aus
Arten, welche auch jetzt noch hier vegetiren: Pinus sylve-
stris, P. Pumilio (Pinus uliginosa?) Betula und das Ganze
der kohligen Bildung weist auf torfartige Versumpfungen hin.
Die erratischen Blöcke erfreuen sich hauptsächlich
auf Veranlassung Favre' s jetzt einer besonderen Aufmerk-
samkeit, weil man bei der Gefahr, dieser so wichtigen geo-
gnostischen Dokumente durch den Verbrauch derselben zu
Bauzwecken, als Strassenmaterial etc. vollständig beraubt zu
werden, es für nöthig hielt, genaue Karten über ihr Vor-
kommen herzustellen und einzelne der wichtigsten als National-
eigenthum für unantastbar zu erklären.2) Auch ich habe
1861 in meinem Alpenwerke (S. 800 Anm.) auf die Dring-
lichkeit genauer Verzeichnisse der erratischen Blöcke hin-
gewiesen. Solche genaue Aufzeichnungen werden jetzt in
einem grossartigen Maassstabe mit Unterstützung der Regie-
rung sowohl in den französischen Alpendepartementen als
auch in der Schweiz durch die geologische Commission her-
2) Appel aux Suisses pour les en gager, ä conserver les blocs-erra-
tiques par la commissiou geol. suisse, suivi d'un project ä une carte
de la dietribution des blocs erratiques en Suisse 1867, und Rapport
sur lea travaux de la soc. de pbysique de Geneve par Favre. 1867.
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 613
gestellt und sind nach den neuesten Mittheilungen Favre's
zum Theil schon vollendet. Es scheint sehr angezeigt, dass
auch wir in Bayern uns diesem wissenschaftlichen Unter-
nehmen unserer westlichen Nachbarn in entsprechender Weise
anzuschliessen haben. Es sind zwar auf meiner Alpenkarte
die hervorragendsten erratischen Blöcke vom Bodensee bis
zur Salzach eingezeichnet, allein diese Einzeichnungen können
und wollen nicht als vollständige gelten.
Viele dieser erratischen Blöcke der bayerischen Hochebene,
von denen mehrere eine auffallende Abrundung an den Kanten
und Ecken zeigen, sind in Bezug auf ihre Verbreitungsliuie zu-
weilen reihenweise geordnet und meist auf den die benachbarten
Thalungen begleitenden S.-N. verlaufenden Höhenzügen abge-
setzt, wie längs des Starnberger-Sees, des Inn's u. s. w. Man
nimmt gewöhnlich an, und Favre theilt diese Ansicht für die
Westalpen, dass die erratischen Blöcke unmittelbar in Form
von Gletschertischen auf die Stelle geschoben worden seien, wo
sie jetzt noch liegen. Trotz des Widerspruchs dieses erfahrungs-
reichen und vorurtheilsfieien Forschens glaube ich gleichwohl
für die Verbreitung wenigstens einer Reihe der erratischen
Blöcke des mittleren und östlichen bayerischen Alpenvorlandes
die Beihilfe von schwimmenden Eisblöcken , welche die auf
ihnen liegende erratischen Blöcke auf einer damaligen Seefiäche
nordwärts transportirten, anrufen zu müssen. Es bestimmen
mich zu dieser Annahme sowohl eines Eisschollentransportes,
als des Vorhandenseins einer Seefläche vor den Alpen noch
andere geognostische Erscheinungen, die ich später anführen
werde.
Favre macht uns in dem Abschnitt seines umfassenden
Werkes über die Quatärgebilde noch mit einer vierten vor-
glacialen Ablagerung der Genfer Ebene bekannt, die er
„alluvion ancienne" nennt. Diese bestehen aus geschich-
teten Lagen ovaler, abgerollter und abgeplatteter Rollsteine
ohne Lehmzwischenmittel, ohne Beimengung gestreifter Brock-
614 Sitzung der math.-phys. dasse vom 7. Dezember 1867.
gesteine und ohne erratische Blöcke , dagegen mit Sand-
zwischenlagen lose aufgehäuft oder mit Kalksinter fest ver-
bunden.
Es ist wohl nicht zweifelhaft, dass dieses alte Allu-
vium vollständig identisch ist mit dem Diluvial-Schotter,
mit dem. was wir bei uns Diluvial-Nagelfluh (sieheS. 794
m. W.) nennen. Die Entstehung dieses für unsere Hochfläche
mächtigsten Gliedes der Diluvialzeit denkt sich Favre unter
der Vermittlung von Wasserströmen gebildet, welche das von
den Gletschern bei ihren beginnenden Vorrücken gelieferte
Glacialmaterial mit sich fortführten, dabei abrollten und end-
lich absetzten. Dass hierbei die schon vorher bestandenen
Vertiefungen der See'n z. B. des Genfersee's, nicht mit diesem
Rollmaterial ausgefüllt wurde, erklärt sich daher, dass dieses
Material in Form von Gletscherschutt oder erratischen Blöcken
über die Seen geführt, zur Zeit als letztere noch von Eis erfüllt
waren und erst abgerollt wurde, als es jenseits der Seevertief-
ung am Fusse der Gletscher in die Strömung der Giessbäche
gelangte. Diese geistreiche Theorie, welche die Möglichkeit
der Persistenz der alpinen Seen so vollständig erklärt,
dürfte wohl für eine grosse Anzahl von Gebirgsseen ihre
Richtigkeit haben. Dagegen leuchtet die Schwierigkeit dieser
Erklärung von selbst da ein, wo Seen weit von dem Alpen-
rande entfernt ringsum gleichsam mitten in dieses alte Allu-
vium eingekesselt vorkommen.
Wenn die Seeflächen vom Eis ausgefüllt waren , so
können doch die Gletscher nicht stromaufwärts das Material
geliefert haben, das schon stundenweit oberhalb der Seen als
altes Alluvium abgesetzt sich findet. Wir wollen nur dieses
einzige Bedenken, dass übrigens bloss auf unsere Verhältnisse
sich bezieht, nicht für die Westalpinen - Ebene gelten soll,
berühren. Ein Blick auf die südbayerische Hochebene, die
4 — 5 mal so breit als jene am Genfersee und 3 mal so
breit als durchschnittlich das Vorland der Schweiz ist, wird
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 615
genügen, um zu bemerken, dass hier ganz andere Verhält-
nisse geherrscht haben müssen, abweichend von jenen in der
Westschweiz. Hier stand den Alpen die hohe Jurakette ganz
nahe gegenüber, bei den mittleren Alpen erheben sich da-
gegen erst weit nördlich ganz niedere Gegengebirge. Diese
weite Ebene in Bayern ist über der Molasse, welche die
Unterlage bildet, hoch erfüllt mit jenem wohlgeschichteten
Diluvialgeröll mit auf weite Strecken regelmässig fortstreich-
enden Lagen , wie sie unmöglich durch Ströme abgesetzt
werden können. Wir glauben hierfür eine allgemeine Süss-
wasseranstauung seeartig aus der Bodenseegegend bis nach
Niederösterreich reichend annehmen zu müssen , welche die
Ausbreitung der ihr allerdings von strömenden Wassern zu-
geführten Rollsteine besorgte. Man setzt dieser Annahme
gewöhnlich das Bedenken entgegen , dass der Damm
dieses Süsswassersee's fehle. Dagegen können wir mit
Zuverlässigkeit auf die Thalenge zwischen Eisenwurz
und Greinerwald bei Linz hinweisen , wo Alpen- und Urge-
gebirge sich auf eine Meile genähert haben, und einen ganz
natürlichen Damm bilden, der einen obern Donausee abzu-
schliessen die zureichende Höhe besitzt. Unter dieser Annahme,
dass die obere Donauhochfläche in der Quatärzeit theilweise
noch mit Süsswasser erfüllt war, erklärt sich dann auf be-
friedigende Weise die reihenweise Vertheilung der errat-
ischen Blöcke mit Hilfe schwimmender Eisblöcke und auch
die Persistenz vieler Seen in Mitte der Hochebene. Es ist
wohl kaum zu zweifeln, dass auch diese alle den sogenannten
orographischen Seen angehören , d. h. dass sie nicht Ero-
sionen ihren Ursprung verdanken, sondern gleich den Gebirgs-
seen in Folge der Gestaltung des Hochgebirgs durch Schichten-
falten oder Querspalten ihre ersten Gestaltungslinien aus-
geprägt erhielten und zwar bereits in der vorquatären
Zeit. Die Zahl solcher Eintiefungen in der Molasse, deren
Schichten damals noch die unbedeckte Oberfläche der Hoch-
616 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
ebene ausmachte und in den Buchtungen zwischen den zu-
sammengefalteten Schichtenpartieen den Grund zu Wasser-
anstauungen legte, ist in der siidbayerischen Hochebene eine
erstaunlich grosse, wenn, wie es vollständig gerechtfertigt ist,
alle jene Vertiefungen mitgezählt werden, die jetzt zwar nicht
mehr in Form von Seen existiren, sondern mit Torf und
Alluvionen ausgefüllt und ausgetrocknet erscheinen, aber
unzweideutig noch während der Quatärzeit oft sehr grosse
Seebecken darstellten wie z. B. das Murnauer-Eschenloher
Moor, die Uosenhehner h ilze u. s. w.
Der Umstand, dass während der Neuzeit (Novärperiode)
ein Theil dieser alten Seevertiefungen eingeebnet, ein Theil
trotz den Alluvionen bis jetzt wenigstens noch nicht aus-
gefüllt worden sind, deutet auf ähnliche Fälle in der Quatär-
zeit hin , dem viele Seen der bayerischen Hochebene ihre
Persistenz verdanken, obgleich die Alpen der Ebene un-
ermesslichen Gesteinsschutt zugeschickt haben. Viele unserer
Seen sind nichts anderes, als die Ueberreste unausgefüllt
gebliebener Seetiefen, neben welchen hundert andere dem
Andrang der Schuttbedeckung weichen mussten , wie es
jetzt noch in den Seen verschiedene Stellen giebt , die den
Absatz der Sedimente gestatten oder verhindern. Es scheint
für die Persistenz dieser Seen die Annahme einer Ueber-
gletscherung als absolut nothwendig nicht vorausgesetzt werden
zu müssen.
An die Ebene schliessen sich bei Genf nun zunächst
die Molassehügeln. Indess verbietet hier schon der beschränkte
Raum zwischen dem Hochgebirge und dein Jura eine beson-
ders n iche Entwicklung dieser Molassegebilde zu erwarten.
Desto reichlicher und interressanter sind die älteren
Tertiärgebilde, welche Favre in die 2 grossen Gruppen der
eigentlichen Nummulitenschichten und in jene des al-
pinen Macigno und des Sandsteins von Taviglianaz, welche
wir gewöhnlich unter der Bezeichnung F 1 y s c h zusam menfassen,
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 617
theilt. Der Nachweis, dass Nuinmulitenschichten im Innern
des Chablais , am Mont Saleve und im ganzen Juragebiet
fehlen, während sie in den innern Alpen sehr verbreitet vor-
kommen , ist von grossem Interesse , weil er zum Beweis
dient , dass vor ihrer Ablagerung bereits die genannten
Gebietstheile aus dem Meere hervorragten, also relativ höher
waren, als die inneren Alpen in umgekehrten Verhältniss zu
ihrer jetzigen Höhe. Aehnliches bemerken wir auch in den
bayerischen Alpen, wo die Nummulitenschichten vom Kressen-
berg und Grünten grosse Berühmtheit erlangt haben. Diese
halten sich immer an den äussersten Hochgebirgsrand, scheinen
aber alter als alle die angeführten Nummulitenschichten der
Westalpen , welche wahrscheinlich verschiedenen Stufen und
vorherrschend den jüngeren Eocänschichten angehören. Jene
älteren Nummulitenschichten dringen im bayerischen Gebirge
nie ins Innere vor, wohl aber finden wir, dass jüngere
Nummulitengebilde in einzelnen Buchten etwas tiefer ins
Innere reichen, wie jene bei Reut im Winkel (S. 602
m. W.), welche ich im Alter den Nummulitenschichten des
Ralligstock's in der Schweiz und dem Sande von Beauchamp
gleichstelle. Ihr Vordringen in Buchten beweist, dass schon
damals wenigstens einige thalähnliche Einschnitte im Massiv
des Kalkgebirgs bestanden. Eine dritte jüngste Nummuliten-
führende Schicht in den Ostalpen und endlich die Schichten
von Häring (S. 608), deren Alter nach meinen Untersuch-
ungen der Thierreste nur zwischen den oberen Lagen der
ligurischen Stufe und den tiefsten Schichten der tongrischen
Stufe gestellt werden kann, steht jedenfalls den Bildungen
von Diablerets gleich. In diese Reihe scheinen nun die
meisten der von Favre aus den Westalpen so trefflich ge-
schilderten Nummulitenschichten stellenweise mit Lignitflötzen,
wie bei Häring, zugehören, z.B. jene von Montmin, Entre-
vernes, Petit, Bornand und Faudon. Damit stimmt freilich
nicht, dass Favre die alpinen Macigno stets über den Nummu-
618 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
liten schichten — wenn in normaler Lagerung vorhanden —
fand. Vielleicht ist in den Westalpen die Umstürzung zur
Regel geworden.
Da in den Ostalpen diese jüngste Nummuliten stufe
auf einen einzelnen grossen Thaleinschnitt — den des Inn's —
sich beschränkt, während sie in den Westalpen so weit
verbreitet selbst mit ächten Steinkohlenschichten zusammen-
gefaltet vorkommt, so leuchtet der bedeutende Unterschied
hervor, der während der älteren Tertiärzeit zwischen beiden
Alpengliedern bestanden haben muss.
Bezüglich des Flyschs (Macigno-alpin) hat Favre die
höchst interessante Thatsache festgestellt, dass derselbe in 2 Fa-
cies auftritt ähnlich den beiden Neocomenfacies im Jura und in
den Alpen, bezüglich des Flysches jedoch zeigt sich die Ver-
schiedenheit, je nachdem er auf Jurakalk, wie im Chablais, oder
auf Nummulitenschichten aufruht. Wir kennen eine solche Scheid-
ung in den bayerischen Alpen nicht, wohl aber die wenigstens
analoge Bildung des sogenannten Taviglianaz-Sandsteins,
von dem Favre nachweist, dass an seiner Zusammensetzung
vulkanische Asche sich betheiligte. Ich habe die analoge
Bildung als Reiselsberger Sandstein (S. 621) beschrieben
und obwohl an ihm die Betheiligung vulkanischen Tuffs
weniger deutlich, als an den Schweizer Sandstein kennbar
ist, bin ich nunmehr auch der Ansicht, dass die Feldspath-
Glimmer- und grünen Mineraltheilchen , in welch letzteren
ich ein Umwandlungsprodukt von Augit zu erkennen glaube,
von vulkanischen Gesteinsmassen herstammen. In unserm
Gebirge liegen diese Sandsteine meist in den tiefsten , älte-
sten Schichtenreihen und treten mit jenen Riesenconglome-
raten in nähere Beziehung, die ich (S. 621) vom Böigen
beschrieben habe, und deren kolossale Urgebirgsblöcke
möglicher Weise tertiär-erratischen Ursprungs sind.
Auf dem ersten Berg, mit dessen höchst interessanten
geognostischen Verhältnissen uns Prof. Favre zunächst bekannt
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 619
macht, dem Mont-Saleve, treffen wir bereits eine mannich-
fache Schichtenreihe jüngerer und besonders jurassischer
Gebilde neben Neocomlagen , welch letztere merkwürdiger
Weise nach ihrem paläontologischen Charakter mehr zur al-
pinen als jurassischen Facies hinneigen. Wir sehen daraus,
dass die Gestaltung und Gliederung der festen Erdrinde
früher eine vielfach andere war, als zur Jetztzeit. Von hier
führt uns der unermüdliche Gebirgsforscher durch die ver-
schiedenen Gebirgsketten und Massen bis hinüber zum Mont
Jovet und den beiden Bernhard-Stöcken, um uns in allen mit
gleicher Ausführlichkeit, Genauigkeit und Klarheit die vor-
kommenden Gebirgsglieder kennen zu lehren und ihre Struktur-
verhältnisse deutlich zu machen. Zur besseren Uebersicht
folgen wir unserem unermüdlichen Führer zuerst in der
Schilderung der cretazischen Bildungen, welche durch die
reiche Entwicklung der Neocom- (Valanginien, Neocomien et
Urgonien), der Orbitoliten- und der Galt-Schichten in diesen
Gebirgsgegenden ganz besonders glänzen , durch alle die
nacheinander geographisch geordneten einzelnen Stöcke hin-
durch. Die Uebereinstimmung zwischen diesen Gebilden der
WestaTpen sowohl nach Gliederung , Gesteinsbeschaffenheit,
als Petrefaktenführung mit jenen , welche wir in den All-
gäuer Alpen und in Voralberg kennen gelernt und beschrie-
ben haben (S. 517 — 579), ist so gross, dass wir bei den
so prächtigen Beschreibungen Favre's uns öfters nach Vor-
arlberg oder in die kuppenförmigen Gewölbe westlich von
der Hier versetzt glaubten. Diese Darstellung gewinnt noch
dadurch ganz besonders an Werth, dass eine grosse Anzahl
von organischen Einschlüssen dieser Schichten von dem als
sorgfältigen Paläontologen geschätzten H. de Loriol sehr vor-
trefflich beschrieben und deren Erkennen durch gelungene
Abbildungen erleichtert ist — eine würdige Beilage zu dem
Atlas der Profile.
Diese Uebereinstimmung zwischen dem Genfer und
620 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Algäuer Gebirge an den Westgrenzen Bayerns erstreckt sich
aber noch weiter auf die ober dem Galt folgenden jüngeren
Glieder der Kreide- oder, wie ich vorgeschlagen habe, Pro-
cän-Formation. Denn mit allem Recht hält Favre den auf
dem Galt zunächst liegenden Kalk für ein Aequivalent des
sog. Sewen-Kalks, mit dem jene Kalkschicht die Spär-
lichkeit und den schlechten Erhaltungszustand der organischen
Einschlüsse — besonders Inoceramen — theilt. Ich glaube
aber noch weiter aufs bestimmteste in den Gebilden von dem
Gebirge der Bauges SW. von dem Annecy-See das Aequi-
valent der sog. Sewen-Mergel (S. 534) mit Belemnites?
Micraster cor anguinum der Ostalpen wieder zu erkennen,
wodurch die Zugehörigkeit dieser östlich so entfernter Alpen-
theile zu einem gemeinsamen engverbundenen Entwicklungs-
gebiet mehr als wahrscheinlich gemacht wird. Denn gleich
ostwärts von den Algäuer Alpen beherrschen vollständig ab-
weichende Verhältnisse die Schichtenreihe der Kreideformation
und ihre organischen Einschlüsse (siehe S. 578) und hiermit
beginnt ein neues Verbreitungsgebiet, das ostwärts zu den
Gosaufacies hinführt.
Bezüglich der Schrattenbildung, der sog. Platterte
des bayerischen Gebirgs, kann ich mich auf meine Erklärung
(S. 541) beziehen, welche mit denen Favre's in Einklang
stehen. Diesen Ausnagungen der Atmosphärilien, die sich an
den Gesteinsklüften zunächst wirksam zeigen, unterliegen alle
mehr oder weniger horizontal liegende und nackte Kalk-
platten des Hochgebirgs, der Dachsteinkalk (steinernes Meer),
die Plattenkalke wie die Schrattenkalke.
Mit den jurassischen Ablagerungen treten wir in ein
Gebiet, welches die brennendste Frage der Gegenwart in sich
schliesst, die Frage nämlich über die naturgemässe Abgrenzung
der Jura- und Neocomschichten, mit deren Lösung unser un-
vergesslicher Freund Oppel sich eben zu beschäftigen begann,
als ein vorzeitiger Tod es verhinderte, das so erfolgreich
Oümbd: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 621
Begonnene zu vollenden. Inzwischen ist die Frage von anderen
Meisterhänden in Angriff genommen worden ; wir dürfen ihre
definitive Beantwortung baldigst voraussehen. Favre hat durch
seineStudien nicht wenig zu ihrer Förderung beigetragen. Was
aber den Schilderungen der jurassischen Schichten in der
Umgebung vom Mont-Blanc noch erhöhte Wichtigkeit verleiht,
ist der Umstand, dass gerade in diesem Gebirgstheile zwei
der merkwürdigsten Entwicklungsformen, die alpine und die
des Juragebirgs sich berühren, gleichsam verschmelzen, wess-
halb gehofft werden kann , dass der Grund dieser verschiedenen
Facies, welche hier so nahe neben einander auftreten, am
leichtesten hier erkannt werden könne.
Mout Saleve und die Berge der Voirons schliessen sich als
Vorposten geographisch an die Alpen an. Im ersten treten un-
mittelbar unter den tiefsten Lagen der Valehginienstufe (mit
Natica Leviaihan) Coralloolithe und Korallenkalke auf,
welche im Allgemeinen den sog. Nerineen und Diceras-Kalken
der ausseralpinen Jurafacies entsprechen. Ihre Fauüe uinfaast
merkwürdiger Weise aber bereits einige charakteristische Arten
der alpinen Entwicklung, wodurch ein all mäh liger Uebergang,
keine scharfe Trennung beider Entwicklungsreihen angezeigt
zu werden scheint. In den Voirons fehlen diese Korallenkalke
und es erscheint hier eine Kalksteinbildung (z. B. bei Ho-
minal), die der Verfasser früher für ein Glied der Oxford-
ßtufe hielt, jetzt aber geneigt ist, als gleichzeitige Faciesbildung
mit den Korallenschichten des Mont-Saleve der Oppel 'sehen
Titonstufe zuzutheilen. Die Mehrzahl der aufgeführten or-
ganischen Einschlüsse namentlich : Ammonites plicatüis,
Erato, der typische A. armatus , Belemnites hastatus und
Sauvanansus lassen jedoch darüber keinen Zweifel, dass
wenigstens die diese Arten umschliessende Bänke der Oxford-
etufe . und zwar den tieferen Lagen den sog. Ammonites
transversarius-Schichten, wie die Kalke von Chätel St. Denis,
angehören. Wenn aber damit auch Terebratula janitor,
[1867. n. 4.1 41
622 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
(nicht diphya, wie nach späteren Mittheilungen Favre' 8 sich
herausgestellt hat,) zugleich sich einstellt, so ist es wohl
erlaubt, zu vermuthen , dass hier, ähnlich wie an der Port
de France nach Pictet's3) neuesten entscheidenden Ausein-
andersetzungen die strittigen Grenzschichten mit Terebratula
janitor über den tieferen Juragliedern getrennt vorhanden
seien.
Was nun die Streitfrage über die naturgemässe Ab-
grenzung zwischen Jura- und Neocomschichten anbelangt,
deren Lösung durch die unzweifelhafte, bei Porte de France
ermittelte Auflagerung einer Korallen-Breccie (Nr. 4 Pictet's)
mit einer zwischen entschiedenen Neocomarten (JBelemnites
latus, Minaret und Orbignyanus , Ammonites privasensis,
Calisto, Terebratula Euthymi aus den Berriasschichte, und
Veitastes spec.) und unzweideutigen Juraspecies (Terebra-
tulina substriata, Megerlea pectunculoides und eine Reihe
von Echinodermen , die fast ausschliesslich jurassisch sind)
getheilten Faune über den Lagen mit Terebratula janitor
und einer Reihe von Ammonites-Arten mit Neocomcharakter
(Nr. 2 und 3 Pictet's) auf neue Schwierigkeiten zu stossen
scheint, so dürfte diese Vermengung einer älteren und jüngeren
Faune in den Grenzschichten gewisser Gegenden kaum
befremden, wenn man die natürliche Entwicklung der Faunen
in den aufeinander folgenden Perioden im Auge behält und
nicht der Ansicht huldigt, dass die Fauna eine ältere Schichten-
reihe plötzlich vertilgt und eine neue Fauna für die jüngere
Schichtenreihe geschaffen worden sei. Solche strenge Scheid-
ungen existiren allerdings da oder dort, aber sie sind von
nur örtlicher Bedeutung. Die Bildung von Sedimenten ist
auf der Erde stetig fortgegangen, wie die Entwicklung im
3) Notice sor les calcaires de la porte de France in d Archives
d. sc de la bibliotheque un.-de Geneve, Oct. 1867,
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 623
Thier- und Pflanzenreich. Wo dieser Bildungsprocess unge-
stört und ohne gewaltsame Unterbrechungen an dem Orte
der Ablagerungen oder in der Nähe fortschreiten konnte,
werden weder discordante Uebereinanderlagerungen zu sehen,
noch eine plötzliche Aenderung in den Arten der organ-
ischen Einschlüsse, als Repräsentanten der jeweiligen Fauna,
zu bemerken sein. Die Fauna ändert sich allmählig mit der
allmähligen Vermehrung der Schichtenlage. Wo wir strenge
und plötzliche Forrnationsgrenzen beobachten, ist diess ein
Zeichen von Störungen und Aenderungen in Vertheilung von
Land und Meer, welche in der Nähe eingetreten sind. Strenge
Formationsgrenzen sind doch nur localer Natur, auch wenn
sie über ganze Continente hindurchreichen sollten. Auf der
Erde als Ganzes reihen sich hier oder dort die Gebirgs-
glieder unmittelbar mittelst allmähliger Uebergänge an ein-
ander an; für die Erde als Ganzes giebt es keine strengen
und plötzlichen Formationsgrenzen. Aber gleichwohl verlieren
diese, wo sie existiren und innerhalb gewisser Territorien
nichts an ihrem hohen wissenschaftlichen Werthe, welchen
wir ihnen mit Recht beimessen.
Wie aber ist es möglich, dass selbst innerhalb Schichten-
reihen, welche keine Diskordanz zeigen, sondern das Zeichen
des ruhigsten stufenmsässigen Entwicklungsganges an sich
tragen, denn doch plötzlich neue Arten, wie nicht zu läugnen
ist, auftauchen? Wir wollen hier ganz absehen von der
möglichen Umgestaltung der vorher vorhandenen Arten. Die
Vertheilung der einzelnen Formationen oder einzelner Glieder
von Formationen über verschiedene Theile der Erde, die
Störungen in der Lagerung, die sie erlitten haben, setzen
es ausser Zweifel, dass fortwährend auf der Erde Disloka-
tionen der festen Rinde, Senkungen und Hebungen statt-
fanden, bald von geringerer, bald von grösserer Ausdehnung
und Erstreckuug. Damit erlitten die Meere, die Hauptträger-
inneu der Sedimeutärgebilde, in ihrem Umiang und in ihren
41*
624 Kitzimg der matiiyphys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Verbindungen vielfache Aenderungen; früher verbundene
Meere wurden in einzelne Becken getrennt, früher getrennte
Becken in Verbindung gesetzt und vereinigt. Durch solche
Aenderungen , welche selbst auf sehr grosse Entfernungen hin
ihre Wirkungen fühlbar machten, erhielten gewisse Meeres-
theile neuen Zuwachs an den ihnen vorher fremden Arten,
sie verloren unter Uniständen einige der früheren Beding-
ungen , unter welche diese oder jene Art in ihnen leben
konnte, ihre Niederschläge dokumentiren innerhalb der Grenz-
gebiete dieser Aenderungen in der Vermengung alte typischer
und neuer fremdartiger Formen solche Vorgänge der ver-
änderten Oberflächengestaltung, welche an andern Stellen
der Eide nicht oder in anderer Weise eingetreten sind. Auf
diese Weise scheint uns die Thatsache eine Vermengung von
typischen Arten verschiedener Formationen in Grenzschichten
an gewissen Stellen der Erde nicht nur nicht auffällig,
sondern vielmehr nothwendig.
Aehnliche Betrachtungen gestatten vielleicht auch die
eigenthümlichen Verhältnisse bei den Grenzgebilden der Jura-
und Neocomschichten der westlichen Alpen, die wir so eben
berührt haben, zu erläutern.
Wie schwierig und verwickelt diese Untersuchungen über
die jurassischen Gebilde des alpinen Gebirgssystems sind,
das deuten schon die petrographischen und paläontologischen
Differenzen an, welche bisher in den gleichen oder doch
nahe entsprechenden Schichtenreihen an den verschiedensten
Stellen der Alpen beobachtet wurden. Selbst in den fernsten
Karpathen taucht auf einmal wieder ein Facies iu den sog.
Straniberger-Schichten auf, welche die merkwürdigsten
Analogien mit den Kalklagen der Westalpen besitzen.
Die Spuren dieser Bildungen an der oberen Grenze
der Juraformation führen uns durch die ganze östliche
Schweiz, durch Voralberg, wo bei Au und an der Canisfiuh
ein leider trostlos armer schwarzer Kalk, nach Oppel mit
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 625
einem Ammonites Cafo'sfo- ähnlichen Cephalopoden die un-
mittelbare Unterlage der Neocomschichten ausmacht (an der
Wurzeralp in [trächtiger Entblössung) und sich mit den für
die bayerischen Alpen so charakteristischen Aptychen-reichen
Ammergauer- VVetzsteinschichten in Verbindung tritt, dass
weiter zum rothen Ruhpoldinger Kalk bei Traunstein , in
welchem das glückliche Auge Oppels eine Reihe seiner
titonischen Ammoniten*) neben einer Terebratula aus der
Gruppe der diphya entdeckte, gleichfalls mit den Aptychen-
bchichten als Hangendes verbunden bis zur Salzach, wo graue,
den Aptychenschichten ähnliche, hornsteinreiche Gebilde, die
sog. Oberalmer-Schichten, oft mit äusserst dichten, dem
lithographischen Kalk ähnlichen Lagen und Cementmergel
unmittelbar unter den sog. Uossfeldschichten (Neocombildung)
durch zweifui chige JBelemniten , Aptychen mit knieförmig
gebogenen Rippen , und Ammonites subfimlriatus neben ju-
rassischen Formen unzweifelhaft dieselben Uebergangsglieder
repräsentiren, welche in unsern Alpen hier am ehesten weitere
Aufschlüsse über diese Grenzschichten zu geben versprechen.
Es ist höchs auffallend, dass in dem ganzen Alpenzug
die ältereren jurassischen Stufen unter dein sog. Oxford-
kalk nur dürftig entwickelt sind. Eine Ausnahme macht der
Kalk mit den ckarakteristischen Kelloway- Versteinerungen,
dem unser sog. Vilserkalk , und die Kalkschicht mit der so
bezeichnenden Posidonomya alpina. Favre war so glück-
lich, diese Bildungen an zahlreichen Orten zu entdecken, in
jenen von Chanaz , bei Seyssel mit einer glänzenden Reihe
von Amruoniten. Von noch grösserer Wichtigkeit ist das
Auffinden noch älterer Schichten (ßath- und Unter-Oolith)
mit dem in den Alpen so seltenen Ammonites Parkinsoni,
Murchisonae, Humphresianus u. A. Alle diese Stufen bilden
4) Geogn. palaeont. Mittbeil, von Beoecke I. S. 252.
626 Sitzung der math.-phys. Classevom 7. Dezember 1867.
ein fast untrennbares System von schwärzlichem Schieferthon,
von grauen und schwärzlichen Kalken oder Mengeis chiefer
und dunkelfarbigen Sandsteinlagen, in welchen man weitere
Schichtensysteme nicht zu unterscheiden im Stande ist.
Dieser Nachweis ist eine namhafte Errungenschaft für die
Alpengeognosie.
Dieser tiefere Dogger verbindet sich stellenweise mit
noch tieferen Lagen von ähnlicher petrographischer Be-
schaffenheit, die jedoch durch organische Einschlüsse sich als
liasisch kennzeichnen. Die dunkelfarbigen Mergelschiefer
der oberen Liasstufe stimmen aufs genaueste mit den Schiefer-
bildungen, welche ich Algäuschichten nenne (S.435 m. W.).
Ich habe bei denselben bemerkt, dass, da in den bayerischen
Alpen bisher keine Spuren von .älterem Dogger beobachtet
werden konnten , in der Reihe dieser ein scheinbar untheil-
bares Ganzes ausmachenden Algäuschiefer wahrscheinlich die
Aequivalente der Doggerformation mit eingeschlossen
sind. Diese genauen Schilderungen der oberen Liasschichten
in den Westalpen (mit Ammonites Aalensis und Inoceramus
Falgeri) macht mir diese Ansicht nur um so wahrscheinlicher.
Ueberhaupt scheint der Lias des Genfergebirgs viele Ueber-
einstimmung mit der Lias in unseren Alpen zu haben, ob-
wohl die Fauna ganz ausseralpinen Typus an sich trägt und
nur Ammonites Roberti5) Hauer (nicht Ooster) als ausschliess-
lich alpine Art beherbergt.
Auch die rhätischen Stufe, für welche Favre sich
der Stoppani'schen Bezeichnungsweise Infra-Lias bedient,
(obwohl wir uns sonst in Vielem in höchst erfreulicher Weise
mit unsern Ansichten in Uebereinstimmung befinden,) ist in
ihrer grossartigen Verbreitung innerhalb der Westalpen dem
scharfen Blicke Favre' 9 nicht entgangen. Seine Mittheilungen
5) Ammonites discohelix Stol. ist mir nicht bekannt.
Giimbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 627
hierüber sind sehr umfassend und belehrend. Bezüglich der
organischen Einschlüsse hält sich der Verfasser ganz an die
Bestimmungen Stoppani's. Wir wollen desshalb, obgleich
sie nicht in Ueberstinimung stehen mit unserer Auffassung,
nichts weiter bemerken. Wenn aber der Verfasser, die An-
sichten Stoppani's und die der meisten französischen Geo-
logen theilend, als mit bestimmenden Grund der Zutheilung
der rhätischen Schichten zur Liasformation das Vorkommen
von einer Belemniten- und einer Metoporhinus - Species an-
führt, so sei mir erlaubt, obgleich diese Frage schon so vielfach
discutirt worden ist, hier noch einmal mit wenigen Worten
darauf zurück zu kommen. Zum Voraus sei bemerkt, dass
das Auffinden eines so schlecht erhaltenen Steinkern's, über
dessen Natur man überhaupt noch in Zweifel sein muss, wie
jener eines unsymetrischen Echinodermen — Metoporhinus —
bei der Entscheidung der beregten Frage wohl in Ernst
nicht in die Wagschale gelegt werden darf. Auch das erst-
malige Erscheinen eines Belemniten kann nicht befremden,
so wenig wie das Vorkommen von Orthoceratiten im Lias
von Adneth. Wenn man bisher die Gründe angeführt hat,
welche zu Gunsten einer Zutheilung der rhätischen Schich-
ten zur Liasformation nach der Vergleichung der beiden
gemeinschaftlichen oder analogen Species zu sprechen scheinen,
hat man immer vergessen, mit gleichem Maass zu mes-
sen. Man zählt auf der einen Seite die gleichen oder ver-
wandten Arten in zwei Schichtenreihen, die unmittelbar
aufeinanderliegen, welche mithin in der Zeit ihrer Entstehung
unmittelbar und in demselben Meere entstanden aufeinander
folgten, während man auf der anderen Seite zu einer Ver-
gleichung mit älteren triasischen Faunen wenigstens bis in die
Lettenkohle oder gar bis in den Muschelkalk hinabsteigen
muss, in Faunengebiete, die, vergleichsweise zu sprechen, viele
hunderttausend Jahre früher existirten und den rhätischen
vorausgiengen. Die basische Fauna dagegen reicht dieser
628 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
unmittelbar die Hand. Ist eine solche Vergleich ungleich-
werthigen Verhältnisse wissenschaftlich exakt und zulässig?
Ich glaube nicht. Es fallen damit zugleich auch alle die
Gründe der Zutheilungder rhätischen Stufe zur Liasformation.
Wenn man richtige Zahlen gewinnen will, so muss man
Vergleichungen der Fauna ziehen, die nahezu gleich weit in
der Zeit ihrer Bildung von dem Vergleichscentrum abstehen,
und diess wäre nur möglich, wenn wir eine Fauna benützen,
könnten, die so tief — ich gebrauche diesen Ausdruck nur figür-
lich—unter dem rhätischen Schichtencomplex läge, wie die der
unteren Liaschichten darüber, also etwa die Fauna des rothen
Belodon-Keuper's. Aber würde man sich nur die Mühe nehmen,
die rhätische Fauna der tieferen Keuperschichten in den Alpen
mit jener der sog. Raibler Schichten oder des Kalks vom
Esino in Vergleich zu setzen, ohne dabei zu vergessen, dass
zwischen beiden die ungeheure Masse des Hauptdolomits,
der einer unermesslich langen Bildungszeit entspricht, liegt,
so würde man den triasischen Charakter der rhätischen
Fauna, im Sinne meiner Erläuterungen über die Grenz-
schichten der Jura- und Neocombildungen gewiss nicht ver-
kennen können. Wer die ausseralpinen Verhältnisse, welche
zwischen dem Bone-bed und den tiefen Keuperlagen so un-
zweideutig bestehen, kennt und würdigt, wird ausserdem
nicht im Zweifel sein, dass dieses ganze Schichtensystem ein
zusammengehöriges .Ganzes ausmache und am naturgemässe-
sten als eine besondere Stufe der triasischen Formation
anzureihen sei.
Die Entdeckung und der Nachweis von oberen Trias-
schichten, welche dem Keuper an Alter zu vergleichen
sind, in den westlichen Alpen verdankt die Wissenschaft
gleichfalls den Untersuchungen Favre' s. Derselbe hatte
diese Schichten schon vor mehreren Jahren kennen gelehrt.
Jetzt liegt uns hierüber eine vollständige und ausführliche
Beschreibung in allen Einzelheiten des Vorkommens vor, die
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 629
uns eine sehr klare Einsicht gestattet. Wir finden nament-
lich darin als wesentliches Glied Gyps mit Rauchwalke an-
geführt; neben Arkose, Quarzit, rothen und grünen eisen-
haltigen, thonigen Schiefern, die, weil ohne Versteinerungen,
nicht mit Sicherheit den alpinen Buntsandstein oder
Werfen er Schiefern der Ostalpen gleichgestellt werden
können. Ebenso fehlt es an deutlichen Spuren der Muschel-
kalkbildung. Die auftretenden Dolomiten entsprechen eine
der mächtigen Dolomitenreihen in den Üstalpen, welche hier
zwischen dem unteren Trias und der rhätischen Stufe
eingelagert vorkommen. Auch die Vergesellschaft von Gyps
und Rauhwacke lässt eine nähere Vergleichung mit den Ver-
hältnissen in unserem Hochgebirge nicht zu, da wir hier
drei wesentlich verschiedene Gyps-führende Horizonte im
obersten Buntsandstein (Roth), zwischen Raibler Schichten
und Hauptdolomit und endlich in den rhätischen Schichten
selbst haben. Am meisten Wahrscheinlichkeit hat es für
sich, die Gypsbildung der Westalpen dem mittleren Horizont
anzugleichen, welcher ziemlich mit den Gypsablagerungen iu
den tiefsten Stufen des bunten Keupers ausserhalb der
Alpen (Gaugyps- Stufe) über oder mit den dortigen Stell-
vertretern der Raibler-Fauna das gleiche Alter theilt.
Wir gelangen so abwärts in der Schichtenreihe steigend
an jene sogenannte Anthracitbildung der Westalpen,
welche seit ihrer ersten wissenschaftlichen Entdeckung durch
H. Elie de Beaumont (1828) das Interesse aller Geog-
nosten dadurch auf das Lebhafteste für sich in Anspruch
nahm, weil daselbst ächte Steinkohlenpflanzen mit
ächten Lias- sogar mit tertiären Ueberresten zusammen-
gelagert vorkommen sollen. Man hat, um diese Anomalie
gegen alle sonstige Beobachtungen in den Schichten, welche
unter der Bezeichnung Anthrazitbildung der Taren-
taise bekannt sind, zu erklären, viele Theorien aufgestellt
und zu den wirklich abenteuerlichsten Auskunftsmitteln seine
630 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
Zuflucht genommen. Selbst die Barrande'schen Kolonien
hatten kaum das Licht der Welt erblickt, als sie zur Er-
läuterung der Anomalie in der Tarentaise herbeigezogen
wurden. Favre behandelt diesen Stoff sachlich und ge-
schichtlich mit einer Gründlichkeit, die diesem Forscher zur
höchsten Ehre gereicht. War er es ja, welcher zuerst (1858)
nicht bloss behauptete, sondern deutlich nachwies, dass die
unzweifelhaft ächten Steinkohlenpf lanzenreste-enthal-
tende Lagen getrennt sind von den Liasversteinerungen-
führenden Schichten und dass beide Systeme nur durch
Schichtenstörungen, Zusammenfaltelungen und Ueberkippungen
in scheinbare Wechsellagerung versetzt und stellenweise so
übereinander gelagert vorkommen, dass die ächten Carbon-
schichten oben und die Liasschichten unten liegen.
Der verdienstvolle Alpenforscher hatte die Genugthuung,
dass die Versammlung von Geognosten, welche 1861 zur
Prüfung dieses so wichtigen, wie schwierigen geognostischen
Problems unter Studer's Leitung in einer ausserordent-
lichen Sitzung der geologischen Gesellschaft zu St. Jean
Maurienne zusammengetreten war, nach sorgfältiger Prüfung
an Ort und Stelle sich ganz den Resultaten Favre' s an-
schloss und Studer die Streitfrage für definitiv erledigt
erklären konnte. Wenn aber irgend noch eine Spur von
Bedenken übrig geblieben sein könnte, so würde diese durch
die neue, klare und erschöpfende Darstellung Favre' s, die
von zahlreichen deutlichen Profilzeichnungen erläutert wird,
vollständig verscheucht sein. Dieser Abschnitt ist ein wahres
Muster für die Behandlung geognostischer Fragen.
Die Kohlengebirgsschichten lagern zum Theil
wenigstens auf noch älteren, den krystallinischen Schiefern
oft ähnlichen Schiefergebilden, die in den inneren Theilen
des Hochgebirgs mächtige Verbreitung gewinnen. Da sichere
Andeutungen der präcarbonischen Reihen des Bergkalks der
Devon- und Silurformationen bisher hier noch nicht erkannt
Giimbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 631
worden sind, so könnte man solche alpine Thonschiefer
für Aequivalente solcher älterer Gebirgsglieder halten; in-
dess fehlt jede Spur organischer Einschlüsse, die eine solche
Annahme rechtfertigen würde.
Die grosse Reihe dieser thonigen Schiefer von
von mehr oder weniger krystallinischer Textur, die man als
Mont Cenis- oder Casenna- oder graue und grüne Schiefer
bezeichnen kann , wie zwischen Fluuiat und dem Thal der
Isere und um Megene, verlaufen in kalkige, chloritische
Glimmer-führende Schiefer und in wahren Glimmer-
schiefer, die ihrerseits wieder aufs innigste dem Gneis s
sich anschliessen. Alle diese krystallinischen Schiefer
bilden ein Ganzes, in welchem einzelne Graphit-reiche
Lagen, dann häufig körniger Kalk stets nur in deutlichen
Zwischenlagen, wie der Serpentin, eingeschaltet sich finden.
Favre war auch so glücklich in dem serpentinhaltigen Kalk
im Mattenbach bei Lauterbrunn in der Juugfraukette zwischen
Gneisslagen Eozoon aufzufinden. Wir erkennen aus diesen
Schilderungen das Abbild der Verhältnisse, welche sich auch
in den Urgebirgstheilen des bayerischen Gebirgs N. der
Donau beobachten lassen. Selbst Eklogit- Einschlüsse hat
Favre in der Nähe des grossen Gletschers von Trient be-
obachtet.
Der Gneiss, namentlich die Gneissabänderungen mit
grünem Glimmer, die sogenannten Protogingneisse ver-
binden sich so innig mit gewissen granitischen Gesteinen,
dass man beide blos für Formen derselben Gebirgsart halten
muss. So erscheint der Granit, den man wegen seiner
charakterischen Gemengtheile Protogin nennt, mehr gegen
das Centrum des Mont-Blanc Stock's, die geschichtete Ab-
änderung mehr gegen Aussen. Dieser Protogin selbst in
seiner Granitform ist stets in dicken Bänken gesondert und
gehört mithin denjenigen krystallinischen Bildungen an, die
ich als Lagergranite bezeichne. Meine Untersuchungs-
632 Sitzung der math.-phys. Ciasse vom 7. Dezember 1867.
resultato stehen in dieser Beziehung in voller Uebereinstim-
mung mit den Ansichten Favre' s, wenn er die herrschende
Parallelstruktur der krystallinischen Schiefer für ächte
Schichtung, und nicht für Folge einer Schieferung hält,
deren wahre Ursache und Wirkung der Verfasser sehr wohl
kennt und an den Schichten zwischen Tete noire und dem
grossen Tunnel trefflich beschreibt. Die steile Aufrichtung
dieser Schichten und Lager verursacht das Wildzackige dieses
Gebirgs und das häufige Vorkommen von Spitzen und
Nadeln, während andere Granitgebirge sich durch abge-
rundete Formen auszeichnen. Auch unsere nord bayerischen
Gebirge beherbergt einen Protog in- artigen Granit, bei dem
jedoch die weiche talkähnliche Beimengung nicht aus Talk
besteht, sondern dem Onkosin und dem Steinmark entspricht.
Bei den allerdings wenigen Mustern von Protogin aus
dem Mont-Blanc Stock , die mir zur Verfügung stehen,
zeigt es sich äusserst schwierig , die grünliche für Talk-
anzusprechende Substanz ganz tein von Feldspath oder
Glimmerschüppchen zu befreien. Die erhaltenen Reaktionen
sind daher nicht zuverlässig genug, um über die Natur
dieser Beimengung vollständig ins Klare zu kommen. Ich
fand indess, dass möglichst reine Splitterchen vor dem
Löthrohr nicht völlig unschmelzbar sind, dunkler werden
und mit Kobaltlösung Spuren von blauer Färbung annehmen.
Es möchte daher diese Substanz ebenfalls zu den Steinmark-
ähnlichen Beimengungen zu rechnen sein.
Wir folgen dem Verfasser aus dem Bereich zahlloser
einzelner Beobachtungen, die er in der Natur augestellt und
bezüglich der Richtigkeit seiner Auffassung durch hundert
ähnliche Profile controllirt hat, endlich auf das Gebiet der
Schlussfolgerungen, welche er auf höchst geistreiche Weise als
das Resultat aus seinen Einzelforschungen ziehen zu dürfen
geglaubt hat. Es ißt von hohem Interesse hier die An-
sichten eines Mannes zu hören, welcher durch die Ruhe
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 633
und Klarheit der Anschauungen bei seinen tausend und
tausend Beobachtungen in der Natur Bürgschaft dafür leistet,
dass auch seine Schlüsse sich nicht vom Wege exakter
Forschung durch kühne Phantasien werden fortreissen lassen,
kurz die durch unsägliche Mühe während vieljährlichen
Forschungen erworbenen Erfahrungen eines Feldgeologen zu
vernehmen. Nach sorgsamer Prüfung aller Verhältnisse
kommt Favre zu dem Schlüsse, dass:
1) nur unter dem Einflüsse von Feuchtigkeit, Druck
und Wärme die Granit-artigen Gesteine des Mont-Blanc's ent-
standen sein können,
2) dass sie geschichtet sind,
3) dass sie in festem Zustande auf die Oberfläche der
Erde gelangt sind und
4) dass sie nicht dem Metamorphismus unterworfen
waren. „
Um die Verhältnisse deutlicher begreiflicher zu machen,
unter welchen bei dieser Voraussetzung etwa die Ent-
stehung solcher Granitmassen gedacht werden kann, ver-
weist der Verfasser auf jene ältesten Perioden der Erd-
bildung zurück, wo das Wasser noch in Dampfform in der
Atmosphäre verbreitet war und sich zu condensiren begann.
Der dadurch und durch das Vorhandensein anderer Gas-
arten in der damaligen Atmosphäre verursachte enorme
Druck zwang die Dämpfe trotz der hohen Temperatur, die
damals herrschte, in flüssigen Zustand überzugehen und auf
vorhandenes Material, welches sich der Verfasser in Form
Lava-ähnlicher Masse die Oberfläche der Erdfeste bedeckend
denkt, auflösend einzuwirken. Dieser aufgenommene Stoff
krystallisirte wieder aus und lieferte das Material zu dem
granitischen Gestein. Mit Abnahme der Wärme verringerte
sich diese Einwirkung und die Krystallisationskraft und so
entstanden die krystallinischen Schiefer. Die Gesteinsgänge
634 Sitzung der math.-phys. Ciasse vom 7. Dezember 1867.
dagegen , die von dem Verfasser auch vielfach constatirt
wurden , wie z. B. die Gänge porphyrartigen Granits von
Valorsine, leitet er von grossem Druck her, welcher das
Magma des Granites in die Risse benachbarter Gesteine
eingeführt habe.
Wenn wir an die Stelle bereits aus der Wasserlösung
fertig ausgebildeter Krystalle die Bildung eines amorphen
Niederschlages setzen, aus dem sich erst nach und nach die
einzelnen Mineralien am Boden selbst entwickelten, so dürfte
diese Darstellung ungefähr der Vorstellung gerecht werden,
welche wir uns nach dem jetzigen Standpunkt der Erfahr-
ungen naturgemäss von der Entstehung der granitischen
Gesteine machen können.
Besonders scharf fertigt Favre den Metamorphismus
in Bezug auf die Entstehung der krystallinischen Schiefer
ab. Der Glaube an den so mysteriösen Metamorphismus
stamme hauptsächlich von der Angabe der französischen
Karte eines „terrain jurassique modifie" her. Seitdem
jedoch dieses terrain modifie theils als carbonisch, theils als
acht jurassisch sich erwiesen hat, ist der Metamorphismus
unnöthig geworden. In dem Kalk vonMagaz dicht am Protogin
finden sich die best erhaltenen Versteinerungen ohne irgend eine
Aenderung. In Bezug auf das Vorkommen von Equisetum
Sismondae, im Gneiss von Veltlin, das man für einen un-
umstösslichen Beweiss zu Gunsten der Bildung des Gneisses
durch Metamorphose angeführt habe, glaubt Favre,
dass bei einer Umänderung der Schiefer in krystallinisches
Gestein die feinen Theilchen der zarten Pflanze sich unmög-
lich hätten erhalten können. Metamorphismus ist dem Ver-
fasser eine verborgene, unbekannte Kraft, der man die Erfolge
zuschreibt, von denen man sich keine Rechenschaft geben könne,
von der man jedoch wünschen müsse, dass ihr Name bald
aus dem Wörterbuch der Wissenschaft gestrichen werde.
Gümbel: Die geognost. Verhältnisse des Mont-Blanc etc. 635
Man muss wenigstens bezüglich der krystallinischen Schiefer
dieser Ansicht unbedingt beistimmen oder überhaupt alle
Gesteine, welche nach ihrer Sedimentation oder Erstarrung
irgend eine Aenderung erlitten haben, — und. das sind alle,
selbst Sedimentgesteine, ausnahmslos — als metamorphische
erklären. Selbst der gewöhnlichste Kalkstein hat seit seinem
ersten Körner- oder Staub-artigen Absatz bis zum Zustande
einer festen Felsmasse grosse Metamorphosen durchgemacht.
Wir stimmen insofern der oben ausgesprochenen Ansicht
bei, als jeder Metamorphismus zu verwerfen ist, bei dem
man sich über die verändernden Vorgänge nicht Rechenschaft
geben kann. Indessen bleiben immerhin eine Reihe von Er-
scheinungen übrig, die sich durch eine materielle Umänder-
ung früher vorhandener Felsarten vollständig exakt erklären
lassen. Ich erwähne nur die Verwandlung von Enstatit- oder
von Olivinfels in Serpentin. Doch beschränken sich derartige
Metamorphosen auf Infiltrationserscheinungen und Umänderung
nach Art der Pseudomorphosen. Es dürfte daher geeignet
sein , statt des allerdings vielfach missbrauchten Wortes
Metamorphose den Begriff Pseudomorphose auch auf
ganze Felsmassen anzuwenden.
Es erübrigt noch die Erklärung zu erwähnen, welche
der Verfasser nach dem Vorgange Lory's im XXIII. Kapitel
seines Werkes über die Fächerstruktur des Mont-Blanc
Massiv's, welche mit gewisser Modifikation auf den ganzen
Gebirgsbau der Alpen Anwendung finden kann , giebt. Sie
stützt sich auf die Annahme einer wahren Schichtung der
krystallinischen Schiefer und einer lagenweisen Ausbildung
des Protogin's. Man muss annehmen, dass die krystallinischen
Schiefer beim Beginn des letzten Hauptgestaltungsaktes der
Alpen von einer sehr energischen Pression ergriffen , eine
sehr vorspringende Falte bildeten und durch das Uebermaass
der Krümmung auseinander brachen , so dass der zuerst
636 Sitzung der math.-phys. Classe vom 7. Dezember 1867.
unter den Schiefern in der Tiefe lagernde Protogin im Mittel-
punkt der Berstung zum Vorschein kam. Die oberen Partieen
der so gehobenen Kette erlitten eine nur schwache Seiten-
pressung, während die tieferen mit grosser Gewalt durch
die Wirkung der benachbarten, weniger hervorragenden Falten
zusammengedrückt wurden und eine Lage annehmen mussten
nach Analogie der Halmen in einer Garbe. Auf ähnlichen Vor-
gängen beruht auch die Struktur der angeschlossenen jüngeren
Sedimentärschichten in ihren halbfächei förmigen, gewölb-
artigen oder selbst überstürzten Lagerungen.
Wenn der Verfasser annimmt, dass der Ursprung der
Gebirge nicht einer Erhebung (soulevement) im vertikalen
Sinne zugeschrieben werden könne, weil dann die Schichten
einfach antiklinal aufgerichtet und zersprengt worden wären,
so ist doch nicht abzusehen, wenn ich recht verstehe, wie
die erste Wirkung der Pression in der Centralkette entstanden
sei. Mir scheint in der That eine Emporhebung gewisser
fester Gebirgstheile in der Centralkette angenommen werden
zu müssen, welche, indem durch dieses Emporpressen fester
Massen zwischen die früher auflagernden Schiefer ein Raum
geschaffen werden musste, welcher die eingeschobenen Massen
einnehmen konnte, ein Auseinanderdrängen der seitlich ge-
lagerten Schichten verursachte und auf diese nur in Form
eines Seitendrucks wirken konnte, wie ich bereits ausführlich
(S. 855 m. W.) ausgesprochen habe. Im grossen Ganzen
glaube ich jedoch die Ueberstimmung unserer Ansichten über
den Gebirgsbau der Alpen in zwei so entfernt liegenden
Theilen derselben constatiren zu dürfen.
So sehen wir durch dieses Meisterwerk der descriptiven
Geologie eine jener grossen Lücken auf die würdigste Weise
ausgefüllt, welche die bisher erschienenen Monographien über
einzelne Theile der Alpenkette noch gelassen hatten und
wir begrüssen mit grosser Freude die Uebereinstimmung
Sitzung der Jiistov. Gasse vom 7. Dezember 1867. 637
der Resultate der Forschungen im Osten und Westen der
Alpen, die der Hoffnung Raum geben, dass das so schwierige
Gebiet der Alpen bald in allen Theilen gleichmässig geogno-
stisch untersucht und in seinem verwickelten Gebirgsbau klar
aufgeschlossen vor Augen gestellt sein werde.
Historische Classe.
Sitzung- vom 7. Dezember 1867.
Herr Rockinger machte Mittheilungen:
„Zur äussern Geschichte der Entwicklung
der bayerischen Landesgesetzgebung von
Kaiser Ludwig's oberbayerischen Land-
rechten bis in den Beginn des 16. Jahr-
hunderts'.
[1867.11. 4] 42
Sach- Register.
Achäer 528.
Aegypten 84 528.
Alpen, die West- und Ostalpen 606.
Altfranzösiscbe Lieder 486.
Atomigkeit 563.
Auctoritates (in der Philosophie) 173.
Drucke 174.
Bach Sebastian 336.
Bayern, Ortsnamen 450.
Landesgesetzgebung 637.
Bergkrystallgewichte 235.
Berner Bibliothek 486.
Berthold von Regensburg 374.
Blitzschläge 247.
Influenzfilhigkeit der Bodenschichten — mechanische Wirk-
ungen 263.
Blausäure-Vergiftung 591.
Wirkung aufs Blut 594.
Brasilien 559.
Buchstaben, ihr ägyptischer Ursprung 84.
ein Alphabet? 100. 103.
China 19.
42*
640 £ ach- Register.
Danait 278.
Eiterkörper in Gefässepithelien 139.
Erlanger Bibliothek 385.
Favre Alphons, recherches geologiques etc. 604.
Fettbildung im Körper 462.
Formeln, typische und empirische in der Mineralogie 563.
Fütterungsarten 404.
Galtgrünsandstein 155.
Geologie 407. 603.
Gerding's Geschichte der Chemie 601.
Geschichte, ägyptische 528.
chinesische 19.
Gewitterereignisse 249. 265.
Glaukodot von Hakansbö 247.
Griechisches auf ägyptischen Denkmälern 534.
Gudrun 205. 357.
Harnsäuresedimente 279.
Heilsbronner Bibliothek 385.
Heinrich von Veldeken Eneide 4"
Island 1.
Knochenbildungen (primäre) in der Lunge 144.
Krause Unsterblichkeitslehre 394.
Leiden Christi-Leodegar (altromauisch) 199.
Leucothea der Glyptothek 339.
Sach-Register. 641
Litteratur
mitteldeutsche 1. 205. 357. 384. 461. 471.
romanische 199. 486.
Mathematik 407.
Menschenspuren in den neogenen Tertiärschichten Frankreichs 407,
Meteorologie 247. t
Milchkuh, eine gute 406.
Mineralogie 276. 563.
Mineralwasser zu Neumarkt (Oberpfalz) 125
Montblanc, dessen geognostische Verhältnisse 603.
Mukhbir, türk. Journal 394.
Münchner Staatsbibliothek 2. 297. 384. 425. 471.
Xachtsegen (mitteldeutsch) 1. 159. 461.
"Qyxcc 550.
Optische Constructionen 284.
Pateclus 392. 459.
Pelasger 546.
Philosophie des Mittelalters 173.
Phosphorsäure in Schichtgesteinen Bayerns 147.
Photographie 284.
Piatons Timäus 543.
Polnische Sprache 160.
Roger Bacon 374.
Rüdiger von Manesse in Zürich 429.
Salimbene's Chronica 375. 390.
Schmeller's Realkatalog 384.
Scholastik 173.
ihre Nachwirkung im 16. Jahrhundert 189.
642 Sach-Register.
Schwabenspiegel 297.
dessen Abfassungszeit 408, eine höhere 442.
eine Handschrift desselben im Besitze des Herrn Föringer 408.
eine Pergamenthandschrift Heinrich des Preckendorfer 413. 416.
Schwefelarsenik-Bildung in den Leichen mit arseniger Säure Ver-
gifteter 395.
Sprachgränze, die deutsche im Süden 383.
Stoffverbrauch — Stoffwechsel 572.
-beim Gesunden und Kranken 575.
Verschwörung in Bayonne (1565) 158.
Wage — erreichbare Genauigkeit 231.
Walther von Lille' (Waltharius) 394.
Wehrverfassung keltische-germanische 158.
Wittenberger Theologen 33G.
Wurmsegen (mitteldeutsch) 16.
Ziffern, ägyptisch 116.
Zuckerharnruhr 572.
Namen -Eegister.
Brunn 339.
Büchner 125. 395. 591.
Büdinger (Wahl) 339.
Buhl 139. 144.
Cappino Marchese (Wahl) 338.
Carvalhao (Wahl) 338.
Gümbel 147. G03.
Benzen (Wahl) 33S.
C. Hofmann I. 159. 199. 205. 336. 357. 374. 4(31. 480
Frz. Hofmann 279.
v. Hundt, Graf 450.
v. Kaueler (Wahl) 337.
Keinz 1.
Kluckhohn 158. 336.
v. Kobell 276. 563.
Kuhn 247.
Lauth 84. 528.
de Leva (Wahl) 339.
v. Leuchtenberg, Nicolaus Herzog Ehrenmitglied (Wahl) 337.
v. Liebig 337.
Lorenz (Wahl) 339
de Lima (Wahl) 338.
644 Namen-Begister.
v. Martina 559.
Matteucci (Wahl) 338.
Maurer 1.
Mignet (Wahl) 338.
Miquel (Wahl) 338.
Müller M. J. 394.
Newton (Wahl) 338.
Pariatore (Wahl) 338.
v. Pettenkofer 572.
Plath 19. 394.
Prantl 173.
Riehl 336.
Rockinger 297. 408. 637.
Röscher (Wahl) 338.
de Rossi (Wahl) 338.
Roth 158.
Scacchi (Wahlj 338.
Secchi (Wahl) 338.
Seidel 231. 284. 407.
Senarmont (Wahl) 338.
A. Steinheil 284.
Vogel 601.
Voigt (Wahl) 339.
Voit 279. 402. 572.
Wagner Mor. 407.
Zingerle (in Innsbruck) 461. 471.
AS
182
M8212
1867
Bd. 2
Akademie der Wissenschaften,
Munich
Sitzungsberichte
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