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Full text of "Sitzungsberichte"

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Sitzungsberichte 


der 


königl.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften 

zu  München. 


Jahrgang  1867.  Band  II. 


M  ü  neben. 

Akademisclie  Bucbdruckerei  von  F.  Straub. 

1867. 

In  Commissiou  bei  G.  Franz. 


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2.12 

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Uebersiclit  des  Inhaltes. 


Die  mit  *  bezeichneten  Vorträge  sind  ohne  Auszug. 

PhiJosophisch-philol.  Glasse.  Sitzung  vom  1.  Juni  1867. 

Seite 
*  Maurer:  Die  Quellenzeugnisse  über  das  erste  Landrecht  und 
die  Ordnung  der  Bezirksverfassung  des  isländischen 
Freistaates 1 

K  e  i  n  z :    Eine  mitteldeutsche  Beschwörungsformel  (Nachtsegen) 

aus  dem  XIII./XIV.  Jahrhundert 1 

Plath:  Chronologische  Grundlage  der  alten  chinesischen  Ge- 
schichte                 19 

Lauth:  üeber  den  ägyptischen  Ursprung  unserer  Buchstaben 

und  Ziffern  (mit  einer  Tafel) 84 


Mathcmatisch-plysilal.  Classe.     Sitzung  vom  1.  Juni  1867. 

Buchner:   Neue  chemische  Untersuchung  des  Mineralwassers 

zu  Neumarkt  in  der  Oberpfalz 125 


IV 


Seite 

Buhl:  1)  Ueber  die  Bildung  von  Eiterkörpern  in  Gefässepithelien       139 
2)  Notiz  über  primäre  ästige  Osteome  der  Lunge    .     .       144 

Gümbel:    Weitere  Mittbeilungen    über    das  Vorkommen    von 

Phospborsäure  in  den  Schichtgesteinen  Bayern's     .       147 


Historische  Classe.    Sitzung  vom  1.  Juni  1867. 

*Roth:  Ueber  Keltische  und  Germanische  Wehrverfassung     .       158 

*Kluckhohn:  Erzählung  von  der  Verschwörung  zu  Bayonne 

im  Jahre  1565 158 


Nachtrag  zur  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni. 
Hof  mann:  Bemerkungen  zum  Nachtsegen 159 


Philosophisch-philol.  Classe.  Sitzung  vom  6.  Juli  1867. 

Prantl:  Ueber  die  Literatur  der  Auctoritates  in  der  Philosophie  173 
Hofmann:     1)  Zum    altromanischen  Leiden  Christi  und  zum 

Leodegar 199 

2)  Zur  Gudrun -.     .  205 

„  Berichtigender  Nachtrag   zu    Heft  I.    S.  171    der 

Sitzungsberichte 336 


Seite 

Mathematisch-physikalische  Classe.  Sitzung  vom  6.  Juli  1867. 

Seidel:    Ein   Beitrag   zur  Bestimmung    der   Grenze   der   mit 

der  Wage  gegenwärtig  erreichbaren  Genauigkeit      .       231 

Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge 247 

v.  Ebbeil:  lieber  den  Glaukodot  von  Hakansbö  in  Schweden  27G 

Voit:  Ueber  das  Zustandekommen  der  Ilarnsäuresedimente     .  279 

A.  St  ein  heil:  Ueber  Berechnung  optischer  Construktionen     .  284 


Historische  Classe.   Sitzung  vom  6.  Juli  1867. 

Kockinger:  Ueber  drei  mit  einem  Anhange  zumLaudrechte 
vermehrte  Handschriften  des  sogen.  Schwaben- 
spiegels auf  der  Staatsbibliothek  zu  München  2:>7 

*Iliehl:  Ueber  Sebastian  Bach    und    dessen  Stellung    zu    den 

theologischen  Parteien  seiner  Zeit 330 

*Kluckhohn:   Die  Wittenberger  Theologen    nach    Melanch- 

thou's  Tode 33G 


Oeffenttiche  Sitzung  zur  Vorfeier  des  Allerhöchsten 
Geburts-  und  Namensfestes  Seiner  Majestät  des 
Königs  Ludwig  IL  am  25.  Juli  1867     ....      337 

Neuwahlen 337 


VI 


Seite 

Einsendungen  von  Druckschriften      .     .     .     .     , 340 


PhüosophiscJi-phüol.  Classe.  Sitzung  vom  9.  November  1867. 

Hofmann:  Zur  Gudrun 357 

,,  Zeugnisse  über  Bertliold  von  Regensburg    .     .     .  374 

Nachtrag  dazu 459 

*Plath:  Ueber  Krause's  Unsterblichkeitslehre   ..»"...  394 

*  Müller:  Ueber  mehrere  Nummern  des  türkischen  in  London 

erscheinenden  Journals  'Mukhbir* 394 

Mathematisch-physikal.  Classe.     Sitzung  vom  9.  Nov.  1867. 

Buchner:     Ueber    die   Bildung    von    Schwefelarsenik  in    den 

Leichen  mit  arseniger  Säure  Yergifteteter   .     .     .       395 
Voit:  Ueber  die  Fettbildung  im  Thierkörper 402 

*  Wagner:  Ueber  die  Entdeckung  von  Spuren  des  Menschen 

in    den     neogenen    Tertiärschichten    von   Mittel- 
frankreich     407 

*  S  e  i  d  e  1 :  Ueber  eine  Darstellung  des  Kreisbogens,  des  Loga- 

rithmus und  des   elliptischen  Integrales    erster  Art 
mittelst  unendlicher  Produkte 407 


Historische  Classe.     Sitzung  vom  9.  November  1867. 

Rockinger:  Zur  näheren  Bestimmung  der  Zeit  der  Abfassung 

des  sogenannten  Schwabenspiegels 408 

*  Graf  v.  II  u  n  d  t :  Beiträge  zur  Feststellung  der  historischen  Orts- 
namen von  Bayern,  insbesondere  des  ursprüng- 
lichen Besitzers  des  Hauses  Witteisbach     .     .     .      450 


VII 


Seite 

Einsendungen  von  Druckschriften       451 


Philosophisch-phüol.  Classe.   Sitzung  vom  7.  Dez.  1867. 

Zingerle:  Bemerkungen  zum  Nachtsegen 461 

„  Meraner  Fragmente   der  Eneide  von  Heinrich  von 

Veldeken 471 

Hofmann:     Eine  Anzahl    altfranzösischer  lyrischer  Gedichte 

aus  dem  Berner  Codex  389 486 

Lauth:  Die  Achiver  (Achäer)  in  Aegypten 528 


Mathcmatisch-physikal.  Classe.  Sitzung  vom7. Dezember  1867. 

v.  Martius:   Beiträge   zur  Ethnographie  und  Sprachenkunde 

Amerika's,  zumal  Brasiliens        559 

v.  Kobell:  Ueber  die  typischen  und  empirischen  Formeln  in 

der  Mineralogie 563 

v.  Pettenkofer:  Ueber  den  Stoffverbrauch  eines  Zuckerharn- 
ruhr-Kranken von  ihm  und  Hrn.  Carl  Voit      572 
Buchner:    Ueber    die  Beschaffenheit  des  Blutes   nach    einer 

Vergiftung  mit  Blausäure 591 

Vogel:  Gerdiug's  Geschichte  der  Chemie 601 

Gümbel:  Ueber  die  geognostischen  Verhältnisse  des  Mont- 
Blanc  und  seiner  Nachbarschaft  nach  der  Dar- 
stellung von  Prof.  Alph.  Favre  und  ihre  Bezieh- 
ungen zu  den  benachbarten  Ostalpen 603 


VIII 


Seite 

Historische  Classe.     Sitzung  vom  7.  Dezember  1867. 

*Rockinger:  Zur  äussern  Geschichte  der  Entwicklung  der 
bayerischen  Landesgesetzgebung  von  Kaiser 
Ludwig's  oberbayerischen  Landrechten  bis  in 
den  Beginn  des  16.  Jahrhunderts       ...       637 


Sitzungsberichte 

der 

königl.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften. 


Philosophisch  -  philologische  Classe. 

Sitzung  vom  1.  Juni  1867. 


Herr  Maurer  behandelte: 

„Die  Quellenzeugnisse  über  das  erste  Land- 
recht und  die  Ordnung  der  Bezirksver- 
fassung des  isländischen  Freistaates". 

Diese  Abhandlung  wird  zum  Druck  in  den  Denkschriften 
genehmigt. 


Herr   Hof  mann   bespricht    eine    von    Herrn    Director 
Halm  entdeckte  und  von  Herrn  Keinz  bearbeitete 

„mitteldeutsche   Beschwörungsformel  (Nacht- 
segen) aus   dem  XIII./XIV.  Jahrhundert." 

Bei  den  Vorarbeiten    für   die  seinerzeitige  Drucklegung 
des    Katalogs    der    lateinischen    Handschriften    der    hiesigen 
[18G7.II.1.]  1 


2  Sitzung  der  pliÜos.-pliilol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

k.  Hof-  und  Staatsbibliothek  war  vor  kurzer  Zeit  Herr 
Director  Dr.  Halm  so  glücklich,  ein  merkwürdiges  deutsches 
Stück  zu  entdecken,  welches  nach  den  vorliegenden  Ver- 
zeichnissen bisher  der  Aufmerksamkeit  der  Beschreibenden 
entgangen  *)  und  daher  gänzlich  unbekannt  war.  Eine  ge- 
naue Untersuchung  des  zum  Theil  schwer  lesbaren  Textes 
ergab,  dass  hier  eine  durch  ihren  verhältnissmässig  reichen 
Inhalt  sehr  beachtenswerthe  Beschwörungsformel  aus  dem 
Ende  des  XIII.  oder  Anfang  des  XIV.  Jahrhunderts  vorliege. 
Die  Handschrift  trägt  jetzt  die  Bezeichnung  Cod.  lat. 
liionac.  615  und  zählt  127  Blätter  meist  glatten  und  ziem- 
lich starken  Pergaments  in  klein  Quart.  Der  feste  alte 
Einband,  etwa  aus  dem  XV.  Jahrhundert  herrührend,  be- 
steht  aus  Holzdeckeln,    mit    weichem  grüngefärbtem  Leder 


1)  Ueber  die  (700)  Handschriften  der  alten  churfürstlichen  Bib- 
liothek ist  ein,  was  die  lateinischen  Stücke  betrifft,  ungemein  aus- 
führlicher Katalog  von  dem  kgl.  Bibliothekar  Ign.  Hardt  vorhanden. 
Zu  bedauern  ist  dabei  nur,  dass  Hardt,  wie  es  scheint,  für  die 
kleineren  hie  und  da  vorkommenden  deutschen  Stücke  kein  Interesse 
hatte;  wenigstens  sind  dieselben  in  den  meisten  Fällen  höchst  un- 
genügend behandelt,  nicht  selten  gar  nicht  erwähnt.  Letzteres  ist 
nun  auch  bei  dem  hier  in  Betracht  kommenden  Stücke  der  Fall. 
Schmeller  aber  fand,  als  er  an  die  ungeheure  Arbeit  der  Beschreib- 
ung sämmtlicher  hiesigen  Handschriften  gieng,  diesen  Katalog  vor 
und  glaubte  bei  der  Genauigkeit,  die  demselben  in  obenerwähnter 
"Weise  eignet,  von  einer  erneuten  Durchsicht  der  Handschriften  Um- 
gang nehmen  und  sich  für  den  von  ihm  anzulegenden  Katalog  mit 
einem  blossen  Auszug  aus  dem  genannten  Verzeichniss  begnügen  zu 
können.  Für  diese  auch  sonst  feststehende  Thatsache  liefert  ge- 
rade die  hier  zu  besprechende  Handschrift  einen  Beleg.  Hardt  giebt 
nämlich  die  Anzahl  der  Blätter  verfehlt  an:  101  statt  127  Blätter, 
während  er  den  Inhalt  der  Handschrift  bis  zu  Blatt  126b  beschreibt; 
genau  derselbe  Mangel  kehrt  bei  Schmeller  wieder.  Daraus  erklärt 
sich  von  selbst,  dass  unsere  Formel,  nachdem  Hardt  sie  nicht  er- 
wähnenswerth  gefunden  hatte,  auch  in  dem  Schmellerschen  Ver- 
zeichnisse fehlen  muss. 


Keinz:  Eine  mitteldeutsche  Beschcörungsformel.  3 

überzogen,  das  durch  eingepresste  Linien  verziert  ist.  Von 
den  Beschlägen  sind  nur  mehr  zwei  kleine  messingene 
Schliessen  vorhanden. 

Ueber  die  Herkunft  des  Codex  fehlen  alle  genaueren 
Anhaltspunkte.  Für  das  hier  zu  behandelnde  Stück  indess 
ist  die  Heimat  wenigstens  durch  die  Mundart  festgestellt, 
welche  es  als  dem  mittleren  Deutschland  angehörig  erweist. 
Derselben  Mundart  dürften  auch  die  weiter  zu  erwähnenden 
lat.-deutschen  Vocabularien  angehören  und  da  diese  von 
andern  Händen,  als  die  Beschwörungsformel  sind,  so  kann 
man  wohl  schliessen,  dass  wenigstens  der  grössere  Theil  der 
Handschrift  aus  jenen  Gegenden  stamme.  Weniger  möchte 
sich  daraus  entnehmen  lassen,  dass  eine  Hand  des  15.  Jahr- 
hunderts auf  f.  125  a  den  Namen  henricus  d'  prusia  (nebst 
einigen  nicht  mehr  deutlich  lesbaren  Buchstaben)  einge- 
tragen hat. 

Der  Codex  ist  zusammengebunden  aus  vier  (resp.  5) 
von  einander  unabhängigen,  von  verschiedenen  Händen  her- 
rührenden Handschriften  (f.  1  —  39,  40  —  73,  74  —  102, 
103  —  127).  Davon  enthält  das  1.  Stück  'Aristotelis  secre- 
tum  secretorum  ad  Alexandrum  Johanne  Patrizii  filio  inter- 
prete';  das  2.  Medizinisches,  darunter  (f.  68b — 72a)  ein  lat.- 
deutsches  alphabetisches  Vocabular  von  Kräutern ;  das 
3.  Physikalisches  und  Naturwissenschaftliches.  Das  4.  Stück 
soll  als  das  zunächst  wichtige  in  folgendem  seine  besondere 
Beschreibung  finden. 

Dasselbe  besteht  aus  3  Lagen,  von  denen  die  erste 
6  Bl.  =  3  Doppelbl.,  die  zweite  10  Bl.  =  5  Doppelbl., 
die  dritte  9  Bl.  =  3  Doppelbl.  mit  3  einzelnen  durch  Falze 
innen  in  die  Lage  eingenähten  Blättern  enthält.  Die  erste 
Lage  kann  wieder  als  ein  besonderes  Stück  betrachtet 
werden,  da  sie  eine  für  sich  bestehende  Abhandlung  'Ameti 
(Amati)  filii  Abraham  epistola'  de  variis  arcanis  (ohne 
Schluss),  ferner  anderes  Pergament,  andere  Hand,   nur  zwei 

1* 


4  Sitzung  der  pliilos.-pkilol.  Weisse  vcm  1.  Juni  1867. 

Spalten  zeigt.  Die  Anzahl  der  Linien  ist  zwar  die  gleiche, 
wie  bei  den  zunächst  folgenden  Seiten  (38),  aber  es  fehlen 
die  in  den  beiden  folgenden  Lagen  am  obersten  Rande  ge- 
zogenen Doppellinien,  und  ist  nur  die  erste  und  letzte  Linie 
jeder  Seite  bis  ans  Ende  gezogen,  was  bei  der  Mehrzahl 
der  folgenden  Seiten    auch    mit    der  Dritten  geschehen    ist. 

Die  2.  und  3.  Lage  zeigen  gleiches  Pergament  und 
gleiche  Liniirung,  nur  zählen  die  ersteren  Seiten  38,  die 
späteren  39  Linien.  Die  Blätter  109a — 119b  sind  dreispaltig, 
die  übrigen  vierspaltig.  Die  dreispaltigen  Blätter  enthalten 
das  lat.  Vocabular 'Circa  instans',  die  Blätter  119*— 12 4a  ein 
lat.-deutsches  Yocabular  von  Kräutern,  Bl.  124a— 125a  mor- 
borum  nomina,  Bl.  125a — 126b  nomina  herbarum,  corticum, 
florum,  salium  etc.  (lat).,  die  erste  Seite  des  letzten  Blattes 
(127a)  endlich  unsere  Beschwörungsformel,  die  zweite  Seite 
desselben  ein  lat.  Verzeichniss  von  gewissen  Fasttagen  und 
einige  Zeilen  anderer  Schrift,  die  aber  so  sorgfältig  radirt 
ist,  dass  auch  nach  Anwendung  eines  chemischen  Reagens 
ausser  einzelnen  Buchstaben  nichts  mehr    zu    erkennen  war. 

Auch  auf  diesem  letzten  Blatte  sind  die  5  doppelten 
Verticallinien,  durch  welche  die  4  Spalten  begränzt  werden, 
gezogen,  so  dass  es  also  ursprünglich  für  die  Vocabularien 
bestimmt  war,  und  dann,  als  leer  gebliebenes  Blatt  für  den 
erwähnten  Zweck  benützt  wurde. 

Nach  dem  Vorausgeschickten  erübrigt  für  die  äusser- 
liche  Beschreibung  dieses  Blattes  nur  wenig.  Von  den 
39  Linien  liess  der  Schreiber  die  oberste  in  beiden  Spalten 
ganz  frei;  in  der  zweiten  Spalte  ist  auch  die  zweite  Linie 
frei,  zeigt  aber  Rasur,  welche  indess  mit  ziemlicher  Sicher- 
heit-noch  erkennen  lässt,  dass  der  Schreiber  hier  die  erste 
Zeile  zweimal  schrieb  und  dann  die  obere  radirte.  Die 
Zeilen  8 — 10  zeigen  dunkle  Flecken,  deren  Ursache  sich 
erst  bei  genauer  Betrachtung  mit  Sicherheit  herausstellte. 
Der  gegenüberliegende  leere  Raum  liess   nämlich  eine  sorg- 


Keinz:  Eine  mitteldeutsche  Besclncörungsformel  5 

faltige  Rasur  erkennen,  aus  der  ein  Reagens  die  ursprüng- 
liche Schrift  zum  Vorschein  brachte.  Es  stand  da  die  be- 
kannte Formel  sator  arepo  tenet  opera  rotas,  einmal  in  ge- 
trennten symmetrisch  geordneten  Buchstaben,  dann  in  den 
vollen  Worten;  letztere  hatten  sich,  wie  aus  dem  Platze 
und  selbst  aus  einzelnen  Buchstabenumrissen  hinlänglich  er- 
kennbar, übergedruckt. 

Das  ganze  in  sich  abgeschlossene  Stück  wurde  von 
einer  besondern  Hand  auf  die  leere  Seite  eingetragen.  Die 
plumpe  Schrift,  welche  hie  und  da  die  Lesung  einzelner 
Buchstaben  und  Silben  sehr  erschwerte2),  die  ungleiche 
Orthographie,  die  mehrfachen  Correcturen,  lassen  einen 
wenig  geübten  Schreiber  vermuthen;  die  Schrift  weist  auf 
die  erwähnte  Zeit,  einzelne  Reime  wie  41  :  42  mutir  :  gute, 
51:52  sugen  :  Schüben  deuten  selbst  auf  frühere  Ueber- 
lieferung. 

Die  Verse  sind  abgesetzt  und  die  Anfangsbuchstaben 
nur  in  einzelnen  Fällen  durch  einen  geringen  Unterschied 
der  Grösse,  nicht  durch  besondere  Form  ausgezeichnet.  In 
letzterer  Beziehung  findet  sich  eine  Ausnahme  nur  bei  V.  18, 
der  mit  dem  Eigennamen  Truttan  beginnt  und  in  diesem 
die  gewöhnliche  Form  der  Majuskel  T  zeigt. 

Die  mitteldeutsche  Mundart  erhellt  zur  Genüge  aus  der 
Art  einzelner  Vocale  in  den  Stämmen  und  Endungen,  sowie 
aus  einzelnen  Reimen. 

Eine  genaue  Beschreibung  der  Handschrift  habe  ich  bei 
der  Wichtigkeit  des  mitzutheilenden  'Stückes  sowie  aus 
andern  naheliegenden  Gründen  für  nöthig  gehalten,  damit 
Forscher,  die  nicht  in  der  Lage  sind,  den  Codex  selbst  ein- 


2)  Dahin  gehören  namentlich  die  Buchstaben  ra  und  n,  deren 
Striche  häufig  unten  verbunden  sind,  die  Aehnlichkeit  von  c,  c,  u, 
von  c,   r  und  t,  die  Schreibweise  cz  und  zc  für  das  harte  z  u.  s.  \v. 


6  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

zusehen,  sich  eine  möglichst  genaue  Vorstellung  davon 
bilden  können.  Zu  erklären  bleibt  noch  verschiedenes  an 
dem  Inhalt  unserer  Formel  und  es  wäre  daher  zu  wünschen, 
dass  sich  unsere  bewährten  Sagenkenner  näher  damit  be- 
schäftigen möchten. 

Im  Nachfolgenden  gebe  ich  nun  den  Text  des  Stückes 
nach  getreuer  Abschrift,  auch  mit  Beibehaltung  der  offen- 
baren oder  wahrscheinlichen  Fehler,  deren  Beseitigung  sich 
für  den  ersten  Abdruck  nicht  empfahl,  da  sie  grösstentheils 
entweder  sehr  leicht  ist  oder  gefährlich  sein  könnte.  Von 
den  wenigen  Abkürzungen  habe  ich  als  störend  aufgelöst: 
Z.  1  d's  =  deus  10  b'ge  19  h'  24  leng'  38  m'  41  h'brant 
71  t'nitat  Z.  57  profüdis  (auch  mit  der  gewöhnlichen  Ab- 
kürzung für  pro).  In  der  10.  und  38.  Z.  des  Originals  ist 
die  letzte  Silbe  in  die  obere  Zeile  hinaufgeschrieben.  Von 
Angabe  der  erwähnten  Correkturen,  welche  sich  in  Z.  15, 
73  und  57  finden,  glaubte  ich  Umgang  nehmen  zu  dürfen. 
Den  Abdruck  habe  ich  mehrmals  mit  der  Handschrift  ver- 
glichen und  daher  die  Beigabe  der  üblichen  'so'  für  ent- 
behrlich gehalten. 

Hinter  dem  Texte  lasse  ich  zu  einigen  Stellen  noch 
Bemerkungen  folgen,  welche  sich  auf  ihr  Aussehen  in  der 
Handschrift  beziehen;  ausserdem  eine  Anzahl  Erklärungen, 
diese  jedoch,  um  nicht  blosse  Abschriften  geben  zu  müssen, 
in  den  meisten  Fällen  nur  in  Form  von  Verweisungen  auf 
bekannte  tüchtige  Werke,  welche  über  die  betreffenden  Ge- 
genstände hinlänglich  Aufschluss  ertheilen.  Für  manchen 
Hinweis  in  dieser  Beziehung  bin  ich  Hrn.  Prof.  Hofmann  zu 
Dank  verpflichtet,  welcher  auch  am  Schlüsse  dieses  Heftes 
über  die  in  den  Versen  14-18  vorkommenden  Ausdrücke 
besondere  Erklärungen  bringen  wird. 


Keim:  Eine  mitteldeutsche  Besclurönoifisformel. 


daz  faltir  deus  brunnon, 
dazhoyfte  num'  dyuuion, 
daz  heylige  fancte  fpiritus, 
daz  falus  fanct9  dominus, 
5  daz  mize  mich  noch   hint 
bewarn 
vor  den  bofen  nach  varii 
vn  muze  mich  bicrizen 
vor  den  fvarcen  vnd'  wizen, 
dy  di  guten  fin  genant 
10  vnde  zu  dem  brochelfberge 
fin  gerant. 
vor  den  pilewizze, 
vor  den  mon  ezzen, 
vor  den  wege  fchriten, 
vor  den  zcun  riten, 
15  vor  den  clingeden  golden, 
vor  allen  vneholden, 
gloczan  vnde  lodowan, 
Truttan  vnde  wutan, 
wutanes  her  vn    alle    fine 
man, 
20  dy  di  reder  vü   dy  wit 
tragen 
geradebrech  vü   irhangin, 
ir  fult  won  hinnen  gangen, 
alb  vnde  elbelin 
ir  fult  nich  lenger  bliben 
hin  : 
25  albes  fvestir  vü   vatir 
ir  fult  uz  varen  obir  de 

gatir : 
albes  murir  trute  vü    mar 
ir  fult  uz  zu  de  virfte  vare : 


noc  mich  dy  mare  druche, 

30  noc  mich  dy  trute  zeiche, 
noc  mich  dy  mare  rite, 
noc  mich  dy  mare  beferite. 
alb  mit  diner  crummen 

nafen, 
ich  vorbithe  dir  aneblafen. 

35  ich  vorbite  dir  alb  ruche 
cruchen  vü    anehucchen. 
albes  kind'   ir    withelin 
lazet  vwer  taftin  noch  mir 

sin. 
vÜ    du  clage  mutir 

40  gedenke  min  zu  gute, 
herbrote  vü   herbrant 
vart  uz  in  eyn  andir  laut, 
duvngetruwe  molken ftellen 
du  faltminir  turvorvelen, 

45  daz  biner  vü  daz  vuz  fpor 
daz  blibe  mit  dir  do  vor: 
du  salt  mich  nich  beruren, 
du  salt  mich  nich  zuwuren, 
du  salt  mich  nich  enfeehen, 

50  de  lebenden  fuz  abemehen, 
daz  herce  nicht  uz  fugen, 
eynen  ftrofwizs  dorin  fchu- 

ben; 
ich  vorfpige  dich  hüte  vü 

alle  tage, 
ich  trete  dich  bas  wan 

ich  dich  trage; 

55  nv  hin  balde    du  vnreyniz 
"  getuaz, 


8              Sitzung  der  phüos.-philöl.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

wan  du  weufenf  hy  nicht  bi  dem  voce  meus, 

haf;  bi  dem  de  profundis, 

ich  befuere  dich  vngehure  bi  dem    baben    cohoun- 

bi  dem  wazzeir  vü   bi    de  tus, 

füre,  bi  dem  nüc  dimittis, 

vn    alle  dine  genozen  70  bi  dem  benedictus, 

60  bi  de  namen  grozen  bi  dem  magnificat, 

des  fiffes,  der  da  zelebrant  bi  den  aller  trinitat, 

an  der  messe  wirt  genant.  bi  dem  refalin  alfo  her: 

ich  befuere  dich  vil  sere  daz  du  vares  obir  mer 

bi  dem  miserere,  75  vn   mich  gerures  nim'mer. 

65  bi  dem  laudem  deus,  amen 


Bemerkungen. 

V.  1  Saltir  wohl  =  Psalter.  Das  1  ist  höher  als  gewöhnlich 
(eben  so  das  d  von  daz  und  das  b  in  brunnon)  und 
oben  nach  links  gezogen ,  während  es  sonst  die  gerade 
Linie  hat.  Hinter  jedem  dieser  drei  Buchstaben  ist  oben 
der  r-Hacken  angebracht,  bei  dem  ersten  in  bedeutender 
Grösse,  was  in  allen  drei  Fällen  wohl  nur  die  Bedeutung 
von  Verzierungen  haben  soll.  In  andern  Zeilen  als  der 
ersten  würde  diess  mehr  auffallen. 

1—3  Von  den  ungewöhnlichen  Worten  der  beiden  ersten 
Zeilen  ist  nur  hoyfte  (das  für  hohiste  stehen  könnte)  ganz 
sicher;  in  brunnon  könnten  die  6  Striche  von  unn  viel- 
leicht auch  anders  zu  verbinden  sein;  von  num'  ist  die 
Zahl  der  geraden  Striche  nicht  bestimmt  zu  behaup- 
ten, da  nur  die  ersten  6  leicht  erkennbar  sind,  der  7. 
sich  aber  nur  sehr  schwach  zeigt:  auch  ihre  Verbindung, 
besonders  bei  den  letzten,  ist  nicht  deutlich;  das  letzte 
Wort  der  Z.  2  scheint  dyuuion  zuheissen,  das  i«ist  aber 
nachträglich  eingefügt.  Die  Worte  sind  vielleicht,  wie  die 


Keinz:  Eine  mitteldeutsche  Beschwörungsformel.  9 

in  V.  64 — 71  stehenden  lat.  Worte  Anfänge  von  Psalmen 
oder  damals  bekannten  Gebeten,  möglicher  Weise  auch 
sonst  fremdsprachliche  Benennungen  der  Gottheit.  Nach 
der  dritten  Zeile  zu  schliessen,  dürfte  sich  die  erste  auf 
Gott  den  Vater,  die  zweite  auf  Gott  den  Sohn  beziehen. 
Anhaltspunkte  für  die  Erklärung  konnte  ich  weder  aus 
sonst  bekannten  Formeln,  noch  aus  den  vielen  Exorcis- 
men  entnehmen,  welche  im  'Malleus  maleficarum'  (ich 
benützte  die  Frankfurter  8°  Ausgabe  von  1598)  im  dritten 
'Flagellum  daemonum'  üb  er  schrieben  en  Abschnitt  des 
zweiten  Bandes  enthalten  sind. 

5  mize  wohl  Schreibfehler  für  muze  vgl.  V.  7 ;  hint  ==  heute 
Nacht,  dagegen  V.  53  hüte  =  heute. 

6  nach  varn  wohl  =  nahtvarn.  Ueber  die  Hexenfahrten 
(nahtvarä)  s.  Grimms  Myth.  1011. 

7  bicrizen.  Die  Bedeutung  des  Wortes  ist  hier  jedenfalls 
'schützen,  sicher  stellen1;  die  Etymologie  aber  ist  unklar; 
weder  an  kreiz  noch  an  criuz  erlaubt  der  durch  den 
Reim  gesicherte  Vocal  zu  denken.  —  Für  bi  als  Vor- 
sylbe  hat  der  Schreiber  sonst  immer  be  (V.  5,  32,  47, 
57,  63). 

8  Ueber  die  swarzen  und  wizen  vgl.  Myth.  412  ff. 

10  brochelsberg.  Grimm  sagt  über  ihn  im  Wörterbuch:  'Zu- 
erst taucht  der  name  auf  in  einer  geistlichen  abhandlung 
aus  der  mitte  des  15  jh.,  die  sich  in  Breslauer  Weimarer 
und  Amorbacher  hss.  erhalten  hat  und  in  Hoffmanns 
schles.  monatsschr.  s.  753,  in  Kellers  fastn.  sp.  s.  1463 
und  in  Wolfs  myth.  zeitschr.  1,6  ausgezogen  ist'.  Mit 
obiger  Stelle  hätten  wir  also  ein  etwa  anderthalb  Jahr- 
hunderte älteres  Zeugniss  'für  den  sicher  in  weit  ältere 
Zeiten  reichenden  Volksglauben1  (Myth.  1004). 

Eine  Zusammenstellung  des  wissenswerthesten  über 
den  Blocksberg  bietet  die  Inaugural- Dissertation  von 
Heinrich   Pröhle:    De   Bructeri    nominibus   et    de   fabulis 


10  Sitzung  der  philos.-philol.  Ciasse  vom  1.  Juni  1867. 

quiie  ad  eum  montem  pertinent,  Wernigerodae  MDCCCLV 
wozu  noch  die  Recension  darüber  in  Wolfs  (und  Mann- 
hardts)  Zeitschr.  für  deutsche  Mythologie  III,  319  ff.  ver- 
glichen werden  kann. 

11  pilewiz.  Ueber  den  Bilwiz  vgl.  Gr.  Mythol.  441  ff., 
Schmellers  Wörtb.  I,  168  und  IV,  187  f.,  Schönwerth 
(Aus  der  Oberpfalz.  Sitten  und  Sagen)  I,  426 — 448. 
(Letzterer  behandelt  indess  nur  eine  besondere  Art 
der  Bilwize ,  den  im  südöstlichen  Deutschland  sehr  be- 
kannten Bilinesschneider).  Einen  sehr  beachtenswerthen 
Versuch  über  die  Ableitung  des  Wortes  hat  Jul.  Feifalik 
in  der  Zeitschr.  für  die  österr.  Gymnasien  1858  p.  406  ff. 
niedergelegt,  in  welchem  er  für  die  slavische  Abstammung 
des  Wortes  und  Gedankens  eintritt. 

12  mon  ezzen  (o  hier  für  kurzes,  wie  in  V.  38  für  langes  a) 
==  Mann -essen,  Menschenfresser.  Im  Nordischen  ist  die 
mannaeta  bekannt,  im  eigentlichen  Deutschen  möchte 
ausser  der  bekannten  Notkerischen  Stelle  die  vorliegende 
der  einzige  Beleg  für  das  Compositum  sein.  In  jener 
Stelle,  die  Grimm  Myth.  S.  1034  (sie  steht  auch  in 
Gratis  Sprachschatz  I.  p.  LH.)  anführt,  fügt  Notker,  die 
ambrones  und  anthropophagi  erwähnend,  bei  lalso  man 
chit,  taz  ouh  hazessa  hier  in  lande  tuen'.  Vgl.  übrigens 
auch  die  zu  V.  51.  52  ausgezogenen  und  die  übrigen 
Myth.  1.  c.  angeführten  Stellen. 

13  wege  schriten  =  die  an  den  Kreuzwegen  hausenden? 
Unter  den  Namen  des  Teufels  führt  Grimm  (Myth.  1015) 
auch 'Wegetrit'  auf,  freilich  mit  Beziehung  auf  die  Pflanze 
dieses  Namens. 

14—18  Ueber  die  zun  riten,  die  dingenden  golden,  sowie 
über  die  Namen  Gloczan,  Lodowan,  Truttan  vergleiche 
die  Erklärungen  am  Schlüsse  des  Heftes.  (Das  Wort 
zun  ist  nur  vermuthet;  man  könnte  die  schlechten  Buch- 
staben auch  zoim  oder  zeun  lesen,  ich  nahm  sie  für  zcun). 


Keinz:  Eine  mitteldeutsche  Beschwörungsformel.  11 

18  über  Wutan  und  Wutanes  her  (wüthendes  Heer,  wildes 
Heer  u.  s.  w.)  im  Sinne  unsrer  Zeilen  s.  Myth.  871  ff., 
Schönwerth  II.   143  ff. 

20u.21  Die  Geräderten  und  die  Erhängten  gehören  zum 
wüthenden  Heer,  da,  wie  Grimm  (Myth.  872)  nach  Geiler 
v.  Keisersberg  anführt,  alle  eines  gewaltsamen  Todes  ge- 
storbenen in  dasselbe  kommen. 

23  Ueber  die  Elbe  s.  Myth.  411  ff. 

26  gatir  s.  Schmeller  II,  80  f. 

27u.30  trute.  Ueber  die  Truden  s.  Myth.  993  (u.  394). 
Schmeller  I,  476  ff.  Schönwerth  I,  208— 232.— In  V.  30 
sieht  der  erste  Buchstabe,  weil  etwas  zerflossen,  einem  v 
ähnlich,  doch  wird  diess  kaum  zu  Zweifeln  berechtigen, 
murir  in  Z.  27  Schreibfehler  für  mutir. 

27  u.  30  mar.  Die  älteste  Belegstelle  für  das  Wort  dürfte  wohl 

die  des  Emerammer  Codex  Clm  14804  f.  112ft,  aus  dem 
9.  Jhd.  sein,  wo  scitropodes  (öxv$Q(07tÖTrjs)  mit  mara.  truta 
glossirt  ist  (Graff  II,  819).  Jetzt  ist  das  Wort  nur  mehr 
erhalten  in  'Nachtmahre'.  Die  in  V.  29  erwähnte  Thätig- 
keit  der  Mahre,  heisst  jetzt  gewöhnlich  das  'Drud-drucken' 
hd.  das  Alpdrücken,  das  schon  im  Vocab.  theuton.  v.  1482 
(Graff  1.  c.)  auf  natürlichem  Wege  erklärt  wird. 

30  zeiche  dem  Keime  nach  wohl  Schreibfehler  für  zuche 
(zucke). 

33  'Kruminnäsig'  ist  nach  Myth.  1028  ein  gewöhnliches  Prä- 
dikat der  'Hexen1.  'Krumme  Nase,  spitzes  Kinn,  sitzt 
der  Teufel  ganz  darin.  Myth.  1029  Anm.  1.  Ein  an- 
deres Seitenstück  wäre  etwa  die  Frau  Precht  mit  der 
langen  nas.  Myth.  255.  (Von  dem  vorderen  m  in  crum- 
men  ist  der  erste  Strich  oben  und  unten  gegen  den 
zweiten  gezogen,  so  dass  sie  zusammen  ein  schlechtes  o 
bilden.  Es  wird  indess  an  obiger  Lesart  kaum  zu  zwei- 
feln sein.) 


12  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

34  aneblasen.  Zu  diesem,  wie  zu  V.  38  tastin,  47  beruren 
vgl.  Mytk.  429.  'Ihre  (der  Elbe)  berührung,  ihr  anhauch 
kann  menschen  und  thieren  krankheit  oder  den  tod  ver- 
ursachen'. 

35u.36  ruche  ==  rauher,  behaarter:  Grimm  führt  Myth.  447 
besonders  die  Bilwize  als  die  behaarten,  struppigen  Elbe 
an ;  cruchen  =  mit  einer  Krücke,  einem  Hacken  fangen? 
anehucchen  ==  aufhocken  also  wohl  auch  das  Alpdrücken. 

37  withelin  oder  wichelin  wohl  Schreibfehler  für  wihtelin. 
IV,  18.  Ueber  die  Wichtel  s.  Myth.  408  ff.  428  Anm., 
Schindler  IV,  18. 

38  tastin  s.  34. 

39  clage  mutir.  Ueber  die  Klagemutter,  die  Klagefrauen, 
Holzweiblein  und  ähnliche  Wesen  s.  Myth.  403  u.  1088, 
Schönwerth  I,  266  f.  Aus  dem  Althochd.  gehört  hieher 
die  holzmuoja  ==  lamia,  ulula  deren  Name  sich  als  Moi, 
Moije  nach  Panzer  (Bayer.  Sagen  I,  66.  67)  noch  bis 
jetzt  erhalten  hat.  (Das  d  von  du  ist  nur  aus  dem  obern 
schrägen  Strich  vermuthet;  der  übrige  Theil  des  Buch- 
staben ist  verschwunden). 

41  Die  beiden  Wörter  sind  wohl  nur  als  Namen  aufzufassen. 
Schwierig  dürfte  aber  dann  die  Erklärung  sein,  wie  diese 
Namen  der  Heldensage  (Herbrot  für  Herbort)  in  solche 
Gesellschaft  gerathen  sind. 

43  molken  stelen  =e  Milch  Diebin,  nach  Myth.  1026  über- 
haupt ein  Name  der  Hexen.  In  der  zu  V.  10  erwähnten 
Stelle  des  Grimmschen  Wörterbuchs  sind  unter  den  zum 
Brocken  fahrenden  Unholden  eigens  die  'Mülkenstelerin- 
nen'  aufgeführt.  Dass  die  Milch  ein  Hauptgegenstand  der 
Wirksamkeit  der  Hexen  ist,  kann  als  weit  verbreiteter 
Aberglaube  angegeben  werden,  wovon  z.  B.  bei  Schön- 
werth viele  Fälle  gesammelt  sind.  Selbst  ihre  besondern 
Abzeichen  erhalten  die  Hexen  davon,  z.  B.  'Wer  in  der 
Christnacht    während    der   Metten    auf   einem    Schimmel 


Keinz:  Eine  mitteldeutsche  Beschwörungsformel.  13 

von  neunerley  Holz  knieet,  sieht  alle  Hexen,  die  Milch- 
meltern  auf  dem  Kopf.  (Schönw.  I,  366.) 
45  biner.  So  wie  das  Wort  in  der  Hs.  aussieht,  ist  an  der 
richtigen  Lesung  desselben  nicht  zu  zweifeln.  Eine  Er- 
klärung davon  kann  ich  zur  Zeit  nicht  geben.  Möglicher- 
weise könnte  es  das  Milchgeschirr  der  Hexe  bezeichnen. 
Auch  über  die  genaue  Bedeutung  von  vuz  spor  habe  ich 
keine  mit  Sicherheit  zu  begründende  Vermuthung.  Wenn 
es  sich  auf  einen  Zauber  bezieht,  den  die  Hexe  an  den 
Füssen  des  Viehs  ausübt,  so  wäre  vielleicht  zu  spor 
Schmellers  'spör'  (III,  575  f.)  zu  vergleichen. 

47  beruren  s.  oben  V.  38. 

48  zuwuren  wohl  für  das  sonst  gewöhnliche  zefüeren,  wozu 
auch  der  Reim:  beruren  stimmt  (auch  in  V.  22  setzte 
der  Schreiber  ein  w  statt  v).  Ueber  die  Neigung  der 
Elbe,  dem  Menschen  das  Haar  zu  verwirren,  zu  verfilzen 
(Wichtelzopf  Weichselzopf),  oder  in  Knoten  zu  wickeln 
s.  Myth.  433.     Dasselbe  vom  pilwiz  s.   Myth.  442. 

49  enscehen  halte  ich  für  Schreibfehler  statt  des  gewöhn- 
lichen entsehen,  von  dem  Grimm  (Myth.  430)  sagt  'gleich 
dem  anhauch  hat  der  blosse  blick  der  elbe  bezaubernde 
kraft:  das  nennt  unsere  alte  spräche  intsehan  (torve 
intueri,  gramm.  2,810)  mhd.  entsehen1.  Vgl.  auch  Myth. 
1053  f.  der  böse  Blick.  Den  letztern  Gegenstand  in  der 
Anschauungsweise  der  Alten  behandelt  0.  Jahn  in  den 
Berichten  der  k.  sächs.  Ges.  der  Wiss.  (Phil. -bist.  Cl.) 
Bd.  VU.s.  28—111. 

50  den  lebenden  fuz  abemehen,  ein  Analogon  zu  dieser 
Stelle  ist  mir  nicht  vorgekommen.  Dass  der  Bilmes- 
schneider  mit  der  am  Fusse  unter  dem  Knie  angebun- 
denen Sichel  durch  die  Felder  schreitet,  ist  bekannt, 
dürfte  sich  aber  mit  dieser  Redensart  nicht  in  Verbindung 
bringen  lassen. 

51u.52  Dass  die  Hexen  den  Leuten  das  Herz  aus  dem  Leibe 


14  Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

essen,  bezeichnet  Grimm  Myth.  1034  als  in  unsern  Hexen- 
sagen schon  zurücktretend ,  dagegen  in  der  altertüm- 
lichen serbischen  Volksansicht  als  ganz  voranstehend. 
Als  Beispiele  giebt  er  indess: 

Unsere  Berchta,  die  den  Knechten  den  Leib  auf- 
schneidet und  mit  Heckerling  füllt,  und  die  besonders  zu 
obigen  Worten  stimmenden  Stellen  a)  aus  Burchard  (Anh. 
S.  XXXIX.)  ut  credas  te  .  .  .  homines  interficere  et  de 
coctis  carnibus  eorum  vos  comedere  et  in  loco  cordis 
eorum  stramen  aut  lignum  aut  aliquod  huiusmodi 
ponere  .  .  .  b)  aus  einem  Gedicht  von  Stricker  oder 
einem  seiner  Lands-  und  Zeitgenossen3):  wie  zaeme  daz 
einem  wibe,  daz"  si  snite  üz  einem  übe  ein  herze, 
und  stieze  dar  in  strö  c)  die  Anspielung  auf  diesen 
Aberglauben  von  Seiten  eines  Verliebten  (Herbort  9318  ff.) 
si  hat  min  herze  mit  ir  .  .  .  ich  hän  niht  in  dem 
libe,  da  min  herze  solde  wesen,  da  trage  ich  eine  lihte 
vesen,  oder  ein  strö,  oder  einen  wisch;  und  andere 
mehr. 

53  vorspigen  =  verspeien,  kaum  als  Zeichen  der  Veracht- 
ung zu  nehmen,  sondern  wohl  nach  Myth.  1056  als  Ge- 
genmittel gegen  Zauber  aufzufassen,  wofür  Grimm -Be- 
lege aus  Gebräuchen  verschiedener  Völker  anführt.  Aus 
Osterode  am  Harz  führt  er  in  der  ersten  Auflage  der 
Myth.  Anh.  Aberglauben  Nr.  756  an:  £wird  die  kuh  vor 
dem  haus  einer  hexe  hergetrieben,  spuke  der  treiber  drei- 
mal aus/ 

54  baf  statt  baz  wie  umgekehrt  55  getuaz  statt  getuas.  Der 
Sinn  wird  sein :  ehe  ich  mich  bequeme  dich  zu  tragen, 
oder  mich  von  dir  drücken  zu  lassen,  will  ich  dich  lieber 
treten.     Vielleicht  galt   treten   auch   als  Sicherungsmittel 


3)  Aus  der  Wiener  Hs.  428  (s.  die  Stelle  Myth.  S.  1901  Z.19— 21). 


Keinz:  Eine  mitteldeutsche  Beschwörungsformel.  15 

gegen  die  Gewalt  des  anehucchenden  elbes,  wie  ja  Grimm 
auch  erwähnt,  dass  "man  unbedenklich  die  Hexe  schlagen 
soll,  dass  Blut  fliesst\ 

55  getuas  führt  Grimm  Myth.  433  als  eine  nachtheilige  Be- 
nennung eibischer  Wesen  (und  später  den  Teufels)  auf; 
ebenda  S.  867  vergleicht  er  dazu  litthauisch  dwase  Ge- 
spenst. 

56  weusens  wohl  Schreibfehler  statt  wesens  wie  in  Z.  58 
wazzeir  statt  wazzer. 

Gl  Die  mystische  Bezeichnung  'Fisch/"  wird  hier  wahrschein- 
lich im  Sinne  der  alten  christlichen  Symbolik  auf  Christus 
zu  beziehen  sein ,  wozu  auch  der  Beisatz  ('celebrant') 
stimmt,  da  Christus  der  oberste  Darbringer  des  Mess- 
opfers ist. 

Vgl.  hiezu  Wolfgang  Menzels  'Christliche  Symbolik 
(Regensburg  1854)'  Bd.  I  S.  286  —  292  und  besonders 
S.  288  'Christus  selbst  wird  unter  dem  Sinnbild  des 
Fisches  dargestellt'  u.  s.  f.  und  S.  289  'In  der  Kart- 
hause von  Granada  befindet  sich  ein  Bild  des  Abend- 
mahles, auf  welchem  statt  des  Lammes  ein  Fisch  in  der 
Schüssel  liegt';  ferner  J.  B.  Pitra's  Spicilegium  Soles- 
mense  (Parisiis  MDCCCLV)  Tomus  III  p.  499—584 
lIX&Y2  sive  depisce  allegorico  et  symbolico',  wo  sämmt- 
liche  vorchristliche  und  altchristliche  Anschauungen  und 
Sagen  über  diesen  Gegenstand  quellenmässig  zusammen- 
gestellt und  behandelt  sind. 

64—71  Die  in  diesen  8  Zeilen  folgenden  Wörter  sind  gröss- 
tentheils  Psalmenanfänge,  das  nunc  dimittis  der  Anfang 
des  bekannten  Gebets  Simuons;  laudera  deus  und  voce 
meus  mögen  (vielleicht  fehlerhaft  verstanden)  Anfänge 
von  bekannten  Gebeten  gewesen  sein. 

Unklar  bleibt  nur  V.  68,  an  dessen  baben  cohountus 
alle  Deutungsversuche  erfolglos  blieben.  Das  erstere 
Wort  steht  deutlich   genug   da.    das   zweite  dagegen  viel 


16         Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

weniger;  undeutlich  ist  schon  der  erste  Buchstabe  des- 
selben, ferner  das  h,  welches  allenfalls  auch  li  gelesen 
werden  konnte  (olio  untus  =  unctus  macht  den  ersten 
Buchstaben  überflüssig  und  scheint  auch  nicht  zu  den 
Psalmenanfängen  zu  passen);  am  undeutlichsten  ist  das 
zweite  u,  dessen  zweitem  Striche  eine  Krümmung  beige- 
fügt ist,  als  ob  der  Schreiber  daraus  ein  e  oder  ie  hätte 
machen  wollen.  Doch  betrachte  ich  gerade  die  Endung 
us  hier  als  sicher  und  den  Vers  als  mit  den  folgenden 
verstellt,  da  auf  das  sichere  profundis  das  ebenfalls  un- 
zweifelhafte dimittis  reimt,  wodurch  dann  ein  Reim  auf 
benedictus  nothwendig  wird. 

72  Der  letzte  Buchstabe  von  '"aller1  ist  ganz  undeutlich,  weil 
verklext,  man  kann  n,  u,  r,  o  vermuthen,  für  keines  aber 
ist  besondere  Berechtigung  zu  erweisen. 

73  resalin.  Ich  las  das  Wort  anfangs  irsalm  =  Jerusalem; 
aber  eine  genaue  Betrachtung  und  Vergleichung  erwies 
diese  Lesart  als  falsch.  An  dem  re  der  ersten  Sylbe  ist 
nicht  zu  zweifeln;  hinter  dem  1  stehen  drei  Striche  und 
über  diesen,  vom  ersten  an  etwas  nach  aufwärts  gezogen 
ein  Querstrich,  wie  ihn  der  Schreiber  regelmässig  über 
das  i  macht,  was  dann  in  (oder  iu)  ergibt.  Für  dieses 
"Wort  habe  ich  keine  Deutung:  vielleicht  könnte  auch  so 
die  erste  Vermuthung  nicht  ganz  zu  verwerfen  sein. 

75  in  nim'  mer  hat  das  zweite  m  einen  Strich  zu  viel. 


Aus  einer  andern  Handschrift  der  hiesigen  Bibliothek 
möchte  ich  bei  dieser  Gelegenheit  einen  Wurmsegen  mit- 
theilen, dessen  Unbekanntheit  ich  daraus  schliesse,  dass  er 
in  der  Sammlung  altdeutscher  cDenkmäler  von  Müllenhof 
und  Scherer'  bei  der  Besprechung  des  Grazer  Wurmsogens 


Keinz:  Eine  mitteldeutsche  Beschwörungsformel.  17 

Nr.  48,2    (Text  p.  140  f.    Abhandlung   p.  412  ff.)    nicht  er- 
wähnt ist,  zu  dem  er  ein  Seitenstück  bildet.     Er  lautet 

Job  läge  in  de  mifte.  er  rief  ze  crifte.  er  chot.  du  gnadige/ 
crift.  du  Ör  in  demo  himile  bift.  du  buoze  demo  mennif/ 
ken  def  wrmif.  N.  Durch  die  iobef  bete,  dier  zuo  dir  tete.  / 
doer  in  demo  miste  lag.    doer  in  demo  mifte  rief,     zuo/ 
demo  heiligin  crist.     der  wrm  ift  tot.     tot  ift  der  wrm.  / 
Kiriel  X  K  Pat.  n.  t*b9    uicib;.  or  .  Actionef  nraf.  qs.  dne.  a. 

Der  Segen  ist  enthalten  in  einer  Handschrift  der 
früheren  churfürstlichen  Bibliothek4),  jetzt  Clm.  536, 
XII.  Jhd.  4°  137  Bll.  Er  enthält  unter  andern  Stücken 
einen  lat.  Physiologus  f.  82b— 83b  eine  deutsche  Abhandlung 
von  verschiedenen  Steinen  und  ihren  Kräften,  f.  86a — 87 
eine  eben  solche  von  Kräutern  und  f.  89b  eine  deutsche 
Diebsbesclrwöruug,  diese  von  späterer  Hand  (XIII.  Jhd.). 
Die  3  deutschen  Stücke  sind  in  der  Germania  VIII,  300—303 
abgedruckt.  Obiger  Segen  findet  sich  f.  84a  also  zwischen  dem 
ersten  und  zweiten  Stück.  Zu  der  erwähnten  Diebsbeschwör- 
ung ist  zu  bemerken ,  dass  sich  bei  der  Mittheilung  ein 
Versehen  eingeschlichen  hat.  Die  Worte  nämlich ,  welche 
der  Beschwörende  zu  sprechen  hat,  folgten  unmittelbar  nach 
dem  Text.  Nach  den  darüber  angebrachten  Kreuzen  waren 
es  7  Worte.  Davon  sind  aber  die  ersten  6,  in  der  zunächst 
folgenden  Zeile  stehend,  so  vollständig  radiit,  dass  auch 
chemische  Reagentien  ausser  dem  letzten  Worte  keine  er- 
kennbaren Umrisse  mehr  zum  Vorschein  brachten:  dieses 
scheint   aleruba   gelautet    zu    haben;     darauf  folgt    in    der 


4)  Die  aber  nach  einer  Eintragung  auf  p.  102a  'Liber  saneti 
Viti  Pruole'  ursprünglich  aus  dem  Kloster  Prühl  bei  Regensburg 
stammt. 

[1867.11. 1.]  2 


18  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

nächsten  Zeile  cxpc  -j-  calcat9.  Die  iin  Druck  angegebenen 
(ungenau  gelesenen)  Worte  pedo  perdo  pecho  '  pecho  perdo 
pedo  stehen  am  untersten  Rande  der  Seite,  während  die 
deutsche  Beschwörung  oben  anfängt  und  darauf  noch  eine 
lat.  derartige  Formel  folgt.  Nach  ihrem  ganzen  Aussehen 
kann  ich  diese  abseits  stehenden  6  Worte  nur  für  eine 
Federprobe  halten.  (In  der  gedruckten  Formel  selbst  ist 
hinter  enspin  das  Wort  'stech/  zu  ergänzen.)  —  Dass  die 
nämliche  Handschrift,  ebenso  wie  der  Tegernseer  Clm  18546.2 
auch  die  Visio  Wettini  monachi  in  der  Bearbeitung  von 
Haito  enthält,  mag  als  Ergänzung  zu  dem  bei  Potthast, 
Wegweiser  etc.  p.  565a  gegebenen  Verzeichnisse  der  Hand- 
schriften über  diesen  Gegenstand  erwähnt  werden. 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.      19 


Herr  Plath  trägt  vor: 

„Chronologische  Grundlage   der   alten   chine- 
sischen Geschichte." 

Unter  der  alten  chinesischen  Geschichte  verstehen  wir 
die  von  Yao  und  Schün  und  die  der  drei  ersten  Dynastien;  über 
die  frühere  Geschichte  fehlen  zuverlässliche  Ueberlieferungen 
und  die  späteren  Angaben  über  diese  erfordern  eine  beson- 
dere Untersuchung. 

Wir  haben  in  unsern  bis  jetzt  gedruckten  Abhandlungen, 
wo  einzelne  Zeitangaben  zu  machen  waren ,  diese  immer 
nach  der  gewöhnlichen  Annahme  gegeben,  dabei  aber  auch 
schon  bemerkt,  dass  diese  nicht  durchaus  zuverlässig  sei. 
Es  ist  nöthig,  sich  über  die  Grundlage  der  alten  chinesischen 
Chronologie  klar  zu  werden,  um  so  mehr,  als  Sinologen 
einerseits  allzusehr  auf  die  Zuverlässigkeit  der  chronologi- 
schen Angaben  in  der  alten  chinesischen  Geschichte  pochten, 
anderseits  sonst  achtbare  Geschichtschreiber  sie  allzusehr 
herabsetzten.  Und  doch  hatte  schon  früher  Fr  er  et  schätz- 
bare Untersuchungen  desshalb  angestellt  und  besonders  der 
gelehrte  Jesuit  P.  Gaubil  das  schätzbarste  Material  aus 
den  chinesischen  Quellen  fast  vollständig  geliefert.  Ideler 
in  seiner  in  der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaft  vor- 
getragenen Abhandlung  konnte  ohne  Kenntniss  des  Chinesischen 
nur  einen  Auszug  aus  ihm  geben.    Legge1)  hat  jüngst  den 


1)  N.  Fr  er  et  De  l'antiquite  et  de  la  certitude  de  la  Chronologie 
Chinoise,  inMem.  de  1' Acad.  R.  d.  Inscr.  P.  1  T.  X  p.  377  Paris  1736 
P.II  T.XV  p.  595.  Paris  1753  u.  P.  III  ib.  T.XVIU  Mem.  p.  178  Par. 
1773,  auch  in  Freret's  Oeuvres;  Paris  A°.  4  (1796)  12°  T.  13.  p.  116—331 
und    T.  14   p.  1 — 268.     P.  Gaubil    in   Observations   mathematiques, 

2* 


20  Sitzung  der  philos.-philol.  Gasse  vom  1.  Juni  1867. 

Gegenstand  aber  nur  kurz  behandelt.  Da  die  Chinesen 
nächst  den  Aegyptern  das  älteste  historische  Volk  mit  sind, 
so  ist  es  schon  von  allgemeinem  Interesse  auch  für  die 
Universal -Geschichte  zu  wissen,  wie  hoch  die  traditionelle 
Geschichte  derselben  hinaufreicht. 

Man  muss  aber  zu  dem  Ende  auf  die  chinesischen 
Quellen  selbst  zurückgehen.  Freret  konnte  nächst  den  Ab- 
handlungen von  Gaubil  und  andern  in  der  Handschrift  nur 
die  mangelhaften  Uebersetzungen  der  älteren  Missionäre, 
die,  wie  P.  Noel,  Texte  und  Scholien  nicht  unterschieden, 
benutzen;  Gaubil  benutzte  die  Quellen  selbst,  führt,  wie  Biot 
schon  bemerkt,  die  chinesischen  Autoren  aber  nur  im  allge- 
meinen, z.  B.  Meng-tseu,  Yo-tseuu.  s.  w.  an,  scheintauch  meh- 
rere zu  hoch  anzuschlagen.  Wir  haben  daher  die  von  ihm 
angezogenen  Stellen  zunächst  nach  den  chinesischen  Quellen 
verifizirt,2)  dann  die  einzelnen  Autoren  ihrer  Bedeutung  nach 
genauer  zu  würdigen  gesucht  und  zuletzt,  was  die  astrono- 
mischen Data   betrifft,    die    er  für  die  Chronologie  benutzt, 


astronomiques ,  geographiqu.es ,  ckronologiques  et  physiques  von 
P.  Souciet.  Paris  1729— 1732.  3  B.  in  4;  dann  seine  Histoire  de l'Astronomie 
chinoise  in  Lettres  edifiantes  1783  T  26,  neue  Aufl.  Lyon  1819  T.  14 
und  besonders  sein  Traite  de  la  Chronologie,  publie  par  S.  de  Sacy. 
Paris  1814  4°,  auch  in  d.  Mem.  conc.  la  Chine  T.  XVI.  Ideler  über 
die  Zeitrechnung  der  Chinesen  in  den  Abhandlung,  d.  Berl.  Akad. 
aus  d.  J.  1837  Hist.  Cl.  p.  199—369  4°  und  sehr  vermehrt  Berlin  1839 
in  4.  vgl.  darüber  6  Artikel  von  Biot  im  Journal  des  savants  1839 
und  1840  von  Dezember  bis  Mai,  und  Stern  Götting.  gel.  Anz.  1840 
Nr.  201—204.  The  Chinese  Classics  by.  James  Legge.  Hong-kong  1865 
Vol.  III  P.  1  Proleg.  p.  81—90. 

2)  Dieses  ist  sehr  mühsam,  da  die  Ausgaben  der  chinesischen 
Originale  zwar  gute  Inhaltsanzeigen  der  einzelnen  Bücher,  aber  keine 
Indices  haben,  so  dass  man,  ixm  eine  einzelne  Angabe  aufzufinden, 
ganze  Theile  des  Werkes  wiederholt  durchgehen  muss. 


Plath;  Chronolog.  Grundlage  der  alten  ckines.  Geschichte.       21 

die  Ergebnisse  der  späteren  Forschungen  in  dieser  Hinsicht 
berücksichtigt. 

Wir  müssen  zunächst  einige  Bemerkungen  über  die 
Geschichtschreibung  und  die  Chronologie  der  alten 
Chinesen,  namentlich  über  ihre  Cyclen  und  deren  Alter 
und  Anwendung  vorausschicken  und  werden  dann  1.  die 
allgemeinen  Angaben  über  die  Dauer  der  drei  ersten 
Dynastien  discutiren,  2.  die  verschiedenen  Angaben, 
über  die  Folge  und  die  Dauer  der  Regierungen  der 
einzelnen  Kaiser  der  drei  ersten  Dynastien  kurz  er- 
örtern, und  3.  die  einzelnen  astronomischen  und 
Cyclus-Angaben,  mittelst  welcher  man  eine  feste  Grund- 
lage für  die  alte  chinesische  Chronologie  gewinnen  zu  können, 
gemeint  hat,  besprechen. 

Was  zunächst  die  Geschichtschreibung  der  Chinesen 
betrifft,  so  unterliegt  es  wohl  keinem  Zweifel,  dass  die  Chinesen, 
im  Besitze  einer  alten  Bilder-  und  Zeichenschrift,  wie  die  alten 
Aegypter,  schon  früh  historische  Aufzeichnungen  gemacht 
haben  werden  und  viel  früher  als  die  Völker ,  welche ,  wie 
die  Inder  u.  a. .  erst  später  eine  aus  der  Bilderschrift  her- 
vorgegangene Buchstabenschrift  erhielten.  Unter  der  dritten 
Dynastie  Tscheu,  seit  dem  Anfange  des  11.  Jahrhunderts 
vor  Christo  gab  es  nach  dem  Tscheu -li  u.  a.  besondere 
Aemter  von  verschiedenen  Annalisten  oder  Ilistoriographen, 
die  alles  aufzeichneten,  nicht  nur  am  Kaiserhofe,  sondern 
später  auch  bei  den  einzelnen  Vasallenfürsten.  Für  die 
erste  und  zweite  Dynastie  nahmen  die  chinesischen  Kritiker 
dergleichen  auch  an,  so  Ma-tuan-lin  in  B.  51  schon  seit 
Hoang-ti  und  er  erwähnt  des  Annalisten  (Tai-sse)  Tschung-ku 
unter  der  1.  Dynastie  Hia  und  Hiang-sche  unter  der  2.  Dyna- 
stie Schang.  Legge  Pr.  p.  12  meint  aber,  diese  Namen  hätten 
nur  die  Chronik  des  Bambubuclies  und  Liu-schi's  Tschhün- 
thsieu  aus  der  Zeit  Thsin  Schi-hoang-ti's,  diese  seien  aber  zu 
neu  und  keine  genügende  Autorität.  Das  Bambubuch  berichtet: 


22  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

„unter  dem  letzten  Kaiser  der  1.  Dynastie  Kuei  anno  28 
verliess  der  Tai-sse  Tschung-ku  ihn  und  floh  nach  Schang" 
und  ebenso  heisst  es  später  unter   dem  letzten   Kaiser   der 

2.  Dynastie  Ti-sin  anno  47  :  „der  Nui-sse  Hiang-tschi  ging 
weg  von  ihm  und  floh  zu  Tscheu."  Dasselbe  sagt  Liü  -  schi 
im  I-sse  B.  20  f.  17  v.  und  von  dem  Geschichtschreiber  der 
ersten  Dynastie  im  I-sse  B.  14  f.  17  v.  Wichtiger  scheint 
Legge  die  Stelle  im  Schu-king  V,  10,  13,  wo  Fung  die 
früheren  Beamten  der  2.  Dynastie  Yn  und  darunter  auch  den 
Tai-sse  und  den  Nui-sse  vor  der  Trunkenheit  warnt;  ihre 
Thätigkeit  als  Geschichtschreiber  erhelle  freilich  aus  diesen 
Stellen  nicht  und  Legge  T.  III  p.  410  möchte  den  Titel 
daher  lieber  'recorders'  als  'annalists'  übersetzen.   Unter  der 

3.  Dynastie  kommen  dieselben  Aemternamen  und  noch 
mehrere  andere  wiederholt  vor,  und  wenn  wir  von  ihrer 
damaligen  Thätigkeit  auf  die  frühere  Zeit  schliessen  könnten, 
so  fänden  wir  eine  grosse  geschichtliche  Thätigkeit,  obwohl 
ihr  Amt  nicht  auf  die  Geschichtschreibung  speziell  beschränkt 
war.  Es  gab  unter  der  3.  Dynastie  mehrere  Arten:  den 
Grossannalisten  (Tai-sse),  den  Geschichtsschreiber  der 
Rechten  und  Linken  (Yeu-sse  und  Tso-sse).  „Wenn 
der  Kaißer  sich  bewegt  (etwas  thut)  —  heisst  es  im 
Li-ki  Cap.  Yü-tsao  13  f.  2  (12  p.  69)  —  schreibt  der  Ge- 
schichtschreiber der  Linken  es  auf,  wenn  er  etwas  spricht, 
verzeichnet  es  der  der  Rechten."  Ausser  dem  grossen  An- 
nalisten (Tai-sse)  gab  es  auch  einen  kleinen  (Siao-sse),  der 
nach  dem  Tscheu -li  26  f.  11  fg.  die  Dokumente  unter  sich 
hatte,  welche  sich  auf  die  Geschichte  und  Genealogie  der 
Vasallenfürsten  bezogen.  Der  Annalist  des  Innern  (Nui-sse) 
hatte  nach  26  f.  27  fg.  es  mit  den  8  Attributen  der  kaiser- 
lichen Gewalt,  der  Ernennung  zu  Aemtern,  der  Aussetzung 
der  Gehalte,  Absetzungen  —  Bestätigungen,  Hinrichtungen, 
Begnadigungen ,  Gratifikationen  und  Reduktionen  zu  thun ; 
von  allen  Reglements  bewahrte  er  Kopien  auf,    nahm  Ver- 


Platlr.  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chmcs.  Geschichte.      23 

Stellungen  an,  registrirte  die  Verleihung  von  Fürsten-  und 
Beamtentiteln ,  las  alle  Eingaben  und  schrieb  alle  Erlasse 
des  Kaisers  in  Duplo.  Der  Annalist  des  Aeussern  (Wai-sse) 
hatte  nach  26  f.  3  alle  Schriften  unter  sich,  welche  die 
Geschichte  der  4  Theile  des  Reiches  betrafen,  auch  die 
Ordonnanzen,  die  sie  angiengen.  Ausser  diesen  kommen 
auch  noch  andere  vor.  Wir  wollen  aber  hier  darüber  nicht 
weitläufiger  werden,  da  wir  in  unserer  Abhandlung  über  die 
Verfassung  und  Verwaltung  China's  unter  den  3  ersten  Dy- 
nastien (Abh.  d.  1.  Cl.  d.  k.  Akad.  d.  Wiss.  X.  Bd.  II.  Abth. 
5#  579  —  582)  über  diese  Aemter  bereits  des  Weitere  mit- 
getheilt  haben.  Wir  erwähnten  auch  schon,  dass  seit  dem 
Verfalle  der  Kaisermacht  alle  oder  doch  mehrere  dieser 
Aemter  auch  in  den  einzelnen  Vasallenreichen  vorkommen; 
so  erwähnt  der  Sse-ki  B.  5  f.  6  v. ,  dass  in  Thsin  unter 
Wen-kung  A.  13  (753  v.  Chr.)  man  anfing  Annalisten  zu  haben, 
um  die  Begebenheiten  zu  verzeichnen. 

Dass  die  Erlasse  der  Kaiser  und  Minister  auch  unter 
den  zwei  ersten  Dynastien  bereits  aufgeschrieben  wurden, 
sagt  Legge,  ergiebt  sich  aus  Schu-king  IV,  8,  1,  2,  wo 
Wu-ting  (1321  v.  Chr.)  seinen  Traum  seinen  Ministern  in 
einer  Schrift  mittheilt  (Wang  yung  tso  schu  i  kao)  und  aus 
IV ,  5 ,  1 ,  2  ,  wo  schon  über  400  Jahre  früher ,  Y-yn  dem 
jungen  Kaiser  der  2.  Dynastie  Thai-kia  schriftlich  Vor- 
stellungen macht  (tso  schu  yuei)  und  schon  unter  dein 
Kaiser  Tschung-khang  (seit  2158  v,  Chr.)  der  1.  Dynastie 
Hia  heisst  es  III,  4,  4 :  die  Regierungsstatuten  bestimmen 
(tsching  tien  yuei),  und  im  Gesänge  der  5  Söhne  (III,  2,  8) 
,, erleuchtet  war  unser  Ahn  (Yü) ,  er  hatte  Statuten  und 
Kegeln,  die  er  seinen  Nachkommen  überlieferte  (Yeu  tien, 
yeu  tse,  i  kue  tseu  sün)";  der  Ausdruck  §6  hiün  yeu  tschi 
könnte  freilich  auch  bloss  auf  eine  mündliche  Ueberlieferung 
gehen. 

Dass   man   Kunde   vom    Alter thume   hatte,    ergiebt 


24  Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

schon  die  Einleitung  zu  den  4  ersten  Kapiteln  des  Schu-king: 
„die  den  alten  Kaiser  Yao,  Schün  u.  s.  w.  untersucht  haben, 
sagen'';    ohne  vorhandene  Denkmäler  ging  das  nicht.    Nach 
Schu-king  V,  27,  7   wusste  Kaiser  Mu-wang  von   der    3.  D. 
selbst  von  den  Unordnungen  Tschi-yeu's  (unter  Hoang-ti,  vor 
Yao)    nach   alten  Belehrungen    (jo  ku  yeu  hiün)    und   nach 
Schu-king  V,   15,  4—7  hatte  Tscheu-kung   zu  Anfange   der 
der  3.  Dynastie  Kunde  von  den  früheren  Kaisern  der  2.  Dy- 
nastie und  wusste  z.  B.,  dass  Tschung-tsung  75  Jahre,  Kao- 
tsung  59  Jahre,  Tsu-kia  33  Jahre,  spätere -Kaiser  derselben  nur 
10,  7—8,  5—6,  3— 4  Jahre  regiert  hatten.  Aus  V,   16,  2,  7 
sehen    wir,     dass    derselbe    nicht    nur    die   Folge    mehrerer 
Kaiser  der  2.  Dynastie,  sondern  auch  ihre  Minister  kannte, 
Der  Stifter   der   2.  Dynastie  Tsching-thang  hatte  den  Y-yn, 
Kaiser  Thai-kia  den  Pao-heng ,  Kaiser  Thai-meu  den  Y-tschi, 
Tschin-hu  und  Wu-hien,  Kaiser  Tsu-i  den  Wu-hien  und  Kaiser 
Wu-ting    den  Kan-puan   zu  Ministern.     Sie  werden   da  noch 
weiter  charakterisirt ,   was  wir  hier  aber  übergehen  müssen. 
Da   das  Papier   in  China   damals   noch   nicht  erfunden 
war,  schrieb  man  auf  Bambu-Taf  ein,  wie  die  Schriftzeichen 
schon  andeuten.  Confucius  im  Tschung-yung  20,  2  sagt  aber 
ausdrücklich:  ,,die  Regierung  von  Wen-  und  Wu  (den  Stiftern 
der  3.  Dynastie)  ist  entfaltet  auf  Bambu-Tafeln  (Pu  tsai  fang 
tse) ;  der  letzte  Charakter,  aus  Bambu  und  Dorn  zusammen- 
gesetzt ,    zeigt ,    dass  man  ursprünglich  die  Nachrichten  auf 
Bambu   einritzte;     Fang  sollen  hölzerne  Tafeln  sein,   Tse, 
was   sonst   Kien ,    Bambustreifen ,    die   zusammen   gebunden 
wurden,  bezeichnen.  Meng-tseu  VII    2,  3,  2  spricht  von  2— 3 
Tse    des  Kapitels  Wu-tsching  im    Schu-king    (V,    35).    Der 
Charakter  Seh u:  Schrift,  Buch,  aus  Cl.  129,  der  Pinsel  und 
Cl.  73    Mund,  Wort  gebildet,    weiset  daraufhin,    dass  die 
Nachrichten  auch  aufgeschrieben  oder  aufgezeichnet  wurden. 
Es   wurden   aber   auch    Begebenheiten    in  Erz    eingegraben. 
554v.Chr.sagtTso-chiSiang-kungA.19f.38v.,S.B.  18S.  150fg. 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       25 

verfertigte  man  aus  der  Beute  Geräthe  des  Ahnentempels 
und  grub  in  Erz  die  glänzenden  Verdienste  ein,  sie  zu  ver- 
kündigen den  Söhnen  und  Enkeln."  Siehe  weiteres  in  unserer 
Abhandlung  über  die  Glaubwürdigkeit  der  alt.  chin.  Ge- 
schichte  (Sitz.-Ber.    186G  I,    4  S.  563  fg.  (42.) 

So  sollte  man  denken,  dass  wir  viele  geschichtliche  Nach- 
richten, selbst  aus  den  ältesten  Zeiten  China's  überliefert  erhalten 
hätten ;  aber  bei  den  Kriegen  und  Unruhen  ist  fast  alles  aus 
der  ersten  Zeit  verloren  gegangen  und  zum  Theil  absichtlich 
zerstört  worden.  Meng-tseu  V,  2,  2,  2  klagt  schon  ,,dass  die 
Feudalfürsten  zu  seiner  Zeit  aus  Interesse  viele  alte  Denkmäler 
vernichtet  hätten,  daher  er  das  Detail  der  alten  Einrich- 
tungen nicht  mehr  wissen  könne,  doch  kenne  er  den  Umriss 
derselben  (Tschu  heu  wu  khi  hai  khi  ye ,  eul  kiai  kiii  khi 
tse").  Der  letzte  Charakter  ergiebt,  dass  sie  auf  Bainbu- 
tafeln  verzeichnet  waren  und  nach  VI,  2,  8,  5  waren  diese 
Statuten  im  Ahnensaale  aufbewahrt  (Tsung  miao  tschi  (den). 
Zu  Confucius  Zeit  regierten  in  dem  kleinen  Reiche  Khi  noch 
Nachkommen  des  Stifters  der  1.  Dynastie  Yü  und  im  Reiche 
Sung  Nachkommen  des  Stifters  der  2.  Dynastie  und  es 
hatten  sich  noch  Institutionen  derselben,  aber  nur  fragmen- 
tarisch, dort  erhalten;  diese  genügten  ihm  daher  nicht.  Er 
sagt  im  Lün-iü  3 ,  9  ,,Hia's  Gebräuche ,  ich  kann  davon 
reden ,  aber  Ki  ist  kein  genügendes  Zeugniss  dafür ;  Yü's 
Gebräuche,  ich  kann  davon  reden,  aber  Sung  ist  kein  genü- 
gendes Zeugniss  dafür".  Vergleiche  auch  Tschung-yun^  28, 
5  u  Sse-ki  B.  47  f.  24.  So  haben  wir  denn  aus  der  1.  und 
2.  Dynastie  nur  sehr  spärliche  Nachrichten,  die  Nachrichten 
über  Yao,  Schün  und  Yü  ausgenommen,  fast  nur  die  über 
den  Sturz  der  Dynastien  und  das  Aufkommen  der  neuen. 

Es  ist  überhaupt  zwar  öfter  von  der  geschichtlichen 
Aufzeichnung  von  Gesetzen,  Verträgen  und  Aktenstücken  der 
Archive  die  Rede;  es  mögen  auch  mit  der  Zeit  geschichtliche 
Aufzeichnungen    in   chronologischer   Folge,    Annalen    oder 


26  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Chroniken  verfasst  worden  sein,  wir  wissen  aber  wenig  darüber. 
In  der  Chronik  des  Bambubuches  P.  151  heisst  es:  „Kaiser 
Mu-wang  A.  24  befahl  dem  Geschichtschreiber  der  Linken 
(Tso-sse)  Jung-fu  eiue  Chronik  abzufassen;  so  übersetzt 
man  die  Worte  „tso  ki"  und  meint,  es  sei  eine  Geschichte 
über  das  Emporkommen  und  den  Verfall  der  Staaten  bis 
zum  Anfange  der  3.  Dynastie  Tscheu  gewesen.  Die  älteste 
chinesische  Chronik ,  die  wir  haben ,  ist  Confucius  Tschhün- 
thsieu,  eine  Chronik  seines  Vaterlandes  Lu,  in  Schan-tung. 
Von  seinem  Zeitgenossen  Tso-kieu-ming  hat  man  noch  zwei 
Werke,  den  Tso-tschuen,  den  man  unpassend  einen  Coni- 
mentar  dazu  nennt  —  es  sind  vielmehr  einzelne,  ausführliche 
Geschichten  nach  der  Folge  seiner  Chronik  —  und  dann 
den  Kue-iü.  Nach  Meng-tseu  IV,  2,  21,  1  gab  es  zu  seiner 
Zeit  auch  eine  ähnliche  Chronik,  wie  die  des  Confucius  von 
Lu,  so  vom  Reiche  Tsin,  das  Viergespann  (Tsching)  und  vom 
Reiche  Tschu  eine  von  einem  wilden  Thiere  Tao-uo  genannt. 
Nach  dem  Tso-tschuen  hätte  es  532  v.  Chr.  noch  alte  Ge- 
schichtwerke, selbst  aus  der  Zeit  vor  Yao  gegeben.  Unter 
Lu  Tschao-kung  A.  12  f.  61  v.,  W.  Sitz-Ber.  21  S.  203 
rühmt  Ling-wang,  der  König  von  Tschu,  da  „seinen  Ge- 
schichtschreiber der  Linken  (Tso-sse)  Lsiang;3)  er  könne 
lesen  die  San-fen,  U-tien,  Pa-so  und  Khieu-khieu".  Es  sind 
diess  alte  Bücher,  die  dort  nicht  weiter  bezeichnet  werden. 
Nach  Kung-ngan-kue  bei  Legge  Prol.  T.  III  p.  14  vergl.  Gaubil 
Tr.  p.  97  handelten  die  San-(3)fen  von  den  3  Hoang  (Fu- 
hi,  Schin-nung  und  Hoang-ti);  die  U-(5)tien  waren  Bücher 
über  die  5  Kaiser  (Schao-hao,  Tschuen-hiü,  Ti-ko,  Yao  und 
Schün) ;  die  beiden  letztern  sollen  noch  in  den  beiden  ersten 
Kapiteln  des  Schu-king ,  dem  Yao-  und  Schün-tien  erhalten 
sein.     Die   Pa-(8)so   sollen   von   den   acht  Kua's  gehandelt 


3)  Ihn  erwähnt  auch  der  Kue-iü  6  f.  4,  6  v.  und  9. 


Plath:  Chr  onolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.      27 

haben;  die  Khieu-khieu  endlich,  d.  i.  die  9  Hügel,  sollen 
eine  Beschreibung  der  9  Provinzen  China's  enthalten  haben. 

Nach  dem  Tscheu-li  26  fr.  31  fg  hatten  die  Annalisten 
des  Aeussern  der  Dynastie  Tscheu  unter  sich  die  Geschichte 
der  4  Theile  des  Reiches  und  die  Bücher  der  San-(3)Hoang 
und  U-(5)Ti  (Kaiser).  Diess  sollen  nach  den  Schol.  der 
San-fen  und  U-tien  gewesen  sein.  Im  ersten  Jahrhun- 
derte n.  Chr.  wurde  ein  kleines  Werk  unter  dem  Titel 
San-fen  entdeckt,  man  wagte  aber  nicht,  es  für  das  alte  zu 
halten.  De  Guignes  Pref.  zum  Chou  •  king  p.  XX  spricht 
davon.  Nach  P.  Premare  discours  prel.  zum  Chou-king 
p.  LXXXVII  erwähnt  Lo-pi  es  öfters;  es  erschien  erst  nach 
Pan-ku  und  er  giebt  p.  CXVII  fg.  einige  Auszüge  daraus. 
Der  I--sse  B.  3  f.  3  v.  giebt  die  Stelle  über  Fu-hi ,  B.  4 
f.  3  v.  fg.  über  Schin-nung  und  B.  5  f.  6  v.  fg.  über 
Hoang-ti. 

Das  älteste  chinesische  Geschichtswerk,  welches  sich 
theilweise  erhalten  hat,  der  Schu-king,  ist  nicht,  wie  man 
vielfach  noch  meint,  eine  alte  chinesische  Geschichte,  sondern 
nur  eine  Sammlung  einzelner  alter  geschichtlicher  Dokumente 
von  Kaiser  Yao  bis  Ping-wang,  nach  der  gewöhnlichen  Zeit- 
bestimmung von  2357  —  720  v.  Chr.  Er  giebt  also  keine 
chronologische  Uebersicht,  sondern  nur  bei  einzelnen  Kaisern 
die  Dauer  ihrer  Regierungsjahre  an.  Confucius'  Chronik,  der 
Tschhün-thsieu,  giebt,  wie  gesagt,  die  Chronik  seines  Vater- 
landes Lu  von  721  —  480  nach  den  einzelnen  Fürsten,  Jahr 
für  Jahr,  mit  Angabe  merkwürdiger  gleichzeitiger  Begeben- 
heiten in  den  andern  kleinen  Reichen  des  damaligen  China's. 

Wir  müssen  jetzt  die  chronologische  Bezeichnung 
der  Chinesen  spezieller  ins  Auge  fassen.  Sie  haben,  wie 
einst  die  Griechen,  ein  Mondjahr,  das  sie  durch  einen  von 
Zeit  zu  Zeit  eingeschalteten  Monat  mit  dem  Laufe  der  Sonne 
ausgleichen.  Zu  diesem  Ende  bedienen  sie  sich  eines  Sonnen- 
jahres,   von    welchem   sie   im  bürgerlichen  Leben  aber  fast 


28  Sitzung  der  philos.-pJdlol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

keinen  Gebrauch  machen.  Sie  haben  seit  den  ältesten  Zeiten 
durch  Beobachtung  des  Mittagschattens  mit  dem  Gnomon 
den  Tag  der  Winter  -  Sonnenwende  zu  bestimmen  gesucht, 
auch  lange  ihr  Mondjahr  in  der  entsprechenden  Gegend  der 
Sonnenbahn  angefangen.  Den  bürgerlichen  Tag  fingen  sie 
nach  Gaubil  Lettr.  edif.  p.  330,  337  u.  Tr.  p.  34  unter  der 

1.  Dynastie  Hia  mit  Sonnenaufgang,  unter  der  2.  Dynastie 
Schang  mit  dem  Mittage,  seit  der  3.  Dynastie  Tscheu  mit 
der  Mitternacht,  ihren  Monat  mit  dem  Tage  des  neuen  Mon- 
des an.  Ihr  Monat  hat  bald  29,  bald  30 Tage;  der  Schalt- 
monat wird  unter  der  Nummer  des  vorhergehenden  Monats 
mitinbegriffen.  Die  Einschaltung  war  nach  Chalmers  bei 
Legge  p.  99  unter  der  3.  Dynastie  Tscheu  sehr  unregel- 
mässig; sie  sollte  zwischen  dem  22.  November  und  22.  De- 
zember beginnen;  er  zeigt  aber,  dass  sie  in  den  Jahren  719, 
703,  688,  685,  658,  626  den  16.,  20.,  4.,  1.,  3.,  8.  Januar, 
in  den  Jahren  605,  583,  556,  540,  529,  526  den  18.,  16., 
17.,  19.,  18.,  15.  November  stattfand.  Man  rechnete  nach 
Decaden,  (Siiin),  wie  wir  nach  Wochen  Schu-king  I  §  8,  (II, 

2,  21,  III,  3, 1.  u.  V,  9,  12.)  Nach  dem  Schol.  zum  Tscheu -li  26,  4 
soll  Sui  das  Sonnenjahr  von  365  */*  Tagen,  Nien  das  Mondjahr 
von  354  Tagen  ursprünglich  bezeichnen.  Der  Eul-ya  Sche- 
thien  8  f.  16  v.  sagt :  Unter  Thang  und  Yü  (d.  i.  Yao  und  Schün) 
sagte  man  Tsai;  unter  der  1.  Dynastie  Hia  Sui;  unter  der 
2.  Dynastie  Schang  Sse;  unter  der  3.  Dynastie  Tscheu  Nien. 
Aber  man  kann  nur  sagen,  Tsai  kommt  im  Schu-king  in  der 
Geschichte  Yao's  und  Schün's  (B.  I  und  II),  Sse  im  Schang- 
schu  (B.  III)  vorzugsweise  vor.  S.  den  Index  von  Legge. 
Gewöhnlich  sagt  man:  Die  Dynastie  Hia  begann  das 
Jahr  mit  dem  2.  Frühlingsmonate  (yn),  die  Dynastie 
Schang  mit  dem  letzten  Wintermonate  (tscheu) ,  die  Dyna- 
nastie  Tscheu  mit  dem  2.  Wintermonate  (tseu),  (Legge  III, 
p.  192  und  282).  Dies  bezweifelt  aber  Chalmers  ib.  p.  93. 
Der   Calender    gerieth    in    grosse   Unordnung;     775  v.  Chr. 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       29 

begann  das  Jahr  im  Dezember,  50  Jahr  später  mit  Januar. 
Man  sieht  leicht,  welche  Schwierigkeiten  in  beiden  Fällen 
daraus  für  die  Chronologie  entstehen. 

Die  Zelt  wird  gewöhnlich  nach  den  Regierungsjahren 
der  Kaiser  bestimmt;  das  Todesjahr  derselben  wurde  nach 
Tschai  unter  der  3.  Dynastie  Tscheu  ganz  dem  verstor- 
benen Kaiser  zugerechnet  und  die  Regierung  seines  Nach- 
folgers datirte  erst  vom  folgenden  Neujahr  an;  anders  soll 
es  aber  unter  der  2.  Dynastie  Schang  gehalten  worden  sein 
(Legge  p.  192). 

Eine  sichere  Chronologie  zu  erhalten,  haben  die  Chi- 
nesen später  den  60theiligen  Cyklus  eingeführt,  der 
aus  dem  10-  und  12  theiligen  zusammengesetzt  wird.  Die 
Charaktere  des  ersten  heissen  die  10  Stämme4)  (Kan),  die 
des  2.  die  12  Zweige5)  (Tschi);  verbindet  man  beide,  so 
kehren  sie  zu  derselben  ersten  Gruppe  Kia-tseu  erst  zurück, 
nachdem  der  Dezimal  -  Cyklus  6  mal  und  der  Duodezimal- 
Cyklus  5  mal  abgelaufen  ist;  man  nennt  den  60 theiligen 
Cyklus  nach  dem  ersten  Charakter  auch  Kia-tseu. 

Dieser  60theilige  Cyklus ,  der  jetzt  in  den  chinesischen 
Geschichtswerken  allgemein  angewendet  wird ,  kommt  aber 
zur  Bezeichnung  der  Jahre  in  alter  Zeit  noch  nicht  vor.  Im 
Schu-king  wird  er  nur  zur  Bezeichung  der  Tage  verwendet 
und  zwar  zuerst  im  Kapitel  Y-hiün  IV,  4,  1  unter  Kaiser 
Thai-kia  von  der  2.  Dynastie  (1753—21  v.  Chr.)  der 
Charakter  Y — tscheu;  früherscheint,  wie  Chalmers  bei  Legge 
T.  Ill'Prol.  p.  96  bemerkt,  im  Kapitel  Y-tsi  II,  4,  1,  8  der  Cyklus 
von  10  allein  zur  Bezeichnung  der  Tage  verwendet  worden  zu 
sein.  Da  sagt  Yü :  „Als  ich  auf  dem  Berge  Thu-schan  heurathete. 


4)  Der    10  theilige    Cyklus  ist:    1.  Kia,    2.  Y,    3.  Ping,   4.  Ting, 
5.  Meu,  6.  Ki,  7.  Keng,  8.  Sin,  9.  Jin,  10.  Kuei. 

5)  Der   12  th.   Cyklus  ist:    1.  Tseu,    2.  Tschheu,    3.  Yn,   4.  Mao, 
5.  Tschin,  6.  Sse;  7.  Wu,  8.  Wei,  9.  Schin,  10.  Yeu,  11.  Siü,  12.  Hai. 


30  Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

(blieb  ich  zur  Hause  nur  die  Tage)  Sin,  Jin,  Kuei  und  Kia. 
Diess  sind  4  aufeinander  folgende  Zeichen  des  Cyklus  von  10.  Be- 
merkenswerth  ist,  dass  im  Schu-king  Cap.  Pi-ming  V,  24,  3 
Tscheu-kung  einmal  sagt:  3  Ki  seien  verflossen;  diess  soll 
eine  Periode  von  je  12  Jahren,  also  36  Jahre,  sein  und  es 
eine  Umlaufzeit  des  Planeten  Jupiter  bezeichnen.6)  Von  der 
Benutzung  des  Cyklus  von  60  zur  Bezeichnung  der  Jahre, 
sagt  Gaubil  Tr.  p.  271,  sieht  man  noch  keine  Spur  in  der 
Geschichte  der  Thsin,  in  der  Chronik  von  Liü-pu-wei  (etwa 
240  v.  Chr.) ,  im  Kue-tseu ,  im  Kue-iü,  im  Tso-tschuen ,  im 
Tschhün-thsieu  und  im  Schu-king.  Was  den  Tschhün-thsieu 
von  Confucius  betrifft,  so  sagte  P.  Visdelou  zwar,  dass  Con- 
fucius  in  dieser  seiner  Chronik  bereits  den  60jährigen  Cyklus 
zur  Bezeichnung  der  Jahre  angewandt  habe,  aber  Gaubil 
Tr.  p.  144  bemerkt,  dass  die  Cykluszeichen  daselbst  erst 
vom  Astronomen  Tu-yü  aus   der  Dynastie  Tsin  (266  —  422 


6)  Stern  Gott.  g.  A.  1840,  p.  2011  meint,  dass  ursprünglich  die  Zahl 
der  Tage,  wie  noch  jetzt  in  China  nachDecaden  mit  dem  Cyklus  von 
10  und  die  Jahre  mit  dem  von  12  bezeichnet  worden  seien,  und 
bezieht  sich  ausser  Gaubil  Tr.  p.  V  dabei  auf  Biot  Journ.  de  Savans 
1840  p.  143,  der  2  Stellen  anzieht  aus  dem  Tscheu-li  B.  26,  15  und 
B.  37  f.  40.  Jene  lautet:  „Der  Fung  siang  schi  beschäftigt  sich  mit 
den  12  Jahren,  den  12  Monaten,  den  12  Stunden,  den  10  Tagen  und 
der  Lage  der  28  Sternbilder!'.  Die  2.  Stelle  lautet:  „Der  Thi-tso-schi 
schreibt  auf  Tafeln  die  Namen  der  10  Tage,  der  12  Stunden,  der 
12  Monate,  der  12  Jahre  und  der  28  Sternbilder".  Wir  haben  schon 
bemerkt,  dass  für  die  Tage  in  der  ältesten  Stelle  des  Schu-king  der 
10  tägige  Cyklus  allein  angewandt  wurde,  den  12  theiligen  für  Jahre 
könnte  man  nur  einmal  in  den  3  Ki  sehen,  aber  sonst  wird  im 
Schu-king  nur  der  60  jährige  Cyklus  und  zwar  bloss  zur  Bezeichnung 
der  Tage  angewandt.  Chalmers  p.  96  meint,  der  12  theilige  Cyklus 
sei  erfunden,  to  distinguish  the  12  spaces,  into  which  the  horizon  is 
divided;  von  ihrer  Anwendung  auf  die  12  Monate  dann  auf  die  12  (Dop- 
pel-)Stunden  des  Tages  scheine  nur  ein  Schritt;  aber  diese  kam  nach 
den  Chinesen  erst  unter  der  Dynastie  Han  vor.  Vgl.  Gaubil  Tr.  p  243. 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       31 

n.  Chr.),  der  einen  guten  Commentar  ciazuschrieb,  hinzugesetzt 
worden  seien. 

Die  sog.  Chronik  des  Banibubuch.es  (Tschu-schu-ki-nien), 
welche  284  n.  Chr.  im  Grabe  der  Fürsten  von  Wei  gefun- 
den wurde,  und  wie  man  annimmt,  eine  Kaiser-Chronik  der 
Geschichtschreib  er  von  Wei  ist,  die  von  Hoang-ti  bis  Tscheu 
Yn-wang  A.  20  (293  v.  Chr.)  geht,  hat  neben  der  Zeitangabe 
nach  Jahren  der  Regierung  der  Kaiser  von  Yao  A.  1  an  zu 
Anfang  der  Regierung  eines  jeden  Kaisers  auch  noch  die 
Bezeichnung  mit  dem  Cykluszeichen  und  zwar  zuerst  mit 
dem  Zeichen  Ping-tseu.  Darnach  müsste  die  Anwendung  des 
60  jährigen  Cyklus  älter  als  die  5  Dynastie  Han  sein. 

Aber  die  Zeitangabe  nach  Cykluszeichen  stimmt  da  nicht 
mit  den  Angaben  der  Regierungsjahre  im  Einzelneu  und  im 
Ganzen.  Dass  die  Annalen  des  Bambubuches  untergeschoben 
seien ,  wie  mehrere  Chinesen  meinten ,  glaubt  auch  Legge 
nicht,  nimmt  aber  mit  Gaubil  Tr.  p.  221  eine  Verderbniss 
des  Textes,  namentlich  in  der  Chronologie  an,  und  meint, 
dass  die  Cykluszeichen  von  Yao  an  auch  hier  erst  später  zu- 
gesetzt seien ,  —  Freret  T.  14  p.  95  fg.  hielt  sie  für  acht 
und  alt  —  da  sie  auch  nach  seiner  Annahme  erst  seit  den 
spätem  Han  angewendet  worden ;  mehrere  Cyklusdaten  (z.  B. 
S.  120)  ständen  nur  in  den  Noten  und  diese  seien  daher 
wohl  jedenfalls  erst  in  verschiedenen  Zeiten  hinzugesetzt 
worden;  die  ältesten  Citate  der  Annalen  aus  der  Dynastie 
Tsin  und  noch  spätere  enthielten  die  Cyklusdaten  noch  nicht ; 
das  sei  entscheidend.  Hung  I-hiuen,  aus  der  Zeit  der  jetzigen 
Dynastie,  sage  bestimmt,  „die  Bücher,  welche  die  Bambu- 
annalen  anführten ,  thäten  es  alle  ohne  die  Cykluszeichen ; 
erst  in  der  Geschichte  der  Dynastie  Sui  (Sui-schu)  in  der 
Chronologie  fände  man  das  erste  Jahr  Yao's  mit  dem  Cyklus- 
zeichen King-tseu  und  erst  später  unter  der  Dynastie  Sung 
in  einem  Commentare  zur  Nacligeschichte  des  Lu-sse  (Lu- 
ßse  heu-ki-tschu)  sei  das  erste  Jahr  Yao's  mit  dorn  Cykluszeichen 


32  Sitzung  der  pltüos.-philöl.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Ping-tseu  bezeichnet,  wie  jetzt  im  Bambubuche.  Legge  p.  181 
giebt  den  chinesischen  Text  der  Stelle. 

Die  Angaben,  welche  die  Anwendung  des  60jährigen 
Cyklus  schon  dem  Ta-nao,  einem  Beamten  des  alten  Kaisers 
Hoang-ti,  zuschrieben,  bemerkt  Legge  p.  82  seien  alle  sehr 
neu,  erst  aus  der  Zeit  der  4.  und  5.  Dynastie  Tshin  und 
Han,  also  2000  Jahre  nach  seiner  Zeit.  Er  giebt  die  Stellen 
aus  dem  Schi-pen,  —  die  Stelle  findet  sich  auch  in  I-sse 
B.  5,  f.  6  v.  —  aus  Liii-schi's  Tschhün-thsieu,  Hoang-ti's 
Nui  Tschuen  und  dem  Yuei  Ling  tschang  keu  chinesisch.  — 
Der  Thung-kien-kang-mu  B.  1  f.  3  schreibt  die  Anwendung 
derselben  sogar  schon  Fu-hi  zu  (tso  kia  li),  —  aber  Ku-yen-wu 
aus  der  jetzigen  Dynastie  sagt  ausdrücklich:  Die  Alten  hätten 
den  60  jährigen  Cyklus  nicht  zur  Bezeichnung  der  Jahre 
angewandt.  (Ku  jin  pu  kia-tseu  ming  sui)  und  nach  der  Vor- 
rede zum  Wai-ki,  einem  Supplemente  zu  Sse-ma-kuang's 
Abriss  der  chinesischen  Geschichte,  fing  man  erst  unter  dem 
Usurpator  Wang-mang  (9—22  v.  Chr.)  an,  ihn  anzuwenden. 
Ss^-ma-kuang  setzte  die  Cykluszeichen  aufwärts  nur  bis  zur 
Regentschaft  Kung-ho  (840  v.  Chr.) ;  bis  zu  Yao's  erstem 
Jahre  erst  Schao-khang-tsie.  Auch  Sse-ma-tsien's  Werk  hat 
später  Zusätze  erhalten.  Der  Art  sind  die  cyklischen  Zeichen 
in  seinen  chronologischen  Tafeln  (Sse-ki  B.  12  f.  4  v.), 
aber  auch  da  stehen  sie  nur  vom  Jahre  840  v.  Chr.  ab- 
wärts. Das  1.  Jahr  hat  den  Charakter  Keng-schin.  Sie 
kommen  vor  unter  der  Dynastie  Tsin  (265  — 419  n.  Chr.)  bei 
Siü-kuang  und  vorher  schon  bei  Hoang-fu-mi  (starb  282  n.  Chr.) 
(Chalmers  bei  Legge  Prol.  98);  nach  Gaubil  Tr.  p.  143  gibt  er 
Yao's  1.  Jahre  den  Charakter  Kia-tschin  zuerst.  S.  die  Stelle 
aus  seinem  Ti-wang  Schi-ki  im  I-sse  B.  9  f.  9. 

Wir  haben  uns  über  die  Anwendung  des  60  jährigen 
Cyklus  in  der  chinesischen  Geschichte  weitläufiger  ausgelassen, 
da  noch  Bunsen  (Aegyptens  Weltstellung  B.  5,  5  S.  276) 
meint,  der  60  jährige  Cyklus  sei  uralt  im  chinesischen  Systeme 


Plath:  Ghronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       33 

und  die  älteste  Form  einer  uralten,  sehr  einfachen  Gleichung 
des  Sonnen-  und  Mondjahres,  die  auch  bei  den  Aegyptern, 
Chaldäern  und  Juden  vorkomme. 7) 

Bemerkenswerth  ist  noch,  dass  nach  dein  erwähnten 
Ku-yen-wu  statt  der  jetzigen  Cykluszeicheu  zur  Bezeichnung 
der  Jahre  erst  andere  fremdartig  lautende  und  erst  später 
die  jetzigen  angewandt  wurden.  Chalmers  bei  Legge  Pr. 
p.  97  giebt  die  Liste  derselben  aus  Sse-ma-tsien's8)  Tafeln  für 
die  Interkalation  für  76  Jahre  von  103  v.  Chr.  an.  Er 
meint,  sie  müssten  aus  einer  fremden  Sprache  sein,  wie  auch 
die  Götternamen  da,  ob  indisch  ?  und  legt  darauf  ein  beson- 
deres Gewicht,  dass  im  2.  Jahrhunderte  v.  Chr.  die  Chinesen 
ihre  Verbindung  mit  dem  Westen  eröffneten.  Da  diese 
Zeichen  aber  in  der  chinesischen  Geschichte  nie  angewendet 
worden  sind,  können  wir  sie  hier  füglich  übergehen. 

Wir  kommen  nun  nach  dieser  Einleitung  zur  Abhand- 
lung selbst,  und  zunächst  1)  zu  den  allgemeinen  An- 
gaben über  die  D  auer  der  3  ersten  Dynastien.  Die  all- 
gemeinste und  älteste  ist  wohl  die  bei  Meng-tseu  (VII,  2,  38) : 
,,Von  Yao  und  Schün  bis  Thang ,    sagt  er  da,    waren  über 


7)  Dass  zwischen  der  Astronomie  und  Zeitrechnung  der  Chinesen 
und  der  Chaldäer  ein  noch  viel  innigerer  und  älterer  Zusammenhang 
stattgefunden  habe,  sucht  Stern  Götting.  g.  A.  1840  S.  2026—38  zu  zeigen 
und  zwar  meint  er  S.  2033  schon  vor  1766  v.  Chr.,  da  die  Chinesen 
nur  unter  der  1.  Dynastie  Hia  (2205  v.  Chr.)  den  Tag  mit  Sonnen- 
aufgang begonnen,  wie  die  Chaldäer,  unter  der  2.  Dynastie  Schang 
seit  1766  nicht  mehr,  sondern  mit  Mittag.  Wir  müssen  das  Weitere 
unserer  Abhandlung:  Ueber  die  Astronomie  der  alten  Chinesen 
vorbehalten. 

8)  Sse-ki  Li-schu  B.  26  f.  5  v.  fg.;  sie  kommen  schon  in  dem 
alten  Wörterbuche  Eul-ya  Kap.  Schi-thien8,  f.  16  v.  mit  einigen  Ab- 
weichungen vom  Sse-ki,  wo  der  Scholiast  es  auch  citirt,  vor.  Auch 
der  I-sse  B.  151  f.  14  f.  g.  giebt  die  Stelle  des  Eul-ya. 

[1867.  II.  1.]  3 


34  Sitzung  der  philos.-philöl.  Gasse  vom  1.  Juni  1867. 

500  Jahre.  Yü  und  Kao-yao9)  sahen  sie  (jene)  selbst  und 
kannten  sie  so;  Thang  hörte  von  ihnen  (ihren  Prinzipien) 
und  kannte  sie  so;'. 

„Von  Thang  bis  Wen-wang  waren  (wieder)  über  500  Jahre; 
Y-yn  und  Lao-tschu  sahen  ihn  (Thang)  und  kannten  ihn 
(seine  Prinzipien)  so.  Wen-wang  hörte  von  ihm  und  kannte 
sie  so'" 

,,Von  Wen-wang  bis  Confucius  waren  (wieder)  über 
500  Jahre;  Thai-kung  Wang  und  San-i-seng  sahen  ihn  und 
kannten  sie  so.  Confucius  hörte  von  ihm  und  kannte 
sie  so." 

„Von  Confucius  bis  jetzt  sind  über  100  Jahre.  (Meine) 
Entfernung  von  des  Heiligen  (Confucius)  Zeitalter  ist  nicht 
so  weit;  sein  Aufenthaltsort  war  (dem  meinigen)  nahe; 
ist  denn  nicht  einer  (bin  ich  nicht)  da  im  Stande,  seine 
Lehre    zu  überliefern?" 

Gaubil  Tr.  p.  250  nennt  Meng-tseu:  un  ecrivain  d'une 
tres-grande  autorite  et  qui  parlait  en  consequence  de  ce  qu'il 
lisait  dans  l'histoire.  Was  dann  die  Bedeutung  der  Stelle  für 
die  Feststellung  der  alten  Chronologie  betrifft ,  so  bemerkt 
er  p.  92,  Meng-tseu  werde  zwischen  372  bis  74  v.  Chr. 
geboren  sein,  er  kam  336  v.  Chr.  an  den  Hof  von  Wei  und 
zog  sich  314  vom  Hofe  des  Fürsten  von  Tsi  zurück  (seinen 
Tod  setzt  Legge  Prol.  T.  II  p.  17  in  das  Jahr  288  v.  Chr.) 
Von  seiner  Zeit  bis  Yao  rechnete  Meng-tseu  über  1600  Jahre; 
es  sei  das  allerdings  keine  sehr  sichere  Angabe,  aber  sie 
gewähre  doch  im  Allgemeinen  eine  ziemlich  klare  Anschauung 
der  Zeitverhältnisse. 

Wir  müssen  aber  dagegen  bemerken,  Meng-tseu  ist  kein 
Geschichtsforscher,  sondern  ein  Moralist  und  Politiker.     Es 


9)  Diese  und  die  im  Folgenden  Genannten  waren  Minister  der 
Kaiser;  s.  Legge  P  II  p.  H78;  den  San-i-seng  erwähnt  des  Schu-king 
V,  16,  12. 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       35 

sind  durchaus  nur  ganz  allgemein  gehaltene  runde  Zahlen; 
man  weiss  weder,  von  wo  er  den  Anfang,  noch  wie  er  das 
Ende  einer  Periode  rechnet,  ob  von  der  Geburt,  dem  Tode 
oder  dem  Regierungsantritte  der  Kaiser  an.  Confucius  Geburt 
fällt  nach  dem  Sse-ki  ß.  47  f.  2  unter  Lu  Siang-kung 
a.  22,  sein  Tod  nach  f.  28  v.  unter  Lu  Ngai-kung  a.16,  d.i. 
jene  in  das  Jahr  551,  sein  Tod  479  nach  Legge  Prol.  T.I 
p.  59;  Meng-tseu's  Geburt,  wie  gesagt.  372.  Von  479  (Con- 
fucius Todesjahr)  bis  372  (Meng-tseii  Geburtsjahr)  sind 
107  Jahre.  Wenn  Meng-tseu  also  sagt:  von  Confucius  bis 
jetzt  sind  über  100  Jahre,  so  versteht  er  wohl,  wie  auch 
Freret  Oeuvr.  T.  14  p.  65  annimmt,  von  Confucius  Tode  bis 
zu  Meng-tseu's  Geburt  und  so  wiid  man  dann  ähnlich  auch 
bei  den  andern  Angaben  rechnen  müssen  ,  und  so  rechnet 
auch  Freret  p,  109  die  500  Jahre  von  Wu-wang  (der  Text 
hat  aber  Wen-wang)  bis  zu  Confucius  Geburt.  Aber  Meng- 
tseu  will  die  Dauer  der  beiden  ersten  Dynastien  gar  nicht 
angeben,7)  son>t  hiitte  er  nicht  von  Yao  und  Schün,  sondern 
von  Yü's  und  VYu-wang's  Regierungsantritt  rechnen  müssen. 
Dessen  Vater  Wen-wang  regierte  nur  in  seiner  Herrschaft 
Tscheu  und  Wu-wang  gelangte  auf  den  Kaiserthron  der 
3.  Dynastie  erst  seit  seinem  13.  Regierungsjahre  im 
Reiche  Tscheu.8)  Die  Dynastie  Tseheu  war  zu  Confucius 
und  Meng-tseu's  Zeit  in  Verfall.  In  gewissen  Zeitperioden, 
meinten  sie  nun ,  erstanden  immer  grosse  Kaiser  ,  die  mit 
ihren  weisen  Ministern  die  ächten  Prinzipien,  die  in  Verfall 
gerathen  waren ,    wiederherstellten.     Solche    waren  Yao  und 


7)  Irrig  sagt  Legge  Prol.  T.  III  p.  85  wohl  von  König  Wen  bis 
Confucius  solle  heissen:  vom  Anfange  der  Dynastie  Tscheu;  von 
Yao  und  Schün  bis  Thamr,  meint  er  p.  86,  solle  die  150  Jahre 
jenes  und  die  431  oder  439  Jahre  der  Dynastie  Ilia  in  sich  begreifen. 

8)  So  wird  die  Stelle  im  Schu-king  Kap.  Thai-tschi  V,  1,  1,  1 
zu  verstehen  sein,  s.  Legge. 

3* 


36  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Schün,  Wen-wang  und  Wu-wang,  vgl.  Schi-king  IV,  1,  1. 
Die  Zeitperiode,  sagt  er  nun,  wäre  schon  mehr  als  verflossen; 
sollte  ich  nun  nicht  der  Mann  sein,  der  zur  Wiederherstellung 
der  ächten  Prinzipien  bestimmt  wäre?  Dass  diess  sein  Ge- 
dankengang ist,  zeigt  deutlich  die  Stelle  Meng-tseu  II,  2,  13: 
,.Als  Meng-tseu  Thsi  veiliess,  heisst  es  da,  fragte  ihn  Tschhung- 
yii  auf  dem  Wege:  Meister,  dein  Aussehen  erscheint  unbe- 
friedigt; vordem  hörte  ich  den  Meister  sagen,  der  Weise 
murrt  nicht  gegen  den  Himmel,  grollt  nicht  den  Menschen. 
Meng-tseu  t-rwiederte :  das  war  zu  einer  Zeit,  diess  ist  eine 
andere:  in  500  Jahren  erstand  immer  ein  grosser  König 
(VVang),  und  in  der  Zwischenzeit  gab  es  sicher  berühmte 
Geschlechter  (Ming  schi) ;  seit  dem  Beginne  der  Dynastie 
Tscheu  bis  jetzt  sind  nun  schon  über  700  Jahre;  was  die 
Zahl  (der  Jahre)  betrifft,  ist  sie  schon  vorbei;  was  die 
(jetzigen)  Zeitverhältnisse  betrifft,  wenn  man  die  untersucht, 
so  könnte  man  wohl  (das  Auftreten  solcher  Männer  erwarten), 
aber  der  Himmel  will  (offenbar)  noch  nicht,  dass  das  Reich 
zur  Ruhe  gelange :  wollte  er  das  in  dieser  Zeit,  wer  könnte 
das  bewirken  als  ich;  wie  sollte  ich  darum  nicht  beküm- 
mert sein." 

Hier  rechnet  er  über  700  Jahre  von  seiuer  Zeit  bis 
zum  Anfange  der  Dynastie  Tscheu ,  aber  man  weiss  nicht, 
welchen  Zeitpunkt  in  seinem  Leben  er  meint.  Legge  Prol. 
P.  II  p.  24  meint,  es  gehe  auf  seinen  ersten  Weggang  aus 
Thsi  und  setzt  diesen  323  v.  Chr. ,  aber  nur  nach  der  an- 
gegebenen Dauer  der  Dynastie  Tscheu  von  700  Jahren  ;  seinen 
zweiten  Aufenthalt  in  Thsi  setzt  er  p.  34  in  das  Jahr  311 
v.  Chr.,  weil  das  Reich  Yen  damals  gegen  Thsi  aufstand, 
was  Meng-tseu  I,  2,  10  fg.  und  II,  2,  8  fg.  erwähne.  Meng- 
tseu  verkehrte  damals  nach  dieser  Stelle  mit  Thsi's  König 
Siuen-wang;  nach  dem  Sse-ki  fand  aber  der  Aufstand  erst 
unter  dessen  Nachfolger  Min-wang  323  bis  282  statt.  Diese 


Plath:  Clironolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       37 

Stelle  gewährt  uns  also  auch  keine  sichere  Angabe  auch  nur 
über  den  Anfang  der  3.  Dynastie  Tscheu. 

Eine  3te  Stelle  bei  Meng-tseu  IV,  2,  1,  3  hilft  auch 
nicht  viel.  Er  sagt  da :  „Schün  wurde  geboren  in  Schu-fung, 
zog  fort  nach  Fu-hia  und  starb  in  Ming-thiao,  ein  Mann 
unter  den  Ost-Barbaren;  Wen-wang,  wurde  geboren  am 
Berge  Khi  in  Tscheu  und  starb  in  Pi-yng,  ein  Mann  unter 
den  West-Barbaren.  Die  Entfernung  der  Länder  betrug  über 
1000  Li,  das  Zeitalter  des  letzteren  war  über  1000  Jahr 
später,  aber  ihre  Absicht  beim  Walten  im  Reiche  der  Mitte 
war  wie  wenn  man  2  Siegelhälften  zusammenfügt;  der 
frühern  und  der  spätem  Heiligen  Principien  waren  ein-  und 
dieselben  (i)". 

Wenn  in  der  ersten  Stelle  von  Yao  und  Schün  bis 
Wen-wang  über  1000  Jahre  gerechnet  werden,  so  hier  von 
Schün  allein,  aber  die  1000  Jahre,  die  sie  von  einander  ent- 
fernt gelebt  haben  sollen,  möchten  keine  viel  sichere  Be- 
stimmung sein,  als  die  Angabe  der  Entfernung  ihrer  Geburts- 
oder Sterbeorte  auf  1000  Li  s.  Legge  p.  192  und  die 
verschiedenen  Angaben  über  den  Ort ,  wo  Schün  starb ,  im 
I-sse  B.  10  f.  14  v.  Man  kann  daher  aus  diesen  Stellen 
nur  im  Allgemeinen  entnehmen ,  dass  Meng-tseu  von  Yao 
und  Schün,  vielleicht  von  Schün's  Tode  bis  Thang,  dann  von 
diesem  bis  Wen-wang  und  von  diesem  wieder  bis  Confucius 
über  je  500  Jahre,  also  zusammen  über  1500  Jahre  und 
von  da  bis  zu  seiner  Zeit  noch  über  100  Jahre ,  also  im 
Ganzen  über  1600  Jahre,  an  einer  andern  Stelle  aber  von 
Schün  bis  Wen-wang  1000  Jahre  und  an  einer  3ten  Stelle  von 
der  Gründung  der  Dynastie  Tscheu  bis  zu  seiner  Zeit,  323 
oder  311  v.  Chr.,  über  700  Jahre  rechnete;  welchen  Glauben 
er  aber  verdient,  bleibt  dabei  immer  noch  dahingestellt.  Legge 
T.  II  p.  378  sagt:  Von  Anfang  der  Regierung  Schün's  bis 
zu  der  Thang's  waren  nach  der  recipirten  Annahme  489  Jahre, 


38  Sitzung  der  pMos.-philöl.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

von  da  bis  zur  Gründung  der  Dynastie  Tscheu    644  Jahre. 
Wir  werden  die  andern  Angaben  weiter  unten  prüfen. 

Der  2te  Autor  ist  der  Verfasser  des  Tso-tschuen.  Gaubil 
Tr.  p.  252  sagt:  L'autorite  du  Tso-tschouen  est  d'un 
grand  poids  et  bien  au-dessus  de  celle  du  Tchou-chou.  Er 
lege  nun  der  Dynastie  Schang  eine  Dauer  von  600  Jah- 
ren bei,  vielleicht  rechne  er  aber  den  Anfang  von  Wen- 
wang  an. 

Aber  Tso-schi  ist  auch  kein  kritischer  Geschichts- 
forscher, sondern  das  Werk  unter  seinem  Namen,  wie 
schon  erwähnt,  nur  eine  Sammlung  von  Geschichten  aus 
der  Zeit  des  Tschhün-thsieu  in  chronologischer  Folge.  Die 
obige  chronologische  Angabe  beruht  aber  auf  gar  keiner 
eigenen  Angabe  von  ihm  selbst.  Man  muss  die  Stelle9) 
wieder  im  Zusammenhange  mittheilen,  was  Gaubil  immer 
nicht  thut.  Ein  Gesandter  des  Königs  Tschuang-  wang  von 
Tschu  fragt  da  606  v.  Chr.  nach  den  Urnen  Yü's,  deren 
Besitz,  wie  wir  schon  anderswo  erwähnt  haben,  (Sitz.-Ber. 
1866  1,4  S.  564(42)  für  ein  Palladium  der  Herrschaft  über 
das  Kaiserreich  galt,  und  der  Kaiser- Enkel  Muan  ant- 
wortete ihm:  „Kie  (der  letzte  Kaiser  der  1.  Dynastie)  besass 
keine  Tugend  und  die  Urm-u  gingen  über  an  die  (2.  Dynastie) 
Schang.  Es  vergingen  (dann)  600  Jahre.  Scheu  (der  letzte 
Kaiser  der  2.  Dynastie  Schang)  war  gewaltthätig  und  grau- 
sam und  die  Urnen  gingen  über  an  (die  3.  Dynastie)  Tscheu 
(Ting  tshien  iü  Schang,  tsai  ki  lo  pe.  Scheu  pao  nio,  ting 
tshien  iü  Tscheu). — Einst  gab  Tsching-wang  (der  Nachfolger 
Wu-wang's)  eine  bleibende  Stätte  den  Urnen  in  Kia-jo,  er 
brannte  die  Schildkrötenschale  (po)  und  befragte  sie  hinsichts 


9)  Tso-schi  Siuen-kuug  A.  3  f.  5,  S.  B.  17  S.  23  (auch  bei  Bazin 
im  Journ.  As.  1839  Ser.  III  T.  8  p.  368  und  Legge  Prol.  T.  III  p.  67 
not.)  und  daraus  wohl  in  Sse-ki  Tschu  Schi-kia  B.  40  f.  9  v.,  S. 
B.  44   p.  85. 


Flath:  Clironolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       39 

der  Geschlechtsalter ,  (welche  die  Dynastie  Tscheu  dauern 
würde)  und  erhielt  deren  30;  er  brannte  sie  (und  befragte 
sie)  nach  der  Zahl  der  Jahre  und  erhielt  700  Jahre.  So 
wurde  es  durch  den  Himmel  bestimmt;  ist  nun  auch  die 
Tugend  der  Tscheu  jetzt  geschwunden ,  so  ist  das  Mandat 
des  Himmels  doch  noch  nicht  geändert."  Letzteres,  eine  blosse 
Weissagung ,  die  auch  nicht  eintraf,  wie  wir  sehen  werden, 
hat  gar  keinen  chronologischen  Werth  und  die  Angabe  über 
die  600jährige  Dauer  der  2.  Dynastie  ist  wenigstens  sehr 
problematisch.  Die  Uebertragung  der  Urnen  fand  auch  wohl 
nicht  gerade  im  1.  Jahre  der  neuen  Dynastie  statt ;  erstTsehing- 
wang  (Wu-wang's  Nachfolger)  gab  ihnen  so  eine  bleibende 
Stätte,  nach  dem  Bambubuche  p.  146  erst  in  seinem  18.  Jahre 
in  Lo.  24  Jahre  nach  der  Gründung  der  Dynastie  Tscheu 
nach  der  Note  p.   158. 

Als  eine  andere  Autorität  für  die  mehr  als  600jährige 
Dauer  der  2.  Dynastie  führt  Gaubil  Tr.  p.  253  den  Yo-tseu 
an,  der  vom  ersten  Jahre  Tsching-thang's,  des  Stitters  der 
2.  Dynastie,  bis  zum  eisten  Jahre  des  letzten  Kaisers  dieser  D. 
576  Jalire  rechne,  des  letzteren  Herrschaft  wählte  noch  52. 
nach  andern  32  Jahre,  die  Dauer  der  ganzen  Dynastie  betrug 
darnach  also  an  oder  über  600  Jahre.  Die  ganze  Stelle 
Yo-tseu's  steht  im  I-sse  -B.  14,  f.  16  v.  und  lautet  so:  „Als 
Thang  das  Kaiserreich  regierte,  erhielt  er  den  Khing-fu,  den 
Y-yn  und  Hoang-li ,  am  Ostthore  den  Hiü,  am  Südthore 
den  Yuen ,  am  Westthore  den  Tseu  und  am  Nordthore  den 
Tse  und  besass  so  7  Grossbeamte  (Ta-fu),  ihn  bei  der  Re- 
gierung des  Reiches  zu  unterstützen  und  das  Reich  war 
wohl  regiert  27  Generationen  hindurch,  zusammen  576  Jahre, 
bis  auf  Scheu."  Die  Dauer  von  dessen  Regierung,  bemerkt 
Gaubil,  giebt  er  nicht  an. 

Hier  fragt  sich  nun  vor  allem,  wer  ist  dieser  Yo-tseu  und  welche 
Autorität  hat  seine  Schrift.  Gaubil  p.  95  sagt:  er  gilt  für  einen 
Nachkommen  Kaiser  Tschuen-hiü's,  lebte  zur  Zeit  Wen-  und  Wu-wang's 


40  Sitzung  der  phüos.-philol  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

(1122  v.  Chr.)  und  beide  befragten  ihn  über  die  Regierung  und  hörten  ihn 
gerne  über  das  Alterthum  und  die  Wissenschaften  reden ;  er  galt  für 
sehr  gelehrt.  Man  habe  von  ihm  nur  das  Fragment  eines  Buches  über 
die  Moral  und  die  Regierung.  Er  setzt  aber  in  der  Anmerkung 
hinzu,  die  Tao-sse  rechneten  ihn  zu  den  ihrigen,  obwohl  er  nach 
Obigem  vor  Lao-tseu  gelebt  und  hätten  das  Fragment,  welches  von 
seinem  Buche  erhalten  sei,  herausgegeben.  Diess  könne  verdächtigen, 
was  man  ihn  über  die  Moral  sagen  lasse,  er  sehe  aber  nicht  ein,  wie 
auch  das  wenige,  was  er  Chronologisches  anführe,  da  es  keine  Be- 
ziehung zur  Sekte  der  Tao-sse  habe.  P.  253  sagt  er  aber,  obwohl 
das  Bruchstück  des  Buches  unter  dem  Namen  vielleicht  nicht  von 
dem  Zeitgenossen  Wen-  und  Wu-wang's  sei,  habe  es  doch  einige 
Autorität  für  die  Chronologie,  da  es  aus  der  Zeit  vor  dem  Bücher- 
brande herrühre. 

Ich  vermisse  bei  ihm  aber  jeden  Beweis  für  dieses  Alter  des- 
selben. Lie-tseu  im  I-sse  B.  19  f.  9  führt  ihn  als  Yo-hiung  und  Yo- 
tseu  auf;  nach  den  Schoben  schreibt  man  den  Namen  auf  beide  Arten, 
er  gehöre  zur  Secte  der  Tao,  wie  auch  Lie-tseu,  dessen  Werk  nach 
einigen  chinesischen  Autoren  im  4  Jahre  von  Tscheu  Ngan-wang 
(398  v.  Chr.)  herauskam. 

Dieser  Yo-hiung-tseu  wird  unter  den  Vorfahren  der  Könige  von 
Tschu  aufgeführt,  die  ihr  Geschlecht  vom  alten  Kaiser  Tschuen-hiü 
herleiteten.  Der  Sse-ki  Tschu  Schi-kia  B.  40  f.  2  v.,  S.  B.  44  S.  72  sagt: 
„Zur  Zeit  Tscheu  Wen-wang's  lebte  von  den  Nachkommen  Ki-lien's 
einer,  der  hiess  Yo-hiung  Tseu,  der  diente  Wen-wang  und  starb 
früh,"  und  im  Tscheu  Pen-ki  B.  4  f.  4  nennt  er  den  Yo-tseu  unter 
den  Grossen,  welche  sich  Wen-wang  alsbald  anschlössen,  vgl.  auch 
I-sse  B.  21  f.  11  u.  17.  Die  Schrift,  in  welcher  seine  Gespräche  mit  Wen- 
wang  enthalten  sind,  ist  aber  offenbar  ein  späteres  untergeschobenes 
Werk;  der  I-sse  B.  19  f.  7 — 9  enthält  solche  angeblichen  moralische 
Gespräche  desselben  mit  Wen-wang,  B.  22  f.  32  v.  führt  aus  ihm  einen 
Ausspruch  Tscheu-kung's  an  und  B.  25  f.  1 — 2  v.  werden  aus  dem 
Sin-schu  Gespräche  von  ihm  mit  Tscheu-kung  und  B.  20  f.  3  v.  mit 
Wu-wang  angeführt. 

Es  könnte  nun  freilich  auch  ein  untergeschobenes  späteres  Werk 
immerhin  historische  Notizen  von  Werth  enthalten.  Wir  müssen  also 
diese  specieller  untersuchen.  Gaubil  Tr.  p.  95  sagt:  er  spreche 
von  den  5  Kaisern  (U-ti)  vor  Yao,  die  er  einzeln  nicht  nenne  und  den 
3  Königen  (San-wang)  Yü,  Tsching-thang  und  Wu-wang.  Im  I-sse 
finde  ich  folgende  Auszüge  aus  ihm.  B.  5  f.  1  sagt  er :  „Hoang-ti  kannte 
im    10.   Jahre    Schin-nung's    Schlechtigkeit    und    reformirte    seine 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       41 

Regierung."  B.  7  f.  1  v."  einst,  da  der  Kaiser  Tschuen-hiü  15  Jahre  alt 
war,  unterstützte  er  Hoang-ti,  im  22.  Jahre  regierte  er  das  Reich. 
Seine  Regierung  des  Reiches  war  so:  nach  oben  befolgte  er  Hoang- 
ti's  Prinzipien  (Tao)  und  übte  sie  aus  (hing),  er  studirte  Hoang-ti's 
Prinzipien  und  machte  sie  zum  beständigen  Gesetze  (eul  tschang 
tschi)."  Aehnlich  heisst  es  dann  B.  8  f.  1:  „einst,  da  Ti-ko  15  Jahre 
alt  war,  unterstütze  er  Tschuen-hiü  und  im  30.  Jahr  regierte  er  das 
Reich.  Seine  Regierung  war  so:  nach  oben  befolgte  er  Hoang-ti's 
Principien  und  stellte  sie  in's  Licht;  er  studirte  Kaiser  Tshuen-hiü's 
Prinzipien,  um  sie  auszuüben." 

Man  sieht,  in  diesen  Stellen  ist  wenig  reell  geschichtliches.  Noch 
phantatischer  ist,  was  er  B.  12  f.  5  v.  von  Kaiser  Yü  sagt.  Die  erste 
Stelle  ist  zu  lang,  um  sie  hier  ganz  mitzutheilen.     „Yü's    Regierung 
des  Reiches    —   beginnt  er,    war  so:    auf   die  5  Tonarten  zu  hören, 
hing  er  am  Thore  auf  die  Glocken  die  Trommeln,  die  grosse  Glocke 
(Tho)  und    den   Musikstein   (Khing)   und   regelte   sie  mit  der  Hand- 
trommel (Thao),    um  zu  erlangen   die  Beamten  (Sse)   innerhalb    der 
4  ,Meere  des  Reiches  u.  s.w."  Die  2.  Stelle  giebt  positivere  Angaben. 
„Yü's  Regierung  des  Reiches  war   so :  er  erlangte  den  Kao-yao,  den 
Tu-tseu-nie,  den  Ki-tseu,  den  Schi-tseu  Ngan,   den  Ki-tseu-ning,    den 
Yan-tseu  Schin   uud   den   King-tseu-yü ;    nachdem    er   diese    7  Ta-fu 
erlangt  hatte,    ihn  bei    der  Regierung  zu  unterstützen,    brauchte  er 
sie,  das  Reich  zu  regieren."  Die  Stelle  Yo-tseu's  über  Tsching-thang 
und  die  7  Ta-fu,  die  ihn  bei  der  Regierung  nach  B.  14  f.  16  v.  unter- 
stützten ,   ist  schon   oben    S.  39  angeführt.     Wir  wissen  nicht,  woher 
er  diese  Namen  hat,  da  im  Schu-king  und  bei  Confucius  nnd  seinen 
Schülern   von   jenen  Beamten  Yü's   nur  Kao-yao,  von  denen  Thang's 
nur  Y-yn  vorkamen.     Von  Wu-wang  sagt  er  B.  20   f.  25:    „Wu-wang 
führte  die  Kriegswagen  an  (so),    um  Scheu  anzugreifen;     der  Tiger- 
cohorten   (Hu-liü,    von  je  500  Mann)    waren   eine    Million   (Pe-wan) 
und  er  stellte    sie  auf  in  Schang's  Vorstadt  (Kiao);    er   begann  mit 
dem  gelben  Vogel   bis   zur  rothen  Axt.     Die  Soldaten   der  3  Heere, 
die  zerstreut  waren,   verloren  nicht  ihre  Haltung.     Wu-wang  befahl 
Thai-kung.  sich  zu  bemächtigen  der  weissen  Fahne  und  sie  als  Signal 
zu  verwenden  und   Scheu's   Heer   kehrte  allein   zurück."     B.  21  f.  11 
ist  noch  eine  Stelle  über  Tscheu-kung.  Doch  genug  zur  Charakteristik 
des  Autors.     Wir  haben  die  historischen  Stellen  aus  ihm,  auf  welche 
Gaubil  sich  nur  im  Allgemeinen  bezieht,  genau  mitgetheilt,  da  man 
so   erst  sich  ein  Urtheil   über  ihn   bilden  kann.     Wir  glauben  nicht, 
dass  es  günstig  ausfällt. 


42  Sitzung  der  philos.-pMol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Gaubil  Tr.  p.  96,  104  und  268  erwähnt  noch  aus 
dem  Kue-iü  von  Tso-schi  einige  mehr  genealogische  An- 
gaben über  die  Kaiser  der  3  ersten  Dynastien. 

Ich  finde  folgende  Stellen;  im  Tscheu-iül  f.  30  v.  heisst  es: 
„Einst  brachte  Kung-kia  die  (1.  Dynastie)  Hia  in  Unordnung 
und  in  der  4.  Generation  ging  sie  zu  Grunde.  Hiuen-wang10) 
strebte  für  Sclrang  und  in  der  14.  Generation  von  ihm  er- 
hob es  sich  (unter  Tsching-thang).  Kaiser  Ti-kia  (d.  i.  Tsu- 
kia)  verwirrte  es  und  in  der  7.  Generation  unter  Scheu-sin 
ging  (die  2.  Dynastie)  zu  Grunde.  Heu-tsi  (der  Ahn  der 
3.  Dynastie)  stiebte  für  Tscheu;  in  der  15.  Generation  er- 
hob sich  (die  3.  Dynastie);  Yeu-wang,  der  12.  Kaiser  der 
Tscheu,  brachte  sie  in  Verwirrung.  Dass  bis  zur  14.  Genera- 
tion ein  Schatz  bewahrt  wird  (Scheu-fu),  ist  viel:  so  konnten 
(die  neuen  Dynastien  sich  erheben)."  Die  Stelle,  sieht  man, 
giebt  keinen  chronologi>chen  Anhalt,  sondern  nur  die  Genea- 
logien,  deren  Unhaltjrarkeit ,  was  de  Anfänge  b's  zu  den 
Stiftern  der  Dynastien  betrifft,  de  Guignes  disc.  prel  z.  Chou- 
king  p.  CXXXIII  schon  gezeigt  hat. 

Die  2.  Stelle  unter  Tscheu  Ling-wang  1  f.  27  sagt: 
„Von  Heu-tsi  bis  jetzt  gab  es  bald  rtuhe,  bald  Unruhen 
(Ning  locn).  Bis  Wen-  Wu-  Tsching-  und  Khang-wang  wurde 
mit  Mühe  gekämpft,  das  Volk  zu  beruhigen." 

„Seit  Heu-tsi  begann,  den  Grund  zu  legen,  dem  Volke 
Ruhe  zu  schaffen  (Tsing  min),  und  nachdem  15  Könige 
gewesen  waren,  begann  Wen-wang  es  zu  beruhigen  (Ping- 
tschi),  und  der  18.  König  (von  Heu-tsi)  Khang(-wang)  erlangte 
es  erst,  es  völlig  zu  beschwichtigen  (Khe  ngan  tschi) :  so 
schwer  war  das.  Li  (-wang)  fing  an,  die  Gesetze  zu  ändern 
(Ke  tien).     Seitdem   sind  wieder   (bis  Ling-wang)  14  Könige 


10)  D.i.  Sie,  der  Minister  Yao's  nnd  Schün's  und  der  angebliche 
Ahn  der  Dynastie  Schang,  s.  Schi-king  Schang-sung  IV,  3,  4  p.  216. 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       43 

gewesen.  Nachdem  der  Grund  zur  Tugend  gelegt  war, 
begann  unter  dem  15.  Könige  erst  die  Ruhe  und  als  der 
Grund  zum  Verfalle  gelegt  war,  war  erst  unter  dem  15. 
keine  Hilfe."  Man  sieht,  es  sind  hier  mehr  Spekulationen 
über  den  Anfang  des  Aufkommens  und  Verfalles  der  Dyna- 
stien nach  einer  bestimmten  Anzahl  von  Geschlechtern,  als 
chronologische  Data. 

Auch  der  Sse-ki  von  Sse-ma-tsien  hat  keine  sichern 
chronologischen  Angaben,  sondern  nur  einige  Angaben  nach 
den  Generationen  und  in  runden  Summen.  So  sagt  er  B.  13 
f.  5  San  Tai  Schi  Piao :  von  Yü  bis  Kie  (dem  letzten  Kaiser 
der  1.  Dynastie)  seien  17  Generationen  (Schi),  von  Hoang-ti 
bis  Kie  20  Generationen,  von  Hoang-ti  bis  Thang  sind  nach 
der  Anmerkung  17  Generationen,  von  Thang  nach  f  6  v. 
bis  Scheu  (dem  letzten  Kaiser  der  2.  Dynastie)  39  Genera- 
tionen, von  Hoang-ti  bis  Scheu  46  Generationen  (vgl.  Gaubil 
Tr.  p.  125),  nach  der  Anmerkung  ganz  unwahrscheinlich  von 
Ho  ing-ti  bis  Tscheu  Wu-wang  nur  19  Generationen. 

Nach  Tsiao-tscheu  beim  Scholiasten  zum  Sse-lci  zum 
Yn  Pen-ki  B.  3  f.  11  v.  dauerte  die  2.  Dynastie  Yn  über- 
haupt 31  Generationen  über  600  Jahre.  Ob  Gaubil  Tr. 
p.  129  diese  Stelle  nicht  meint,  wenn  er  sagt:  Sse-ma-tsien 
sage,  die  Dynastie  Schang  habe  600  Jahre  gedauert?  denn  diese 
Angabe  finde  ich  im  Sse-ki  selbst  nicht.  Seine  Angabe,  Sse- 
ma-tsien  sage :  seit  dem  Tode  Tscheu-kung's  bis  zur  Geburt 
des  Confucius  seieu  500  Jahre  verflossen,  steht  im  Sse-ki 
B.  130  f.  8  v. ;  er  setzt  da  hinzu  :  „von  Confucius  Tode  bis  jetzt 
seien  wieder  500  Jahre,  und  man  könne  verketten  die  klaren 
Generationen  (schao  ming  schi) ,  d.  h.  die  Folge  derselben 
angeben." 

Gaubil's  Angabe :  Sse-ma-tsien  sage  von  Heu-tsi  (dem 
Ahnen  der  Dynastie  Tscheu),  bis  Wen-waug  seien  1000  Jahre 
verflossen,  steht  B.  13  f.  8  v.  fg.  Die  ganze  Stelle  lautet: 
„Yao  wusste,    dass  Sie    (der  Ahn  der  2.  Dynastie)  und  Tsi 


44  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

alle  beide  weise  Männer  seien,  die  der  Himmel  schuf.  Daher 
belehnte  er  Sie  mit  70  Li  und  nach  mehr  als  10  Genera- 
tionen ward  sein  Nachkomme  Thang  Kaiser  über  das  ganze 
Reich  (Wang  thien-hia).  Yao  wusste,  dass  die  Nachkommen 
der  Söhne  und  Enkel  Heu-tsi's  Kaiser  werden  würden;  daher 
belehnte  er  auch  ihn  mit  100  Li  und  sein  späteres  Geschlecht 
nach  1000  Jahren  gelangte  an  Wen-wang,  der  das  ganze 
Reich  inne  hatte."  Diese  weniger  chronologischen  Angaben, 
sieht  man,  kommen  nur  gelegentlich  und  zerstreut  vor  und 
es  sind  immer  nur  runde  Zahlen. 

Wie  Sse-ma-tsien,  der  eigentlich  der  erste  genauere  chinesische 
Geschicht-Forscher  und  Schreiber  ist,  den  wir  haben,  nur  chronolo- 
gische Angaben  in  runden  Summen  giebt,  zeigt  besonders  noch  seine 
Geschichte  der  Hiung-nu  (Hiung-nu  li  tschuen  B.  110  f.  2 — 5),  die 
Gaubil  nicht  anführt.  „Als  Hia's  Prinzipien  in  Verfall  geriethen,  gab 
Kung-lieu  (?  1797  v.  Chr.)  sein  Amt  als  Aufseher  über  den  Ackerbau 
(Tsi-kuan)  auf,  begab  sich  unter  die  Westbarbaren  (Si  Jung)  und 
gründete  eine  Stadt  in  Pin.  Von  seinen  Nachkommen,  —  mehr  als 
oOO  Jahre  darnach,  —  griffen  die  West-  und  Nordbarbaren  den  Thai- 
wang  Tan-fu  (1327  v.  Chr.)  an;  dieser  zog  weg  und  kam  an  den 
Fuss  des  (Berges)  Ki.  Die  Leute  von  Pin  aber  folgten  ihm  Alle  zu- 
sammen und  er  gründete  da  eine  Stadt.  Einer  seiner  Nachkommen,  — 
nach  mehr  als  100  Jahren  (1168),  —  Tscheu,  der  Führer  des  Westens, 
(SiPe)  Tschang  (d.  i.  Wen-wang)  schlug  dann  die  Kiuen-I  (Barbaren). 
Nach  mehr  als  10  Jahren  (?  1122)  schlug  Wu-wang  (den  letzten 
Kaiser  der  2.  Dynastie)  Scheu.  Mehr  als  200  Jahre  darnach  (967) 
geriethen  Tscheu's  Prinzipien  in  Verfall  und  Mu-wang  griff  die  Kiuen- 
Jung  (Westbarbaren)  an  —  Mu-wang's  Nachkomme  —  nach  mehr 
als  200  Jahren  (771)  —  Yeu-wang  überwarf  sich  aus  Anlass  der 
Pao-sse  mit  dem  Schin-heu ;  der  griff  mit  den  Kiuen-Jung  ihn  an,  — 
Thsin  Siang-kung  kam  den  Tscheu  zu  Hilfe  Und  schlug  die  Jung 
(770);  65  Jahre  später  (706)  griffen  die  Berg-Jung  Thsi  an;  44  Jahre 
später  (664)  dieselben  Yen.  Thsi  Huan-kung  schlug  sie.  Ueber  20  Jahre 
später  (649)  kamen  die  Jung  und  Ti  bis  zur  Stadt  Lo  (-yang)  und 
schlugen  den  Kaiser  Tscheu  Siang-wang.  —  Nach  mehr  als  100  Jahren, 
da  die  Jung  sich  getheilt  hatten,  waren  sie  geschwächt  und  vermoch- 
ten  nichts.     Von  da   an   und   (wieder  mehr)   als    100  Jahren  später 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       45 

sandte  Tsin  Tao-kung  den  Wei-khiung,  die  Jung  nnd  Thi  zu  ver- 
einigen11) und  sie  kamen  an  den  Hof  (.von  Tsin).  Wieder  nach  mehr 
als  100  Jahren  (475)12)  überschritt  Tschao  Siang-tseu  den  Berg  Keu 
und  bemächtigte  sich  des  (barbarischen  Reiches)  Tai."  Um  zu  zeigen, 
wie  viel  oder  wenig  diese  Angabe  in  runden  Summen  mit  den 
bestimmten  Angaben  nach  der  recipirten  Annahme  übereinstimmt, 
haben  wir  diese  in  Parenthese  hinzugesetzt. 

lieber  die  Dauer  der  1.  uud  2.  Dynastie  nach  dem 
Bauibu  buche  im  Ganzen  hat  nur  die  Schlussnote  bei  der 
1.  und  2.  Dynastie  eine  Angabe.  Von  Yü  bis  Kie  (der 
1.  Dynastie)  warm  nach  p.  124  17  Geschlechter  oder  Genera- 
tionen (Schi)  und  die  Könige  regierten  mit  den  Interregnums 
(Wang  iü  pu  wang)  471  Jahre.  Die  Cykluszeicheri  er- 
geben nach  Legge  p.  181  aber  nur  431  Jahre.  Freret 
ß.  14  f.  101  vereinigt  beide  Zahlen,  indem  er  die  471  Jahre 
von  Yü's  Erhebung  zum  Fürsten  eines  abhängigen  Reiches 
durch  Schün  a.  13  an  rechnet.  Das  ßambubuch  p.  115  sagt 
aber  nur:  in  Schün's  14.  Jahre  befahl  er  Yü,  statt  seiner 
die  Geschäfte  zu  führen  (ming  Yü  tai  Yü  (d.  i.  Schün's)  sse). 

Die  zweite  Dynastie  betreffend,  sagt  die  Note  p.  141 
„Von  der  Vernichtung  der  Dynastie  Hia  bis  Scheu  (dem 
letzten  Schang)  waren  29  Könige  in  496  Jahren,  die  Cy- 
kluszeichen  aber  ergeben  508.  Freret  B.  14  pagina  102  fg. 
und  Biot  Journal  As.  B.  12  pagina  578  bringen  beide 
Zahlen  wieder  in  Uebereinstimmung  durch  die  Annahme, 
die  Note  rechne  nur  bis  zur  Absetzung  Scheu's  a.  41  und 
Wen-wang's  Erhebung  zum  Regenten,  12  Jahre  vor  der 
gänzlichen  Besiegung  Scheu's,  aber  A.  41  ist  im  Bambubuche 
nur  vom  Tode  Tschhang's  (d.  i.  Wen-wang's)  die  Rede.  Der 


11)  Nach    Sse-ki   Tsin   Pen-ki  B.  39  unter  Tsin  Tao-kung  a.  11, 
das  ist  aber  561  v.  Chr. 

12)  Sse-ki  Tschao  Schi-kia  B.  34  f.  13  v.  Pfizmaier's  Geschichte 
von  Tschao  S.  15. 


46 


Sitzung  der  pliilos.-pliilos.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 


Ti-wang  Schi  -  ki  im  I-sse  B.  19  f.  22  v.  sagt  zwar  schon 
Aehnliches:  „Als  Wen-wang  42  Jahre  auf  dem  Throne  (von 
Tscheu)  war,  —  erhielt  er  das  Mandat  und  es  war  das 
1.  Jahr,  wo  er  anfing,  Kaiser  (Wang)  betitelt  zu  werden." 
Aber  der  Schob  setzt  schon  hiezu  :  „Eine  ganz  falsche  Erklärung 
(Kiai  wang  schue)".  Legge  p.  181  bemerkt  noch,  dass  auf- 
fallender Weise  in  der  Geschichte  von  Schu-se  (lie  tschuen 
B.  1  21)  angegeben  werde,  dass  im  Bambubuche^der  Jahre  der 
Dynastie  Hia  mehr  seien,  als  die  der  2.  Dynastie  Schang 
oder  Yn  (Hia  nien  tho  Yn) ,  während  es  jetzt  umgekehrt 
sei.  Ich  finde  noch  im  I-sse  B.  19  f.  12  zu  Ende  der  2.  Dy- 
nastie aus  dem  (Tschu-schu)  Ki-nkn  die  Notitz  ,  die  Legge 
und  Biot  nicht  haben,  von  Paa-keng  bis  zur  Vernichtung 
(des  letzten  Kaisers  der  2.  Dynastie)  Scheu  waren  273  Jahre. 
Von  der  Dauer  der  3.  Dynastie  kann  das  Bambubuch 
die  Summen  nicht  angeben,  da  es  nicht  bis  zum  Ende  der- 
selben hinabgeht.  Aber  zu  Ende  der  Regierung  Yeu-wang's, 
des  12ten  Kaisers,  ist  p.  158  die  Note:  Als  Wu-wang  die  Dy- 
nastie Yn  vernichtete,  war  das  Jahr  Keng-yn ;  24.  Jahre 
(später)  (im  Jahre)  Kia-yn13)  wurden  die  (9)  Urnen  in  der 
Stadt  Lo  fest  aufgestellt.  (Von  da)  bis  Yeu-wang  waren 
257  Jahre,  zusammen  (mit  den  24)  281  Jahre;  vom  Jabre 
Ki-maou),  dem  1.  Jahre  Wu-wang's,  bis  zum  Jahre  Keng-u, 
(dem  letzten)  Yeu-wang's,  waren  292  Jahre.  Freret  B.  14 
p.  106  fg.  bespricht  die  Stelle,  und  bemerkt,  das  Jahr 
Ki-mao  entspreche  Ti-sin's  A.  41 ,  wo  Wen-wang's  Tod  be- 
merkt werde   und    die  Summen  stimmten    mit    dem  Cyklus- 


13)  Kia-yn  ist  aber  das  4te  Jahr,  das  24 te  Kia-siü.  S.  Ideler 
S.  64.  Die  Aufstellung  der  Urnen  in  Lo  setzt  das  Bambubuch  p.  146 
indess  auch  unter  Tschhing-  wang  A.  18  und  da  Wu-wang  6  Jahre 
regierte,  ist  das  24  Jahre  nach  Vernichtung  der  2.  Dynastie  Yn. 

14)  So  p.  158.  Das  Bambubuch  p.  144  hat  aber  Sin-mao  und 
so  Legge  in  der  Uebersetzung. 


Flath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       47 

zeichen  und  der  Dauer  der  einzelnen  Regierungen  nach  dem 
Bambubuche,  werde  also  acht  sein  und  stimme  mit  Meng- 
tseu's  und  Sse-ma-tsien's  Angaben,  die  Wu-wang's  erstes  Jahr 
nur  500  Jahre  vor  Confucius  Geburt  (550  v.Chr.),  also  1050 
v.  Chr.  setzten.  Dies  möge  also  damalige  Annahme  gewesen 
sein ;  dass  sie  aber  darum  richtig,  glaubt  er  selbst  nicht. 

Pan-ku,  der  unter  Han  Ming-ti  (58—70  n.  Chr.)  an 
der  Spitze  des  Tribunals  der  Geschichte  stand,  gibt  mit 
Benutzung  von  Schriften ,  die  der  Astronom  und  Geschicht- 
schreiber Lieu-hin  kurz  vor  Christi  Geburt  hinterlassen  hatte, 
seine  Geschichte  der  früheren  Dynastie  Han  (Tsien  Han 
Schu).  ß.  20  Ku  kin  jin  piao  giebt  die  Namen  der  Kaiser 
von  Thai-hao  oder  Fu-hi  an  mit  ihren  Frauen,  Ministern  u.  s.  w., 
unter  der  3.  Dynastie  auch  die  der  Vasallenfürsten,  berühmten 
Männer,  Weisen,  wie  Confucius  und  seiner  Schüler,  aber  ohne 
alle  weitere  Zeitangabe.  B.21  (Liu  li  tschi  hia)  f.  16  fg.  giebt 
er  nur  die  Gesammtdauer  der  Dynastien,  nicht  die  Liste  der 
einzelnen  Fürsten  und  nur  einzelne  ausnahmsweise  mit  den 
Regierungsjahren.  Vgl.  Gaubil  Tr.  p.  135  —  137  und  237. 
So  regierte  nach  ihm  Yao  70  Jahre ,  Schün  darauf 
50  Jahre;  Yü  gründete  dann  die  erste  Dynastie  Hia,  die 
17  Kaiser  in  432  Jahren  zählte.  Tschhing-thang  besiegte 
den  letzten  Kaiser  derselben  Kie  und  gründete  die  2.  Dy- 
nastie Schang  oder  Yn,  die  unter  31  Kaisern  629 15)  Jahre 
dauerte.  Fälschlich,  sagt  er  f.  16  v. ,  rechne  man  sie  nur 
zu  446  Jahren.  Gaubil  Tr.  p.  137  sagt,  er  glaubte  irrig  die 
Zeit  Tai-kia's  durch  Vergleichung  der  Winter-Solstize  bestim- 
men zu  können.  Tschhing-thang  regierte  nach  ihm  13  Jahre, 
Wu-wang,  der  Sohn  Wen-wang's,  besiegte  den  letzten  Kaiser 
dieser  2.  Dynastie  Scheu  und  gründete  die  3.  Dynastie 
Tscheu.  Wn-wang  regierte  7  Jahre,  dann  war  Tscheu-kung 
(sein   Bruder)    7  Jahre  Regent  und  darauf  folgte   Wu-wang's 


15)  Nicht  529  Jahre,  wie  Legge  Prol.  T.  III  p.  85  sagt. 


48  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Sohn  Tsching-wang  30  Jahre;  die  3.  Dynastie  Tscheu  dauerte 
unter  36  Kaisern    867  Jahre  nach  f.  21  v.     Die  Dauer  der 
3.  Dynastie  Tscheu,  sagt  Gaubil  Tr.  136,  entnahm  er,  wie 
er  sagt,    den  Aunalen    der  Fürsten  von  Lu  —  die  er  voll- 
ständiger giebt,  als  der  Sse-ki  bis  zum  Stifter.  Vom  Anfange 
des    Tschhün-thsieu   oder    Lu    Yn-kung   A.   1    (722  v.  Chr.) 
bis    Wu-wang   A.  1    rechne    er    400  Jahre;    wie    der  Sse-ki, 
setzte  er  den  also   1122  v.  Chr.    B.  21  f.  19  sagt  er:    „Von 
Pe-kin  in  Lu ,  dem  Sohne  Tscheu-kung's,  bis  zum  Tschhün- 
thsieu   sind  386  Jahre.    —    Vom    1.  Jahre  (Yn-kung's)  auf- 
wärts bis  zum  Angriffe  auf  Scheu  sind  400  Jahre."     Thsin 
Tschao-wang  A.  51    begann  nach  f.  21   v.    die  Vernichtung 
Tscheu's.    5  Jahre  war  kein  Kaiser.    (Thsin)  Hiao-wen-wang 
regierte     1    Jahr;     nach     dem     Ende     der    Tscheu     Thsin 
Tschuang  siang-wang  3  Jahre,    Schi  hoang-ti  dann  37,  sein 
Sohn  Eul-schi  noch  3  Jahre,  im  Ganzen  die  D.  Thsin  5  Ge- 
schlechter 49  Jahre ;  mit  ihm  ging  die  4.  Dynastie  zu  Grunde, 
auf  welche  die  5.  Dynastie  Han  folgte. 

In  der  Geschichte  der  Ost-Han  wurde  Pan-ku  vorge- 
worfen, die  Dauer  der  3  Dynastien  zu  lang  angesetzt  zu 
haben,  man  sagt  aber  nicht,  in  wie  ferne  und  aus  welchem 
Grunde  das  behauptet  wurde;  es  scheint,  dass  man  seine 
Annahme  der  Dauer  der  2.  Dynastie  zu  lang  fand.  Dem 
Pan-ku  folgten  unter  den  Ost-Han  Tschao-ki  in  seinem  Com- 
mentar  zum  Meng-tseu,  im  Ganzen  nach  Gaubil  auch  Hoang- 
fu-mi  (f  282  n.  Chr.),  nach  p.  145  Tsiao-tscheu  zu  Ende 
der  3  Reiche;  nach  p.  155  Sse-ma-kuang  (f  1086),  nach 
p.  161  Su-tseu  aus  der  Dynastie  der  spätem  Sung  u.  s.  w. 
Hoang-fu-mi,  der  kurz  vor  der  Entdeckung  desBambu- 
buches  starb,  schrieb  nach  Gaubil  Tr.  p.  142  einen  Abriss 
des  Lebens  mehrerer  berühmten  Chinesen  von  Yao  bis  auf 
seine  Zeit  (Kao  Sse  tschuen)  und  eine  Chronik  der  Kaiser 
und  Könige  (Ti-wang  Schi-ki);  ein  Anhänger  der  Tao-sse 
habe   er   deren   Fabeln   über   die  Geburt   der  Kaiser,   aber 


Plath':  Clironölog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       49 

nicht  ihre  phantastische  Chronologie;  er  gebe  die  meisten 
Regierungsjahre  vom  Ende  der  3.  Dynastie  Tscheu  aufwärts 
bis  Schin -nung,  man  wisse  nicht  aus  welcher  Quelle  und  eben- 
sowenig, auf  welchen  Grund  hin,  er  das  erste  Jahr  Yao's 
zuerst  mit  dem  Cykluszeichen  Kia-tschin  bezeichne;  —  die 
Stelle  hat  der  I-sse  B.  9  f.  1  —  die  Cykluszeichen  der 
Regierungen,  die  man  von  ihm  anführe,  stimmten  nicht  mit 
den  Totalsummen  dieser  Regierungen ;  dies  letztere  Werk 
desselben  existire  jetzt  nicht  mehr,  sondern  nur  Fragmente 
davon  bei  andern  Geschichtschreibern ;  sein  anderes  Werk 
existire  noch,  enthalte  aber  nichts  chronologisches.  Die 
Dauer  der  3.  Dynastien  ist  nach  Gaubil  bei  ihm ,  wie  bei 
Pan-ku,  nur  einige  Jahre  länger.  Ich  finde  von  ihm  nur 
die  Dauer  der  Dynastie  Tscheu  beim  Scholiasten  zum  Sse-ki 
B.  4  f.  33  v.  angegeben :  37  Könige  in  867  Jahren,  wie  bei 
Pan-ku.  Vor  Yao  nimmt  er  viele  Regierungen  an,  darunter 
Fu-hi  mit  110  Jahren  (im  I-sse  B.  3  f.  4),  Schin-nung  mit 
120  Jahren  (B.  4  f.  5  v.),  Hoang-li  und  Schao-hao  jeden 
mit  100  Jahren  (B.  5  f.  30  v.  und  6  f.  20)  u.  s.  w.  Doch 
brauchen  wir  in  die  Einzelheiten  dieser  Vorzeit  hier  nicht 
einzugehen.  Legge  Prol.  T.  III  p.  77  hat  seine  Angabe  über 
die  angebliche  Bevölkerung  China'«  unter  Yü  schon  der 
Kritik  unterworfen,  und  wir  haben  anderweitig  in  unserer 
Abhandlung  über  die  Glaubwürdigkeit  der  ältesten  chinesi- 
schen Geschichte  Sitz.-Ber.  1866  I  4  S.  571  fg.  davon  schon 
gesprochen.  —  Auszüge  aus  dem  Kao  sse  tschuen  hat  der 
I-sse  B.  119  f.  22  v.  u.  s.  w. 

Spätere  Angaben  über  die  Dauer  der  3  ersten  Dy- 
nastien beruhen  wohl,  wie  schon  zum  Theil  die  Pan-ku's,  nur 
auf  astronomischen  Annahmen ,  auf  welche  wir  unten  noch 
zu  sprechen  kommen.  Zur  Zeit  von  Tsin  Moai-ti,  sagt  Gaubil 
p.  145,  hatte  man  eine  Steintafel,  auf  der  die  Jahre  von  Yao 
bis  Hoai-ti  (309  n.  Chr.)  zu  2721  Jahren  angegeben  waren. 
Der  Astronom  Yü-hi,  der  Zeitgenosse  Tu-yü's,  unter  der  D. 
[1867.11.  l.]  4 


50  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Tsin  (266  —  420),  rechnete  von  Yao  bis  zu  seiner  Zeit  2700  Jahre ; 
der  Bonze  und  Astronom  Y-hang  unter  Thang  Hiuen-tsung 
(seit  713)  setzte  das  erste  Jahr  von  Yao  2320  v.  Chr.,  das 
erste  Jahr  von  Yü  oder  der  Dynastie  Hia  2170  v.Chr.  Der 
Dynastie  Hia  gab  er  432  Jahre,  der  2.  Dynastie  Schang 
628,  nur  1  Jahr  weniger  als  Pan-ku.  Wu-wang's  erstes  Jahr 
zu  Anfange  der  3.  D.  Tscheu  setzte  er  1111  v.Chr.  s.  S.  68. 

Schao-yung  (f  1077)  gab  nach  Gaubil  der  Dynastie 
Tscheu  dieselbe  Dauer  wie  Pan-ku.  Der  1.  und  2.  Dynastie 
gab  er  einige  Jahre  mehr. 

Hiü-heng  unter  Kublai  (seit  1280)  folgte  ihm  nach 
Gaubil  Tr.  p.  165  in  der  Chronologie  und  rechnete  die 
Dynastie  Hia  vom  Tode  Schün's  441  Jahre,  von  Yü's  An- 
nahme zum  Mitregenten  aber  457  Jahre,  die  Dauer  der 
der  2.  Dynastie  Schang  644  Jahre,  die  der  3.  Dynastie 
Tscheu  874  Jahre,  immer  nach  astronomischen  Annahmen. 
Ihm  folgte  Ma-tuan-lin(f  1322).  DerTseu  tschi  tung  kien 
kang  mu,  aus  der  Zeit  der  Dynastie  Ming,  rechnet  B.  4  f.  35  v. 
(vgl.  Gaubil  p.  173)  die  Dynastie  1  Hia  Yü  439  Jahre,  von 
2205  v.  Chr.  mit  dem  Cykluszeichen  Ping-tseu  an,  die  Dynastie 
2  Schang  B.  6  f.  35  zu  644  Jahre,  seit  1766  v.  Chr.  mit 
dem  Cykluszeichen  (Y-wey)  an,  die  3.  Dynastie  Tscheu  874 
Jahre  seit  1122  v.  Chr.  mit  dem  Cykluszeichen  Y-mao. 

Ueberblicken  wir  alle  diese  Angaben  über  die  Dauer 
der  3  ersten  Dynastien,  so  finden  wir  keine  sichern 
Angaben.  Die  ältesten  Angaben  sind  nur  runde  Summen 
von  Nichthistorikern.  Sse-ma-tsien,  der  erste  bekannte 
Geschichtschreiber  China's,  hat  gar  keine  Angabe  über  deren 
Dauer.  Pan-ku  giebt  nur  gelegentlich  eine,  man  weiss  aber 
nicht,  worauf  sie  beruht.  Im  älteren,  aber  erst  später  auf- 
gefundenen Bambubuche  giebt  nur  eine  Note  die  Summen 
der  1.  und  2.  Dynastie ,  und  sie  stimmen  weder  mit  den 
Jahren  der  einzelnen  Regierungen ,  noch  mit  den ,  wie  man 
meint,    erst  später  zugesetzten  Cykluszeichen  und  alle  diese 


Platli:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       51 

verschiedenen  Angaben  weichen  von  einander  ab,  so  auch 
spätere,  die  zum  Theil  erst  auf  astronomischen  Bestimmungen 
beruhen.  Wir  müssen  nun  2.  die  Jahresangaben  der  ein- 
zelnen Regierungen  vergleichen. 

Wir  beginnen  mit  der  3.  Dynastie.  In  der  spä- 
tem Zeit  lassen  die  gleichzeitigen  Geschichtswerke  keinen 
Zweifel  übrig.  Auch  die  Regierungsjahre  der  4.  Dynastie 
Thsin  stehen  fest.  Die  Jahre  sind  schon  oben  S.  48  angegeben. 

Wir  geben  zunächst  die  Liste  der  Kaiser  mit  den 
Jahren  ihrer  Regierung  a)  nach  der  recipirten  Annahme 
des  Thung  kieu  kang  mu   b)  nach  dem  Bambubuche.16) 

a)  Wu  7  Jahre,  Tsching  37,  Khang  26,  Tschao  51,  Mu  55, 

b)  6  37  26  19  55 

a)  Kung  12,  Y  25,  Hiao  15,  I  16,  Li  51,  Siuen  46,  Yeu  11, 

b)  12        25  9         8         16  46  11 

a)  Phing   51,    Huan    23,    Tschuang    15,    Hi  5,    Hoei    25, 

b)  51  23  15      Li  5  25 

a)  Siang    33,    Khing    6,    Khuang    6,     Ting    21,    Kien    14, 

b)  33  6  6  21  14 

a)  Ling  27,    King  25,    King  44,    Yuen  7,    Tsching-ting  28, 

b)  27  25  44  7  28 

a)  Khao    15,     Wei-lie    24,     Ngan    26,     Lie    7,     Hien    48, 

b)  15  24  26  7  48 

a)  Schin-tsing  6,  Nan  59. 

b)  6    Yn 

16)  Nachdem  de  Guignes  das  Bambubuch  zum  Schu-king  schon 
bis  zum  Ende  dieses  697  v.  Chr.  ausgezogen  hatte,  hat  Biot  Journ.  As.  1841 
Ser.  III.  T.  12  und  13  nach  2  Sammlungen  es  übersetzt  und  Legge 
Prol.  T.  III  p.  108 — 176  den  chinesischen  Text  dann  mit  den  An- 
merkungen und  einer  Uebersetzung  vollständiger  herausgegeben.  Wir 
benutzten  noch  eine  kleine  Ausgabe  der  Staatsbibliothek.  Der  I-sse 
giebt  Auszüge  daraus  unter  dem  Titel  Ki-nien,  scheint  B.  26  f.  1  bei 
Tscbao-wang  aber  ein  noch  vollständigeres  Exemplar  benutzt  zu 
haben.  Der  Schluss  der  Chronik  ergiebt  seine  Abfassung  unter  Yn- 
wang  8.  S.  52. 

4* 


52  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Was  nun  zunächst  die  Namen  und  die  Folge  der  Kaiser 
betrifft,  so  sieht  man,  dass  die  des  Bambubuches  fast  überall 
mit  den  recipirten,  wie  sie  schon  im  Sse-ki  vorkommen,  über- 
einstimmen; im  Bambubuche  haben  wir  nur  Li  statt  Hi,  was 
aber  auch  im  Sse-ki  B.  4  f.  23  v.  sich  findet,  und  der  Scho- 
liast  sagt :  jenes  laute  hier  Hi.  Dann  lautet  der  Name  des 
letzten  Kaisers  Yn  statt  Nan  im  Sse-ki.  Eine  Note  zum 
Tschu-schu  p.  175  bemerkt,  diess  müsse  daher  kommen,  dass 
beide  Charaktere  ähnlich  lauteten. 

Was  dann  die  Regierungsjahre  betrifft,  so  endet  die 
Chronik  des  Bambubuches  mit  dem  20.  Jahre  „unser  es  jetzigen 
Kaisers  [Yn]  (kin-wang)".  Der  Sse-ki- B.  4f.  33  fg.  giebt  dem 
letzten  Kaiser  Nan  59  Jahre  und  lässt  dann  die  Dynastie  Tscheu 
7  Jahre  darauf  vernichtet  werden.  Was  die  früheren  Kaiser 
betrifft,  so  stimmen,  wie  man  sieht,  bis  Siuen-wang  aufwärts 
auch  die  Regierungsjahre  im  Bambubuche  mit  der  recipirten 
Annahme  und  auch  mit  den  Sse-ki  ganz  oder  bis  auf  eine  unbe- 
deutende Differenz,  wie  Gaubil  Tr.  p.  234  bemerkt,  überein. 

Der  Sse-ki  giebt  Siang  32  Jahre,  King  42,  Yuen  8, 
das  Bambubuch  33  44  7; 

das  erste  und  letzte  Jahr  gleichen  sich  aus ;  der  Unterschied 
ist  also  nur  2  Jahre.  Auch  die  Cykluszeichen  stimmen 
überein. 

Weiter  hinauf  gibt  der  Sse-ki  die  Regierungsjahre  der 
Kaiser  der  3.  Dynastie  eben  so  wenig  als  die  der  1.  und 
2.  Dynastie  an ,  nur  Wu-waug  giebt  er  2 ,  Mu  55  und  Li 
37  Jahre.  Gaubil  p.  127  sagt,  er  wisse  nicht,  woher  er 
diese  3  Zahlen  genommen  habe.  Wenn  er  Wu  nur  2  Jahre 
giebt,  so  ist  dies  offenbar  falsch  und  beruht  auf  Schu-king 
V,  6,  1:  ,.2  Jahre  nach  der  Eroberung  Schang's  erkrankte 
der  König  (Wu)",  da  das  Folgende  ergiebt,  dass  er  nachdem 
wieder  genass.      Ueber  die   37  Jahre  Li-wang's  s.  S.  65. 

Von  den  Regierungsjahren  der  ersten  10  Kaiser  der 
Dynastie  Tscheu  weichen  nun  aber  namentlich  4  bedeutend  ab. 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.        53 

Nach  der  recip.  Annahme  a)  Wu  7,  Tschao  51,  Hiao  15, 
im  Bambubuche  b)-         6  19  9 

a)  I  16,  Li   51  Jahre. 

b)  8  26. 

Wir  wissen  weder,  worauf  die  Angabe  des  Bambubuches, 
noch  worauf  die  später  recipirte  Angabe  sich  stützt.  7  Jahre 
geben  Wu  Pan-ku  B.  21  f.  17  v  (vgl.  Gaubil  Tr.  p.  135), 
ebenso  Kuan-tseu  und  Y-hang  später  nach  Tr.  p.  228. 

Einige  dieser  Abweichungen  könnte  man  durch  einen 
Ausfall  oder  eine  Verwechslung  der  zum  Theil  ähnlichen  chine- 
sischen Zahlzeichen  ausgleichen,  aber  man  weiss  nach  Ver- 
gleichung  der  blossen  Regierungsjahre  nicht,  welcher  Zahl 
man  den  Vorzug  geben  soll.  Die  Cykluszeichen  stimmen 
natürlich  hier  im  Bambubuche  mit  der  recipirten  Annahme 
auch  nicht.     Von  Gaubils  Aushülfe  s.  unten  S.  66. 

Seit  der  Regentschaft  Kung- ho  war  die  Kaisermacht  geschwächt; 
mehrere  grössere  Vasallenreiche  bildeten  sich.  Sie  hatten,  wie  bemerkt, 
auch  eigene  Geschichtschreiber  und  so  begreift  sich,  wie  wir  in  Sse-ki 
neben  der  Kaiserchronik  B.  1  bis  5  eine  Chronik  der  vornehmsten 
einzelnen  Vascülenfürsten  B.  31 — 47  vgl.  I-sse  B.  28,  mit  Angabe  der 
Regierungsdauer  einer  jeden  haben.  Da  in  der  Geschichte  der  ein- 
zelnen Reiche  immer  auf  andere  Bezug  genommen  wird,  so  gewähren 
diese  Angaben  in  der  Geschichte  der  verschiedenen  Reiche  eine  Con- 
trolle  und  Bestätigung  der  einzelnen  chronologischen  Angaben  nach 
841  v.  Chr.  So  bemeikt  Gaubil  Tr.  p.  200,  dass  wenn  im  Sse-ki  Lu  Pen-ki 
B.  33  f.  21  v.  Confucius  Tod  unter  Lu  Ngai-kung  A.  IG,  d.  i.  479  v.  Chr., 
im  Tshin  Pen-ki  B.  5  f.  15  aber  desselben  Tod  unter  Tshin  Tao-kung 
A.  12  gesetzt  werde,  diess  wieder  das  Jahr  479  ergebe,  und  so  wird 
namentlich  die  Zeit  der  Regentschaft  Kung-ho  in  den  einzelnen 
Chroniken  wiederholt  übereinstimmend  angegeben.  Der  Anfang,  wo  den 
Namen  der  einzelnen  Fürsten,  deren  Ursprung  meist  bis  auf  den 
Stifter  der  3.  Dynastie  hinaufgeht,  die  Jahre  ihrer  Regierung  beigesetzt 
sind,  ist  in  verschiedenen  Reichen  verschieden.  Am  weitesten  gehen 
sie  hinauf  im  Reiche  Lu  in  Schan-tung.  De  Mailla's  Regententafcl 
T.  1  giebt  die  sämmtlichen  Fürsten  von  Tscheu-kung  mit  7  Jahren 
und  seinem  Huhne  Pe-kin  mit  53  Jahren  an;  der  Sse-ki  B.  33 
f.  7  hat  für  beide  keine  Angabe  der  Jahre;  nur  die  Note  sagt:  Tsching- 


54  Sitzung  der  phüos.-philol  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

wang  A.  1  belehnte  Pe-kin  und  dieser  starb  im  46  Jahre  unter  Kaiser 
Kang-wang  A.  16;  37  und  16  Jahre  geben  53  Jahre  und  so  hat  der 
Ti-wang  Schi-ki  und  Han-schu  im  I-sse  B.  28  f.  1.  Am  Schlüsse  der 
Chronik  von  Lu ,  sagt  der  Sse-ki  33  f.  23  nur:  von  Tscheu-kung  bis 
zum  letzten  Fürsten  Khing-kung  waren  34  Generationen:  Pan-ku 
B.  21  hia  f.  18 v.  —  21  v.  giebt,  wie  gesagt,  die  Reihe  der  Fürsten 
von  Lu  mit  den  Jahren  ihrer  Regierung  vollständiger  als  der  Sse-ki, 
nämlich  von  Anfang  an,  nach  Gaubil  Tr.  p.  135  wohl  nach  später 
noch  erlangten  Quellen ;  s.  oben  S.  48. 

Im  Reiche  Thsin  in  Schen-si  giebt  de  Maiila  dem  Thsin-Yng 
40  Jahre ;  der  Sse-ki  B.  5  f.  4  fg.  hat  aber  erst  beim  folgenden  Thsin- 
heu  10  Jahre. 

Im  Reiche  Thsi  in  Schan-tung  war  der  Stifter  der  Dynastie 
Thai-kung;  seinen  Tod  setzt  das  Bambubuch  unter  Khang-wang  a.  6. 
Die  Regierungsjahre  seiner  Nachfolger  giebt  auch  de  Mailla  nicht,  bis  auf 
Hu-kung  mit  19  Jahren;  der  Sse-ki  B.  32  f.  5,  S  B.  40  hat  erst  dessen 
Nachfolger  Hien-kung  mit  9  J.  und  dann  die  folgenden.  Hier  mag  noch 
bemerkt  werden,  dass  nach  Gaubil  Tr.  p.  112  Yo-y,  der  Feldherr  Yen's, 
als  er  280  v.  Chr.  dis  Hauptstadt  Thsi's  einnahm,  in  einer  Denkschrift 
an  den  Fürsten  von  Yen  sagt:  man  habe  die  Schätze  genommen,  die 
dort  seit  800  Jahren  aufgehäuft  wurden.  Darnach  fiele  die  Gründung 
der  Stadt  unter  Thai-kung  1080  v.  Chr.  Ich  habe  die  Stelle  noch 
nicht  gefunden ,  indess  sieht  man ,  ist  auf  diese  runde  Zahl  in  einer 
militärischen  Denkschrift  nicht  viel  zu  geben. 

Das  Reich  Yen  in  Pe-tschi-li  nahm  im  Ganzen  wenig  Antheil  an 
den  Begebenheiten  China's.  Der  Sse-ki  B.  34,  S.  B.  41  kennt  den 
Stifter  Kang-scho ,  aber  erst  von  dessen  10.  Nachfolger  Hoei-kung  mit 
38  Jahren  führt  er  die  Jahre  an ,  in  seinem  23  Jahre  fiel  die 
Flucht  Kaiser  Li-wang's  und  der  Anfang  der  Regentschaft  Kung-ho, 
von  welcher  überhaupt  erst  die  genaueren  chronologischen  Angaben 
datiren.  Pan-ku  B.  20  f.  32 — 68  fg.  giebt  bei  der  Zusammenstellung 
der  Kaiser  und  Vasallenfürsten  der  3ten  Dynastie  —  und  zwar  nur 
bei  Yen  —  bei  jedem  Fürsten  die  Zahl  der  Geschlechter  an;  der 
Letzte  ist  der  43te. 

Der  Stifter  des  Reiches  Tsin  in  Schan-si  war  Thang-scho, 
Wu-wang's  Bruder,  aber  von  seine  5  ersten  Nachfolgern  gibt  der 
Sse-ki  B.  39,  S.  B.  43  wieder  bloss  die  Namen,  ohne  Angabe  ihrer  Re- 
gierungsjahre. Der  erste  mit  solchen  ist  Tsin-heu  mit  18  Jahren, 
da  in  seinem  17.  Jahre  die  Flucht  Li-wang's  fällt.  Später  traten  an 
Tsin's  Stelle  die  3  Reiche  Tschao  (Sse-ki  B.  43),  Wei  (B.  44)  und 
Han  (B.  45).    Das  Geschlecht    der  Fürsten  von  Tschao  wollte  nach 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       55 

dem  Sse-ki  vom  alten  Kaiser  Tschuen-hiü  (2300  v.  Chr.)  abstammen ; 
einige  Ahnen  werden  genannt,  so  Tsao-fu,  der  Wagenlenker  unter 
Tscheu  Mu-wang  (950  v.  Chr.):  sein  6ter  Nachfolger  rettete  Kaiser 
Siuen-wang  das  Leben.  Abhängig  von  Tsin,  wurden  die  Fürsten 
dieser  3  Reiche  erst  später  selbstständig;  es  ist  fcber  nicht  nöthig, 
in  ihre  Chronologie  weiter  einzugehen. 

Ein  anderes  Wei,  —  verschieden  geschrieben,  —  (Sse-ki  B.  37 
Sitz.-Ber.  B.  41)  lag  in  Ho-nan  und  stand  unter  Nachkommen  Khang- 
scho's,  eines  Bruder  Wu-wang's.  Auch  hier  sind  die  6  ersten  Nach- 
folger im  Sse-ki  ohne  Angabe  der  Regierungsjahre,  erst  Khing-heu 
hat  solche  mit  22  Jahren. 

Wir  brauchen  in  die  Chronologie  der  andern  kleinen  Reiche 
Tsai,  Tschin  (Sse-ki  B.  48),  Khi,  Sung(B.38),  Hiü  und  Tsching 
(B.  42),  alle  in  Ho-nan  und  Tsao  in  Schan-tung  u.  s.  w.  hier  nicht 
weiter  einzugehen;  es  genügt  die  Bemerkung,  dass  die  Angaben  der 
Regierungsjahre  ihrer  Fürsten  alle  nicht  höher  hinauf  gehen. 

In  Hu-kuang  war  später  das  bedeutende  Reich  Tschu  oder  Tsu 
(Sse-ki  B.  40,  S.  B  44),dessenFürsten  auch  ihr  Geschlecht  vom  alten  Kaiser 
Tschuen-hiü  durch  Hiung-yn,  dem  Zeitgenossen  des  Stifters  der 
3.  Dynastie,  herleiteten.  Seine  4  Nachfolger  sind  ohne  Angabe  der 
Regierungsjahre;  erst  der  5te  Hiung-khiü  hat  bei  Maiila  10  Jahre,  im 
Sse-ki  f.  4  aber  erst  dessen  3  ter  Nachfolger  Hiung-yung  10  Jahre  und 
dann  die  folgenden. 

Die  Fürsten  des  Reiches  U  in  Kiang-nan  leiteten  nach  dem 
Sse-ki  B.  31  ihr  Geschlecht  von  Thai-pe,  dem  Oheime  Wen-wang's,  ab, 
aber  sie  treten  erst  sehr  spät  in  der  chinesischen  Geschichte  auf, 
nemlich  mit  Scheu-mung  (585  bis  560)  und  schon  unter  dessen  6ten 
Nachfolger  Fu-tscha  wurde  das  Reich  von  Yuei  erobert.  Von  den 
Vorgängern  Scheu-mung's  hat  man  nur  die  blossen  Namen.  Der 
Sse-ki  B.  31  f.  3  rechnet  von  Thai-pe  bis  Scheu-mung  19  Generationen. 
Pan-ku  B.  20  f.  44  v.  reebnet  von  Scheu-mung  bis  Tschung-yung,  dem 
Nachfolger  Thai-pe's,  aufwärts  nur  15  Generationen. 

In  Tsche-king  war  das  Reich  Yuei  (Sse-ki  B.  41,  Sitz.-Ber.  44). 
Der  Ahn  der  Fürsten  soll  ein  Sohn  von  Schao-khang  von  der  ersten 
Dynastie  gewesen  sein.  Das  Reich  tritt  aber  auch  erst  spät  in  die 
Geschichte  ein.  Von  Wu-yü  giebt  der  Sse-ki  20  Generationen  bis 
Yün-tschang;  bedeutend  wurde  es  aber  erst  unter  dessen  Nachfolger 
Keu-tsien  seit  496  v.  Chr.  Erst  von  ihm  und  seinen  Nachfolgern 
werden  die  Regierungsjahre  angemerkt.  Pan-ku  B.  20  f.  65  rechnet 
vom   letzten  Könige  Wu-kiang   bis  Keu-tsien    10  Geschlechter,    der 


56  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1   Juni  1867. 

Sse-ki  B.  41  f.  5  giebt  von  5  Nachfolgern  bis  Wu-kiang  die  blossen 
Namen;  das  Bambubuch  auch  ihre  Regierungsjahre. 

Nach  Tschao-hao,  dem  Verfasser  der  Geschichte  von  U  und  Yuei 
(U  Yuei  Tchhün-thsieu)  aus  der  Zeit  der  Ost-Han  (25—220  n.  Chr.) 
bei  Gaubil  Tr.  p.  "140  endete  das  Reich  Yuei  224  Jahre  nach  dem 
27ten  Jahre  von  Keu-tsien,  d.  i.  nach  der  Geschichte  von  Lu  470  v.  Chr., 
also  wurde  das  Reich  vernichtet  246  v.  Chr.  Nach  Tschao-hao  hatte 
Kaiser  Schhao-khang  (der  6te  der  Dynastie  Ilia)  das  Land  Yuei  seinem 
Sohne  Wu-yn  gegeben  und  dessen  Nachkommen  regierten  es  nach 
ihm  1922  Jahre.  Vom  ersten  Jahre  Schhao-khang's  bis  zum  ersten 
Jahre  von  Kaiser  Tschuen-hiü  waren  nach  ihm  424  Jahre  verflossen, 
also  bis  zum  Ende  des  Reiches  2346  und  Tschuen-hiü  erstes  Jahr 
wäre  darnach  2592  v.  Chr.  Der  Sse-ki  B.  41  f.  1,  Sitz  -Ber.  44  p.  198  fg. 
sagt,  dass  Keu-tsien's  Vorfahren  Nachkommen  Yü's  waren,  und  dass 
der  Kaiser  der  Dynastie  Hia  Schhao-khang  seinen  Sohn  mit  Hoei-ki 
belehnt  habe,  um  die  Opfer,  die  Yü  dargebracht  wurden,  fortzu- 
setzen und  über  20  Generationen  später  habe  Yün-tschang  gelebt. 
Der  Scholiast  führt  dasselbe  aus  den  U  Yuei  Tschhün-thsieu  an,  ■ — 
vollständiger  steht  die  Stelle  im  I-sse  B.  13  f.  3  v.  —  Der  Sohn 
Schhao-khang's  heisst  da  Wu-yü,  aber  beide  haben  nicht  die  Zeitangabe 
Gaubils.  Nach  der  Geschichte  von  Hoei-ki  hiess  dieser  Sohn  Yü-yuei; 
das  ist  aber  der  Name  des  Landes.  Nach  einer  andern  Nachricht 
beim  Scholiasten  zum  Sse-ki  f.  1  v.  waren  über  30  Geschlechter  (Ye, 
eigentlich  Blätter)  der  Fürsten  von  Yuei  bis  unter  Kaiser  King-wang 
(518  bis  474)  der  Sohn  von  Yün-tschang  (starb  495)  bedeutend  wurde. 
Auch  in  I-sse  B  96  Yuei  mie  U  finde  ich  die  Zeitangabe  Gaubils 
nicht  und  sie  hat  wohl  wenig  Werth,  da,  wenn  die  Abstammung 
der  Fürsten  von  Yuei  von  Schhao-khang  auch  sicher  wäre,  die  Zeit- 
angabe wohl  erst  aus  der  angenommenen  Zeitbestimmung  Schhao- 
khang's  abgeleitet  ist. 

Wir  kommen  nun  zur  2.  Dynastie  Schang  oder  Yn. 
Die  wenigen  Stücke  im  Schu-king  betreffen  nur  den  Stifter 
Thang  (IV  1—3),  seinen  2.  Nachfolger  Thai-kia  (IV  4—6), 
den  19.  Pan-keng  (IV,  7),  den  22.  Wu-ting  (oder  Kao-tsung) 
(IV,  8  und  9),  endlich  den  letzten  Ti-sin  oder  Scheu,  unter 
welchem  die  Dynastie  von  den  Tscheu  vernichtet  wurde 
(IV,  10). 

Wir  geben  wieder  erst  die  Liste  der  Kaiser  mit  den 


Plath:  Chronölog.  Grundlage  der  alten  cltines.  Geschichte.       57 

Jahren  ihrer  Regierung  a)  nach  der  recipirten  Annahme  im 

Tung-kien-kang-mu  B.  5  f.  1  fgg.  und  b)  nach  dem  Bankü- 
bliche. 

a)  Thang   13,  Thai-kia  33, 

b)  12 17)  \Vai-ping2,Tschung-jin4,  12 

a)  Yo-ting   29,  Thai-khang  25,  Siao-kia    17,     Yung-ki  12, 

b)  19    Siao-keng       5  17  12 

a)  Thai-meu  75,  Tschung-ting  13,  Wai-jin  15,  Ho-than-kia  9, 

b)  75  9  10  9 

a)  Tsu-y  19,  Tsu-sin  16,Yo-kia  25,  Tsu-ting  32,  Nan-keng25, 

b)  19  14Khai-kia5  9  6 

a)  Yang-kia    7,     Puan-keng    28,     Siao-sin   21,      Siao-y,   28, 

b)  4,  28  3  10 

a)  Wu-ting59,Tsu-keng7,  Tsu-kia33,  Lin-sin6,  Keng-ting21, 

b)  59  11  33Fung-sin4  8 

a)  Wu-y  4,  Thai-ting    3,  Ti-y  38,  Scheu-sin32. 

b)  35    Wen-tingl3  9    Ti-sin         52. 

Was  zunächst  die  Namen  der  Kaiser  und  deren  Folge 
betrifft,  so  sieht  man,  sind  diese  bis  auf  wenige  wieder  über- 
einstimmend, nur  zwischen  dem  Stifter  Thang  und  Thai-kia 
hat  das  Bambubuch,  wie  der  Sse-ki  nach  Meng-tseu,  noch 
die  2  kurzen  Regierungen  Wai-ping  2  Jahre  und  Tschung- 
jin  4  Jahre.  Der  Schu-king  erwähnt  sie  nicht  und  desshalb 
hat  man  sie  später  wohl  ausgelassen.  Die  Stelle  des  Meng- 
tseu  V,  1,  6,  5  lautet:  ,,Yü  stand  Thang  bei,  so  dass  er 
Kaiser  (Wang)  wurde  über  das  ganze  Reich.  Als  Thang 
gestorben  war,  war  Thai-ting  (bereits  todt)  nicht  auf  den 
Thron    gelangt,    Wai-ping   2  Jahre,    Tschung-jin    4  Jahre. '; 


17)  Wenn  das  Bambubuch  p.  129  Tschhing-thang  in  seinem  18.  Jahre 
Kuei-hai  den  Thron  besteigen  lä?st,  so  sind  die  Jahre  da  nach  dem 
Antritte  seiner  Herrschaft  in  seinem  Fürstenthume  Schang  gerechnet. 


58  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Einige  verstehen  nun:  so  lange  regierten  sie,  andere  aber: 
sie  waren  erst  2  und  4  Jahre  alt  und  desshalb  folgte  der 
ältere  Thai-kia.  Meng-tseu  fährt  fort:  ,,Thai-kia  stürzte  die 
Verordnungen  und  Gesetze  von  Thang  um.  Y-yn  entfernte 
ihn  daher  3  Jahr  in  den  Palast  Thung."  Die  Chinesen  sind 
selber  nicht  einig,  welche  von  beiden  Erklärungen  die  bessere 
sei.  Von  den  andern  Namen  sind  eigentlich  nur  Thai- 
khang  und  Siao-keng,  Yo-kia  und  Khai-kia,  dann 
Lin-sin  und  Fung-sin,  diese  2  nur  im  ersten  Charakter  ab- 
weichend. Was  Siao-keng  betrifft,  so  könnte  das  Siao  im 
Bambubuche  statt  Thai  aus  dem  folgenden  Siao-kia  ver- 
dorben sein,  wenn  nicht  einer  zur  Unterscheidung  der  beiden 
Siao  in  der  recipirten  Annahme  statt  Siao  klein,  Thai  gross  ge- 
setzt hat.  Khang  und  Keng,  im  2.  Gliede,  Hessen  sich  bei 
der  Aehnlichkeit  der  beiden  Charaktere  (2535  u.  2512)  und 
Laute  leicht  verwechseln.  So  mag  auch  der  Unterschied 
zwischen  Wen-ting  und  Thai-ting  bloss  auf  einer  Ver- 
wechslung der  beiden  ähnlichen  ersten  Charaktere  (Cl.  67 
und  Nr.  1799)  beruhen.  Wenn  der  letzte  Kaiser  im  Bambu- 
buche Ti-sin  statt  Scheu-sin  heisst,  so  ist  diess  keine  Ab- 
weichung ;  Ti  heisst  bloss  der  Kaiser,  Scheu  war  sein  Name. 
Welcher  von  den  abweichenden  Namen  der  richtige  ist,  ist 
schwer  zu  sagen,  auch  von  keiner  grossen  Bedeutung.  Der 
Kue-iü  I  f  30  v.  sagt  Ti-(Tsu)-Kia  verwirrte  Schang  und  in 
der  7ten  Generationen  (ihn  inbegriffen)  ging  die  Dynastie  zu 
Grunde.     Diess  stimmt  zu  beiden  Angaben. 

Aber  sehr  abweichend  ist  die  Zahl  der  Regierungs- 
jahre in  beiden  Listen,  wie  man  sieht.  Der  Sse-ki  giebt 
bis  auf  den  Stifter,  wie  bemerkt,  gar  keine  Regierungsjahre 
und  woher  die  abweichende  Jahresangabe  in  der  recipirten 
Annahme  genommen  ist,  weiss  man  eben  so  wenig,  als  wo- 
her die  des  Bambubuches.  Gaubil  Tr.  p.  120  sagt,  die 
Liste,  der  Kaiser  des  Bambubuches  von  Nan-wang  aufwärts 
bis  Hoang-ti  ist  conform  der  des  Buches  Schi-pen  aus  dem 


Plath:  Clironolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       59 

Ende  der  Dynastie  Tscheu,  aber  er  sagt,  er  habe  das  Buch 
selber  nicht  gesehen  und  kenne  es  nur  aus  Citaten;  es  ent- 
halte Genealogien  von  Kaisern,  Fürsten  und  angesehenen  Per- 
sonen; die  Genealogien  kritisirten  die  Chinesen,  aber  die 
Listen  der  Kaiser  habe  noch  keiner  in  Zweifel  gezogen; 
der  Schi-pen  gebe  Schao  84  Jahre,  setze  den  Cyklus  von 
60  Jahren  schon  unter  Hoang-ti,  vor  dessen  Zeit  Schin-nung 
und  Fu-hi  regiert  hätten."  Diess  Alles  spricht  nicht  beson- 
ders für  dessen  Glaubwürdigkeit.  Uns  steht  dieses  Werk  auch 
nicht  zu  Gebote.  Der  I-sse  giebt  eine  Menge  kurze  Stellen 
daraus;  B87, 1  f.  3  v.  u.  101  f.  1  wohl  Genealogien,  aber  nur  B.  28 
f.  8  v.  Zeitangaben  der  Regierungen  der  Fürsten  von  Khi ;  ich 
weiss  also  nicht,  ob  Gaubil  recht  berichtet  war,  seine  histo- 
rischen Angaben  bewähren  sich  sonst  immer.  Im  Schu-king 
V,  15,  4  und  daraus  wohl  im  Sse-ki  B.  33  f.  5  fg.  giebt 
Tscheu-kung,  wie  schon  gesagt,  dem  Kaiser  Tschung-tsung 
oder  Thai-meu  eine  Regierung  von  75  Jahren,  Kao-tsung 
(Wu-ting)  von  59  Jahren,  Tsu-kia  von  33  Jahren  und  die- 
selben Jahresangaben  haben  beide  Listen.  Spätere  Kaiser, 
sagt  er,  ergaben  sich  den  Vergnügen  und  regierten  daher 
nur  10,  7—8,  5  —  6,  4 — 3  Jahre.  Welche  diese  sein  sollen, 
ist  aus  den  Listen  nicht  ersichtlich,  eher  frühere. 

Einige  Abweichungen  in  Zahlen  könnten  leicht  verschrieben 
sein,  indem  ein  Zahlzeichen  (2—5—10)  hinzugesetzt  oder  weg- 
gelassen worden;  so  wenn  Yo-ting29  und  19,  Thai-khang  (oder 
Siao-keng)  25  und  15,  Wai-jin  15  und  10,  Yo-  (oder  Khai-)  kia 
25  und  15  Jahre,  endlich  Thai-  oder  Wen-ting  3  und  13  Jahre 
beigelegt  werden ;  es  ist  aber  aus  den  beiden  Listen  allein 
nicht  zu  entnehmen,  welche  Zahl  die  richtige  sei,  und  das 
um  so  weniger,  als  die  Summender  Jahre  der  ganzen  Dynastie, 
wie  wir  sahen,  so  verschieden,  von  Meng-tsen  zu  mehr  als  500, 
bei  Tso-schi  zu  600,  von  Yo-tseu  ohne  dem  letzten  Kaiser 
Scheu  zu  576 ,  von  Pan-ku  zu  629  Jahren  angegeben  wird 
und    die  Cykluszahlen    des  Bambubuches  und  die  Jahre  der 


60  Sitzung  der  philos.-phihl.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

einzelnen  Regierungen  mit  der  Gesammtsnmme  der  Noten 
auch  nicht  stimmen,  indem  jene  508,  diese  nur  496  Jahre 
angeben.  Gaubil  Tr.  p.  237  fg.  meint  es  seien  im  Bambubuche 
auch  bei  der  Dynastie  Schang  die  Jahresangaben  verdorben. 

Es  bleibt  uns  noch  die  erste  Dynastie  Hia.  Im 
Schu-king  haben  wir  wieder  nur  wenige  Dokumente,  aus 
der  Zeit  der  ersten  Dynastie ;  ausser  den  ersten  Kapiteln,  die 
Yao,  Schün  und  Yü  betreffen,  geht  III,  2  auf  seinen  Nach- 
folger Khi,  III,  3  auf  Thai-khang  und  III,  4  auf  Tschung- 
khang. 

Wir  stellen  auch  hier  erst  wieder  die  beiden  Listen, 
die  recipirte  nach  dem  Thung  kien  kang  mu  B.  4  f.  7  —  25 
und  die  des  Bambubuches  einander  als  a  und  b  gegenüber; 
da  die  Cykluszahlen  bei  dieser  Dynastie  aber  von  den  Re- 
gierungsjahren im  Bambubuche  abweichen,  und  an  diese  Fre- 
ret  T.  14  p.  97  sich  hält,  setzten  wir  diese  noch  als  c  hinzu. 

a)  Yü  8,  Khi  9,  Thai-khang  29,  Tschung-khang  13,  Siang27, 

b)  8  16 

c)  11  20 

a)  Usurpatien  40, 

b)  40 

c)  40 

a)  Mang    18,     Sie 

b)  58 

c)  59 

a)  Khung-kia  31,  1 

b)  9    J 

c)  35 
Die  Namen  der  Kaiser,  sieht  man,  stimmen  auch  hier 

wieder  fast  bis  auf  einen  Hoai,  wofür  das  Bambubuch  Fen 
hat,  überein.  Kao  und  Hao  lauten  so  ähnlich,  als  die  beiden 
Charaktere  (8670  u. 3888)  es  sind ;  welcher  der  rechtesei,  lässt  sich 
aber  schwer  sagen.  Auch  die  Folge  der  Kaiser  steht  fest.  Der 


4 

7 

28 

6 

9 

28 

Schao-khang  22,     Tschu 

17, 

Hoai  26, 

21 

17 

Fen    44 

23 

19 

44 

16,     Pu-kiang    59, 

Pien 

21, 

Kin    21, 

25                       59 

18 

8 

28                       59 

21 

46 

ao  11,  Fa  19,  Kuei 

52. 

ao    3            7 

31. 

5            7 

31. 

Plath:  Ghronolorj.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       61 

Kue-iü  I,  f.  30  v.  sagt:  Khung-kia  verwirrte  Hia  und  in 
der  4ten  Generation  (ihn  inbegriffen)  ging  die  Dynastie  zu 
Grunde.     Diess  stimmt  wieder  mit  den  Listen. 

Was  aber  die  Regierungsjahre  der  einzelnen  Kaiser 
betrifft,  so  ist  hier  die  Uebereinstimmung  der  beiden  Listen 
noch  geringer  als  bei  der  2.  Dynastie.  Sie  findet  sich  nur 
beim  Stifter  Yü ,  bei  Tschu ,  bei  Pu-kiang  und  der  Usur- 
pation. Bei  Siang  ist  der  Unterschied  von  27  und  28  Jahren 
gering  und  gleicht  sich  aus  durch  Schao-khang's  22  und 
21  Jahre;  w7enn  Mang  18  und  58  Jahre  hat,  könnte  eine 
Zahl  verschrieben  sein.  Aber  diess  genügt  nicht  zu  zu  einer 
sichern  Herstellung  der  Listen ,  da  im  ISanibubuche ,  wie 
Legge  p.  181  bemerkt,  die  Cykluszahlen18)  und  die  einzelnen 
Regierungen  nicht  stimmen  und  eben  so  wenig  die  Summe, 
welche  die  Note  angiebt.  Diese  hat  p.  127:  471  Jahre,  die 
Cykluszeichen  geben  nur  431,  die  Regierungsjahre  nur  403. 


18)  Zu  bemerken  ist,  dass  im  Bambubuche  und  zwar  nur  bei  der 
1.  Dynastie  Hia  nach  Freret's  Bemerkung  B  14  p.  92  fg.  bei  15  Re- 
gierungen die  cyklische  Note  des  Regierungsanfanges  eines  Kaisers 
nicht  die  auf  der  des  letzten  Jahres  seines  Vorgängers  folgende  ist, 
sondern  ein  Zwischenraum  bei  3  Regierungen  von  je  3  Jahren, 
bei  den  andern  von  1 — 2 —  4  Jahren  stattfindet.  S.  bei  de  Mailla 
B.  I  p.  CXLIX  die  Tafel,  z.  B.  Yü  starb  nach  p.  118  im  8.  Jahre 
Jin-tseu  (das  ist  1981),  das  1.  Jahr  seines  Nachfolgers  Khi  ist  aber  erst 
das  Jahr  Kuei-hai  (1978).  Die  Note  sagt:  Dieser  trat  die  Herrschaft 
an,  als  die  3jährige  Trauer  vorüber  war,  und  eben  so  bei  Schün  und 
Yü ,  und  so  erklärt  es  auch  Freret.  Bei  Yao's  Tode  sagt  dasselbe 
von  Schün  Meng-tseu  V,  1,  4,  1  u.  5,  7  und  bei  Schün's  Tode  von  Yü 
derselbe  VII,  1,  39  und  40,  2.  Wurde  die  Trauerzeit  nicht  immer 
gleichmässig  eingehalten  oder  gerechnet?  In  der  2.  und  3.  Dynastie 
enthielt  der  neue  Kaiser  die  3  Trauerjahre  über  sich  auch  der  Re- 
gierung, die  der  Premier-Minister  führte  —  so  nach  Lün-iü  14,  43  unter 
Kao-tsung  (1323 — 1263),  —  aber  sie  werden  nicht  abgerechnet. 


62  Sitzung  der  philos.-philol.  Clause  vom  1.  Juni  1867. 

Pan-ku  giebt  der  1.  DyDastie  432  Jahre,  Meng-tseu  in  runder 
Summe  über  500  Jahre. 

Yao's  und  Schün's  Regierung  vor  Yü  nehmen  beide 
Listen  zu   100  und  50  Jahre  nach  dem  Schu-king  an. 

So  sehen  wir,  ist  durch  Vergleichung  der  einzelnen  Re- 
gierungsjahre der  Listen  zu  einer  sichern  Chronologie  im 
Einzelnen  und  im  Ganzen  poch  weniger  zu  gelangen,  als 
durch  die  der  blossen  Summen.  Es  bleibt  uns  nur  3.  noch  zu 
sehen,  ob  die  astronomischen  Data  und  Cyklusangaben 
uns  nicht  zu  sicheren  Resultaten  verhelfen  können,  wie 
die  Chinesen  schon  vielfach  versucht  haben. 

Zur  Bestätigung  der  bestimmten  Epochen  dienen  nun 
die  Sonnenfinsternisse,  die  in  der  spätem  Zeit,  wie 
Gaubil  Tr.  p.  198  fg.  bemerkt,  fast  immer  genau  nach 
Jahr,  Monat  und  Tag  bemerkt  sind,  so  dass  wir  sie  verifi- 
ziren  können. 

Wir  übergehen  die,  welche  Gaubil  aus  der  Zeit  der 
Ost-Han  am  10.  Mai  31  v.  Chr.  und  aus  der  Zeit  der  West- 
Kan  am  7.  August  198  v.  Chr.  anführt;  wir  haben  gleich- 
zeitige Geschichten,  welche  über  die  Chronologie  dieser  Zeit 
keinen  Zweifel  übrig  lassen.  Da  die  Geschichte  der  4.  Dy- 
nastie Thsin  sich  erhalten  hat,  ist  auch  deren  Chronologie 
sicher.  Das  Ende  der  3.  Dynastie  Tscheu  wird  249  v.  Chr. 
gesetzt.  Im  Jahre  nachher  (248  v.  Chr.)  setzt  der  Tung 
kien  kang  mu  eine  Sonnenfinsterniss  im  Jahre  Kuei-tscheu 
im  3.  Monat ;  aber  diese  kann  nach  Gaubil  Tr.  p.  206  nicht 
zur  Bestimmung  des  Endes  der  Dynastie  Tscheu  dienen,  da 
wir  keine  astronomische  Angabe  aus  der  4.  Dynastie  Thsin 
haben,  der  Text  nicht  den  Stand  der  Sonne  in  den  Stern- 
bildern angiebt  und  man  auch  nicht  weiss,  in  welchem  Grade 
einer  Constellation  das  Winter-Solstiz  angesetzt  wurde. 

In  der  3.  Dynastie  giebt  der  Sse-ki,  wie  bemerkt,  von 
Kaiser  Li-wang  an  die  Regierungsjahre  und  von  der  darauf- 
folgenden Regentschaft  Kung-ho   an  stimmt  das  Bambubuch 


Plath:  Chronölog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       63 

ganz  mit  dem  Sse-ki  und  der  recipirten  Annahme,  auch  bei 
den  einzelnen  Regierungen.  Diese  lassen  sich  nun  auch  durch 
die  von  Cont'ucius  in  seinem  Tschhün-thsieu  angeführten  36 
Sonnenfinsternisse  sicher  stellen.  Sie  werden  nach  den 
Jahren  der  Fürsten  von  Lu,  deren  Residenz  in  Yen-tscheu- 
fu  in  Schan-tung  war,  bezeichnet  und  da  wir  aus  dem 
Sse-ki  auch  die  Namen  der  andern  alten  Fürsten  kennen,  so 
können  wir  auch  die  Jahre  dieser  und  der  Kaiser  angebeD. 
in  welchen  sie  erfolgten.  So  soll  die  erste  im  3.  Jahre  von 
Lu  Yn-kung  am  Cyklustage  Ki-sse  sich  ereignet  haben.  Diess 
war  unter  Kaiser  Ping-wang  A.  51  oder  720  v.  Chr.  am 
22.  Februar  und  da  ist  Morgens  10  Uhr  und  einige  Minuten 
wirklich  eine  bedeutende  Sonnenfinsterniss  in  Schan-tung  ein- 
getreten, s.  Gaubil  Obs.  T.  II  p.  156  fg.  Tr.  p.  210  fg. 
Die  zwischenliegenden  führt  Gaubil  Obs.  T.  III  p.  239  fg. 
und  Lettres  ed.  T.  14  p.  371  auf  und  verificirt  sie.  Chalmers 
bei  Legge  Proleg.  Tr.  III  p.  103  giebt  eine  Uebersicht  der- 
selben, aber  mit  einigen  Abweichungen  ;  einige  wären  darnach 
freilich  in  Schan-tung  nicht  sichtbar  gewesen. 

Mit  dem  14ten  Jahre  Ngai-kung's  von  Lu  endet  die  Chronik 
des  Confucius,  sie  beginnt  mit  Yn-kung  A.  1,  242  zuvor;  in 
dessen  3tes  Jahr  fällt  der  Tod  Kaisers  Ping-wang  720  v.  Chr. 

Aber  über  das  gedachte  Jahr  hinaus  fehlen  Angaben  von 
Sonnenfinsternissen  fast  gänzlich,  so  dass  die  hin  und 
wieder  ausgesprochene  Behauptung,  die  Geschichte  der  Chi- 
nesen beruhe  durchgehens  auf  der  Gewährleistung  aufgezeich- 
neter Sonnenfinsternisse,  nur  bis  zum  8.  Jahrhunderte  v.  Chr. 
richtig  ist.  Aus  den  2000  Jahren  vor  der  Zeit  des  Tschhün- 
thsieu  sind  nur  2  aufgezeichnet,  von  denen  eine  noch  dazu 
ziemlich  problematisch  ist.  Die  andere  wird  in  Schi-king 
Siao-ya  II,  4,  9  in  einer  Ode  aus  der  Zeit  des  Kaisers  Yeu- 
wang ,  des  Vorgängers  von  Ping-wang  —  den  das  Lied  aber 
nicht  nennt,  —  erwähnt.  Es  heisst  da:  „Kiao  des  10. 
Monats,    am  1.  Tage  Sin-mao    war   eine   Sonnenfinsterniss." 


64  Sitzung  der  plnlos.-plülol  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Kiao  bezeichnet  nach  Gaubil  Obs.  T.  II  p.  151  fg.  und  Tr. 
p.  215  fg.  in  der  älteren  chinesischen  Astronomie  die  Knoten 
der  Mondbahn,  in  deren  Nähe  sich  die  Finsternisse  allein 
ereignen  können.  Nach  dem  Kue-iü  I,  f.  9  und  Sse-ki  re- 
gierte Yeu-wang  11  Jahre  und  nach  der  Geschichte  der 
Thsin  (Sse-ki  B.  5  f.  5)  fiel  er  in  einer  Schlacht  gegen  die 
Tataren  im  7.  Jahre  von  Thsin  Siang-kung  771  v.  Chr.); 
er  kam  also  781  zur  Regierung.  Während  dieser  Zeit  war 
aber  in  Si-ngan-fu ,  in  Schen-si ,  der  damaligen  Residenz  der 
Dynastie  Tscheu,  nur  eine  Sonnenfinsterniss  sichtbar  und 
zwar  nach  Gaubil  den  6.  September  776,  am  ersten  Tage 
des  10.  Monats  nach  dem  Kalender  der  Dynastie  Tscheu, 
gleich  dem  8.  jetzigen  Monate,  der  wirklich  der  Tag  Sin- 
mao  war ;  diese  müsse  also  gemeint  sein.  Diess  bestätige 
auch  das  Bambubuch,  das  am  Tage  Sin-mao  den  ersten  des 
10.  Monats  im  6.  Jahre  von  Yeu-wang  im  Winter  die  einzige 
Sonnenfinsterniss  erwähnt.  Diese  Berechnung  nach  P.  Adam 
Schall,  P.  Kegler  und  Gaubil  haben  auch  Lacharme  zum 
Schi-king  p.  284  und  de  Mailla  T.  2  p.  57;  ich  weiss  nicht, 
wie  Chalmers  p.  103  und  nach  ihm  Legge  p.  85  sie  auf  den 
29.  August  775  v.  Chr.  berechnet  und  dann  sagt,  dass  sie 
früh  Morgens  kaum  sichtbar  war. 

Vor  Phing-wang  regierte  nach  beiden  Listen  Yeu-wang 
11  Jahre  und  vor  diesem  Siuen-wang  46  Jahre;  bei  der 
Regierung  der  10  Vorgänger  Siuen-wang's  weichen  die  Re- 
gierungsjahre in  beiden  Listen  aber,  wie  S.  53  bemerkt,  sehr  ab, 
namentlich  was  die  Regierung  des  4ten  Tschao  (51  und  19), 
des  8ten  Hiao  (15  und  9),  des  9ten  J  (16  und  8)  und  des 
lOten  Li  (51  und  26)  betrifft. 

Die  Geschichte  von  Thsin  geht  bis  857  v.  Chr.  hinauf, 
wo  Thsin-heu  zur  Regierung  gelangte.  Bis  Li-wang  giebt 
der  Sse-ki  die  Regierungsdauer  der  Kaiser  übereinstimmend 
mit  dem  Bambubuche  an  und  da  die  zahlreichen  Angaben  über 
Sonnenfinsternisse  im  Tschhün-thsieu  seit  720  diese  bestätigen. 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       65 

so  kann  man  auch  ohne  Bedenken  die  Chronologie  der  3.  Dy- 
nastie Tscheu  von  der  Regentschaft  Kung-ho  abwärts  als 
wohl  begründet  betrachten;  sie  trat  841  v.  Chr.  ein,  nach- 
dem Li-wang  im  37.  Jahre  seiner  Regierung  wegen  seines 
schlechten  Betragens  entthront  worden  war.  Die  beiden 
Minister  Tschao-  und  Tscheu-kung  retteten  nach  der  Flucht 
des  Kaisers  den  Erbprinzen  vor  der  Wuth  des  erbitterten 
Volkes  und  führten  14  Jahre  die  Regentschaft,  Kung-ho  ge- 
nannt, d.  i.  Eintracht  und  Harmonie,  und  übergaben  dann 
die  Regierung  seinem  Sohne  Siuen-wang.  Die  14.  Jahre  zu 
den  37  Jahren  Li-wang's  im  Sse-ki  geben  die  51  Jahre  des- 
selben in  der  recipirten  Annahme. 

Die  Regierungsjahre  der  Vorgänger  Li-wang's  sind  aus 
der  Liste  zu  ersehen.  Eine  Stelle,  um  diese  controliren  zu 
können ,  findet  sich  nur  in  Schu-king  im  Kap.  Pi-ming  (V, 
24,  1)  aus  der  Zeit  des  3ten  Kaisers  Khang-wang.  Da  heisst 
es:  „in  seinem  12.  Jahre,  im  6.  Monate,  am  Tage  Keng-u 
erschien  die  Helligkeit  (die  erste  Mondphase) ;  der  3te  Tag 
nachher  war  Jin-schiu."  Lieu-hin  und  Pan-ku  nehmen  den 
Ausdruck,  die  Helligkeit  erschien,  wie  die  Chinesen  allgemein 
für  den  3.  Tag  des  Monats;  der  Charakter  Pu  oder  wie 
Legge  lieset,  Fei  kommt  im  Schu-king  auch  V,  12,  2  vor 
und  ist  zusammengesetzt  aus  Cl.  74  Mond  und  Tschu  her- 
vorgehen. Die  recipirte  Meinung  lässt  Khang-wang  1078  bis 
1052  regieren.  Darnach  wäre  diess  im  Jahre  1067  v.  Chr. 
den  16.  Mai  gewesen,  aber  da  war  der  Cyklustag  Keng-u 
kein  3ter  Monatstag.  Der  chinesische  Astronom  Y-hang,  im 
8.  Jalirhunderte  n.  Chr.,  nahm  daher  das  Jahr  1056  v.  Chr. 
den  18.  Mai  an,  wo  der  Neumond  den  16.  und  der  Cyklus- 
tag Keng-u  der  18.  Mai  war  und  ihm  folgt  Gaubil  Tr. 
p.  223  fg.  Damit  stimmt  aber  gar  nicht  die  Chronologie 
des  Bamlmbuches.  Dieses  setzt  das  erste  Jahr  Khang-wang's 
1007  v.  Chr.  und  sein  12.  Jahr  ist  also  996  (60  Jahre 
später).  Diess  reimt  sich  aber  durchaus  nicht  mit  dem 
[1867.11. 1.]  ö 


66  Sitzung  der  philos.-phüöl.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Schu-king  und  Gaubil  Tr.  p.  225  und  ebenso  Freret  T.  14 
p.  113  meinen  daher,  man  müsse  einen  ganzen  Cyklus  von 
60  Jahren  hinzusetzen,  —  und  zwar  dieser  in  den  4  Re- 
gierungen zwischen  Kung-  und  Siuen-wang,  —  so  erhalte 
man  dasselbe  Jahr  1056  v.  Chr.  Das  Bambubuch  erwähnt 
da  dieselbe  Begebenheit  so:  „im  12.  Jahre  im  Sommer  im 
6.  Monat,  am  Tage  Jin-schin  kam  der  König  nach  Fung 
und  ertheilte  ein  Amt  dem  Pi-kung."  Legge  III  p.  570  hebt 
hervor,  dass  dieses  Kapitel  des  Schu-king  nur  im  alten 
Texte  sich  finde  und  bezweifelt  werde,  aber  ein  Citat  in 
Pan-ku's  Geschichte  der  Han  (Liü-li  tschi  B.  21  hia  f.  18) 
scheine  den  Text  im  Wesentlichsten  zu  bestätigen. 

Wenn  diese  Annahme  richtig ,  wäre  das  erste  Jahr 
Khang-wang's  1068  v.  Chr.  (statt  1078  oder  1007)  und  man 
müsste  die  Regierungsjahre  darnach  ändern,  in  der  recipir- 
ten  Chronologie  abwärts  bis  zur  Regentschaft  Kung-ho 
10  Jahre  absetzen,  im  Bambubuche  aber  60  Jahre  hinzu- 
setzen und  zwar  wohl  bei  den  oben  angeführten  Regierungen, 
wo  die  Regierungsjahre  beider  Listen  von  einander  ab- 
weichen. 

Die  2te  Stelle  des  Schu-king's,  die  man  zur  Controlle 
der  Listen  benutzt,  im  Kap.  Tschao-kao  (V,  12,  2)  lautet  §  1 : 
„im  2.  Monate,  am  Tage  Y-wei,  dem  6.  nach  dem  Vollmonde, 
ging  der  König  Morgens  von  Tscheu  aus  und  kam  nach 
Fung"  —  und  §  2:  „im  3.  Monate,  nachdem  am  Tage 
Ping-wu  der  Neumond  erschienen  war,  am  Tage  Meu-schin 
kam  der  Thai-pao  Morgens  nach  Lo.u  Es  handelt  sich  hier  um 
das  7.  Jahr  der  Regentschaft  Tscheu-kung's  unter  Kaiser  Tsching- 
wang.  Pan-ku  und  Lieu-hin  deuteten  es  auf  das  Jahr  1109 
v.  Chr.,  aber  nach  Y-hang,  dem  Gaubil  p.  226  und  Freret 
p.  75  fg.  folgen,  entspricht  es  dem  Jahre  1098  v.  Chr. ;  denn 
der  2.  Februar  1109  könne  nicht  der  3teTag  des  3.  Monats 
nach  dem  Kalender  der  Tscheu  sein,  wohl  aber  der  4.  Fe- 
bruar 1098  der  Tag  Ping-wu  und  der  3te  des  3.  Monats;  in 


Plaih:  Chr onolog.  Grundlage  der  alten  ehines.  Geschichte.       67 

diesem  Jahre  war  im  2.  M.  den  18.  Januar  Vollmond  und 
6  Tage  später  der  Tag  Y-wei,  was  beides  viele  Jahre  vor  und 
nachher  nicht  wieder  vorkomme.  Dieses  stimmt  aber  wieder 
nicht  mit  dem  ßambubuche.  Nach  diesem  regierte  Tsching- 
wang  1043  bis  1006  und  sein  7tes  Jahr  wäre  demnach  1038 
(vielmehr  1037),  diess  passe  aber  in  keiner  Weise.  Das  Jahr 
habe  den  Cyklus-Charakter  Kuei-mao,  denselben  habe  aber 
auch  das  Jahr  1098 ;  es  scheine  also  wieder  ein  Cyklus  von 
60  Jahren  da  ausgelassen.  Diess  zeige  sich  aber  auch  bei 
seiner  Angabe  des  Todes  Tsching-wang's.  Das  Bambubuch 
p.  148  lasse  ihn,  wie  die  recipirte  Meinung,  37  Jahre  regie- 
ren und  im  Sommer  im  4.  Monate,  am  Tage  Y-tschheu  sterben; 
der  Schu-king  im  Kap.  Ku-ming  V,  22,  1  setze  auch  seinen 
Tod  am  Tage  Y-tschheu,  im  4  ten  Monate,  aber  den  Tag  nach 
dem  Vollmonde.  §  1  heisst  es:  „im  4.  Monat,  da  der  Mond 
begann  abzunehmen,  war  der  Kaiser  unwohl ;  §  2  am  Tage 
Kia-tseu  wusch  sich  der  Kaiser  Hand  und  Gesicht,  die  Be- 
amten setzten  ihm  den  Hut  auf,  zogen  ihn  an  u.  s.  w.  und 
§  10  am  nächsten  Tage  Y-tschheu  starb  der  Kaiser."  Im 
Jahre  1008  v.  Chr.,  sagt  Gaubil,  war  der  Tag  Y-tschheu  der 
2te  März  zwar  im  4.  Monate,  aber  mehrere  Tage  vor  der 
Opposition ;  es  passt  also  das  Jahr  nicht,  wohl  aber  war  in 
China  1068  den  16.  März  die  Opposition  im  4 ten  Monate  und 
im  4  den  17.  März  war  der  Tag  Y-tschheu;  beide  Jahre 
hätten  den  Cyklus-Charakter  Kuei-yeu  und  es  werde  wieder 
im  Bambubuche  ein  Cyklus  von  60  Jahren  ausgefallen  sein. 
Das  erste  Jahr  Tsching-wang's  wäre  demnach  1104  v.  Chr., 
dieses  Jahr  hat  das  Cykluszeichen  Ting-yeu;  dieses  giebt 
ihm  auch  das  Bambubuch  p.  145,  aber  im  unkorrigirten 
Texte  ist  es  da  das  Jahr  1044. 

Auf  die  Regierung  Wu-wang's,  des  Vaters  und  Vor- 
gängers von  Tsching-wang ,  rechnet  der  Sse-ki  (wie  schon 
bemerkt,  wohl  irrig)  nur  2  Jahr;  Pan-ku  B.  21  f.  17  v.  und 
Lieu-hin,    auch   Kuan-tseu   7    Jahre,    so    auch   die   recipirte 


68  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Annahme.  Dieses  nimmt  auch  Gaubi]  mit  Y-hang  an.  Dann 
wäre  sein  erstes  Jahr  wahrscheinlich,  meint  er  p.  231,  aber 
nicht  gewiss  1111  v.  Chr.,  statt  nach  der  recipirten  Meinung 
1122.  Das  Bambubuch  rechnet  6  Jahre.  Im  Schu-king  im 
Kap.  Wu-tsching  (V,  3,  1)  heisst  es :  ..im  ersten  Monate 
am  Tage  Jin-tchin  war  der  Tag  nach  der  Conjunktion;  den 
folgenden  Tag  Kuei-ki  zog  der  Kaiser  des  Morgens  von  Tscheu 
aus,  Schang  anzugreifen  und  zu  bestrafen."  §  2 :  im  4ten  Monate, 
als  der  Mond  zuerst  wieder  erschien ,  gieng  der  Kaiser  von 
Schang  nach  Fung;  §  3  am  Tage  Ting-wei  opferte  er  im 
Ahnentempel  der  Tscheu  und  3  Tage  darauf  am  Tage 
Keng-siü  brachte  er  ein  Brandopfer  dar  und  verkündete  das 
Ende  des  Krieges;  §  4  als  der  Mond  begann  abzunehmen, 
erhielten  die  Vasallenfürsten  ihre  Anstellung  von  Tscheu. 
(Der  Kaiser  hält  dann  §  5 — 8  eine  Anrede  an  diese).  §  9  heisst  es : 
„am  Tage  Meu-wu  ging  das  Heer  über  die  Furt  von  Meng, 
am  Tage  Kuei-hai  hielt  er  eine  Revue  über  dasselbe  in  der 
Vorstadt  oder  an  der  Grenze  (Kiao)  von  Schang  und  er- 
wartete des  Himmels  ruhigen  Befehl;  am  Tage  Kia-tseu  bei 
Tagesgrauen  führte  Scheu  sein  Heer  heran,  wie  einen  Wald 
und  versammelte  sie  in  den  Gefielden  von  Mu,  aber  es  leistete 
keinen  Widerstand  unserm  Heere."  Diess  sind  die  Cyklus- 
zeichen,  die  in  diesem  Kapitel  erwähnt  werden.  Gaubil  sagt, 
es  muss  damals  zwischen  dem  ersten  und  4.  Monate  einen 
Schaltmonat  gegeben  haben;  es  handelt  sich  hier  von  dem 
Jahre,  wo  WTu-wang  den  letzten  Kaiser  der  Dynastie  Schang 
schlug,  also  im  1.  Jahre  seiner  Regierung.  Lieu-hin  und 
Pan-ku  nahmen  nach  Gaubil  irrig  dafür  das  Jahr  1122  an, 
1123  (1122)  sei  der  Tag  Sin-mao  (27.  November)  der  erste 
des  1.  Monats,  der  Tag  Jin-tschin  der  2.,  der  Tag  Ki-wei 
(25.  December),  der  des  Solstizes,  der  Schaltmonat  zwischen 
dem  1.  und  4.  Monat  gewesen,  aber  da.  müsste  man  sich 
1123  um  3  Tage  geirrt  haben,  denn  die  Conjunction  fand 
den  30.  November   statt.     Gaubil   nimmt  daher  mit  Y-hang 


Plath:  Chrouolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.      69 

dafür  das  Jahr  1112  an.  Am  Tage  Keng-yn  sei  da  die  Con- 
junction  gewesen,  es  treffe  diess  nicht  ganz  genau  zu,  doch 
hat  es  nach  Gaubil  Wahrscheinlichkeit.  Nach  dem  Tschhün- 
thsieu  von  Liü-pu-wei  (im  I-sse  B.  146  hia  f.  5)  war  Wu-wang 
schon  12  Jahre  Fürst  von  Tscheu,  als  er  Kaiser  wurde  — 
und  damit  stimmt  der  Schu-king  Kap.  Thai-tschi  (V,  1,  1): 
,,im  13ten  Jahre  im  Frühlinge  war  die  grosse  Vereinigung 
an  der  Furt  von  Meng(-tsin)."  Nach  Gaubil  starb  sein  Vater 
Wen-wang,  also  12  Jahre  vor  1111,  d.  i.  1123  v.  Chr.; 
er  regierte  aber  (in  seinem  Lande  Tscheu)  nach  dem  Schu- 
king  Kap.  Wii  V,   15,  §  11:  50  Jahre. 

Wenn  nach  diesem  Systeme  Gaubil' s  Tr.  p.  233  die  Jahre 
der  Regentschaft  Kung-ho  (841  v.  Chr.)  bis  zum  ersten 
Jahre  Tsching-wang's  (1104)  und  auch  bis  zum  ersten  Wu- 
wang's  (1112)  im  Ganzen  sicher  sind,  so  ist  diess  nicht  so 
der  Fall  mit  der  Vertheilung  der  Jahre  zwischen  den  ein- 
zelnen Regierungen.  Tsching-wang  regierte  nach  allen  Nach- 
richten 37  Jahre,  Khang-wang  nach  beiden  Listen  26,  ebenso 
Mu-wang  auch  nach  dem  Ssc-ki  55  Jahre,  Kung-wang  nach 
beiden  Listen  12  Jahre,  und  sein  Nachfolger  Y-wang  25  Jahre; 
aber  wegen  der  Anderen  4  bestehen  zwischen  beiden  Listen 
Abweichungen  und  die  Entscheidung  über  die  Dauer  der 
einzelnen  Regierungen  ist  schwierig. 

Eine  Note  zum  Bambubuche  p.  149,  welche  lautet: 
„von  König  Wu-wang  bis  Kaiser  Mu-wang  wurde  das  Reich 
100  Jahre,  (wie  man  meint  von  Tscheu)  besessen'"  scheint 
einen  Anhalt  zu  gewähren  zu  der  Annahme,  dass  von  Wu- 
wang  bis  Mu-wang  100  Jahre  verflossen  waren;  allein  hier 
wird  bloss  die  Stelle  des  Schu-king  im  Kap.  Liu-hing  (V, 
27,  1)  zu  Grunde  liegen,  wo  derselbe  Ausdruck  hiang- 
kue  vorkommt.  Legge  übersetzte  es  da  :  ..der  Kaiser  hatte  das 
Reich  inne  100  Jahre  alt  (mao),"  obwohl  nach  V,  15,  4,  5  und  6 
(ohnemao)  näher  lüge  die  Uebersetzung :  „er  hatte  den  Thron 
100  Jahr  inne,''  wie  auch  andere  chinesische  Ausleger  annehmen. 


70  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

während  der  Sse-ki  ihn  50  Jahre  alt  den  Thron  besteigen 
lässt.  Nun  sagt  die  Geschichte  von  Tsin  (Tsin-schu)  im 
I-sse26  f.  lv.  ,,Mu-wang  lebte  nicht  100  Jahre  lang"  und 
es  scheint  daher,  dass  der  Notenschreiber,  der  Unwahrschein- 
lichkeit  der  langen  Lebensdauer  desselben  zu  entgehen,  die 
100  Jahre  nur  auf  die  Zeit  von  Wu-wang  bis  Mu-wang  ge- 
deutet habe;  dann  kann  die  Note  natürlich  nichts  helfen. 
Die  Note  des  Bambubuches  hinter  den  12  ten  Kaiser  Yeu-wang 
p.  158,  die  vom  1.  Jahre  Wu's  Sin-mao  bis  zum  letzten 
Yeu's  Keng-u  292  Jahre  rechnet,  ist  oben  S.  46  schon  an- 
gezogen. Die  Summe  stimmt  nicht  zu  den  einzelnen  Regie- 
rungen ;  die  einzelnen  Regierungsjahre  des  Bambubuches  geben 
nur  269,  die  Cykluszeichen  279  Jahre,  also  23  oder  13  Jahre 
weniger.  Die  Regierungsjahre  Tschao's,  Hiao's,  J's  und  Li's 
sind  im  Bambubuche  geringer,  als  in  der  recipirten  Annahme, 
aber  welchen  Regierungen  die  Jahre  zulegen?  Bis  Siuen- 
wang  A.  826  stimmen  beide  Listen.  Auf  seine  Vorgänger 
rechnet  die  recipirte  Annahme  bis  1121:  295  Jahre,  das 
Bambubuch  nur  223  Jahre,  wie  Legge  Prol.  T.  III  p.  85 
hat ;  bei  5  dieser  Regierungen  stimmen  beide  Listen  überein, 
bei  5  nicht.  Man  sieht  aber  keinen  Grund,  sich  für  die  An- 
gabe der  einen  oder  andern  zu  entscheiden.  Wenn  Meng-tseu, 
sagt  Legge,  die  500  Jahre  und  mehr  von  Confucius  bis  Wen 
bis  zum  Anfange  der  Dynastie  Tscheu  rechne,  (was  aber  nicht 
anzunehmen,)  falle  dieser  1051 — 1161;  die  recipirte  An- 
nahme möge  sich  der  Wahrheit  nähern,  die  des  Bambubuches 
sei  zu  spät.  51  Jahre  werden  Tschao-wang,  mit  dem  Namen 
Hia,  auch  in  einem  Werke  Tao-kien-lo,  welches  Uebersetz- 
ungen  von  alten  Inschriften  auf  Schwertern  zu  enthalten 
scheint,  im  I-sse  B.  26  f.  1  beigelegt,  aber  da  die  Inschrift 
aus  dem  2.  Jahre  des  Kaisers  sein  soll,  ist  diese  Angabe 
des  unbekannten  Autors  wieder  von  keiner  Bedeutung.  Es 
lässt  sich  also  die  Dauer  der  Regierungen,  bei  welchen 
beide  Listen  von  einander  abweichen,  nicht  genau  bestimmen. 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.      71 

■ 
Was  die  2te  Dynastie  betrifft,  so  steht  damit  die  Sache 

noch  schlimmer.  Wir  haben  gesehen,  wie  verschieden  die 
Summe  der  Dauer  der  ganzen  Dynastie  angegeben  wird,  von 
Meng-tseu  zu  mehr  als  500  Jahren,  bei  Tso-schi  zu  600  Jahren,  von 
Yo-tseu  bis  zum  letzten  Kaiser  Scheu  exclusive  zu  570  Jahren, 
von  Pan-ku  zu  629  Jahren.  Die  Summe  der  Note  des  Bani- 
bubuches  p.  141  496  Jahre  stimmt  nicht  mit  den  Jahren, 
welche  die  einzelnen  Regierungen  und  die  Cykluszeichen  er- 
geben. Die  recipirte  Annahme  rechnet  644  Jahre  bis  1765 
v.  Chr.  Von  den  einzelnen  Kaisern  führt  der  Schu-king  im 
Kap.  Wu-i  (V,  15),  wie  gesagt,  nur  an  Tschung-tsung  mit 
75,  Wu-ting  mit  59  und  Tsu-kia  mit  33  Jahren,  andere 
nach  diesen  hätten  nur  10,  7—8,  5—6,  4—3  Jahre  regiert; 
sie  werden  nicht  genannt.  —  Diese  Zahlen  möchten  aber 
für  die  kleineren  Zahlen  der  Regierungsjahre  der  5  nächsten 
Nachfolger  Tsu-kia's  der  Listen  S.  57  sprechen.  Die  Stelle 
des  Kue-iü  I,  f.  30  v. ,  oben  S.  42  sagt  nur:  von  Ti-kia 
bis  zum  Verfalle  der  Dynastie  sind  7  Generationen;  Meng- 
tseu  II,  1,  1,  8  sagt:  „vom  Stifter  Thang  bis  Wu-ting 
gab  es  6 — 7  weise  und  heilige  Fürsten.  Scheu,  der  letzte, 
war  nicht  weit  von  Wu-ting.  Dass  Meng-tseu  (V,  1,  6,  5) 
zwischen  dem  Stifter  Thang  und  Thai-kia  noch  zwei  Regie- 
rungen der  Brüder  Wai-ping  2  Jahre  und  Tschung-jin  4  J.  setzt, 
während  andere  sie  wegglassen,  ist  S.  57  schon  erwähnt.  Diese 
stützten  sich  auf  den  Schu-king  im  Kap.  Y-hiün  (IV,  4,  1) ; 
da  heisst  es:  „in  Thai-kia's  erstem  Jahre,  im  12.  Monate, 
am  Tage  Y-tschheu  opferte  Y-yn  dem  Könige  Vorfahren  und 
präsentirte  respektvoll  den  König-Nachfolger  seinen  Ahnen," 
und  dann  auf  die  Vorrede  zum  Schu-king  §  18:  „Nachdem  Thang 
gestorben  in  Thai-kia's  1  stem  Jahre,  verfasste  Y-yn  (das  Cap.) 
Y-hiün.u  Nach  dem  Tso-tschuen  war  der  erste  Monat  der 
Dynastie  Schang  der  12te  im  Kalender  der  Hia  und  der  2te 
in  dem  der  Tscheu. 

Pan-ku  B.  21  hia  f.  16  fg.  wollte  aus  dieser  Stelle  das 


72  Sitzung  der  phüos.-philöl.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Jahr  1738  v.  Chr.  als  das  erste  Jahr  von  Thai-kia  und  da 
Tsching-thang  13  Jahre  regierte,  1751  v.  Chr.  als  das  erste 
Jahr  desselben  ermitteln.  Es  stimmt  aber  nicht  damit,  dass  er 
an  einer  andern  Stelle  (B.  20  f.  18  v.)  VVai-ping  und  Tschung- 
jin  zwischen  beiden  annimmt  und  Gaubil  Tr.  p.  240  bemerkt, 
der  Schu-king  sage  nicht,  dass  der  Tag  Y-tschheu  der  Tag  des 
Winter- Solstizes,  noch  dass  er  der  erste  des  Monats  gewesen 
sei,  worauf  Pan-ku  sich  stützte.  Gaubil  nimmt  mit  dem 
Bambubuche  52  Jahre  für  den  letzten  Kaiser  (der  2.  Dy- 
nastie) Scheu  an,  rechnet  mit  Yo-tseu  bis  zu  diesem  576 
Jahre,  Hisst  Thai-kia  unmittelbar  auf  Thang  folgen,  nimmt 
so  628  Jahre  für  die  ganze  2.  Dynastie  an  und  setzt  daher 
ihren  Anfang  Tr.  p.  242 :  1739  v.Chr.;  aber  so  wenig  sicher, 
dass  er  später  in  seiner  Geschichte  der  Astronomie  Lettr. 
edif.  T.  14  p.  332  dafür  das  Jahr  1760  annahm.  Weitere 
Cykluszeichen  zu  einer  Controle  der  Jahre  der  2.  Dynastie 
giebt  es  nicht,  daher  man  über  ihre  Dauer  oder  die  der  ein- 
zelnen Regierungen  derselben  bei  der  verschiedenen  Angabe  der 
Listen  nicht  entscheiden  kann.  Legge  Prol. III  p.  86  sagt:  aus 
der  Summe  von  600  Jahren  bei  Tso-tschüen  und  500  und 
mehr  bei  Meng-tseu  lasse  sich  nur  schliessen,  dass  die  re- 
cipirte  Annahme  von  644  Jahren  zu  gross,  die  des  Bambu- 
buches  von  508  Jahren  (die  Note  hat  nur  496)  zu  gering  sei. 
Gleiche  Ungewissheit  herrscht  über  die  Dauer  der 
ersten  Dynastie  Hia.  Der  Schu-king  im  Kap.  Yn-tsching 
(III,  4,  4)  gedenkt  einer  Sonnenfinsterniss,  die  sich  unter 
dem  4ten  Kaiser  derselben  Tschung-khang  ereignet  haben 
soll.  Die  Stelle  hat  der  Tso-tschuen  Tschao-kung  A.  17  f.  10. 
Liesse  sich  das  Jahr  derselben  mit  Sicherheit  bestimmen, 
so  würde  sie  ein  Lichtpunkt  für  die  älteste  Chronologie 
China's  sein.  Die  Worte  sind  aber  zu  unbestimmt,  sie 
lauten:  „am  ersten  Tage  des  letzten  Herbstmonats  waren 
Sonne    und  Mond  in   ihrer  Conjunktion   nicht   in    Harmonie 


Plath:  Chronohg.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.      73 

in  Fang  (tschin  fei  tsi  iü  Fang)19);  der  Blinde  rührte  die 
Trommel  (wie  bei  einer  Sonnenfinsterniss  üblich),  die  untern 
Beamten  und  das  Volk  rannten  bestürzt  umher".  Nach  dem 
Tso-tschuen  ist  eine  sichtbare  Finsterniss  hier  gemeint.  Der 
Hof  war  damals  in  Ho-nan.  bei  dem  jetzigen  Thai-kang 
hien  34°  4'  der  Br.  8'  westlich  von  Pe-king.  Der  cyklische 
Tag  der  Finsterniss  wird  aber  nicht  angegeben  und  ihre 
Epoche  steht  daher  keineswegs  fest.  Der  Thung  kien  kang  mo 
B.  4  f.  13  setzt  sie  in  Tschung-khang's  A.  1,  das  Bambubuch 
in  A.  5 ;  diese  und  andere  sind  aber  alles  spätere  will- 
kürliche Bestimmungen.  Gaubil,  der  sie  mehrmals  in  Unter- 
suchung gezogen  hat  (Observ.  T.II,  p.  140,  hjnter  g.  Ueber- 
setzung  des  Schu-king  p.  372—380,  Traite  p.  242  fg.  und 
Lettres  edif.  T.  14  p.  316)  meinte,  sie  habe  im  ersten  Jahre 
Tschung-khang's  stattgefunden  und  zwar  den  12.  October 
2155  v.  Chr.20,  wo  sie  nach  Flamsteeds  Tafeln  beim  Aufgange 
der  Sonne  3  Vs  Zoll  betrug ;  diese  sei  die  einzige,  auf  welche 
die  Angabe  des  Schu-king  passe.  Das  Winter-Solstiz  war 
damals  den  7  oder  8.  Januar  2154,  das  Herbstaequinoctium 
den  8.  oder  9.  October  2155  nach  chinesischer  Bestimmungs- 
weise ,  so  dass  sich  nach  ihnen  die  Sonne  am  12.  October 
3 — 4°  östlich  vom  Herbstpunkte  befand. 

Die  Finsterniss  ereignete  sich  nach  ihm  also  wirklich 
im  9.  Monate  und  zugleich  in  der  Station  Fang ,  wenn  diese 
schon  damals,  wie  später,  bestimmt  wurde.   Aber  Delambre 


19)  Dieser  Ausdruck  für  eine  Sonnenfinsterniss,  bemerkt  Chalmer's 
p.  101,  ist  ungewöhnlich;  später  heisse  es  immer:  Ji  yeu  schi  tschi; 
der  Charakter  Fang  im  Tso-tschuen  sei  sichtlich  nicht  das  Sternbild, 
das  jetzt  so  heisse,  sondern  das  jetzige  Sehe,  und  hiess  früher  Ho 
(Scorpion),  Fang  nur  im  Li-ki  genannt. 

20)  Legge  T.  III  p.  167  sagt  irrig  2159  oder  2158.  —Der  Unter- 
schied eines  Jahres  hier  und  sonst  rührt  nur  daher,  ob  man  das 
Jahr  von  Christi  Geburt  als  erstes  mitrechnet  oder  nicht. 


7  4  Sitzung  der  philos.-phüol  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Histoire  de  l'astronomie  T.  I  p.  353  fg.  wendet  dagegen  schon 
ein,  dass  die  angenommene  Finsterniss  nur  klein  war  und 
nicht  geeignet,  das  Volk  zu  erschrecken.  Eben  so  sagt  Ideler 
S.  324,  sie  betrug  nur  1.  Zoll  und  nach  Largeteau  bei  Biot 
Journal  des  Savans  1840  avril,  der  sich  der  verbesserten 
Mondtafeln  bedient  hat,  war  sie  in  China  gar  nicht  sicht- 
bar und  so  auch  nach  Chalmers  bei  Legge  T.  3  p.  168. 
Die  Chinesen  schwanken  selber  in  ihrer  Bestimmung.  Das 
Bambubuch  p.  119  setzt  sie,  wie  gesagt,  unter  Tschung-khang 
A.  5  im  Herbste,  im  9.  Monate,  am  Tage  Keng-siü,  nach  den 
Cykluszahlen  des  Jahres  und  Tages  den  28.  October  1948, 
wo  es  aber  gar  keine  Conjunktion ,  geschweige  denn  eine 
ecliptische  gab.  Y-hang  unter  der  Dynastie  Thang  und  Ko- 
scheu-king  unter  der  Dynastie  Yuan  behielten  die  Cykluszeichen 
von  Tag  und  Jahr  des  Bambubuches  bei,  nahmen  aber  an, 
dass  3  Cyklus  von  60  Jahren  ausgefallen  seien,  eine,  wie 
schon  oben  angenommen,  unter  der  Dynastie  Tscheu  und  2 
unter  der  Dynastie  Schang  und  erklärten  sich  für  den  13. 
October  2128.  An  diesem  Tage  war  eine  Finsterniss.  Chal- 
mers p.  102  fand,  es  gab  Sonnenfinsternisse  in  oder  beim 
jetzigen  Fang,  d.  i.  dem  Scorpion.2135  (oder  2136),  2127  (oder 
2128)  und  2108  (oder  2109),  davon  war  die  im  Jahre  2127 
(oder  2128)  in  China  sichtbar.  Rothmann,  der  sie  1837  in 
den  Trans,  of  the  Astron.  Soc.  T.  XI  berechnete,  glaubte 
die  Angabe  der  chinesischen  Astronomen  bestätigt  zu  sehen, 
aber  Largeteau  bei  Biot  Journ.  d.  Sav.  1840  p.  241 ,  der 
sie  nochmals  berechnete,  hat  gefunden,  dass  sie  in  China 
unter  34°  oder  35°  Br. ,  wo  der  Kaiser  seinen  Hof  haben 
mochte,  eben  so  wenig  sichtbar  war,  als  die  Sonnenfinsterniss 
vom  28.  October  1948. 

Mit  dem  Zusätze  eines  Cyklus  von  60  Jahren  zu  den 
Jahren  des  Bambubuches  kommt  man  auf  das  Jahr  2007 
(oder  2008.)  »Die  bedeutende  von  Cassini  berechnete  Fin- 
sterniss   vom   Morgen    des   25.    October   2007   v.   Chr.   im 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.      75 

6.  Jahre  Tschung-khang's,  welche FreretOeuvr.  T.14p.U3— 173 
für  die  richtige  hält,  und  die  noch  Bunsen  (Aegyptens  Stelle 
in  der  Weltgeschichte  B.  5  Abth.  4  S.  285)  annahm,  verwarf 
Gaubil  p.  249  schon  aus  mehreren  Gründen,  besonders  weil 
sie  sich  nicht  in  der  Station  Fang  zutrug,  wobei  er  aber 
bemerkte,  dass  die  jetzige  Bestimmung  der  Sieu  oder  Su, 
die  aus  den  Zeiten  der  Dynastie  Han  herrührt,  auf  die 
frühere  Zeit  nicht  sicher  schliessen  lasse.  Auch  diese  war 
aber,  wie  Largeteau  sagt,  der  sie  nach  den  jetztigen  Tafeln 
verificirt  hat,  in  China  nicht  sichtbar.  Nach  allem  diesen 
weiss  man  keine  Sonnenfinsterniss ,  auf  die  die  Angabe  des 
Schu-king  passte.  Biot  fitudes  377  fg.  bemerkt,  die  secu- 
läre  Beschleunigung  der  mittleren  Bewegung  dieses  Satel- 
liten, die  einen  so  grossen  Einfluss  auf  die  Berechnung 
alter  Ortsangaben  habe,  sei  nach  den  Mondtafeln  Damoi- 
seau's  und  den  Sonnentafeln  Delambre's ,  die  bisher  die 
genauesten  waren,  neuerdings  von  Adams  in  England  und 
Delaunay  neuen  Untersuchungen  unterzogen  und  er  hofft  von 
solchen  künftig  noch  eine  Bestimmung  der  im  Schu-king  an- 
geführten Sonnenfinsterniss.  Aber  sie  stimmen  unter  sich  und 
mit  Hansen  noch  nicht  völlig  überein  und  ehe  diese  nicht 
feststeht,  ist  nach  Lamont  an  eine  sichere  Anwendung  auf 
alte  chronologische  Data  nicht  zu  denken.  Dennoch  hat  J.  v. 
Gumpach21)  neuerdings  den  22.  October  2156  v.Chr.  für  diese 
Finsterniss  angenommen;  in  jenem  Jahre  falle  der  Winter- 
anfang auf  den  21.  November  und  ebenso  der  Neumond.  Der 
vorhergehende  Neumond  des  22.  October  sei  also  in  der  That 
der  letzte  des  Herbstes  und  der  erste  Tag  des  9.  Monats  des 
Jahres;  die  Sonne  stand  'am  Ende  der  Aequatorial-Abtheilung 
Fang,  sie  fiel  in  das  4.  Jahr  Tschung-khang's,  ereignete  sich 


21)  Ueber  die  älteste  in  der  chinesischen  Geschichte  erwähnte 
Sonnenfinsterniss ,  in  dessen  Grundzügen  einer  neuen  Weltlehrc. 
München  1860  B.  1  Anhang  3.  S.  390  —  452.  Sein  Buch  hat  aber 
bekanntlich  Fiasco  gemacht. 


70  Sitzung  der  fMos.-pMöl.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

in  der  Höhe  des  Mittags  zu  Tschen-siin  und  war  jedenfalls 
sehr  bedeutend  und  beglaubige  so  die  überlieferte  Chronologie 
bis  an  das  23.  Jahrhundert  vor  Chr.  Es  fehlen  so  bisher 
uns  die  Mittel,  die  Dauer  der  1.  Dynastie  Hia  zu  bestimmen. 
Die  recipirte  Annahme  rechnet  439  Jahre  auf  die  Dynastie 
Hia,  das  Bambubuch  431,  die  Note  471.  Der  Unterschied, 
bemerkt  Legge  p.  86,  ist  nicht  gross,  obwohl  sie  nur  in 
der  Dauer  von  3  Regierungen  übereinstimmen;  Meng-tseu's 
Angabe,  von  Yao  und  Schün  bis  Thang  seien  über  500 
Jahre,  begreife  deren  Zeit  wohl  nicht  mit.  Rechnete  er  auf 
diese  auch  150  Jahre,  so  seien  es  mit  den  431—439  Jahren 
unter  600;  die  gewöhnliche  Annahme  der  Dauer  der  Dynastie 
Hia  zu  439  möge  daher  von  der  Wahrheit  nicht  ferne  sein. 
Was  die  beiden  Vorgänger  des  Stifters  der  ersten 
Dynastie  Yü  betrifft,  so  sagt  der  Schu-king  I,  §  12,  dass  Yao 
70  Jahre  regiert  hatte,  als  er  Schün  zum  Nachfolger  be- 
stimmte, er  prüfte  ihn  nach  II,  1  §  3 :  3  Jahre,  nahm  ihn  dann 
zum  Mitregenten  an  und  starb  nach  II,  1  §  13  und  Meng- 
tseu  V,  1,4, 1:  28  Jahr  später  und  50  Jahr  später  dann  Schün. 
Die  Regierung  beider  soll  also  150  Jahr  gedauert  haben. 
Darin  stimmen  Sse-ma-kuang  und  das  Bambubuch  p.  113  und 
116  überein.  Pan-ku  (Tsien  Han  schu  Liü  li  tschi  hia  B.  21 
f.  15)  rechnet  nur  70  Jahre  auf  Yao's  Regierung  und  50 
auf  Schün's  und  lässt  die  30  Jahre  gemeinsamer  Regierung 
ausfallen.  Diese  lange  Regierung  und  das  hohe  Alter,  wel- 
ches ihnen  beigelegt  wird,  ist  schon  bedenklich,  noch  mehr 
sind  es  die  Genealogien  der  Stifter  der  3  Dynastien,  die  alle  von 
Hoang-ti  abstammen  sollen.  De  Guignes  (Mem.  de  l'acad. 
des  inscr.  T.  36  p.  178)  hat  schon  auf  die  Unwahrschein- 
lichkeiten  darin  aufmerksam  gemacht.  Wir  brauchen  aber 
hier  nicht  weiter  darauf  einzugehen.  Der  Schi-king  Tscheu- 
sung  (IV,  4,  2,  4)  feiert  zwar  schon  den  Heu-tsi,  den  Mini- 
ster Yao's  und  Schün's,  als  den  Ahn  der  3  Dynastie  Tscheu 
und  im  Schang-sung  (IV,  3,  4)  ebenso  den  Hiuen-wang  (d.  i. 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte. 


i  i 


Sie)  als  den  Ahn  der  2.  Dynastie  Schang,  aber  ohne  Angabe 
der  Generationen,  die  man  erst  später  hinzugesetzt  haben  mag. 

Gaubil  Tr.  p.  255  setzt  das  erste  Jahr  der  Dynastie 
Hia  2191  v.  Chr.  und  demnach  das  erste  Jahr  Yao's  2341 
v.  Chr.,  Lettr.  ed.  T.  14  p.  307-320  aber  2361;  die  reci- 
pirte  Meinung  setzt  es  2357,  das  Bambubuch  2145  v.  Chr. 

Gaubil  bezieht  sich  für  Yao's  Zeit  und  deren  Bestim- 
mung nocli  auf  die  Stelle  im  Schu-king  Kap.  Yao-tien  I. 
§  3  fgg.,  wo  Yao  die  beiden  Solstizien  und  die  beiden  Aequi- 
noctien  nach  den  Constellationen,  das  Frühlings- Aequinoctium 
nach  der  Constellation  Niao,  das  Sommersolstiz  nach  der 
Constellation  Ho,  das  Herbst-Aequinoctium  nach  der  Constel- 
lation Hiü  und  das  Wintersolstiz  nach  der  Constellation 
Mao  bestimmt,  aber  Gaubil  Tr.  p.  258  sagt  selbst,  wenn 
diese  Stelle  für  ein  hohes  Alterthum  der  Himmelsbeobach- 
tungen  der  Chinesen  spreche,  könne  man  aus  ihr  doch  keine 
bestimmte  Zeitepoche  gewinnen,  denn  es  sei  nicht  gesagt,  in 
welchem  Jahre  der  Regierung  Yao's  diese  Bestimmung  ge- 
stroffen  sei,  und  mau  könne  nicht  sicher  sein,  dass  man  in 
so  alter  Zeit  bereits  im  Stande  gewesen  sei,  genaue  Beob- 
achtungen zu  machen,  welche  eine  so  grosse  Präcision  er- 
forderten. Biot  Etudes  p.  363  fg.  giebt  die  Uebersetzung 
der  ganzen  Stelle  von  St.  Julien.  „Yao  befahl  dem  Hi  und 
Ho,  sorgfältig  die  Bewegungen  von  Sonne  und  Mond  und 
die  Zwischenräume  zwischen  den  Sternen  zu  beobachten  und 
die  Zeiten  und  Jahreszeiten  dem  Volke  kennen  zu  lehren. 
Er  befahl  dem  Hi-tschung  zu  weilen  in  Yü-i ,  genannt  das 
glänzende  Thal,  und  da  respektvoll  wie  einen  Gast  zu  em- 
pfangen die  heraustretende  Sonne  und  gleichmässig  zu  regeln 
die  Arbeiten  des  Ostens  (Frühlings).  Es  ist  da  der  Tag  von 
mittlerer  (Länge) ,  der  (cuhninirende)  Stern  ist  Niao  (der 
Vogel) ,  um  genau  zu  bestimmen .  die  Mitte  des  Frühlings. 
Das  Volk  zerstreut  sieh  da;  Vögel  und  Wild  brüten  und 
paaren  sich." 


78  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

„Er  befahl  weiter  dem  Hi-tscho,  zu  weilen  in  Nan-kiao 
(an  der  Südgrenze),  um  genau  zu  regeln,  die  Veränderungen 
des  Südens  (Sommers)  und  ehrfurchtsvoll  zu  beobachten  den 
äussersten  (höchsten)  Punkt  der  Sonnenbahn.  Man  sieht  da 
(das  Sternbild)  Ho  (das  Feuer) ,  um  genau  zu  bestimmen 
des  Sommers  Mitte.  Das  Volk  zerstreut  sich  da  noch  weiter ; 
Vögel  und  Wild  haben  da  ein  dünnes  Fell." 

„Er  erliess  den  Befehl  an  Ho-tschung,  zu  weilen  im 
Westen,  in  dem  das  dunkle  Thai  (Mei-ku)  genannten  Orte, 
respektvoll  zu  geleiten  die  einkehrende  (untergehende)  Sonne 
und  zu  regeln  die  Schlussarbeiten  des  Westen  (Herbstes). 
Die  Nacht  hat  da  eine  mittlere  Länge ;  der  Stern  Hiü  dient 
zur  Bestimmung  der  Mitte  des  Herbstes.  Das  Volk  fühlt 
sich  wohl.  Der  Vögel  und  des  Wildes  Haare  und  Felle 
sind  in  gutem  Zustande." 

„Weiter  befahl  er  dem  Ho-tscho,  zu  weilen  in  der  Nord- 
gegend, genannt  die  dunkle  Residenz  (Yeu-tu) ,  und  dort 
sorgfältig  zu  untersuchen  den  Wechsel  des  Nordens  (Win- 
ters). Der  Tag  ist  da  der  kürzeste,  der  Stern  Mao  dient 
zur  Bestimmung  der  Mitte  des  Winters.  Das  Volk  zieht 
sich  zurück,  die  Vögel  und  das  Wild  haben  ein  dichtes  Ge- 
fieder und  Felle/' 

„Der  Kaiser  sagte:  0  ihr  Hi  und  Ho!  ein  volles  Jahr 
hat  366  Tage  (eigentlich  365  '/*,  das  4te  Schaltjahr  dann  366); 
mittels  des  Schaltmonats  stellt  fest  die  4  Jahreszeiten  und 
bestimmt  genau  das  Jahr  u.  s.  w." 

Wir  haben  die  Stelle  vollständiger  mitgetheilt  als  Biot, 
was  nöthig  war;  er  lässt  die  populären  Bezeichnungen  der 
4  Jahreszeiten  nach  dem  Paaren,  Mausern  der  Vögel  u.  s.  w. 
weg;  die  zeigen  aber  gerade,  wie  Legge  Pr.p.  89  bemerkt,  dass 
hier  nur  von  einer  populären  Anweisung,  nicht  von  einer 
exacten  astronomischen  Bestimmung  die  Rede  ist.  Wir  fügen 
nur  das  Notwendigste  zur  Erläuterung  hinzu.  Was  die 
Sternbilder  betrifft,  so  ist  Niao  nach   den  Astronomen  der 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.    ,.;79 

Dynastie  Han  das  damals  Sing  genannte  Sternbild,  nicht 
der  Name  eines  Sternes ,  sondern  eines  Himmelsraumes, 
welcher  sich  über  112  Grad  erstreckt  und  7  Sternbilder  des 
Süd-Quartieres  begreift;  man  kann  aber  nur  einen  Stern  in  der 
Mitte  daraus  hier  annehmen.  Ein  gelehrter  Chinese  verstand 
darunter  den  Stern  Schin-ho,  nach  Legge  das  Herz  der  Hydra. 
In  der  Anmerkung  zu  seiner  Uebersetzung  des  Schu-king's 
p.  4  sagt  Medhurst:  wenn  beim  Frühlings-Aequinoctium  zu 
Yao's  Zeit  das  Herz  der  Hydra  bei  Sonnenaufgang  culminirte, 
so  musste  die  Constellation  im  Meridiane  Mittags ,  die  Pleja- 
den  im  Taurus  (Stiere)  sein.  Da  nun  nach  dem  Zurückgehen 
der  Aequinoctien  die  Sterne  des  Thierkreises  in  2000  Jahren 
nur  um  ein  ganzes  Zeichen  zurückgehen,  so  musste  es  vor 
4000  Jahren  sein,  dass  die  Sonne  beim  Frühlings-Aequi- 
noctium in  den  Plejaden  stand,  und  diess  bestätige  die 
Glaubwürdigkeit  der  recipirten  chinesischen  Chronologie; 
denn  1800  n.  Chr.  waren  die  Plejaden  56  Va  Grad  von  dem 
Punkte  entfernt,  wo  das  Aequinoctium  die  Ecliptik  durch- 
schnitt, da  das  Aequinoctium  jährlich  50Vio  Minuten  zurück- 
gehe, erfordere  das  4050  Jahre.  Yao's  Regierung  endete 
nach  den  Chinesen  aber  2254  v.  Chr.;  dazu  1800  gebe: 
4054  Jahre. 

Der  2te  culminirende  Stern  am  Sommer- Solstiz  Ho22) 
(das  Feuer),  das  Sternbild  Fang  unter  den  Han,  war  nach 
Legge  der  Centralstern  im  azurnen  Drachen  (Tsang-lung), 
der  7  Sternbilder  des  Ostquartieres  begriff  und  dem  Herze  des 
Scorpions  entspreche.  Nach  einem  chines.  Schol.  in  der  Ausgabe 
des  Schu-king  von  1730  n.  Chr.  war  die  Sonne  am  Sommer- 


22)  Chalmers  p.  92  bemerkt,  dass  noch  unter  der  3.  Dynastie 
Tscheu  der  H  o  ein  wichtiger  Führer  zur  Bestimmung  der  Jahreszeiten 
war ;  dies  sehe  man  aus  dem  Tso-tschuen ,  Kue-iü  und  Schi-king 
Pin-fung  (I,  15,  1  p.  66). 


80  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Solstize  zu  Yao'sZeit  im  Sing  (a.  Hydrae  Alphard),  während 
1730  n.  Chr.  im  Tsui  (X  Orion). 

Der  3te  culminirende  Stern  Hiü  war  in  der  Mitte  des 
Hiuen-wu  (des  dunkeln  Kriegers) ,  der  die  sieben  Constella- 
tionen  des  Nordquartieres  begriff  und  entsprach  dem  ß  des 
Wassermannes.  Nach  dem  chin.  Schol.  stand  am  Herbst- 
Aequinoctium  unter  Yao  die  Sonne  in  Fang  (ß  d  n  q  des 
Scorpions),    1730  n.  Chr.  dagegen  in  J  (a  Crateris  (Alkes). 

Das  4te  Sternbild  Mao  war  im  Centrum  des  Pe-hu 
(weissen  Tigers),  welcher  die  7  Sternbilder  des  Westquartieres 
begreift  und  entspricht  unsern  Plejaden.  Am  Winter-Solstiz 
stand  nach  dem  chinesischen  Schol.  unter  Yao  die  Sonne  in 
Hiü  (ß  des  Wassermannes),  dagegen  1730  n.  Chr.  in  Ki  (y  des 
Schützen23).  Es  wird  aber  immer  die  Frage  sein,  ob  diese 
Bestimmungen  richtig  sind ;  nur  2,  Mao  und  Hiü,  finden  sich 
unter  den  Sieu  wieder;  Niao  und  Ho  identificiren  nur  die 
Ausleger  aus  der  Zeit  des  Han  mit  dem  damaligen  Sing 
und  Fang24). 

Die  geographischen  Angaben  sind  noch  vager  und  noch 
schwerer  zu  bestimmen.  Die  erste  Yu-i  kommt  auch  im 
Kapitel  Yü-kung  (III,  1,  1,  23)  vor.  Einige  setzen  es  nach 
Teng-tscheu  in  Schan-tung,  Legge  p.  18  meint  aber,  es 
müsse  weiter  östlich  (?)  in  Corea  liegen.  Nan-kiao,  der  2te  Ort, 
wird  wohl  mit  Unrecht  auf  Annam  oder  Cochinchina  ge- 
deutet, weil  diess  auch  Kiao-tschi  hiess,  allein  diesen  Namen 
Querzehe  hatten  früher  auch  die  Bewohner  von  Süd-China. 
Den  3ten  Ort,  das  dunkle  Thal,  im  Westen  setzt  man  nach 


23)  Diese  Bestimmungen  nach  John  Reeves  Chinese  Names 
of  stars  and  constellations  in  Morrison's  chin.  dict.  P.  II  Vol.  1 
p.  1063—1090. 

24)  S.  A.  Weber  die  vedischen  Nachrichten  von  den  Naxatra 
Abh.  der  Berl.  Akad.  1860.  4  S.  287  fg. 


PJath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines.  Geschichte.       81 

Schen-si   und   die   dunkle   Hauptstadt   (Yeu-tu)    im   Norden 
nach  Pe-tscbi-li. 

Biot  £tud.  p.  363  fg.  meint  auch  noch,  die  4  angegebenen 
Sternbilder  seien  gerade  die  gewesen,  worin  2357  v.Chr.  die 
Frühling-  und  Herbst-Aequinoctien  und  Sommer-  und  Winter- 
Solstitzen  sich  befunden  haben  müssten.  Erfunden  könne 
Confucius  sie  nicht  haben,  da  zu  seiner  Zeit  (500  v.  Chr.) 
die  4  Sternbilder  des  Schu-king  nicht  mehr  die  4  Cardinal- 
Punkte  der  Sonnenbahn  bildeten.  Das  Winter-Solstiz  z.  B. 
hatte  das  Sternbild  Hiü  (das22ste)  verlassen,  war  durch  das 
21.  Niü,  worin  es  sich  unter  Tscheu-kung  befand,  gegangen 
uud  stand  damals  im  20.  Sternbilde  Nieu  und  so  waren  auch  die 
3  andern  dieser  Bewegung  gefolgt.  Confucius  und  seine 
Zeitgenossen  und  eben  so  wenig  die  Astronomen  der  Dynastie 
Han  seien  aber  nicht  im  Stande  gewesen ,  die  frühere  Stel- 
lung derselben  rückwärts  zu  berechnen.  Ideler  S.  104  sagt: 
Ich  habe  die  gerade  Aufsteigung,  welche  die  4  Sterne  vor 
2000  Jahren  hatten ,  berechnet  indem  ich  die  Vorrückung 
der  Nachtgleichen  wie  oben ,  und  die  Schiefe  der  Ecliptik 
auf  24  Grad  gesetzt  habe.  —  Hiernach  trafen  das  Sommer- 
und  Winter-Solstizium  wirklich  auf  Sing  und  Hiü.  das  Früh- 
lings -  und  Herbst  -  Aequinoctium  gingen  nahe  vor  Mao  und 
Fang  her.  Aber  natürlich  lässt  sich  umgekehrt  auf  eine  so 
schwankende  Basis  eine  Berechnung  der  Epoche  des  Yao  nicht 
gründen,  da  es  sich  nur  um  ganze  Stationen  handelt  u.  s.  w. 
Eben  so  urtheilt  auch  Stuhr  Untersuchungen  über  die  Ursprüng- 
lichkeit und  das  Alterthum  der  Sternkunde  unter  dkl  Chinesen 
und  Indern.  Berlin  1831  S.  28.  Auch  Chalmers  p.  92  meint  als 
Bestätigung  der  Chronologie  sei  der  Welrth  dieser  astrono- 
mischen Angabe  sehr  überschätzt.  Eine  Tradition  der  Art 
müsse  der  Verfasser  des  Kapitels  Yao-tien  wohl  vorgefunden 
haben.  Yao  möge  die  Bestimmung  als  Tradition  überkommen 
haben,  denn  sehen  hätten  3  der  Astronomen  jene  Sterne  zu 
Yao's  Zeit  nicht  können,  nur  der  nach  Norden  gesandte  etwa. 
[1867.  II.  1.]  6 


82  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom   1.  Juni  1867. 

Weiter  als  Yao,  wie  schon  zu  Anfang  bemerkt,  wollen 
wir  liier  nicht  hinaufgehen.  Wir  wollen  daher  nur  noch 
hinzufügen,  dass  wenn  Bunsen  p.  281,  wie  de  Maiila  T.  I 
p.  CXXVIII,  noch  sehr  viel  auf  die  angeblich  überlieferte 
Beobachtung  einer  Conjunction  der  5  Planeten,  unter 
welchen  Sonne  und  Mond  genannt  werden,  unter  Tschuan-hiü, 
die  nach  Bunsen  auf  das  Jahr  2375  v.  Chr.  zutreffe  —  de 
Mailla  T.  I  p.  34  setzt  sie  aber  2461  v.  Chr.!  —  giebt, 
Gaubil  Tr.  p.  269  und  auch  Chalmers  bei  Legge  Prol.  p.  101 
schon  bemerken ,  dass  nur  neuere  chinesische  Geschichten 
von  einer  solchen  Conjunction  der  5  Planeten  unter  Tschuan- 
hiü  —  das  Jahr  werde  nicht  angegeben  —  am  Tage  des 
Li-tschün  (15°  des  Wassermannes)  im  Sternenbilde  Sehe 
sprächen ;  weder  Pan-ku  noch  Sse-ma-tsien,  noch  irgend  ein 
Werk  aus  der  Zeit  vor  dem  Bücherbrande  erwähnten  sie, 
sie  sei  nicht  historisch,  sondern  eine  erdichtete  Epoche,  die 
man  nicht  verificiren  könne ;  Kirch  und  Cassini  hätten  sie 
daher  vergeblich  zu  berechnen  unternommen.  Ich  finde  sie 
im  J-sse  B.  7  fol.  1  nur  aus  dem  Werke  Ku-sse-kao  er- 
wähnt ;  es  ist  aber  nicht  nöthig ,  hier  weiter  darauf  ein- 
zugehen. 

Ueberblicken  wir  die  ganze  Untersuchung,  so 
ergiebt  sich,  dass  man  bis  zum  1.  Jahre  der  Regentschaft 
Kung-ho  (841  v.  Chr.)  eine  auch  im  Einzelnen  sichere  Chro- 
nologie hat,  und  den  Anfang  der  3.  Dynastie  nach  der  re- 
cipirten  Meinung  1122  oder,  wie  Gaubil  annimmt,  1111 
v.  Chr.  noch  mit  ziemlicher  Sicherheit  wird  annehmen  können 
und  die  Jahre  der  einzelnen  Regierungen  nur  einzeln  einige 
Schwierigkeiten  bieten,  obwohl  Legge  p.  89  meint,  das  älteste 
sichere  Datum  gehe  nur  bis  775  v.  Chr. ,  das  bestimmte 
Jahr  des  Anfanges  der  3.  Dynastie  Tscheu  wisse  man  nicht. 
Anders  aber  ist  es  mit  der  Chronologie  der  1.  und 
2.  Dynastie  und  der  Zeit  Yao's  und  Schün's  bei  den  grossen 
Abweichungen  in  den  Angaben  der  Summen  der  Dauer  der 


Plath:  Chronolog.  Grundlage  der  alten  chines   Geschichte.       83 

ganzen  Dynastien  und  der  der  einzelnen  Regierungen  derselben 
und  dem  Mangel  an  sicheren  astronomischen  und  cyklischen 
Anhaltspunkten,  welche  zur  Feststellung  derselben  dienen 
könnten.  Legge  meint,  man  könne  nur  den  Anfang  der  1. 
Dynastie  Hia  in  das  19.  Jahrhundert  und  Yao  und  Schün 
in  das  20.  Jahrhundert  v.  Chr.  setzen.  Man  wird  daher  am 
Sichersten  gehen,  wenn  man,  wo  das  genügt,  bei  solchen  all- 
gemeinen Zeitangaben  stehen  bleibt.  Wenn  wir ,  wo  eine 
bestimmtere  chronologische  Angabe  nöthig  ist,  bei  der  reci- 
pirtcn  Annahme  bleiben ,  so  ist  es  daher  nicht,  weil  wir  sie 
für  sicher  halten,  sondern  nur,  um  irgend  eine  relative  An- 
gabe zu  geben  ,  da  wir  ja  wissen ,  dass  auch  unsere  Zeit- 
rechnung nach  Christi  Geburt  nicht  ganz  richtig  ist,  sondern 
freilich  nur  um  mehrere  Jahre  fehlgeht. 

Das  Resultat  unserer  Untersuchung  ist  freilich  ein  mehr 
negatives.  Aber  zu  wissen,  was  man  weiss  und  was  nicht,  und 
auf  welchem  Grunde  unser  Wissen  beruht,  ist  auch  wissen. 
Wo  keine  sichere  Geschichtsüberlieferung  ist,  kann  man  keine 
giben.  Abweichende  Angaben  künstlich  zu  vereinigen,  wird 
oft  viel  Zeit  und  Kraft  verschwendet ;  das  Gebiet  der  sichern 
Geschichte  ist  aber  so  weit  und  gross,  dass  beide  besser 
auf  deren  Anbau  verwendet  werden. 


6* 


84  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 


Herr  Prof.  Lauth  trägt  vor: 

„Ueber    den     ägyptischen    Ursprung     unserer 
Buchstaben  und  Ziffern". 
(Mit  einer  Tafel.) 

In  unserer  bewegten  Gegenwart,  wo  die  wichtigen  Er- 
findungen der  Photographie,  Telegraphie  und  Stenographie 
Bild  und  Schrift  mit  früher  nie  geahnter  Schnelligkeit  ver- 
vielfältigen und  räumlich  verbreiten,  dürfte  ein  Rückblick 
auf  die  Entwicklung  der  graphischen  Kunst  überhaupt  am 
Platze  sein,  um,  wo  möglich,  der  Genesis  unserer  Buch- 
staben und  Ziffern  auf  die  Spur  zu  kommen.  Schon  der 
äusserliche  Umstand,  dass  wir  bis  jetzt  keine  älteren  Schrift- 
denkmäler kennen  und  besitzen,  als  die  ägyptischen, 
spricht  zu  Gunsten  der  Herkunft  unseres  Alphabets  und 
unseres  Zahlensystems  aus  dem  merkwürdigen  und  uner- 
schöpflichen Nilthale. 

Bereits  im  Jahre  1855  hatte  ich  in  meinem  Werke 
„das  vollständige  Universalalphabet,  auf  der  physiolo- 
gisch-historischen Grundlage  des  hebräischen  Systems  zu 
erbauen  versucht"  an  mehreren  Stellen  den  ägyptischen  Ur- 
sprung unserer  Schriftzeichen  wahrscheinlich  gefunden  z.  B. 
pp.  8  lin.  21—23,  151  lin.  3,  158  lin.  23,  besonders  p.  55 
„das  alte  Buchstaben-System,  (das  ich  den  Aegyptern  — 
nicht  wegen  der  Pyramidenform  —  Form !  —  einstweilen 
zuschreiben  möchte  etc.)".  In  meinem  „Germanischen  Runen- 
fudark"  (1857)  konnte  ich  mich,  weil  bereits  mit  den  Hiero- 
glyphen beschäftigt,  noch  bestimmter  ausdrücken  p.  185: 
„Diese  (Griechen)  aber  empfingen  die  Schrift  von  den  semi- 
tischen Phoenikern,  welche  ihrerseits  selbst  wieder  nicht  die 
ersten  Erfinder   der   Schrift   und    (Ordner?)   des   Alphabets 


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Lauth:  Der  ägypt.   Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.  85 

gewesen  sind,  sondern  Beides  von  den  tiefsinnigen  Aegyptern 
empfangen  haben':. 

Das  letzte  Jahrzehend  hat  diese  von  mir  zuerst  ausge- 
sprochene Ansicht  hauptsächlich  durch  den  Furtschritt  in  der 
Entzifferung  der  hieratischen  Papyrus  so  ziemlich  zur  all- 
gemeinen Ueberzeugung  erhoben ,  wenigstens  unter  den 
Aegyptologen.  So  hat  z.  B.  Brugsch  in  der  Zeitschrift  für 
Stenographie  (1864)  die  ägyptischen  Buchstaben  mit  denen 
des  phoenikischen  Alphabets  zusammengestellt,  nachdem 
schon  vorher  Vicomte  de  Rouge  1859  in  der  Academie 
des  Inscriptions  unter  dem  Titel:  ,, Memoire  sur  Porigine 
egyptienne  de  P  aiphabet  phenicien"  die  nämlichen  Grund- 
sätze veröffentlicht  hatte.  Letzterer  stützte  sich  hiebei  vor- 
nehmlich auf  die  phoenikischen  Schriftzüge  des  Sarkophages 
von  Aschmunezer  im  Zusammenhalte  mit  den  sehr  alter- 
tümlichen Zeichen  des  hieratischen  Papyrus  Prisse, 
welcher  der  XI.  Dyn..  d.  h.  mindestens  dem  25.  Jahr- 
hunderte vor  unser  er  Zeitrechnung  angehört.  Die  neueste 
Arbeit  des  Herrn  Francois  Lenormant  über  den  Ursprung 
des  phoenikischen  Alphabets,  meines  Wissens  mit  dem  prix 
Volney  belohnt,    geht  von  dem  nämlichen  Standpunkte  aus. 

Die  genannten  Versuche  geniigen  wohl,  um  die  Ableit- 
ung der  phoenikischen  Schriftzeicheu  aus  dem  Hieratischen 
plausibel  erscheinen  zu  lassen;  allein  zur  Begründung  einer 
wissenschaftlichen  Ueberzeugung  sind  sie  bei  Weitem  nicht 
ausreichend.  Ich  werde  daher  meine  Untersuchung  da,  wo 
ich  sie  vor  zehn  Jahren  gelassen,  wieder  aufnehmen,  die  auf 
der  beifolgenden  Tafel  (A)  befindliche  Zusammenstellung  im 
Einzelnen  besprechen,  hiebei  auf  das  Koptische  die  ge- 
bührende Rücksicht  nehmen,  nach  den  Schriftcharakteren 
die  Frage  wegen  des  ägyptischen  Alphabets  behandeln 
und  am  Schlüsse  auch  die  ohnehin  naheliegenden  Zahl- 
zeichen beiziehen. 

Wird  durch  meinen   detaillirten  Nachweis  die  Herkunft 


86  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

des  phoenikischen  Alphabets  aus  der  hieratischen  Schrift 
der  Aegypter,  wie  ich  hoffe,  unzweifelhaft  dargethan,  so 
lässt  sich  die  Frage:  was  man  von  den  vielgeplagten  Namen 
Aleph,  Beth  etc.  zu  halten  habe,  leicht  dahin  entscheiden, 
dass  sie  nur  Gedächtnisswörter  mit  den  betreffenden 
Anlauten  sein  können,  und  dass  die  Gestalt  der  ihnen  ent- 
sprechenden Schriftzeicheu  nichts  mit  ihrer  Bedeutung  zu 
schaffen  hat.  Nach  dieser  nicht  unnöthigen  Vorbemerkung 
gehe  ich  zur  Erklärung  der  einzelnen  Buchstaben  über, 
wobei  ich,  wie  auf  der  Tafel,  die  Ordnung  des  koptischen 
Alphabets  beobachte.  Bekanntlich  ist  dieses,  analog  dem 
Gothischen,  das  sich  aus  den  Runen  ergänzte,  nichts 
weiter  als  das  griechische1),  aber  um  sieben  Buchstaben 
vermehrt,  welche,  weil  ihre  Laute  dem  Griechischen  man- 
gelten, aus  der  demotischen  Schriftart  beigezogen  wurden. 
a.  Prototyp  ist  der  hieratische  Adler  oder  Falke. 
Welchen  Namen  dieses  Schriftzeichen  bei  den  Aegyptern 
geführt  habe,  lässt  sich  jetzt  noch  nicht  bestimmen;  aber 
so  viel  ist  sicher,  dass  er  nicht  achom  (aquila)  geheissen 
haben  kann ,  weil  dieses  Wort  stets  mit  dem  vertieften  ä 
(dem  Arme)  anlautet.  Eher  liese  sich  an  das  koptische 
atrocfj  falco  denken,  wenn  man  es  nur  in  älteren  Texten 
nachweisen  könnte.  Indess,  die  Frage  nach  den  Namen  der 
Buchstaben  wird  weiterhin  noch  ausführlicher  besprochen 
werden,  wo  es  sich  um  das  ägyptische  Alphabot  handelt. 
Für  jetzt  genügt  die  Thatsache ,  dass  die  Schreiber  kopti- 
scher Handschriften2)  das  aus  dem  griechischen  Alphabete 
entnommene  A  (*)  durch  Randverzierungen  zu  einem  Adler 
oder    Falken    gestalteten.      Hiezu   konnte     sie    nicht    der 


1)  Daher  die  unverkennbare  Aehnlichkeit  des  gothischen  Alpha- 
bets mit  dem  koptischen  —  beider  Anfänge  fallen  der  Zeit  nach 
fast  zusammen. 

2)  Schwartze:  „das  alte  Aegypten",  am  Ende. 


Lauth:  Der  ägypt.  Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.         87 

griechische  Name  aXcpcc,  wohl  aber  die  Erinnerung  an  den 
Vogel  ihres  einheimischen  Alphabetes  veranlassen.  Dieser 
Umstand  beweist,  dass  die  Aegypter  eigentliche  Buchstaben 
mit  Eigennamen  besassen. 

b.  Herr  Brugsch  hat  das  Zeichen  mit  der  Lautung 
vn  dem  b  gegenübergestellt,  sowohl  aus  palaeographischem 
Grunde ,  als  weil  das  koptische  ßrpa  (Bida)  die  Lautung 
Vida  behaupte.  Allein  das  fragliche  Zeichen,  schon  in  den 
Hieroglyphen  äusserst  selten,  hat  sich  im  Hieratischen  und 
Demotischen  fast  ganz  verloren.  Palaeographisch  empfiehlt 
sich  ebensowohl  der  hieratische  Ba-vogel,  mit  dem  z.  B. 
das  Wort  ba  die  Seele  (Horapollo's  ßcct)  geschrieben  wird. 
Was  mich  zu  dieser  von  De  Kouge  zuerst  aufgestellten  An- 
sicht besonders  bestimmt,  ist  die  Thatsache,  dass  in  der 
akrophonischen  Litanei  an  die  Hathor,  welche  Herr  Mariette 
zu  Dendeiah  entdeckt  hat  und  die  ich  weiterhin  wegen  der 
Alphabetsfrnge  näher  betrachten  werde,  der  frLaut  durch 
eben  diesen  ba-\;oge\  vertreten  ist.  Uebrigens  ist  die  Er- 
weichung des  b  zu  v  eine  ziemlich  allgemeine  Erscheinung 
in  der  Linguistik. 

g.  Dem  semitischen  Gimel  fand  Brugsch  meist  ein 
ägyptisches  Zeichen  entsprechend,  welches  eine  Art  Eimer 
vorstellt.  Die  characteristischen  Striche  dieses  Zeichens 
finden  sich  in  derselben  Reihenfolge  und  Symmetrie,  sämmt- 
lich  in  dem  Ghiniel  der  Quadratschrift  wieder,  welche  in 
diesem  Bpeci eilen  Falle  eine  sehr  alterthümliche  Form  dar- 
zustellen scheint.  Wenn  man  aus  dem  Verschwinden  des 
ya/ijiia-Lautes  in  koptischen  Wörtern  bis  auf  wenige  Spuren 
(z.  B.  anuc  =  anok  ich)  den  Schluss  gezogen  hat,  dass  den 
alten  Aegyptern  der  (/-Laut  überhaupt  fremd  gewesen  ,  so 
vergisst  man,  dass  sehr  viele  Gutturalen  in  die  Quetschlaute 
djandjia  und  c'ima  übergegangen  sind.  Für  die  constante 
Vertretung    unseres    Zeichens    durch   J  citire    ich    blo^s    De 


88  Sitzung  der  philos.-philol.  Gasse  vom  1.  Juni  1867. 

Rouge's3)  Ausspruch:  „3  et  £  (gh)  sont  presque  toujours 
renclus  par"  (folgt  die  Hieroglyphe,  welche  unserem  dritten 
Buchstaben  entspricht). 

d.  Dieser  Laut  wird  dem  Altägyptischen  ebenfalls  ab- 
gesprochen, weil  er  nur  in  griechischen  Wörtern  und  Namen 
nicht  aber  in  eigentlich  koptischen  erscheine.  Allein  mit 
grösserem  Rechte  als  die  Media  d,  könnte  mau  die  Tenuis 
t  ihm  absprechen,  da  die  Kopten,  obgleich  tuv  schreibend, 
den  Buchstaben  doch  Bau 4)  benennen.  Es  ist  eben  im 
Koptischen,  wie  in  vielen  andern  Sprachen,  Media  und  Tenuis 
in  einen  Zwischenlaut  übergegangen ,  den  auch  die  Süd- 
deutschen besitzen  —  ist  aber  desswegen  der  Unterschied 
dreier  Dentalen  im  Gothischen  (d,  t,  th)  ein  willkürlicher, 
oder  nicht  lautlich  vorhanden  gewesen?  Zum  Beweise  aber, 
dass  bei  den  alten  Aegyptern  die  Media  d  bekannt  und 
üblich  war,  erinnere  ich  bloss  an  die  Bemerkung  De  Rouge's:5) 
„le  1  est  transscrit  par  (die  Hieroglyphe  Hand)  avec  une 
preference  marquee",  sowie  an  die  weitere  Thatsache  von 
höchster  Wichtigkeit  für  die  Palaeographie,  dass  die  hierati- 
sche Hand  (tot  oder  dod)  mit  dem  hieratischen  Mund  (ro) 
graphisch  so  sehr  zusammenfällt ,  dass  die  gründlichste 
Kenntniss  der  Gruppen  dazu  gehört,  um  sie  nicht  beständig 
mit  einander  zu  verwechseln.  Wem  fällt  hiebei  nicht  die 
Aehnlichkeit  von  Daletht  mitResch~  ein?  Diese  einzige  That- 
sache dürfte  genügen,  den  Ursprung  der  semitischen  Buch- 
staben aus  dem  Aegyptischen  und  speciell  dem  Hieratischen, 
bereits  als  sehr  wahrscheinlich  zu  empfehlen.  Das  Delta 
heisst  im  Aethiopischen  Dent. 

e  u.  e.  Die  Kopten  nennen  diese  zwei  Buchstaben  e*  u.  hida, 


3)  Chrestomathie  egyptienne  p.  30. 

4)  Tnki:  Rudimenta  linguae  coptae  sive  Aegyptiacae  (Rom.  1778). 

5)  pag.  33  seiner  Chrestomathie. 


Lairth:  Der  ägypt.   Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.         89 

genau  dem  Altgriechischen  entsprechend  und  mit  einer  Andeut- 
ung, dass  ihnen  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  H  als  einer 
Gutturalis,  (wie  im  latein.  Alphabete  H)  noch  nicht  entschwun- 
den war.  Die  palaeographische  Herleitung  des  phoenikischen  he 
und  chet  aus  den  hieratischen  Zeichen  (der  maeandrischen  Figur 
und  des  sogenannten  Siebes)  kann  daher,  nachdem  der  laut- 
liche Uebergang  im  Vocale  durch  anderweitige  Analogieen 
vermittelt  ist,  um  so  weniger  eiuer  Beanstandung  unter- 
liegen. Aber  die  Frage,  ob  die  alten  Aegypter  unter  ihren 
phonetischen  Hieroglyphen  auch  eine  für  den  e-Laut  gehabt 
und  gebraucht  haben,  ist  damit  noch  nicht  beantwortet. 
Uebrigeus  ist  dieser  Punkt  dahin  zu  erledigen,  dass  dem  e 
ein  o  parallel  zu  gehen  pflegt  und  dieses  letztere  in  der 
älteren  Zeit  eben  so  wenig  sich  ausgebildet  hatte,  als  das 
erstere.  Die  alten  Aegypter  kannten  —  und  dieser  Um- 
stand spricht  sehr  zu  Gunsten  der  Alterthümlichkeit  ihres 
Schriftsystems  —  nur  die  drei  Grundvokale  a,  i,  u,  deren 
pyramidale  Entstehung  ich  am  Schlüsse  etwas  gründlicher, 
als  es  bisher  geschehen  ist,  untersuchen  werde.  Die  Zwischen- 
vokale e  und  o  inhaerirten  entweder  gewissen  Consonanten, 
o.ler  sie  blieben,  weil  in  der  Sprache  nicht  anlautend,  unbe- 
zeichnet.  oder  sie  wurden  in  Ausnahmsfällen  durch  eigene 
Zeichen  ausgedrückt.  Auf  das  e  zurück  zu  kommen ,  muss 
man  es  dem  Altägyptischen  einerseits  absprechen,  anderer- 
seits ein  Analogon  dazu  in  dem  Rohr  blatte  erkennen, 
welches  desshalb  in  gewissen  Wörtern  (z.  B.  atef  im  Vergleiche 
mit  tef  Vater)  als  leichtester  Vocal  stehen  und  wegfallen 
mochte.  Verdoppelt  ergiebt  dieses  Rohrblatt  den  Laut  i 
wie  im  Englischen  ee  =  i6).  Auch  im  Devanagari  wird 
das  ursprünglich  allen  Consonanten  nachschlagende  a  später 


6)  De  Rouge   findet  es    p.  26    seiner  Chrestomathie  wahrschein- 
lich, dass  das  Rohrblatt  allein  schon  dem  i-Laute  nahe  gestanden. 


90  Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

zu  o  oder  ö,  während  e  und  ö  als  Diphthonge  zu  betrach- 
ten sind.  Wie  wandelbar  die  ägyptischen  Vokale  gewesen, 
ergiebt  sich  aus  der  Präposition  au  (ad),  die  im  Koptischen 
zu  6  (e)  geworden  ist.  Ob  ein  langes  e  allenfalls  durch 
Verbindung  eines  a  mit  i  zu  ai  =  e  oder  sonstwie  hervor- 
gebracht wurde,  lässt  sich  jetzt  noch  nicht  bestimmen.  Das 
tj  von  'Aqöivöt]  wird  wenigstens  einmal  (Lepsius:  Königs- 
buch Nr.  695)  durch  ai  bezeichnet. 

so  und  ziäa.  So  nennen  die  Kopten  den  6.  und  7. 
Buchstaben  ihres  Alphabets;  in  der  Sprache  selbst  ist 
ersteres  nicht,  sondern  nur  als  Zahlzeichen  für  6  gebräuch- 
lich. Aber  es  verdient  Beachtung,  dass  der  Anlaut  s,  den 
sie  diesem  Zeichen  geben,  ähnlich  wie  das  griechische  Ort 
(ödT),  dem  semitischen  sajin  noch  entspricht.  Was  das 
Zeichen  betrifft,  das  sogenannte  iniörifxov  ßav ,  so  werde 
ich  unten  beim  fei  darauf  zurückkommen.  Das  dem  Laute 
des  so  (sajin)  zu  Grunde  liegende  hieratische  Zeichen  ent- 
spricht palaeographisch  dem  Z ;  es  ist  nämlich  der  junge 
Adler,  welcher  nach  Horapollo  (II,  2)  unter  anderen  Be- 
deutungen auch  die  von  ccqqsv jydrov  hatte,  was  durch  die 
Texte  bestätigt  wird.  Es  wechselt  dieses  Zeichen  häufig 
mit  den  dem  zade  constant  entsprechenden  Homophonen, 
die  ich  unter  Djandja  besprechen  werde,  gerade  wie  im 
Semitischen  sajin  und  zade7)  sich  beständig  gegenseitig 
vertreten. 

thida.  Dieser  neunte  Buchstabe,  aus  dem  zangen- 
artigen  Werkzeuge  entstanden,  wechselt  bisweilen  mit  dem 
sogenannten  Halbkreise  (t)  und  dem  Zeichen  für  den  Laut 
th,  erscheint   dagegen    in    gewissen  Gruppen    constant,    also 


7)  Wenn  im  koptischen  an z ehe  (schola)  ausnahmsweise  ein 
z  erscheint,  so  lehren  alte  Inschriften  z.  B.  das  Ostrakon  des  Münchner 
Antiquariums,  dass  dieses  Wot  in  a-nt-sebe  „Haus  des  Unterrichts-' 
zu  zerlegen  und  also  z  =  ts  zu  lesen  ist. 


Lauth:  Der  ägypt.   Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.  91 

als  eigenthümlicher  Laut,  den  ich  mit  dh  umschreibe.  Er 
nähert  sich  palaeographisch  dem  d  (Hand)  r  (Mund)  so 
wie  dein  aus  dem  segment  de  sphere  entstandenen  hierati- 
schen Zeichen  für  t.  (Dass  letzteres  nicht  ins  phönikische 
Alphabet  übergegangen  ist.  erklärt  sich  au?  seiner  Rolle 
als  Artic.  femin.  postpos.  und  weil  es  bisweilen  stumm  oder 
expletiv  ist).  Desshalb  ist  der  an  der  Biegung  angebrachte 
Strich,  wenn  auch  nicht  willkürlich,  doch  in  gewissem  Sinne 
diakritisch  und  hat  sich  derselbe  bis  in's  Demotische  8)  herab 
erhalten.  Am  deutlichsten  zeigt  sich  dieser  Strich  in  dem 
dh  des  IVschito  und  des  Kufi,  weniger  im  phönikischen  und 
hebräischen  dh  B,  weil  in  diesen  beiden  die  Zange  nach 
oben  gerichtet  erscheint. 

jauda.  So  nennen  die  Kopten  das  'Iura  —  ob  aus 
Reminiscenz  an  den  Namen  des  i  in  ihrem  einheimischen 
Alphabete?  Wie  schon  oben  bemerkt,  entsteht  das  ägyp- 
tische i  durch  Verdoppelung  des  Rohrblattes,  im  Demotischen 
sind  es  drei  senkrechte  Striche,  und  erst  aus  dieser  Form 
scheinen  sich  das  phoenikische,  aramaeische  und  samara- 
tanische  i  mit  je  drei  Strichen  zu  erklären.  Dagegen  weisen 
alle  anderen  Entwicklungen  auf  das  Doppelblatt,  beziehungs- 
weise sogar  auf  das  einfache  Rohrblatt  zurück,  weil  dieses 
durch  einen  schrägen  Querstrich  in  drei  Theile  zerlogt  wird. 
Es  gab  übrigens  schon  im  Altägyptischen  der  Hieroglyphen 
ein  vereinfachtes  i,  nämlich  zwei  kleine  schräge  Striche  (so 
gestellt,  um  die  Verwechslung  mit  dem  Numerale  für  2  zu 
vermeiden)  und  diese  bildeten  in  der  mehr  cursiven  hierati- 
schen Schreibweise  einen  zusammenhängenden  Schriftzug. 
aus  dem  sich  alle  andern  Formen    mit   Leichtigkeit  ableiten 


8)  De  Ronge  Chrestom.  egypt.  pag.  50.  pl.  II  unter  t  hat  dieses 
demotische  Zeichen  nicht,  sondern  dafür  das  aus  1h  entstandene. 


92  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

lassen.      Das    aethiop.   jaman     „rechte    Hand",    hängt  ver- 
muthlich  mit  dem  Kopt.  ionam  dextra  zusammen. 

Je,  genannt  kabba.  Man  hat  bisher  zwischen  dem  so- 
genannten Henkelkorbe  und  dem  hebräischen  Kaph  keine 
rechte  Aehnlichkeit  entdeckt ,  die  doch  wegen  der  Laut- 
congruenz  zu  erwarten  stand,  weil  man  die  bekannten  Ke- 
phuloth  oder  Endbuchstaben  nicht  gehörig  berücksichtigte. 
Sobald  man  diess  thut,  entsteht  eine  nicht  zu  verkennende 
Identität  zwischen  beiden.  Im  Koptischen  c'ima  (siehe  weiter 
unten)  ist  der  K-Laut  gequetscht,  wie  das  italienische  c  und 
daher  die  Entlehnung  dieses  Zeichens  aus  dem  einheimischen 
Alphabete,  während  für  den  Laut  k  das  griechische  Hanna 
verwendet  wurde.  Dieses  K  mit  seinen  zwei  Winkelstrichen, 
wo  man  nur  einen  erwarten  sollte,  erklärt  sich  aus  der 
Quadratschrift,  wo  eine  Basis  hinzugefügt  wurde,  die  dann 
etwas  höher  hinaufrückte,  z.  B.  schon  im  phoenikischen  K. 
In  den  älteren  Inschriften  z.  B.  der  Pyramidengräber  bilden 
die  beiden  erhobenen  Arme  eine  häufige  Variante  des  Henkel- 
korbes; später  wechselt  dieses  Je  mit  dem  winkelartigen 
Zeichen  für  q.  Dieser,  obgleich  seltenere  Wechsel,  sowie 
die  Gruppirung  qk  ist  aus  der  Vermengung  der  gutturalen 
Liquida  mit  der  Tenuis  gutturalis  zu  erklären,  wie  man 
sich  schon  aus  der  Schreibung  des  Namens  Scheschaq 
überzeugen  kann,  der  im  Aegyptischen  als  Scheschaq  und 
Scheschanq  erscheint,  während  ihn  Manetho  mit  Säaoyx1? 
umschreibt.  Wenn  daher  das  ägyptische  Jwqer  (fames)  mit 
unserm  ..Hunger"  stammverwandt  sein  sollte,  so  Hesse 
sich  der  Mangel  des  n  leicht  aus  der  Natur  der  gutturalen 
Liquida  begreifen.  Eben  so  erklärt  sich  das  allmälige  Ver- 
schwinden dieser  gutturalen  Liquida  aus  dem  Alphabete 
durch  die  Neigung  der  Liquida  n,  sich  selbständig  zu  machen. 
Daher  ward  xonna  im  Griechischen  nur  als  noch  Zahl- 
zeichen (iniörjfxov)  für  90  gebraucht;  die  Kopten  verwende- 


Lauth:  Der  ägypt.  Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.        93 

ten  zu  diesem  Zwecke  ihr  fei,    weil  es  palaeographisch  mit 
xonnu  zusammenfiel. 

I  m  n  r.  Diese  vier  Liquidae,  von  denen  die  erste 
und  letzte  sich  im  Aegyptischen  so  häufig  lautlich  gegen- 
seitig vertreten,  liefern  den  augenscheinlichsten  Beweis  für 
die  Herkunft  des  phoenikischen  Alphabetes  aus  dem  Aegyp- 
tischen. Was  zuerst  das  l  betrifft,  so  ist  kein  Zweifel,  dass 
der  hieratische  Löwe  das  Vorbild  des  Lamed  Xd/iß6ce  etc. 
gewesen  und  es  möchte  sogar  der  koptische  Name  laula  so 
wie  das  aethiopische  Lmvi  noch  eine  Andeutung  enthalten, 
dass  den  späteren  Aegyptern  der  Ursprung  des  betreffenden 
Zeichens  noch  geläufig  war.  In  der  That  mussten  die  Ge- 
bildeteren, welche  nach  Clemens  mit  der  demotischen  Schrift 
anfingen  und  durch  die  Mittelstufe  des  Hieratischen  zu  den 
Hieroglyphen  selbst  aufstiegen,  die  ursprünglichen  Bilder 
wohl  kennen  und  da  labi  oder  lavi  der  Name  des  Löwen 
war,  so  konnte  mit  Rücksicht  darauf  Xä(iß6a  zu  laula 
werden.  Dass  die  Nachteule  (kopt.  muladj)  den  m-Laut 
bezeichnet,  ist  bekannt;  ob  aber  der  Name  fiv  (Kopt.  mi) 
aus  dem  semitischen  mem  verkürzt  oder  aus  einem  älteren 
mu  entstanden  ist,  lässt  sich  noch  nicht  entscheiden.  Nach 
Horapollo  bezeichnet  der  vvxtix6qu%  unter  andern  auch 
xrävavog  und  die  Denkmäler  bestätigen  diese  Angabe,  indem 
die  Nachteule,  mit  den  Deutbildern  der  Erdscholle  und  des 
abwehrenden  Mannes  oder  dem  Determinatice  desUebels  be- 
gleitet, stets  Tod  oder  sterben  bedeutet  (kopt.  mu  =  mors 
und  mori).  Die  palaeographische  Vermittlung  zwischen  der 
hieratischen  Nachteule  und  dem  semitischen  m  ist  einfach 
und  leicht  zu  finden;  man  braucht  nur  die  ältesten  Formen, 
die  im  Papyrus  Prisse  nebeneinander  vorkommen,  in  ihrem 
oberen  Theile  zu  combiniren  und  zu  bedenken,  dass  das  m 
der  Quadratschrift,  (sogar  das  Kephuloth-w)  einen  unteren 
Querstrich  als  Basis  erhalten  hat.  Dasselbe  gilt  vom  nun, 
nur    dass   das  Kephuloth-M    diesen    unteren  Querstrich  nicht 


94  Sitzung  der  philos  -philöl.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

aufweist,  wie  es  auch  in  der  Ordnung  ist.  Denn  das  n  ent- 
steht palaeographisch  aus  der  Wellenlinie,  die  im  Hierati- 
schen zu  einer  wagrechten  Geraden  wird,  nur  dass  Anfang 
und  Ende  gewahrt  sind,  woraus  dann  ein  gezogenes  nj 
sich  mit  Notwendigkeit  ergab.  Unser  deutsches  Schreib-« 
ist  sogar  zufällig  wieder  zu  der  wellenförmigen  Linie  zu- 
rückgekehrt. Der  Name  nun  (vv  kopt.  ni)  könnte  daher 
recht  gut  altägyptisch  sein,  da  nach  Morapollo  (I,  21),  den 
Denkmälern  und  dem  Koptischen  vovv  oder  vov  den  Nil9) 
oder  abyssus  überhaupt  bedeutet.  Ueber  r  als  Vertreter 
des  l  habe  ich  schon  oben  gesprochen  und  werde  weiter 
unten  darauf  zurückkommen. 

exi  und  ebsi.  Diese  beiden  Doppelkonsonanten ,  dem 
£  und  xp  entsprechend,  finden  sich  natürlich  im  Altägypti- 
schen nicht;  sie  sind  ja  auch  im  griechischen  Alphabete 
eino  ziemlich  späte  Erscheinung.  Aber  £  nimmt  die  Stelle 
des  samech  ein,  dessen  Name  (ö(yiia)  das  alte  Oa'v  ver- 
drängt hat,  und  es  fragt  sich  daher,  welches  hieratische 
Zeichen  dem  alten  Samech  entspricht  Lässt  man  vom 
samech  der  Quadratschrift  die  Basis  weg,  so  entsteht  ein 
Zeichen,  das  dem  hieratischen  siphon  genau  entspricht  und 
sich  dem  aramäischen  samech  auffallend  nähert.  Anderer- 
seits wird  das  hieratische  Zeichen  zu  dem  sogenannten 
nX6xccf.wg  oder  S  neben  2.  Auf  einen  ähnlichen  Vorgang 
weist  der  Gebrauch  eines  Schlussö/y^ta  g  neben  (7,  so  wie 
unser  langes  f  neben  s. 

s.  Für  den  s-Laut  verwendeten  die  Kopten  das  Otypcc 
lunatum  (C)  unter  der  Benennung  sima.  Es  scheint,  dass 
die  graphische  Verwandtschaft    des  C  mit   dem   c'ima  auch 


9)  Mit  Hinzufügung  von  hei  (her  =  superior)  wird  daraus  Nuhel, 
Nahal,  Nellos.  i 


Lautlr.  Der  ägypt.   Ursprung  unterer  Buchstaben  etc.         9;> 

die  Namens  form  ung  beemflusst  hat.  Hier  will  ich  nur  noch 
darauf  hinweisen,  dass  der  Vorschlag  eines  Vokales  vor 
Sibilanten  am  Anfange  eines  Wortes,  wie  er  im  Koptischen 
so  häufig  erscheint,  auf  eine  alte  Gewolmheit  zurückgibt  n 
könnte,  nach  der  wir  den  Buchstaben  ebenfalls  es,  nicht  se 
zu  benennen  pflegen. 

o.  Dum  semitischen  Ain  (Oin)  y  entspricht  in  Trans- 
scriptionen von  Namen  constant  der  ägyptische  Arm,  dessen 
Biegung  am  Ende  zu  der  runden  Form  unseres  o  geführt 
hat.  Das  Wort  äni,  dem  hebr.  ]"#  entsprechend,  erscheint 
mit  der  nämlichen  Bedeutung  (Auge)    schon  sehr  frühzeitig. 

p.  Alle  Formen  des  semitischen  pe  entstammen  dem 
hieratischen  Bilde  der  Matte,  besonders  wenn  man  das 
Kephuloth-^)  berücksichtigt.  Es  ist  nicht  ein  conventionelles 
Bild  des  Himmels ,  wie  ich  selbst  früher 10)  mit  Anderen 
angenommen  hatte,  weilte  (im  Koptischen  „der  Himmel") 
durch  seine  Gestalt  an  das  II  der  Griechen  erinnert,  sondern 
ein  Geflecht  mit  Abtheilung  in  der  Mitte,  wie  man  es  unter 
den  Bastarbeiten  noch  antrifft.  Der  homophonisch  dafür 
eintretende  Vogel  mit  ausgebleiteten  Flügeln  wurde  dem 
hieratischen  Ja- Vogel  zu  ähnlich,  als  dass  nicht  daraus  schon 
in  uralter  Zeit  Verwechslungen  entstanden  sein  sollten. 
Ueber  die  nach  pe  folgenden  zaäe  und  qopli  vergleiche  man 
das  oben  Gesagte  und  das  weiterhin  unter  c'ima  Beizu- 
bringende. 

ro.  So  nennen  die  Kopten  mit  den  Griechen  (qm)  den 
dem  semitischen  resch  entsprechenden  Buchstaben  Es  ver- 
dient gewiss  Beachtung,  dass  der  Mund,  dessen  Bild  die 
Hieroglyphe  und  das  daraus  entstandene  hieratische  Zeichen 
darstellt,  im  Koptischen  noch  ro  heisst.  Ueber  die  graphische 
Verwandtschaft  dieses  Buchstabs  habe  ich  oben  gesprochen, 


10)  Universal- Alphabet  p.  61. 


96  Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  1,  Juni  1867. 

ebenso  über  die  gegenseitige  Vertretung  von  l  und  r.  Im 
Demotischen  wird  der  Löwe,  als  einfacher  schräger  Strich 
gebildet,  auch  zur  Bezeichnung  des  Wortes  re  (pars)  ver- 
wendet und  erzeugt  zuletzt  den  Bruchstrich,  dessen  wir 
uns  fortwährend  bedienen,  wie  denn  auch  ein  hieroglyphisches 
/3  =    ]/3  ist. 

t.  Der  Name  tav  wird  von  den  Kopten  äau  lautirt, 
woraus  aber  gegen  die  ursprüngliche  Geltung  des  t  als 
einer  tenuis  nichts  gefolgert  werden  darf.  Denn  das  hiera- 
tische Zeichen,  welches  ich  dem  n  gegenübergestellt  habe, 
entspricht  diesem  palaeographisch  und  phonetisch  zu  regel- 
mässig, als  dass  man  ihrer  Identität  zweifeln  dürfte.  Mit 
den  sonstigen  Uebergängen  in  verwandte  Dentalen  habe  ich 
mich  hier  nicht  zu  befassen,  nachdem  ich  oben  unter  thida 
das  Nöthige  beigebracht  habe.  Dass  Thav  nicht  das  Kreuz 
bedeutet  hat,  wenigstens  nicht  im  Aegyptischen,  und  dass 
es  daher  nicht  nothwendig  den  Schluss  bezeichnet,  um,  wie 
man  gemeint  hat,  die  Signatur  des  Alphabet-Erfinders  vor- 
zustellen, lehrt  ein  Blick  auf  das  betreffende  hieratische 
Zeichen.  Es  scheint  eine  Art  Beutel  zu  sein,  und  dann 
liesse  sich  das  koptische  thevi  (loculus)  zur  Erklärung  bei- 
ziehen. 

v.  Das  v  ipdöv  benennen  die  Kopten  he,  wohl  nur  dess- 
halb,  weil  v  als  Anlaut  im  Griechischen  nie  ohne  den  Spi- 
ritus asper  auftritt.  Dass  v  ursprünglich  die  Lautung  u 
gehabt,  beweist  die  Stelle  dieses  Buchstabs  im  lateinischen 
Alphabet  hinter  t,  nicht  minder  aber  auch  die  sprachliche 
Analogie,  wonach  u  zu  ü  (v)  wird,  so  dass  man  dann  geuöthigt 
ist,  aus  o  -f-  v  =  ov  sich  ein  neues  Zeichen  für  den  £7-Laut  zu 
formiren.  Dieses  nahmen  die  Kopten  mit  dem  griech.  Alphabete 
herüber  obgleich  ihre  einheimische  Schrift  ein  eigenes  und 
einfaches  Zeichen  für  den  w-Laut  gehabt  haben  muss,  da 
er  noch  im  koptischen  Lexikon  statistisch  der  häufigste 
Vokal  ist.  In  der  That  zeigen  die  altägyptischen  Wörter  fast 


Laitth:  Der  ägypt.  Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.        97 

sämmtlich  den  Vocal  u  und  zwar  unter  der  Gestalt  des 
Pharaonenhühnchens,  wie  ich  schon  früher11)  behauptet 
hatte.  Vergleicht  man  nämlich  die  hieratische  Form  dieses 
Vogels  mit  V  und  Y,  so  wird  die  grosse  Analogie  derselben 
einleuchten.  Wie  es  gekommen,  dass  dieser  Vokal  aus  dem 
semitischen  Alphabet  verschwunden  ist  und  in  dem  akro- 
phonischen  Psalme  durch  eine  Wiederholung  des  pe  nur 
schwach  augedeutet  ercheint,  habe  ich  ebendaselbst  erörtert: 
die  nahe  lautliche  Verwandtschaft  mit  dem  Faf  (ßccv)  be- 
wog  dazu ;  sie  ist  auch  Schuld,  dass  wir  dem  v  noch  immer 
den  Namen  vau  beilegen. 

Ueber  phi,  chi,  ebsi  (xpi)  und  eo  fxeyu  brauche  ich  hier 
nichts  zu  sagen :  ihre  graphische  Entstehung  durch  Differen- 
zirung,  Entlehnung  der  Zahlzeichen  oder  Verdoppelung  habe 
ich  im  Universal-Alphabete  zur  Genüge  behandelt.  Es  ver- 
steht sich  von  selbst,  dass  wir  die  Prototype  dieser  Buch- 
staben nur  im  semitisch-griechischen ,  nicht  aber  im  alt- 
ägyptischen Alphabete  zu  suchen  haben. 

Es  folgen  nun  die  sieben  letzten  Buchstaben  des  kopti- 
schen Alphabets,  d.  h.  diejenigen,  welche,  weil  speeifisch 
ägyptische  Laute  vertretend,  die  das  Griechische  nicht  be- 
sass,  aus  dem  einheimischen  Alphabete  entnommen  wurden. 
Wie  sicher  man  hiebei  verfuhr,  beweist  am  besten  das  zu- 
nächst folgende  schei.  Die  Griechen  hatten  diesen  breiten 
Zischlaut  aufgegeben,  aber  das  dorische  o~aV,  das  später  als 
im'örjfiov  für  900  verwendet  wurde ,  was  ist  es  anders  als 
W ?  Die  Kopten  griffen  auf  ihr  schei  zurück,  weil  sie  ein 
Zeichen  für  diesen  in  ihrer  Sprache  so  häufigen  Laut  nöthig 
hatten,  gerade  wie  Cyrillus  für  die  slavischen  Idiome  das 
hebräische  schin  entlehnte.  Dass  dieses  slavische  seh  an 
Gestalt  dem  koptischen  schei  so  identisch  ist,    rührt  daher, 


11)  Universal- Alphabet  pag.  17. 
[1867.  II.  1.] 


98  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

weil  auch  das  semitische  seh,  wie  das  koptische,  aus  dem 
hieratischen  entnommen  war.  Dieser  Buchstabe  bildet  einen 
starken  Beweis  für  die  Herkunft  des  phoenikischen  Alpha- 
bets aus  dem  ägyptischen. 

Nicht  minder  das  nun  folgende  fei.  Aus  der  gehörn- 
ten Schlange  (xsoaOTrjg)  entwickelte  sich  ein  hieratisches 
Zeichen,  welches  dem  Faf  (l),  dem  sogenannten  Digamma 
(richtiger  Bccv),  dem  lateinischen  F,  dem  runischen  fey 
ebenso  zu  Grunde  liegt,  wie  dem  koptischen  fei.  Dagegen 
ist  der  nächste  Buchstab,  nämlich  das  chei  (khei),  zum 
Ausdrucke  der  starken  Aspirata  gutturalis  bestimmt,  von 
X?  etwas  verschieden,  und  da  die  Aspiraten  sich  auch  im 
Griechischen  erst  spät  entwickelt  haben,  auf  das  ägyptische 
Sprach-  und  Schriftgebiet  eingeschränkt  gewesen.  Hier  aber 
treffen  wir  das  Zeichen  in  doppelter  Geltung:  als  Buchstab 
und  als  Zahlzeichen  für  1000  mit  der  Lautung  scho,  also 
sibilirt.  Auch  palaeographisch  erleidet  es  in  letzterer  Be- 
ziehung eine  grössere  Veränderung,  sobald  die  Zahlen 
2000—9000  dadurch  ausgedrückt  werden.  Aber  als  Buch- 
stab Jchei  ist  es  fast  unverändert  aus  dem  ägyptischen  in 
das  koptische  Alphabet  übergegangen. 

An  dieses  Jchei  schliesst  sich  h  mit  dem  Namen  hori. 
Es  ist  vorderhand  noch  zweifelhaft,  ob  das  koptische  hori 
aus  der  maeandrischen  Figur  oder  aus  dem  sogenannten 
Stricke  sich' entwickelt  hat;  vielleicht  verhilft  uns  in  der 
nächsten  Abtheilung  sein  Name   auf  die  richtige  Spur. 

Nunmehr  kommen  zwei  Quetschlaute:  djandja  und 
c'ima.  Ihre  nahe  Verwandtschaft  wird  durch  ihren  häufigen 
Wechsel  nahe  gelegt;  dass  aber  ursprünglich  eine  grössere 
Verschiedenheit  zwischen  beiden  bestanden  hat,  beweisen  die 
älteren  Inschriften,  wo  ihre  Prototype  niemals  wechseln.  Es 
ist  nämlich  die  Hieroglyphe,  aus  der  das  djandja  entsprun- 
den  ist  (Champollion  übersetzt  den  Namen  mit  „Demoiselle 
de  Nubie")    der  constante  Vertreter  des  zade.   Aber  palaeo- 


Lauth:  Der  ägypt.  Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.         99 

graphisch  ist  zach,  besonders  in  seiner  Kephuloth-Form  y, 
diu  Schlange  (djatfi) ,  welche  als  Homophone  für  eben 
jenes  djandja,  sowie  für  das  oben  erläuterte  Prototyp  des 
sajin  einzutreten  pflegt.  Erst  in  der  jüngsten  Epoche  steht 
bisweilen,  z.  B.  gerade  in  dem  Namen  der  Schlange  (djatfi) 
der  Anlaut  c'  (c'atfi),  aus  welchem  urspiünglichen  K-Laute, 
wie  im  Italienischen,  der  Quetschlaut  geworden  ist.  Daraus 
erklären  sich  alle  gegenseitigen  Vertauschungen  in  befriedi- 
gender Weise. 

Den  Schluss  des  koptischen  Alphabets  bildet  dns  dei, 
ein  Syl benzeichen,  analog  dem  thav  des  semitischen 
Alphabets,  aber  durch  seine  Syllabität  auf  den  alten  Cha- 
rakter des  ägyptischen  Alphabets  als  eines  Syllabariums 
noch  deutlich  hinweisend.  Die  Aussprache  di,  welche  Tuki 
dem  Zeichen  giebt,  wird  jetzt  allgemein  angenommen  gegen 
die  frühere  ti,  welche  aus  der  unrichtigen  Annahme  einer 
Ligatur  aus  T  -f-  I  entstanden  war.  Dieses  Sylbenzeichen 
di  ist  das  nämliche,  von  welchem  Diodor  (III,  p.  101  Steph.) 
spricht  mit  den  Worten:  ,,r&Jv  d'dxQooTrjoieov  r>  iitv  öi-^ia 
rovg  dccxTvXovg  ixTiraiurovg  s%ovGct  Gr^ucch'fi  ßi'ov  Tto- 
QiOfiov".  In  der  That  bedeutet  di  (früher  da)  beständig 
dare,  oder  vielmehr  didorai  und  ti&tircti  zugleich ,  wie  ja 
auch  das  lat.  do  beide  Bedeutungen  enthält  (z.  B.  in  ab- 
scondo). 

Mit  der  Annahme  des  griechischen  Alphabets  haben 
also  die  Kopten  nur  ein  uraltes  Eigenthum  ihrer  Vorfahren 
wieder  an  sich  gezogen  und  mit  den  nöthig  gewordenen  Zu- 
sätzen aus  eigenem  Schütze  versehen,  sich  daraus  ein  Al- 
phabet gebildet,  das  auch  uns  bedeutsame  Winke  für  das 
gäyptische  Alterthum  gibt. 


7* 


100         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Indem  ich  nunmehr  zur  Beantwortung  der  Frage  über- 
gehe, ob  die  alten  Aegypter  ein  Alphabet,  wenn  auch  vor- 
erst nur  in  dem  Sinne  eines  Syllabar's,  gekannt  haben,  ver- 
hehle ich  mir  die  Schwierigkeiten  des  Unternehmens  keines- 
wegs. Uebrigens  dürfte  der  Umstand ,  dass  uns  zuletzt 
sieben  Buchstaben  mit  Eigennamen  begegnet  sind,  ein 
günstiges  Vorurtheil  für  die  bejahende  EntscheiduDg  bilden. 
Von  dem  letzten  Zeichen  dei  ist  es  gewiss,  dass  es  der 
alten  Schrift  entnommen  ist ;  nur  der  Punkt  bleibt  zweifel- 
haft, ob  zur  Zeit  der  Entlehnung  des  griechischen  Alphabets 
durch  die  Kopten  die  media  dentalis  nur  noch  mit  dem  in- 
haerirenden  Vocale  *  vorkam,  oder  ob  sie  auch  sonst  noch 
gebräuchlich  war.  Der  auf  speciell  griechische  Wörter  ein- 
geschränkte Gebrauch  des  J  (d)  beweist,  dass  ein  da,  de, 
do,  du  nur  in  dem  Sinne  gelten  konnte,  als  sie,  wie  xav 
zu  dau,  von  der  Tenuis  zur  Media  gesunken  waren.  Weit 
entfernt  also,  dass  die  koptische  Sprache  der  Media  entbehrt 
hätte,  besass  sie  dieselbe  sogar  in  grösserem  Umfange ,  als 
das  Altägyptische.  Um  die  verwickelten  Erscheinungen  des 
Wechsels  der  Dentalen  etwas  besser  zu  begreifen,  darf  man 
auch  nicht  vergessen,  dass  sich  frühzeitig  dialektische  Ver- 
schiedenheiten ausgebildet  hatten,  so  dass  z.  B.  dem  the- 
banischen  (sahidischen)  p,  k,  t  oft  ein  memphitisches  <p  x, 
■fr  entspricht ,  während  die  baschmurische  Mundart  dem  r 
der  beiden  andern  Dialekte  fast  regelmässig  ein  l  gegen- 
überstellt. 

Es  wird  uns  jetzt  vielleicht  der  Name  hori  etwas  ver- 
ständlicher werden.  Unter  den  Neuern  hat  Lepsius 12) 
dieses  hori  auf  den  Namen  des  Horus  gedeutet  und  ich 
war  früher  selbst13)   geneigt,  diess  anzunehmen,    weil    auch 


12)  Zwei  sprachvergleichende  Abhandlungen  p.  68. 

13)  Universal-Alphabet  p.  168,  169. 


Lauth:  Der  ägypt.   Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.       101 

im  Aethiopischen  der  erste  Buchstab  hol  heisst.  Allein  ich 
verhehlte  mir  nicht,  dass  im  Armenischen  das  Alphabet  mit 
aib  oder  ipe  beginnt,  welches  zu  nahe  an  den  von  Plutarch 
als  ersten  Buchstab  des  ägyptischen  Alphabets  genannten 
Ibis  anklingt.  Allerdings  treffen  wir  den  Namen  Horus  auch 
phonetisch  geschrieben,  aber  meist  wird  er  durch  sein  Sym- 
bol, den  Sperber,  vertreten,  der  nicht  zu  den  alphabetischen 
Zeichen  gehört.  Ich  glaube  desshalb,  dass  wir,  wie  beim 
dei,  den  Namen  hori  als  das  nomen  proprium  des  Zeichens 
selbst  zu  betrachten  haben.  Unter  dieser  Voraussetzung 
bietet  sich  das  in  den  koptischen  Compositis  hre-schi,  (tor- 
ques)  eigentlich  funis  mensurae  —  und  smchie-hrei  (catena) 
eig.  longitudo  funis  erscheinende  hrei  als  passendes  Substrat 
für  das  strickartige  Zeichen,  aus  dessen  demotischer  Form 
sich  das  koptische  hori  leicht  entwickeln  mochte. 

Halten  wir  diesen  Gedanken  fest,  dass  die  Namen  der 
Zeichen  von  der  bezeichneten  Sache  hergenommen  wurden, 
so  wird  sich  jetzt  auch  c'ima  erledigen.  Im  Koptischen  be- 
deutet c'oome  tortum  esse  und  wirklich  ist  der  II enkel- 
korb, das  Prototyp  des  Buchstabs  c'ima,  ein  Geflecht,  ge- 
rade wie  der  Halsschmuck  nebt  {nebti  =  implexio  filorum, 
opus  contextum)  dargestellt  wird,  der  bekanntlich  die  Sylbe 
neb  in  Nexzareßcog  ausdrückt.  Dieser  Parallelismus  gereicht 
dem  c'ima  zu  einiger  Empfehlung. 

Schwieriger  ist  die  Herleitung  des  Namens  djandja.  Die 
„demoiselle  de  Nubie"  kann  natürlich  nicht  befriedigen.  Der 
Gegenstand  selbst,  den  die  Hieroglyphe  vorstellt,  scheint  ein 
Gewächs  zu  sein,  das  sich  aus  einer  Ebene  mit  Seitenlappen 
erhebt.  Sonderbarerweise  klingt  hier  das  £i£dnov  (lolium) 
verführerisch  an,  und  wenn  auch  das  nämliche  Kraut  im 
Koptischen  entedj  (dj^ntedj)  lautet,  so  wäre  es  immerhin 
denkbar,  dass  £i£dnov  für  ein  älteres  ^dv^iov  stünde,  wel- 
ches dem    djandja  sehr  nahe  kommt. 

Das  mit  diesem  djaudja  homophone  c'atfi  (Schlange),  das 


102  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Vorbild  des  semitischen  zade,  erscheint  im  koptischen  Al- 
phabete nicht  mehr,  theils  weil  es  durch  djandja  schon  ver- 
treten ist,  theils  wegen  seiner  partiellen  Ersetzung  durch 
zida  {t,vxa). 

Der  Name  fei  für  die  gehörnte  Schlange  {xegäör^g) 
ist  mir  im  Demotischen 14)  und  zwar  in  der  Verbindung 
sechi  en  fei  =  fei  (bilis)  serpentis",  unter  der  Reduplicativ- 
form  fetfet 15)  als  Variante  zu  catfi  und  hofi  (o<pig)  begegnet. 
Die  nasalirte  Form,  welche  die  häufigste  ist,  lautete  fent 
(vermis).  Alle  drei  Gruppeu  sind  durch  die  gehörnte 
Schlange  determinirt.  Es  scheint  mir  daher,  dass  der  ältere 
Name  dieses  Buchstabs  fent  gewesen  ist. 

Das  schei  stellt  eine  mit  Blumen  und  Knospen  bewach- 
sene Fläche  dar.  Da  nun  sc7ie  und  sehe  planta  und  hortus 
bedeuten,  so  brauchen  wir  nach  einem  andern  Etymon  nicht 
weiter  zu  suchen. 

Eben  so  sicher  ist  hhei  (chei)  eine  Pflanze  mit  riegel- 
haubenartiger  B.üthe.  Der  Umstand,  dass  dieses  Zeichen, 
wo  es  für  die  Zahl  1000  gebraucht  wurde,  in  die  Sibilation 
übergetreten  ist  (scJio  =  mille).  während  es  als  Buch- 
stabennamen constant  hhei  lautete,  bestimmt  mich,  es  in 
dem  so  häufigen  lihani  (vegetabile)  wieder  zu  erkennen, 
welches  in  den  ägyptischen  liecepten,  besonders  bei  der 
Summirung  der  Ingredienzien,  regelmässig  getroffen  wird. 

Sind  die  bisherigen  Ableitungen  der  Namen  aus  den 
bezeichneten  Gegenständen  nicht  von  der  Hand  zu  weisen, 
so  wird  es  nunmehr  gestattet  sein,  die  Gesammtheit  der 
phonetischen  Hieroglyphen  nach  Art  eines  Alphabets  mit 
ihren  Eigennamen  vorzuführen.  Ich  befolge  hiebei  immer 
noch  die  koptische  Ordnung. 


14)  Papyr.  gnost.  Leydens.  col.  XVII. 

15)  Todtenbuch  cap.   154  col.  8. 


Laiith:  Der  ägypt.  Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.         103 

0.  a.  Das  Rohrblatt  aki  (kopt.  ake  =  calaraus)  zur 
Bezeichnung  des  kurzen  Urvokales,  das  Prototyp  des  durch 
Verdoppelung  daraus  entstehenden  i.  Ich  habe  ihm  dess- 
halb  keine  eigene  Nummer  gegeben. 

1.  ä.  Der  Falke  afrodj,  oft  durch  das  Rohrblatt  ein- 
geleitet: aä. 

2.  b.  Der  i?a-Vogel,  als  dessen  Vertreter  und  Ein- 
leiter  oft  das  Bein,  manchmal  auch  der  Hauswidder  (ba- 
em-pe)  erscheint.  Von  den  in  der  jüngeren  Epoche  auf- 
tretenden Varianten  für  diese  und  andere  Hieroglyphen  ist 
hier  nicht  der  Ort  zu  handeln.  Ich  habe  in  einem  Auf- 
satze16)  gezeigt,  dass  sie  einer  sehr  alten  aenigmatischen 
Schriftart  entnommen  sind. 

3.  g.  Der  Gegenstand  gat,  in  dem  demotischen  Texte 
der  Inschrift  von  Rosette  öfter  für  vadg  gebraucht.  Er 
könnte  übrigens  auch  einen  Eimer17)  vorstellen,  und  dann 
wäre  das  koptische  Tcadji  situla  zu  vergleichen. 

4.  d.  Die  Hand  dod.  Im  jüngeren  Dialekte  18)  sogar 
zu  djidj  gequetscht.  So  ist  z.  B.  sim-en-g'ig'  mit  der  grie- 
chisch sein  sollenden  Uebersetzung  N  TAKT  versehen,  wel- 
ches man  zu  ,,sim  JV  rfaxrwAog"  zu  ergänzen  und  zu  ver- 
bessern hat.  Es  ist  nämlich  die  Pflanze  Digitalis  gemeint. 
Man  sieht,  wie  dem  koptischen  Schreiber  sein  erstes  tav  =  (7 
lautete. 

5.  e.  Die  maeandrische  Figur  mit  dem  Namen  hau, 
kopt.  liyc  =   mansio. 

6.  dj.  Der  junge  Adler  mit  der  Aussprache  dje  {dg- 
Qsvoyovog),  dem  sajin  und  zida  entsprechend. 


16)  Zeitschrift  für  aegypt.  Sprache  und  Altertumswissenschaft. 
April  1866. 

17)  Wie  Pap.  d'Orbiney:  „ein  Eimer  (gai)  frischen  Wassers",  wo 
Chabas  Melanies  II,  245  ,.plat  d'eau  fraiche"  übersetzt. 

18)  Papyr.  gnost.  Leyd.  Col.  VIII  lin.  6. 


104         Sitsung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

7.  eh.  Das  Sieb  oder  der  Rost  eher  (chera  bei  Kir- 
cher craticula). 

8.  dh.  Dieser  Laut  wurde  später  fast  immer  gequetscht, 
daher  dJii  (capere)  zu  dji  ward  und  das  Instrument  dhi 
(forceps  die  Zange)  im  Koptischen  zu  edjo,   edju,  edjau. 

9.  i.  Der  Anlaut  i  kommt  eigentlich  nur  in  den  zwei 
Zeitwörtern  i(u)  gehen  und  iä  waschen  vor ;  denn  Wörter 
wie  iuma  =  mare  (Dt')  sind  entlehnt.  Aber  eine  Stelle 
des  Todtenbuchs  (c.  102,4)  und  ein  geschichtlicher  Text 19) 
bieten  ein  Substantivum  iu,  determinirt  durch  die  Aehre, 
ein  Holz  oder  ein  Gerüst.  Da  nun  iot  im  Koptischen  hor- 
deum  bedeutet  und  die  Soldaten  das  Doppelgewächs  des  «', 
wenn  auch  in  symmetrischerer  Ordnung ,  auf  dem  Kopfe 
tragen,  so  scheint  dieses  iu  mit  der  Bedeutung  insigne  der 
Name  des  Buchstabs  gewesen  zu  sein. 

10.  q  (ng).  Der  Winkel  Kopt.  höh  (kenhe,  keldje). 
Vergleiche  weiter  unter  Nr.  25  c'ima. 

IIa.  I.  Der  Name  labi  (Löwe)  klingt  noch  im  kopt. 
laula  nach. 

12.  m.  Die  Nachteule  mulag',  vielleicht  ein  Composi- 
tum mit  dem  einfacheren  und  älteren  mu. 

13.  n.     Die  Wellenlinie  mit  der  Lautung  nu  oder  nun. 

14.  s.  Entweder  as  der  Sitz,  oder  die  Stuhllehne,  die 
im  kopt.  soi  dorsum  erhalten  sein  könnte,  für  das  siphon- 
artige Zeichen.  Für  den  Riegel  sbe  pessulus.  Vergl.  das 
Aethiop.  sät. 

15.  o.  Die  Phonetik  des  Armes  ist  noch  nicht  er- 
mittelt. Doch  könnte  dreh  concludere,  vergl.  mit  armus,  zu 
Grunde  liegen. 

16.  p.     Der    mit  pa   oder  pu   bezeichnete  Gegenstand, 


19)  Dümichen:  Histor.  Inschriften.  Taf.  V,  col.  fi2. 


Lauth:  Der  ägypt.  Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.         105 

eine  Art  Matte  aus  Bast,  könnte  mit  pors  oder  presch  storea 
zusammenhangen. 

IIb.  r.  ro  „Der  Mund"  hat  offenbar  dieser  Buchstabe 
geheissen. 

17.  t.  Ich  habe  oben  thevi  loculus  vermuthet.  Der 
Halbkreis  tritt  sowohl  für  t,  als  d,  als  die  Aspiraten  dh 
und  th  ein.  Seine  ursprüngliche  Bedeutung  noch  unermittelt, 
vielleicht  ihha  tumulus. 

18.  u.  Das  Pharaonenhühnchen  mit  der  Aussprache  ui, 
vielleicht  in  ui  „alere"  educare  des  Koptischen  der  Wurzel 
nach  bewahrt. 

19—26.  Die  sieben  oben  ausführlich  erläuterten  Namen 
von  schei  bis  dci.  Da  letzteres  ein  Sylbenzeichen ,  und  l 
mit  r  homophon,  so  ergiebt  sich  die  Zahl  von  25  eigent- 
lichen Articulationen   oder  Buchstaben. 


Die  hier  unabhängig  gewonnenen  Laute,  25  an  der 
Zahl,  werden  sofort  die  Stelle  Plutarch's  20)  in  das  Gedächt- 
niss  rufen,  wo  er  sagt,  „die  Fünf  (aber)  bildet  ein  Quadrat 
(25),  so  gross  als  die  Menge  der  Buchstaben  bei  den  Aegyp- 
tern  ist"".  Man  hat  dieses  Zeugniss  auf  das  Alphabet  der 
christlichen  Kopten  bezogen,  ohne  zu  bedenken,  dass  der 
Schriftsteller  diese  Zahl  von  25  Buchstaben  mit  den  Lebens- 
jahren des  Stieres  Apis,  also  eines  heidnischen  Götzen,  zu- 
sammenstellt. Auch  zeigt  das  kopt.  Alphabet  31,  nicht  25 
Buchstaben.  Nach  meiner  oben  gegebenen  Untersuchung 
wird  man  daher  um  so  geneigter  sein,  die  Stelle  Plutarchs 
auf   das  altägyptische  Alphabet    zu   beziehen,    als    ohnehin 


20)  De  Is.  et  Osir.    c.  56.     Vergl.  mein  Univ.  Alphabet  p.  167. 


106  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

ausser  den  25  phonetischen  Hieroglyphen  meines 
Verzeichnisses  keine  weiteren  Zeichen  vorkommen} 
die  man  eigentliche  Buchstaben  nennen  könnte. 
Hatte  Champollion  noch  mehrere  Hundert  angenommen,  so 
wurde  diese  Ueberzahl  durch  Lepsius21)  auf  ein  beschei- 
denes Maass  zurückgeführt.  Wenn  aber  dieser  Forscher 
und  andre  AegypJoVgen  in  neuerer  Zeit  die  altägyptischen 
Articulationen  auf  16  oder  15  reduciren,  so  kann  ich  aus 
obigen  Gründen  ihnen  nicht  folgen22). 

Hiemit  ist  die  Frage,  ob  die  alten  Aegypter  ein  wirk- 
liches Alphabet  gekannt  haben ,  so  ziemlich  in  affirmativem 
Sinne  entschieden,  selbst  wenn  man  die  Herleitung  der 
phoenikischen  Zeichen  aus  den  hieratischen  nicht  gelten 
lassen  wollte.  Mit  der  Existenz  des  Alphabetes  ist  aber 
zugleich  eine  gewisse  Ordnung  der  Buchstaben  bedingt.  Es 
erhellt  diess  zunächst  aus  einer  andern  Stelle  Plutarch's23), 
wo  er  sagt,  dass  ,,die  Aegypter  dem  Hermes  (Thod)  als 
dem  ersten  Erfinder  der  Schrift  zu  Ehren  den  Ibis  (sein 
Symbol)  als  ersten  Buchstab   schreiben". 

Diese  Worte  haben  eine  mehrfache  Auslegung  erfahren. 
Birch.  der  verdienstvolle  Aegyptologe 24),  erklärte  sie  aus 
der  Schreibung  des  Wortes  aah  (kopt.  ioh)  Lunus ,  wie  der 
Gott  Thod  so  häufig  genannt  und  alsdann  mit  einer  Mond- 
scheibe oder  Mondsichel  auf  seinem  Ibiskopfe  ausgezeichnet 
wird.  Jenes  aäh  wird  geschrieben  mit  Rohrblatt  Arm  Kette. 
Allein    das   ist   nicht  der  Name  des  Ibis.     Ueberhaupt  ge- 


21)  In  seinem  Briefe  von  J.  1837  an  Rosellini  in  dem  Bulletino. 

22)  Aehnlich  hatte  man  früher  das  nordische  Futbork  von  16 
Runen  für  älter  gehalten  als  das  von  24,  bis  ich  den  entgegen- 
gesetzten Sachverhalt  aufzeigte. 

23)  Sympos.  IX.  3. 

24)  In  seiner  Introduction  to  the  study  of  hierogl.  Anhang  zu 
Wilkinson's  ,,Egypt  in  the  time  of  the  Pharaohs". 


Laath:  Der  ägypt.   Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.         107 

hört  der  Ibis  nicht  zu  den  phonetischen  und  alphabetischen, 
sondern  zu  den  symbolischen  Hieroglyphen.  Dazu  kommt. 
dass  die  Auffassung  des  ägyptischen  Hermes  als  einer  Mond- 
gottheit (Lunus)  sich  nicht  sehr  hoch  in's  Alterthum  zurück 
verfolgen  lässt.  Auch  aus  diesem  Grunde  muss  man  also 
den  ääh  als  ersten  Buchstab  aufgeben. 

Die  zweite  Ansicht,  welche  H.  Deveria  aufgestellt  hat, 
bezieht  sich  auf  die  hieratische  Schreibung  des  Ibis,  näm- 
lich "mittels  eines  Zeichens,  das  dem  hieratischen  Rohrblatte 
identisch  zu  sein  scheine.  Sie  kommt  der  Wahrheit  schon 
um  desswillen  näher,  weil  wir  bisher  die  hieratischen 
Zeichen  massgebend  gefunden  haben.  Demnach  würde  also 
Plutarch  entweder  gesagt  haben:  ..Das  Alphabet  beginnt 
mit  dem  Rohrblatte,  welches  die  Lautung  a  hat",  oder: 
„An  der  Spitze  des  Alphabets  steht  der  hieratische  Ibis" 
—  ob  aber  als  Buchstabe?  Wenn  irgendwo  in  einem  Texte 
das  ägyptische  Alphabet  als  solches  aufgeführt  wurde,  so 
ist  kein  Zweifel,  dass  es  als  Erfindung  des  Ibis-Thod  dar- 
gestellt wurde,  der  ja  beständig  „Herr  der  göttlichen  Worte" 
betitelt  wird. 

Eine  dritte  Ansicht  hat  neulich'5)  H.  Mariette  ver- 
öffentlicht. Er  entdeckte  nämlich  am  Tempel  zu  Denderah 
eine  Art  Litanei  an  die  eponyme  Gottheit  Hathor,  deren 
Prädikate  in  dem  bekannten  bombastischen  Style  in  ein- 
zelnen Reihen  von  Gruppen  aufgeführt  werden ,  je  mit  an- 
derem Anlaute  versehen.  Die  Ordnung  nun,  in  welcher  diess 
geschieht,  ergiebt  folgende  16  Buchstaben: 

t  s  o  u  v  f  h  a  p  m  n  eh  h  n  seh  b 

Damit  mau  nicht  wieder  meine,  die  alte  Hypothese  von 
einem  IGtheiligen  Uralphabet  erhalte  hiedurch  eine  neue 
Stütze,  bemerke  ich.  dass  h  und  n  sich  wiederholen,  sowie. 


25)   Renre  archeol.  Avril  1867. 


108  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

dass  wesentliche  Buchstaben,  wie:  l  r  s  k  i  etc.  fehlen.  Es 
scheint  also,  auch  mit  Hinzunahme  der  folgenden  Columnen, 
die  nach  Mariette  keine  durchsichtige  Ordnung  mehr  dar- 
bieten,  kein  eigentliches  Alphabet  beabsichtigt  zu  sein, 
sondern  nur  eine  Reihe  von  Alliterationen,  welche  natür- 
lich indirekt  für  das  Bewusstsein  eigentlicher  Buchstaben 
zeugen.  Um  nun  wieder  auf  den  Ibis  als  Anfang  der  Buch- 
staben zurückzukommen,  so  meint  Mariette,  der  Umstand, 
dass  der  erste  Anlaut  ein  t  sei,  lasse  sich  auf  obige  Stelle 
Plutarch's  beziehen.  Dass  der  Ibis  Taaud  lautirt  werden 
konnte,  beweisen  die  vielen  Eigennamen,  in  denen  der  Name 
@(o'i)&  als  Gräcisirung  des  Ibis  erscheint.  Allein  diese  An- 
sicht entfernt  uns  wieder  zu  weit  von  dem  Wortlaute  der 
Stelle  tcov  yqctiifidTdov  Alyxmxioi  ngcoTov  tßiv  ygdcpovOt, 
da  ein  Buchstabe,  nicht  ein  Name  damit  gemeint  ist. 
Wollte  man  zweifeln,  ob  Plutarch  überhaupt  von  einem  Al- 
phabete spreche,  so  belehrt  der  weitere  Zusatz  ovx  oq&ws 
xatce  ys  T»jV  ifirjv  66%uv,  ävcivöv)  xul  dy&oyyaj  nqosd Qiav 
iv  yqdfiiiaaiv  dnodovTsg,  dass  es  sich  um  den  Vorsitz  unter 
den  Buchstaben,  also  um  eine  alphabetische  Reihenfolge 
handelt.  Mich  wundert ,  dass  Mariette  sich  nicht  auf  die 
6  (7)  Zusatzbuchstaben  des  koptischen  Alphabets  berufen 
hat,  da  dieses  chei  und  Jiori  benachbart  zeigt,  wie  die  Akro- 
phonien  der  Hathor.  Freilich  beweist  dieser  einzelne  Fall 
nichts  und  andererseits  sind  ja  auch  sonstige  Verwandte, 
wie  o  u  f  v,  h  a,  m,  «,  zusammengruppirt.  Dass  t  und  s 
beisammen  stehen ,  deutet  wenigstens  auf  physiologisches 
Verfahren26). 

Die  phonetische  Schreibung  des   Namens  Taaud21)  (en 


26)  Wie  ich  es  im  Universal-Alphabet  p.  54   lin.  1.  und  2.    von 
unten,  ausgesprochen  habe. 

27)  Brugsch  Geogr.  I  Nr.  580  verglichen  mit  541 — 543. 


Lauth:  Der  ägypt.   Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.         109 

Pnubs)  ist  bis  jetzt  nur  ein  einziges  Mal  getroffen  worden. 
Ich  habe  diesen  Namen  zuerst  mit  dem  semitischen  "in  cor, 
Thaddaeus  =  Lebbaeus  identifizirt,  nicht  nur,  weil  die  Be- 
deutung ,,Herz"  als  der  Sitz  der  Intelligenz  nach  orientali- 
scher Anschauung,  zusagt,  und  so  das  ,,Taautes  Phoenix 
litteras  invenit"  bestätigt,  sondern  weil  die  Alten  einstimmig 
dem  Ibis  in  einer  gewissen  Stellung,  Aehnlichkeit  mit  einem 
Herzen  zuschreiben.  So  sagt  Horapollo  I,  36:  Kaqdiuv 
ßovX6f.ievoi  ygacpsiv,  ißiv  £wyQcc<fov6f  ro  yctQ  £<aov  ^EgfArj 
(pxeicoTai,  ndöi]g  xaqdiccg  xai  Xoyiö/Jiov  deOnoxi],  insl  xal 
fj  iß  ig  ccvro  xcttf  avrd  %fj  xccqdCa  sötlv  ^icpeQrjg-  nsql  ov 
Xoyog  iOTi  nXsTotog  vcuq  Äiyvntioig  (fe^o^ievog28).  Neuere 
Legenden,  die  man  gefunden,  bestätigen,  ausser  den  herz- 
förmigen Mumien  der  Ibis,  durch  die  Phonetik  selbst  die 
Nachricht  der  Alten  in  dieser  Beziehung.  Herr  Pleyte  hat 
nämlich  statt  der  gewöhnlichen  Gruppe  het  (cor)  mehrere- 
mal  ab  angetroffen  und  ich  habe  29)  den  Namen  der  Stadt 
Athribis  auf  Grund  dieser  Wahrnehmung  nach  allen  seinen 
Bestandteilen  zu  erklären  vermocht.  Während  nämlich  das 
Etymologicon  magnum  den  vopdg  'A&qißijg  wegen  seiner 
Lage  inmitten  des  Delta  mit  xaqSia  übersetzt,  zeigt  die 
hieroglyphische  Schreibung  die  Gruppe  Hat-to-her-ab  „Haus 
des  Landes  der  Herzensmitte",  woraus  lA&Qißr[g  entstan- 
den ist.  Hier  haben  wir  bereits  den  Uebergang  des  ab, 
mit  dem  vagen  Vocale  des  Rohrblattes  geschrieben,  in  ib, 
woher  ibis  und  damit  zugleich  einen  Beleg  für  die  Gleich- 
ung llohrblatt  =  i. 


28)  Auch  Aelian.  I  c.  u.   die  Scholien   zu  Platon's    Phaedrus   p. 
356  sprechen  von  der  herzförmigen  Gestalt  des  Ibis. 

29)  In    einem    für    die    aegyptologische   Zeitschrift   bestimmten 
Aufsatze. 


110        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Aber  der  constante  Name  des  Ibis  lautet  hab(u)  (mäan- 
drische Figur,  Aar,  Bein)  was  nicht  befremden  kann,  wenn 
man  bedenkt,  dass  das  Rohrblatt  selbst  aalce  (an  zweiter 
Stelle  mit  dem  Aar  geschrieben)  lautete,  und  dass  die  Ad- 
spiration  des  maeandrischen  Zeichens  eine  sehr  gelinde,  ein 
wirklicher  Spiritus  lenis  war,  wesshalb  es  in  die  semitischen 
Alphabete  als  he,  in  das  griechische  als  *  überging.  Ein 
Zusammenhang  beider  Wörter  ist  also  sehr  wahrscheinlich 
und  als  Verbalwurzel  habe  ich  früher  schon30)  das  so  häu- 
fige ab  vermuthet,  dessen  Verwundtschaft  mit  dem  latein. 
avere  und  TON  (velle ,  cupere)  jetzt  vielleicht  nicht  mehr 
beanstandet  wird.  Ich  war  eine  Zeit  lang  geneigt,  in  diesem 
habu,  ab  (Ibis,  Herz)  eine  Bestätigung  für  das  System 
meines  Universal- Alphabetes  zu  erblicken,  welches  mit  Spi- 
ritus lenis  und  Urvokal,  als  den  Vertretern  der  Conso- 
nanten  und  Vocale,  beginnt.  Damit  ich  mir  aber  nicht  den 
Vorwurf  der  Rechthaberei  zuziehe,  muss  ich  schliesslich  noch 
einer  andern  Möglichkeit  gedenken .  das  Plutarchische  Ibis- 
zuichen  an  der  Spitze  des  ägyptischen  Alphabets  zu  er- 
klären. 

Der  ägyptische  Hermes  heisst  bekanntlich  TQigfxsyiörog, 
in  der  Inschrift  von  Rosette  fityag  xai  [ts'yccg.  Das  Cap.  125 
des  Todtenbuches,  ein  sehr  wichtiges  und  sehr  altes  Haupt- 
stück dieser  Sammlung,  führt  den  Gott  TJwd  coli.  61,  62 
mit  den  Worten  ein  :  ,, Nicht  lasse  ich  dich  (den  Verstorbenen) 
passiven  durch  meine  Wacht,  bevor  du  genannt  mir  meinen 
Namen".  Der  Verstorbene  sagt  hierauf:  „Kenner  der  Herzen, 
Prüfer  der  Eingeweide  (Leiber)  ist  dein  Name'".  Man  fragt 
ihn  weiter:  „Wer  ist  der  Gott  in  seiner  Stunde,  welcher  ist 
es?"  Die  Antwort  lautet:  „Der  Gott  in  seiner  Stunde,  den 
du  genannt  hast,  ist  der  Grosse  (tennu)  der  beiden  Welten." 


30)  Manetho  und  der  Turiner-Königspapyrus  pp.  46,  63,  64. 


Lauth :  Der  ügypt.   Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.       Hl 

„Wer  ist  der  Grosse  der  beiden  Welten?''  „Es  ist  Thod" 
(geschrieben  mit  dem  Ibis).  Die  demotische  Redaction  dieses 
Capitels,  welche  die  Bibliotheque  Imperiale  zu  Paris31)  be- 
sitzt, bietet  unter  vielen  andern  werthvolleTi  Variauten  statt 
des  Wortes  tennu  das  Wort  aa,  dessen  Bedeutung  gross 
längst  erhärtet  ist.  Ferner  heisst  Thod  in  den  bilinguen 
Rhind-papyri,  im  Papyrus  Senkowski  und  in  vielen  andern 
Quellen  As-tennu  „der  grosse  As."  Damit  wir  wegen  der 
Vieldeutigkeit  des  Wortes  as  nicht  lange  zu  suchen  brauchen, 
erinnere  ich  an  das  kopt.  as  antiquus,  woher  auch  Ids  nach 
Diodor  als  nccXaid  erklärt  wurde  und  an  die  Stelle  Horapollo's 
1,30:  *AQ%(xioyoviccv  dt-  yQtiiyovTsg,  tccitzvqov  £üryQct(fO~Gi, 
ds'Ofirjv.  Also  eine  Papyrusrolle  bedeutet  aQ^aioyoiiccl  In 
der  That  erscheint  das  Rohrblatt  und  der  Siphon(as),  womit 
jener  Name  As-(tennu)  geschrieben  wird,  häufig  mit  dem  Deut- 
bilde  der  Papyrusrolle,  um  den  Begrifi'  alt  auszudrücken, 
so  z.  B.  in  der  „Bauurkunde  von  Denderah",32)  wo  gesagt 
wird,  dass  „der  Urplan  von  Anet  (Denderah)  gefunden  ward 
in  alter  Schrift".  Eine  solche  Papyrusrolle  hält  aber  der 
Gott  Thod  als  beständiges  Attribut  in  seiner  Hand,  und  so 
(mag  denn)  As-tennu  ihn  als  den  „grossen  Alten"  bezeichnen. 
Daraus  würde  auch  sein  hieratisches,  dem  Rohrblatte  gleiches 
Siglum,  vjelleicht  als  Abkürzung  des  Namens  Astennu  er- 
klärlich werden.  Thatsächlich  steht  das  hieroglyphische 
Rohrblatt  a  mit  dem  Zeichen  für  Gott  über  dem  Ibis;33) 
also  ist  das  eigentliche  a  der  Anfang  des  Alphabetes,  nicht 
das  Siglum  des  Ibis.  Die  Stelle  Plutarch's  verhilft  uns  somit, 
wegen  ihrer  Vieldeutigkeit,  höchstens  zu  der  Wahrscheinlichkeit, 
dass    der    leichte  Vokal  a    den    Anfang    des    ägyptischen  Al- 


31)  Vergl.  Brugsch.:  Demotische  Urkunden  Tat'.  VII. 

32)  Düraichen  Taf.  XV  col.  o7. 

33)  Dümichen :  Kalender-Inschriften  Taf.  CXVIII,  2. 


112  Sitzung  der  philos.-phildl.  Gasse  vom  1.  Juni  1867. 

phabets  gebildet  habe.  Mariette's  Akrophonien  beweisen  nur, 
was  schon  die  altägyptischen  Wortspiele  nahe  legen,  dass 
die  Aegypter  das  Bewusstsein  alphabetischer  Zeichen  hatten. 
Es  fragt  sich,  »ob  uns  keine  andern  Quellen  zu  Gebote 
stehen. 

Der  gnostische  Papyrus  von  Leyden  enthält  in  Coli.  XVIII 
und  XX  drei  oder  vier  Alphabete,  theils  griechischen,  (kop- 
tischen?) theils  ganz  willkürlichen  Charakters.  Sie  scheinen, 
wie  die  bei  den  Ingredienzien  im  Texte  angewendeten  Zeichen, 
einer  Geheimschrift  anzugehören,  wie  ja  auch  die  gnostischen 
Scarabäen  solche  Spielereien  aufweisen.  An  ein  altägyptisches 
Alphabet  ist  dabei  überall  nicht  zu  denken,  weil  schon  die 
Reihenfolge  der  übergesetzten  Buchstaben  beweist,  dass  man 
das  griechische  Alphabet  geben  wollte.  Mehr  Wichtigkeit 
dürfte  der  Papyrus  Grey34)  beanspruchen,  wenn  die  auf 
seiner  Vorderseite  befindlichen  24  oder  25  Zeichen  wirklich 
ein  demotisches  Alphabet  vorstellen  sollen.  Die  Urkunde 
ist  datirt  vom  28.  Jahre  des  Ptolemäus  Philometor  (118 
v.  Chr.)  und  das  fragliche  Alphabet  beginnt  rechts  mit  dem 
demotischen  a  (Aar)  und  schliesst  links  mit  einem  t,  so  dass 
die  Vermuthung  nahe  gelegt  wird,  als  ob  Aleph-Thav,  also 
wesentlich  das  phoenikische  Alphabet  gegeben  sei.  Allein 
eine  nähere  Betrachtung  lässt  die  Sache  in  einem  andern 
Lichte  erscheinen.  Schon  das  zweite  Zeichen  gehört  nicht 
zu  den  alphabetischen ,  sondern  ist  das  Sylbenzeichen  ru. 
Nr.  3,  4  uud  5  entsprechen  allenfalls  einem  2>>  das  4.  dem 
syllabischen  to,  das  5.  einem  o  (?),  Nr.  7  einem  b,  Nr.  9 
einem  g,  10  einem  b,  11  wie  2  =  ru,  dann  folgen  ziemlich 
deutlich  n,  m,  n,  cli  (?),  w,  s,  ch,  f,  a,  n,  h,  a,  t.  Man 
sieht ,  dass  sich  mehrere  Buchstaben  wiederholen ,  während 
andere   gar   aicht   vertreten   sind,    so    dass    also   aus  dieser 


34)  Young,  Hieroglyphics  pl.  XXXIV. 


Lauth :    Der  ägypt.   Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.        113 

Zusammenstellung  von  Buchstaben  sich  keine  Folgerung  auf 
das  altägyptische  Alphabet  ziehen  lässt. 

Gleichwohl  dürfen  wir  an  der  dereinstigen  Entdeckung 
des  ägyptischen  Alphabets  auf  irgend  einem  Denkmale  oder 
in  einem  Papyrus  nicht  verzweifeln.  Die  Aegyptologie  hat 
schon  manche  Ueberraschung  gebracht,  so  z.  B.  die  Phonetik 
der  Zahlwörter  im  Pap.  Leydens.  I,  350,  wovon  ich  weiter- 
hin noch  zu  sprechen  habe.  So  gut  nun  in  diesem  Documente 
die  Zahlen  nach  ihrer  natürlichen  Ordnung  aufgeführt  sind, 
ebensowohl  könnte  etwas  Aehnliches  in  Betreff  der  Buch- 
staben stattgefunden  haben.  Ausserdem  liegt  die  Möglichkeit 
nahe,  dass  die  Aegypter  ihrem  Hange  zum  Symbolismus 
nachgebend,  heilige  Embleme  zu  Repräsentanten  der  ngöora 
Oxoi%ilu  gewählt  haben.  Die  Vignette  zu  Cap.  1 — 15  des 
Todtenbuch.es  zeigt  analog  Schakal  (f),  Ibis  (ab),  Sperber 
(ftauk),  Stier  (jfea),  Geier  (ä'hretui  kopt.),  die  Locke  (Aolk), 
die  Doppelfeder,  erinnernd  an  den  häutigen  Titel  djai-chu\, 
Träger  der  Fahne,  endlich  die  Adlermumie.  Ich  behaupte 
nun  nicht,  dass  biemit  die  ersten  acht  Buchstaben  gegeben 
seien;  denn  eine  Vergleichung  mit  vollständigeren  Listen 
dieser  Embleme35)  würde  den  Versuch,  obgleich  24  solcher 
auftreten ,  bald  scheitern  machen.  Aber  etwas  Analoges 
dürften  wir,  unter  der  Aegide  des  Thod .  irgendwo  an- 
zutreffen erwarten. 

Dass  die  Aegypter  eine  gewisse  Ordnung  der  Buchstaben 
kannten  und  befolgten  ,  möchte  sich  auch  aus  Folgendem 
ergeben.  Das  Berliner  Museum  besitzt  unter  andern  einen 
griechischen  Papyrus ,  der  mit  allerlei  mystischen  Figuren 
bedeckt  ist  und  besonders  den  Vocalen  eine  geheime  Wir- 
kung beilegt.  Da  die  sieben  Vocale  des  griechischen  Alpha- 
bets darin  erscheinen .  so  wird  man  nicht  fehlgreifen ,  wenn 


35)  Z.  B.  Young,  Hierogl.  II,  6/ 
[1867.11.  1.] 


114        Sitzung  der  phüos.-pliilol.  Gasse  vom  1.  Juni  1867. 

man  ihn  als  gnostisch  bezeichnet;  in  der  That  ist  darin 
von  einer  Zauberlampe  (Xvxvog)  die  Rede,  gerade  wie  in 
dem  demotischen  Papyrus  von  Leyden  gnostischen  Inhalts. 
Ich  setze  die  neun  ersten  Zeilen  her,  mit  dem  Bemerken, 
dass  die  Urkunde  stellenweise  zerrissen  ist. 

TiaqGaqixcog  nqog coccöe  avxa  fit]WGrj  Goi 

qrjxcog  x eixai  Goi  xai  Gv  y 

nccGctg  Gov  rag  xqiyag . . .  rjvrjg  xai  Xaßcov  laqaxa  xiq 

xaiov  anodcoGov  eig vrjg  GVfM^aGav 

xco  [i€V  xa  xixoi dsvGov  avxov  qaxs 

axqcoxiGxcog  noGi avxovg  ovv%ag  Gov  Gvv  xaig 

&qi£i  xai  Xaßcov yqaye  avx  ?  o  xsifisva 

xai  xi&sig  avxovg &qi£i xca xoig  ovv^ixai  avanXa— 

Gov  avxov  Xißavco axiop   a    se    TjTjiq    im    ooooo 

V  V  V  V  V  V     CO  (O  CO  CO  03  (O  (O. 

Man  sieht,  dass  es  sich  um  die  Anbringung  magischer 
Charaktere    handelt.     Unmittelbar   daran  schliessen  sich  die 
zuletzt    in    arithmetischer    Progression    aufgeführten    sieben 
Vocale  noch  einmal,  aber  in  folgender  Doppelfigur: 
a  co  oo  co  co  co  co  co 

£  £  V  V  V  V  V  V 

TjXJTf]  ooooo 

l  l  l  l  tili 

ooooo  VW 

V  V  V  V  V  V  SB 

co  co  co  co  co  co  co  a 

Begleitet  sind  diese  Figuren  von  den  Worten :  xai  Xaßoov 
xo  yaXa  Gvv  xco . . .  vxi  anoß\  xsdqivov  und  anderen  minder 
lesbaren.  Es  folgt:  xai  Xsys  xov  nqoxei^isvov  Xoyov,  ver- 
bunden mit  der  oben  Zeile  9  gegebenen  arithm.  Prog.  der 
7  Vocale  und  dann  heisst  es:  ^xs  (ioi  aya&s  rsooqys  ayad-og 
(iiv  aqne (fi   ßqivxaxr]Vco(pqiZ6)  ßqiGxvXfia  aqova 


S  . 


36)  Dieser  Name  findet  sich  öfter  im  gnost.  Papyrus  von  Leyden. 


Lauth:  Der  ägypt.  Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.        115 

Xccqs  . . .  (fiv  . . .  xov  [iix[i>ov[.iac0<p.  rjxs  fioi  ayiog  Sigioo si- 

fievog  sv  reo  ßooQxo6t]ks  xai  xvXivdovfisvog  etc. 

Diese  Stellen,  so  werthlos  sie  sonst  auch  sein  mögen, 
bestätigen  doch  im  Allgemeinen  die  Nachricht:  «V  Aiyvnvq 
6h  xai  xovg  ösovg  v/jlvovöi  Sid  twv  snxd  yxovyevtwv.31) 

Als  ich  Obiges  zu  Berlin  1863  copirte,  war  mein  Uni- 
versal-Alphabet  bereits  seit  acht  Jahren  erschienen.  Um  so 
mehr  war  ich  von  der  pyramidalen  Anordnung  der  Buch- 
staben überrascht.  Dass  nur  die  Vocale  in  der  Figur  ver- 
treten sind,  erklärt  sich  zur  Genüge  daraus,  dass  diese  Cha- 
raktere vorschriftsmässig  gerufen38)  werden  sollten,  was 
bei  den  Consonauten  eben  nicht  möglich  ist. 

Aber  auch  die  altägyptische  Bezeichnung  der  drei 
Hauptvokale  führt  zu  dem  pyramidalen  Systeme,  wie  ich  es 
in  meinem  Universal-Alphabet  zuerst  aufgestellt  habe.  Es  er- 
scheint nämlich  als  Vertreter  oder  als  Vereinfachung  des 
Rohrblattes  a  der  senkrechte  Strich  | ,  für  die  Verdoppelung 
desselben  der  Doppelstrich,  entweder  schräg  gestellt,  um  die 
Verwechslung  mit  der  Ziffer  2  zu  vermeiden,  oder  auch 
senkrecht  1 1 ;  als  beständiges  Aequivalent  des  u  der  dreifache 
Strich  III,    so   dass    die  drei  Hauptvocale  das  Grundschema 

II     d.  h.  die  pyramidale  Figur  prototypisch  u.  deutlich  aus- 
drücken. Nach  der  statistischen  Häufigkeit  des  Vocalest«  imAegyp- 


37)  Jablonski  Prolegg.  p.  LV— LIX. 

38)  Darauf  beziehen    sich    wahrscheinlich    auch    die    7  Hexame- 
ter Col.  Y: 

'OqxiCu)  xfqp«Ara«  &eov  onEQ  tcuv  OXvfxnog 
'OqxiCw  acpqaxid'ct  &tov  ontQ  igxiv  ogaaig 
'0()Xt£(l)   /«O«    <f6l;lT£Q>)V   >}v(f)  ?)   xoafiog   (>/?)    £J/«ff£C? 
'OqxI^ÜJ    XQt]Tt}Q((    &(OV    TlXoVTOV    XCCTSXoyTt( 

Oqxi^ia  &tov  (chüviov  ttiwva  re  navTtos 
'OoxtCw  rpvaiv  uvrocpvri  xquriaxov  Aduva^ov) 
Oqxt^o}  tivvovia  xui  uvztXkovtu  EXioai(ov) 

8* 


116         Sitzung  der  philos.-pMol  Gasse  vom  1.  Juni  1867. 

tischen  könnte  man  den  alten  Aegyptern  einen  gewissen 
Labialismus  eigenthümlich  finden,  wie  der  Gutturalismus 
(a)  den  Semiten  und  der  Cerebralismus  (i)  den  Europäern 
eignet.  Dieselben  1.2.3.  Striche  dienen  auch  zur  Bezeichnung 
von  Singularis,  Dualis  und  Pluralis.  Hiemitist  der  Ueber- 
gang  zu  den  eigentlichen  Ziffern  gegeben,  von  denen  ich 
schliesslich  noch  Einiges  beibringen  will,  um  die  Ueber- 
zeugung  zu  begründen,  dass  auch  unsere  sogenannten  arabi- 
schen Ziffern  aus  Aegypten  stammen. 

Die  aegyptischen  Ziffern.39) 

Der  senkrechte  Strich,  schon  im  Hieroglyphischen  für 
die  Zahl  1  (ua,  auch  unbestimmter  Artikel)  gebräuchlich, 
bleibt  es  auch  im  Hieratischen.  Wird  er  verdoppelt  und 
verdreifacht,  wagrecht  gelegt  und  durch  Schleifung  zu  einem 
Ganzen  gestaltet,  so  entstehen  die  Ziffern  2  (snau)  und 
3  (scJwmt).  Auch  die  Ziffer  4  verläugnet  diesen  Ursprung 
aus  Strichen  noch  nicht  und  man  könnte  behaupten,  dass 
unsere  vier  ersten  Ziffern  eben  so  gut  aus  dem  Chinesischen 
als  aus  dem  Aegyptischen  gezogen  sein  könnten.  Das  ent- 
sprechende Zahlwort  für  4  lautet  afdu. 

Allein  mit  der  Ziffer  5  befinden  wir  uns  entschieden 
auf  ägyptischem  Boden.  Der  Stern,  nach  Horapollo  und  den 
Denkmälern  für  5  gebraucht,  und  regelmässig  mit  5  Strahlen 
dargestellt,  wird  hieratisch  zu  einer  Figur,  deren  nahe  Be- 
ziehung zur  Ziffer  5  unverkennbar  ist.  In  dem  uralten  Pa- 
pyrus Prisse  z.  B.  wird  in  dem  Worte  sebait  (Unterweisung) 
die  erste  Sylbe  schon  durch  diesen  Stern  (Kopt.  siv)  be- 
zeichnet. Wie  es  gekommen,  dass  das  Zahlwort  5  dennoch 
eine  andere  Wurzel  darbietet,  mag  hier  unerörtert  bleiben; 
genug,  dass  dem  koptischen  tiu  (quinque)  entsprechend,  der 


39)  Vergl.  die  Tafel  B. 


Lauth:  Der  ägypt.   Ursprung  unserer  Buchstaben  etc. 


117 


Pap.  Leydens.  I,  350  40)  dafür  die  phonetische  Gruppe  tiau 
bietet.  Da  nun  auch  die  Hand  (tot)  vor  der  Zahl  5  als 
phonetisches  Zeichen  erscheint,  so  hatte  ich  doch  Recht,  in 
meinem  Buche  ,,les  zodiaques  de  Denderah"  zu  behaupten, 
dass  der  Ausdruck  teytcro  in  teyt-hro  zu  zerlegen  und  auf 
die  fünf  Epagomenen  zu  deuten  sei.  Wird  nicht  auch 
pantscha  (ntfins)  von  Einigen  als  Hand  (mit  fünf  Fingern) 
aufgefasst  ? 

Die  Ziffer  6  findet  sich  so,  wie  wir  sie  haben,  im  De- 
motischen; das  hieratische  Zeichen  hat  gewöhnlich  noch 
zwei  Striche  daneben  ,  zum  deutlichen  Beweise,  dass  diese 
Zitier  aus  2X3  Strichen  zusammengesetzt  gedacht  wurde. 
Ihre  Phonetik  war  sas  und  sasch  (sex,  schesch).  Bei  der  Ziffer  7 
sehe  ich  mich  genöthigt,  von  Lepsius  und  Pleyte  in  der  Er- 
klärung abzuweichen.  Letzterer  nimmt  nämlich  an,  der  in 
den  Hieroglyphen  dafür  eintretende  Kopf  en  profil  sei  eine 
irrthüm  liehe  („fautive")  Transscription  des  hieratischen 
Zeichens.  Allein  unter  dieser  Voraussetzung  müsste  man 
den  irrthum  fast  als  Regel  erklären,  da  der  Kopf  für  7  so 
häufig  getroffen  wird.  Mehrere  Stellen  beweisen,  dass  die 
hieratische  7  eben  so  gut  als  der  hieroglyphische  Kopf  mit 
dieser  Zahlbedeutung  auf  einer  altägyptischen  Anschauung 
beruht,  wonach  dem  Kopfe  sieben  Mündungen  (ro)  zuge- 
schrieben wurden,  wohl  keine  andern  als  Augen,  Ohren, 
Nüstern,  Mund.  So  heisst  es  im  Pap.  Leydens  I.  345 
G  3:  seine  2  Lippen,  welche  zum  Sprechen;  seine  2  Augen, 
welche  zum  Sehen;  die  Siebenheit  der  Mündungen  seines 
Kopfes''.  Die  nämlichen  7  ouvertures  de  la  tete  begegnen 
uns    in    den  Rhind-papyri   V,  641).     Mit    der  Phonetik    des 


40)  Von  Herrn  Goodwin  (Zeitschrift  für  Aegyptologie  1864)  zu- 
erst in  seiner  Wichtigkeit  für  die  Zahlwörter  erkannt.  Vgl.  in 
derselben  Zeitschrift  Pleyte  1867,  1  —  3.  Heft. 

41)  Vgl.  Brugsch:  Mater iaux  p.  51. 


118         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Zahlwortes  hat  dieser  Kopf  nichts  zu  schaffen.  Die  Biblio- 
theksgöttin Safch,  häufig  mit  dem  siebenstrahligen  Sterne 
geschrieben,  wird  im  Pap.  Leyd.  I  350  durch  die  phoneti- 
sche Gruppe  safch  vertreten,  deren  Verwandtschaft  mit  dem 
kopt.  saschfe  und  dem  indogermanischen,  ja  dem  semitischen 
Zahlworte  für  7  ziemlich  einleuchtend  ist. 

Die  Ziffer  8,  noch  in  den  beiden  aufeinand  erstehen  den 
Rauten  unserer  älteren  Quellen 42)  als  2X4  erkenntlich, 
verläugnet  ihren  Ursprung  aus  Strichen  nicht.  Namen  mit 
griechischen  Transscriptionen  ergeben  die  Lautung  yp\iv, 
kopt.  sibilirt  zu  schmun  =  octo ,  aber  in  chemne  öctoginta, 
noch  getreuer  erhalten.  Merkwürdig  ist,  dass  in  der  so  häufig 
erwähnten  Achtstadt  (Aschmunein  —  Hermopolis)  die  hiero- 
glyphische und  die  hieratische  Schreibung  des  Zahlwortes 
(auch  im  Leydens.  I  350)  constant  sescmiu  lerntet.  Wie  mochte 
dieses  sesennu  zu  schmoun  (semit.  schmoneh)  werden?  Ich 
habe  längst  die  Zahlsymbolismen:  ,,2.  der  Isis,  3.  der  Neph- 
thys"  auf  die  Phonetik  gedeutet.  Snau  (">}$)  heisst  zwei 
und  son  „Bruder";  (s)chom  (t)  drei  und  sclwm  (Dfl) 
„Schwager",  so  dass  also  die  Stelle  besagen  würde:  ..Ich 
(Osiris)  bin  Bruder  der  Isis,  Schwager  (oixsioq)  der  Neph- 
thys".  Aehnliche  Zahlsymbolismen  z.  B.  5  oder  9  Striche  für 
die  Wörter  Hau  und  pest  Ruhm ,  Glanz  sind  auch  sonst 
nicht  selten.  So  könnte  auch  sesennu.  das  bisweilen  in  der 
Schreibung  sensennu  gefunden  wird .  „die  Verbrüderungen, 
Verschwägerungen1'  bedeutet  haben.  Der  Wechsel  des  n  mit 
m  erklärt  sich,  wieder  Monatsname  Pharmuti  aus Pharennuti. 

Ein  ähnlicher  Lautwandel  scheint  bei  dem  Zahlwort 
für  9  stattgefunden  zn  haben.  Ursprünglich  paut,  durch 
ein  Opferbrod  vorgestellt,  das  auch  den  ersten  Tag  des 
Monats  oder  den  Neumond  bedeutet,    lautet  es  im  Kopti- 


42)  Z.  B.    des  Codex   Katisbonensis    der   Münchener  Bibliothek, 
von  dem  ich  p.  45  meines  Runenfudark  gesprochen  habe. 


Lauth:   Der  ägypt.  Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.         119 

scheu  psit  und  wird  schon  in  der  jüngeren  Periode  der 
Hieroglyphen  durch  die  strahlende  Sonne  vertreten,  weil 
pset  =  strahlen.  Aber  ein  drittes  Zeichen,  eine  Art  Sense, 
aus  welchem  offenbar  das  hieratische  Zeichen  für  9  und 
unser  9  entstanden  ist,  erscheint  als  Determinativ  zu  pant. 
Merkwürdig  ist  nun,  dass  diese  Sense  (woyacula  das  Scheer- 
niesser?)  häufig  zur  Schreibung  des  Wortes  neu  (maat)  ver- 
wendet wird,  und  dass  in  den  indogerman.  Sprachen  eben- 
falls ein  Zusammenhang  zwischen  neu  und  neun  (novus, 
novem)  zu  bestehen  scheint.  Sollte  vielleicht  die  Verwandt- 
schaft von  paut  und  maut  zur  Wahl  des  Zeichens  für  9 
geleitet  haben? 

Die  Aegypter  kannten  die  Null  nicht,  desshalb  trennen 
sich  von  hier  an  die  beiden  Systeme,  indem  das  unsrige 
(indische?)  für  10  schon  eine  Zusammensetzung  anwendet, 
während  die  Aegypter43)  für  10,  100.  1000  etc.  eigene 
Zeichen  gebrauchten. 

Man  hat  das  hufeisenförmige  Zeichen,  mit  dessen  Hülfe 
alle  Ziffern  von  10 — 90  incl.  gebildet  werden,  für  die 
Hälfte  eines  Königsschildes  gehalten  und  daraus  das  kopt. 
meti  (decem  und  dimidium)  erklären  wollen.  Allein  dies 
scheitert  an  der  Unmöglichkeit ,  das  eckige  Zeichen  f|  zu 
erklären,  das  z.  B.  in  der  Inschrift  von  Rosette  für  10 
vorkommt.  Ich  glaube,  dass  die  alte  Bedeutung  und  Laut- 
ung der  Hand  (ma  geben)  Dual  mati,  das  koptische  Zahlwort 
tneti  decem,  besonders  in  Rücksicht  auf  teilt  =  quinque 
(una  manus)  besser  empfiehlt.  Was  sodann  die  Figur  der 
Ziffer  10  (fl)  betrifft,  so  ist  sie  nichts  anderes  als  ein  po- 
tenzirtes  1 1  mit  einem  Querstriche,  gleich  als  wenn  man  hätte 
ausdrücken  wollen,  dass  es  die  zweite  Stufe  der  Zahlen  vorstellt, 
wie  Horapollo  II,  30:  rqafxfxfj  dg^fj  fxia  a/ia  YQatilxfJ 
inixexanfuvjj  dtxct  yQanfAciq  emntdovg  Gi^aivovGi  andeutet. 


43)  Vgl.  die  Tafel  C. 


120         Sitzung  der  philos.-philos.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Diese  Erklärung  erhält  ein  bedeutendes  Gewicht  durch 
das  Zeichen  für  100.  Es  ist  nichts  Anderes  als  das  für 
das  Pharaonenhühnchen  eintretende  u.  Wie  konnte  aber  u 
an  100  bedeuten?  An  sich  wohl  nicht;  aber  mit  Rücksicht 
auf  1 1 1  =  u.  In  der  Absicht  der  Aegypter  lag  es,  so  die  Zahl 
100  als  die  dritte  Stufe  darzustellen,  ohne  damit  das  Zahl- 
wort sehe  ausdrücken  zu  wollen.  Im  pap.  Leydens.  I  350 
ist  schao  als  die  Phonetik  von  100  angegeben;  ich  habe 
das  Zahlzeichen  für  100,  mit  dem  phonetischen  Werthe 
sehe**)  in  dem  Worte  dsche  (Ceder)  angetroffen.  Sollte 
letztere  etwa  wegen  ihrer  sprüchwörtlichen  Erhabenheit  den 
Namen   asche  (kopt.  multa,  abundans)  empfangen  haben? 

Behalten  wir  die  gewonnene  Scala  bei,  so  erledigt  sich 
auch  das  Zeichen  für  1000,  nämlich  die  oben  schon  bei  dem 
Buchstaben  (khei)  besprochene  Pflanze  Jchaui.  Das  kopt. 
Wort  für  1000:  schö  ist  durch  Sibilation  daraus  entstanden. 
Mit  dem  Stamme  multus  (ascho)  ist  es,  wie  aus  dem  eben 
über  asche  bemerkten  zu  ersehen  ist,  nicht  verwandt;  H. 
Pleyte  vermengt  beide  Bedeutungen,  wenn  er  es  für  möglich 
hält,  qu'on  a  pris  ia  plante  comme  Symbole  du  nom  de 
nombre  niille,  ä  cause  de  la  multitude  des  vegetaux.  Das 
Zeichen  ist  eben  kein  Symbol,  sondern  phonetisch  und  seine 
ursprüngliche  Bedeutung  messen.  Wäre  es  nicht  möglich, 
dass  das  Messen  mit  vier  Fingern  oder  der  Fausthöhe 
dieses  Ma  veranlasst  habe,  als  wollte  man  sagen,  dass 
1000   die  vierte  Stufe  der  Zahlen   sei? 

Der  Finger  oder  vielmehr  der  Daumen  (in  den 
grösseren  und  ausführlicheren  Darstellungen)  mit  der  Laut- 
ung tab,  steht  für  10,000.  Wenn  H.  Pleyte  sagt:  „je  ne 
connais  pas  de  point  de  rapport  entre  la  signification  du 
signe  et  la  prononciation",  so    hat    er    nur  der  allgemeinen 


44)  Dümichen  Kai.  Ins.  Taf.  LKV1I,    c.  7;    Brugsch,  Geogr.  III, 
Nr.  188,  189. 


Lauih:  Der  ägypt.   Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.         121 

bisherigen  Unkunde  Ausdruck  gegeben.  Nimmt  man  mit 
mir  an,  dass  nach  der  Faust,  als  fünfte  Stufe  der  Zahlen, 
der  Daumen  gewählt  worden  sei,  so  schwindet  das  Dunkel 
in  jeder  Beziehung. 

So  hatten  also  die  Aegypter  mittels  der  zehn  Finger 
der  Hand  und  allenfalls  mit  Hinzunahme  der  Fusszehen, 
weil  20  zaut,  (djuot)  30  mapu  (map)  40  hme  nicht  als 
Multiplicate  von  10  in  der  Phonetik  erscheinen,  ihr  Zahlen- 
system bis  zu  10,000  resp.  99,999  zu  führen  vermocht. 
Jenseits  dieser  Grenze  treffen  wir  noch  drei  Zeichen :  die 
Kaulquappe  (Jiefennu)  =  100,000;  den  Mann  mit  er- 
hobenen Armen  (hah)  =  1'000,000  und  den  Siegelring 
(chen)  für  10'000,000.  Diesen  drei  Begriffen  ist  die  Bedeut- 
ung einer  grossen  Menge  (hah  z.  B.  =  multus)  gemeinsam. 
Durch  Zusammensetzung  mehrerer  dieser  Zeichen  war  es 
möglich,  alle  denkbaren  Grössen  auszudrücken. 

lieber  die  Herkunft  unseres  Bruchstrichs  /  aus  dem 
demotischen    re    Theil    habe    ich    schon    oben    gesprochen; 

selbst  hieroglyphisch  erscheint   z.  B.  die  Gruppe  Theil  =  3/4. 

Ueber  die  Aussprache  der  Brüche ,  die  oft  durch  wun- 
derliche Zusammensetzungen  (z.  B.  5/6  =  1J2  -f-  */*  -f-  1lli) 
gebildet  werden,  gebricht  es  uns  bis  jetzt  an  monumen- 
talen Haltpunkten ;  einige  Winke  des  kopt.  Lexicon's  z.  B. 
misi  =  pars  quarta,  deuten  darauf  hin,  dass  sie  Eigen- 
namen einfacher  Art  geführt  haben.  Dagegen  besitzen  wir 
in  dem  papyrus  Leydens.  I  350  für  die  Zehner  und  Hun- 
derter ziemlich  durchsichtige  Ausdrücke,  die  vor  allem  die 
wichtige  Thatsache  darthun,  dass  (wie  im  Semitischen)  die 
Zahlen  50,  60,  70,  80,  90  als  Plurale  der  Zahlwörter  für 
5 — 9  erscheinen,  während  die  entsprechenden  Zahlzeichen 
al>  Multiplicate  (5  X  10  etc)  gebildet  sind  und  insoferne  den 
indogermanischen  Zahlwörtern  quinquaginta  (=  quinque- 
dect. mta)  vergleichbar  sind.   Das  nämliche  Verfahren  wieder- 


122         Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

holt  sich  bei  den  Hundertern  und  Tausenden  in  Sprache 
und  Zeichen.  Um  so  auffallender  ist  es ,  dass  die  Zahl- 
wörter für  20,  30  und  40,  obschon  die  entsprechenden 
Zahlzeichen  ebenfalls  als  2  X  10,  3  X  10,  4  X  10  sich  dar- 
stellen, weder  als  Plurale  der  betreffenden  Einer ,  noch  als 
Compositionen  mit  meti  (zehn)  erklärt  werden  können.  Der 
Papyrus  giebt  für  20  die  Phonetik  zaut  (Kopt.  djuot)  — 
und  zwar  als  Participium  des  Verbum's  za  peragrare ,  mit 
dem  Deutbilde  des  Schiffes  begleitet.  Es  versteht  sich 
von  selbst,  dass  damit  nur  die  Lautung,  nicht  die  ursprüng- 
liche Bedeutung  des  Zahlwortes  zaut  geboten  werden 
sollte. 

So  viel  ist  klar,  dass  die  ägyptischen  Ziffern  und  Zahl- 
wörter auf  dem  uralten  Decimalsysteme  beruhen.  Nehmen 
wir  nun  an,  dass,  wie  bei  einigen  andern  Völkern,  mit  Hin- 
zunahme der  zehn  Fusszehen  (digitus,  daxrvXog,  dexa) 
eine  höhere  Einheit  von  Zwanzig  (score  im  Englischen) 
begründet  wurde,  so  würde  sich  in  dem  Verbum  djte, 
djto  =  sopire,  reclinare,  eigentlich  ,,alle  Viere  von  sich 
strecken"  ein  passendes  Etymon  zu  dem  oben  räthselhaft  er- 
schienenen djuot  (zaut)  vermuthen  lassen. 

Die  Phonetik  des  Zahlwortes  für  30  lautete  mapu(ko\)i. 
map),  wie  H.  Chabas  scharfsinnig  in  dem  Pap.  Anastasi  I. 
wiederholt  gefunden  hat.  Da  nun  nach  Diodor  I,  75  das 
Richtercollegium  der  „Dreissig"  (3  X  10  aus  Theben,  Mem- 
phis und  Heliopolis)  in  Uebereinstimmung  steht  mit  den  in 
ägyptischen  Texten  so  häufig  erwähnten  ,,Dreissigern",  so 
ist  an  dieser  Phonetik  mapu  für  30  nicht  zu  zweifeln, 
wenn  gleich  uns  hier  der  Pap.  Leyd.  I  350  im  Stiche  lässt. 
Aber  die  Erklärung  dieses  mapu  7  Das  einzige  hier  an- 
klingende kopt.  Wort  ist  mpo  mutus  und  man  könnte  ver- 
muthen. dass  Horapollo  I,  28,  wo  er  acpcovia  —  che,  og 
rqisTovg  iOvi  %qovov  dgi^fiög  schreibt,  missverständlich 
aus  einer  älteren  Quelle  entnommen  habe,  wo  mpo  =  tqicc- 


Lauth:  Der  ägypt.   Ursprung  unserer  Buchstaben  etc.         123 

xovtctsTTjg  gestanden.  Dadurch  wäre  aber  höchstens  die 
Lautung  mapu  bestätigt,  nicht  das  Wort  erklärt.  Wenn  es 
erlaubt  ist,  das  Griechische  beizuziehen,  so  dürfte  das  He- 
siodische  fiaTKo  „taste,  berühre"  mit  mapu  stammverwandt 
sein,  und  dieses  dann  die  dreimalige  Wiederholung  der 
beiden  Hände,  also  3  X  10  um  so  passender  ausdrücken,  als 
die  Endung  u  ohnehin  pluralisch  ist  und  der  Plural  im 
Aegyptischen  durch  Verdreifachung  ausgedrückt  wird.  Viel- 
leicht hat  sich  in  ?»e/)-ouosch  desiderium,  verglichen  mit 
ouosch.  voluntas  (Wunsch)  der  alte  Stamm  mapu  als  Verbal- 
wurzel noch  wirksam  erhalten. 

Nun  ist  es  auch  gestattet,  das  bisher  unerklärte  Jime 
=  40  in  Angriff  zu  nehmen.  Im  Pap.  Leyd.  I,  150  ist  die 
betreffende  Gruppe  undeutlich,  wenigstens  in  ihrem  Anfange ; 
der  Schluss  wird  durch  ein  sicheres  m  gebildet.  So  viel 
dürfte  schon  hieraus  erhellen,  dass  das  altägyptische  Zahl- 
wort für  40  dem  kopt.  hme  identisch  gewesen.  Ich  habe 
in  einem  Denkmal  des  Pharao  Hop!  ra  (OvatpQig,  'AnQirjg)*5) 
die  Stelle  ,,ar  ham  renpetu"'  getroffen,  welche  bedeutet  „Es 
sind  40  Jahre",  wenn  die  Gruppe  ha/m,  determinirt  durch 
den  Pelikan,  mit  40  übersetzt  werden  darf.  Leider  ist  der 
Text  sehr  lückenhaft,  so  dass  uns  der  Zusammenhang  und 
der  daraus  zu  entnehmende  Beweis  entgeht.  Was  aber 
meine  Auffassung  empfiehlt ,  ist  der  Umstand ,  dass  der 
Pelikun  im  Kopt.  eben  auch  hme  heisst.  Die  dialektischen 
Varr.  hme,  hemi,  hyme,  führen  auf  das  Verbum  homi  cal- 
care,  so  dass  demnach  die  Zahl  vierzig  ägyptisch  entweder 
von  der  Wiederholung  des  Auftretens  mit  den  zehn  Zehen  der 
Füsse  oder  zugleich  dem  Tasten  der  Hände  benannt  wäre46). 


45)  Brugsch  Recueil  PI.  III,  lin.  4  von  unten. 

4G)  H.  Pleyte,  in  der  oben  citirten  Abhandlung,  denkt  bei  zaut, 
mapu,  hme.  an  Entstehung  aus  fremden  Sprachen ;  allein  bis  jetzt 
zeigen  sich  diese  Zahlwörter  sonst    nirgends. 


124        Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Die  Zahlwörter  von  50  —  90  sind  Pluralformen  der  ent- 
sprechenden Einerbenennungeu.  Für  60  erscheint  statt  der 
sechsmaligen  Wiederholung  des  Zehnerzeichens  ein  Quadrat, 
für  80  die  sonst  schep  gelesene  Hieroglyphe.  Beide  scheinen 
Rückbildungen  aus  den  hieratischen  Zügen  zu  sein,  deren 
Composition  aus  6  X  10,  8  X  10  wenigstens  wahrschein- 
lich ist. 

Für  200  bietet  der  Pap.  Leyd.  I  350  scheta,  während 
er  für  100  schao  giebt,  gerade  wie  im  Kopt.  sehe  und  sehet 
aufeinander  folgen.  Wir  werden  nicht  fehlschliessen ,  wenn 
wir  das  letztere  für  den  Dual  des  ersteren  ansehen. 

Wie  sonderbar  die  Aegypter  bisweilen  ihre  Ziffern 
phonetisch  verwendeten,  ergiebt  sich  z.B.  aus  der  Schreib- 
ung des  herodotischen  Taxo^ipio.  In  einer  Ptolemaeer-In- 
schrift,  die  sich  auf  den  Jeodsxaoxoivog  bezieht,47)  ist  die 
Entfernung  von  Suen  (Syene)  bis  Takamsu  zu  12  ar  an- 
gegeben. Die  letzte  Sylbe  dieses  Namens  {su=Ow)  ist  durch 
sechsmalige  Wiederholung  des  Zahlzeichens  für  100  bezeichnet, 
während  das  koptische  sou-sche  sex-centi  bietet.  Der  ägyp- 
tische Schreiber  spielt  mit  dem  Doppelsinne  des  Zeichens 
der  Schlinge,  welches  als  Vocal  =  w,  als  Zahlzeichen  sehe 
lautet  und  hundert  bedeutet,  so  dass  er  su  (öeo)  gelesen 
wissen  wollte,  obgleich  er  su-sche  geschrieben  hatte.  Solche 
Spielereien  sind  in  der  jüngeren  Epoche  nicht  selten  und 
bisweilen  von  bedeutendem  Werthe  für  die  Ermittlung  der 
Phonetik.  Aber  auch  die  älteren  Texte  wimmeln  von  Wort- 
spielen, sei  es  zu  dichterischen  Zwecken,  oder  dem  Hange 
zur  Symbolik  nachgebend,  die  in  dem  ägyptischen  Schrift- 
systeme, wie  in  keinem  andern,  ihre  Blüthen  getrieben  hat. 


47)  Brugsch:  Geogr.  I,  70  Nr.  356. 


Büchner:  Mineralwasser  zu  Neumarkt  i,  d.  Oberpfalz.         125 

Mathematisch -physikalische  Classe. 

Sitzung  vom  1.  Juni  1867. 


Herr  Buchner  theilt  mit: 

„Neue  chemische  Untersuchung    des  Mineral- 
wassers zu  Neumarkt   in  der  Oberpfalz". 

Das  Mineralwasser  des  eine  Viertelstunde  von  Neumarkt 
in  der  Oberpfalz  entfernt  liegenden  altbekannten  Wildbades 
ist  seit  mehr  als  vierzig  Jahren  kein  Gegenstand  genauer 
chemischer  Beobachtung  mehr  gewesen.  Der  verehrte  Senior 
der  k.  Akademie,  Hr.  A.  Vogel  der  Vater,  hat  es  zuletzt 
im  Jahre  1826  untersucht  und  das  Resultat  seiner  Analyse, 
welche  uns  zuerst  die  Natur  dieses  Wassers  genau  kennen 
lehrte,  in  seiner  Schrift  ,,Die  Mineralquellen  des  König- 
reichs Bayern.  München  1829"  bekannt  gemacht. 

Einer  an  mich  im  verflossenen  Jahre  ergangenen  Ein- 
ladung, genanntes  Wasser  einer  neuen  chemischen  Unter- 
suchung zu  unterwerfen,  habe  ich  schon  desshalb  gern 
Folge  geleistet,  weil,  abgesehen  von  den  jetzigen  verbesser- 
ten chemisch-analytischen  Methoden ,  welche  eine  genauere 
qualitative  und  quantitative  Bestimmung  der  in  einem 
Mineralwasser  aufgelösten  Stoffe  gestatten ,  gerade  die  so- 
genannte Trinkquelle,  welche  ich  als  die  gehaltreichste 
von  den  dortigen  Quellen  erkannt  habe  und  welche,  lange 
verschüttet ,  erst  in  neuerer  Zeit  wieder  besonders  zur 
Trinkkur  benutzbar  gemacht  wurde ,  bisher  noch  keiner  ge- 
nauen chemischen  Untersuchung  unterworfen  worden  war. 

Es  entspringen  nämlich  mehrere  Heilquellen  im  Neu- 
markter  Wildbade.  Einige  davon,  fünf  an  der  Zahl,  ver- 
einigen sich  am  Grunde  der  im  Kurhause  unter  der  Kapelle 
befindlichen  gezimmerten  Brunnstube.  Eine  andere  Quelle, 
die  sogenannte  Kapuziner  quelle,  entspringt  in  einem 
oberhalb  des  Bades,  am  Fusse  des  sogenannten  Weinberges 


126  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

befindlichen  Felsenkeller  und  wird  ebenfalls  in  die  Brunn- 
stube des  Kurhauses  geleitet  und  mit  den  zuerst  erwähnten 
Quellen  zum  Baden  verwendet.  Wieder  eine  andere  Quelle, 
die  Waldquelle,  liegt  in  einem  Wäldchen  unweit  dem 
Bade  und  wird  nur  zum  Trinken  benützt,  zu  welchem  Zwecke 
das  Wasser  aus  einem  zehn  Fuss  tiefen  Brunnen,  worin 
eigentlich  zwei  Quellen  zusammenfliessen,  gepumpt  wird.  Die 
gehaltreichste  Quelle  endlich,  womit  die  nachstehende  Analyse 
vorgenommen  wurde  und  welche  vorzugsweise  zum  Trinken 
benützt  wird,  in  welcher  Hinsicht  sie  unstreitig  den  meisten 
Werth  hat,  oder  richtiger  gesagt,  der  Zusammenfluss  von 
drei  solchen  Quellen  in  einem  15  Fuss  tiefen,  auch  mit 
einem  Pumpwerke  versehenen  Brunnen,  befindet  sich  in  einer 
neben  dem  Kurhause  erbauten  bedeckten  Bahn. 

Das  Wasser  der  genannten  verschiedenen  Brunnen  zeigt 
bei  ungleichem  Gehalte    an    darin    aufgelösten  Stoffen  doch 
keine  wesentliche  qualitative  Verschiedenheit.     Es  gehört  zu 
jenen  sonderbaren  Wassern,    welche    Eisen    und    Schwefel- 
wasserstoff zugleich  enthalten.     Kaum    ist    das   ursprünglich 
klare  und  farblose,  stark  nach  Schwefelwasserstoff  riechende 
Wasser  geschöpft  und  der  Luft  ausgesetzt,    so  färbt  es  sich 
unter    schwacher    Trübung    grünlich-schwarz,    was   von    der 
Bildung    von  Schwefeleisen    herrührt.     Der    am  Grunde  der 
Brunnstube   befindliche   schwarze  Schlamm    entwickelt  daher 
beim    Uebergiessen    mit    Salzsäure    Schwefelwasserstoff,    er- 
kennbar   sowohl    durch    den    Geruch    als    auch    durch    die 
schwarzbraune  Färbung  eines  über  die  Flüssigkeit  gehaltenen 
mit  Bleiaufiösung  befeuchteten  Papiers.  Bei  längerem  Stehen 
an  der  Luft    verschwindet    diese  grünlich-schwarze  Färbung 
des  Wassers  und  die  Wände  des  Gefässes  bedecken  sich  mit 
einem  bräunlichen  ockerigen  Absätze  nebst  zahlreichen  Gas- 
bläschen.    Dies  rührt    daher,    dass    das    gebildete  Schwefel- 
eisen  durch  den  Sauerstoff  der  Luft  zu  schwefelsaurem  Eisen- 
oxydul   und    dieses    dann   noch   weiter    zu    basisch-schwefel- 


Buchner:  Mineralwasser  zu  NeumarTct  i.  d.  Oberpfalz.         127 

saurem  Eisenoxyd  oxydirt  wird,  welches  sich  nebst  dem 
durch  Oxydation  des  überschüssigen  kohlensauren  Eisen- 
oxyduls entstehenden  Eisenoxydhydrat  nach  und  nach  aus- 
scheidet. 

Ich  bin  überzeugt ,  duss  auf  dieser  Art  der  Zersetzung 
zum  Theil  die  schon  oft  beobachtete  wohlthätige  stärkende 
Wirkung  des  Neumarkter  Mineralwassers  auf  den  Darm- 
kanal beruht,  denn  das  getrunkene  Wasser  wird  sicherlich 
im  Darmkanal  auf  gleiche  Weise  und  ebenso  rasch,  wenn 
nicht  rascher  zersetzt  werden  als  ausserhalb  desselben  und 
das  hiebei  im  Zustande  feinster  Zertheilung  sich  ausschei- 
dende und  wieder  oxydirende  amorphe  Schwefeleisen  und 
Eisenoxydhydrat  werden,  indem  sie  mit  der  Schleimhaut  des 
Darmkanales  in  Berührung  kommen,  auf  diese  gelind  ad- 
stringirend  wirken. 

Die  Beobachtung  der  Schwärzung  des  Neumarkter 
Mineralwassers  an  der  Luft  ist  schon  längst  gemacht  worden, 
denn  schon  der  dortige  Stadtphysikus  Dr.  Conrad  Rumel 
sagt  in  seiner  1598  auf  Befehl  eines  löblichen  Magistrates 
herausgegebenen  und  1682  von  dem  Physikus  Dr.  Scheffler 
neu  aufgelegten  Beschreibung  des  neu  erbauten  mineralischen 
Bades  der  churfürstlichen  Stadt  Neuenmarkt  in  der  Obern 
Pfalz ,  dass  das  Wasser  den  Sand ,  da  wo  es  sich  heraus 
begibt,  schwarz  mache.  Allein  die  richtige  Erklärung  dieser 
Erscheinung  hat  erst  Herr  A.  Vogel  sen.  gegeben;  dieser 
Chemiker  hat  zuerst  gefunden,  dass  der  schwarze  Nieder- 
schlag, welchen  das  Wasser  nach  kurzer  Zeit  absetzt,  sich 
grösstentheils  wie  Schwefeleisen  verhält;  bei  Erwähnung 
dieser  Beobachtung  in  seiner  oben  erwähnten  Schrift  macht 
er  darauf  aufmerksam,  dass  ein  freiwilliges  Niederfallen  von 
Schwefeleisen  aus  einigen  Mineralwassern  in  Frankreich  auch 
schon  von  Longchamp,  Henry  und  Vauquelin  beobachtet 
worden  sei. 

Der  soeben  geschilderten  Erscheinung  will  ich,  um  den 


128  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

wesentlichen  Charakter  des  Neurnarkter  Mineralwassers  vor- 
läufis:  weiter  zu  kennzeichnen,  sogleich  hinzufügen,  dass  das- 
selbe ausser  Eisen  und  Schwefelwasserstoff  eine  ziemlich 
grosse  Menge  schwefelsaurer  Salze,  namentlich  schwefelsauren 
Kalk,  schwefelsaure  Magnesia  und  schwefelsaure  Alkalien, 
ferner  verhältnissmässig  viel  kohlensauren  Kalk  nebst  etwas 
kohlensaurer  Magnesia,  die  beiden  letzteren  mit  Hülfe  freier 
Kohlensäure  aufgelöst,  enthält. 

Das  frisch  geschöpfte  Wasser  von  der  Trinkquelle  hatte 
im  April  1866  eine  Temperatur  von  nur  +  6.4°  R.  oder 
-f-  8°  C.  Es  schmeckt  daher,  an  der  Quelle  getrunken,  kühl, 
übrigens  hepatisch,  dann  schwach  bitterlich-salzig  und  zu- 
sammenziehend, eisenartig. 

Das  specifische  Gewicht  des  Wassers  von  der  Trink- 
quelle wurde  als  Mittel  mehrerer  bei  einer  Temperatur  von 
-f-  14  bis  16°  R.  vorgenommener  und  sehr  genau  überein- 
stimmender Versuche  =  1,0021  gefunden.  Ein  Liter  dieses 
Wassers  wiegt  demnach  bei  mittlerer  Temperatur  1002,1 
Grammen. 

Das  Wasser  von  der  Waldquelle  zeigte  ein  specifisches 
Gewicht  von  nur  1,00041,  woraus  sich  schon  ergiebt,  dass 
dasselbe  viel  ärmer  an  fixen  Stoffen  ist  als  das  Wasser  von 
der  Trinkquelle. 

Eine  Auflösung  von  Gerbsäure  erzeugt  im  frisch  ge- 
schöpften Wasser  von  der  Trinkquelle  schon  im  ersten  Augen- 
blick eine  röthlich-violette  Färbung  und  unmittelbar  darauf 
eine  geringe  Trübung.  Später  setzt  sich  in  der  Flüssigkeit 
ein  violett-rother  flockiger  Niederschlag  zu  Boden. 

Das  Wasser  von  der  Waldquelle  (auch  Stahlquelle  ge- 
nannt) giebt  mit  Gerbsäure  auch  eine  solche,  aber  weniger 
intensive  Färbung,  was  beweist,  dass  dieses  Wasser  weniger 
Eisen  aufgelöst  enthält  als  dasjenige  von  der  Trinkquelle. 

Das  Wasser  von  der  Kapuzinerquelle  wird  durch  Gerb- 
säure nur  sehr  schwach  violett  gefärbt. 


Buchner:  Mineralwasser  zu  Neumarlct  i.  d.  Oberpfalz.        129 

Beim  Schütteln  perlt  das  Wasser,  aber  in  der  Ruhe 
verschwinden  die  Perlen  sogleich  wieder.  Beim  Erwärmen 
bilden  sich  ziemlich  viele .  an  der  Wand  des  Gefässes  ad- 
härirende  Gasbläschen  von  Kohlensäure. 

Beim  Eindampfen  trübt  sich  das  Wasser  zuerst  schwach 
bräunlich  und  scheidet  Eisenoxydhydrat  aus.  Hieraufschlägt 
sich  unter  weiterer  Entwickelung  von  Kohlensäure  kohlen- 
saurer Kalk  und  kohlensaure  Magnesia  nieder.  Der  Ver- 
dampfungsrückstand sieht  bräunlich-weiss  ,  krystallinisch  aus. 
Beim  Glühen  schwärzt  er  sich  vorübergehend  wegen  der 
Zerstörung  einer  darin  befindlichen  organischen  humusartigen 
Substanz. 

Die  einzelnen  Bestandtheile ,  welche  bei  der  näheren 
Untersuchung  sowohl  des  Mineralwassers  als  auch  seines 
Verdampfungsrückstandes  aufgefunden  werden  konnten,  sind: 

Basen:  Säuren  oder  diese  vertretende  Elemente: 

Kali,  Schwefelwasserstoff, 

Natron,  Chlor, 

Lithion,  Schwefelsäure, 

Ammoniak,  Salpetersäure, 

Kalk,  Phosphorsäure. 

Magnesia,  Kohlensäure,  sowohl  freie  als  auch 

Thonerde,  chemisch  gebundene, 

Eisenoxydul,  Kieselsäure, 

Maganoxydul. 

organische  humusartige  Substanz. 

Es  war  mir  daran  gelegen,  die  Frage  bestimmt  beant- 
worten zu  können,  ob  das  Eisen  im  Mineralwasser  zu  Neu- 
markt als  schwefelsaures  oder  als  kohlensaures  Eisenoxydul 
aufgelöst  sei  ?  Aus  den  geognostischen  Verhältnissen  der 
Neumarkter  Gegend  glaube  ich  schliessen  zu  müssen ,  dass 
das  Eisen  als  schwefelsaures  und  nicht  als  kohlensaures  Salz 
[1867.11. 1.]  9 


130  Sitzung  der  math.-phys.  vom  Classe  1.  Juni  1867. 

in  das  Wasser  gelange.  Es  ist  nicht  meine  Aufgabe,  diese 
Verhältnisse  hier  näher  zu  schildern.  Der  frühere  Gewehr- 
fabrikdirektor im  Amberg,  Herr  Oberbergrath  J.  von  Voit, 
hat  dieselben  klar  beschrieben  in  der  1840  erschienenen  vor- 
züglichen Badschrift  „Das  Mineralbad  zu  Neumarkt  in 
der  Oberpfalz  des  Königreichs  Bayern.  Nürnberg, 
J.  A.  Stein'sche  Buchhandlung"  des  Hrn.  Dr.  J.  Bapt. 
Schrauth,  welcher  sich  überhaupt  um  Neumarkt  und  dessen 
Mineralbad  sehr  verdient  gemacht  hat,  und  Hr.  Gümbel 
hat  in  neuester  Zeit  die  Neumarkter  Gegend  ebenfalls  zum 
Gegenstand  seiner  genauen  geogn ostischen  Forschungen  ge- 
macht. Ich  will  zum  Verständniss  der  Sache  nur  erwähnen, 
dass  der  Thalkessel,  in  welchem  Neumarkt  liegt,  in  die 
Liasformation  eingesenkt  ist  und  dass  der  Grund1 
worin  die  Bildung  des  Mineralwassers  vor  sich  geht,  aus 
mergeligem  Kalkstein  besteht,  welcher  ausser  Bitumen  und 
anderen  organischen  Ueberresten  Schwefelkies  in  grosser 
Menge  beigemengt  enthält.  Der  in  dieser  Gegend  so  häufig 
sich  findende,  leicht  verwitternde  Schwefelkies  muss  als  der 
Ausgangspunkt  der  Bildung  nicht  nur  des  in  Nestern  dort 
vorkommenden  Gypses  und  anderer  Mineralien,  sondern  auch 
der  wesentlichen  Bestamltheile  des  Mineralwassers  angesehen 
werden.  Indem  er  bei  seiner  Verwitterung  in  schwefelsaures 
Eisenoxydul  verwandelt  wird ,  gelangt  das  Eisen  zunächst 
als  dieses  Salz  in  das  hinzukommende  Wasser,  um  dann 
weiter  zersetzt  zu  werden  und  andere  Zersetzungen  zu  be- 
wirken. 

Zu  diesen  Zersetzungen  gehört  besonders  die  Umwand- 
lung des  schwefelsauren  Eisenoxyduls  in  kohlensaures  Salz 
mittels  des  im  Wasser  mit  Hülfe  freier  Kohlensäure  auf- 
gelösten kohlensauren  Kalkes.  Dass  diese  Umwandlung 
erfolgt  und  dass  das  Eisen  im  Neumarkter  Mineralwasser 
als  kohlensaures  und  nicht  als  schwefelsaures  vorhanden  ist, 


Buchner:  Mineraltvasser  zu  NeumarH  i.  d.  Oberpfalz.        131 

glaube  ich  durch  folgende  Wahrnehmungen  auf  das  Bestimm- 
teste beweisen  zu  können: 

Setzt  man  eine  Auflösung  von  schwefelsaurem  Eisen- 
oxydul der  Luft  aus,  so  bleibt  die  Flüssigkeit  ziemlich  lange 
klar  und  farblos;  erst  nach  mehreren  Stunden  färbt  sie  sich 
schwach  bräunlich  und  trübt  sich  unter  Ausscheidung  von 
basisch-schwefelsaurem  Eisenoxyd.  Eine  Flüssigkeit,  welche 
kohlensaures  Eisenoxydul  enthält,  trübt  sich  hingegen  an 
der  Luft  sehr  rasch  und  scheidet  gelbbraunes  Eisenoxyd- 
hydrat aus. 

Wird  eine  frisch  bereitete  Auflösung  von  schwefelsaurem 
Eisenoxydul  mit  Gerbsäurelösung  vermischt  und  an  die  Luft 
gestellt,  so  ist  anfangs  gar  keine  Veränderung  sichtbar;  erst 
nach  einigen  Minuten  kommt  eine  schwache  röthlich -violette 
Färbung  zum  Vorschein,  deren  Intensität  nach  und  nach  in 
dem  Masse  zunimmt,  als  die  höhere  Oxydation  der  Eisen- 
lösung fortschreitet.  Wird  aber  zu  einer  Auflösung  von 
kohlensaurem  Eisenoxydul  Gerbsäure  gesetzt,  so  färbt  sich 
die  Flüssigkeit  so  zu  sagen  'augenblicklich  violett  und  die 
Färbung  erreicht  hier  schon  nach  wenigen  Secunden  eine 
grössere  Intensität  als  diejenige  der  Auflösung  des  schwefel- 
sauren Eisens  nach  mehreren  Minuten. 

Schwefelwasserstoff  bringt  in  einer  Auflösung  von 
schwefelsaurem  Eisen oxydul  in  reinem  Wasser  keine  Ver- 
änderung hervor,  setzt  man  aber  zu  einer  Auflösung  von 
kohlensaurem  Eisenoxydul  Schwefelwasserstoff- Wasser,  so 
färbt  und  trübt  sich  die  der  Luft  ausgesetzte  Flüssigkeit 
in  kürzester  Zeit  grünschwarz  unter  Ausscheidung  von 
Schwefeleisen. 

Vermischt  man  eine  reine  Lösung  von  schwefelsaurem 
Eisenoxydul  mit  Brunnenwasser,  welches  doppeltkohlensauren 
Kalk  aufgelöst  enthält,  oder  löst  man  Eisenvitriol  in  solchem 
Wasser  auf,  so  verhält  sich  die  Flüssigkeit  genau  so  wie 
eine  Auflösung  von  kohlensaurem  Eisenoxydul :  sie  trübt  sich 

9* 


132  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

an  der  Luft  ungemein  rasch  und  scheidet  einen  ockerigen 
Niederschlag  ab ;  mit  Gerbsäure  wird  darin  sogleich  die  vio- 
lette Färbung  erzeugt  und  auf  Zusatz  von  Schwefelwasser- 
stoff wird  sie  unter  Bildung  von  Schwefeleisen  schwarz 
gefärbt. 

Aus  diesen  Reactionen  muss  also  gefolgert  werden,  dass 
schwefelsaures  Eisenoxydul ,  wenn  es  mit  einem  Wasser  zu- 
sammenkommt, welches,  wie  das  mit  den  meisten  Quell- 
wassern der  Fall  ist,  doppelt-kohlensauren  Kalk  in  genügen- 
der Menge  enthält ,  nicht  unzersetzt  vom  Wasser  gelöst 
wird,  dass  schwefelsaures  Eisenoxydul  und  kohlensaurer  Kalk 
in  wässerigen  Lösungen  nicht  neben  einander  bestehen  können, 
sondern  sich  in  äquivalenter  Menge  in  schwefelsauren  Kalk 
und  kohlensaures  Eisenoxydul  umsetzen,  welches  letztere  mit 
Hülfe  freier  Kohlensäure,  so  lange  die  Luft  abgeschlossen 
ist,  gelöst  bleibt. 

Das  Neumarkter  Mineralwasser  enthält,  wie  bereits  er- 
wähnt, eine  ziemlich  grosse  Menge  kohlensauren  Kalkes 
aufgelöst;  es  zeigt  ferner  ganz  entschieden  die  Reactionen 
des  kohlensauren  Eisenoxyduls,  das  Eisen  ist  mithin  als  Car- 
bonat  darin  vorhanden  trotz  der  nicht  besonders  grossen 
Menge  freier  Kohlensäure,  welche  in  diesem  Wasser  nicht 
mehr  oder  kaum  mehr  beträgt  als  zur  Umwandlung  der 
darin  befindlichen  Carbonate  in  lösliche  Bicarbonate  erfor- 
derlich ist. 

Dass  übrigens  nicht  aller  im  Wasser  aufgelöste  schwefel- 
saure Kalk  nebst  den  übrigen  Sulfaten  erst  im  Wasser  selbst 
durch  die  besprochene  Umsetzung  des  schwefelsauren  Eisens 
seine  Entstehung  findet ,  sondern  grösstenteils  auf  solche 
Weise  schon  vorher  gebildet  in  das  Wasser  gelangt,  ergibt 
sich  aus  der  grossen  Menge  dieses  und  der  andern  schwefel- 
sauren Salze  im  Vergleiche  zu  der  verhältnissmässig  geringen 
Eisenmenge.  Die  Bildung  der  im  Wasser  aus  dem  Gesteine 
sich    auflösenden   schwefelsauren  Magnesia   ist  sicherlich  auf 


Buchner:  Mineralwasser  zu  Neumarkt  i.  d.  Obcrpfalz.         133 

ähnliche  Weise  erfolgt  wie  diejenige  des  schwefelsauren 
Kalkes,  nämlich  durch  die  zersetzende  Einwirkung  des  ver- 
witternden Schwefelkieses  resp.  des  daraus  entstandenen 
schwefelsauren  Eisens  auf  die  im  dolomitischen  Kalksteine 
enthaltene  kohlensaure  Bittererde. 

Was  die  Bildung  des  im  Neumarkter  Mineralwasser  vor- 
handenen Schwefelwasserstoffes  betrifft,  so  unterliegt  es  kaum 
einem  Zweifel,  dass  dieser  aus  dem  schwefelsauren  Kalke  entsteht, 
denn  es  ist  bekannt,  dass  dieses  Salz  im  Wasser  unter  dem 
Einflüsse  darin  befindlicher  und  in  Verwesung  begriffener  or- 
ganischer Stoffe  (Humusstotfe)  neben  Bildung  von  Kohlensäure  zu 
Schwefelcalcium  reducirt  und  dass  dieses  durch  die  im  Wasser 
gelöste  Kohlensäure  unter  Entbindung  von  Schwefelwasser- 
stoff zersetzt  wird.  Wäre  während  der  Bildung  des  Schwefel- 
calciums  schon  Eisen  im  Wasser  gelöst  vorhanden,  so  müsste 
dieses  als  Schwefeleisen  ganz  oder  theilweise,  je  nach  der 
Menge  desselben,  wieder  ausgeschieden  werden.  Aber  amor- 
phes Schwefeleisen  wird,  wie  ich  mich  überzeugt  habe,  von 
kohlensäurehaltigem  Wasser  seinerseits  wieder  zersetzt  und 
in  kohlensaures  Eisenoxydul  verwandelt.  Trägt  man  frisch 
präeipitirtes  und  hinlänglich  ausgewaschenes  Schwefeleisen 
noch  feucht  in  freie  Kohlensäure  enthaltendes  Wasser  ein 
und  schüttelt  die  Mischung  in  einem  verschlossenen  Gefässe 
nur  kurze  Zeit ,  so  wird  man  in  der  filtrirten  Flüssigkeit 
kohlensaures  Eisen oxydul  in  mehr  oder  minder  grosser  Menge, 
je  nach  der  Quantität  der  vorhandenen  Kohlensäure,  auf- 
gelöst finden. 

Aus  der  Thatsache,  dass  Schwefelcalcium  oder  Calcium- 
sulfhydrat  und  ein  Eisensalz  nicht  unzersetzt  neben  einander 
bestehen  können,  ergibt  sich  schon,  dass  der  im  Neumarkter 
Mineralwasser  enthaltene  Schwefelwasserstoff  nicht  im  ge- 
bundenen ,  sondern  nur  im  freien  Zustande  vorhanden  ist. 
Diess  muss  auch  daraus  geschlossen  werden,  dass  man  aus 
diesem    Wasser    allen   Schwefelwasserstoff  austreiben   kann, 


134         Sitzung  der  viath.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867, 

wenn  man  hinlänglich  lange  Wasserstoffgas  hindurch  leitet, 
und  dass  Nitroprussidnatriuin  nicht  die  geringste  blaue  Fär- 
bung darin  bewirkt.  + 

Frühere  Beobachtungen  sprechen  dafür,  dass  eisenhaltiges 
und  schwefelwasserstoffhaltiges  Wasser  am  genannten  Wild- 
bade gesondert  entstehen  und  sich  erst  in  der  Brunnstube 
oder  im  Brunnenschachte  vereinigen.  So  sollen  eine  eisen- 
haltige Quelle  von  Süden  und  zwei  schwefelhaltige  von 
Nordost  her  aus  den  Seitenwänden  der  Brunnstube  zum 
Vorschein  kommen  und  sich  in  dieser  mit  zwei  anderen,  auf 
dem  Grunde  entspringenden  eisenhaltigen  vermischen. 

Nach  der  im  Vorhergehenden  gemachten  Beschreibung 
des  Neumarkter  Mineralwassers  ist  es  kaum  mehr  nöthig  zu 
erwähnen  ,  dass ,  nachdem  während  des  Eindampfens  dieses 
Wassers  Eisenoxjd,  kohlensaurer  Kalk  und  kohlensaure  Ma- 
gnesia nebst  geringen  Mengen  von  Thonerde  und  Kieselsäure 
und  Spuren  von  Mangan  und  Phosphorsäure  unter  Entwicke- 
lung  von  Kohlensäure  niedergefallen  sind,  sich  bei  weiterem 
Verdampfen  Kryställchen  von  Gyps  und  darauf  schöne  Pris- 
men von  Bittersalz  auscheiden,  während  die  übrigen  schwefel- 
sauren Salze  nebst  einer  sehr  geringen  Menge  Chlornatriums 
und  Spuren  eines  salpetersauren  Salzes  in  der  Mutterlauge 
bleiben,  welche  durch  einen  humusartigen  Bestandtheil 
gelblich  gefärbt  ist.  Letzterer  wird  auch  von  kochendem 
Weingeist  aufgelöst. 

Die  quantitative  Bestimmung  der  in  diesem  Mineral- 
wasser in  wägbarer  Menge  vorhandenen  Stoffe  wurde 
nach  bekannten  bewährten  analytischen  Methoden  vorge- 
nommen. 

100  C.  C.  Wasser  von  der  Trinkquelle  hinterliessen  beim 
Eindampfen  als  Mittel  mehrerer  Bestimmungen  0,2410  Grm. 
scharf  ausgetrockneten  und  0,2225  Grm.  schwach  geglühten 
Rückstandes. 

100  C.  C.  Wasser  von  der  Waldquelle   gaben  aber  nur 


Buchner:  Miner altoasser  zu  Neumarkt  i.  d.  Ober pf alz.        135 

0,040  Grm.  ungeglühten  und  0,039  Grm.  schwach  geglühten 
Rückstandes. 

Die  Menge  des  Schwefelwasserstoffes  wurde  mittelst 
einer  wässerigen  Jodlösung,  die  in  einem  Liter  1,27  Grm. 
(=  0,01  Mg.)  Jod  enthielt,  bestimmt.  Hiebei  ergab  sich, 
dass  das  Wasser  von  der  Trinkquelle  nahezu  22  Mal  mehr 
Schwefelwasserstoff  enthält  als  das  Wasser  von  den  Quellen 
in  der  Brunnstube  und  fast  26  Mal  mehr  als  dasjenige  von 
der  Kapuzinerquelle.  Am  ärmsten  an  Schwefelwasserstoff  ist 
das  Wasser  von  der  Waldquelle. 

Die  Quantität  der  im  Wasser  der  Trinkquelle  vorhan- 
denen freien  Kohlensäure  wurde  nach  der  nun  hinlänglich 
bekannten  vortrefflichen  Methode  v.  Pettenkofer's  l)  fest- 
gestellt, nur  wurde  das  Mineralwasser  wegen  etwa  vorhan- 
dener grösserer  Kohlensäuremenge  mit  mehr  Kalkwasser  und 
wegen  der  ziemlich  grossen  Menge  Magnesia  mit  etwas  mehr 
Salmiaklösung  vermischt,  als'v.  Pettenkofer  für  die  Bestim- 
mung der  freien  Kohlensäure  im  gewöhnlichen  Trinkwasser 
nehmen  lässt. 

In  100  C.C.  frischen  Wassers  wurde  0,0182  und  in  der- 
gleichen Menge  Wasser  nach  mehrwöchentlichem  Stehen  in 
einer  verkorkten  Flasche  0,0166  Grm. ,  mithin  für  1  Liter 
0,182  und  0,166  Grm.  freier  Kohlensäure  gefunden.  Da 
nun  die  in  einem  Liter  gefundene  Menge  der  an  Kalk,  Ma- 
gnesia und  Eisenoxydul  gebundenen  Kohlensäure  0,16888  Grm. 
beträgt,  so  ergibt  sich,  dass  dieses  Mineralwasser  kaum  mehr 
freie  Kohlensäure  enthält  als  nothwendig  ist,  um  diese  kohlen- 
sauren Salze  als  Bicarbonate  aufgelöst  zu  halten. 

Die  Menge  der  in  diesem  Wasser  vorhandenen  orga- 
nischen Substanz  konnte  nur  auf  approximative  Weise 
geschätzt  werden.     Ich  nehme  nämlich  an,   dass  der  gelind 


1)  S.  Sitzungsberichte  1860.  Heft  III,  S.  289. 


136  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

geglühte  Verdainpfungsrückstand  des  Wassers  bestehe  aas 
dem  bei  180°  C.  ausgetrockneten  Verdampfungsrückstande 
minus  der  Kohlensäure  der  kohlensauren  Magnesia,  dem 
Hydratwasser  des  im  Rückstande  befindlichen  Eisenoxydes 
und  der  Thonerde,  dem  schwefelsauren  Ammonoxyde,  wel- 
ches sich  indessen  schon  während  des  Eindampfens  in 
flüchtiges  kohlensaures  Amnion  umsetzt,  und  der  organischen 
Substanz.  Die  Menge  der  letzteren  ergiebt  sich  mithin  an- 
nähernd genau  aus  der  Differenz  zwischen  der  Menge  des 
ungeglühten  und  derjenigen  des  geglühten  Rückstandes,  zu 
welcher  man  die  Grössen  der  oben  erwähnten  Stoffe  mit 
Ausnahme  der  noch  zu  suchenden  für  die  organische  Sub- 
stanz addirt  hat. 


Zusammenstellung   des    Resultates    der   chemischen 
Analyse  des  Wassers  von  der  Trinkquelle. 

Die  folgende  Zusammenstellung  enthält  die  Menge  der 
in  1  Liter  (=  1002,1  Grammen)  des  Wassers  von  der 
Trinkquelle  aufgefundenen  wägbaren  Stoffe  in  Grammen  aus- 
gedrückt. 


Es  wurden  gefunden: 

Schwefelwasserstoff 
Chlor 

Schwefelsäure 
Kohlensäure,  freie 

„  gebundene 

Kieselsäure 
Thonerde     . 
Eisenoxydul 
Kalk 

Magnesia 
Kali    . 
Natron 


0,00500  Grm. 

0,00765  „ 

1,11468  „ 

0,18200  „ 

0,16888  „ 

0.00118  „ 

0,00104  „ 

0,00953  ,. 

0,54474  .. 

0,30190  „ 

0,01860  „ 

0,01496  „ 


Büchner:  Mineralwasser  zu  NetwtarJct  i.  d.  Oberpfalz.        137 

Ammonoxyd         ....     0,00175  Grm. 
Organische  humusartige   Substanz     0,15638     „ 

In  unwägbarer  oder  nicht  genau  wägbarer  Menge  wurden 

gefunden : 

Salpetersäure, 

Phosphorsäure, 

Manganoxydul, 

Lithion.2) 

Folgende  Tabelle  gibt  die  in  diesem  Wasser  enthaltenen 
liestandtheile,  die  Basen  und  Säuren  zu  Salzen  verbunden, 
sowie  deren  Menge  sowohl  in  1  Liter  in  Grammen  als  auch 
in  1  Pfunde  zu  16  Unzen  (=  7680  Granen)  in  Granen 
berechnet  an.  Bei  der  geringen  Differenz  zwischen  dem 
spec.  Gewichte  von  reinem  Wasser  und  demjenigen  des 
untersuchten  Mineralwassers  kann  man,  ohne  einen  erheb- 
lichen Fehler  zu  begehen,  die  in  1  Liter  enthaltene  Menge 
der  einzelnen  Bestandteile  auch  für  1000  Grammen  Wassers 
gelten  lassen. 

Es  sind  enthalten : 

In  1  Liter:         In  lPfd.=7680Grn. 

A.  Gasförmige  Bestandtheile: 

Schwefelwasserstoff         .  0,00500  Grm.       0,03832  Gran 

=  3,38  C.C.  =  0,llCubikzoll 

Freie  Kohlensäure  .  0,18200     „  1,39483  Gran 

=  95,03  C.C.        =  3,04Cubikz.3) 


2)  Es  braucht  kaum  erwähnt  zu  werden,  dass  das  zur  quantita- 
tiven Bestimmung  des  Kalis  hergestellte  Kaliumplatinchlorid  besonders 
auch  auf  Caesium  und  Rubidium  mittelst  der  Spectralanalyse  und  dass 
der  eisenhaltige  Schlamm  aus  dem  Brunnen  auf  Arsenik  untersucht 
wurde.  Aber  es  war  nicht  möglich,  Spuren  dieser  Stoffe  deutlich  zu 
erkennen. 

3)  Die  oben  angegebenen  Zahlen  für  das  Volumen  des  Schwefel- 
wasserstoff- und  kohlensauren  Gases  sind  berechnet  für  die  Quellen- 
temperatur (z^-(-80C.)  und  760m  m  Barometerstand. 


138  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 


In  1  Liter :     In  lPfd.=7680  Grn . 


0,01261  Grm. 

0,01896  „ 

0,03439  „ 

0,00444  ,, 

0,88944  „ 

0,84348  „ 

0,01535  „ 

0,31875  „ 

0,04355  „ 

0,00104  „ 

0,00118  „ 

0,15638  „ 


0,09664  Gran 

0,14531  „ 

0.26356  „ 

0,03403  „ 

6,81658  „ 

6,46435  „ 

0,11764  „ 

2,44287  „ 

0,33376  ,. 

0,00797  „ 

0,00904  „ 

1,19848  ., 


B.  Fixe  Bestandtheile: 

a.  In  wägbarer  Menge : 

Chlornatriuin 

Schwefelsaures  Natron    . 

Schwefelsaures  Kali 

Schwefelsaures  Ammonoxyd    . 

Schwefelsaurer  Kalk 

Schwefelsaure  Magnesia 

Kohlensaures  Eisenoxydul 

Kohlensaurer  Kalk 

Kohlensaure  Magnesia    . 

Thonerde       .... 

Kieselsäure     .... 

Organische   humusartige   Sub- 
stanz .... 

Summe    der    wägbaren    fixen 
Bestandtheile 

b.  In  unwägbarer  oder  nicht  genau  wägbarer  Menge: 

Schwefelsaures  Lithion, 

Salpetersaures  Kali, 

Phosphorsaurer  Kalk, 

Kohlensaures  Manganoxydul. 
Das  untersuchte  Mineralwasser  muss  demnach  zu  den 
schwefelwasserstoffhaltigen  Eisenwassern  mit  schwefelsauren 
und  kohlensauren  Salzen,  worunter  die  schwefelsaure  Magnesia, 
der  schwefelsaure  und  kohlensaure  Kalk  vorherrschen,  gezählt 
werden.  Die  darin  vorhandene  Menge  kohlensauren  Eisen- 
oxyduls, in  einem  Pfunde  nicht  viel  über  Vio  Gran  betragend, 
ist  zwar  nicht  so  gross  als  in  manchen  anderen  Eisenwassern, 
aber  immerhin  gross  genug,  um,  wie  die  Erfahrung  hinläng- 
lich gelehrt  hat,  bei  gehörigem  Gebrauche  des  Wassers  eine 
heilkräftige    Wirkung  in   mehreren   Krankheiten    auszuüben. 


2,33957Grm.  17,93023Gran. 


Buhl:  Bildung  con  Eiterkörpern.  139 


Herr  Buhl  macht  Mittheilung : 

1)  „Ueber    die    Bildung    von  Eiterkörpern    in 
Gefässepithelien." 

Vor  Kurzem  wurde  mir  ein  Stück  Leber  von  einer  an 
Pylephlebitis  verstorbenen  Person  zur  Ansicht  überbraclit. 
Leider  kann  ich  über  den  Fall  weiter  nichts  mittheilen,  als 
eben  das  Resultat  der  mikroskopischen  Untersuchung,  welche 
ich  an  dem  Leberstücke  ausführte. 

Das  Lebergefüge  war  brüchiger  als  gewöhnlich,  gelblich 
tingirt,  wie  bei  akuter  Atrophie  und  die  sämmtlich  darin 
verlaufenden  Pfortadergefässe  mit  dickflüssigem  Eiter  gefüllt. 
Thrombose  oder  überhaupt  Gerinsel  fanden  sich  nicht. 
Gallengänge,  Arterien  und  Venen  waren  ohne  erwähnens- 
werthe  Veränderung.  Die  Leber  entsprach  auch  mikrosko- 
pisch einer  in  akuter  Atrophie  begriffenen,  denn  ihre  Zellen 
waren  reichlich  mit  gallegefärbten  Fettkörnchen  gefüllt,  klein, 
dem  Zerfalle  nahe  oder  wirklich  zerfallen;  aus  letzterem 
Umstände  dürfte  sich  die  Anwesenheit  einer  grossen  Menge 
freier  Fettmoleküle  erklären.  Zwischen  diesen  fanden  sich 
auch  kuglige  cytoide  Körper  von  der  Beschaffenheit  der 
Lymph-  oder  farblosen  Blutkörper  oder  wenn  man  will  der 
Eiterkörper.  Denn  der  Inhalt  der  Pfortaderäste  würde  von 
Niemanden  für  etwas  anderes ,  als  für  Eiter  ausgegeben 
worden  sein  und  so  mögen  die  cytoiden  Körperchen  in  der 
Lebersubstanz  —  obgleich  sich  solche  nach  meinen  Erfahr- 
ungen bei  jeder  akuten  Atrophie  finden  —  denn  auch  für 
Eiterkörper  genommen  werden. 

Der  Eiter  der  Pfortade  raste  enthielt  ausser  den 
Eiterkörpern ,  d.  h.  ausser  cytoiden  kugligen  Körpern  von 
der   Grösse    der   Eiterkörper    mit    einem    durch   Essigsäure 


140  Sitzung  der  math.-pliys.  Classe  vom  1   Juni  1867. 

deutlich  hervortretenden  Inhalt  von  1 — 3  Kernen,  mit  Fett- 
körnchen im  Protoplasma,  auch  noch  andere  relativ  grosse 
Körper,  nämlich  Zellen  von  Spindelform  mit  ungewöhnlichem 
Breite-Durchmesser,  gewöhnlich  in  starker  Fettdegeneration, 
die  keine  anderen  sein  konnten  und  waren  —  wie  unmittel- 
bares Abkratzen  von  der  Innenwand  des  Gefässes  erwies  — 
als  Epithelzellen  der  Pfortader.  Weniger  aber  durch  die 
Fettdegeneration  war  das  dickbäuchige  Ansehen  hervor- 
gebracht, als  vielmehr  durch  Eiterkörper,  welche  zu  1—5 
und  mehr  innerhalb  derselben  beherbergt  waren.  Da  die 
Eiterkörper  mit  den  Fettkörnern  der  Zellen  umhüllt  waren, 
so  fiel  der  eigenthümliche  Inhalt  zunächst  in  solchen  auf, 
wo  die  Fettdegeneration  unbedeutend  war.  Hier  liess  sich 
auch  hie  und  da  bei  guter  Lagerung  der  Zellenkern  er- 
kennen. Es  war  somit  kein  Zweifel,  dass  eine  endogene 
freie  Bildung  von  Eiterkörpern  in  Epithelien  vorlag. 

Die  Sache  hat  ein  mehrfaches  Interesse.  Sie  ist  nicht 
bloss  ein  neuer  Beleg  für  die  Wahrheit  des  angegebenen 
Modus  der  Entstehung  der  Eiterkörper  in  Epithelzellen 
überhaupt ,  sondern  bekömmt,  wie  ich  zu  zeigen  versuchen 
will,  Bedeutung  für  die  Vorgänge  im  Innern  der  Gefässe 
und  namentlich  auf  deren  abnormen  Inhalt. 

Glaubt  man  den  Eiter  von  Blut  und  Lymphe  wohl 
trennen  zu  können,  weniger  durch  den  Mangel  an  gefärbten 
Körpern,  die  zufällig  auch  dem  Eiter  beigemischt,  weniger 
durch  die  absolute  Menge  der  weissen  Körper,  die  ja  zu- 
sammengedrängt sein  können ,  und  weniger  auch  durch  den 
Mangel  an  gerinnbarem  Stoff,  der  im  Blute  fehlen  könne, 
und  endlich  weniger  durch  das  emulsive,  rahmige,  gelblich- 
weisse  Ansehen,  ein  Produkt  der  rasch  sich  geltend  machen- 
den Fettdegeneration  der  Körperchen,  die  in  Thromben  auch 
beobachtet  wird :  so  war  man  doch  nur  dann  sicher  über- 
zeugt davon,  dass  eine  fragliche  Flüssigkeit  Eiter  sei  und 
nichts  anderes  sein    könne ,    wenn    dieselbe    ausserhalb  der 


Buhl:  Bildung  von  Eiterlcörpern.  141 

Gefässe  gelegen  war.  Innerhalb  der  geschlossenen  Blutbahn 
gestaltet  sich  die  Sache  im  entgegengesetzten  Sinne.  Denn 
da  man  keine  mikroskopischen  Unterscheidungsmerkmale 
zwischen  Eiterkörpern  und  farblosen  Blut-  oder  Lymph- 
körpern wusste,  so  durfte  hier  auch  die  eiterähnlichste 
Flüssigkeit  für  keinen  Eiter  angesehen  werden;  denn  hier 
waren  es  die  farblosen  Blutkörper,  die  sich  massenhaft  zu- 
sammen- und  die  gefärbten  verdrängt  hatten,  hier  war  der 
sie  zusammenhaltende  Faserstoff  durch  Fettdegeneration  zer- 
fallen, welche  letztere  Degeneration  auch  dem  Ganzen  ein 
emulsives  milchiges  Ansehen,  selbst  die  gleiche  Farbe  gab. 
Innerhalb  der  Blutbahn  war  also  die  bezeichnete  Flüssigkeit 
immer  nur  verändertes  Blut,  ausserhalb  der  Blutbahn  war 
sie  immer  Eiter. 

Die  Anschauung  war  neu  und  bequem,  ob  aber  richtig, 
ist   eine    andere  Frage.     Immer    taucht    einerseits    auch  — 
doch    ohne    besonderen  Anklang  zu   finden  —   der  Gedanke 
wieder   auf,    die  Eiterkörper  ausserhalb  der  Blutbahn  nicht 
nur  ihrer    mikroskopischen  Identität,     sondern    auch    wegen 
ihrer  Entstehung    und    ihres   Sitzes    eigentlich    für  Lymph- 
körper anzusehen,  obgleich  man  nicht  nur  den  Entstehungs- 
modus, sondern  auch  den  Entstehungssitz  der  Lymphkörper 
viel  weniger  kennt,    als    den   der  Eiterkörper.     Und  immer 
behauptet    man    andrerseits     „unter   gewissen    Umständen" 
wieder,  es  sei  Eiter  in  den  Gefässen  und  nicht  Blut,    wenn 
man    sich  auch  keine  Rechenschaft   darüber   geben    konnte, 
wie  denn  der  Eiter  darin  entstehe.    Gerade  die  Entzündung 
und  damit    bezeichnet   man  ja    den  Process,    unter   dessen 
Wirksamkeit  Eiter    erscheint,    gerade    die   Entzündung   der 
Gefässwand,  deren  gefässhaltige  bei  der  Entzündung  beson- 
ders bethätigte  Schichte  nach  aussen  liegt  und  deren  Höhle 
nach    innen    durch    eine   feste  Epithelschichte  geschützt  sei. 
war  ein  Hinderniss,    die  Entstehung  der  Eiterkörper  inner- 
halb der  Blutbahn  zuzulassen. 


142  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Durch  meine  oben  mitgetheilte  Beobachtung  ist  man 
jedoch  gezwungen,  die  Funktion  des  Gefässepithels  nicht 
nur  als  schützende  Decke  zu  betrachten,  die  bloss  durch 
Imbibition,  sei  es  vom  Blute,  das  in  der  Gefässröhre  strömt, 
sei  es  vom  Blute  in  der  Adventitia  der  Gefässwand,  nur  nutritiv 
erhalten  wird,  sondern  das  Epithel  tritt,  wie  das  Epithel 
überall  im  Körper,  auch  hier  bildend,  producirend  auf,  seine 
Zellen  sind  fähig  durch  einen  im  osmotisch  aufgenommenen 
Safte  enthaltenen  Reiz  ihre  lebendige  Thätigkeit  zu  entfalten 
und  zur  Bildung  neuer  zelliger  Körper  zu  verwenden.  Diese 
Körper  sind  im  gegebenen  Falle  Eiterkörper ;  allein  einmal 
eine  bildende  Thätigkeit  in  ihnen  thatsächlich  erwiesen,  so 
ist  damit  der  Anstoss  gegeben,  in  allen  Vorgängen  inner- 
halb des  Gefässrohres  nach  der  aktiven  Theilnahme  der 
Gefässepithelien  zu  fragen. 

Ausser  dem  pathologischen  Interesse  tritt  uns  auch  ein 
physiologisches  vor  Augen;  denn  im  gesunden  Zustande 
giebt  es  schon  Körperchen  im  Blute,  welche  histologisch 
von  sämmtlichen  Forschern  mit  den  Eiterkörpern  identifizirt 
werden  und  desshalb  histogenetisch  auf  den  gleichen  Ursprung 
denken  lassen.  Manche  Autoren  haben  auch  wirklich  den 
Gefässepithelien.  insonderheit  der  Milz,  die  Bestimmung  zu- 
erkannt, die  farblosen  Biutkörper  zu  erzeugen.  Analoges 
dürfte  vom  Epithel  der  Lymphgefässe  in  Bezug  auf  die  Ent- 
wicklungsstätte der  Lymphkörper  gesagt  werden.  Die  Schwank- 
ungen in  der  Menge  dieser  Körperchen  und  noch  im  Be- 
reiche des  Normalen  (im  nüchternen  Zustande  und  in  der 
Verdauungszeit)  dürften  auf  vorübergehende  normale  Reize 
bezogen  werden.  Vielleicht  giebt  die  Untersuchung  eines 
Falles  von  Leukaemie  die  nöthigen  Anhaltspunkte,  ob  nicht 
die  absolute,  krankhafte  Vermehrung  derselben  wirklich  von 
abnorm  gesteigerter  Bildungsthätigkeit  der  Gefässepithelien 
herrührt,  die  hier  in  Bezug  auf  die  Milz,  Leber,  die  Lymph- 


Buhl:  Bildung  von  Eiterkörpern.  143 

driisen  nichts  anderes  als  die  Mittheilnahnie  der  gesteigerten 
Bildungsthätigkeit  im  ganzen  Organe  ausdrücken  würde. 

Die  Pfortader  und  ihre  Aeste,  von  welchen  obige  Be- 
obachtung stammt,  gehören  zum  Venensysteme.  Eiter  findet 
sich  fast  nie  in  Arterien.  Man  dürfte  daher  schliessen, 
dass  die  Eigenschaft,  farblose  Blut-  und  Eiter- 
körper zu  erzeugen,  fast  ausschliesslich  dem  Venen- 
und  dem  Lyniphgefässepithel,  nicht  aber  dem  Arterien- 
epithele  zukomme. 

Der  Zweifel,  ob  man  gegebenen  Falles  Eiterkörper 
oder  angehäufte  Lymph-  oder  farblose  Blutkörper  vor  sich 
habe,  könnte  somit  gehoben  werden,  wenn  man  sich  zu  der 
Anschauung  bequemen  wollte,  dass  die  Bildung  sämmtlicher 
genannter  Körperchen  ausser-  wie  innerhalb  der  Blutbahn 
auf  gleichen  Bedingungen  beruht.  Bei  übermässiger  Ver- 
mehrung wird  da,  wie  dort  die  sie  enthaltende  Flüssigkeit 
Eiter  zu  nennen  se-in,  d.  h.  es  giebt  zwischen  Eiter- 
körpern und  farblosen  Blut-  oder  Lyniphkörpern 
(auch  Schleim-,  Speichelkörper  etc.  gehören  hieher)  keinen 
anderen  und  keinen  schärfer  zu  begrenzenden  Unter- 
schied als  einen  quantitativen;  ursprünglich  sind  die 
Körperchen  qualitativ  identisch,  weichen  aber  durch  die 
Menge ,  in  der  sie  vorhanden  sind  und  dadurch  in  ihren 
weiteren  Schicksalen  von  einander  ab. 

Die  gesicherte  Thatbache,  dass  innerhalb  der  Adventitia 
der  Gefässe,  wie  im  übrigen  Bindegewebe  des  Körpers,  sich 
auch  Eiter  bilden  könne ,  wird  damit  weder  bestritten  noch 
beeinträchtigt.  Gleichwohl  ist  in  Acht  zu  nehmen,  dass  im 
Bindegewebe  Venen  und  Lymphgefässe  verlaufen.  Es  käme 
in  Frage,  ob  ausser  der  Milz  und  anderen  blutbereitenden 
Organen,  nicht  jedes  Organ  und  Gewebe  durch  den  Besitz 
an  Venen  und  Lymphgefässen  geeignet  wäre,  farblose  Blut- 
körper zu  erzeugen  und  kann  man  meines  Erachtens  darüber 
nicht  absprechen,   ob  bei   eiterndem  Bindegewebe   nicht  ein 


144  Sitzung  der  math.-phys.  (lasse  vom  1.  Juni  1867. 

Theil    des  Eiters   im  Epithel    der  Venen   und  Lymphgefässe 
gebildet  werde. 

Im  normalen  Zustande  mag  allerdings  die  Bildung  der 
farblosen  Blutkörper  auf  kleine  bestimmte  venöse  Capillar- 
bezirke  (auf  die  Milz  z.  B.)  beschränkt  sein;  unter  patho- 
logischen Verhältnissen  aber  kann  die  gleiche  Thätigkeit 
in  vielen  Punkten  des  Körpers  erweckt  werden  und  vom 
capillaren  Lymphgefäss-  und  Venensysteme  aus  sich  über 
die  Lymphgefässe  selbst  und  die  grösseren  Venenäste  aus- 
dehnen. Die  fortgesetzte  Phlebitis  und  Lymphangitis  und 
die  damit  Hand  in  Hand  gehende  Thrombose  sowohl  wie 
die  Pyaemie  und  ihre  multiplen  Herde  würden  einer  sach- 
gemässen  Erklärung  zugängig  werden. 


2)  „Notiz    über   primäre   ästige  Osteome    der 
Lunge". 

Kalkige,  eine  Knochenstruktur  nicht  besitzende  Gebilde 
der  Lunge  sind  häufig  zu  sehen;  wirkliche  Knochen  in 
diesem  Organe  immer  eine  Seltenheit.  Letztere  kommen 
in  der  Regel  nur  sekundär  vor;  es  sind  bald  Narben,  welche 
nachträglich  verknöchern,  bald  sind  es  von  einem  Körper- 
theile  aus  in  die  Lunge  transportirte,  mit  Knochengerüste 
versehene  Neubildungen  (sogenannte  Osteoide),  nämlich 
Krebse,  Enchondrome,  Fibrosarkome.  Die  grösste  Seltenheit 
jedoch  sind  primäre  Knochenbildungen  im  Lungengewebe. 

Von  den  2  Formen,  der  ästigen  und  knotigen,  hatte 
ich  jüngst  bei  einem  58jährigen  Manne,  der  an  croupöser 
Pneumonie  starb,  Gelegenheit,  die  erstere  zu  beobachten 
und  will  ich  sofort  den  Befund  der  verehrten  Classe  mit- 
theilen. 

Verästigte  Knochenbildungen  in  der  Lunge  wurden  wohl 
von  Luschka    (Virchow's  Archiv  10  Bd.  p.  500)    zuerst  ge- 


Buhl:  Primäre  ästige  Osteome  der  Lwige.  145 

nauer  beschrieben,  wenn  sie  auch  schon  Anderen  vor  ihm 
bekannt  waren.  Ich  kann  seiner  getreuen  Beschreibung 
kaum  etwas  beifügen.  Bei  meinem  Falle  waren  es  indess 
nicht  die  Unterlappen  der  Lungen  (Rokitansky,  Virchow, 
Förster  geben  als  stetigen  Sitz  den  Unterlappen  an),  in 
welchem  beim  Befühlen  die  spitzigen  Knochenäste  sich  be- 
merklich machten ,  sondern  einzig  und  allein  der  rechte 
Oberlappen,  dessen  Pleuraüberzug  glatt,  glänzend,  nur  unbe- 
deutend verwachsen  war.  Das  ödematöse  Lungengewebe 
collabirte  beim  Einschneiden  schwer,  war  etwas  dichter, 
pigmentreich,  seine  Bläschen  ungleich  erweitert,  die  Bron- 
chien mit  starkem  Catarrh  versehen.  Von  den  anderen  Or- 
ganen ist  nichts  Erhebliches  mitzutheilen ;  das  Herz  war 
etwas  fettig  degenerirt,  der  Magen  in  seinem  Pförtnertheile 
hypertropisch  (etat  mammelonne),  der  Bauchfellüberzug  von 
Leber  und  Milz  verdickt.  Der  grösste  Theil  der  ästigen 
Lungenknochen  wurde  herausgeschnitten  und  der  Maceration 
unterworfen  und  erhielt  ich  auf  diese  Weise  eine  ziemliche 
Anzahl  grösserer  und  kleinerer  Präparate.  Die  kleineren 
hatten  oft  nur  2 — 3  spitze  gerade  Ausläufer  der  Aeste, 
andere  verliefen  gebogen;  wieder  andere  endigten  anstatt 
spitz  in  ein  granulöses,  blumenkohlälinliches  Kölbchen.  Die 
grösseren  bildeten  geschlossene,  einfache  und  mehrfache 
Bogen  und  verzogene  Kreise  grösseren  oder  kleineren. Durch- 
messers. Die  Hauptbalken  massen  dabei  2 — 5  m/m  im 
Durchmesser.  Luschka  hal^  schon  jene  blumenkohl-ähnlichen 
Kölbchen  mit  den  Lungenbläschen ,  die  Kreise  und  Bogen 
mit  den  Alveolarwänden  verglichen  —  in  der  That  dieser 
Vergleich  trifft  zu. 

Unter  den  verschiedenen  Methoden,  welche  behufs  einer 

mikroskopischen  Untersuchung  angewandt  wurden  ,    erwiesen 

'sich  die    wenn    auch    schwierig    auszuführenden  Schliffe   am 

besten.    Mau  sieht  die  schönsten  Knochenkörperchen,  lamel- 

löse  Anordnung  derselben  ,    meist    der  Länge  nach ,    seltner 

[1867.11.  1.]  '  10 


146  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

concentrisch  um  einen  obliterirten  oder  offenen  Hauers'schen 
Kanal  herum.  An  die  Hohlwand  des  letzteren  war  meist 
eine  ziemliche  Menge  schwarzen  Pigments  eingelagert.  Auch 
die  von  Luschka  mit  dem  Hirnsande  verglichenen  Kalkkörner 
(mikroskopisch  durchsichtige  glänzende  Ringe  mit  dunklem 
körnigem  Inhalte)  fanden  sich;  sie  lehnten  sich  unmittelbar 
an  die  Knocheubälkchen  an.  Auf  sie  erst  folgten  die  Weich- 
theile.  d.  h.  farblose  oder  pigmentreiche  Bindegewebziige. 

Wie  Luschka,  Förster  etc.,  bin  auch  ich  der  Meinung, 
dass  die  beschriebenen  Osteome  ursprünglich  auf  einer  Ver- 
knöcherung des  interstitiellen  Bindegewebes,  der  Alveolen- 
und  Bronchuolenwände  beruhen  und  von  den  etwas  grösseren 
Gefässzweigen  ausgehen.  Doch  bleibt  die  Bildung  nicht 
dabei  stehen ;  denn  anstatt  der  regelmässigen,  nur  zu  Knochen 
umgewandelten  Zeichnung  jener  Theile  sieht  man  vielmehr 
die  grösste  Unregelmässigkeit  und  insbesondere  mikros- 
kopische epostosenähnliche  Verdickungen ;  auch  in  den  durch 
die  Knochenkörperchen  angedeuteten  Lagerungen  und  Zügen 
wird  es  deutlich,  dass  eine  wirkliche  Knochenneubild- 
ung vorliegt.  Wie  die  Hirnsand-ähnlichen  Bildungen  zu  er- 
klären sind,  möchte  ich  nicht  wagen  zu  entscheiden. 


Gi'tmbel:  Vorkommen  von  Phosphorsäure.  147 


Herr  Gümbel  gibt: 

„Weitere  Mitteilungen  über  das  Vorkommen 
von  Phosphorsäure  in  den  Schichtgesteinen 
Bayern's." 

In  einer  früheren  Mittheilung  (Sitzungsber.  d.  k.  Akade- 
mie d.  Wiss.  in  München  1864  Bd.  II.  S.  325)  wurde  von 
mir  zuerst  auf  den  hohen  Phosphorsäuregehalt  gewisser 
knolliger  Concretionen  in  verschiedenen  jurassischen 
Schichten  der  fränkischen  Alb  aufmerksam  gemacht  und 
nachzuweisen  versucht,  dass  diese  Eigenthümlichkeit  sich 
nicht  nur  innerhalb  eines  sehr  mächtigen  Schichtencomplexes 
vielfach  wiederholt,  sondern  auch  über  sehr  ausgedehnte 
Länderstrecken  verbreitet  zeigt.  Die  Kenntniss  dieses  Vor- 
kommens hat  sich  inzwischen  beträchtlich  erweitert  und  wir 
wissen  nun ,  dass  ein  mehr  oder  weniger  hoher  Gehalt  an 
Phosphor  säure  —  namentlich  an  Kalkerde  gebunden  — 
abgesehen  von  der  Knochen-reichen  Bonebedlage  der  rhätischen 
Stufe  der  Trias  bereits  in  den  Knollen  der  Angulatus-Schichten 
des  untersten  Lias  beginnt,  durch  die  verschiedenen  Stufen 
des  unteren  und  mittleren  Lias  fortdauert,  in  den  Knollen 
der  Mergel  mit  Ammonitcs  margaritatus  sehr  reichlich  an- 
gehäuft vorkommt,  dann  fast  in  gleicher  Menge  in  den 
obersten  Liassehichten  mit  Ammonites  radians  wiederkehrt 
uud  ganz  insbesonders  die  Concretionen  innerhalb  der  sog. 
Ornatenthone  ausgezeichnet.  Dergleichen  Knollen  finden  sich 
nach  meinen  Beobachtungen  während  der  vorjährigen  Ge- 
birgsuntersuchung  überall  im  fränkischen  Jura,  wo  die  ent- 
sprechenden Mergellagen  zu  Tag  ausgehen.  Sie  haben  aber 
nicht  bloss  eine  ganz  allgemeine  Verbreitung  in  unserm 
Fraukenjura,    sondern    lassen    sich   in   ganz    gleicher   Weise 

10* 


148  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

auch  in  den  jurassischen  Ablagerungen  von  Württemberg, 
Baden,  im  Allgäuer  Jura,  ferner  bei  Braunschweig,  im 
Wesergebirge ,  auf  beiden  Seiten  des  Teutoburger  Waldes, 
endlich  auch  in  den  ausgedehnten  Zügen  der  Juraformation 
Frankreichs  und  Englands  nachweisen.  Dadurch,  dass  sie  in 
den  etwa  der  Stufe  mit  Ammonites  macrocepJialns  entspre- 
chenden Ablagerungen  des  Hirnälaya-Gebirgs,  von  woher  sie 
die  Hrn.  Gebrüder  v.  Schlagintweit  brachten,  gleichfalls 
reich  an  Phosphorsäure  vorkommen,  scheint  die  Annahme, 
dass  derartige  Phosphorsäure-reiche  Knollenausscheidungen 
den  jurassischen  Ablagerungen  in  allen  ihren  Verbreitungs- 
gebieten eigenthümlich  ist,  eine  wichtige  Unterstützung  zu 
gewinnen. 

Die  Häufigkeit  und  allgemeine  Verbreitung  dieser  Phos- 
phorsäure-haltigen Knollen  legen  uns  zunächst  die  Frage 
nahe,  ob  man  dieselben  nicht  mit  Vortheil  für  Agricultur- 
zwecke  verwenden  könne.  Bei  Beantwortung  dieser  Frage 
dürfen  hauptsächlich  zwei  Punkte,  welche  von  entscheidendem 
Einflüsse  sind,  ins  Auge  zu  fassen  sein : 

1)  ob  diese  Phosphorsäure  hauptsächlich  als  phosphor- 
sauren Kalk  (3  CaO,  PO5)  enthaltenden  thonigen  und  zugleich 
auch  an  kohlensauren  Kalk-reichen  Knollen  —  die  thonigen 
Phosphorite  —  für  die  Landwirtschaft  nutzbar  und  mit 
Vortheil  verwendet  werden  können,  ohne  erst  den  phos- 
phorsauren Kalk  vor  seiner  Verwendung  in  Super- 
phosphat  zu  verwandeln  und 

2)  ob  diese  thonigen  Phosphorite  sich  in  der  Natur 
in  zureichender  Menge  und  in  einer  Weise  gelagert  vor- 
finden, dass  ihre  Gewinnung  eine  andauernde,  massenhafte 
und  wohlfeile  —  d.  i.  eine  ökonomisch  lohnende  sein  kann. 

Bezüglich  des  ersten  Punktes  ist  zu  bemerken,  dass 
bekanntlich  der  basische  phosphorsaure  Kalk,  wie  er  in 
der  Natur  vorkommt,  um  grössere  Löslichkeit  zu  erzielen,  für 


Gümbel:  Vorkommen  von  Phosphorsäure.  149 

die  Zwecke  der  Landwirtschaft,  vor  seiner  Verwendung  erst 
in  Superphospliat  verwandelt  wird. 

Bei  unserem  thonigen  Phosphorit  ist  dieses  Verfahren 
ökonomisch  unstatthaft.  Denn  da  derselbe  neben  phosphor- 
saurem Kalk  zugleich  auch  kohlensauren  Kalk  in  beträchtlicher 
Menge  enthält,  so  würde  die  zur  Herstellung  des  Super- 
phosphats  verwendete  Schwefelsäure  zuerst  den  kohlen- 
sauren Kalk  angreifen  und  in  Gvps  verwandeln,  der  auf 
diese  Weise  erzeugt,  viel  zu  theuer  wäre.  Die  darauf  ver- 
wendete Schwefelsäure  wäre  gleichsam  verloren  und  bei  dem 
hohen  Preis  der  Schwefelsäure  würde  das  weiter  erzeugte 
Superphospliat  kaum  ein  entsprechendes  Werthäquivalent 
geben.  Es  sind  mir  zwar  keine  direkten  Versuche  hierüber 
bekanut,  indess  scheint  diess  schon  von  vorneher  mehr  als 
wahrscheinlich. 

Die  rentable  Verwendung  der  Knollen  des  thonig-kalkigen 
Phosphorites  für  Agrikulturzwecke  dürfte  demnach  davon  ab- 
hängig sein ,  ob  das  bezeichnete  Phosphor  säure  -  haltige 
Gestein  an  sich  schon,  ohne  vorher  mit  Schwefelsäure  be- 
handelt worden  zu  sein,  entweder  einfach  zu  feinem  Pulver 
gepocht,  oder  erst  gebrannt  und  dann  gepulvert  und  der 
Ackerkrume  beigemengt,  einen  dem  Aufwand  für  Herstellung 
dieses  künstlichen  Düngermittels  entsprechenden  günstigen 
Eiufluss  auf  die  Vegetation  auszuüben  im  Stande  sei  oder 
nicht.  Versuche,  welche  man  mit  dem  Phosphorit  (nicht  Su- 
perphosphat)  angestellt  hat,  sprechen  für  einen  sehr  geringen 
und  sehr  langsamen  Einfluss.  Vielleicht  würden  grössere 
Quantitäten  aus  möglichst  feinem  Pulver  günstiger  wirken. 
Auch  dürfte  der  Gehalt  an  Thon  und  kohlensaurem  Kalk 
unseres  Knollenpliosphorits  günstig  auf  seine  raschere  Zer- 
setzung einwirken.  Das  Brennen  und  nachherige  Zerkleinern 
möchte  ganz  insbesonders  ins  Auge  zu  fassen  sein,  weil  durch 
das  Brennen  der  kohlensaure  Kalk  kaustisch  und  die  ganze 
Masse  aufgeschlossen  wird .  zugleich  auch ,  weil  die  Knollen 


150  Sitzung  der  math-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

im  ungebrannten  Zustande  sehr  zäh  und  schwierig  zu  pochen 
oder  mahlen  sind.  Vielleicht  würde  auch  das  Einstreuen  des 
Pulvers  in  den  Dünger  günstig  auf  einen  rascheren  Aufschluss 
wirken.  Es  wäre  sehr  zu  wünschen,  dass  in  diesen  Richtungen 
praktische  Versuche  von  Landwirthen  oder  landwirtschaft- 
lichen Versuchsstationen  angestellt  würden,  weil  von  der 
Lösung  dieser  Vorfrage  alles  Uebrige  abhängig  ist. 

In  Bezug  auf  den  zweiten  Punkt,  welcher  sich  auf  die 
Häufigkeit  des  Vorkommens  des  thonigen  Phosphorits  bezieht, 
habe  ich  Gelegenheit  genommen,  in  den  Sommermonaten 
der  zwei  letzten  Jahre  eingehende  Untersuchungen  innerhalb 
des  ganzen  Gebiets  der  fränkischen  Alb  anzustellen.  Das 
Resultat  ausgedehnter  Gebirgsbegehungen  hat  zwar  das  reich- 
liche Vorkommen  des  thonigen  Phosphorits  in  dem  obenge- 
nannten Ornatenthon  an  sehr  vielen  Stellen  ausser  Zweifel 
gestellt.  Indess  glaubte  ich  mich  nicht  damit  beruhigen  zu 
dürfen,  sondern  direktere  Versuche  vornehmen  zu  sollen.  An 
einem  der  dem  äusseren  Ausehen  nach  ergiebigsten  Fund- 
punkte unseres  Gebirgs ,  am  sog.  Zogenreuther  Berg  bei 
Auerbach  (a.  0.  S.  344)  in  der  Oberpfalz  am  Ostfusse  der 
fränkischen  Alb.  da,  wo  auf  der  Höhe  des  nördlichen  Berg- 
gehängs  die  Atmosphärilien  den  die  Knollen  einhüllenden  Mergel 
durch  Jahrhundert  lange  Einwirkung  weggewaschen  und  auf 
diese  Weise  die  Knollen  an  der  Oberfläche  sich  massenhaft  ange- 
häuft haben,  Hess  ich  die  frei  auf  einer  Oedung  liegenden  Knollen 
aufsammeln.  Ein  Arbeiter  konnte  hier  durchschnittlich  in 
einer  Zeitstunde  zwei  Zentner  solcher  Knollen  sammeln. 
Von  diesem  eingesammelten  Material  hatte  Hr.  Prof.  Vol- 
hard  die  Güte,  durch  den  Assistenten  bei  der  landwirth- 
schaftlichen  Versuchsstation  in  München,  Hr.  Dr.  Röttger, 
eine  vollständige  Analyse  herstellen  zu  lassen  und  die  Re- 
sultate derselben  mir  gefälligst  mitzutheilen.  Um  den  durch- 
schnittlichen Gehalt  dieser  Knollen  zu   ermitteln,    wurde  zu 


Gümbel:   Vorkommen  von  Phosphorsäure. 


151 


dieser  Durchschnittsanalyse  aus  65  Pfd.  Knollen   die  Probe 
genommen. 

Demnach   enthalten   die  Knollen   des   thonigen  Phos- 
phorits von  Auerbach  im  Durchschnitt: 


Phosphorsäure        .... 

22,92 

Schwefelsäure         .... 

1,62 

Chlor 

0,03 

Fluor 

.       2,92 

Kohlensäure    ..... 

11,64 

Kalkerde 

44,22 

Bittererde 

0,77 

Eisenoxyd 

,       4,85 

Eisenoxydul 

.       0,86 

Unlösliches,  Thon,  Kieselerde  etc. 

.       9,97 

99,80 

Die  Untersuchung  auf  Jod  hat  dessen  Abwesenheit 
ergeben.  Der  hohe  Gehalt  an  Fluor  ist  besonders  bemerkens- 
werth.  Es  scheint  demnach  der  thonige  Knollenphos- 
phoritaus einem  dem  Fluorapatit  entsprechenden  Kalkphosphat 
zu  bestehen,  das  mit  Thon  und  kohlensaurem  Kalk  nebst 
geringer  Menge  kohlensaurer  Bittererde  und  Eisen oxydul 
verunreinigt  ist.  Die  Schwefelsäure  hat  ihren  Ursprung  in 
einem  schon  mit  dem  Auge  zuweilen  erkennbarem  Gehalt 
an  Schwefelkies. 

Die  Arbeitsleistung  eines  Mannes ,  welcher  die  an  der 
Oberfläche  ausgewaschenen  Knollen  sammelt,  entspricht  mit- 
hin in  der  Stunde  dem  Werthe  von  23  Pfd.  Phosphorsäure. 
Es  scheint  diesem  nach  kaum  zweifelhaft,  dass  ein  solches 
Aufsammeln  ein  verhältnissmässig  äusserst  lohnendes  Ge- 
schäft wäre.  Es  bedarf  aber  kaum  der  Bemerkung ,  dass 
schon  nach  wenigen  Stunden  der  Aufsammelarbeit  die  Knollen 
fühlbar  seltener  zu  finden  sind,  dass  der  Vorrath  an  Knollen, 
welchen   die  Arbeit   des  Regens   von  Jahrhunderten   erzeugt 


152          Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

hat,  sich  in  ganz  kurzer  Zeit  auf  weitere  Fläche  erschöpft 
und  damit  die  Aufsammelarbeit  ihr  Ende  erreicht.  Es  ist 
an  sich  klar,  dass  nach  diesem  Versuche  die  Frage  der 
lohnenden  Gewinnbarkeit  sich  nicht  beurtheilen  lässt. 

Man  muss  die  Versuche  auf  die  Gewinnung  der  Knollen 
in  ihrer  ursprünglichen  Lagerstätte,  wo  sie  zerstreut  im 
Mergel  eingehüllt  vorkommen,  ausdehnen.  Hierfür  scheinen 
vor  Allem  solche  Stellen  sich  zu  eignen ,  wo  die  Knollen- 
führenden  Mergelschichten  unmittelbar  an  der  Oberfläche 
ausgebreitet  liegen  und  eine  weitere  Abdeckarbeit  darüber 
liegender  Schichten  nicht  nothwendig  ist.  Ein  unterirdi- 
scher Abbau  dürfte  wegen  seiner  Kostspieligkeit  ohnehin 
nicht  in  Betracht  kommen. 

Der  thonige  Knollenphosphorit  bildet  nämlich 
kein  geschlossenes  Flötz  oder  Lager ,  sondern  findet  sich 
zwar  lagerweise  auf  gleichen  Schichten,  aber  immer  mehr 
oder  weniger  zerstreut  in  unregelmässig-länglich  runden  Con- 
cretionen  im  Mergel  eingebettet.  Man  muss  desshalb  behufs 
seiner  Gewinnung  die  gesammte  Mergelmasse  hereinhauen 
und  die  Knollen  einzeln  aus  der  bröcklichen,  zähen,  thonig- 
mergeligen  Hauptmasse  herauslesen.  An  der  genannten,  für 
diese  Art  der  Gewinnung  vergleichsweise  günstigen  Stelle 
bei  Auerbach  kann  ein  Arbeiter  in  10  Arbeitsstunden  durch- 
schnittlich l\2  Zentner  Knollen  rein  gewinnen  und  sammeln ; 
mithin  nur  den  7*0  Theil  der  Arbeitsleistung  beim  Zusam- 
menlesen der  auf  der  Oberfläche  ausgewaschenen  Knollen 
zu  Stande  bringen.  Jedoch  ist  anzunehmen,  dass  diese  Ge- 
winnung nachhaltig  stattfinden  könnte. 

Ob  diese  Menge  von  Phosphorsäure,  welche  durch  Ge- 
winnung der  Knollen  auf  ursprünglicher  Lagerstätte  durch 
eine  tägliche  Arbeitsleistung  aufgebracht  werden  kann ,  die 
durchschnittlich  etwa  13  Pfund  Phosphorsäure  entspricht, 
hinreichend  gross  ist,  um  die  Kosten  für  den  Taglohn,  Ent- 
schädigung   an  den  Grundbesitzer,    Verbringung    des    Roh- 


Gümbel:  Vorkommen  von  Phosphor  säure.  153 

material  zur  Stampf,  des  Pochens  oder  des  Brennens  und 
Pochens,  endlich  der  Verfrachtung  des  Pulvers  bis  zum  Orte 
der  Verwendung  zu  decken  und  einen  kleinen  Gewinn  in 
Aussicht  zu  stellen,  ist  natürlich  abhängig  von  der  Brauch- 
barkeit des  erzeugten  Produkts  für  die  Landwirtschaft  und 
lässt  sich  erst  nach  Feststellung  der  letzteren  sicher  beur- 
theilen.  Jedenfalls  aber  scheint  es  eine  wichtige  Aufgabe  zu 
bleiben,  noch  weitere  Versuche  behufs  Auffindung  von  Phos- 
phorsäure-haltigen  Gesteinslagen,  welche  etwa  in  geschlossenen 
und  mächtigen  Lagen  auftreten,  anzustellen. 

Die  Wahrnehmung,  dass  die  knolligen  Concretionen  der 
jurassischen  Gebilde  fast  durchgehends  reich  an  Phosphor- 
säure sind,  legt  die  Vermuthung  nahe,  dass  ähnliche  Ge- 
bilde auch  innerhalb  anderer  Formationen  sich  ähnlich  zu- 
sammengesetzt zeigen  würden. 

Ich  habe  bereits  in  meinem  ersten  Aufsatze  (a.  a.  0. 
S.  330  und  331)  das  Vorkommen  von  Phosphorsäure- 
haltigen Knollen  in  Silurschichten  Kanada's,  sowie  in  den 
Kreideschichten  Englands  und  Böhmens  augeführt,  welches 
Vorkommen  die  obige  Annahme  zu  bestätigen  scheint.  In 
der  nach  allen  Richtungen  hin  so  reichhaltigen  und  im 
höchsten  Grade  belehrenden  Pariser  Internationalen-Aus- 
stellung von  1867  sah  ich  in  der  französischen  Ab- 
theilung der  V.  Gruppe  40  Klasse  Nr.  23  von  dem  Mini- 
sterium für  Agrikultur ,  Handel  und  öffentlichen  Arbeiten 
eine  Sammlung  von  Knollen  und  Steinkernen  aus  sehr  zahl- 
reichen Orten  Frankreichs  aufgestellt,  welche  als  sehr  reich 
an  Phosphorsäure  bezeichnet  sind  und  durch  die  Menge  der 
ausgestellten  Proben  den  Beweis  liefern,  welch'  hohen  Werth 
man  bereits  auf  dieses  Rohmaterial  in  Frankreich  legt.  Es 
sollen  sehr  grosse  Mengen  dieser  Knollen  bereits  an  vielen 
Punkten  gewonnen  und  zur  Herstellung  von  Super- 
phosphat  verwendet  worden.  Es  wurde  behauptet,  dass  sie 
sogar  bereits    nach  England   uud  ins  Ausland   den  Weg  ge- 


46,64 
7,80 

10,60 
7,20 


154  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

fanden  haben  sollen,  und  als  Snperphosphat,  gemengt  mit 
reichhaltigeren  Stoffen,  von  England  aus  wieder  weiter  in 
den  Handel  gebracht  werden.  Vielfach  hört  man  diese 
Knollen  als  Koprolithen  bezeichnen.  Diess  ist  aber  ganz 
falsch;  es  sind  nur  Concretionen  und  die  Ausfüllungsmasse 
von  Schalthieren  sog.  Steinkerne. 

Eine  beigesetzte  Analyse  giebt  die  Zusammensetzung 
dieser  französischen  thonigen  Phosphorite  eines  Vorkommens 
von  Apremont  in  folgender  Weise  an: 

Phosphorsäure        ....     27,76 
Thonerde,  Eisenoxyd  und  an  Phos- 
phorsäure gebundene  Basen 
Kalkerde       .... 
Wasser,  Kohlensäure  etc. 
Rückstand  in  Säuren  unlöslich 

100,00 
Diese  Knollen,  welche  bereits  Verwendung  finden,  ent- 
halten also  nur  um  weniges  mehr  Phosphorsäure,  als  unsere 
jurassischen  Concretionen  aus  Franken  im  Mittel.  Es  ist 
sehr  wahrscheinlich,  dass  das  Mittel  bei  den  französischen 
Knollen  auch  nicht  höher  geht,  da  ja  einzelne  unsern  fränki- 
schen Knollen  einen  Gehalt  an  Phosphorsäure  bis  zu  36,1 
und  40,0  °/o  aufzuweisen  haben. 

Ein   aus    der  Lahngegend   gleichfalls   in  Paris    ausge- 
stelltes, dem  Amberger  Phosphorit  sehr  ähnlich  aussehendes 
Material  enthält  nach  der  beigesetzten  Analyse: 
Phosphorsauren  Kalk         65,00 
Eisenoxyd     .         .        .       3,00 
Fluor  ....       2,00 
Kohlensaurer  Kalke       .     16,00 
Bittererde  und  Alkalien       2.00 
Wasser,  Jod  und  Silikate  12,00 

100,00 
mithin    gegen    13°/o    mehr  phosphorsauren  Kalk,    dagegen 


Gümbel:  Vorkommen  von  Phosphorsäure.  155 

weniger,  aber  doch  immerhin  eine  beträchtliche  Quantität 
kohlensauren  Kalks,  so  dass  immerhin  die  ökonomische 
Möglichkeit  der  Benützung  unseres  fränkischen  Phosphorits 
noch  im  Auge  zu  behalten  wäre. 

Die  Substanz  der  französischen  Knollen,  welche  dem 
in  Frankreich  so  weit  verbreiteten  sog.  Galtgrünsand- 
stein der  unteren  Procän-  oder  Kreideformation  angehören, 
gleicht  in  auffallender  Weise  einer  Masse,  welche  auch  bei 
uns  in  dem  geognostisch  gleichstehenden  Galtgrünsandstein 
unseres  Alpengebirgs  vorkommt.  Ich  durfte  daher  auch  in 
diesen  einen  Inhalt  an  Phosphorsäure  vermuthen.  Diess 
hat  sich  in  der  That  bestätigt. 

Auch  der  in  den  bayrischen,  vorarlbergischen 
und  namentlich  schweizerischen  Alpen  so  weit  ver- 
breitete und  in  mächtigen  Felsen  anstehende  Galt- 
grünsand ist  in  gewissen  Lagen  verhältnissmässig 
reich  an  Phosphorsäure. 

Ich  habe  mehrere  derartige  Gesteinsproben,  wie  sie 
gerade  zufällig  als  versteinerungsführend  von  mir  in  den 
Allgäuer  Alpen  gesammelt  worden  waren  (natürlich  ohne 
Rücksicht  auf  den  damals  noch  unbekannten  Gehalt  an  Phos- 
phorsäure-haltigen  Concretionen)  untersucht.  Diese  Proben 
stammen  von  der  sog.  Schanze  am  Fusse  des  Grünten  bei 
Sonthofen  und  aus  der  Nähe  von  Laugenwang  und  Tiefen- 
bach bei  Oberstdorf  und  ergaben  einen  Phosphorsäuregehalt 
von  5,7  — 16°/o  im  ganzen  Gestein  ohne  Sonderung  der  knol- 
ligen Concretionen. 

Es  ist  diess  jedoch  bloss  die  Phosphorsäure,  die  im 
Gestein  an  Kalkerde  gebunden  ist,  da  ja  nur  diese  bei  der 
Frage  über  die  Verwendbarkeit  zu  Agrikulturzwecken  zu 
berücksichtigen  sein  dürfte.  Ausserdem  enthält  das  Gestein 
noch  Phosphorsäure,  welche  an  andere  Basen  gebunden  ist. 
Obwohl  der  Gehalt  vom  6— 16°/o  ein  anscheinend  ge- 
ringer ist,    so   muss   doch   bemerkt   werden,    dass   die   zur 


156  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

Analyse  verwendeten  Proben  rein  zufällig  und  ohne  Rücksicht 
auf  die  vorliegende  Frage  gesammelt  waren.  Ich  zweifle 
nicht,  dass,  wenn  man  die  in  unsern  Allgäuer  Alpen  an  so 
vielen  Orten  zu  Tag  ausstreichenden  Galtgrünsandsteinlagen 
(vgl.  mein  Alpenwerk  S.  530  und  ff.  und  Kartenblatt  Sont- 
hofen)  näher  zu  dem  Zwecke  untersuchen  würde,  um  mög- 
lichst reichhaltige  Schichten  oder  Stellen  aufzufinden,  es 
gelingen  wird,  Gesteinsproben  von  weit  grösserem  Gehalt  an 
Phosphorsäure  als  die  oben  angeführten  ausfindig  zu  machen. 
Diess  dürfte  schon  nach  dem  blossen  äusseren  Aussehen  des 
Gesteins  leicht  zu  beurtheilen  sein.  Denn  ich  habe  gefunden, 
dass  der  Gehalt  an  Phosphorsäure  in  dem  Galtgrünsandstein 
wesentlich  gebunden  ist  an  die  dunkelfarbigen  Concretionen, 
Flecken  und  Steinkerne,  welche  der  Grünsandstein  einschliesst 
und  die  sich  sehr  deutlich  von  der  Hauptgesteinsmasse  unter- 
scheiden lassen.  Je  häufiger  diese  Concretionen  eingeschlossen 
sind,  desto  stärker  ist  der  Phosphorsäuregehalt  des  ganzen 
Gesteins  oder  je  mehr  dunkelfarbige  Flecken  zum  Vorschein 
kommen,  desto  reicher  erweist  sich  das  Material.  Diess  lässt 
sich  leicht  nach  dem  Augenmaass  beurtheilen. 

Diese  Gesteinsbildung  besitzen  wir  namentlich  in  den 
Allgäuer  Alpen  in  weiter  Verbreitung  und  in  grossen 
Felsmassen ,  welche  oft  in  hohen  Riffen  aufragen  und  eine 
möglichst  einfache  und  wohlfeile  Gewinnung  des  Gesteins 
mittelst  Steinbrucharbeit  gestatten.  Ich  glaube  daher  nicht 
unterlassen  zu  sollen,  auf  diese  neue  Quelle  von  Phosphor- 
säure die  Aufmerksamkeit  namentlich  unserer  rationellen 
Allgäuer  Landwirthe  hinzulenken,  um  praktisch  zu  versuchen, 
ob  die  Landwirthschaft  Nutzen  aus  diesem  Vorkommen 
schöpfen  könne.  Insbesondere  gewinnt  dieser  Gegenstand 
für  die  Schweiz  grosse  Wichtigkeit,  weil  dort  solche  knollen- 
reiche Galtschichten  in  besonderer  Mächtigkeit  und  Ausdeh- 
nung vorkommen  und  eine  sehr  ausgebreitete  Benützung 
gestatten  würde.  Es  verdient  dabei  noch  erwähnt  zu  werden, 


Gümbel:   Vorkommen  von  Phosphorsäure.  157 

dass  dieses  Material  zugleich  vielen  Glauconit  enthält,  der 
bekanntlich  ziemlich  reich  an  Kali  ist,  so  dass  durch  dessen 
Zersetzung  wahrscheinlich  dem  Boden  auch  Kali  zugeführt 
werden  könnte. 

Die  eigcnthümlich  charakteristische  Beschaffenheit  der 
Masse,  aus  welcher  die  Phosphorsäure-haltigen  Steinkerne 
dieses  Galtgrünsandsteines  und  gewisse  Knollen  des  Ornaten- 
Mergels  bestehen,  leiteten  mich  weiter  auf  die  Untersuchung 
von  Steinkernen  aus  anderen  Gesteinslagen,  welche  aus  einer 
ähnlichen,  stets  dunkelfarbigen,  im  Vergleiche  zu  Kalk  här- 
teren, spröderen  und  schwereren  Substanz  zusammengesetzt 
sind.  Solche  Steinkerne  trifft  man  in  den  Procän-  oder 
Kreidegebilden  von  Regensburg  häufig,  sie  kehren  besonders 
ausgezeichnet  in  den  Kressenberger  Nummulitenschichten 
wieder.  Es  muss  ausdrücklich  bemerkt  werden ,  dass  nicht 
alle  Steinkerne  die  beschriebene  Beschaffenheit  besitzen,  son- 
dern nur  ein  Theil  derselben.  Meistentheils  bestehen  sie 
bloss  aus  kohlensaurem  Kalk,  namentlich  die  Nummuliten 
und  die  noch  mit  Schale  versehenen  Schalthierüberreste  und 
auch  viele  Steinkerne  der  Eisenerzflötze. 

Die  dichten  schweren  Steinkerne  aus  dem  Nebengestein 
der   Kressenberger  Eisenerzflötze    ergaben    mir   in    der  That 
einen  Gehalt  an  Phosphorsäure  von  5,68°/o 
und  gleichartige   Steiukerne    aus    dem    Grünsandmergel    des 
Galgenberges  südlich  von  Regensburg    8,19%. 

Fortgesetzte  Versuche  werden,  wie  ich  bereits  zu  ver- 
muthen  Grund  habe,  lehren,  dass  nicht  nur  die  meisten  Con- 
cretionen  namentlich  die  Galtschichten  in  Norddeutschland, 
am  Harzrande,  selbst  die  Geoden  und  Steinkerne  aus  den 
Kreidebildungen  Indiens  Phosphorsäure  in  grösserer  Menge 
enthalten,  sondern  dass  wir  auch  noch  andere  an  dieser 
Säure  reiche  Niederlagen  in  verschiedenen  Schichten  der 
Sedimentformationen  besitzen ,  die  wir  vielleicht  nutzbar 
machen  können. 


158  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  1.  Juni  1867. 


Herr  Roth  hielt  einen  Vortrag: 

„Ueber    Keltische    und    Germanische    Wehr- 
verfassung". 

Herr  Kluckhohn  machte  Mittheilung  über  die 

„Erzählung  von  der  Verschwörung  zu  Bayonne 
im  Jahre  1565". 

Die  Abhandlung  wird   für  die  Denkschriften  der  Classe 
bestimmt. 


Hofmann:   Bemerkungen  zum  NacMsegen.  159 


Nachtrag 
zur  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni. 

(Vgl.  oben  Seite  6.) 

Herr  C.  Hof  mann  übergibt  folgende 

„Bemerkungen  zum  Nachtsegen". 

Ich  habe  seit  der  Sitzung  ,   in   welcher  ich   die  Hand- 
schrift und  die  Arbeit  des  Herrn  Keinz  der  Classe  vorlegte, 
über    manches    weiter    geforscht    und  das  Manuscript  selbst 
noch  einmal  genauer  angesehen ,  als  ich  beides  in  der  Eile 
des  ersten  Fundes  thun  konnte.     Früher  hatte  ich  nur  den 
Nachtsegen  berücksichtigen  können,    jetzt   bei    Einsicht    des 
übrigen  manchfaltigen  Inhalts  finde  ich  allerlei,  was  der  Mit- 
theilung werth  sein  und  die  Forschung  weiter  führen  dürfte. 
Zuerst  in  dem  unmittelbar  vorausgehenden  lateinisch-deutschen 
Pflanzenverzeichniss  finde  ich  S.  119  V°  Affodillus  golde  Adera 
idem.   In  dem  ersten  Kräuterglossar  S.  69  V°  wird  affodillus 
erklärt  durch  goldewrz,  und  da  schon  Frisch  Goldwurz  mit 
Asphodelus  bulbosus,  dann  chelidonium  erklärt  (I.  361),  so 
wissen  wir  also  jetzt,  dass  golde  =  asphodelos,  die  bereits 
mythologische  Kartoffel  der  Hellenen  ist.     Ich  kann  freilich 
nicht  behaupten,  dass  die  dingenden  golden  in  Vers  15 
des  Nachtsegens  damit  identisch  seien;  aber  wenn  man  er- 
wägt, dass  ein  anderes  Knollengewächs,  die  Mandragora  oder 
Alraun  im  Aberglauben  eine  hervorragende  Rolle  spielt,   so 
kann  man  Zusammenhang  vermuthen ;  denn,  wenn  die  Alraun 
menschlich  aussehen,  leuchten  und  reden  kann  (vgl.  Grimm 
DM.  1153—5),  so  darf  wohl  der  Affodill  auch  „klingen". 


160        Sitzung  der  philos.-phüol  Ciasse  vom  1.  Juni  1867. 

Ich  enthalte  mich,  die  Sache  jetzt  irgend  weiter  zu  verfolgen, 
da  es  immer  höchst  misslich  ist,  auf  blosse  Wörter  hin  mytho- 
logischen Dingen  nachgehen  zu  wollen.  So  musste  sich  ja 
z.  B.  der  Bernstein  auf  Grund  eines  einfachen  Druckfehlers 
zu  einem  Zauberstein  erheben  lassen.  Frisch  citirt  aus  dem 
Vocabular  von  1482  unter  Zober  (IL  480)  Zoberstein,  Bern- 
stein alveus  lapideus.  Wackernagel  in  Haupts  Zeitschrift 
IX.  567.  fand  in  diesem  Zobers tein  einen  Zauberstein 
und  mit  dieser  Erklärung  ging  der  Bernstein  in  das  mhd.  WB. 
IL  II.  617  ein,  welches  glücklicherweise  das  richtige  born- 
stein unmittelbar  daneben  setzt.  Ein  alveus  lapideus  ist 
einfach  ein  Brunnenstein,  Zuberstein  oder  deutlicher, 
steinerner  Brunnentrog.  Alrun  —  mandragora  kommt 
übrigens  in  unserem  ersten  Kräuterverzeichniss  (S.  70,  v°,  b) 
ebenfalls  vor. 

Die  Sprache  des  Nachtsegens  ist,  wie  man  sieht,  mittel- 
deutsch ;  so  ist  auch  die  der  beiden  Glossare.  Aber  die 
Handschrift  gibt  uns  Anhaltspunkte ,  die  noch  viel  weiter 
führen.  Auf  Seite  125  r°  (also  bloss  um  ein  Blatt  vom 
Nachtsegen  entfernt)  steht,  wie  schon  oben  von  Hrn.  Keinz 
bemerkt  ist,  von  einer  Hand  des  14/15  Th.  Henricus  de 
Prusia  vid.  de  Rado  oder  Cado  (das  letzte  Wort  undeutlich) 
und  das  erste  der  Pflanzenglossare  enthält  im  Anfang  neben 
den  deutschen  Namen  eine  Anzahl  polnischer .  wo  bei 
einem  ausdrücklich  noch  zugesetzt  ist,  es  sei  in  polonico  und 
bei  einem  zweiten  polschy  (=  polski),  nämlich  bei  anetum, 
tille,  polschy  copr  S.  68 v°  a.  Z.  10  von  oben  (polnisch 
Kopr  =  Dillkraut).  Die  polnischen  Glossen  lauten  in  ihrer 
Gesammtheit  so : 

S.  68  v°.  Incipiunt  nomina  herbarum,  quarum  sunt  latina 
quaedam,  barbara  uero  alia,  ut  patz  (patet  od.  patebit?) 

Artemisia  uel  matricaria  est  mater  herbarum ,  quae 
vocatur  biwz,  in  polouicabiliza  (polnisch  bylica=Beifuss.) 

Abrotanum.  ebireyce.  böse  dreuno.  (poln.  bozy  drzwka 


Hofmann:  Bemerkungen  zum  Nachtsegen.  161 

Stabwurz,  eig.  Gottesbäumchen,  weil  die  Eberesche  bekannt- 
lich heilig  gehalten  wird.) 

Absintium.  wermut.  polyn.  (poln.  piolun  =  Wermuth.) 
Am  Rande  roth  eberwrc. 

Azarabacara.  haselwrc.  copitnik  (poln.  Kopytnik  = 
Haselwurz. 

Araoglossa.  plantago.  centeuma  vocatur  wegebreit, 
scorocel. 

Am  Rande  roth  vegede. 

Anetum.  tille.  polschy  copr  (s.  oben). 

Alleum.  scordium.  Knoblach.  Zosnek  (poln.  czosnek 
Knoblauch). 

Acant.  igrida.  nesle.  copriui.  (verschrieben  für  pocriui, 
poln.  pokrzywa  Nessel). 

Atrapassa  holunder.  bezoua  (poln.  bez.  Hollunder 
(f°  69.  a)  Baldemonia.  berwrz.  olesnik  (poln.  olesnik  Bär- 
wurz) ,  ebenso  wird  mit  olesnik  (70  v°)  herba  thuris  erklärt 
71  v°,  mit  olesnik  peucedanum. 

Das  ist,  was  ich  an  polnischen  Wörtern  bemerkt  habe. 
Der  Theil  der  Handschrift  freilich,  welcher  den  Nachtsegen 
enthält,  ist  von  anderer  Hand  geschrieben,  als  der,  in  wel- 
chem die  polnischen  Glossen  stehen.  Die  verschiedenen  Theile 
der  Handschrift  wurden  erst  später  zusammengebunden  ;  denn 
dem  ersten  Glossar  sind  an  den  Rändern  von  jüngerer  Hand 
Glossen  zugefügt ,  die  zum  grossen  Theil  vom  Buchbinder 
beim  Beschneiden  beschädigt  wurden.  Auch  ist  die  Zurich- 
tung des  Pergaments  bei  beiden  Pflanzenglossaren  eine 
verschiedene.  Das  erstere  hat  zwar  39  Querzeilen,  wie  das 
zweite,  dagegen  stehen  sie  um  vieles  enger  beisammen  und 
sind  in  vertikaler  Richtung  nur  durch  5  Linien  geschieden, 
bei  letzterem  durch  10.  Doch  ist  der  Charakter  der  Schrift- 
züge homogen  und  gleichzeitig  und  wir  werden  also  nicht 
weit  irren  ,  wenn  wir  die  Entstehung  der  beiden  Glossare 
nebst  dem  zum  zweiten  gehörigen  und  natürlich  etwas  jüngeren 
[1867.  II.  1.]  11 


162        Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  18G7. 

Nachtsegen  in  die  Gegend  setzen,  wo  im  13/14.  Jh.  das 
deutsche  und  das  polnische  Sprachgebiet  sich  berührten. 
Dass  sie  auch  längere  Zeit  dort  geblieben,  scheint  die  schon 
erwähnte  Einzeichnung ,  Henricus  de  Prusia ,  zu  beweisen, 
die  um  vieles  jünger  ist,  als  die  beiden  Glossare  und  unge- 
fähr gleichzeitig  mit  der  Hand,  welche  auf  S.  71  v°  ganz 
unten  am  Rande  eingetragen  hat  scrophalaria  est  nomen 
herbae  contra  vermes.  Zwischen  dieser  Hand  und  der  des 
ersten  Glossars  finden  sich  Einträge  von  4  verschiedenen 
andereu  Händen.  Wie  das  Arznei-  und  Zauberbuch  (s.  Note 
auf  pg.  169),  so  lässt  sich  sein  Gesammtinhalt  am  kürzesten 
bezeichnen,  aus  den  Händen  des  Henricus  de  Prusia  in  die 
churfürstl.  Bibliothek  nach  München  gekommen,  wer  dieser 
Henricus  de  Prusia  selbst  gewesen,  das  wäre  weiterer  Aufklär- 
ung eben  so  werth  als  bedürftig. 

Wenn  es  schon  an  sich  interessant  ist,  hier  Reste  ältester 
polnischer  Sprache  zu  finden,  so  wird  der  Umstand  beson- 
ders wichtig  für  den  Nachtsegen  und  die  fremdartigen, 
sicherlich  aus  anderer  Sprache  entlehnten  Wörter,  die  er 
bietet.  Wir  haben  nach  aller  Wahrscheinlichkeit  ihre  Er- 
klärung im  Polnischen  zu  suchen.  Gloczan,  Lodowan, 
Truttan  bieten  in  der  That  polnischen  Stammesausgang. 
Das  Suffix  an  kömmt  im  Poln.  z.  B.  in  balwan  Block,  Götze, 
bocian  Storch  buzdygan  Streitkolben  roztruchan  grosser 
Pocal  u.  s.  w.  vor.  (Ueber  das  sehr  häufige  Suffix  an  vergl. 
Miklosich  Personennamen  S.  10.)  Sie  sind  Masculina.  Für 
Lodowan  bietet  sich  der  Stamm  lod  (in  allen  anderen 
slawischen  Sprachen  led,  altslawisch  ledü  xqvötccXXog  vergl. 
Miklosich  Lex.  palaeosloven.  p.  335)  ='  Eis,  und  Bildungen 
daraus  mit  w,  lodowaty  eisartig,  lodowaciec  zu  Eis  werden, 
lodowiec  Eisstein ,  lodownia  Eisgrube.  Dahin  könnte  auch 
unser  Lodowan  (der  Eiskalte?)  gehören.  Gloczan  könnte 
zum  Stamme  glöd  Hunger  (=  goth.  gredus)  oder  der  Ab- 
leitung  nach   wohl  noch   eher   zu  gol  (unser  kahl)  gehören 


Hofmann:  Bemerkungen  zum  Nachtsegen.  163 

(altsl.  golü  yvfivdg  goloti  xQvataXXog  Mikl.  p.  135)  und 
für  golocan  stehen.  Andere  Bildungen  des  Stammes  sind 
golocic  entblössen.  berauben,  golota  armer  Teufel,  goly  nackt, 
arm  u.  s.  w.  Auffallend  ist,  dass  beide  in  der  Bedeutung 
Eis  zusammentreffen.  Truttan,  ebenso  gebildet,  wie  die 
zwei  andern,  macht  Bedenken,  weil  es  durch  das  reimende 
Wutan  verändert  sein  kann.  Das  Polnische  bietet  trut 
Purgirkraut,  trutka  Gift,  truten  Drohne,  Tölpel,  trud  Mühsal, 
letzteres  gleich  latein.  trudo ,  goth.  f>rjutan,  deutsch  driezen 
(in  verdrossen)  {>ruts  -  fill  Unqa.  Letzterer  Stamm  dürfte 
am  ehesten  hier  zur  Anwendung  kommen.  Auch  altsl.  finden 
sich  diese  Wörter  (bei  Mikl.  p.  1019)  tratü  erabro,  tradü 
dvOevTSQta  troudü  (p.  1005)  novo^  trouditi  vexare.  Truttan 
würde  also  etwa  der  Quäler  heissen.  Man  muss  hier  die 
Frage  aufwerfen ,  ob  unsere  deutsche  Drud  (Trud)  nicht 
überhaupt  aus  dem  Slawischen  entlehnt  ist.  An  die  Druiden 
wird  heutzutage  Niemand  mehr  denken  und  eine  genügende 
Ableitung  aus  dem  Germanischen  gibt  es  meines  ^Vissens 
nicht,  während  die  von  slaw.  trud  quälen  mir  sehr  passend 
erscheint.  Die  germanische  Form  wäre  druz.  Was  schliess- 
lich das  verschiedene  Geschlecht  des  Truttan  und  der  Trut 
angeht,  so  führe  ich  als  Analogon  an  ,  dass  Jungmann  (ich 
entnehme  das  Citat  aus  Hanusch  Slaw.  Mythus  S.  333), 
einer  der  grössten  böhmischen  Gelehrten ,  den  Moräs  für 
dasselbe  erklärte,  wie  die  Mura  oder  Mara  (die  Mar)  den 
drückenden  Alp,  nur  männlich  gedacht.  (Auch  in  Thelle- 
marken  heisst  die  Mar  Muro.) 

So  stünde  denn  unser  Nachtsegen  mit  einem  Fusse  auf 
slawischem  Boden,  während  er  anderseits  mit  seinen  Zaun- 
ritten (zeunriten)  in  Vers  14  bis  an  die  alte  Edda  hinauf- 
reicht, wo  diese  luftreitenden  Wesen  im  Hävamäl  Str.  158 
zum  erstenmale  als  tünriÖur  vorkommen,  in  einer  sonst 
isolirten  und  schwierigen  Stelle,  deren  grammatische  Con- 
struetion  dadurch  bedenklich  ist,  dass  auf  das  Feminin  tuu- 

11* 


164        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

riÖur  das  Pronomen   und  Adjectiv    im    Masculinum    folgen, 
nämlich  I>eir  villir.     Was  in  der  grossen  Copenhagener  Aus- 
gabe III,  140.  zur  Erklärung  beigebracht  wird,  verstehe  ich 
nicht.     Es  heisst:   £eir  villir   in   gen.  niasc.   omnes   Codices, 
etsi  praecessit  Rifcor  faeminina  terminatione,  nempe  cum  re 
constructio  fit  nou  cum  verbo,  uti  interdum  alias.  Wenn  das 
etwa  heissen  soll ,    dass    die   tunriÖur  männliche  Wesen  mit 
weiblicher  Bezeichnung  gewesen  seien,  so  erscheint  das  höchst 
bedenklich,  da  die  nächstverwandten  kveldriÖa  und  myrkrioa 
unabänderlich  Feminina  sind   und   auch  im  Lexicon  mytho- 
logicum  p.  754  ist  von  einer  constructio  cum  re  weiter  keine 
Rede.    Sveinbjörn  Egilsson  beruft  sich  im  Lexicon  poeticum 
wie   gewöhnlich   leider  nur  auf   die   Copenhagener  Ausgabe 
und  setzt  bloss  hinzu:    quod  vertunt  sublimes  equites  id 
non    secundum    etymologiam    est.      Petersen    (Nord.   Myth. 
S.   150)  übersetzt  tunriÖur  einfach   mit    Hexen   nnd   bringt 
weiter  Nichts  zur   Erklärung  der  Stelle  bei.     Fritzner  s.  v. 
sagt:    „einer  der  Geister,  von  denen  man  annahm,  dass  sie 
zu  gewissen  Zeiten  durch  die  Luft  ritten  und  die  Höfe  (tun) 
zur  Nachtzeit  besuchten ,    gleich    der    Aaske    —    oder  Aas- 
gaardsreid  nach  dem  nordischen  Volksglauben."     Dabei  ver- 
weist er  noch  auf  Flöamanna  Saga  Cap.  22,  wo  aber  weder 
das  Wort  tünriÖa  noch  sonst  etwas  vorkömmt,  was  zur  Auf- 
klärung   sonderlich  beitragen  könnte.     Es  ist  dort  von  dem 
Winteraufenthalt    einiger  Isländer    in    Grönland    die    Rede, 
zur   Jolzeit   hören   sie  Nachts   einen  grossen  Schlag  an  der 
Thüre,  einer  springt  hinaus,  wird  wahnsinnig  und  stirbt  am 
folgenden  Morgen.    Am  anderen  Abend  geschieht  das  Gleiche, 
es  wird  ein  zweiter  Manu  wahnsinnig  und  erzählt  noch,  dass 
er  den  Verstorbenen  gegen  sich  habe  springen  sehen.     Was 
der  zuerst  im  Wahnsinn  Gestorbene  gesehen,  wird  nicht  ge- 
sagt.    So  stirbt  ein   grosser  Theil  der  Gesellschaft  und  alle 
Todteu  werden  Wiedergänger  oder   gehen    um ,    bis  endlich 
fcorgils,   der  überlebende  Hausherr,  ihre  Leichen  gegen  den 


Hofmann:  Bemerkungen  zum  Nachtsegen.  165 

Frühling  auf  einem  Scheiterhaufen  verbrennen  lässt,  worauf 
es  ruhig  wird.  Man  sieht,  dieser  Bericht  ist  zwar  für  den 
Volksglauben  recht  interessant ,  lehrt  uns  aber  nichts  über 
die  tünriÖur,  Fritzner  müsste  denn  angenommen  haben,  der 
zuerst  gestorbene  Mann  hätte  sie  draussen  in  der  Luft 
fahren  sehen  oder  hören  und  sei  davon  wahnsinnig  gewor- 
den. Indess  steht  nichts  dergleichen  im  Bericht ,  mit  dem 
wir  uns  daher  auch  nicht  weiter  beschäftigen  wollen.  Die 
andere  Verweisung  auf  Aaskereia  trifft  näher  zur  Sache, 
denn  diess  ist  einfach  die  wilde  Jagd,  die  aus  den  Seelen 
nichtsnutziger  Leute  besteht,  die  für  den  Himmel  zu  schlecht 
und  für  die  Hölle  zu  gut  sind  und  ihr  Fegfeuer  im  Luft- 
ritte, hauptsächlich  um  Weihnachten,  durchzumachen  haben. 
Was  nun  für  unseren  Fall  passt,  ist  dieses :  in  einem  Bezirk 
von  Norwegen  ,  in  Saetersdal ,  herrscht  der  Glaube,  dass, 
wenn  einer  sich  nicht  niederwirft,  sobald  er  das  Lufgereite 
hört ,  seine  Seele  mitfahren  muss ,  während  sein  Körper 
liegen  bleibt.  Wenn  die  Seele  zum  Leibe  zurückkehrt,  ist 
dieser  ganz  abgemattet  und  bleibt  nachher  immerfort  kränk- 
lich. Auch  Pferde  werden  mitgenommen  und  kehren  übel 
zugerichtet  zurück  (Faye  S.  71).  Das  letztere  stimmt  insoferne 
gut  zu  unserer  Eddastelle ,  als  hier  OÖinn  offenbar  nichts 
anderes  sagt,  als:  „wenn  die  tünriÖur  ihren  Leib  und  ihre 
Heimath  verlassen  haben  und  über  mir  in  der  Luft  reiten, 
so  verwirre  ich  ihre  Seelen,  dass  sie  ihre  Körper  und  Woh- 
nungen nicht  wieder  finden  hönnen.u 

So  weit  gut,  aber  damit  ist  immer  noch  nicht  erklärt 
wie  das  Fem.  tünriÖur  und  das  Masc.  fceir  villir  neben- 
einander bestehen  können.  Lüning  findet  freilich  einen 
leichten  Ausweg,  indem  er  (S.  298)  sagt:  „Entweder  muss 
es  tünriSar  oder  I>aer  villar  heissen."  So  viel  hätten  die 
früheren  Schreiber,  Herausgeber,  und  Erklärer  der  Edda 
wohl  auch  gewusst;  aber  es  ist  keinem  eingefallen,  mit 
einem    so    wohlfeilen    Mittel  der  Schwierigkeit    abhelfen    zu 


166         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

wollen.  Die  Sache  muss  tiefer  angegriffen  werden. 
Zwischen  Entstehung  und  Aufzeichnung  der  Eddalieder  liegt 
ein  mehr  oder  weniger  grosser  Zeitraum,  in  welchem  die 
norroenische  Sprache  fortschreiten  und  manche  Form  erst 
archaistisch,  dann  unverständlich  werden  musste,  die  bei 
Abfassung  der  Lieder  noch  der  lebenden  Sprache  angehört 
hatte.  Hier  ist  der  entscheidende  Punkt,  wo  die  allgemein 
germanische  Philologie  der  specifisch  nordischen  zu  Hülfe 
kommen  kann  und  muss.  Das  viel  höhere  Alter  der  gothi- 
schen,  angelsächsischen,  althochdeutschen  und  altsächsischen 
Denkmäler ,  denen  der  Norden  nur  einige  der  ältesten 
Kuneninschriften  (vor  Allem  die  Blekinger)  an  die  Seite  zu 
setzen  hat ,  lässt  gewisse  Erscheinungen  in  vollkommener 
Klarheit  erkennen ,  die  vom  Standpunkte  des  nordischen 
Sprachbetriebes  verdunkelt  und  unlösbar  erscheinen.  Ich 
beschäftige  mich  seit  längerer  Zeit  mit  einer  kritisch- 
exegetischen Arbeit  über  die  alte  Edda  hauptsächlich  in 
dieser  Richtung,  und  hebe  hier  anticipando  zwei  Fälle  nur 
darum  aus ,  weil  das  plötzliche  und  überraschende  Auf- 
tauchen der  zünriten  im  Nachtsegen  mich  fast  dazu  zwingt. 
Archaismen  der  alten  Edda  sind  für  uns  natürlich  am  fass- 
barsten, wenn  sie  sich  auf  Flexionsverhältnisse  beziehen,  und 
werden  am  leichtesten  erkannt,  wenn  der  überlieferte  Text 
eine  auffallende  Sinnstörung  zeigt,  wie  hier  und  in  dem 
zweiten  analogen  Beispiele.  Nehmen  wir  das  Adj.  villr,  so 
wissen  wir,  dass  es  das  gothische  vilpeis,  althochd.  uuildi, 
altsächs.  uuildi ,  ist ,  dass  es  folglich  ein  dem  Worte  selbst 
angehöriges  radicales  i  hat,  zur  i-Deklination  gehört  und  so 
zeigt  sich  denn  ganz  consequent,  dass  das  Femininum  im 
Plural  auch  der  i-Deklination  folgt  und  villir  (nicht  villar) 
hat.  f»eir  kann  dann  gar  kein  Bedenken  machen ,  da  die 
graphische  Verwechslung  von  ae  und  ei  bekannt  und  kon- 
statirt  ist ,  vgl.  KonräÖ  Gislason,  um  frumparta  p.  183  ff., 
wo   gerade    fceir  hervorgehoben  wird.     Es  ist  also  in  Wirk- 


Hofmann:   Bemerkungen  zum  Naclitsegen.  167 

Hchkeit  an  unserer  Stelle  gar  nichts  zu  ändern  und  einfach 
[>aer  villir  zu  lesen.  Die  zweite  vollkommen  analoge  Stelle 
findet  sich  AtlakviÖa,  18.  vinir  Borgunda,  ein  Unsinn,  wenn 
man  vinir  als  Nom.  plur.  auf  die  Hunnen  bezieht,  die  (nach 
Liining)  clesswegen  so  heissen  solleu,  „weil  Atli  durch  Gudrun 
mit  den  Burgunden  verwandt  ist."  Wie  schwierig  die  Sache 
den  gewissenhaften  Herausgebern  früherer  Zeit  vorkam,  sieht 
man  aus  der  langen  Anmerkung,  welche  die  Arnamagnäanische 
Ausgabe  (II,  383)  zur  Stelle  hat.  Nun  hat  vin  oder  vinr 
ein  radicales  i  gehabt;  denn  es  heisst  althochd.  uuini,  alts. 
uuini,  ags.  vine.  Der  archaistische  Accusativ  von  vinr  hiess 
natürlich  vini,  und  das  mussten  die  Schreiber  nothwendig 
als  vinir  missverstehen,  wenn  ihnen  einmal  die  Formen  der 
i-Deklination  ausser  Gebrauch  gekommen  waren,  vini  Bor- 
gunda ist  also  Acc.  und  Apposition  zu  Gunnar.  vine  Borgenda 
heisst  nun  bekanntlich  der  ags.  Dichtersprachc  gemäss  Gunnarr 
(Güfthere)  im  Valdhere  II,  14  und  wenn  im  Nordischen  zu- 
fällig vinr  mit  folgendem  Genetiv  des  Volkes  nicht  als  Königs- 
bezeichnnng  erhalten  ist>  so  findet  sich  vinr  drcngja,  gaeÖinga, 
gotna,  alda,  skatna  und  hollvinr  (Holdfreund)  herjar,  lofÖda, 
s.  Gröndal  p.  235.  Die  Stelle  der  AtlakviÖa  Str.  18  heisst 
also  sehr  einfach :  die  Hunnen  banden  Günther,  den  König 
der  Burgunden  (wörtlich,  den  Freund  der  Burgunden). 

Der  Nachtsegen  lehrt  uns  den  Namen  des  Hexenberges 
in  der  ältesten  bis  jetzt  vorgekommenen  Form  kennen ,  die 
wir  für  ebenso  authentisch  halten  dürfen,  wie  die  des  höch- 
sten Götternamons,  gut  mitteldeutsch  Wütan,  Gen.  Wütanes. 
Wir  ersehen  nun,  was  .T.  Grimm  DM.  1004  schon  ausge- 
sprochen ,  dass  r  statt  1  der  urprüngliche  Laut  ist,  wie 
bereits  Leonhard  Frisch  bezeugt  (I,  111):  ,, Blocksberg, 
besser  Brocksberg,  wie  er  in  und  an  den  Braunschweigischen 
Landen  heisst",  wobei  allerdings  zu  vermuthen,  dass  er  das 
r  nur  wegen  der  falschen,  auch  heute  noch  nicht  ganz  auf- 


168        Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

aufgegebenen  Ableitung  von  mons  Bructerus  für  richtiger  ge- 
halten habe.  Unter  den  bisher  versuchten  Deutungen  ist  meines 
Wissens  keine,  die  besonders  besser  wäre,  als  die  genannte 
und  ich  erlaube  mir  daher  zum  Schlüsse  meine  eigene  vor- 
zutragen. Dass  der  Name  mehreren  Bergen  in  Deutschland 
geineinsam  ist,  hat  J.  Grimm  DM.  S.  1004  u.  1232  nach- 
gewiesen. Die  Erklärung  darf  also  nicht  den  Ausdruck  des 
Hexenconventikels  in  dem  Worte  suchen ,  wofür  sich  sonst 
das  edd.  broka=kvinna  anbieten  würde.  Esmuss  vielmehr  ein 
natürlicher  Grund  der  Benennung  gesucht  werden,  und  diesen 
finde  ich  in  einem  Worte .  welches  sich  im  Isländischen  er- 
halten hat.  Nach  Björn  Haldorsen  bedeutet  das  Neutrum 
brok  nubes  albidae,  juga  montium  tegentes.  Die  Berge, 
welche  die  höchsten  ihrer  Gegend  sind,  sammeln  bekanntlich 
an  ihrem  Gipfel  die  Wolken,  was  namentlich  beim  Brocken 
der  Fall  ist  und  so  scheint  der  Name  Wolkenberg  passend 
für  unsern .  wie  für  manchen  andern.  Im  Schwedischen  ist 
das  Wort  gleichfalls  vorhanden.  Eietz  im  Dialektwörterbuch 
hat  unter  brok  m.  2.  die  Bedeutung  dunkler  Fleck  (mörk 
fläck),  brok  1  ,  heisst  bei  ihm  so  viel  als  brokig  hast 
(=  geflecktes  Pferd),  brokug,  (bei  Ihre  I,  272)  variegatus. 
Auch  das  Dänische  hat  broget.  bunt,  verschiedenfarbig,  ge- 
fleckt. Wegen  des  Begriffsübergangs  verweise  ich  auf  den 
identischen  mhd.  Fall ,  wo  sprachel  Abschneidsei  ahd. 
sprehhiloht  mhd.  spreckeleht  gefleckt  bedeutet,  Mhd.  Wb. 
S.  521.  Man  wird  brock  einfach  von  der  Wurzel  brik  ab- 
leiten dürfen ,  also  =  fragmentum,  Stück  einer  grösseren 
Wolke,  brochel  ist  davon  das  Deminutivum  ,  welches  ober- 
deutsch wohl  brüchel  heissen  würde.  Brochelsberg  hiesse 
also  wörtlich  =  Wölkchenberg.  Man  wird  hiebei  von  selbst 
an  den  schwedischen  Hexenberg  Bläkulla  in  der  Meerenge 
zwischen  Smaland  und  Oeland  denken,  der  seinen  Namen 
ebenfalls  von  seiner  physischen  Erscheinung  hat  (=  die  blaue 
Kuppe),  und  noch  passender  an  den  schweizerischen  Pilatus, 


Hofmann:  Bemerkungen  zum  Nachtsepen.  109 

den  Behüteten  (Pileatus) ,  wie  man  ihn .  sei  es  mit  Recht 
oiler  nicht,  wegen  seines  oft  umwölkten  Scheitels  deutet, 
was  neben  der  Zerrissenheit  seines  Gehänges  (daher  der 
alte  Name  Fragmunt  =  fractus  mons)  der  hervortretendste 
Zug  an  ihm  ist. 


(Note  zu  pag.  162.)  Es  ist  wohl  der  Mühe  werth,  den  Inhalt 
der  merkwürdigen  Sainmelhandschrift ,  nach  sachlichen  Gruppen  ge- 
ordnet, etwas  genauer  zu  charakterisiren.  Sie  enthält  (abgesehen 
von  dem  Eintrag  über  Fasttage  auf  der  allerletzten  Seite)  18  Num- 
mern, die  sich  inhaltlich  in  folgender  Weise  ordnen.  I.  Als  Ein- 
leitung zum  Ganzeu,  gewissermassen  als  Encyclopädie  geht  voraus 
ein  Pseudo-Aristotelicum,  Secretum  Secretorum,  aus  dem  Arabi- 
schen übersetzt  und  in  dieser  Sprache  wahrscheinlich  auch  ursprüng- 
lich verfasst.  Die  hiesige  Staatsbibliothek  besitzt  den  arabischen 
Text,  vgl.  Flügel,  Handschriften  der  Münchner  Bibliothek  im  An- 
zeigeblatt der  Wiener  Jahrbücher  XLVJI.  Bd.  S.  23,  und  Aumer, 
Catalog  der  arab.  HSS.  S.  285— fi.  Das  Werk  ist  auch  für  die  ger- 
manische Literaturgeschichte  von  Bedeutung,  denn  Jakob  von  Maer- 
lant,  der  „Yater  der  niederländischen  Dichtkunst",  hat  es  in  seiner 
Heymelichede  der  heimelicheit  bei  v.  Kausler,  Denkmäler  II, 
S.  483 — 556)  poetisch  verarbeitet,  „vorausgesetzt,  dass  er  nach  den 
Bedenken,  die  Ciarisse  gegen  seine  Urheberschaft  vorbringt,  noch 
als  der  Verfasser  gelten  kann".  Da  Kausler  ebendas.  JII  S.  289  ff. 
gründlich  und -gelehrt,  wie  er  pflegt,  den  ganzen  Gegenstand  be- 
handelt hat,  so  kann  ich  auf  ihn  verweisen,  und  will  nur  noch  über 
die  Herkunft  unserer  HS.  eine  Vermuthung  äussern.  Sie  scheint 
mir  aus  Südfrankreich  zu  stammen,  wenigstens  stimmt  sie  mit  allen 
provenzalischen  Handschriften,  die  ich  kennen  gelernt  habe,  in  der 
Rundung  der  Schrift,  Weisse  und  Glätte  des  Pergaments,  Blässe  der 
Tinte,  dann  in  besonders  charakteristischen  Zügen,  wie  z,  vollkom- 
men überein.  Die  Zahl  der  Capitel  ist,  wie  in  dem  von  Kausler 
angeführten  Drucke  72. 

An  dieses  einleitende  Werk,  eines  jener  absurden,  aber  allge- 
mein studierten  Compendien .  welche  das  nach  manchen  Richtungen 
so  gewaltige  und  achtungswerthe  Mittelalter  gerade  für  naturwissen- 
schaftliche Dinge  in  unwürdigem  Aberglauben  erhielten,  reihen  sich 
längere  oder  kürzere,  botanische,  astronomische  und  medizinische 
[1867.  IL  1.]  11** 


170         Sitzung  der  philos.-phüol  Classe  vom  1   Juni  1867. 

Tractate,  endlich  das  weitaus  merkwürdigste  Stück  der  ganzen 
Sammlung,  ein  arabisches  Zauberbuch,  leider  unvollständig,  da  es 
mitten  in  der  „Wunderlampe"  abbricht.  Auf  das  Pflanzenreich  be- 
ziehen sich  Nr.  3,  das  erwähnte  Pflanzenglossar  mit  deutschen  und 
polnischen  Erklärungen,  (N°  4  (f°  72)  lateinische  Homonymen  der 
Pflanzennamen,  N°  14,  das  zweite  deutsche  Kräuterglossar  (f°  119 
v°  —  124  r°.)  Am  umfangreichsten  und  wichtigsten  ist  in  diesem 
Zweige  der  Naturkunde  das  Obst-  und  Weinbuch  (f°  88—  101\ 
ein  ganz  der  Praxis  angehöriges  Compeudium,  unter  dem  Titel  In- 
cipit  über  de  insertione  arborum  et  earum  fructuum.  Von  wem 
Grundlage  und  Weiterführung  der  Arbeit  stamme,  zeigen  die  ein- 
leitenden leouinischen  Verse  an: 

Palladii  librum  breviatum  per  Godefridum 
Accipe  curta  volens  rustica  rura  colens 
Palladium  tan  tum  non  hie  sequor  aut  Galienum 
Pingitur  et  cespis  floribus  iste  meis 
Ordine  sub  certo  nullo  pereunte  reperto 
Scita  prius  religo  munus  et  hoc  tibi  do. 
Das  Ganze  hat  4  Tractatus.  1.  de  plantationibus  arborum  2.  de 
vitibus.  3.  de  conservatione  fructuum.  4.  de  vino.   Der  erste  Tractat 
ist  durch    zwei  Federzeichnungen,    den    geraden    und    den    schiefen 
Oculirschnitt  vorstellend,  illustrirt.     Im  vierten  Tractat   finden    sich 
die  interessanten  Paragraphe,  wie  man  erkennt    si   aqua    sit  in  vino 
und  wie  aqua  de  vino  separetur,    dann  de  deeeptione  gustus    (nicht 
durch  Gallisiren),  endlich  de  reformatione  vini  corrupti.    Die  zweite 
Gruppe    bilden  Astrologica.    N°    8    (f°    75)    de  effectibus   planetarum 
f°  80,    v°  die  sogenannten  arabischenZiffern,  N°  9  (f°  81)   Capitulum 
in  narratione  Saturni  (am  Rande  von  jüngerer  Hand  Tractatus  Sem 
filii  Haym).  N°  10   (f°   83)  Tractatns   alius,    von    den  Monaten   und 
ihrem  Einfluss    auf  das  Schicksal    der  Geburten   in   physischer   und 
psychischer  Richtung  bei  beiden  Geschlechtern.    Die  dritte  am  zahl- 
reichsten vertretene  Gruppe  ist  die  medizinische,  zuerst   N°  2.   Petx-i 
Hispani   medicina   (f°   41—68),     N°    5   (f°  73).     Ueber   Arzneidosen, 
woran   sich  ironisch  N.°  6  Signa   morientium  unmittelbar  anschliesst 
Diess  ist  ein  Stück  deutscher  Herkunft,    denn    vom  Uringlase   heisst 
es  in  sumrno  staupo  (—  stouf  Becher,    poculum   maius.)    N°   7,    ein 
einzelnes  Blatt    de   phlebotomia   N°  13   (f°  109)    Circa   instans,    ein 
Stück  eines  medizinisch-pharmakologischen  Glossars.    N°  15    (f '  124) 
Definitionen  von  Krankheiten,  N°  16  (f°  127)   Vegetabilische  Arznei- 
dosen N°17  (fJ  125)  eine  Pharmakopoe   in   14  Abtheilungen.  1.  Ver- 
schiedenes (26  Species),  2.  Kräuter  (103),  3.  Rinden  (10),  4.  Blüthen  (14), 


Hofmann:  Bemerkungen  zum  Nachtsegen.  171 

5.  Hölzer  (6),  6.  Wurzeln  (53),  7.  Säfte  (58),  8.  Harze  (28),  9  Knochen  (6), 
10.  Metalle  (7),  11.  Steine  (30),  12.  Salze  (8),  13.  Fleischsorten  (13) 
darunter  Löwen-  und  Seepferdfleisch  und  Wolfsleber.  14.  Confec- 
tiones  durae  (18).  Man  sieht  also ,  380  Simplicia  enthielt  diese 
älteste  Pharmacopoea  borussica,  deren  vollständige  Mittheilung  für 
Fachgenossen  ebenso  belehrend  wie  unterhaltend  sein  dürfte.  Dem 
Gebiet  der  Zauberei  endlich  gehört  ausser  unserem  Nachtsegen 
noch  ein  Spruch  von  jüngerer  Hand  an,  f°  109  am  unteren  Rand: 
Contra  pircil  stribraras  f iob  traezon  zcorobon  connubia  iob  f  et  pone 
eqv,  hier  ist  das  Uebrige  vom  Buchbinder  abgeschnitten  darüber 
t  esa  .  .  .  Wegen  des  Uebels  pircil,  gegen  welches  der  Spruch  ge- 
richtet ist,  vgl.  man  Frisch  unter  bürzel  Seuche  und  besonders 
unter  gunbyrzelen,  wo  der  merkwürdige  Aufschluss  gegeben  wird, 
dass  im  Jahre  1387  die  in  Augsburg  von  dieser  Epidemie  Befallenen 
unter  heftigen  Schvveissen  (molestissimis  destillationibus)  4 — 5  Tage 
gerast  hätten  und  dann  in  den  meisten  Fällen  Genesung  eingetreten 
sei.  Besonders  ausgiebig  vertreten  ist  es  durch  das  aus  dem  Arabi- 
schen übersetzte  Zauberbuch  f°  103  —108  mit  der  Ueberschrift  Epi- 
stola  Amati  filii  Abraham  qui  dignus  est  vocari  filius  Macellarii,  wie 
zu  lesen  ist,  wiewohl  ein  Ahmad  ibn  Ibrahim  ibnul  QaQcäb,  wie  der 
Autor  auf  Arabisch  heissen  müsste,  sich  nicht  bei  Hadji  Khalifa, 
dem  moslimischen  Jöcher,  findet.  Zahlreiche  arabische  Wörter,  be- 
sonders Namen  von  Hölzern,  die  zu  Bäucherungen  verwendet  werden, 
dann  die  Anführung  arabischer  Autoren,  der  Styl  endlich,  selbst  im 
lateinischen  Gewände  von  unverkennbarer  Fremdartigkeit,  lassen  in- 
dess  keinen  Zweifel  übrig,  dass  wir  es  hier  wirklich  mit  einer  arabi- 
schen Schrift  zu  thun  haben.  Der  absonderliche  Inhalt,  so  wie  der 
zufällige  Nebenumstand,  dass  das  Stück  mit  sehr  zahlreichen  und 
starken  Abkürzungen  geschrieben  ist,  die  Beschädigung  mehrerer 
Blätter  durch  Schmutz  und  Abreibung  machen  die  Abschrift  ungemein 
schwierig.  Das  Ganze  theilt  sich  wieder  in  zweiTheile,  der  1.  handelt 
von  Heilungen  durch  Zauberei  und  Sympathie,  der  zweite  von  eigent- 
lichen Zaubereien.  Ich  begnüge  mich,  den  Inhalt  dieses  letzteren 
Theiles  anzugeben,  und  ein  paar  charakteristische  Stellen  auszuheben. 
Die  Kapitel  handeln  1.  Vom  Bienenmachen.  2.  Von  einer  Räucher- 
ung, die  bewirkt,  dass  videbis  orientem  totum  jam  esse  rubeum  et 
aerem  totum  igneum  aut  videbis  equites  cum  hastilibus  atque  equos 
et  super  eos  homines  ex  igne.  3  Eine  Räucherung:  quando  tu  fumi- 
gabis  in  die  manifeste  cum  ea,  obtenebrabitur  mundus  et  videbis 
Stellas  omnes  et  lunam  donec  timeat  mundus  ex  illo.  4.  fumigiuin 
ut  videatur  luna  dividi  per  medium.  5.  operatio  fumigii   ad  eclipsim 


172         Sitzung  der  philo* -pli Hol.  Classe  vom  1.  Juni  1867. 

lunae  faciendam.  6.  operatio  ut  in  coelo  videantur  forme  stupe- 
facientes.  7.  suffumigatio  ut  in  coelo  videantur  gigantes.  8.  suffu- 
migatio  ut  in  coelo  sint  formae  magnae.  9.  ad  faciendam  pluviam. 
10.  ad  faciendam  pluviam.  11.  de  remotione  pluviae.  12.  Modus 
domorum  qui  est  facientibus  mirabilia,  d.  h.  ein  Haus  durch  Räucher- 
ung so  zuzurichten,  dass  die  Eintretenden  nach  Verlauf  einer  Stunde 
scheintodt  werden  und  sie  dann  wieder  zu  erwecken.  Es  wird  bei- 
gefügt, der  Messias  solle  nach  der  Aussage  einiger  nach  diesem 
altum  capitulum  Wunder  gewirkt  haben,  sed  non  est  ita.  Am  Rande 
Inquid  Hunayn.  13.  Operation  um  die  Sonne  oder  ein  Licht  grösser 
als  die  Sonne  bei  Nacht  zu  sehen,  angewandt  von  solchen,  die  sich 
für  Propheten  und  Weissager  ausgeben.  14.  Operatio  um  die  Sonne 
in  Flammen  stehend  zu  sehen.  15.  cum  volueris  convertere  formam 
hominis  in  formam  symii.  Hiebei  noch  ein  capitulum  mirabile;  quum 
volueris  ut  vidas  homines  et  non  videant  te,  et  tu  ambulabis  in 
medio  eorum,  et  per  hoc  capitulum  operantur  illi  qui  attribuunt 
sibi  prophetiam  et  qui  ascribunt  sibi  divinationem.  ib.  si  vis  videre 
ut  homines  at  invicem  sint  nigrarum  specierum,  d.  h.  dass  die  Leute 
einander  schwarz  vorkommen.  17.  Lampas  mirabilis.  Hier  bricht, 
wie  gesagt,  das  MS.  ab.  Obige  Auszüge  und  Inhaltsangabe  werden 
für  den  vorliegenden  Zweck  wohl  genügend  sein. 

Zum  Schlüsse  habe  ich  nur  noch  eine  Beobachtung  mitzutheilen, 
die  sich  auf  die  Geschichte  der  HS.  bezieht.  Auf  dem  Rücken  ist 
ein  rundes  blaues  Schildchen  aufgeklebt.  Diess  bedeutet,  dass  Docen 
sie  untersucht  und  Glossen  in  ihr  gefunden  hat,  die  er  sich  für 
künftigen  eigenen  Gebrauch  in  solcher  Weise  zu  notiren  pflegte.  Ob 
er  den  Nachtsegen  übersehen  oder  gleich  dem  Muspilli  für  einstige 
Herausgabe  zurückgestellt,  kann  ich  nicht  entscheiden. 


Sitzungsberichte 

der 

königl.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften. 


Philosophisch  -  philologische  Classe. 

Sitzung  vom  6.  Juli  1867. 


Herr  Prantl  trägt  vor: 

„Ueber  die  Literatur  der  Auctoritates  in  der 
Philosophie". 

Schon  in  den  ersten  Jahren  einer  reichhaltigeren  Ent- 
faltung der  Buchdruckerkunst  und  in  den  nächsten  darauf- 
folgenden Jahrzehenten  treffen  wir  eine  ansehnliche  Zahl 
von  Drucken,  meistens  ziemlich  kleinen  Umfanges,  welche 
unter  dem  Titel  „Auctoritates"  oder  „Repertorium"  oder 
„Dicta  notabilia"  u.  dgl.  eine  Blumenlese  philosophischer 
Sätze,  zumeist  aus  Aristoteles,  enthalten  und  sich  in  manig- 
fachen  Wiederholungen  oder  Variationen  sogar  bis  in  das 
17.  Jahrhundert  fortsetzen.  Versuchen  wir  nun,  diesen 
ganzen  Zweig  der  Literatur  im  Interesse  der  Geschichte  der 
Philosophie  zum  Gegenstande  einer  näheren  Untersuchung 
zu  machen,  so  wird  hiebei  selbstverständlicher  Weise  von 
den  gleichzeitigen  „Auctoritates  theologiae"  und  den  gleich- 
falls auftauchenden  „Auctoritates  Galeni"  völlig  abgesehen. 
[1867.11. 2.]  12- 


174         Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Was  das  Material  selbst  betrifft,  so  standen  mir  38 
Drucke  zu  Gebote,  welche  sich  in  folgender  Weise  in  Gruppen 
bringen  lassen: 

A.  1)  Repertorium   sive  tabula  generalis  auctoritatum  are- 

stotelis  cum  commento  per  modum  alphabeti  et 
philosophorum.  Nürnberg  1490.  Petrus  Wagner  4. 

2)  Repertorium  sive  tabula  generalis  auctoritatum  are- 
stotelis  et  philosophorum  cum  commento  per  mo- 
dum alphabeti.     Coloniae  1494.   Henr.  Quentel.  4. 

3)  Ebenso  ebend.   1495.    4. 

4)  Auctoritates  Aristotelis  et  aliorum  philosophorum 
per  modum  alphabeti  cum  notabili  commento.  Liptzk. 
1503.  Wolfgaog  Monacensis.  4. 

5)  Ebenso  ebend.  1510.  4. 

6)  Repertorium  sive  tabula  generalis  authoritatum  Ari- 
stotelis et 'philosophorum  cum  commento  per  mo- 
dum alphabeti.  Paris  1513.  Officina  Ascensiana.  4. 

7)  Axiomata  philosophica  Venerabilis  Bedae ex 

Aristotele  et  aliis  praestantibus  philosophis  etc. 
studio  Joannis  Kroeselii.  Ingolstadt  1583.  Wolfg. 
Eder.     8. 

8)  Axiomata  philosophica  Venerabilis   Bedae ex 

Aristotele    et    aliis   praestantibus    philosophis 

Quibus  accessere   theses in  diversis  Academiis 

disputatae.  Coloniae  1605.  Bernard  Gualtherus.   8. 

9)  Reverendi  et  clarissimi  viri  Bedae  Presbyteri  Axio- 
mata philosophica  ex  Aristotele  aliisque  praeclarissi- 
mis  Philosophis.  etc.  S.  1.  1608.     8. 

10)  wie  8)  Colon  1616.  Bern.  Gualtherus. 

11)  ebenso  ebend.  1623. 

12)  Bedae  Vener.  Opera  omnia.  Basel.   1563.  Vol.  I. 

13)  desgleichen  Colon.   1612.  Vol.  I. 

14)  und  ebend.   1688.  Vol.  I. 

B.  1)   Incipit    prologus     de     propositionibus    universalibus 


Prantl:  Literatur  der  „  Auetor  itates".  175 

Aristotelis.  S.  1.  et  a.  4.  ein  äusserst  alter  Druck 
aus  einer  oberitalischen  Offizin).  Am  Schlüsse  sind 
beigedruckt  Notabilia  artis  physionomice,  und  unter 
Weglassung  dieser  ist  gleichlautend: 

2)  Ebenso.  Bononiae.   1488.  Ugo  Bugerius.    4. 

3)  Propositiones  Aristotelis.  Venetiis.  S.  a.    4. 

C.  1)  Autoritates     ArestoteJis,    Senece,    Boetii,    Piatonis, 

Apulei  Affricani,  Porphirii  et  Gilberti  Porritani. 
S.  1.  s.  a.  4  (äusserst  alt  aus  einer  deutschen 
Offizin). 

2)  Ebenso.  S.  1.  s.  a.  4.  (etwas  jünger). 

3)  Ebenso.  S.  1.  s.  a.  4.  (wieder  aus  einer  andern 
Druckerei). 

4)  Ebenso.   Coloniae.   1487.  Joh.  Guldenschaeff.  folio. 

5)  Ebenso.  Reutlingen.   1488.   Michael  Gryff.     4. 

6)  Ebenso.  Spirae.  1496.  Conrad  Hist.    4. 

7)  Ebenso,  mit  dem  Beisatz  denuo  summa  cum  dili- 
gentia revise  et  correcte.  S.  1.  1498.  4  (sicher 
Coloniae  bei  H.  Quentel). 

8)  Ebenso.  S.  1.  1503.4  (gleichfalls  sicher  bei  Quentel). 

9)  Autoritates  Aristotelis  omnium  recte  philosophan- 
tium  facile  prineipis,  insuper  et  platonis,  Boetii 
Senece,  Apulei  Aphricani,  Porphirii,  Averroys,  Gil- 
berti Poritam  nee  non  quorundam  aliorum  novis- 
sime  castiori  studio  recognite  et  pigmentate.  Co- 
loniae.  1504.  Henr.  Quentel.     4. 

10)  Ebenso  ebend.   1507.     4. 

11)  Ebenso  ebend.  1509.     4. 

D.  1)  Repertorium  dictorum  Aristotelis,   Averoys,  aliorum- 

que  philosophorum  (in  der  Dedications-Epistel  an 
Hyeronimus  Tostinus  de  Florentiola  nennt  sich  An- 
dreas Victorius  Bononiensis  als  Verfasser).  Bononiae. 
1491.  Impensa  Benedicti  de  Hectoreis  ....  et  dili- 
gentia Bazalerii  de  Bazaleriis.     4. 

12* 


176         Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

2)  Prepositiones  [sie]  ex  omnibus  Aristotelis  libris  philo- 
sophie.  Moralis.  Naturalis,  et  priine.  nee  non  dia- 
lectice.  Rhetorice.  et  poeticae.  diligentissime  ex- 
cerpte.  et  ad  certa  rerum  capita  pulcherimo  ordine 
per  tabellain  additam  redacte.  (Zuerst  folgt  das 
alphabetische  Register  von  Benedictus  Soncinas  ver- 

fasst,    dann    die    Propositiones collectae    per 

fratrem  Theophilum  de  Ferrariis  Cremonensem.) 
Venetiis.  1493.  Joannes  et  Gregorius  de  Gregoriis.  4. 
E.  1)  Dicta  notabilia,  et  in  thesauruin  memoriae  reponenda, 
Piatonis.  Aristotelis.  Commentatoris.  Porphirii.  Gil- 
berti  Poretani.  Boetii.  Senece.  Apulei,  recens  im- 
pressa Quibus  addita  sunt  stupenda  Aristo- 
telis problemata  philosophis  ac  medicis  multum 
utilia  etc.  Venetiis  1532.  Sebastianus  Vincentmus.  8. 

2)  Dicta  notabilia  Aristotelis    et    aliorum  quam    pluri- 

mum  [sie] Quibus  de  recenti  Addita  sunt  Mar- 

ciantonii  Zimarae  Problemata,  uua  cum  CCC  Arist. 
et  Averr.  propositionibus  etc.  Venetiis  1536.  Divus 
Bernardinus.     8. 

3)  Ebenso  ebend.   1541.     8. 

4)  Aristotelis,  et  philosophorum  complurium  aliorum 
Sententiae  omnes  undiquaque  selectissimae.  Basileae. 
1541.  Robert  Winter.  8.  (Ein  Nachdruck  von  1  mit 
Weglassung  der  Problemata.) 

5)  Dicta  notabilia    sive  illustriores  sententiae ex 

Piatone,  Aristotele,  et  aliis  quam  pluribus  selectae 
etc.  Venetiis.   1551.  Hieron.  Calepinus.    8. 

P.      1)  Florum    illustriorum    Aristotelis    ex     universa    eius 

philosophia  collectorum  libri  tres.   Per  Jaco- 

bum  Bouchereau  Parisinum.  Paris  1563.  Hier,  de 
Marnef.     8. 

2)  Ebenso.    Francofurdi.  1585.    Joannes  Wechel.     8. 

3)  Ebenso.  Argentinae.  1598.  Lazarus  Zetzner.     8. 


Prantl:  Literatur  der  „Auctoritates".  177 

Betrachten  wir  nun  an  diesen  Drucken  vorerst  die 
äusserlichen  literarischen  Momente ,  um  hernach  auch  ein 
paar  Blicke  auf  Eigentümlichkeiten  des  Inhaltes  zu  werfen, 
so  ergibt  sich  aus  manigfacher  Vergleichung  zunächst, 
dass  der  Gruppe  A  eine  andere  Entstehung  zu  Grunde 
liegt,  als  den  Gruppen  B  und  C,  aber  doch  die  beiden  ur- 
sprünglich verschiedenen  Sammlungen  alsbald  wechsel- 
seitige Entlehnungen  und  Interpolationen  erfuhren,  und 
ausserdem  erhellt,  dass  der  Gruppe  A  die  zeitliche  Priorität 
gebürt. 

Nämlich  die  alphabetisch  geordneten  Auctoritates  ent- 
halten einen  ursprünglichen  Kern,  welcher  offenbar  bis  in 
das  14.  Jahrhundert  zurückfällt.  Ja  dieser  Kern  beruht 
nicht  einmal  auf  Lektüre  der  aristotelischen  Schriften  selbst, 
sondern  ist  aus  der  Controvers-Literatur  des  genannten  Jahr- 
hundertes  entnommen,  d.  h.  wer  sich  in  jene  Periode  der 
Geschichte  der  Philosophie  vollständig  eingelebt  hat,  erkennt 
sofort,  dass  nur  diejenigen  Stcllen-Citate  aus  Aristoteles, 
welche  seit  Thomas  und  Scotus  am  häufigsten  in  den  zahl- 
reichen Controversen  benützt  und  als  „Auctoritäten"  den 
Gegnern  gleichsam  an  den  Kopf  geschleudert  wurden,  hier 
in  ein  kleines  Büchlein  zusammengetragen  sind.  Und  des- 
gleichen erweisen  sich  die  kürzeren  oder  längeren  Erläuter- 
ungen, welche  den  einzelnen  Auctoritates  oder  Axiornata 
beigefügt  sind,  als  Excerpte  aus  den  betreffenden  Stellen,  in 
welchen  z.  B.  Albertus  Magnus  oder  Thomas  v.  Aquin  oder 
Robert  v.  Lincoln  u.  A.  ein  aristotelisches  Citat  besprochen 
hatte.  Eine  gewisse  Tendenz  aber  ist  hiebei  darin  bemerk- 
bar, dass  die  Richtung,  welche  mit  Duns  Scotus  beginnt 
und  durch  Occam  einen  gewissen  Abschluss  erhält,  bei  dem 
Compilator  der  Auctoritates  keineswegs  Beifall  gefunden 
haben  muss ,  sondern  derselbe  im  Gegentheile  mehr  der 
thomistischen  Strömung  folgte.  Der  Gedanke,  aristotelische 
Auctoritäts-Stellen  auf  solche  Weise  zu  sammeln    und    dann 


178  Sitzung  der  phüos.-philöl.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

alphabetisch  zu  ordnen,  war  für  jene  Zeit  gewiss  nicht  un- 
praktisch ;  denn  so  konnte  nun  zum  Behufe  einer  Schul- 
Disputation  auch  der  Unbelesenste  in  geschwindester  Manier 
eine  staunenswerthe  Gelehrsamkeit  zur  Schau  tragen  (ähn- 
lich wie  es  für  die  Parlaments-Redner  Englands  noch  jetzt 
Zusammenstellungen  von  loci  communes  gibt,  aus  welchen 
der  Glanz  einer  ausgedehnten  Belesenheit  in  classischer 
Literatur  geschöpft  werden  kann). 

In  Folge  solcher  Entstehung    enthielt  die  alphabetische 
Sammlung  ursprünglich  auch  nur  solche  Auctoritäts-Stellen, 
welche    schon  vor  der  Renaissance-Periode    zugänglich    und 
in  Umlauf  waren.     So    sind    es    natürlich  vor  Allem  Citate 
aus  Aristoteles,    zu  welchen  erklärlicher  Weise  das  Organ on 
(mit  Einschluss  des  Porphyrius    und    des    Gilbertus    Porre- 
tanus),    die   Metaphysik,    die    Physik   und    die    Bücher   De 
anima  das  grösste  Contingent   liefern,    während  die  Bücher 
De  coelo  bereits    eine  geringere,    die   Bücher    D.  gener.  et 
corr.  wieder  eine  geringere   und  Meteor.  Die  geringste  Ver- 
tretung finden.     An  diesen  Bruchtheil  der  Gesammtschriften 
des  Aristoteles  mussten  sich  nicht  bloss  das  Buch  De  causis, 
sondern  hauptsächlich    auch  die  Commentare    des    Averroes 
zu    den    genannten    aristotelischen    Werken    und    auch    die 
Schrift  De  substantia  orbis  anreihen.  Ausserdem  aber  finden 
wir,  —  um    von    einigen    Dutzend   herrenloser  Citate    oder 
solcher,  welche  als  „communis  regula"    bezeichnet  sind,  ab- 
zusehen —  noch  angeführt:  Aristoteles  D.  gener.  an.,  Probl., 
Pseudo-Arist.    D.  propr.    elem.,    Secreta   secr.,    Boethius  D. 
divis.,  D.  defin.    D.  diff.  top.,    Euklides,    Priscianus,    Augu- 
stinus, Anastasius,   Isidorus,    Anseimus,    Hugo  v.  S.    Victor, 
Alanus,    Avicenna,    die    ,, Alchimisten",    Wilhelm    v.    Paris, 
Robert   v.  Lincoln,     Albertus   Magnus,     Thomas   v.  Aquin, 
Petrus  Hispanus,    Aegidius   Romanus,    Sacroboscus    (jedoch 
sämmtliche  nur  je  Ein,  höchstens  zwei  Mal,    und    Avicenna 
fünf  Mal).     Und  sowie  wir  bedenken  müssen,  dass  all  diese 


Prantl:  Literatur  der  „Auctoritates'1.  179 

Autoren  im  14.  Jahrh.  als  Auctoritäten  äusserst  geläufig 
waren,  so  ist  auch  sehr  zu  beachten,  dass  in  sämmtlichen 
^übrigen  Gruppen  dieser  Auctoritates-Literatur  kein  einziges 
von  diesen  letzteren  Citaten  wiederkehrt.  Dass  übrigens 
der  Verfasser  einer  Conipilation,  welche  auch  die  genannten 
Schriftsteller  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  anführt,  nicht 
Beda  Venerabilis,  welcher  im  Jahre  735  starb,  sein  könne, 
bedarf  keiner  ausdrücklichen  Erwähnung;  auch  hat  schon 
der  äusserst  fleissige  Oudin  (Scriptt.  eccl.  Vol.  I,  p.  1687) 
dieses  chronologische  Missverhältniss  bemerkt.  Möglicher 
Weise  war  es  irgend  ein  „Presbyter  Beda",  welcher  im 
14.  Jahrh.  ein  solches  Schriftchen  zusammenstoppelte  und 
hiedurch  die  Verwechslung  hervorrief,  vermöge  deren  auch 
in  den  Drucken  A,  1  —  6  auf  der  nach  dem  Titelblatte 
folgenden  Seite  stets  venerabilis  Beda  presbyter  als  Heraus- 
geber genannt  ist;  aber  mir  wenigstens  ist  ein  Autor  dieses 
Namens  aus  jener  Zeit  nicht  begegnet. 

Aber  dieser  ursprüngliche  Kern  der  alphabetischen 
Auctoritates,  welcher  nur  mittelalterlich-aristotelische  Litera- 
tur enthielt,  wurde  zur  Zeit  der  Renaissance  allmälig  durch 
neue  Zusätze  bereichert,  wahrscheinlich  schon  in  Hand- 
schriften ,  sicher  aber  in  den  ersten  Drucken.  Und  sowie 
wir  Grund  zur  Vermuthung  haben,  dass  die  primitive  Ge- 
stalt dieser  Auctoritates  in  den  Thomistischen  Schulen  zu 
Paris  und  namentlich  zu  Cöln  entstanden ,  so  dürften  wir 
schwerlich  irren,  wenn  wir  annehmen,  dass  die  Bereicherung 
und  Interpolation  von  Oberitalien  aus  stattfand.  Zunächst 
schon  äusserlich  kündigen  sich  Zusätze  dadurch  an .  dass 
am  Schlüsse  der  einzelnen  Buchstaben  noch  zahlreiche  Auc- 
toritäts-Stellen  beigefügt  sind,  welche  im  Gegensatze  gegen 
die  übrigen  eines  Commentares  entbehren  und  zuweilen  auch 
unter  der  Ueberschrift  „Sequuntur  auctoritates  simpliciter 
verae"  eingeführt  sind.  Der  Buchstabe  0  ist  der  letzte, 
welcher  eine  solche  Vermehrung   zeigt,    uud  bei  den  folgen- 


180         Sitzung  der  philos.-pJiilol  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

den  war  der  Interpolator  offenbar  schon  etwas  ermüdet.  So- 
dann   aber    bestätigt    sich  der  Charakter    der  Interpolation 
durch  den  Nachweis  der  Herkunft    dieser  Zusätze,    welcher 
durch  folgende  Erwägung  sich  ergiebt :  Die  Gruppe  A,  d.  h. 
die  alphabetischen  Drucke,  enthält  nahezu  1100  Auctoritäts- 
Stellen.    während  die  Gruppen  B  und  C  deren  gegen  2700 
aufzeigen ;  dabei  aber  ist  es  selbstverständlich,  dass  mehrere 
Stellen  beiden  Sammlungen  gemeinsam    sind,    und   zwar  ist 
diess     in    dem    ursprünglichen     Kerne    der    alphabetischen 
Sammlung  bei  ungefähr  175  Stellen  der  Fall;  hingegen  die 
erwähnten  Zusätze,  welche  am  Schlüsse  den  einzelnen  Buch- 
staben beigefügt  sind,    und    deren   Zahl    zusammen  210  be- 
trägt, kehren  nahezu  sämmtlich    (d.  h.  207  unter  den  210) 
in  der  anderen  Sammlung  wieder.   Und  es  wird  dieser  Um- 
stand um  so  entscheidender,    da    ein  kleinerer  Theil  dieser 
Zusätze  aus  Schriftwerken    excerpirt   ist,    welche    genau    in 
der  nämlichen  Stellen-Zahl    in    den  Gruppen  B  und  C  ver- 
treten sind,  nämlich    aus    des  Aristoteles    Hist.  an.,    Oecon. 
und  Poet.,  aus  den  pseudo-aristotelischen  Schriften  De  bona 
fortuna,    De  pomo    et  morte,    De  regimine  principum,    aus 
dem  platonischen  Timäus  (d.  h.  Chalcidius)    und   aus   Apu- 
lejus  D.  deo  Socr.  zusammen  sind  es  36  Stellen,  deren  Auf- 
treten in  der    alphabetischen  Sammlung   schlechterdings  da- 
mit zusammentrifft,  dass  dieselben  auch  der  nicht-alphabeti- 
schen Sammlung  gemeinsam    sind.     Und   bei   einer  anderen 
Classe  von  Citaten    besteht  das    nämliche  Verhältniss,    nur 
in    geringerem   Grade,    indem   von   ungefähr    245    Stellen, 
welche    aus    des  Aristoteles   Parv.    nat.,    Eth.    Nie,    Polit., 
Rhet.,    aus    Seneca,    aus  Boethius  D.  cons.   phil. ,    und   aus 
Pseudo-Boethius  D.  disc.  schol.  zusammen  entnommen  sind, 
etwa   sieben   Zehntel    (d.  h.    ungefähr    170)    zur   Zahl    der 
späteren  Zusätze  gehören,  welche  den  beiderseitigen  Samm- 
lungen gemeinsam  sind. 

So  nöthigt  uns  gleichsam    eine  statistische  Betrachtung 


Prantl:  Literatur  der  „Auctoritates".  181 

der  Stellen  beider  Sammlungen  zu  dem  Schlüsse,  dass  der 
ursprüngliche  Kern  der  Gruppe  A  schon  früh  aus  den 
Gruppen  ß  und  C  bereichert  wurde,  indem  man  von  dort 
her  einen  neuen  Umkreis  aristotelischer  Werke  und  anderer 
bis  dahin  nicht  benutzter  Autoren  behufs  der  ,, Auctoritates" 
beizog.  Seit  einer  solchen  ersten  Verschmelzung  zweier  ur- 
sprünglich verschiedener  Sammlungen  wurde  dann  in  einigen 
ziemlich  unbedeutenden  Einzelnheiten  auch  wieder  die  nicht- 
alphabetische Sammlung  aus  der  alphabetischen  bereichert, 
so  dass  die  vorhin  erwähnten  Zahlen-Verhältnisse  in  ein- 
zelnen Drucken  kleine  Schwankungen  zeigen. 

Diese  Gruppen  B  und  0  nun,  welche  unter  sich  in  ver- 
wandtschaftlichem Zusammenhange  stehen,  weisen  örtlich 
auf  Italien  und  inhaltlich  auf  ein  von  der  Gruppe  A  ver- 
schiedenes Entstehungs-Motiv  hin.  Nemlich  innerhalb  der 
Gruppe  B  gehört  der  älteste  Druck  (B 1)  ebenso  gewiss 
einer  sehr  frühen  Periode  der  Typographie  als  einer  italieni- 
schen Offizin  an,  und  er  ist  überhaupt  die  älteste  unter  den 
nicht-alphabetischen  Sammlungen,  in  welchen  die  „Auctori- 
tates" oder,  —  wie  man  sie  in  Italien  lieber  genannt  zu 
haben  scheint  — ,  die  ,,Propositiones  universales"  nach  einer 
gewissen  Reihenfolge  der  Bücher,  denen  sie  entnommen 
waren,  geordnet  erscheinen.  So  finden  wir  in  diesem  und 
in  dem  mit  ihm  gleichlautenden  Bologneser  Drucke  (B2) 
Auctoritäts-Stellen  aus:  Arist.  Metaph.,  Phys.  ausc,  D.  coel., 
D.  gen.  et  corr.,  Meteor..  D.  an.,  Parv.  nat.,  wobei  nach 
jedem  einzelnen  dieser  Bücher,  mit  Ausnahme  der  vier 
Bücher  Meteor.,  jedesmal  einige  Stellen  aus  dem  betreffen- 
den Commentare  des  Averroes  folgen,  dann  aus  dem  Buche 
De  causis,  dann  Arist.  Eth.  Nie,  D.  bon.  fort.,  Oecon., 
Polit.,  Rhet.,  Poet.,  nach  welch  letzterer  wieder  Averroes, 
hierauf  aus  Pseudo-Arist.,  Secr.  secr.,  D.  reg.  princ,  D. 
pomo  et  morte ,  sodann  aus  dem  Organon  mit  Einschluss 
des    Porphyrius    und    des    Gilbertus,    hernach    aus   Arist. 


182         Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Hist.  an.,  Averr.  D.  subst.  orb.,    Seneca  ad.  Luc,  de  mor., 
d.   form,  vit.,    d.  benef.,    d.  remed.  fort.,   Boeth.    D.  cons., 
D.  disc.  schol.,  Plato  Tim.  und  aus  Apul.  d.  deo  Soor.  Der 
Druck  B  3,  welcher  von  Parv.  nat.  an  die  Reihenfolge  mehr- 
fach ändert  und  insbesondere  Poet.,  Rhet.,  und  das  Organon 
an  den  Schluss  des  Ganzen  stellt,  fügt  auch  noch  Arist.  De 
mot.  anim.  und  Ps.-Arist.  De  plantis  und  De  proprietatibus 
elementorum  ein.    Und  mit  diesem  letzteren  Drucke  ist  nun 
die  ganze    in   Deutschland   gedruckte    Gruppe    C    wesentlich 
identisch,  nur  ist  die  Schrift  D.  propr.    elem.    wieder   weg- 
gelassen und  die  Reihenfolge  der  Bücher  in  einigen  Punkten 
geändert,  sowie  auch  Averr.  zu  Meteor  beigezogen  und  ausser- 
dem kehrt  hier  die  Titel-Bezeichnung  des  Ganzen  als  „Auctori- 
tates"   wieder.     Es    sind    nemlich    die  sämmtlichen  Drucke, 
welche  zur  Gruppe  C  gehören,    in    Zahl,    Reihenfolge    und 
Formulirung  der  Autoritäts-Stellen    unter   sich  völlig  gleich, 
und   die   in    dieser   Beziehung    waltende  Uniformität  ist  da- 
durch nicht  gestört,    dass  die  bei  Heinrich  Quentel  erschie- 
nenen Drucke,    d.  h.    C,  8—11,    einige  Eigentümlichkeiten 
zeigen.  Nemlich  in  denselben  ist  die  erklärende  Begründung 
der  einzelnen  Stellen    manchmal    durch    kleine  Zusätze    be- 
reichert,   und    am  Schlüsse  des  Ganzen    eine   Commendatio 
philosophiae  Aristotelis   cum  eiusdem  vita  et  moribus  nebst 
einem    (gräulichen)    Carmen    de    operosa    virtute   beigefügt; 
und  jener  thomistische  Aristotelismus,  dessen  hauptsächliche 
typographische  Stütze  damals  Quentel's  Offizin  war  (—  mehrere 
anderweitige    Drucke   Quentel's    zeigen    auf  dem  Titelblatte 
ein  Bildniss  des  Thomas  v.  Aquin,    aus  dessen  Munde  sich 
ein  Zettel  mit  der  Aufschrift  entfaltet,    dass   ausschliesslich 
nur   Thomas    die     Quelle     aller    philosophischen    Wahrheit 
sei  — ),  zeigt  sich  hier  darin,  dass  vor  den  der  Politik  des 
Aristoteles    entnommenen    Auctoritäts-Stellen    eine    ziemlich 
heftig  geschriebene  „Explosio  Piatonis"  eingefügt  ist;     aber 
auch  die  anerkennenswerthe  Neuerung   finden  wir  in  diesen 


Prantl:  Literatur  der  „Auetor itates".  183 

Drucken,  dass  als  Verfasser  der  Schrift  De  discipl.  scho- 
lariuui  liier  nicht  mehr  Boethius,  sondern  Thomas  Braban- 
tinus  genannt  ist. 

Jener  schon  erwähnte  Umstand  aber,  dass  innerhalb 
der  Gruppen  B  und  C  der  älteste  Druck  aus  einer  ober- 
italienischen Druckerei  hervorgieng,  ist  weder  zufällig  noch 
vereinzeint,  sowie  überhaupt  für  das  Ende  des  15.  und  den 
Anfang  des  16.  Jahrhunderts  die  Beachtung  der  Druckorte 
manchen  interessanten  Blick  auf  die  örtliche  Verbreitung 
verschiedener  Partei- Ansichten  werfen  lässt.  Italien,  die 
früheste  und  hervorragendste  Oertlichkeit  der  Renaissance, 
lieferte  die  ersten  Gesammt-  und  Special- Ausgaben  der 
aristotelischen  Werke,  und  hier  zuerst  lernte  man,  —  ab- 
gesehen vom  Organon  — ,  den  Aristoteles  nicht  aus  den 
Commentaren  und  Controversen  eines  Thomas  und  Scotus 
und  Anderer,  sondern  aus  dem  Texte  selbst  kennen.  So 
auch  schuf  man  sich  zum  Behufe  der  üblichen  Schul-Dispu- 
tationen  eine  Sammlung  aristotelischer  Auctoritäts-Stellen, 
welche  unmittelbar  aus  den  Drucken  aristotelischer  Schriften 
selbst  geschöpft  war,  ein  Geschäft,  welches  damals  juder 
Setzer  oder  wenigstens  jeder  Vorsteher  einer  Druckerei  be- 
sorgen konnte ,  denn  diese  Leute  standen  hinreichend  auf 
der  gelehrten  Bildung  ihrer  Zeit,  um  sich  während  des 
Druckes  oder  der  Correctur  hauptsächliche  und  hervor- 
stechende Stellen  des  Autors,  welchen  sie  druckten,  zu 
notiren  und  zusammenzuschreiben.  Für  den  Leser  solcher 
Sammlungen  war  allerdings  auch  diess  eine  wohlfeil  errun- 
gene Belesenheit,  wenn  er  in  etwa  3000  Zeilen  den  ganzen 
Aristoteles,  Averroes,  Boethius,  den  halben  Seneca  und  noch 
ein  paar  andere  vielgenannte  Schriftwerke  beisammen  hatte. 
Aber  während  hierin  an  praktischer  Brauchbarkeit  die 
Gruppen  B  und  C  dem  alphabetisch  geordneten  Stoffe  der 
Gruppe  A  nicht  nachstanden,  hatten  sie  den  Vorzug,  dass 
sie    aus    den  betreffenden  Quellenschriften    selbst   geschöpft 


184         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

waren.  Ja  man  hat  es  in  italienischen  Druckereien  (z.  B. 
in  der  Offizin  der  Gebrüder  de  Gregoriis  zu  Venedig)  zu- 
weilen auch  zweckdienlich  gefunden,  dem  Text-Abdrucke 
einer  lateinischen  Uebersetzung  eines  aristotelischen  Werkes 
noch  die  betreffenden  ,,Auctoritates"  aus  demselben  nach- 
folgen zu  lassen ,  welche  dann  im  Ganzen  so  sehr  mit  den 
Stellen  in  den  Gruppen  B  und  C  übereinstimmen,  dass  man 
auf  den  Gedanken  kommen  könnte ,  diese  letzteren  seien 
überhaupt  nur  Abdrücke  solcher  Zusammenstellungen,  welche 
am  Schlüsse  einzelner  Text-Ausgaben  sich  finden.  Jedoch 
erscheinen  derartige  „Auctoritates"  in  den  Drucken  der 
aristotelischen  Texte  viel  zu  selten ,  um  eine  solche  An- 
nahme möglich  zu  machen,  und  weit  eher  ist  an  das  um- 
gekehrte Verhältniss  zu  denken,  d.  h.  dass  die  Sammlungen 
der  Auctoritates  benützt  wurden,  um  die  Ausgabe  eines  ein- 
zelnen Buches  am  Schlüsse  mit  den  es  betreffenden  Aucto- 
ritäts-Stellen  zu  schmücken. 

Unter  Bewahrung  einer  gewissen  Selbstständigkeit  knüpfte 
an  die  Gruppe  B,  d.  h.  an  die  italienischen  Drucke,  der 
Bolognese  Andreas  Victorius  (D,  1)  an,  welcher  nicht  bloss 
die  Schrift  De  reg.  princ,  sondern  auch  Boeth.  D.  cons. 
und  De  disc.  schol.  und  den  platonischen  Timaeus  bei  Seite 
liess,  und  ausserdem  das  Uebrige  in  einer  zuweilen  umge- 
stellten Reihenfolge  vorführte.  Und  gleichfalls  auf  der 
italienischen  Grundlage  baute  Theophilus  de  Ferrariis  (D,  2) 
fort,  welcher  unter  Wiederaufnahme  des  dort  üblicheren 
Titels  „Propositiones"  nun  ausser  Boethius  und  Plato  auch 
den  Seneca  und  den  Apulejus  hinwegliess  und  somit  sich 
wesentlich  auf  die  eigentlich  aristotelische  Literatur  (d.  h. 
mit  Einschluss  des  Averroes,  Porphyrius  und  Gilbertus  Por- 
retanus) beschränkte,  wobei  uns  nur  auffallen  mag,  dass 
die  Poetik  hier  unberücksichtigt  blieb ,  während  sogar  die 
sog.  grosse  Ethik  beigezogen  ist.  Eben  aber  innerhalb  der 
Beschränkung    auf  Aristoteles    ist   diese  Auctoritäten-Samin- 


Prantl:  Literatur  der  „Anctoritates" '.  185 

lung  bei  weitem  die  reichhaltigste  von  allen;  und  indem 
gleichsam  sämmtliche  citirbaren  Kernstellen  in  der  Reihe, 
wie  sie  in  den  Texten  nacheinander  folgen,  zusammengestellt 
sind,  kann  man  das  Ganze,  welches  nahezu  10,000  Stellen 
enthält  (z.  B.  aus  dem  Organon  bei  2100,  aus  Metaph., 
Phys.  ausc,  Eth.  Nie.  ungefähr  je  1100  u.  s.  f.),  als  einen 
ziemlich  vollständigen  und  auf  Text-Lectüre  beruhenden 
Auszug  aller  aristotelischen  Werke  bezeichnen.  Zugleich 
aber  wurde  mit  diesem  Vorzuge  grösster  Ausführlichkeit 
auch  das  praktische  Motiv  der  alphabetischen  Sammlungen 
verbunden,  indem  Benedikt  Soncinas  jene  10,000  Stellen 
nach  ihren  Schlagworten  in  alphabetische  Ordnung  brachte, 
und  somit  zur  Bequemlichkeit  des  Auffindens  brauchbarer 
Auctoritäts-Stellen  ein  Register,  welches  allein  102  Seiten 
füllt,  vorangedruckt  wurde.  Dass  die  philosophische  Partei- 
stellung auch  bei  dieser  Sammlung  dem  Thomismus  zu- 
gewendet war,  erhellt  aus  mehreren  Stellen  derselben;  ja 
auch  Gratiadei  von  Ascoli  findet  hier  eine  reichliche  Ver- 
wendung. 

Hingegen  wieder  eine  Rückkehr  zur  Gruppe  B  hat 
stattgefunden  in  der  Gruppe  E ,  wo  wir  die  sämmtlichen 
anderweitigen  Autoren  wie  dort  aufgenommen  finden.  Nur 
ist  die  Reihenfolge  der  Abschnitte  darin  wesentlich  geändert, 
dass  mit  Poet,  und  Rhet.  begonnen  wird  und  dann  sogleich 
das  Organon  -  folgt ;  auch  sind  bei  einigen  aristotelischen 
Schriften  nicht  sämmtliche  Stellen  aufgenommen,  welche  in 
jener  älteren  Sammlang  sich  finden,  hingegen  z.  B.  bei 
Seneca  ein  paar  neue  Stellen  hinzugefügt. 

Endlich  insoferne  in  Bouchereau's  Sammlung  (Gruppe  F), 
welche  sich  wieder  ausschliesslich  auf  Aristoteles  beschränkt, 
eine  Auswahl  aus  dem  reichen  Materiale  des  Theophilus  de 
Ferrariis  in  inhaltliche  Gesichtspunkte  zusammengestellt  ist, 
entfernt  sich  dieselbe  bereits  einigermassen  von  dem  eigent- 
lichen Charakter   der    früheren   „Auctoritates"    und   nähert 


186  Sitzung  der  pliilos.-philol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

sich  eher  einem  selbstständigen  Werke ,  welches  nach  Mass- 
gabe und  Fähigkeit  des  16.  Jahrhunderts  eine  Darstellung 
der  gesammten  aristotelischen  Philosophie  genannt  werden 
könnte. 

In  literargeschichtlicher  Beziehung  aber  muss  noch  be- 
sonders hervorgehoben  werden,  dass  der  ganze  Complex  der 
Auctoritates  in  verwandtschaftlicher  Weise    mit   zwei  ander- 
weitigen   Zweigen    von    Schriften    zusammenhängt.     Vorerst 
nemlich  ist  es  die  Literatur    der    damals    sogenannten  Pro- 
blemata  ( —  oder  wie  die  Schreibweise  häufig  lautete,  ,;Pro- 
bleumata")  Aristotelis,    welche    ja    auch    in  obigem  Drucke 
E,  1  eine  Aufnahme  unmittelbar    neben    den   Dicta  notabilia 
gefunden  hatten.     Und   in    der  That    war    diess    nicht    eine 
bloss  äusserliche  Zusammengehörigkrit,    sondern    diese  Pro- 
blemata    bildeten    wirklich    eine    Ergänzung    der    üblichen 
„Auctoritates",   insoferne  jenes  eigenthümliche  Sammelwerk, 
welches  unter  dem  Titel  „Problemata"  in  den  aristotelischen 
Schriften  enthalten  ist,    durchaus   nie    zu    den  Sammlungen 
der    Auctoritäts-Stellen    benützt   worden    war.     Aber    diese 
aus  dem  Alterthume    überlieferten  Probleme  des  Aristoteles 
waren  nur  die  äussere  Veranlassung  der  sog.  „Probleumata 
Aristotelis",  und  diese  letzteren,    welche    in    der   Incunabel- 
Zeit  und  den   nächstfolgenden  Jahrzehenten    äusserst    häufig 
gedruckt    wurden    (—  mir   kamen    34    Drucke,    darunter  4 
deutsche  Uebersetzungen,  vor  — ),    sind  Nichts  weniger,    als 
etwa  Ausgaben    der    aristotelischen  Probleme,     sondern    es 
sind  Fragen ,    deren    wohl    sehr    viele    dorther  entnommen 
werden   konnten ,    aber    deren   wieder    ein   grosser    anderer 
Theil    aus    anderweitigen    naturwissenschaftlichen    Schriften 
des  Aristoteles  geschöpft  ist.     Und  die  Beantwortung  dieser 
Fragen,  welche  zuweilen  aus  Aristoteles  selbst,  aber  häufiger 
aus  Avicenna,    Averroes ,    Galenus,    einige  Male    auch    aus 
Albertus  Magnus  entlehnt  ist,    zeigt  uns  deutlich,  dass  diese 
ganze  Ergänzung  der  Auctoritates  von  der  damaligen  medi- 


Prantl:  Literatur  der  „Auctoritates".  187 

cinischen  Wissenschaft  ausgieng.  Aber  eine  erklärliche  Rück- 
anknüpfung an  die  Richtung  der  Auctoritates  erkennen  wir 
darin,  dass  in  einem  Theile  dieser  Ausgaben  der  Probleu- 
mata  die  oben  erwähnte  Abhandlung  de  Aristotelis  vita  et 
moribus  aus  den  Kölner-Drucken  in  metrischer  Bearbeitung 
Aufnahme  fand  und  hinwiderum  in  mehreren  anderen  Aus- 
gaben die  Problemata  des  Marcus  Antonius  Zimara  nebst 
der  von  eben  demselben  veranstalteten  Sammlung  von  300 
Sätzen  des  Aristoteles  und  des  Averroes  beigefügt  wurden. 

Ein   zweiter  Zweig    aber,    mit    welchem    im   damaligen 
Schulbetriebe  die  „Auctoritates"  zusammenhiengen,  war  die 
höchst  ausgedehnte  Literatur    der   sog.  Thesen.     Und  sowie 
die  oben    erwähnten  Drucke   A,  8,     10  und  11,    welche    auf 
dem  Titelblatte  das    bekannte  Jesuiten-Zeichen    tragen,    un- 
mittelbar  an    die  Axiomata    eine   lange    Reihe    von  Thesen 
anknüpfen,    welche     seit    1592    in    verschiedenen    Jesuiten- 
Schulen  verhandelt  worden  waren  (— Theses  disputatae — ), 
so  treffen    wir   in    der  That   fast    eine  Unzahl    von  Thesen- 
Drucken,    welche    bald    Proposita,    bald  Assertiones,     bald 
Positiones  betitelt  sind,  und  disputable  Sätze  aus  aristoteli- 
scher Logik,  Physik  und  Ethik    in    näherem    oder    entfern- 
terem Anschlüsse   an    die  üblichen  „Auctoritates"  enthalten. 
Dass  diese  Praxis  der  Schul-Disputationen    sich   allmälig  in 
abgeschwächter  Form    zu    den   noch    jetzt  üblichen  Promo- 
tions-Thesen umgestaltete,    ist  ebenso  selbstverständlich,  als 
dass   auch    die    protestantischen   Universitäten ,    welche    als 
Universitäten    überhaupt    den    Scholasticismus    der    Vorzeit 
nur  in  das  Protestantische  übersetzten,    an  dieser  formellen 
Tradition  sich  reichlich  betheiligten.     Hingegen    ein   tieferer 
culturgeschichtlicher  Faden  liegt  darin,  dass  der  Standpunkt 
der  Jesuiten,  aus  deren  Schulen  im   16.  und  17.  Jahrh.  bei 
weitem  die  grössere  Zahl   der  Thesen-Literatur  hervorgieng, 
im  Allgemeinen    nur    eine  getreue  Fortsetzung  des  Thomis- 
mus    (d.  h.  der  Dominikaner)    war.     Und    diese   Erwägung 


188  Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

mag  uns  den  Uebergang  zu  einigen  inhaltlichen  Betracht- 
ungen machen,  welche  dem  Leser  der  Literatur  der  ,,Auc- 
toritates"  sich  aufdrängen. 

Insoferne  nemlich  in  dem  Paris-Kölner  und  dem  ober- 
italienischen Thomismus,  welch  letzterer  in  manchen  Punk- 
ten auch  mit  dem  Averroismus  einen  ziemlich  unvorsichtigen 
Frieden  eingieng,  der  inhaltliche  Grundton  der  sämmtlichen 
Auctoritates-Literatur  liegt,  kann  dieselbe  einen  kleinen 
Beitrag  zur  Kenntniss  der  Renaissance-Zeit  und  des  16.  Jahr- 
hundertes ,  d.  h.  überhaupt  einer  Periode  liefern ,  deren 
Detail-Erforschung  bezüglich  der  Philosophie  immerhin  noch 
als  eine  der  Wissenschaft  erst  obliegende  Aufgabe  bezeich- 
net werden  darf.  Denn  sowie  man  bisher  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  selbst  bei  ausführlicherer  Darstellung  den 
Uebergang  von  Occam  oder  etwa  auch  von  Johannes  Gerson 
und  Raimund  von  Sabunde  bis  zu  Baco  v.  Verulam  und 
Descartes  etwas  allzu  rasch  zu  bewerkstelligen  pflegt,  und 
auch  nur  sehr  wenige  Monographien  über  einzelne  der  da- 
zwischen liegenden  zahlreichen  Mittel-Formationen  verfasst 
wurden,  so  liegen  überhaupt  noch  (— ohne  Uebertreibung — ) 
Hunderte  von  Drucken  aus  jener  Zeit  vor,  welche  wohl  ein 
lautes  Zeugniss  über  den  damaligen  eigenthümlichen  Zu- 
stand der  Philosophie  ablegen,  aber  bis  jetzt  für  die  ge- 
schichtliche Wissenschaft  noch  nicht  benützt  wurden.  Einen 
grossen  Theil  derselben  wird  allerdings  die  Geschichte  der 
Logik  noch  verwerthen  müssen ,  aber  indem  dieselbe  die 
Gränzen  ihres  speziellen  Gegenstandes  nicht  überschreiten 
darf,  kann  sie  gewissermassen  nur  eine  Probe  oder  eine 
Anreizung  zur  Behandlung  des  übrigen  Restes  darbieten. 
Ein  unscheinbarer  Nebenpunkt  aber,  welcher  in  seiner  be- 
schränkten Weise  sich  auf  die  ganze  Philosophie  (d.  h.  auf 
Logik,  Metaphysik,  Physik,  Psychologie,  Ethik,  Politik)  er- 
streckt, beruht  in  der  Literatur  der  Auctoritates. 

Im  scholastischen  Mittelalter  war  theologisireade  Schul- 


Prantl:  Literatur  der  .,Auctoritates".  189 

Philosophie  die  einzige  Existenzweise  der  Philosophie  über- 
haupt. Diess  änderte  sich  hernach ,  insoferne  von  dem 
wiedererwachenden  Alterthume  und  von  Mathematik  und 
Naturstudium  her  in  freierer  Strömung  eine  anderartige 
Zeit-Philosophie  danebentrat;  aber  die  Aenderung  bestand 
nicht,  darin,  dass  etwa,  wie  man  gemeiniglich  anzunehmen 
scheint,  seit  dem  Anfange  des  16.  Jahrhunderts  die  Scho- 
lastik zu  Grabe  getragen  sei  (oder,  wie  eine  beliebte  Phrase 
lautet ,  dass  der  Tübinger  Gabriel  Biel  der  letzte  Schola- 
stiker gewesen  sei).  Den  besseren  Theil  hatten  in  jener 
denkwürdigen  Periode  der  Renaissance  jedenfalls  die  Hu- 
manisten erwählt,  aber  sie  übten  vorerst  keinen  unmittel- 
baren Einfluss  auf  die  Zeit-Philosophie  aus ,  geschweige 
denn  überhaupt  irgend  einen  Einfluss  auf  die  Schul-Philo- 
sopliie;  und  auch  die  platonische  Akademie  der  Mediceer 
brachte  in  der  Tradition  des  philosophischen  Schulunter- 
richtes noch  weit  weniger  eine  Aenderung  hervor,  als  ehe- 
dem das  analoge  Unternehmen  des  Julianus  Apostata.  Andrer- 
seits war  in  Naturkunde  und  insbesondere  Arzneiwissenschaft 
bereits  während  der  scholastischen  Periode  neben  Avicenna 
auch  Galenus  getreten ,  und  die  Ptenaissance  fügte  sofort 
die  Werke  des  Hippokrates  hinzu  (allerdings  vorerst  in 
lateinischer  Uebersetzung  und  erst  3 — 4  Jahrzehente  später 
im  griechischen  Originale) ,  so  dass  in  der  That  eine  Reihe 
reformatorischer  Bestrebaugen  in  der  Philosophie  auf  Chemie 
und  hippokratische  Ilumoral  -  Theorie  zurückweist.  Aber 
während  es  häufig  unser  »Staunen  erregt,  mit  welch  aus- 
gedehnter medizinischer  Belesenheit  im  IG.  Jahrhundert 
z.  B.  die  psychologischen  Fragen  von  Averroisten  und  Anti- 
Averroisten.  von  Nicht-Aristotelikern  und  auch  einigen  Ari- 
ßtotelikern  besprochen  wurden,  so  erfuhren  alle  dergleichen 
Grundsätze  und  Meinungen  ,  welche  sich  von  den  aristoteli- 
schen vier  Elementen  abwendeten  und  neue  physikalische 
Kategorien-Tafeln  oder  anderweitige  Grund-Elemente  auf- 
[1867.  II.  2]  13 


190         Sitzung  der  philos.-pliilol.  Gasse  vom  6.  Juli  1867. 

zustellen  versuchten,  seitens   der  Schul-Philosophie   nur  eine 
gänzliche  und  principielle  Nichtbeachtung. 

Die  Katheder-Philosophie  war  nun  nicht  mehr,  wie  im 
Mittelalter,    zugleich   die  Zeitphilosophie,    und  die  Inhaber 
der  philosophischen  Lehrstühle   waren  nicht  die  Träger  des 
allmäligen  Fortschrittes    der   Philosophie,    sondern   nur  die 
Vertreter  einer  älteren    und    bereits  stagnirenden  Tradition. 
Und  indem    sich  der  fortschreitende  Aufschwung  der  Philo- 
sophie gerade  ausserhalb  der  Hörsäle   in  individuell  gefärb- 
ten schriftlichen  Schöpfungen  vollzog,    erklärt    sich    sowohl 
die  Polemik  der    erwachenden  Selbstständigkeit    gegen    den 
Schul-Schlendrian    als    auch    die    Verfolgungswuth    der   Ka- 
theder-Philosophen   gegen    die    kühnen  Neuerer.     Was    der 
studirenden  Jugend,    welcher   z.  B.  auch  Plato  verschlossen 
blieb,    als  philosophischer  Unterricht  dargeboten  wurde,  be- 
stand  immerfort   noch    entweder    in    thomistischem  oder  in 
scotistischem  Aristotelismus  oder  in  sonstigen  geistlosen  Ex- 
cerpten    aus   Aristoteles    auf  Grundlage    der    verschiedenen 
sog.  Parvuli  (Parvulus  philosophiae  naturalis,  Parvulus  phi- 
losophiae    moralis).     Und    solch    magere    und   verschrobene 
aristotelische  Tradition  schleppte    sich    an    den    protestanti- 
schen Universitäten  ebenso  sehr  wie  an  den  katholischen  fort, 
während  und  nachdem  bereits  Baco,  Descartes,  Spinoza  und 
Leibniz  in  der  Literatur  aufgetreten  waren;    nur  in  Frank- 
reich   fand  der  halbaugustinische  Cartesianismus    eine    Auf- 
nahme in  den  Hörsälen    und  Schulbüchern    der  Philosophie 
bis  weit  über  Port-Royal  hinab.     In  Deutschland   aber  war 
erst  seit  Wolff  der  Fortschritt  der  Philosophie  selbst  an  die 
Universitäts-Lehrstühle    geknüpft,    und    jene    nemliche  Zeit 
war  es  auch,    in  welcher  erst  eine  gründlichere  Beseitigung 
der  Scholastik  eintrat. 

Aber  eben  zu  jener  nach  dem  angeblichen  Tode  der 
Scholastik  noch  lange  fortlebenden  Scholastik  gehört  auch 
die  Literatur  der  Auctoritates.     Bedenkt  man,   dass  damals 


Prantl:  Literatur  der  „ Auetor itates'1.  191 

nicht  das  geschichtliche  Interesse  der  Forschung  der  Be- 
stimraungsgrund  war,  Etwas  durch  den  Druck  zu  ver- 
vielfältigen, sondern  dass  man  eben  druckte,  was  irgend- 
wie im  Gebrauch  war,  so  trifft  mit  der  langen  Dauer 
der  Zeit,  in  welcher  „Auctoritates"  gedruckt  wurden,  eine 
ebenso  lange  fortgesetzte  praktische  Benützung  derselben 
zusammen,  und  wir  werden  sicher  keinen  Fehlschluss 
machen ,  wenn  wir  annehmen ,  dass  auch  bereits  längere 
Zeit  vor  der  Praxis  der  Buchdruckerkunst  Aehnliches  hand- 
schriftlich in  Umlauf  war.  Im  Gebrauche  aber  war  diese 
Literatur  bei  den  thomistischen  Pradikanten  sowohl  zum 
Behelfe  der  Prediger  als  auch  zur  philosophischen  Dressur 
der  Studirenden,  wie  diess  in  der  Vorrede  der  nicht-alpha- 
betischen Sammlungen    deutlich    ausgesprochen  wird:     ,,In- 

cipit  prologus  compendii  auetoritatum pro  usu  intro- 

duetionis  thematum  ipsorum  praedicatorum  ad  populum 
simul  ac  in  artibus  studere  volentium.  Cum  enim  aristote- 
licae  sententiae  tarn  ad  populum  praedicanti  (an  einer 
anderen  Stelle  wird  hiefür  auch  das  Wort  arenga  gebraucht) 
quam  in  artibus  studenti  non  modicum  fulgontioris  cogni- 
tionis  cuiufelibet  scientiae  praebeant  robur  et  fuleimen,  ideo 
in  praesentiarum  pro  magistralibus  brevibusque  sermonum 
introduetionibus"  etc.  etc.  (d.  h.  der  Satz  ist  ein  in  allen 
in  Deutschland  erschienenen  Drucken  gleichlautendes  Ana- 
koluth).  Reichen  sich  so  der  homiletische  und  der  Schul- 
Zweck  gegenseitig  die  Hand  (s.  z.  B.  die  Verbindung  des 
Predigt-Stiles  und  der  Logik  bei  Antonius  Anrrroas;  m. 
Gesch.  d.  Log.  Bd.  III,  S.  277),  so  verhielt  sich  inhaltlich  diese 
ganze  Richtung  aus  Grundsatz  spröd  gegen  die  Renaissance 
und  deren  Wirkung  auf  die  Philosophie.  Denn  wenn  auch 
einige  rhetorische  ,,purpurei  panni"  aus  anderen  classischen 
Autoren  allmälig  in  diese  Schal-Literatur  Eingang  gefunden 
(z.  B.  die  allbekannten  horazischen  Worte  „ampullae"  und 
„sesquipedalia   verba") ,    so   springt   in    philosophischer  Be- 

13* 


192  Sitzung  der  phüos.-philöl.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Ziehung  vor  Allem  die  grundsätzliche  Nichtberücksichtigung 
der  Schriften  Plato's  in  die  Augen.  Indem  die  Auctoritäts- 
Stellen  aus  dem  Timäus  (d.  h.  aus  Chalcidius)  hiegegen 
wahrlich  keinen  Einwand  liefern,  da  ja  bekanntlichst  die 
Uebersetzung  des  Chalcidius  dem  Mittelalter  vom  ersten 
Anfang  an  bekannt  war,  so  verbleiben  die  „Auctoritates" 
bezüglich  Plato's  gerade  vollends  bei  der  mittelalterlichen 
Tradition,  obwohl  die  platonische  Dialoge  bereits  seit  1483 
in  der  lateinischen  Uebersetzung  des  Marsilius  Ficinus  ge- 
druckt vorlagen  (Drucke  des  griechischen  Original-Textes 
erschienen  erst  30'  Jahre  später),  und  obwohl  in  sehr  be- 
nachbarter Nähe  der  venetianischen  und  der  bologneser 
Druckereien  die  platonische  Akademie  der  Mediceer  eine 
reichhaltige  und  fast  erschütternde  Bewegung  in  der  Philo- 
sophie hervorgerufen  hatte.  Diese  thomistischen  Prädicanten 
wiederholten  unbeirrt  nur  dasjenige,  was  seit  dem  Einfluss 
der  Araber  die  Majorität  des  ganzen  Mittelalters  stets  ge- 
than  hatte;  denn  alle  thomistischen  und  halb-thomistischen, 
sowie  alle  scotistischen  und  halb-scotistischen  Aristoteliker 
stimmten  in  logischer  Verwerfung  der  platonischen  Ideen - 
Lehre  überein  (s.  m.  Gesch.  d.  Log.  Bd.  III,  S.  125,  236, 
240,  249,  292  f.,  309,  316  ff.,  325,  358).  Auch  wurde  ja 
als  brauchbare  Beisteuer  zur  antiplatonischen  Tendenz  dem 
Kölner  Buchdrucker  Quentel  von  irgend  Jemandem  jene 
oben  erwähnte  ,,Explosio  Piatonis"  aus  Firmianus  (d.  h. 
Lactantius)  zur  Verfügung  gestellt,  in  welcher  die  platonische 
Ehe-  und  .Kindergemeinschaft  vom  christlichen  Standpunkte 
aus  verurtheilt  ist. 

Indem  man  somit  in  den  „Auctoritates"  die  platonische 
Philosophie  überhaupt  grundsätzlich  ignorirte,  schöpfte  man 
nicht  einmal  die  vier  Cardinal-Tugenden  aus  der  ursprüng- 
lichen Quelle ,  sondern  merkwürdiger  Weise  aus  jenen  apo- 
kryphen Briefen  an  den  Apostel  Paulus,  welche  im  ganzen 
Mittelalter    schon    seit  Johannes    von  Salesbury  für  ein  Er- 


Prantl:  Literatur  der  ., Auetor itates".  193 

zeugniss  des  Seneca  gehalten  wurden.  Nemlich  während 
man  die  Lehre  von  den  Cardinal-Tugenden  natürlich  aus 
Augustinus  hätte  entnehmen  können,  welcher  bekanntlich  der 
Urheber  dieser  christlichen  Wendung  der  platonischen  Ethik 
war,  scheint  man  die  Auetori  tat  eines  ,, Philosophen"  der- 
jenigen eines  Kirchenvaters  vorgezogen  zu  haben  und  so 
mochte  sich  neben  Boethius,  welcher  gleichfalls  als  Christ 
und  als  Verfasser  der  Schrift  De  trinitate  galt,  ganz  be- 
sonders der  vermeintliche  Christ  Seneca  empfehlen ,  auf 
dessen  übrige  Schriften  von  den  Pseudonymen  Büchern  her, 
deren  wirklicher  Verfasser  wahrscheinlich  der  Portugiese 
Martinus  von  Braga  im  6.  Jahrhundert  war,  der  christliche 
Nimbus  übertragen  wurde.  Wenn  somit  die  Beiziehung  des 
Seneca  bei  oberflächlichem  ersten  Blicke  wie  eine  Ausnahme 
von  der  Verschmähung  der  Renaissance  erscheint,  so  klärt 
sich  die  Sache  durch  die  im  Mittelalter  über  Seneca  all- 
gemein verbreitete  Meinung  völlig  auf,  und  wir  dürfen  mit 
Entschiedenheit  behaupten,  dass  die  Vertreter  der  Auc- 
toritates-Literatur  von  den  vorhergegangenen  und  gleich- 
zeitigen Strömungen  der  Pienaissance  überhaupt  schlechter- 
dings Nichts  wissen  wollten.  Und  sowie  unter  allen  Drucken 
nur  der  einzige  jüngste  Venetianer  (E,  5  aus  d.  J.  1551)  es 
ist ,  in  welchem  den  üblichen  aristotelischen  Auctoritäts- 
Stellen  einige  Bruchstücke  aus  Plato  unter  dem  Titel  ,,Gein- 
mae  Piatonis"  vorangeschickt  sind,  so  müssen  wir  beachten, 
dass,  wie  oben  erwähnt,  in  anderen  Drucken  das  sichtliche 
]'. (streben  obwaltete,  auch  den  platonischen  Timäus  und  den 
Boethius  sowie  den  Seneca  u.  s.  f.  zu  entfernen  und  so  das 
reine  Fahrwasser  des  scholastischen  Aristotelismus  zu  ge- 
winnen. 

Während  aber  die  früheren  Scholastiker  in  den  Werken 
des  Aristoteles .  welche  sie  auch  grossentheils  mit  einläss- 
lichen  Commentaren  versahen,  wirklich  selbst  belesen  waren, 
( —  mag  man  von  der  Art  und  Weise,  wie  sie  lasen,  denken 


194       Sitzung  der  pliilos.-phüol  Gasse  vom  6.  Juli  1867. 

was  man  wolle  — ),  so  sind  die  Drucke  der  „Auctoritates", 
wenn  auch  die  Eine  Classe  derselben  aus  selbsteigener  Lee- 
türe hervorgegangen  war,  doch  nur  darauf  berechnet,  dass 
der  Leser  sich  nicht  mehr  der  Mühe  zu  unterziehen  brauche, 
den  Aristoteles  selbst  zur  Hand  zu  nehmen,  und  es  ge- 
staltet sich  die  im  Mittelalter  überhaupt  eingebürgerte  Ab- 
hängigkeit von  vorliegender  Ueberlieferung  hier  förmlich  zu 
einem  Auctoritäts-Schwindel,  welcher  namentlich  im  Unter- 
richte der  Jugend  bezüglich  eines  jeden  geistigen  Auf- 
schwunges, geschweige  denn  eines  Fortschrittes,  nur  lähmend 
und  niederdrückend  wirken  konnte. 

Und  hiemit  hängt  zusammen,  dass  die  „ Auctoritates" 
in  manchen  Punkten  nur  eine  stagnirende  Tradition  jener 
Unwissenheit  und  Halb-Barbarei  waren,  welche  bei  Albertus 
Magnus  noch  verzeihlich  war,  aber  in  den  Jahrzehenteu  der 
Renaissance  keine  Entschuldigung  mehr  erwarten  darf.  So 
wenn  wir   in    der  Einleitung  über  Aristoteles  lesen:     ,,Eius 

ortus  primum  carpsit  huius  vitae  auras   in  straguma, 

civitate  traciae, fuit  autem  filius  nichometi    (an  einer 

anderen  Stelle  „nichometi  vel  anthomaci")  et  festiae,  qui 
ab    esculapio    descenderunt" ,     oder    in    dem    Epiloge    des 

Ganzen:  „Philippus mittit.  Alexandrum  grammatice  tuue 

loquentem  certis  cum  oratoribus  Athenas  ad  Lyceum  in 
asianum  gymnasium  enixius  mandato  regis  Aristoteli  suppli- 
cantibus,  ut  suam  philosophiam  in  hoc  adolescente  dignare- 
tur  experimento  comprobare",    oder   ebendaselbst:     ,,In  re- . 

gionem    secessit  Euboicam, ubi  ....  in  urbe  Calcbide 

peripatum  instituens  reliquum  vitae   in  optimo  mentis 

vigore  gloriose  transegit,  in  quo  exilio  rerum  naturae  con- 
templationem    transcendens    stupendum    opus    Metaphysicen 

usque    ad  duodeeim    libros    absolvit".     Aehnlich   über 

Tlato  als  Einleitung  zu  den  Stellen  aus  dem  Timäus:  „Fuit 

autem  Plato  civis  Atheniensis patre  ariston  de  genere 

neptuni,  matre  parcion  de  genere  sapicutissimi   SalomoniV. 


Vrüntl-  Literatur  der  „Auetoritates".  195 

Ausserdem  sind  neben  häufiger  Nachlässigkeit  der  Ci- 
tate  (z.  B.  die  allbekannte  Stelle  aus  An.  post.  I  „Gau-, 
deant  universalia ,  quae,  si  sunt,  monstra  sunt"  wird  dem 
Porphyrius  zugeschrieben)  in  manchen  Drucken  einzelne 
Auctoritäts-Stellen  durch  so  grobe  Druckfehler  entstellt,  dass 
mancher  Prädicant  und  mancher  Student  hierüber  in  die 
grössteu  Verlegenheiten  gerathen  konnte.  Z.  B.  aus  Me- 
taph.  V :  Aliqua  (statt  Aqua)  est  materia  omnium  liquefacti- 
bilium;  aus  D.  vita  et  m. :  Animalia  respirantur  (statt  suffo- 
cantur)  in  humido;  aus  Polit.  VII:  Bonum  est,  pueros  esse 
sine  vitio  (statt  vino) ;  aus  Polit.  I:  Consilium  mulierum 
est  invalidum,  pium  (statt  pueri)  autem  imperfectum;  ebend.: 
Desiderium  dubium  (statt  divitiarum)  vadit  in  iufinituui ; 
aus  Metaph.  XII:  Entia  volunt  (statt  nolunt)  male  disponi; 
aus  Polit.  V :  Magnae  civitates  sunt  plus  (statt  plus  sedi- 
tiosae),  quam  parvae,  aus  Phys.  ausc.  I:  Quod  non  (statt 
vere)  est,  nulli  aeeidit ;  aus  Apul.  d.  deo  Socr. :  Conversatio 
mutua  (statt  perpetua)  contemptuin  parit;  u.  dgl.  m. 

Aber  auch  wenn  man  auf  solche  Dinge  als  auf  Zu- 
fälligkeiten kein  Gewicht  legen  will ,  so  ist  hingegen  von 
grösserem  Belange ,  dass  der  Inhalt  überhaupt  in  specula- 
tiver  Beziehung  eine  bedauerliche  Schwäche  zeigt,  und  dass 
aus  einer  Jugend,  welcher  solche  Nahrung  des  Geistes  ge- 
boten wurde ,  wahrscheinlich  keine  klaren  Denker  hervor- 
gehen konnten.  Jene  thomistische  Denkweise ,  welche  so 
trefflich  darauf  eingerichtet  war,  Kamele  zu  verschlucken 
und  Mücken  zu  seihen,  blickt  in  den  „Auctoritates '  bei 
jeder  Gelegenheit  durch,  da  ja  die  unnatürliche  Verbindung 
des  Aristotelismus  und  der  Principien  des  Christenthumcs 
in  den  Thomisten-Schulen  überhaupt  einmal  zur  süssen  Ge- 
wohnheit geworden  war.  Es  ist  nur  der  scholastisch  (oder 
auch  jesuitisch)  verstandene  Aristotelismus ,  welchen  jene 
Leute  für  eine  ,,vegeta  solidaque  philosophia"  hielten ,  ver- 
möge deren  man  sich    ,,vel    contra  Socratem   nihil  scientem 


19G         Sitzung  der  phüos.-philos.  Ciasse  vom  G.  Juli  1867. 

vel  Platonem  enygmata  cudentern  aut  Thaletem  ignivomum 
aut  Democritum    atomis    circumfusum     et    item    omnigenas* 

philosophorum    hereses undequaque  contegere  et  vin- 

dicare"  könne  (so  im  Epilog).  Und  warn  sonach  jede 
andere  Philosophie  als  Häresie  galt,  so  erschien  Aristoteles 
als  jener  Philosoph,  ,,qui  uuum  deum,  qui  entium  universi- 
tati  ut  autor  et  custos  sempiternae  vigiliae  praeesse,  ratione 
docere  tentaret",  woran  dann  folgende  Erzählung  geknüpft 
wird:  „Tanta  eius  philosophia  paucis  lahentibus  annis  cepit 
auetoritate  complecti ,  quod  Athenienses  ex  ea  sufficienter 
persuasi  in  honorem  unius  dei,  quem  ignotum  appellitabant. 
statuam  publice  erigerent ;  quam  cum  ....  Paulus  Christi 
apostolus  coram  gentibus  nomen  dei  portaturus  Athenis 
offenderet,  illum  esse  diebus  suis  pro  salute  humani  generis 

natum  et  crueifixum illi  populo  gentili  salubriter  ex- 

ponebat"  (ebend.).  Bei  solch  letzterer  Ansicht  ist  es  dann 
nicht  zu  wundern,  wenn  ferner  gesagt  wird:  „In  dubium  a 
nonnulis  est  quandoque   revocatum,    an  Aristoteles  de  factu 

fuerit    in    statu    salutis    vel    damnationis    aeternae 

Quod  autem  Aristoteles  poterat  sub  lege  naturae  salutem 
aeternae  beatitudinis  consequi,  non  videtur  probatu  diffi- 
cile,  si  modo  advertamus,  deum  pro  omni,  tempore  suffi- 
cienter generi  humano  de  illo,  quod  ei  maxime  necessarium 

erat, providisse;  et  Paulus  vas  electionisTimothei 

seeundo  clamat:    Ueus    vult,    omnes  homines  salvos  fieri  et 

ad  cognitionem  veritatis,  i.  e.  dei,  pervenire Hie  vero 

philosophus  vitam  suam  a  teneris  unguiculis  ad  supremam 
usque  diem  pro  ea  re  et  cognitione  veri  et  boni  electione 
flagrans  ineffabili  studio  consumpsit.  Taceo  oi^probria, 
quae  pro  unius  dei  eultu  aeeepit,  taceo  exilium ,  quod  pro 
eodem  tarn  fortiter  pertulit,  taceo  frequentes  elehemosynas 
usque  ad  sui  inopiam  indigentibus  erogatas,  taceo  item  tot 
gentes,  tot  urbes,  quas  vel  ;ib  excidio  sua  sapientia  prae- 
servavit    vel    disieetas    et   prostratas  ....  restituit  ....  Nee 


VranÜ:  Literatur  der  „Auct&ritates":  197 

obstat,  si  quippiam  sub  lege  scripserit  naturae ,    quod  fides 

non  habet  orthodoxa Gentes  siquidem,    ut    vas  elec- 

tiouis  Paulus  ad  Romanos  capite  seeundo  testis  est,  non 
habentes  legem  naturaliter  ea,  quae  sunt  legis,  faciunt  (diess 
die  bekannte  neutestamentliche  Stelle,  welche  für  die  Ge- 
schichte der  Rechtsphilosophie  eine  so  grosse  Rolle  spielt) ; 
sie  Aristoteles  ipse  sibi  erat  lex  osteudens  opus  legis,  quam 
in  corde  suo  scriptam  habebat. 

Von  diesem  Philosophen  nun,  welcher  in  solcher  Weise 
gegenüber  allen  übrigen  Heiden  mit  einer  schlechthin  unpro- 
portionalen Milde  behandelt  wird  und  förmlichst  das  theo- 
logische Prädicat  ..beatus"  zugetheilt  erhält  (so  dass  zur 
Heiligsprechung  nur  noch  Ein  Schritt  übrig  war),  nahm  die 
thomistische  Schul-Tradition  in  unbeschreiblicher  Naivetat; 
auch  Grundsätze  auf,  welche  der  christlichen  Theologie  ge- 
radezu widersprechen ;  und  aus  den  ,,Auctoiitates:'  lässt  sich 
eine  ziemliche  Blumenlese  von  Stellen  erholen ,  welche  ent- 
weder in  ihrem  Wortlaute  oder  in  ihren  Consequenzen 
nothweudig'  zum  Scheiterhaufen  hätten  führen  müssen.  So 
z.  B.,  um  nur  Einiges  anzuführen,  die  oft  wiederholte  Be- 
hauptung betreffs  der  Ewigkeit  der  Welt,  Demiich:  Mundus 
est  aeternus  (Phys.  ausc.  VIII.),  Coelum  est  ingenerabile 
et  incorruptibile  (D.  coel.  I),  Non  est  timendum,  quod  coe- 
lum stet.  i.  e.  a  motu  quiescat  (Metaph.  IXj.  Motus  coeli 
est  aeternus  (Metaph.  XI  u.  Averr.  Comm.  D.  gen.  et 
corr.  U),  stellarum  natura  est  aeterna  (Metaph.  XI),  oder 
der  entschiedene  Grundsatz,  dass  aus  Nichts  Nichts  wird: 
Ex  nihilo  nihil  fit  (Phys.  ausc.  I  und  D.  gen.  et  corr.  I) 
Impossibile  Cot,  aliquid  lieri  ex  non  ente  (Metaph.  III),  oder 
die  Hinweisung  auf  den  bekannten  tief-philosophischen  Aus- 
spruch Homo  generat  hominem  (z.  B.  Phys.  ausc.  II),  in 
welchem  das  Princip  des  Generatianismus  verkündet  ist, 
oder  die  aristotelische  Detinition  der  Seele:  Anima  est 
actus  corporis  organici  physici  (D.  an.  II),   sogar  unter  De- 


198         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

nützung  der  Stelle:  Anima  est  unum  entmin  naturalium 
rerurn  (D.  au.  III).  oder  der  ebenso  acht  antike  als  anti- 
christliche  Grundsatz  Impossibile  est ,  indigentem  operari 
bona  (Eth.  Nie.  I). 

Nun  lag  allerdings  darin ,  dass  dergleichen  Sätze  als 
Auctoritäts-Stellen  gedruckt  wurden,  nicht  etwa  gleichsam 
eine  kirchliche  Approbation  derselben,  sondern  man  war 
eben  in  Folge  der  Auctoritäts-Sucht  und  der  so  Jange  dau- 
ernden Geltung  des  Spruches  ,,Ne  quid  adversus  Aristote- 
lem"  gegen  Aristoteles  unverhältnissmässig  nachsichtiger 
als  gegen  jeden  anderen  Philosophen,  Aber  solche  Halbheit 
war  dem  Mittelalter  überhaupt  eigenthümlich ,  bis  gegen 
Ende  desselben  Occam  (nicht  ohne  Anknüpfungspunkte  an 
Duns  Scotus)  mit  aller  Entschiedenheit  den  Aristotelismus 
neben  der  von  ihm  getrennten  Dogmatik  hinstellte.  Jedoch 
Occam's  Lehre  wurde  aus  manchen,  hauptsächlich  politischen 
Gründen  von  der  Kirche  verdammt ,  und  die  scholastische 
Halbheit  gewann  in  den  Schulen  auf  lange  Zeit  wieder 
festen  Boden  und  conservirte  sich  von  Generation  zu  Ge- 
neration, so  dass  aus  derlei  Schulen  und  Universitäten  dei 
Geist  der  Neuzeit  nicht  hervorgieng,  sondern  der  Renaissance 
und  den  Naturwissenschaften  die  Aufgabe  der  Umbildung 
vorbehalten  blieb. 

Aber  eben  jenem  noch  lange  sich  fortspinnenden  Tho- 
mismus  der  Schul-Philosophie  dienten  die  ,,Auctoritates", 
welche  somit  wahrlich  kein  erfreuliches  Bild ,  aber  einen 
Beitrag  zur  geistigen  Culturgeschichte  des  15.  und  16.  Jahr- 
hundertes  darbieten. 


Hofmann:  Zum  altroman.  Leiden  Christi.  199 


Herr  Hofinann   giebt  Bemerkungen: 

1)    „Zum    altromanischen  Leiden  Christi    und 
zum  Leodegar". 

Die  hohe  Anerkennung,  welche  der  Gründer  und  Meister 
der  romanischen  Philologie  jüngst  (im  Jahrbuche  für 
romanische  und  englische  Literatur)  meinem  vor  12 
Jahren  in  den  Gelehrten  Auzeigen  unserer  Akademie  er- 
schienenen Versuche  zu  Theil  werden  Hess,  ermuthigt  mich, 
einen  Nachtrag  zu  veröffentlichen,  die  Frucht  wiederholter 
Beschäftigung  in  meinen  kritisch-exegetischen  Collegien  über 
altromanische  Sprache  und  Literatur.  Da  Diez  den  grössten 
Theil  meiner  Conjecturen  gebilligt  hat,  so  bleibt  mir  nur 
noch  eine  Nachlese,  die  sich  freilich  meist  auf  die  schwierig- 
sten Stellen  bezieht,  und  daher  mit  um  so  grösserer  Nach- 
sicht aufgenommen  zu  werden  wünscht. 

Leiden  Christi. 

Str.  19,1  1.  lo  sso  talant,  nach  der  gewöhnlichen  Ver- 
dopplung des  anlautenden  Cousonanten  zwischen  zweiVocalen 
verschiedener  Wörter. 

Str.  24  glaube  ich  dem  Sinne  entsprechender  umsetzen 
zu  dürfen 

que  faire  cove  a  trestoz 
per  remembrar  sa  passiun. 

Str.  33,3  lies  Judas  für  Judeus. 

Str.  29,3.  uduned.  Hier  ist  zu  bemerken,  daßfi  Eder 
Instand  du  Meril  (Formation  de  la  langue  franyaise  1852), 
der  die  ersten  18  Strophen  dcsLeodegar  mit  den  abweichen- 
den Lesarten  des  Hrn.  Desbouis,  Bibliothekar  von  Clermont- 
Ferrand    mittheilt,    in    der    IG.  Strophe    statt   advuat,    der 


200  Sitzung  der  philos.-iriüol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Lesung  des  Hrn.  Valet  de  Viriville,  gleichfalls  adunat  gibt, 
wodurch  die  Lesart  vollends  sicher  gestellt  wird.  Ich  habe 
die  Erklärung  von  Henschel  (aus  idoneare)  angeführt,  bin 
aber  jetzt  vollkommen  überzeugt,  dass  die  ursprüngliche 
Deutung  von  Diez  (aus  ahd.  sih  einon)  die  allein  richtige 
und  in  jeder  Hinsicht  passende  ist.  Erstens  in  formeller 
Beziehung;  denn  adunare  ist  =  aduner.  Zweitens  für  den 
Sinn;  denn  genau  dieselbe  Bedeutung,  welche  in  unsern 
Stellen  für  s'aduner  passt,  hat  sih  einon  und  gaeinön  in 
mehreren  der  zahlreichen  von  Graff  I,  331  ff.  angeführten 
Belege,  sogar  in  Verbindung  mit  sprechen,  gerade,  wie  in 
unseren  romanischen  Denkmälern,  Leod.  16.  dist  et  adunat. 
So  N.  Psalm.  38,2.  ih  chad  in  minemo  herzen,  unde  cinöta 
mih  sus.  N.  101,8.  die  einöton  sih  uuider  mir  jurahant. 
Märt,  geinun  jurasse.  N.  118,106.  ih  suuor  unde  gee'tnöta 
mih,  Em.  8.  Jcaeinot  adunat.  Offenbar  ist  aus  dem  Begriffe: 
eine  Vereinigung  beschwören,  die  allgemeinere  Bedeutung 
schwören,  versichern,  hervorgegangen,  die  in  unseren  beiden 
Stellen  so  vorzüglich  passt,  während  P.  Chr.  Str.  43,3  in 
adunovent  das  Wort  in  der  gewöhnlichen  Bedeutung  steht. 
Es  ist  diess  einer  der  vielen  Fälle,  wo  germanischer  und 
romanischer  Ausdruck  zusammenstimmen. 

Str.  44,4  fehlt  eine  Sylbe,  deren  Ergänzung  auf  dop- 
pelte Weise  versucht  werden  könnte,  einmal,  indem  man 
neul  (zweis.)  für  nul,  oder  fedre  (fecerat)  für  feist  setzte; 
dieses  fedre  erscheint  nemlich  in  der  Str.  47,4 ,  wo  die 
Handschrift  to  hat,  was  ich  in  V  o  trenne  und  fedre,  (nach 
Analogie  von  niedre  ==  miserat)  als  fecerat  fasse  (nicht  als 
ferit),  also   =  wer  dir  diess  gethan  hat? 

Str.  76,3,4,  lese  und  ergänze  ich: 

chi  per  humila  (=  humla)  confession 
colpa  perdones  al  ladrun. 

Dass  in  hum  va  humil  stecken  müsse,  hat  Diez  schon 
gezeigt ;  ich  glaube  nun  durch  humila  auch  den  Schriftzügen 


Hof  mann:  Zum  altroman.  Leiden  Christi.  201 

vollkommen  gerecht  zu  werden,  indem  ich  annehme,  dass 
humila  als  humua  (hum  va  des  französischen  Herausgebers) 
verlesen  wurde.  Die  Aussprache  war  natürlich  zweisylbig, 
wenn  auch  humila  geschrieben  wurde. 

Str.  S3, 4.  Es  scheint  durchaus  nicht,  dass  für  inls 
eine  andere  Besserung  gefunden  werden  könnte,  als  die  von 
Diez  vorgeschlagene  vUs,  man  müsste  denn  den  ganzen 
Reim  und  damit  murir  in  der  vorausgehenden  Zeile  ändern 
wollen. 

Str.  86,2  1.  qae  lli  dones. 

Str.  88,4  lese  ich  ant  acel  temps  st.  anc  a  cel,  wie 
90,   1  fuc  für  fut  steht. 

Str.  93,0  regnet  pocianz  se  fena.  Wohl  die  verzweifeltste 
Stelle  des  ganzen  Denkmals.  Was  ich  früher  umgeworfen, 
war  nur  ein  flüchtiger  Einfall,  dem  ich  selbst  nicht  den 
geringsten  Werth  beilegte.  Der  Fehler  muss,  wenn  wir  uns 
nur  an  die  französische  Ausgabe  halten ,  in  pocianz  ver- 
muthet  werden ;  denn  dieses  hat  Champollion-Figeac  mit 
einem  Fragezeichen  versehen,  also  stund  nicht  so  in  der 
Handschrift  oder  es  stund  noch  etwas  dabei,  was  er  nicht 
herausbringen  konnte.  Da  der  Schluss  des  Verses  fena  = 
fine  auf  aucise  reimt,  so  lässt  sich  auch  daraus  schliessen, 
dass  die  fehlenden  zwei  Sylben  vor  fena  gesucht  werden 
müssen.  Indem  ich  diess  erwäge  und  darauf  ausgehe, 
ohne  Aeuderung  eines  einzigen  Buchstaben  den  Vers  zu 
ergänzen ,  kann  ich  das  Ausgelassene  nur  in  Abkürzungs- 
zeichen finden,  die  wieder  um  pocianz  herum  gestanden  haben 
müssen.  Annehmend  also,  dass  in  p  ein  Queerstrichelchen 
unten,  ferner  über  dem  i  eines  oben  zu  ergänzen  ist ,  er- 
halte ich  perocinanz,  dann  lese  ich  ne  statt  se  und  er- 
halte so: 

regnet  peroe  inunz  ne  ftna,  d.  h.  (obwohl  Christi  Leib 
getödtet  ist)  sein  Reich  darum  fortan  nicht  endet,  peroc 
(per  hoc)  und  inanz  (in  ante)  worden  kein  Bedenken  finden, 


202        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

ebenso  wenig  die  Aenderung  ne  für  se.  Die  Weglassung 
des  Artikels  oder  des  Pron.  possess.  vor  regnet  ist  ein  Ar- 
chaismus, den  folgende  Strophen  bestätigen,  7.  prophetes, 
wenn  diess,  wie  ich  verrnuthe,  der  Singular  ist,  wo  dann 
dasVerbum  in  avie  oder  aveit  zu  ändern  ist,  31  marrimenz. 
Da  indess  eigentlich  sos  bei  regnet  zu  ergänzen  wäre,  so 
Hesse  sich,  wenn  man  regnet  (=  sein  Reich)  beanstandet 
und  nicht  annehmen  will,  dass  das  de  lui  der  vorausgehen- 
den Zeile  auch  noch  für  diese  Wirkung  habe,  sehr  einfach 
sos  rengs  (Str.  74  en  ton  reng)  setzen.  Was  den  Sinn  der 
von  mir  emendirten  Stelle  betrifft,  glaube  ich,  dass  er  mit 
dem  vorausgehenden  Verse  in  so  nothwendiger  Folge  steht, 
als  diess  nur  bei  einer  Conjectur  gewünscht  werden  kann: 
wiewohl  Christus  getödtet  ist,  so  hört  sein  Reich  darum 
doch  nicht  auf. 

Str.  98,2  soes  scheint  mir  für  foes  verlesen,  welches 
offenbar  =  fues  ist,  wie  es  in  78,4  steht  und  dort  schon 
von  Diez  in  furet  gebessert  ist.  Auch  an  unserer  Stelle  gibt 
füret  einen  ganz  richtigen  Sinn  und  Vers. 

Str.  105,1.  In  diesem  seinhe  scheint  die  Urform  des 
späteren  französischen  sire  zu  stecken,  nämlich  sinre]  welches 
in  seinhe  bis  auf  das  schliessende  r  provenzalisirt  wurde. 

Str.  107,2  lese  ich  für  soi  doi  im  Anschlüsse  an  Lucas, 
24,13. 

Str.  111,3,4.  Bei  der  Verwechslung  von  e  und  o,  die 
in  unserem  Stücke  nach  Ausweis  des  Facsimile  sehr  leicht 
vor  sich  gehen  konnte,  glaube  ich,  dass  der  früheste  Vor- 
schlag von -Diez:  sa  passion  peisons  testat  ganz  unbedenk- 
lich aufgenommen  werden  muss,  so  trefflich  auch  die  Er- 
klärung von  Delius  sonst  für  tostas  passt;  denn  das  Haupt- 
gebrechen dieser  Strophe,  der  Mangel  des  Verbums  wird 
dadurch  beseitigt.  Ich  gehe  noch  weiter  und  finde  auch 
im  4.  Verse  ein  solches,  indem  ich  statt  signa  de  lese  sig- 
nave  =  bezeichnete.   Ein  solches  Imperfectum  kömmt  zwar 


Hofmann:   Zum  altroman.  Leiden  Christi.  203 

zufälliger  Weise  nicht  in  unserem  Gedichte  vor;  aber  im 
Plural  erscheinen  die  Formen  auf  avent  =  event  neben- 
einander, jene  in  der  Mehrzahl,  annavent,  nomnavent,  porta- 
vent,  menaven ,  neben  eswardevet,  estevent.  Ein  zweites 
Verbum  aber  in  diese  letzte  Zeile  der  Strophe  einzuführen, 
scheint  mir  darum  unerlässlich ,  weil  sonst  die  Verbindung 
nothwondig  wäre  signa  testat  d.  h.  bezeichnete  das  Zeichen, 
was  logisch  schwerlich  zu  dulden  wäre. 

Str.  113,2  möchte  als  Ergänzung  des  2.  Verses  con- 
vcrseit  ü  =  verkehrte  er,  sich  am  besten  empfehlen.  Das 
in  dieser  Str.  V.  4  vorkommende  regnum  darf,  ich  vielleicht 
auch  noch  als  Stütze  für  meine  Auffassung  von  Str.  93,4 
anführen. 

Str.  114,1  ist  eine  der  Stellen,  die  durch  Mangel  eines 
Verbums  das  meiste  Bedenken  erregen.  Da  dieses  nur  in 
codi  gesucht  weiden  kann,  so  vermuthe  ich  roa  Is  =  rogat 
(oder  rogavit)  illos.  1  für  ls,  wie  in  113,1  fidel  für  fidels, 
Verwechslung  von  r  und  c,  hat  kein  grosses  Bedenken.  Dass 
man  roar  sagte,  beweist  roazo. 

Str.  125,1  ist  eine  sehr  schlimme  Stelle,  der  ich  jetzt 
durch  einfache  Emendation  von  lui  abhelfen  zu  können 
glaube.  Die  4  Striche  scheinen  mir  verlesen  und  sin  in  der 
HS.  zu  stehen,  also:  sin  qn'c  aiude  nuls  vendra  =  ohne 
dass  Jemand  (ihnen)  zu  Hülfe  kommen  wird ,  wachsen  die 
Christen  um  so  mehr,  je  schlimmer  es  ihnen  der  Teufel 
macht. 

Str.  12 G, 4  könnte  man  auch  sos  fidels  lesen  für  los 
deu  fidels. 

Hiemit  sind,  so  viel  ich  sehe,  alle  Stellen  behandelt, 
die  im  Leiden  Christi  noch  bedeutenden  Schwierigkeiten 
unterlagen.  Im  Leodegar  ist  nur  eine  einzige  noch  nicht 
aufgeklärt,  nämlich  Str.  34,1:  il  mio  fraire,  micdm  mc 
hcuure.  Wenn  man  medre  =  miserat,  fedre  =  feceiat, 
erwägt  und  daneben  die  Formen    fisdra   —  fedre,    misdrent 


204         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

=  inedrent,  so  ergibt  sich,  dass  das  d  in  diesen  Fällen  vor 
r  einem  romanischen  z  oder  sd.  und  einem  lateinischen  s 
oder  c  entspricht,  mieclra  wäre  also  ==  misera  und  mieära 
me  =  misera  me  d.  h.  miserere  mei.  Somit  wäre  mieclra 
eine  Uebergangsform  zwischen  mizra  und  medra,  entsprechend 
den  vorhandenen  misdrent  und  medre.  beuure  beseitigt  sich 
einfach  als  Wiederholung  aus  dem  folgenden  Verse.  Nun 
bleibt  nur  noch  die  Schwierigkeit  einer  fehlenden  Sylbe, 
wenn  mieclra,  wie  wahrscheinlich,  zweisylbig  ausgesprochen 
wurde.  War  es  dreisilbig ,  so  braucht  der  Vers  keine  Er- 
gänzung, und  auch  der  Reim  me:  porter  genügt;  sonst 
könnte  man  vor  miedra  etwa  car  (das  precative  doch)  ein- 
schalten. 

Hiemit  habe  ich  alle  wichtigen  Fälle  (nebst  einigen 
unwichtigen)  behandelt,  die  in  beiden  Gedichten  nach  ihrer 
bis  jetzt  bekannten  Lesung  noch  übrig  geblieben  waren.  Ich 
hielt  mich  überall  so  nahe  als  möglich  an  den  Buchstaben 
der  Uebeiiieferung,  da  ich  überzeugt  bin,  dass  bei  einer  so 
grossen  und  deutlichen  Handschrift  der  Fehler  immer  nur 
in  wenigen  missverstandenen  Buchstaben  liegen  kann.  Was 
den  Sinn  der  vorgeschlagenen  Emendationen  angeht,  wird 
man  mir,  glaube  ich,  zugeben,  dass  sie  sich  überall  unge- 
zwungen dem  sonst  sicheren  Zusammenhange  einfügen.  Der 
Schluss  der  ganzen  Untersuchung,  wissen  wir,  kann  erst 
dann  erfolgen,  wenn  eine  neue  kunstgerechte  Lesung,  oder 
noch  besser,  ein  (wo  möglich  photographisches)  Facsimile 
vorliegt,  wie  wir  sie  von  ähnlichen  wichtigen  Denkmälern 
unserer  alten  Sprache  längst  besitzen.  Gleichwohl  müssen 
wir  in  Deutschland  uns  damit  beschäftigen  ,  wäre  es  auch 
nur,  weil  wir  diese  altromanischen  Denkmäler  in  den  Kreis 
unserer  akademischen  Lehrthätigkeit  aufgenommen  haben 
und  darin  eine  beständige  Nöthigung  finden,  aus  inneren 
Mitteln  zu  ersetzen,  was  äussere  Verhältnisse  uns  ungünstig 
verweigern. 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  205 


2)  Zur   Gudrun. 

Das  Urtheil  über  den  ästhetischen  Werth  der  Gudrun- 
dichtung steht  seit  langem  fest  und  an  dem,  was  W.  Grimm 
9  Jahre  nach  der  ersten  Bekanntmachung  des  Gedichtes 
(deutsche  Heldensage  S.  370)  mit  feinem  Sinne  vorgezeich- 
net, hat  sich  seitdem  in  der  Hauptsache  durch  keinerlei 
Forschung  oder  Erwägung  etwas  Wesentliches  geändert. 
Anders  mit  der  Texteskritik  und  dem  Urtheil  über  die  Ent- 
stehung des  Werkes.  Je  unsicherer  der  Boden,  desto  schroffer 
stehen  sich  hier  die  Ansichten  gegenüber ,  an  deren  Ver- 
söhnung niemals  gedacht  werden  kann.  Dazu  kömmt,  dass 
die  Hoffnung,  welche  man  lange  auf  W.  Grimms  treue 
Pflege  des  Werkes  setzen  durfte,  sich  am  Ende  hinfällig 
gezeigt  hat.  Schon  J.  Grimm  sagte  mir  bei  seiner  letzten 
Anwesenheit  in  München,  dass  nichts  Fertiges  für  die  Gudrun 
vorgefunden  sei  und  durch  Ernst  Martin  (Bemerkungen 
S.  6)  wird  diess  jetzt  weiter  bestätigt. 

Ich  bin  hier,  wie  überall,  meine  eigenen  Wege  gegan- 
gen, d.  h.  ich  habe  den  Hagenschen  Abdruck  vorgenommen, 
und  zu  wiederholten  Malen  durchgearbeitet,  ohne  eine  der 
Ausgaben  oder  Uebersetzungen  aufzuschlagen.  Als  ich  später 
zur  Vergleichung  kam,  fand  ich,  dass  meine  Kritik  viel 
radicaler  war,  als  die  meiner  Vorgänger.  Ob  darin  Ver- 
dienst oder  Tadel  liegt,  hat  sich  zu  zeigen.  Mein  Absehen 
war  übrigens,  wie  sich  von  selbst  versteht,  ebenso  ein  exe- 
getisches, wie  ein  kritisches,  da  mir  vorkömmt,  dass  die 
Gudrun  dieser  Hülfe  so  bedürftig  sei,  wie  der  anderen,  und 
beide  Thätigkeiten  ja  auf  das  eine  höchste  Ziel  hinarbeiten,  den 
geistigen  Genuss,  wie  wir  ihn  an  unseren  besten  mittelhoch- 
deutschen Gedichten  haben ,  mehr  und  mehr  zu  verfeinern, 
zu  vertiefen  und  durch  diese  Läuterung  den  harmonischen 
[1867.  II.  2.]  14 


20G        iSitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 


Eindruck  des  einzigen  Werkes  auch  für  Laien  und  Lernende 
zu  erhöhen,  falls  nämlich  überhaupt  Jemand  noch  so  be- 
scheiden sein  sollte,  sich  zu  diesen  zu  rechnen,  bei  dem 
kolossalen  Aufschwung,  den  die  deutschen  Studien,  wie  man 
sagt,  seit  ihrer  Emancipation  von  den  früheren  verdriess- 
lichen  und  für  geniale  Köpfe  nur  störenden  Methoden  ge- 
nommen haben. 

Dass  ich  meine  Bemerkungen  auf  alleTheile  der  Gudrun 
ausdehne,  wird  wohl  Niemand  so  verstehen,  als  ob  ich  das 
Werk  in  seiner  vorliegenden  Gestalt  für  einheitlich  oder 
ursprünglich  hielte. 

Wie  die  Nibelunge  ist  es  durch  öde  und  weitschweifige 
theils  einer  manirirt  höfischen,  theils  einer  niedern  Ge- 
schmacksrichtung schon  des  13.  Jahrhunderts  zur  Last 
fallende  Erweiterungen  das  geworden,  was  dem  moderni- 
sirenden  Schreiber  der  Ambraser  Handschrift  vorgelegen, 
verzerrt  und  verschwommen,  aber  auch  so  ein  schwer  zu 
beklagender  und  zu  ersetzender  Verlust.  Diese  Vorlage 
wieder  herzustellen  ist  die  noch  immer  ungelöste  Aufgabe, 
zu  der  ich  hier  einen  Beitrag  gebe. 

Ehe  ich  zu  den  einzelnen  Stellen  übergehe,  habe  ich 
ein  bisher  in  Deutschland  unbeachtetes,  vielleicht  unbekannt 
gebliebenes  Zeugniss  über  Verbreitung  und  Fortleben  der 
Gudrunsage  einzutragen  und  meine  Folgerungen  daraus  vor- 
zulegen. Es  findet  sich  bei  Barry ,  History  of  the  Orkney  Is- 
lands, London  1808,  S.  489—95  unter  dem  Titel:  a  ballad, 
taken  from  the  mouth  of  an  old  man  in  the  same  Island 
(nämlich  Fula),  the  subject  of  which  is  a  contest  between  a 
king  of  Norway  and  an  Earl  of  Orkney,  who  had  married 
the  kings  daughter,  in  her  fathers  absence,  and  without  Ins 
consent.  Diese  ,, Ballade"  in  35  vierzeiligen  Strophen  wurde 
im  Jahre  1774  dem  schottischen  Reisenden  Low  von  einem 
alten  norsischen  Bauern  (Udaller)  in  der  norsischen  Sprache 
diktirt,    die   damals  noch   von  einigen  Personen    auf  dieser 


Hof  mann:  Zur  Gudrun.  207 

Shetlands  -  Insel  gesprochen  wurde.  m  Ein  Blick  auf  die 
Karte  zeigt,  warum  die  alte  Sprache  sich  hier  am  längsten 
erhalten  konnte.  Fula  oder  Foul,  (norw.  Fugl  oder  Fugley) 
liegt  mit  seinen  5  konischen  Sandsteinhügeln  weit  draussen 
in  der  Westsee  und  ferne  von  der  eigentlichen  Shetlands- 
gruppe,  weshalb  man  auch  seinen  Namen  (Vogel)  von  der 
Aehnlichkeit  mit  einem  in  weiter  Ferne  schwimmenden  See- 
vogel ableitet.  Da  der  Aufzeichner  indess  der  Sprache  nicht 
kundig  war,  liess  er  sich  auch  noch  eine  Inhaltsangabe  des 
Gedichtes  von  dem  Erzähler  mittheilen,  die  sich  glücklicher 
Weise  erhalten  hat  und  gedruckt  ist,  denn  das  norsische 
Original  ist  so  unverständlich,  dass  ohne  diese  Paraphrase 
sein  Inhalt  vielleicht  für  immer  verdunkelt  bleiben  müsste. 
Diese  weitere  Mittheilung  findet  sich  bei  Samuel  Hibbert, 
description  of  the  Shetland  islands,  Edinburgh  1822  p.  561  ff. 
Hibbert  berichtet :  It  was  not  many  years  before  Mr.  Low's 
visit  to  Shetland  in  the  year  1774,  that  numerous  songs, 
under  the  name  of  Visecks,  formed  the  accompaniment  to 
dances  that  would  amuse  a  festal  party  during  a  long  win- 
ters evening.  When  the  com  waters  of  Hamburgh  had  gone 
merrily  round,  when  the  gue,  an  ancient  two-stringed  vio- 
lin of  the  country,  was  aiding  the  conviviality  of  Juie,  then 
would  a  number  of  the  happy  sons  and  daughters  of  Hialt- 
land  take  each  other  by  the  hand,  and  while  one  of  theim 
sang  a  Nora  (=  norrönisch)  viseck,  they  would  perform  a 
circular  dance ,  their  steps  continually  changing  with  the 
tune.  Dazu  der  melancholische,  aber  in  allen  Ländern 
gleiche  Schluss:  In  the  nüddle  of  the  last  Century,  little 
of  the  Norwegian  language  remained  in  the  country,  and 
these  visecks  bcing  soon  lost,  they  were  followed,  as  a 
clergyman  of  Unst  informed  Mr.  Low,  by  playing  at  cards 
all  night,  by  drinking  Hamburgh  waters  and  by  Scotish 
dances.  Von  diesen  Tanzliedern  nun ,  die  sich  auf  den 
Färöern  zahlreich    und    bis    auf  den  heutigen  Tag  erhalten 

U* 


208        Sitzung  der  philos.-phüol  Ciasse  vom   6.  Juli  1867. 

haben,  wusste  der  Bauer  William  Henry  von  Gottorm  auf 
Fula  ganz  allein  um  1774  noch  einige  auswendig1),  unter 
diesen  unsre  Gudrunsage,  auf  welche  zuerst  P.  A.  Muuch 
im  Jahre  1839  aufmerksam  machte  (Samlinger  til  det  Norske 
Folks  Sprog  og  Historie  6.  Bd.  Christiania),  in  seiner  grossen 
Abhandlung:  Geographiske  og  historiske  Notitser  om.  Ork- 
nöerne  og  Hetland.  Er  theilt  die  Ballade  mit,  sucht  sie  so 
gut  es  geht,  in  einigen  Stellen  zu  emendiren,  kommt  aber 
zu  dem  Resultate:  „Eine  genügende  Erklärung  des  Gedichtes 
zu  geben,  ist  wohl  unmöglich,  aber  die  folgenden  Andeut- 
ungen werden  doch  eine  Idee  von  dessen  eigentlichem  In- 
halte geben1'.  S.  120  Note  1.  Er  erkannte  natürlich,  dass 
hier  die  Hedinsage  vorliege,  worum  sich  weder  der  Pfarrer 
Barry  noch  der  Geognost  Hibbert  noch  der  Reisende  Low 
kümmern  konnten,  und  brachte  den  etwas  altmodisch  styli- 
sirten  englischen  Prosainhalt  in  die  Form,  welche  sich  für 
eine  germanische  Sage  eignet  und  die  ich  hier  wiedergebe. 
Es  heisst  also:  „Hiluge,  ein  vornehmer  Mann  am  nor- 
wegischen Hofe  freite  um  die  Königstochter  Hildina,  erhielt 
aber  einen  Korb,  obwohl  der  Vater  ihm  hold  war.  Als  ein- 
mal der  König  und  Hiluge  auf  einem  Kriegszuge  fort  waren, 
landete  der  Orkney-Jarl  in  Norwegen,  traf  Hildina,  verliebte 
sich  in  sie  und  sie  in  ihn,  sie  wurden  eins  und  flüchteten 
auf  die  Orkneys,  wohin  ihnen  nach  ihrer  Rückkehr  vom 
Kriegszuge  der  erbitterte  Vater  und  Hiluge  mit  grossem 
Heere  folgten,  um  den  Raub  zu  rächen.  Hildina  überredete 
den  Jarl,  unbewaffnet  dem  Könige  entgegenzugehen  und  um 


1)  Low  sagt:  It  (the  Norse)  was  evidently  much  mixed  with 
English.  None  of  the  Natives  could  write  the  ancient  language  and 
few  could  speak  it.  The  best  phrases  were  lost,  and  little  more  re- 
mained  than  the  names  of  a  few  objects  and  two  ar  three  remnants 
of  songs,  which  an  old  man  (William  Henry)  of  Guttorm  could  re- 
peat,  though  indistinctly. 


Hof  mann:  Zur  Gudrun.  209 

Gnade  zu  bitten;  er  Hess  sich  rühren,  verzieh  und  gab 
sogar  seine  Einwilligung.  Kaum  war  der  Jarl  fort,  um 
Hildina  die  frohe  Kunde  zu  bringen,  als  Hiluge,  indem  er 
des  Jarls  Vermessenheit  aufs  Schlimmste  schalt,  den  König 
zu  neuem  Grimme  reizte  und  dahin  brachte,  alle  seine  Ge- 
lübde zurückzunehmen.  Es  kam  nun  zum  Zweikampfe  zwischen 
Hiluge  und  dem  Jarl  und  dieser  fiel.  Sein  Haupt  warf 
Hiluge  mit  den  härtesten  Schmähungen  Hildina  vor  die 
Füsse,  die  ihm  mit  scharfer  Gegenrede  im  Herzen  blutige 
Rache  gelobte.  Sie  musste  ihm  nun  nach  Norwegen  folgen, 
wo  er  seine  Freierei  wieder  anfing.  Lange  weigerte  sie  ihre 
Hand;  aber  der  Vater  setzte  ihr  mit  Bitten  zu  und  endlich 
gab  sie  ihr  Wort,  unter  der  Bedingung,  dass  sie  selber 
beim  Brautfeste  den  Wein  in  die  Becher  schenken  dürfe. 
Diess  wurde  zugestanden.  Als  die  Hochzeitgäste  beisammen 
waren  und  zu  Tische  kamen,  schenkte  ihnen  Hildina  mit 
Schlaf kräutern  versetzten  Wein  und  bald  lagen  Alle  in 
tiefem  Schlummer.  Da  Hess  sie  ihren  Vater  hinaustragen 
und  warf  Feuer  ins  Gästehaus.  Alle  wurden  darin  ver- 
brannt. Hiluge,  der  beim  Krachen  der  Flammen  erwachte, 
bat  um  Gnade;  aber  Hildina  antwortete  ihm  so  hart,  wie 
er,  als  er  ihr  des  Jarls  Haupt  brachte  und  Hess  ihn  in  der 
Lohe  sterben".  Munch  bemerkt  dazu:  „Wenn  man  hier 
den  Jarl  Hedin  nennt,  und  annimmt,  was  nicht  so  unwahr- 
scheinlich ist,  dass  Högnis  Person  in  zwei  getheilt  ist,  den 
König  und  Hiluge,  um  die  Erzählung  romantischer  zu  machen, 
finden  wir  den  ersten  Theil  des  orkneyischen  Berichtes  bis 
zum  Kampf  in  hohem  Grade  mit  der  Sage  übereinstimmend. 
Hiluge  kann  leicht  eine  Entstellung  von  Högni  2)    sein,    -wie 


2)  Vom  Standpunkte  der  Gudrun  aus  müssen  wir  es  natürlich 
wahrscheinlicher  finden ,  dass  Hiluge  =  Ludwig  sei.  Ein  solcher 
Ludwig  (Lödver)  kömmt  auch  in  der  orcadischen  Geschichte  vor 
(Munch  II,  132);   allein  noch  näher  liegt,   Hiluge  einfach    als    Illugi 


210  Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Hildina  offenbar  eine  von  Hilde  ist.  Der  Schluss  scheint 
dagegen  eine  Nachahmung  der  Kitterromane  des  13.  und 
14.  Jahrhunderts,  wie  es  denn  überhaupt  nicht  unwahrschein- 
lich ist,  dass  die  Sage  benützt  wurde,  um  als  Grundlage 
für  ein  damals  verfasstes  romantisches  Lied  zu  dienen. 
Uebrigens  ist  das  Gedicht  äusserst  merkwürdig,  denn  aus 
den  wenigen  Stellen,  die  man  verstehen  kann,  erhellt,  dass 
es  in  ziemlich  gutem  Norwegisch  war  und  bis  auf  das  ge- 
meinsame Versmaass  der  Kämpevise  fast  ganz  übereinstim- 
mend mit  den  färöischen  Liedern."  Munchs  Bemerkungen 
sind  in  der  Hauptsache  vollkommen  richtig ;  es  ist  die  alte 
Hedeningensage,  erweitert  durch  ein  jüngeres,  „romantisches" 
Element,  wie  er  es  nennt.  Gerade  dadurch  bildet  es  den 
Uebergang  zu  unserer  deutschen  Dichtung.  Wir  haben  hier  den 
gewaltigen  Stoff  der  Gudrunsage,  nur  mit  tragischem  Aus- 
gange und  in  jener  Gedrungenheit,  die  wir  an  den  besten 
epischen  Romanzen  der  Spanier  bewundern.  Die  tragische 
Wendung  entspricht  der  um  viele  Grade  düstreren  Grund- 
stimmung der  nordischen  Dichtung,  wie  ja  auch  die  Sage 
von  Hildebrand  und  Hadubrand ,  die  in  der  späteren  deut- 
schen Fassung  so  erheiternd  ausgeht,  im  Nordischen,  wie 
Unland  zuerst  nachgewiesen,  mit  dem  Falle  des  Sohnes  und 
später  des  Vaters  durch  den  eigenen  Blutsverwandten  einen 
erschütternden  Ausgang  nimmt.  Freilich  ist  das  keine  durch- 
greifende Regel;  denn  die  Tristansage,  naturalisirt  und  ra- 
tionalisirt  im  zweiten  Theile  der  Sage  von  Grettir  dem 
Starken,  bekömmt  einen  frohen,  und  sogar  frommen  und 
erbaulichen  Schluss  in  der  Geschichte  von  Thorsteinn  und 
Spes.     Das  ,. romantische"  Element   ist  in  Wirklichkeit  das 


=  Illhugi  —  der  Bössinnige  zu  deuten.  Auch  für  die  böse  Gerlint, 
Ludwigs  Frau,  würde  es  auf  den  Orcaden  nicht  am  Vorbild  fehlen, 
nehmen  wir  nur  Erich  Blutaxts  Wittwe  Gunnhild  und  ihre  Tochter 
Ragnhild,    die  beide  der  römischen  Kaiserzeit  Ehre  gemacht  hätten. 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  211 

christliche,  welches  in  der  Gudrun,  wie  in  den  Nibelungen 
an  die  Stelle  des  heidnischen  und  fatalistischen  getreten  ist. 
Ich  verstehe  hier  unter  christlich  nicht  den  christlichen 
Glauben,  wovon  in  die  Gudrun  so  wenig  wia  in  die  Nibe- 
lungen etwas  Anderes  eingegangen  ist  als  äussere  Züge,  die 
zum  Kostüm  der  Zeit  gehören ;  sondern  die  christliche 
Lebensan schauung,  welche,  auf  Dichtung  angewandt,  sich 
mit  der  fatalistischen  Führung  der  Geschichte,  die  dem 
Heidenthura  adäquat  ist,  ästhetisch  nicht  mehr  befriedigen 
konnte  und  dafür  eine  freiere  Selbstbestimmung  als  letzten 
Grund  der  Peripetie  verlangte.  Die  fatalistische  Führung 
ist  die  frühere  und  wo  sie  sich  jetzt  noch  findet,  die  archai- 
stische. Sie  herrscht  im  Indischen,  Arabischen  (1001  Nacht) 
und  überhaupt  in  den  orientalischen  Literaturen,  die  unter 
indischen  Richtungen  und  Einflüssen  stehen,  im  Occident  in 
den  altnordischen  Dichtungen,  den  kymrischen  der  Mabino- 
gion,  obgleich  deren  Aufzeichnung  tief  in  die  christliche  Zeit 
fällt,  und  überall  im  Volksmährchen ,  welches  ohne  Präde- 
stination gar  nicht  zu  denken  ist ,  und  seinen  Haupttypus 
verlieren  würde. 

Um  nun  auf  die  Gudrun  zurückzukommen,  so  sind  die 
sämmtlichen  nordischen  Fassungen  der  Sage  fatalistisch. 
1.  das  betreffende  Capitel  der  jüngeren  Edda.  2.  Sörla 
fcättr  (in  F.  S.  N.  I,  391  ff.  und  Flateyarbök  I,  275  ff.) 
mit  angeflicktem  christlichen  und  historisch  sein  sollenden 
Scliluss.  3.  Die  Erzählung  des  Saxo  Grammaticus,  obwohl 
schon  zur  Hälfte  in  seiner  euhemerisirenden  Weise.  Ich 
werde  später  noch  einmal  auf  sie  zurückzukommen  haben. 
Das  Wesentliche ,  worin  diesen  drei  Fassungen  unsere 
Gudrun  und  die  Shetlandballade  gemeinsam  entgegenstehen, 
ist  die  Einführung  eines  Nebenbuhlers,  für  den  in 
der  alten  Sage  noch  kein  Platz  war,  den  aber  die  jüngere 
nothwendig  hatte,  um  das  veraltete  fatalistische  Motiv  zu 
ersetzen  und  somit  wieder  ein  Ganzes  hervorzubringen.  Auf 


212  Sitzung  der  pMos.-philol  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

eine  nähere  Vergleichung  beider  unter  sich  will  ich  der 
Kürze  wegen  nicht  eingehen ,  auch  würde  sie  kaum  zu 
weiteren  sicheren  Resultaten  fuhren,  als  denen,  die  sich  so- 
fort ungezwungen  dargeboten  haben.  Das  Hauptmittelglied, 
die  ältere  Gudrundichtung,  wie  sie  der  Verfasser  des  Alexander 
kannte,  fehlt  ja  zur  Vergleichung,  wiewohl  so  viel  sicher 
scheint,  dass  es  in  der  Einfachheit  der  Handlung  auf  Seite 
des  Liedes,  nicht  des  Gedichtes  stund;  denn,  wenn  ich  die 
Stelle  im  Alexander  recht  verstehe,  so  sagt  sie  nur:  auf  dem 
Wolfenwerde  wurde  Hilden  Vater  Hagene  von  Waten  er- 
schlagen, während  daneben  ihr  Bräutigam  Herwich  mit 
ihrem  Bruder  Wolfwin  kämpfte.  Dagegen  hat  mich  die 
norwegische  Ueberlieferung  veranlasst ,  das  Geographische 
der  Gudrun  mit  Rücksicht  auf  die  Orcaden  zu  untersuchen 
und  ich  habe  da  eine  Reihe  von  Thatsachen  gefunden,  die 
in  historischer  und  geographischer  Hinsicht  so  weit  zusam- 
menstimmen, dass  ich  sie  als  Thesis  aufstellen  zu  dürfen 
glaube 3). 

Ich  nehme  also  an,  dass  Ormanie  =  Orcanie,  nicht 
die  Normandie,  sondern  die  Orcaden  bedeutet,  deren  Name 
Orcania  schon  in  den  besten  Handschriften  des  Nennius 
vorkömmt  und  dann  durch  das  ganze  Mittelalter  hindurch- 
geht. Nicht  daraus,  dass  die  Gudrunsage  sich  auf  Shetland 
bis  1774  erhalten  hat,  folgere  ich,  dass  die  Nachbarinseln 
ein  Haupttheil  des  ursprünglichen  Schauplatzes  sind ,  denn 
da  schon   in  der    nordischen  Ueberlieferung  die  Orkneyinsel 


3)  "Wenn  ich  hiebei  auf  die  neuesten  Untersuchungen  über  die 
Gudrungeographie  nicht  näher  eingehe  ,  so  möge  Hr.  Joseph  Haupt 
nicht  glauben,  dass  ich  sein  Buch  nicht  gelesen  habe.  Ich  achte 
seinen  Scharfsinn,  seine  Gelehrsamkeit  und  vor  Allem  seine  mann- 
hafte Verachtung  aller  Clique  und  Reclame,  aber  zu  seinen  Resul- 
taten kann  ich  nicht  gelangen. 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  213 

Häey4)  (das  heutige  Hoy,  allein  durch  seine  Berge  hervor- 
ragend, daher  sein  Name  Hochinsel)  als  Stelle  des  Kampfes 
zwischen  Ilögni  und  HeÖinn  (statt  des  späteren  Wülpen- 
sandes  an  der  Scheidemündung)    vorkömmt,    so    wäre    das 


4)  Es  ist  kein  Zweifel,  dass  in  jeder  kritiklosen  und  phantasie- 
vollen Zeit  aus  ein  paar  grammatisch  missverstandenen  Worten  sich 
Sagen  und  Legenden  entspinnen  können,  deren  erster  Keim  ein  Irr- 
thum,  deren  entwickelnde  Kraft  die  Logik  der  Phantasie  ist.  So  haben 
wir  zwei  christliche  Kreuzlegenden,  die  nur  auf  diese  Art  entsprungen 
sind.  Die  eine  vom  Kreuzstamme,  der  ursprünglich  ein  Zweiglein  vom 
Baume  des  Lebens  war,  welches  dem  sterbenden  Adam  in  den  Mund  ge- 
steckt wurde,  geht  auf  eine  Stelle  des  Epiphanius  zurück,  die  bloss  erst 
sagt,  Christus  sei  über  dem  Grabe  Adams  gekreuzigt  worden.  Das  ist  noch 
nicht  das  erste  Missverständniss ;  6  Xqiotos  torccvQaj&t]  vnig  zov  'Adri/j, 
wie  wir  uns  die  Urstelle  etwa  denken  dürfen,  heisst  ebensowohl, 
Christus  wurde  für  Adam  (zu  seiner  Ei-lösung)  als  er  wurde  über 
Adam  (über  seinem  Grabe)  gekreuzigt.  Wenn  wir  hier  die  letzte 
Quelle  des  Irrthums  nur  mit  Wahrscheinlichkeit  vermuthen  können, 
so  dürfen  wir  im  folgenden  Falle  mit  dem  Finger  auf  die  ipsissima 
verba  des  Neuen  Testaments  deuten,  die  zur  Longinuslegende  ge- 
worden sind.  Longinus  heisst  es,  war  der  römische  Hauptmann, 
der  die  Seite-  Christi  mit  der  Lanze  durchbohrte.  Er  war  blind  und 
wurde  sehend,  als  das  Blut  am  Schafte  herab  auf  seine  Augen  troff. 
Da  wurde  er  der  erste  Christ.  In  moderner  rationalistischer  Zeit  hat  man 
die  Legende  vernünftig  machen  wollen,  indem  man  sagte,  Longinus  sei 
nicht  blind,  sondern  schielend  gewesen.  Sehen  wir  nun  die  Stelle  Joh. 
19,34 — 35  genauer  an,  so  zeigt  sich,  dass  man  zunächst  hoyyj)  für  Ab- 
kürzung oder  'Aoyxn  lyv^e  für  die  volle  Form  von  Aoyyrivog  Aoyylvog  = 
Longinus  genommen  und  tlg  rwc  aiqaxuoxiüp  M>yx$  übersetzt  hat  unus 
militum,  Longinus.  Was  der  Evangelist  im  nächsten  Satze  von  sich  selbst 
sagt:  xui  6  itogaxojs  fxffxccQrvgtjxe,  bezog  man  nun  ebenfalls  auf  Lon- 
ginus und  übersetzte:  und  dieser,  gesehen  habend,  gab  Zeug- 
niss.  Wenn  er  gesehen  hat,  so  muss  er  vorher  nicht  gesehen  haben, 
war  die  Consequenz,  also  war  er  blind  gewesen.  Was  konnte  ihn 
von  der  Blindheit  heilen,  als  das  Blut  Christi?  Er  gab  Zeugniss,  also 
Zeugniss  von  Christi  Gottheit,  folglich  wurde  er  Christ.  Diess  ist 
gewiss  ein  schlagendes  Beispiel  von  dem ,  was  ich  oben  Logik  der 
Phantasie  zu  nennen  mir  erlaubte,  und  wobei  ich  nur  bedaure,  dass  ich 


214         Sitzung  der  phüos.-pliüol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

genügend  gewesen ,  um  den  Schluss  des  Liedes  dorthin  zu 
verlegen.  Vielmehr  ziehe  ich  meinen  Schluss  aus  einer 
Reihe  von  Thatsachen,  die  ich  eben  nur  um  die  Orkneys 
herum  zusammentreffend  finde.  Dass  Cassiane,  die  Haupt- 
stadt von  Ormanie  auf  einer  Insel  liege,  wird  nicht  gesagt, 
daher  denn  überhaupt  die  Ansicht  durch  das  Gedicht  geht, 
Ormanie  liege  auf  dem  Festlande.  Die  Jarls  der  Orkney- 
inseln waren  nun  bekanntlich  norwegischer  Abkunft  und 
norwegische  Vasallen  geworden  durch  Harald  Schönhaar, 
der  es  der  Mühe  werth  fand,  seine  flüchtigen  Landeskinder 
in  eigner  Person  auf  diesen  Inseln  zu  unterwerfen  und  hier 
das  Jarlthum  einzurichten  (um  872),  den  Stock  des  grossen 
und  merkwürdigen  Colonialreichs  des  nordischen  Mutter- 
landes, welches  Hjaltland,  Orkneys,  Färöer,  Hebriden,  Man, 
Theile  von  Irland  und  Schottland  begriff.  Zunächst  unter 
den  Jarls  stund  nun  die  Nordostspitze  von  Schottland,  die 
eigentlichen  Reste  des  Pictenthums  gegen  das  von  Süden 
und  Westen  vordringende  Reich  der  aus  Irland  eingewan- 
derten Südschotten  oder  des  Kenedischen  Stammes.  Diesen 
Picten,  zu  deren  berühmtesten  Häuptlingen  Macbeth  gehörte, 
verdankt  ihren  Namen  die  stürmische  Meerenge  zwischen 
der  Südspitze  der  Orkneys  und  der  Nordspitze  Schottlands 
der  Pentlandfirth  oder  Frith,  welches  für  Pettland  =  Peht- 
land  steht,  dem  ags.  Peohtas  ==  Picti  entsprechend.  Die 
Nordostspitze  Schottlands  besteht  aus  der  Grafschaft  Caith- 
ness,  norwegisch  Katanes  und  im  lateinischen  Namen  dieses 
pictischen  Wortes  finde  ich  unser  Cassiane.  Munch  theilt 
in  seiner  zweiten  ausführlichen  Arbeit  über  diese  zwei  Insel- 


unsern  Mythographen ,  die  germanisches  Heiden thum  überall,  nur 
nicht,  wo  es  wirklich  ist,  finden,  das  Vergnügen  geraubt  habe, 
den  blinden  Longinus  mit  dem  blinden  Hödr,  und  folglich  Christus 
mit  dem  durchbohrten  Baldr  zusammenzustellen,  was  sonst  ein  so 
hübscher  und  besonders  so  wahrscheinlicher  Einfall  wäre. 


Hofmann:  Zur  Gudrun  215 

gruppen  (Annaler  for  Nord.  Oldk.  1857)  bischöfliche  Ur- 
kunden mit,  die  sich  auf  die  vereinigten  Grafschaften  Ka- 
tanes  und  Sutherlaud  beziehen ,  deren  Kathedralkirche  in 
Dornoch  in  Sutherland  lag,  während  der  Bischof  selbst 
doch  episcopus  Cathanensis  oder  ep.  Cathannie  hiess.  Ca- 
thannie  und  Cassiane,  wird  man  zugeben,  liegen  nicht  weit 
auseinander.  Ob  die  Aussprache  von  th  als  s  in  Anchlag 
zu  bringen,  bleibt  fraglich;  doch  verweise  ich  auf  J.  Grimms 
Abhandlung  über  das  Necrologium  Augiense  (in  Ant.  Tid- 
skrift  1843  S.  67-75)  wo  das  nord.  p  durch  z  (Thörr 
durch  Zor,  Zur  1852,  daneben  Dur  und  Tur,  auch  Thur 
und  Dhur)  wiedergegeben  wird.  Ebenda  finden  sich  auch 
Olaf,  Volaf,  Wolf  nebeneinander,  was  ich  bei  meiner  Er- 
klärung der  Blekinger  Runen  hätte  anführen  können  und 
S.  73  Z.  3  von  unten  der  ahd.  Name  unserer  Heldin, 
Gundrun5).     Die  Urkunden    sind    von  1223—45  und  1275. 


5)  Der  Name  Gundrun  findet  sich  auch  auf  der  letzten  Seite  der 
Füssener  HS.  der  Regula  S.  Benedicti  aus  dem  Anfange  des  IX.  Jh. 
Im  sogenannten  Strengalthochdeutschen  lautet  diess  allerdings 
Kuntrun  oder  Kundrun ,  die  jetzt  beliebte  Schreibung  Kudrun  aber 
entspricht  gar  keinem  wirklichen  Sprachstande;  denn  im  Nieder- 
deutschen, woher  unser  Name  gekommen,  heisst  es  Güdhrün  oder 
Gudrun  und  das  anlautende  G  veränderte  sich  nicht  mehr,  wenn  im 
12.  Jhd.  ein  solches  Wort  ins  Oberdeutsche  übergieng,  Die  Schreib- 
ung Chautrun  der  Ambraser  HS.  beweist  für  uns  gar  nichts,  als 
dass  wir  Kütrün  schreiben  müssten,  wenn  wir  consequent  sein 
wollten.  Man  wird  sich  darauf  berufen,  dass  Zingerle  den  Namen 
in  Tirol  gefunden  habe:  (Pfeiffers  Germania  1865  S.  476)  der  swai- 
chof  ze  Cautrawn  von  dem  roten  burggraven  giltet  16  phunt  aigen. 
Aber  ich  bin  überzeugt ,  dass  wir  hier  entweder  eines  der  vielen 
rhätischen  Wörter  auf  una  haben,  deren  massenhafte  Sammlung  ein 
Hauptverdienst  Steubs  ist,  oder  vielleicht  Umsetzung  aus  Caurtawn 
ursp.  Curtun  d.  h.  romanisch  cortone  =  Hof.  welches  in  der  Form 
Kardaun  bei  Steub  S.  125  aus  der  Gegend  von  Bozen  nachgewiesen 
ist,  und  dass  dieses  Cautrawn   so  wenig  aus  dem  deutschen  Sprach- 


216        Sitzung  der  philos.-philol,  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

In  Cathannia  hatten  zwar  nicht  ausschliesslich,  aber  häufig 
die  Jarls  ihren  Sitz  und  so  musste  der  Name  hinlänglich 
bekannt  sein,  um  endlich  auch  in  die  Dichtung  einzugehen, 
mit  der  sehr  verzeihlichen  Modification ,  dass  der  Name 
einer  Gegend  zum  Namen  einer  Burg  wurde.  Die  Fride- 
schotten  sind  dann  die  am  Frith  sitzenden  Schotten,  d.  h. 
eben  die  mit  Norwegern  vermischten  Picten  von  Kaithness 
und  Sutherland,  deren  Stellung  übrigens  nicht  mehr  klar 
genug  aus  den  Angaben  der  Gudrun  hervorgeht.  Str.  611 
sitzt  Ludwig  richtig  in  Frideschotten. 

Ein  Zug  hat  sich  fest  erhalten,  der  unseren  poetischen 
Herrn  von  Ormanie  mit  den  historischen  Herin  von  Or- 
cania  gemeinsam  ist,  ihr  Vasallenthum.  Freilich  wird  es 
vom  wirklichen  König  von  Norwegen  auf  den  norwegischen 
König  in  Irland  übertragen,    indem   zu  wiederholten  Malen 


schätze  erklärbar  ist,  als  Hrn.  Prof.  Schneller's  Versuch,  die  soge- 
nannten rhätischen  Inschriften  aus  dem  Griechischen  zu  deuten, 
wirklichen  Bestand  haben  kann  bei  allem  ., Sprachwitz1',  den  er  un- 
läugbar  darauf  verwendet.  Dagegen  findet  sich  in  Innsbruck  selbst 
ein  Name  des  Gudrunkreises.  Die  Vorstadt  jenseits  des  Flusses 
heisst  Hötting,  alt  (XII.  Jh.)  Heteningen,  also  die  Urform  unserer 
Hegelinge,  altn.  Hjaftningar.  Freilich  braucht  hier,  wie  bei  dem 
benachbarten  Mieming  (XL  Jh.  Mieminga)  und  Heiming  die  german. 
Heldensage  nicht  direkt  vorausgesetzt  zu  werden,  denn  Hedin 
(unser  Hetel)  oberdeutsch  Hettin,  altn.  Heolnn,  bei  Saxo  Hithinus 
ist  ein  Wort  allgemeiner  Bedeutung  und  heisst  bloss  Kämpfer,  von 
derselben  Wurzel,  von  der  hadu  =  Kampf  kömmt,  durch  das  active 
Participialsuffix  ana-s  (goth.  n-s,  altn.  in-n,  alts.  und  ags.  en)  ge- 
bildet und  vielleicht  schon  im  Völkernamen  XaiStivoC  vorhanden, 
(welche  Ptolemaeus  in  Zxccvdia  neben  3?uv6vcu,  $>iQctiGoi,  Tovtai,,  Jctv- 
xiwvtq  und  Atvwvoi  nennt)  wenn  man  dessen  at  als  in  e  gebrochenes  i 
fassen  darf  und  nicht  vielmehr  mit  Zeus  (D.N.St.  159)  von  heid"  in 
Heidmörk  u.  s.  w.  ableitet,  welchem  widerspricht,  dass  3"  hier  radi- 
cal  ist  (goth.  haijü,  ags  haed",  engl,  heath)  und  folglich  Ptolemaeus 
Xca&tivoi  hätte  schreiben  müssen. 


Hof  mann:  Zur  Gudrun.  217 

gerade  der  Umstand  dem  Hartmuot  als  Grund  seiner  Un- 
ebenbürtigkeit  vorgeworfen  wird,  dass  sein  Vater  Lehens- 
maun  von  Hagen e  dem  König  von  Irland  gewesen  sei.  Allein 
die  Jarls  der  Orcaden  stunden  mit  diesen  irisch-norwegischen 
Königen  in  vielfacher  Verbindung,  wie  denn  gleich  der 
zweite  Jarl  Sigurd  mit  König  Thorstein  dem  Rothen  von 
Dublin  sich  im  Vereine  bedeutende  Landstrecken  unter- 
warf und  unter  andern  einen  schottischen  Häuptling  oder 
Maormor,  Maeldun  erschlug.  Es  ist  klar,  dass  man  einen 
Jarl,  wenn  er  mit  einem  König  zusammen  in  den  Krieg  zog, 
als  den  Geringeren  ansehen  musste ,  obwohl  historisch  das 
Reich  der  Orkneyjarle  sich  z.  B.  im  11.  Jh.  unter  Thorfinu 
sogar  über  einen  grossen  Theil  von  Irland  bis  nach  Dublin 
und  über  9  schottische  Grafschaften  erstreckte.  Ganz  genau 
genommen  stimmt  die  Geschichte  sogar  auch  darin  mit  dem 
Gedichte  überein,  dass  Thorfinn  der  Orkney-Jarl  Katanes 
und  Sutherland  von  seinem  Grossvater  mütterlicher  Seite 
König  Malcolm  II.  von  Schottland  zu  Lehen  erhalten  hatte 
(vgl.  Munch  II,  649). 

Wie  hätte  man  auf  der  anderen  Seite  den  Herzog  von 
der  Normandie  als  einen  irischen  Vasallen  behandeln  können, 
wenn  Ormanie  wirklich  die  Normandie  wäre?  So  viel 
musste  doch  auch  ein  mhd.  Dichter  wissen ,  dass  die  Nor- 
mandie in  Frankreich  lag  und  man  dahin  ebenso  wenig 
1000  Meilen  zu  Wasser  hatte,  als  nach  Polen.  Für  poetische 
Zwecke  mag  das  Zusammentreffen  mit  der  Wirklichkeit 
immerhin  genügen.  So  wird  in  dem  verwandten  Gedichte 
von  Haveloc  der  Held  zum  Sohn  eines  dänischen  Königs 
Birkabeyn  gemacht,  während  die  Birkebeiner  —  man  könnte 
es  mit  Sansculotten  übersetzen  —  in  Wirklichkeit  eine  po- 
litische Partei  in  Norwegen  waren  ,  an  deren  Spitze  König 
Sverrir,  der  norwegische  Napoleon,  auf  den  Thron  gelangte, 
ihn  behauptete  und  vererbte. 

Eine  zweite  Reihe  von  Thatsachen  ergiebt  sich  aus  dem 


218         Sitzung  der  philos.-philol.  (Hasse  vom  6.  Juli  1867. 

Seezuge  der  Hegelinge  und  ihrer  Verbündeten  nach  Ormanie. 
Zu  Weihnachten  lässt  Hilde  das  Aufgebot  ergehn.  Als  das 
Heer,  70,000  Mann,  beisammen  ist,  sieht  sie  es  von  ihrer  Burg 
Matelane  aus,  abfahren.  Etmüller  hat  für  Matelane  ein  ur- 
kundliches Matellia  (jetzt  Metelen)  zwischen  Rhein  und 
Maas  angeführt,  was  sehr  gut  passen  würde.  Es  ist  Hetels 
Burg  in  den  Niederlanden ,  wohin  der  Wülpsensand  an  der 
Scheldem ünduug  nothwendig  weist  und  durch  welche  die 
Sage  ihren  Durchgang  genommen  haben  muss,  um  nach 
Mittel-  und  Oberdeutschland  zu  gelangen.  Zu  Matelane 
stimmt  die  Flottenrevue,  die  vor  der  letzten  Abfahrt  vor 
dem  Wülpensande  gehalten  wird.  Dann  verschlagen  sie 
Südwinde  (Str.  1125)  und  sie  treiben  vor  den  Berg  zu 
Givers,  in  das  finstere  Meer,  wo  sie  von  den  Magnetsteinen 
angezogen  werden.  Nun  beginnt  Wate  ein  Schiffermährchen 
zu  erzählen,  ein  wazzermaere,  von  dem  Berge  Givers,  den 
die  Darstellung  in  der  Gudrun  mit  dem  wirklichen  Berge, 
vor  dem  sie  lagen  und  von  dem  sie  nicht  loskommen 
konnten,  confundirt.  Suchen  wir  zuerst  das  fabelhafte  Givers 
auszuscheiden.  ,,Zu  Givers  in  dem  Berge,  erzählt  Wate, 
ist  ein  weites  Königreich  bewohnt,  so  reich,  dass  der  Sand 
silbern  und  die  Mauersteine  von  Gold  6ind;  wen  die  Winde 
wieder  von  dem  Lande  heim  führen,  der  ist  sein  Leben  lang 
ein  reicher  Mann".  Schlagen  wir  in  der  Fundgrube  mittel- 
alterlicher Gelehrsamkeit,  im  Isidorus  nach,  so  finden  wir 
diese  Gold-  und  Silberinsel  oder  vielmehr  Inseln  im  XIV. 
Buch  6  Cap.  Chryse  et  Argyre  insulae  in  Indico  Oceano 
sitae,  adeo  foeeundae  copia  metallorum ,  ut  plerique  eas 
auream  superficiem  et  argenteam  habere  prodiderint,  unde  et 
vocabula  sortitae  sunt.  Dass  diese  Gold-  und  Silberinsel 
wirklich  im  Norden  bekannt  waren,  beweist  nun  weiter  eine 
Stelle  aus  der  ungedruckten  Sage  von  Kirjalax  (xvQiog  *Ale- 
£iog),  von  welcher  Konr.  Gislason  (in  44  Proever  af  Old- 
nordisk  Sprog,    Kjöbeuh.    1860    p.  400-406)    gerade   das 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  219 

Stück  mittheilt,  welches  wir  brauchen.  Es  heisst  dort:  Etwas 
später  rüstet  sich  Kirjalax  vom  heiligen  Lande  (Jörsala- 
landi)  fortzusegeln  und  wendet  seine  Fahrt  nach  der  süd- 
lichen Erdhällte.  Und  eines  Tages  sehen  sie  im  Meere  zwei 
Inseln,  die  ihnen  wunderbar  vorkamen;  denn  Nachts  erhob 
sich  von  ihnen  grosse  Helle,  von  der  einen  weiss,  von  der 
andern  roth.  Als  sie  den  Inseln  nahe  kamen,  da  fielen 
sie  steil  gegen  die  See  ab  und  waren  mit  Felsen  umschlossen, 
so  dass  sie  nicht  hinein  kommen  konnten.  Diese  Inseln 
nennt  Isidorus  in  seinem  Buche  Chrisen  und  Argiren,  darum, 
weil  die  eine  Gold  in  so  grossem  Ueberrlusse  wie  Steine  auf 
den  Bergen  hat,  die  andere  ebenso  grossen  Ueberfluss  an 
Silber,  und  davon  entstund  die  grosse  Helle  am  Firmamente, 
welche  das  glänzende  Metall  von  sich  gab.  Von  da  segeln 
sie  an  Indiens  Seeküsten".  Das  Weitere  braucht  nicht  mehr 
übersetzt  zu  werden,  es  handelt  vom  indischen  Golde, 
welches  ebenfalls  so  gemein,  wie  Bergsteine  ist,  von  Drachen 
und  Greifen,  vom  Phönix,  von  den  Zimmetvögeln  (fuglar 
sem  cinnami  heita),  Papageien,  endlich  einem  mörderischen 
Kampfe  der  Ritter  mit  Greifen.  Dieser  Kirjalax  hatte  die 
ganze  Welt  ausgefahren,  Asien,  Afrika  bis  zu  den  Säulen 
des  Herkules. 

Kein  Zweifel,  dass  wir  hier  das  Original  unseres  Givers 
vor  uns  haben;  sehen  wir  etwas  genauer  zu,  so  stellt  sich 
auch  das  Wort  ein.  Argiren  wurde  missverständlich  in  ar 
und  giren  getrennt,  indem  man  ersteres  für  die  nordische 
Präposition  at  =  zuhielt  und  giren  als  givers  verlas.  Die  Zahl 
der  Züge  ist  gleich  und  die  Möglichkeit  des  Irrthums  so 
naheliegend,  als  man  es  in  einem  solchen  Falle  nur  wünschen 
kann.  Das  ist  also  das  wazzermaere  Wateus.  Fassen  wir 
nun  den  übrigen  Inhalt  des  Gudrunberichtes ,  nach  Aus- 
scheidung der  Gold-  und  Silberinsel,  schärfer  ins  Auge,  so 
enthält  er  gar  nichts,  was  nicht  ganz  genau  mit  den  wirk- 
lichen Meeresverhältnissen  au  der  Ostseite  der  Shetland  —  und 


220         Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Orkneyinseln  übereinstimmte.     Die  Flotte   der  Hegelinge  ist 
in  der  Nordsee,  will  nach  Cassiane,    d.   h.   an  die  Nordost- 
spitze von  Schottland   segeln,    da  wir«!   sie  von  einem  Süd- 
wind (Str.   1125  sunderwinde)  verschlagen,  (die  sluogens  üf 
den  se)  und  kommen  in  ein  Nebelmeer,    wo    sie  nicht  vor- 
wärts und  rückwärts  können,    was    sie    dem   Einflüsse    der 
unterseeischen  Magnetsteine  zuschreiben    (Str.   1126).     Eine 
solche  Stelle  findet    sich    nun  gerade   an  der  Südspitze  der 
Hauptinsel    von    Shetland    (Mainland).     Sie   heisst    in    nor- 
wegischer Zeit  Dynrastarness,  jetzt  Dunrossnes,  hat  zwei  Land- 
spitzen,   den  hohen  Vorberg  Fitfulhead,  früher  Fitfuglahöffti 
im  Westen,  und  SunnboejarhöfÖi  (Südbauspitze),   jetzt  Sum- 
burgh  Head  im  Osten.     Letzteres  ist  von  jeher  durch  seine 
Strömungen  und  Stürme  berüchtigt,    daher  der  Name  Dyn- 
röst  =  brausende   Strömung.     Man  lese    folgende  Schilder- 
ung   eines  Reisenden,    der  selbst  jene  Strömungen  in  einem 
Segelschiffe  befahren  hat   (bei  Hibbert  S.  240).     Es  heisst : 
,, Ein  Gentleman  theilte  mir  mit,  dass  er  fünf  Tage  in  einer 
Schaluppe    zwischen    Fitful  Head  und  Sumburgh  Head,    die 
bloss  drei  Meilen  von  einander  entfernt  sind,  Windstille  ge- 
habt habe  (had  been  becalmed),  ohne  die  eine  oder  andere 
Spitze  passiren    zu    können,    indem  die    eine  Strömung  das 
Schiff  in  den  westlichen,  die  andere  in  den  östlichen  Ocean 
trieb.     Oft  wurde   die  Schaluppe    von    der  Fluth  ganz  nahe 
an  die  Küste  getrieben,  aber  die  Strömung  führte  sie  immer 
wieder  ab.     Wiewohl  von  Sumburgh    bis  Fair  Isle    (kleine 
Insel   gerade    in    der  Mitte  zwischen  Shetland  und  Orkney) 
und  ohne  Zweifel  auch    von    dort    bis  Orkney    immer    ent- 
gegengesetzte Strömungen  herrschen,    so  ist  doch  der  Roust 
derjenige  Theil   des   Stromes ,    der    in    geringer   Entfernung 
vom    Vorgebirge    liegt    und    dessen    Gewalt    wahrscheinlich 
durch  die  Nähe  der  Küste    und  die  Seichtheit  des  Wassers 
vermehrt  wird". 

Man  vgl.  damit  Str.  1132  (die  Windstille)  und  beson- 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  221 

ders  1133,  wo  es  heisst:  vier  Tage  lang  und  mehr  stunden 
die  Schiffe  an  einer  Stelle,  dass  sie  nicht  von  dannen 
konnten.  Dazu  hatten  sie  Nebel ,  der  in  jenen  Gegenden 
auf  der  See  sehr  gewöhnlich  ist  und  schrieben  ihre  schlimme 
Lage  dem  Einflüsse  von  Magneten  zu ,  was  die  Shetländer 
noch  jetzt  thun  (vgl.  Hibbert  S.  564);  Felsen  nämlich,  die 
mehr  oder  weniger  nahe  an  die  Oberfläche  des  Meeres 
heraufreichen,  den  Flutlistrom  unterbrechen  und  dadurch 
die  Anstauung  riesiger  Wellen  verursachen,  wird  eine  mag- 
netische Anziehungskraft  zugeschrieben,  und  in  dieser  An- 
sicht war  der  Beschreiber  der  Shetlandsinseln,  Debes,  (1673) 
derselben  Meinung  mit  den  Eingebornen:  I  have  been  assured, 
sagt  Hibbert,  that  the  Shetlanders,  whose  imaginations  have 
conceived  stränge  wonders,  entertain  similar  notions  of  the 
existence  of  submarine  magnetic  rocks. 

In  Str.  1134  kommt  nun  der  Westwind  und  befreit 
unsere  Gudrunfahrer;  natürlich,  denn  der  Ostwind  hätte 
sie  in  den  atlantischen  Ocean  hiuaus  getrieben.  Es  kann 
keinem  Zweifel  unterliegen,  dass,  wenn  wir  die  Orkneys  und 
Katanes  als  Ziel  der  Fahrt  annehmen,  sie  durch  einen  Süd- 
wind gerade  an  diese  Stelle  getrieben  werden  mussten,  wo 
die  Gegenwirkung  des  aufeinanderstossenden  Golfstroms  und 
Polarstroms  die  „brausende  Strömung"  macht  und  dass  nur 
ein  Westwind  sie  wieder  losbringen  konnte.  Sie  segeln  nun 
gerade  auf  Ormanie  los,  fallen  aber  in  neue  Noth  (Str.  1137 
— 39),  indem  sie  in  einen  Weststurm  gerathen;  d.  h.  sie 
kommen  dem  immer  stürmischen  Pentlandsfrith  zu  nahe 
und  ihr  Glück  ist  nur,  wie  Fruote  Str.  1139  sagt,  dass  der 
Wrind  aus  Westen  bläst,  sie  vom  Frith  abtreibt,  und  ihnen 
so  gestattet,  ihr  Ziel  an  der  Nordostspitze  Schottlands,  Cas- 
siane.  Cathannia  endlich  zu  erreichen.  Ich  habe  diese  Partie 
ausführlicher  behandelt,  weil  sich  hier  eine  Reihe  von  zu- 
sammenhängenden Thatsachen  verfolgen  lässt,  während  die 
übrigen  geographischen  Angaben  der  Gudrun  meist  wirr 
[1867.  II.  2.]  15 


222  Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juli  1867.  - 

und  lose  durcheinandergehen,  was  ohne  Zweifel  der  Ueber- 
tragung  aus  Norwegen  nach  Nieder-,  von  da  nach  Ober- 
deutschland zuzuschreiben  ist.  Karade,  Karadie  kann  Cardigan 
sein,  Salme  vielleicht  Solway,  Hortland,  Ortland  dürfte  das 
norwegische  HörÖaland,  Moren  das  norw.  Moere  sein,  Cam- 
patille  hatte  ich  für  Entstellung  von  Kongahella,  dem  alten 
norwegischen  Königssitz  am  nördlichen  Ufer  der  Gautelf 
und  hart  an  der  ostgautischen  Gränze.  Bei  der  Uebertrag- 
ung  nach  dem  Niederlande  kam  dazu  die  zweite  Hauptstadt 
Matelane  zwischen  Rhein  und  Maas,  wie  denn  auch  im 
Niederlande  ein  zweites  Nortmore  gefunden  ist  (Plönnies 
S.  308)  und  die  Verwechslung  der  dänischen  Hauptinsel 
Seeland  mit  der  Inselgruppe  Zeeland  an  der  Scheidemünd- 
ung kein  Bedenken  hätte.  Sehen  wir  somit  die  Sage  im 
Umkreise  des  norwegischen  Reiches  sich  abspielen,  so  dürfen 
wir  annehmen,  dass  sie  dort  auch  ihre  Weiterentwicklung 
gefunden  hat,  als  deren  Reflex  die  shetländische  Ballade 
erscheint,  die  absolut  keine  andere  als  norwegische  Herkunft 
haben  kann;  wir  dürfen  ferner  annehmen,  dass  sie  durch 
niederdeutsche  Kaufleute  aus  Norwegen  an  die  Scheide-  und 
Rheinmündungen  gekommen.  Bergen  war  der  Hauptsitz  der 
deutschen  Kaufleute,  und  wahrscheinlich  durch  diese  ge- 
langte die  norwegische  Gudrunsage  nach  dem  Süden ,  wie 
umgekehrt  die  deutsche  Dietrichssage  durch  sie  nachweislich 
dem  Norden  vermittelt  wurde.  Ist  meine  Gleichung  Cam- 
patille  =  Kongahella  richtig,  so  muss  die  Bildung  der  Sage 
vor  1135  fallen;  denn  in  diesem  Jahre  wurde  Kongahella 
von  einer  grossen  wendischen  Raubflotte  überfallen,  geplün- 
dert und  verwüstet,  worauf  es  zur  Unbedeutendheit  herab- 
sank. Damit  stimmt  denn  auch  die  Erwähnung  der  Sage 
im  Alexanderliede.  Ich  gehe  nun  zu  unserer  Gudrun  über. 

Die  erste  und  zweite  Strophe  sind  durch  die  dreimalige 
Setzung  von  rieh  in  5  Zeilen  entstellt.  Diess  ist  bis  jetzt 
von  Niemand    hervorgehoben   worden;     hielt   man   es    nicht 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  223 

für  auffallend  oder  glaubte  man,  für  den  Zudichter  der 
Greif eogeschichte  seien  solche  Strophen  gut  genug?  Ich 
könnte  den  zweiten  Grund  nicht  gelten  lassen ,  denn  wenn 
auch  diese  Vorgeschichte  für  das  eigentliche  Gudrunwerk 
viel  zu  fabulos  und  poetisch  zu  unbedeutend  ist,  und  daher 
von  ihm  getrennt  werden  muss,  so  darf  sie  doch  mit  anderen 
mhd.  Produkten  verglichen,  nicht  so  gering  geachtet  werden, 
dass  wir  nicht  versuchen  sollten,  sie  von  elenden  Strophen 
zu  befreien.  Hier  ist  nun  die  Hülfe  noch  dazu  äusserst 
einfach.  In  der  zweiten  Strophe  ist  riehen  ohnehin  zu  viel, 
der  Vers  verlangt  nur:  Gere  dem  hünige.  In  1,4  lese  ich 
riche  für  riehen,  d.  h.  der  Majestät  ziemte  ihre  Minne,  ein 
nicht  ungewöhnlicher  Ausdruck,  für  den  ich  zum  Ueberflusse 
noch  Gerhart  115,  Crane  119  anführen  kann.  Im  ersten 
Falle  steht  kröne  unserm  riche  entsprechend  (vgl.  roemisch 
ruhe  V.  112)  ein  ivip  diu  sinem  Übe  \  gezam  und  oiich  der 
kröne.  riche  in  diesem  Sinne  m  u  s  s  t  e  dcrSchreiber  missverstehen. 

Str.  2,2.  lese  ich,  er  het  streichend: 

siben  fürsten  lernt 
dar  inne  het  er  recken  ... 

Str.  3,4.  1.  das  ers  mähte  deste  baz  geniezen. 

Str.  6,4  1.  den  edelen  küniginnen  ivas  nach  Sige- 
bande  we. 

Nicht  seine  Mutter  kann  gemeint  sein;  denn  wenn 
Bartsch  erklart:  ,,sie  konnte  ihn  nicht  entbehren",  so  wider- 
legt das  die  nächste  Zeile,  wo  sie  ihm  selber  räth,  ein  Weib 
zu  nehmen.  Den  Königstöchtern ,  die  er  ze  reliter  siner  ö 
minnen  mochte,  war  nach  ihm  weh. 

Str.  11,1.  bedecket  ist  nicht  zu  dulden,  es  steht  im 
vorausgehenden  Verse  von  der  sträee  und  kann  nicht  in 
einem  Athem  wieder  von  bhiomcn  tm&gras  gebraucht  werden. 
Ein  Wort,  welches  zertreten  bedeutet  (vgl.  Str.  183),  und 
dem  Abschreiber  als  ein  ausschliesslich  mittelhochdeutsches 
nicht  mehr    geläufig  war .    muss   hier  gesucht  werden.     Ein 

15* 


224  Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

solches  ist  geweten  oder  gewetet,  vgl.  Otn.  383,  dö  sach  er 
daz  grüen  gras  geweten  und  überhaupt  Mhd.  WB.  111,535. 

Str.  21,3.  Hier  das  Komma  zu  tilgen  und  lant  zum 
Genetiv  zu  machen,  kann  nicht  angehen,  ist  auch  gar  nicht 
nöthig,  denn  es  ist  einfach  als  Accusativ  zu  fassen,  von 
zergaehe  regiert. 

Str.  22,1  1.  inner  drien  jären.  Dass  die  drei  Jahre  die 
nächsten  sind,  versteht  sich  von  selbst  und  ist  ein  Zusatz 
des  Abschreibers. 

Str.  23,4  1.  sah  für  sähen,  vergl.  Grimm  DG.  IV. 
198  ff.  und  Str.  141  ja  lönet  im  min  vater  und  min 
muoter. 

Str.  38,2  1.  das  man  von  wildem  walde  muose  dar  ge- 
tragen, wilden  und  walde  zu  trennen,  geht  nicht  an,  noch 
weniger,  den  ganz  spezifischen  und  bezeichnenden  Ausdruck 
zu  entfernen.  Die  Menge  der  zu  fertigenden  Sitze,  will  der 
Dichter  sagen,  war  so  gross,  dass  man  im  offenen  Walde 
grünes  Holz  dazu  schlagen  musste. 

Walt  bedeutet  eben  auch,  wie  das  gr.  vÄt],  das  lat. 
materia  (daher  der  Name  Madeira)  Nutzholz,  wie  eine 
zweite  Stelle  der  Gudrun  klar  zeigt,  wo  freilich  erst  der 
aus  Vollmers  Phantasie  gewachsene,  dann  in  Bartschs  Ver- 
zeichniss  der  Eigennamen  gewanderte  Westerwalt  als  mo- 
dernes Verderbniss  zu  beseitigen  ist.  In  der  Handschrift 
Str.  945  steht  fraw  man  sol  wenden  da  zu  dem  vesten 
ivald.  Da  von  Schiffbauen  die  Rede  ist,  wozu  man  Holz 
braucht  und  da  Holz  schlagen  im  Mhd.  ausgedrückt  wird 
durch :  den  walt  swenden,  so  dürfte  wohl  auch  ein  Anfänger 
eingesehen  haben,  dass  es  sich  hier  nicht  um  Erfindung 
eines  geographischen  Namens,  sondern  nur  um  die  Restitu- 
tion des  mhd.  technischen  Ausdrucks  handeln  kann,  vesten 
ivalt  wäre  dann  gar  nicht  unbedingt  zu  verwerfen,  es  würde 
einfach  festes  Holz  bedeuten.  Allein,  da  sich  von  selbst 
versteht,  "  dass  man  zum  Schiffbau  festes  und  nicht  weiches 


Hof  mann:  Zur  Gudrun.  225 

Holz  nimmt,  der  Ausdruck  somit  nichtssagend  wäre,  was 
wir  in  der  Gudrun  wo  möglich  vermeiden  müssen,  so  lese 
ich  besten,  also :  vromve,  man  sol  sivenden  da  zuo  den  besten 
walt. 

Str.  40,4  ist  etwas  zu  ergänzen,  nicht  ir,  was  sich  auf 
die  Ritter  beziehen  würde,  sondern  der  vrouiven,  vgl.  Str.  36: 
so  gib  ich  besunder  fünf  hundert  vrouiven  Meit.  vroivcn  hat 
schon  V. 

Str.  48,3.  Hätten  die  Herausgeber  die  hässliche  Wort- 
stellung doch  wohl  ändern  sollen  in:  die  varnde  diet  des 
moldc  lüzzel  da  verdrießen.  Die  Wortfolge,  die  der  Ab- 
schreiber des  15./16.  Jhd.  seinem  Redegebrauch  gemässer 
fand,  kann  uns  bei  Herstellung  fliessender  Verse,  und  solche 
verlangt  die  Gudrun  durchaus,  doch  nicht  im  Wege  stehen. 

Str.  52,4.  Der  Abschreiber  hat  hier  durch  Gleich- 
machung des  Reimes  mägen,  phlägen  den  Sinn  tief  zerrüttet. 
Vergleichen  wir  alle  übrigen  Stellen  des  Gedichtes,  wo  von 
dem  Verhältnisse  edler  Kinder  zu  ihren  mägen  die  Rede 
ist,  so  zeigt  sich,  dass  sie  immer  von  ihnen  oder  bei  ihnen 
erzogen  werden,  eine  Sitte,  die  besonders  tief  im  altnordi- 
schen Leben  wurzelt  und  dort  auf  Schritt  und  Tritt  be- 
gegnet. Man  vergl.  besonders  Str.  98.  Hagene  erzog  sich 
selber,  denn  er  tuas  aller  siner  mäge  eine  =  er  musste 
sich  seine  sämmtlichen  Mage  ersetzen ,  ferner  Str.  198, 
u.  s.  w.  Es  darf  also  in  unserer  Stelle  nicht  gesagt  sein, 
dass  die  Freunde  das  Kind  den  Magen  erziehen,  denn  beide 
zusammen  erziehen  es  nur  den  Eltern,  sondern  es  kann  bloss 
von  den  mägen  als  Erziehern  die  Rede  sein ,  folglich  muss 
der  Nom.  mäge  stehen,  was  den  Reimen  der  Gudrun  be- 
kanntlich auch  sonst  entspricht.  Nun  ist  die  Emendation 
einfach :  sus  zugcn  cz  mit  vlize  sine  mäge. 

Str.  85,2  braucht  gruzez  nicht  getilgt  zu  werden,  wie 
E.  V.  B.   thun.     Man  lese: 


226         Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Ine  iveis  von  weihen  enden  geflossen  Hier  mer 

Jcom  sen  steinwenden  ein  gröses  gotes  her. 

Str.  91,3  1.  den  wolte  er  an  der  site  gerne  hän  vers- 
tunden. ZU  als  Dativ  möchte  ich  der  Gudrun  nicht  zu- 
trauen. 

Str.  99.2.  Alle  Herausgeber  haben  hier  die  ruhen 
fische,  ein  Nonsens,  von  dem  noch  dazu  nichts  in  der  HS. 
steht  und  der  wahrlich  nicht  besser  wird,  wenn  B.  ihn  auch 
noch  erklärt:  „rauh  wegen  der  Schuppen".  Im  Binnenlande 
gibt  es  keine  Fische  mit  rauhen  Schuppen,  und  die  dorti- 
gen Fische  kann  man  ihrer  Schuppen  wegen  nur  glatt 
nennen.  Sollte  man  dem  Dichter  der  Gr  ei  fcnaventiure 
etwa  die  Spitzfindigkeit  zumuthen,  er  hätte  die  Seefische  im 
Gegensatze  zu  den  glatten  Süss  wasserfischen  sich  rauh  vor- 
gestellt? Aber  wir  brauchen  ihm  gar  Nichts  zuzumuthen, 
denn  er  hat  uns  hier  das  richtige  Wort  in  richtiger  mittel- 
hochdeutscher Form  überliefert,  raivhen  d.  h.  rcaven  = 
rohen.  Die  rohen  Fische  konnte  Hagene  nicht  gemessen, 
weil  seine  Küche  selten  rauchte ,  d.  h.  weil  er  noch  kein 
Feuer  hatte,  welches  er  erst  Str.  104  aus  dem  Felsen 
schlaft. 

Str.  108,4.  Den  Frauen  bringt  die  Noth  des  Schiffes, 
welches  sie  im  Sturme  erblicken,  die  Rettung;  ich  möchte 
daher  statt  frowoen  lesen  ferjen  =  den  Schiffern. 

Str.  116,3.  Diese  Strophe  hat  das  Schicksal  gehabt, 
ganz  ausdrücklich  missverstanden  zu  werden ,  wiewohl  sie 
einem  der  allgemeinsten  mittelalterlichen  Bräuche  ihre  Ent- 
stehung verdankt.  Gästen,  die  man  ehren  wollte,  gab  man 
Kleider  der  Hausgenossen  zum  Wechseln  gegen  ihre  eigenen. 
Der  Dichter  kann  also  nicht  mit  B.  gemeint  haben:  ,,sie 
würden  mir  weise  erscheinen,  wenn  sie  diese  ungewohnte 
Umgebung  als  eine  ihnen  angethane  Ehre  betrachteten",  son- 
dern er  will  einfach  einen  Witz  machen:  wären  sie  welt- 
läufig (wise)  gewesen,    so  hätten  sie  die  männlichen  Pilger- 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  227 

kutten,  die  ihnen  so  ungewohnt  vorkamen  und  welche  sie 
sich  schämten,  anzuziehen,  als  eine  ihrem  hohen  Stande  er- 
wiesene Ehre  (wirde)  hingenommen. 

Str.   121  lese  ich 
Dö  sprach  der  rittcr  edele:  „got  hat  vil  ivol  getan, 
sit  er  iueh  Vi  den  mögen  niht  enwolte  län; 
ir  sit  mit  sinen  gnaden  üz  grözer  not  entbunden, 
sit  icli  iueh,  meide,  so  schone  hdn  an  disem  Stade  funden. 

Str.   127,1  1.  ist  so  stark  dm  llp. 

Str.  130,4  wohl  am  einfachsten:  in  herten  stürmen 
slahen  nnde  vdhen. 

Str.  134,4.  Hier  darf  nicht  geholfen  werden,  indem 
man  für  Irret  umbe  das  gleichbedeutende ,  aber  metrisch, 
richtige  wendet  setzt,  was  ausserdem  auch  noch  widersinnig 
wäre,  weil  man  ein  Segelschiff  nicht  wie  einen  Wagen  oder 
einen  Dampfer  plötzlich  wenden  kann.  Der  Hauptgrund 
ist  übrigens  noch  der,  dass  der  Schreiber  der  Ambraser  IIS. 
sicherlich  wendet  ebenso  gut  verstanden  halte ,  als  leeret 
unibe.  Entfernen  wir  den  unerlaubten  Auftakt  höret,  so 
erhalten  wir  das  Richtige  der  volge  minor  lere  /  unibe  iuiver 
segele,  daz  man  gegen  Irlande  höre;  denn  das  Schiff  ist 
wieder  ein  tautologiscb.es  Einschiebsel  des  Abschreibers,  der 
den  mhd.  Gebrauch  des  absoluten  hören  nicht  mehr  recht 
kannte ,  wiewohl  er  es  zwei  Strophen  weiter  unangetastet 
gelassen  hat:  die  selben  schifliute  muosten  dö  gen  Irlande 
hören. 

Str.  138,4  1.  turne  driu  hundert,  was  einen  wohlklin- 
gendem Vers  gibt. 

Str.  143,4  1.  vor  an  miner  brüste  bevinde.  vor  an  ist 
zu  hart. 

Str.  148,1  1.  Dö  Voten  der  vrouiven  ditze  wart  geseit 
im  Anschlüsse  an  die  HS. 

Str.   151,3  1.  ivcr  im  ein  grüezcn  taete,  fliessender. 

Str.  152,1  Sin  in  sin  lant    ist  besonders  hässlich.     Ich 


228        Sitzung  der  philos.-philöl.  Geisse  vom  6.  Juli  1867. 

lese  der  Jcünec  in  ivillekomen  hiez  wesen  in  sin  lernt,  da 
ich  mich  nicht  an  dem  stumpfen  Schlüsse  des  ersten  Halb- 
verses willeJcomen  stosse ,  der  ja  durch  Stellen  bewiesen 
wird,  wo  man  z.  B.  statt  nern  ein  vermeintliches  nerjen 
setzen  muss,  um  einen  scheinbar  klingenden  Ausgang  zu 
bekommen.  Es  ist  das  sicher  einer  der  Punkte,  wo  man 
besser  thäte,  bei  dem,  was  Lachmann  gesagt,  stehen  zu 
bleiben. 

Str.  153,2.  Zu  gemach  bemerkt  B.  ., Bequemlichkeit, 
bequeme  Gelegenheit;  der  Begriff  der  Absonderung  liegt 
darin".  Ich  bezweifle,  ob  dadurch  der  Sinn  der  Stelle 
deutlich  werde.  Der  König  sollte  die  Leute  zurücktreten 
heissen,  damit  sein  Sohn  Hagene  mit  Anstand  seine  Brust 
entblössen  und  seine  Mutter  das  Kreuzzeichen  auf  der  Haut 
sehen  konnte. 

Str.  155,3.     Die    Herausgeber    E.    V.    B.    haben    hier 
wieder    das  Adjectiv  vom  Substantiv    durch    die   Cäsur    ge- 
trennt,   was    auf  jede  Weise  zu   vermeiden    ist.     Man    lese 
von  sines  herzen  liebe  I  uz  sinen  ongen  vlöz; 
im  viel  der  heizen  trahene  /  da  zetal  genuoc. 

Str.  159,4  1.  sit  wurden  sie  ze  vlnde  \  den  von  Irlande 
nimmer  mere.  Ob  man  die  nhd.  Wendung:  mit  einem 
Feind  oder  Freund  sein,  schon  im  Mhd.  gebraucht  hat ,  be- 
zweifle ich  einstweilen. 

Str.  177.  sie  sprächen,  sie  fragten  ist  eine  unerträg- 
liche Tautologie,  zudem  steht  sprach  am  Anfange  der  vori- 
gen Strophe  und  im  dritten  Verse  der  vorliegenden  noch 
einmal.     Man  lese: 

Wer  diu  vrouive  tvaere,  des  fragten  sine  man, 
diu  vor  sinen  helden  ze  hove  solde  gän. 

Str/  196,3.4.  Da*  [vorgetane  bis  jetzt  nicht  gefunden 
ist,  so  darf  man  wohl  eine  kühnere  Vermuthung  wagen.  Ich 
lese,  indem  ich  er  hiez  aus  der  letzten  Zeile,  wo  es  über- 
flüssig steht,  heraufziehe: 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  229 

er  hiez  von  shien  vorhten  nähen  unde  verren 
Volant  aller  kiinige  .  .  . 

vorhten  ist  die  Furcht,  welche  man  vor  Hageneu  hatte, 
vgl.  Mhd.  WB.  III.  385,  b.     Noch  näher  läge  vorhtsame. 

Str.  208,1.  Der  zweite  Halbsvers  ist  ebenso  schlecht 
bei  V.  im  dient  wazzer  unde  lant  als  bei  B.  tuazzer  unde 
lant,  die  ausser  der  Construction  stehen  sollen  und  dgl. 
Statt  wazzer  ist  einfach  wer  zu  setzen,  im  diente  mer  mit 
lant,  vgl.  Str.  1669.  Dass  ich  hier  mit  setze,  gründet  sich 
auf  Lachmann,  der  zu  den  Nibel.  934,2  bemerkt:  „Die 
Lesart  von  A  darf  man  aussprechen  an  uns  sorge  unt  leit. 
Denn  gerade  vor  l  wird  unde  auch  an  dieser  Versstelle 
verkürzt,  bei  Walther  v.  d.  V.  vor  keinem  anderen  Conso- 
nanten  als  lu. 

Str.  233.  1.  Er  fragte,    ob  er  fiteren  solde  mit  im  dan 
heim  unde  brünne  od  iemen  siner  man. 
der  boten  sprach  dö  einer:  wir  enhörten  niht 
daz  er  bedörfte  recken   u.  s.  w. 

Str.  246,4  finde  ich  nur  eine  kleine  Aenderung  des 
Ueberlieferten  nothwendig : 

der  mins  gemaches  vdret,  der  sol  die  selben  triuwe  von 
mir  dulden  =  dem  will  ich  Gleiches  mit  Gleichem  ver- 
gelten, darum  müsst  auch  ihr  beide  als  Boten  mit  mir  fahren. 

Str.  249,2.  ein  schif  von  ciperboumen  kömmt  mir  ver- 
dächtig vor.  Warum  sollte  ein  Schiff  vom  Trauerbaum  fest 
und  gut  sein?  Ich  lese  cederboumen,  denn  der  Ceder  wird 
die  Eigenschaft  beigelegt,  nicht  von  Würmern  angegriffen 
zu  werden,  gerade  was  ein  Seeschiff  am  meisten  braucht. 
Dass  sie  im  Lande  der  Hegelinge  weder  Zedern  noch  Cy- 
pressen  zum  Schiffbau  hatten,  braucht  den  Dichter  nicht 
zu  kümmern. 

Str.  260,3.  Für  tvinters  braucht  nicht  meien  gesetzt 
zu  werden,  man  lese  nach  des  winters  ziten  oder  vielleicht 
dem  Texte  näher:    von  des  w.  z,  von  in  temporalem  Sinne. 


230  Sitzung  der  philos.-pMlol.  Gasse  vom  6.  Juli  1867. 

Str.  264,4.  1.  ivurden  wol  mit  süber  gebunden. 

Str.  271,4.  1.  ja  wären  sie  des  hilnec  Hetelen  Icünne. 

Str.  281,2.3.  möchte  ich  lesen:  das  man  das  magedin 
mit  strite  erwerben  solde,  ob  sin  geschaehe  not. 

Ueber  den  Ausdruck  not  geschult  vgl.  Mhd.  WB.  II, 
408  Nr.  4.  Mit  List  und  Streit  zugleich  konnten  die  Ge- 
waffneten  doch  die  Maid  nicht  erwerben  sollen.  Z.  4  könnte 
man  willige  lesen,  um  den  eigentümlichen  metrischen  Bau 
der  8.  Halbzeile  herzustellen,  vgl.  Grimm  DG.  III,   115. 

Str.  288.  Diese  Strophe  ist  sehr  wichtig,  denn  in  ihr 
deutet  der  Dichter  auf  eine  andere  Fassung  der  Sage  hin, 
die  er  verwirft.  Es  handelt  sich  um  die  richtige  Deutung 
von  Polay.  Erwägt  man,  dass  im  15.  Jhd.  n  mit  dem 
zweiten  Striche  nach  unten  verlängert  vorkömmt,  so  ergibt 
Polay  Polan,  wohin  also  die  andere  Sage  den  Königssitz 
Ha  genes  verlegte,  tobeliche,  meint  der  Dichter,  denn  nach 
Polen  hätten  die  Hegelinge  nicht  1000  Seemeilen  zu  fahren 
gehabt,  wie  nach  Irland.  Lassen  wir  Polan  gelten,  so  dürfte 
die  ganze  Strophe  so  zu  lesen  sein: 

Sie  liet  ivol  tüsent  mile  das  ivasser  dar  getragen 
hin  ze  Hagenen  bürge,  sivie  wir  hoeren  sagen, 
das  er  lierre  waere  se  Pölän  lästerliche, 
sie  liegent  tobeliche,  es  enist  dem  maere  niht  geliclic. 

Eine  Andeutung,  wie  die  Sage  den  Hagene  nach  Polen 
verlegen  konnte,  findet  sich  bei  Saxo  Grammaticus.  Er 
macht  den  Höginus,  .  einen  jütischen  Unterkönig  (regulus) 
zum  Vasallen  des  Frotho  III,  dem  er  im  Kriege  gegen  die 
Slaven  hilft,  nach  deren  Besiegung  Frotho  ihr  Land  an 
seine  Unterkönige  vertheilt.  Es  wäre  möglich,  dass  man 
auch  dem  Höginus  eine  slawische  Provinz  zugetheilt  und 
dass  daraus  in  einer  weiter  fortgesponnenen  Erzählung 
Polen  geworden.  Diess  wird  wohl  die  einzige  Stelle  sein, 
in  der  ich  von  Haupts  Gudrunemendationen  abweiche. 

(Der  Schluss  im  folgenden  Hefte). 


Seidel:  Gegcnivärtige  Genauigkeit  der  Wägungen.  231 


Mathematisch  -physikalische  Classe. 

Sitzung  vom  6.  Juli  1867. 


Herr  Seidel  hielt  einen  Vortrag,  betr.: 

„Einen  Beitrag  zur  Bestimmung  der  Grenze 
der  mit  der  Wage  gegenwärtig  erreichbaren 
Genauigkeit". 

Die  Beurtheilung  der  Sicherheit,  welche  den  aus  Be- 
obachtungen abgeleiteten  Zahlengrössen  beigelegt  werden 
darf,  bildet  bekanntlich  in  den  verschiedenen  Zweigen  der 
Messkunst  keine  leichte  Aufgabe ,  soferne  man  überhaupt 
darauf  ausgegangen  ist,  die  Hilfsmittel  der  Beobachtung  und 
ihrer  Keduction  bis  zu  der  Grenze  ihrer  Leistungsfähigkeit 
wirklich  in  Anspruch  zu  nehmen.  Es  ist  eine  notorische 
Erfahrung,  dass  aufeinanderfolgende  Messungen  ein  und 
und  derselben  Grösse,  oder  überhaupt  Beobachtungen,  welche 
mit  einerlei  instrumentalen  Mitteln,  unter  ähnlichen  Um- 
ständen gemacht  sind,  fast  jederzeit  genauer  unter  sich 
stimmen,  als,  nach  Berücksichtigung  aller  Reductionen,  ihre 
Resultate  mit  denjenigen  zusammengehen ,  welche  man  mit 
anderen  Hilfsmitteln  oder  nach  Verfiuss  längerer  Zeit  erhält; 
—  so  dass  die  Zuverlässigkeit  der  Zahlen  beinahe  gewiss 
überschätzt  wird,  wenn  man  sie  lediglich  nach  dem  „wahr- 
scheinlichen Fehler"  taxiren  will,  wie  er  aus  dem  einseitigen 
Materiale  nach  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  sich  er- 
giebt.  Natürlich  folgt  hieraus  nicht,  dass  die  Wahrschein- 
lichkeitsrechnung, in  welcher  die  genannte  Methode  begründet 
ist,  das  Urtheil  irre  führt;  denn  es  ist  ja  eine  ausdrück- 
liche Voraussetzung,    die  bei  der  betreffenden  Probabilitäts- 


232  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vorn  6.  Juli  1867. 

Untersuchung  zu  Grunde  gelegt  wird,  dass  positive  und 
negative  Beobachtungs fehler  mit  gleicher  Leichtigkeit  sich 
ergeben  können,  —  oder  mit  andern  Worten:  dass  con- 
stante  Fehler  ausgeschlossen  sind.  In  Wirklichkeit  ist  es 
kaum  jemals  möglich,  diese  Bedingung  genau  zu  realisiren: 
Einflüsse  untergeordneter  Art,  welche  während  gewisser 
Zeit  oder  bei  dem  Gebrauche  der  gleichen  Instrumente  etc. 
in  constantem  Sinne  agiren ,  werden  sich ,  w^enn  die  Sache 
genau  betrachtet  wird,  fast  immer  nicht  nur  als  möglich, 
sondern  selbst  als  höchst  wahrscheinlich  vorhanden  erkennen 
lassen;  —  und  wenn  wir,  ungeachtet  der  Einsicht  hievon, 
doch  die  Methode  der  kleinsten  Quadrate  auf  derlei  Fälle 
anwenden,  die  ihren  Voraussetzungen  nicht  entsprechen,  so 
geschieht  es  deshalb,  weil  uns  die  Mittel  fehlen,  die  gesetz- 
mässige  Art  des  Wirkens  jener  Einflüsse  zu  verfolgen,  oder 
auch  nur  zu  beurtheilen,  ob  in  dem  einzelnen  gerade  vor- 
liegenden Falle  die  Wahrscheinlichkeit  der  positiven  oder 
die  der  negativen  Beobachtungsfehler  durch  sie  ein  Ueber- 
gewicht  erhalten  hat.  Es  würde  überdies  unmöglich  sein, 
jedesmal  je  nach  der  besonderen  Bedingtheit  der  vorliegen- 
den Beobachtungen  die  ihr  individuell  entsprechende  Wahr- 
scheinlichkeits-Aufgabe strenge  zu  lösen,  so  wie  sie  für 
jenen  einfachsten  und  gewissermassen  normalen  Fall  durch 
die  Aufstellung  der  Methode  der  kleinsten  Quadrate  gelöst 
ist.  Immerhin  mag  man  auch  da,  wo  entstellende  Einwirk- 
ungen constanter  Art  nicht  undenkbar  sind,  den  sogenannten 
„wahrscheinlichen  Fehler"  ableiten  und  ihn  aufführen  als 
einen  bequemen  und  allgemein  verständlichen  Gradmesser 
für  die  Uebereinstimmung  der  einzelnen  Messungen  unter 
sich:  nur  darf  man  nicht  sich  der  Täuschung  hingeben, 
(von  welcher  Niemand  entfernter  war,  als  die  grossen  Ur- 
heber jener  Methode),  als  ob  seine  Herleitung  die  sorg- 
fältige Würdigung  der  Umstände  der  Messung  und  der  für 
die  Elimination    constanter  Fehler    getroffenen  Cautelen  un- 


Seidel:  Gegenwärtige  Genauigkeit  der  Wägungen.  233 

nöthig  machte.  Der  Fall  ist  sehr  wohl  denkbar,  dass  unter 
zweierlei  Beobachtungsresultaten ,  die  durch  verschiedene 
Methoden  für  dieselben  Grössen  erlangt  worden  sind,  die- 
jenigen, welche  einseitig  berechnet  den  kleineren  wahrschein- 
lichen Fehler  zeigen,  gleich  von  vornherein  und  sogar  wegen 
der  Kleinheit  dieses  Fehlers  für  die  schlechteren  zu  halten 
sind:  nemlich  dann,  wenn  Verdacht  besteht,  dass  ihre  ge- 
naue Uebereinstimmung  desshalb  zu  Stande  kam ,  weil 
Fehlerursachen  constant  wirkten,  die  in  dem  besser  ein- 
gerichteten Beobachtungssystem  bald  auf  die  eine  bald  auf 
die  andere  Seite  fallen  und  so  den  apparenten  wahrschein- 
lichen Fehler  vergrössern  mussten ;  —  ganz  so  wie  unter 
Umständen ,  ebenfalls  nach  den  Principien  der  Wahrschein- 
lichkeitslehre, die  Aussagen  zweier  Zeugen  darum  verdächtig 
werden  können ,  weil  sie  gar  zu  genau  übereinkommen. 
Massen-Vergleichungen  mittelst  der  Wage  gehören  in 
vielem  Betracht  zu  den  einfachsten  und  desshalb  begünstigten 
Beobachtungen.  Dennoch  ist  es  schwer,  wenn  man  die 
letzte  Genauigkeit  anstrebt,  bestimmt  festzustellen,  wie  weit 
sie  eigentlich  geht.  Nach  einander  gemachte  Messungen 
derselben  Gewichtsdifferenz  zeigen  leicht  einen  hohen  Grad 
von  Uebereinstimmung:  ebenso  leicht  trifft  es  sich  aber, 
dass  man  an  einem  andern  Tage  aus  nicht  minder  gut 
unter  sich  harmoniienden  Bestimmungen  ein  Resultat  erhält, 
welches  nach  allen  Reductionen  um  das  Zehnfache  des  ein- 
seitig abgeleiteten  , .wahrscheinlichen  Fehlers"  von  dem  erst 
gefundenen  abweicht.  Sehr  häufig  wird  eine  Unsicherheit 
über  das  genaue  Gewicht  der  von  den  aufgelegten  Massen 
verdrängten  wasserhaltigen  Luft  die  Eutstehung  solcher 
Differenzen  erklären.  In  diesem  Falle  hat  man  einen  Theil 
der  Genauigkeit,  die  der  Akt  der  Wägung  an  sich  gewährt, 
verloren  durch  ihre  nothwendig  unvollkommene  Reduction. 
Wollte  man  aber  zur  Vermeidung  dieses  Uebelstandes  die 
Wage  in  ein  Vacuum  bringen,  so  wird  man  in  den  meisten 


234  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Fällen  durch  die  Unbequemlichkeit  der  Einrichtung  veran- 
lasst sein,  die  Vergleichung  nicht  so  oft,  als  sonst  leicht 
geschehen  könnte,  zu  wiederholen,  und  so  auf  anderer  Seite 
einen  Theil  der  erreichbaren  Genauigkeit  aufzuopfern.  Dazu 
kommt,  dass  es  überhaupt  schwer  ist,  sich  der  Unveränder- 
lichkeit  der  Massen  bis  in  die  letzten  Grössen,  für  welche 
die  Wage  sensibel  ist,  zu  versichern,  dass  man  also,  während 
der  Zeit  nach  sich  nahe  liegende  Beobachtungen  leicht  von 
constanten  Fehlern  entstellt  sind,  zwischen  solchen  entfern- 
terer Epochen  eine  Veränderung  an  den  gewogenen  Körpern 
als  möglich  in  Betracht  ziehen  inuss.  Die  beiden  französi- 
schen Kilogramme-Etalons  von  Piatina,  der  Archive  und  der 
Sternwarte,  sind  bekanntlich  von  der  mit  ihrer  Herstellung 
betrauten  Commission  für  identisch  erklärt  worden ,  waren 
also  ursprünglich  jedenfalls  um  weniger  als  ein  Milligramm 
verschieden:  im  Jahre  1837  ergaben  sieben  auf  Arago's 
Veranlassung  von  Gainbey,  Steinheil  und  von  ihm  selbst  an 
vier  Tagen  vorgenommene  Vergleichungen  übereinstimmend 
einen  Unterschied  von  4,5  Milligrammen  J),  der  wahrschein- 
lichsten Annahme  nach  herrührend  von  einer  allmählich 
eingetretenen  Verunreinigung  der  Oberfläche  des  Kilogram- 
mes  der  Sternwarte  (als  des  öfter  benützten)  durch  adhäri- 
rende  fremde  Theilchen ,  die  wegen  der  Weichheit  der 
Piatina  nicht  ohne  Gefahr  zu  entfernen  sein  würden.  Ge- 
wichte aus  anderen  Metallen  sind  aber  ähnlichen  Aender- 
ungen  aus  anderer  Ursache  ausgesetzt.  Ein  genau  aus- 
gewogener Kilogramm -Einsatz,  der  aus  13  Stücken  besteht, 
die  zusammen  einen  Würfel  bilden,  und  mit  welchem  Stein- 
heil und  ich  1843/4  viele  sorgfältige  Wägungen  ausführten, 
verlor  vom  9.  November  1843  bis  6.  Januar  1844  6,9  Milli- 
grammen; weiter    von  da  bis  Ende  Juni,    während  welcher 


1)  S.  Steinheü's  Abhandlung  in  den  Denkschriften  der  Münchner 
Akademie.  1844.   p.  77. 


Seidel:  Gegenwärtige  Genauigkeit  der  Wägungen.  235 

Zeit  das  specifische  Gewicht  seiner  einzelnen  Stücke  be- 
stimmt worden  war,  7,6  M. ;  dann  durch  einmaliges  Ab- 
waschen seiner  Stücke  wieder  4,3  M. ;  im  Ganzen  also  in 
drei  Vierteljahren  18,8  M.  Ein  anderer  ähnlicher  Einsatz, 
dessen  Oberflächen  sämmtlich  zu  genauen  Ebenen  geschliffen, 
dann  auf  galvanischem  Wege  stark  vergoldet  und  zu  Spiegeln 
poliert  worden  waren,  nahm  zu  von  1844  Juli  12.  bis 
Novbr.  1.  um  3,2  M.  Am  27.  Juli  war  das  specifische  Ge- 
wicht des  Halbkilogramm-Stückes  (zum  zweitenmale)  bestimmt 
worden,  sonst  aber  der  Einsatz  unberührt  und  wohl  ver- 
wahrt gestanden.  Durch  absichtlich  vorgenommenes  Ab- 
waschen verloren  diese  Gewichte  am  3.  November  nur 
0,5  M. ,  dann  am  gleichen  Tage  durch  ein  wiederholtes 
Waschen  mit  Seifenwasser  noch  0,6  M. ;  also  zusammen 
1,1  M.,  so  dass  noch  immer  von  3x/2  Monaten  eine  Gewichts- 
zunahme um  2,1  M.  übrigblieb,  welche  nicht  von  Unreinigkeit 
der  Oberfläche  herrühren  konnte  (die  einzelnen  Stücke  waren 
beim  Gebrauch  stets  ganz  blank  und  spiegelnd) ,  und  die 
vielleicht  am  ersten  auf  Rechnung  einer  unter  der  Vergold- 
ung vor  sich  gehenden  Oxydation  des  Messings  zu  setzen 
ist.  Diese  und  noch  einige  ähnliche  Erfahrungen  über  die 
Veränderlichkeit  der  Metallgewiehte  gaben  damals  Veran- 
lassung, in  der  Werksätte  der  mathematisch-physikalischen 
Sammlung  einen  vollständigen  Einsatz  aus  Bergkrystall  her- 
stellen zu  lassen,  bestehend  aus  einem  Kilogramme-Stücke 
(welches  direct  mit  dem  vorher  in  Paris  durch  das  Original 
der  Archive  bestimmten  und  später  nach  Neapel  verkauften 
Repsold'schen  Bergkrystall- Kilogramme  verglichen  worden 
ist),  zwei  halben  Kilogrammen  etc.  bis  herab  zur  Gramme, 
in  Allem  15  Cyliuder  (die  Kanten  durch  Kugeliacetten  ab- 
gerundet) ,  von  höchst  vollkommener  Gestalt  und  Politur 
der  Oberflächen.  Da  wir  allen  Grund  hatten ,  diesen  Ge- 
wichten ,  die  man  vor  dem  jedesmaligen  Gebrauche  unbe- 
denklich mit  Weingeist  waschen  darf,    viel  grössere  Uli  vor- 


236  Sitzung  der  math.-phys.  Gasse  vom  6.  Juli  1867. 

änderlichkeit  als  den  metallenen  zuzuschreiben,  so  wurden 
dann  im  Jahre  1846  durch  eine  grosse  Beobachtungsreihe, 
die  wesentlich  von  mir  herrührt,  ihre  Werthe  möglichst 
sorgfältig  bestimmt,  damit  für  weitere  Gewichtsuntersuch- 
ungen der  Apparat  ein  für  allemal  hergestellt  sei.  Ich 
setzte  mir  damals  zum  Ziel,  die  relativen  Werthe  dieser 
Stücke,  d.  h.  ihre  Verhältnisse  zum  grössten,  bis  auf  ein 
paar  Hundertmilliontel  des  letzteren  zu  bestimmen.  Die 
Unsicherheit  in  Betreff  der  Luftgewichte,  von  welcher  vorher 
die  Sprache  war,  fällt  nämlich  vollkommen  fort,  wenn  man 
Bergkrystall  mit  Bergkrystall  vergleicht,  weil  hier  gleiche 
Massen  auch  gleiche  Volumina  bedingen.  In  dieser  Beziehung 
lagen  uns ,  schon  als  der  Einsatz  hergestellt  wurde  (dessen 
Stücke  übrigens  alle  von  demselben  Krystall-Blocke  her- 
rühren) die  Bestimmungen  der  specifischen  Gewichte  von 
sechs  verschiedenen  Krystall-Körpern  vor,  deren  Einer  aus 
Brasilien,  ein  zweiter  aus  Madagaskar  stammte,  während 
die  übrigen  wahrscheinlich  europäischen  Ursprungs  sind;  — 
für  diese  alle  hatten  wir,  auf  so  viel  Stellen  als  überhaupt 
verbürgt  werden  können ,  gleiche  specifische  Gewichte  er- 
halten, indem  die  grösste  gefundene  Abweichung  vom  Mittel- 
werth  sich  auf  0,00005  stellte,  welche  Differenz,  wenn  sie 
selbst  reell  wäre,  doch  bei  der  Masse  von  1  Kilogramm 
das  Gewicht  der  verdrängten  Luft  noch  nicht  um  0,01  M. 
verändern  würde2).  Die  weiteren  Untersuchungen,  für 
welche  die  Herstellung  jenes  Einsatzes  als  Vorarbeit  dienen 


2)  Unmittelbare  Wägungen  im  Wasser  von  der  grössten  Dichtig- 
keit geben  das  specifische  Gewicht  des  Bergkrystalls  =  2,65479. 
Aus  den  Wägungen  bei  höherer  Temperatur  hatten  wir  mittelst  der 
Hallström'schen.  von  Bessel  reproducirten  Tafel  für  die  Ausdehnung 
des  Wassers  zuerst  einen  kleineren  Werth  abgeleitet  (vgl.  Steinheil 
a.  a.  0.)  in  Folge  der  Unrichtigkeit  dieser  Tafel. 


Seidel:  Gegenwärtige  Genauigkeit  der  Wägungen.  237 

sollte,  sind  nur  zum  Thuil  ausgeführt  worden :  bei  ihrer 
Unterbrechung  durch  Steinheil's  damalige  Uebersiedelung 
nach  Wien  blieben  die  mit  bedeutenden  Kosten  hergestellten 
Gewichte  sein  Privat-Eigenthum.  Neuerlich,  als  die  Verhand- 
lungen wegen  eines  gemeinschaftlichen  deutschen  Maasses 
und  Gewichtes  dem  Gegenstand  ein  erneutes  Interesse  gaben, 
hat  die  betreffende  Commission  der  IL  Classe  der  k.  Akad. 
d.  W.  Anlass  genommen,  der  k.  Staatsregierung  die  Er- 
werbung dieser  Stücke  für  Bayern  anzuempfehlen ,  jedoch 
ist  den  desfallsigen  Elitschliessungen  das  Oesterreichische 
Gouvernement  zuvorgekommen,  und  hat  die  Wiener  Aka- 
demie in  den  Besitz  derselben  gebracht.  Sie  wurden  Ende 
März  an  den  österreichischen  Bevollmächtigten  übergeben; 
ehe  dies  geschah,  hat  mir  auf  meinen  Wunsch  das  bereit- 
willige Entgegenkommen  des  Hrn.  Professors  Schrötter, 
General-Sekretärs  der  kais.  Akademie,  und  des  Hrn.  Ministerial- 
Raths  Steinheil  die  Gelegenheit  verschafft,  einige  meiner  alten 
Gewichtsvergleichungen  zu  wiederholen.  Es  lag  mir  daran, 
ehe  diese  Stücke  für  immer  von  hier  fort  kamen,  mich 
selbst  von  der  Genauigkeit  meiner  früheren  Arbeit  noch- 
mals zu  überzeugen,  und  es  schien  mir,  dass  es,  gegenüber 
den  mit  Metallgewichten  gemachten  Erfahrungen,  von  wesent- 
lichem Werthe  sein  würde,  wenn  der  positive  Nachweis  einer 
viel  grösseren  Unveränderlickeit  unserer  Krystallkörper  durch 
eine  nach  zwanzig  Jahren  vorgenommene  Controlbestim- 
mung  geführt  werden  könnte.  Dazu  kommt  noch,  dass  das 
Eine  der  zur  Vergleichung  gebrachten  Stücke  auch  noch 
für  uns  in  München  die  Continuität  mit  dem  Original-Ge- 
wichte der  Archive  in  Paris  erhält:  das  Halb-Kilogramm- 
Stück  war  nemlich  in  Bergkrystall  deshalb  in  duplo  her- 
gestellt wrorden,  weil  das  erste  Exemplar  in  Folge  zu  rascher 
Erkältung  nach  dem  Poliren  im  Innern  einen  irisirenden 
Sprung  erhalten  hatte,  der  sich  bis  an  die  Oberfläche  erstreckt, 
[1867.  II.  2.]  IG 


238  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

obgleich  an  derselben  nicht  die  geringste  Unterbrechung  der 
Continuität  mit  dem  Nagel  zu  spüren  ist;  es  wurde  darum 
dem  jetzt  verkauften  Einsätze  nicht  einverleibt,  war  aber 
schon  in  die  alten  Vergleichungen  von  mir  mit  hineingezogen 
worden,  weil  sich  bald  zeigte,  dass  der  Sprung  seine  Un- 
veränderlichkeit  auf  der  Wage  nicht  beeinträchtigte.  Die 
Summe  der  beiden  halben  Kilogramme  hatte  ich  1846  be- 
sonders sicher ,  durch  45  Abwägungen ,  mit  dem  ganzen 
Kilogramme  verglichen:  für  ihre  Differenz  (die  allerdings 
bei  kleinerer  Belastung,  also  grösserer  Empfindlichkeit,  der 
Wage  gemessen  und  deshalb  schneller  mit  der  gleichen 
Genauigkeit  erhalten  wird)  lagen  viel  weniger  Beobachtungen 
vor,  und  die  Wiederholung  dieser  Vergleichung,  zu  möglichst 
sicherer  Bestimmung  der  beiden  Halben  durch  das  Ganze, 
war  deshalb  zunächst  angezeigt.  Für  die  zweite  Controle 
wählte  ich  die  erneute  Vergleichung  des  Stückes  von  zwei 
Hektogrammen  mit  den  beiden  von  ein  Hektogramm ,  weil 
ich  in  den  Originalpapieren  der  alten  Wägungen  eine  1846 
gemachte  Notiruug  gefunden  hatte,  dass  diese  Verbindung, 
als  etwas  unsicherer  bestimmt,  gelegentlich  zu  wieder- 
holen sei. 

Meine  diesmaligen  Beobachtungen  fielen  in  die  Tage 
vom  13.  bis  27.  März  1867;  es  war  mir  dazu  der  südliche 
Saal  der  mathem.-physikal.  Sammlung  des  Staates,  in  wel- 
chem der  Heliostat  angebracht  ist,  eingeräumt,  und  in  dem- 
selben die  Steinheil'sche  Schneidewage  an  der  Wand  gegen 
den  südöstlichen  Arbeitssaal  in  ihrem  Kasten  aufgestellt 
worden.  Beide  Säle  blieben  ungeheizt,  und  ich  hielt  die 
Läden  desjenigen,  in  welchem  die  Wage  stand,  grössten- 
theils  geschlossen,  und  verweilte  in  ihm  nur,  während  es 
zum  Ablesen  und  dann  zum  Umsetzen  der  Gewichte  nöthig 
war:  in  Folge  dieser  Vorsicht  zeigte  das  Reaumursche 
Thermometer  am  Barometer  kaum  Schwankungen  von 
Vio    Grad     während     der  Beobachtungen   eines   Vor-    oder 


Seidel:  Gegenwärtige  Genauigkeit  der  Wägungen.  239 

Nachmittags.  Die  vortreffliche  mit  drei  auf  Achatplatten 
spielenden  Schneiden  versehene  Wage,  die  schon  zu  den 
früheren  Bestimmungen  gedient  hatte  (Eine  von  mehreren 
ganz  ähnlich  hergestellten)  ist  von  Steinheil  an  anderem 
Orte  beschrieben ;  ihr  Balken  trägt  über  seiner  Mitte 
einen  kleinen  Planspiegel,  der  auf  eine  etwa  12  Fuss 
entfernte  Scala  weist,  an  welcher  die  Ausschläge  nach 
dem  Poggendorf-Gauss'schen  Principe  durch  das  auf 
den  Spiegel  gerichtete  feststehende  Fernrohr  abgelesen  wer- 
den. Es  galt  mir,  meinen  früheren  Erfahrungen  nach,  als 
Regel ,  die  Wage  stets  nach  Umsetzen  der  Gewichte  eine 
Viertelstunde  lang  frei  schwingen  zu  lassen,  während  sich 
Niemand  im  Zimmer  befand,  damit  im  Innern  ihres  Kastens 
die  Luftströmungen  sich  beruhigen  und  die  Temperaturen 
sich  ausgleichen  könnten;  nach  Ablauf  dieser  Zeit  zeigte 
sich'  im  Fernrohre  die  Ruhe  und  Gleichmässigkeit  der 
Schwingungen  nur  beeinträchtigt  durch  vorübergehende  in 
dem  Lokale  nicht  zu  vermeidende  Erschütterungen  von  vor- 
beifahrenden Wägen ;  wenn  zwei  nach  derselben  Seite  er- 
folgende Ausschläge  bis  auf  ein  paar  der  geschätzten  Zehntel 
eines  Scalentheils  gleiche  Ablesung  gaben  (wie  dies  bei 
ruhigem  Gange  der  Wage  immer  der  Fall  war),  so  wurde 
der  Mittel werth  beider  mit  der  der  Zeit  nach  zwischen  sie 
fallenden  Ablesung  der  entgegengesetzten  äussersten  Elonga- 
tion  zu  einem  Mittel  verbunden  ,  welches  als  die  Ablesung 
der  Gleichgewichtslage  der  Wage  galt.  Die  Abwägungen 
selbst  wurden  nach  der  Methode  von  Gauss  gemacht,  indem 
die  beiden  zu  vergleichenden  Körper  sich  gleichzeitig  auf 
den  beiden  Schalen  der  Wage  befanden,  und  zwischen  den- 
selben altcrnirten.  Der  Werth  des  Auscchlags  von  einem 
Scalentheil  wurde  mittelst  der  sehr  genau  bekannten  kleinen 
Gewichte  von  Piatinadraht  bestimmt,  über  welche  ich  zu- 
letzt noch  Einiges  beibringen  werde,  natürlich  zu  wieder- 
holten Malen    und    zwar    bald   durch  Umsetzen  des  kleinen 

16* 


240         Sitzung  der  math.-pliys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Gewichtes  allein,  bald  auf  die  Art,  dass  durch  Hinzufügüng 
eines  solchen  zu  der  leichteren  der  beiden  grösseren  Massen 
die  Differenz  auf  die  entgegengesetzte  Seite  gebracht  wurde. 
Dieses  letztere  Verfahren  ist  etwas  unbequemer  als  das 
erste,  giebt  aber  eine  vollkommnere  Elimination  der  von 
Unsicherheit  des  Scalenwerthes  herrührenden  Fehler.  Uebri- 
gens  ist  bei  derselben  Wage  der  Scalenwerth  natürlich  ab- 
hängig von  der  Entfernung  zwischen  Scala  und  Wage  und 
von  der  Grösse  der  Belastung;  diesmal  wurde  er  für  Be- 
obachtungen nach  dem  Gauss'schen  Princip  gefunden  wie  folgt : 

„  .   ..      „  .         Gewichtsdifferenz,  welcher  der  Aus- 
Last  auf  jeder  Seite.        ,  .  _;.    a    ,     ,,    .,      ,      ... 
J                       schlag  von  Em  bcalentheil  entspricht. 

0,5  Kilogramm  0,0403  Milligramm. 

0,2  „  .         .         0,0200 

0,191      „  .         .         0,0184 

Für  den  Gewichtsunterschied  der  beiden  Krystall- 
Cylinder  von  0,5  Kilogramm  (unter  welchen  der  mit  dem 
Sprung  der  schwerere  ist)  lagen  mir  folgende  alte  Beob- 
achtungen vor: 

1)  4  direkte  Vergleichungen  vom  Jahre  1846 

hatten  ergeben 3,503  Milligr. 

2)  2  noch   früher    von  Steinbeil   angestellte 

(etwas  weniger  sichere)  ....     3,542       „ 

3)  10  weitere,  in  den  ersten  Monaten  1847 

von  mir  gemacht     .....     3,431       ,, 

4)  Aus  10  Vergleichungen  des  nicht  gesprun- 
genen Stückes  mit  der  Summe  aller 
kleineren  Krystallgewichte  und  aus  5,5 
solchen  des  andern  mit  derselben  Summe 
folgte    indirect,    mit   dem  Gewichte   von 

3,55  direkten  Vergleichungen  (1846)       .     3,410       ,, 
Im  Hauptresultate  dieser  4  alten  Bestirn- 
mungsreihen  (20  Messungen)  ergab  sich,  mit 
Rücksicht  auf  ihre  Gewichte         .         .         .     3,453  Milligr. 


Seidel:  Gegenwärtige  Genauigkeit  der  Wägungen.  241 

Am  3.  März  des  laufenden  Jahres  machte  M.-R.  Stein- 
heil mit  einer  in  seiner  Wohnung  aufgestellten  Wage  die 
ersten  neuen  Beobachtungen :  die  Gewichte  waren  zuvor 
sorgfältig  abgewischt,  aber  nicht,  wie  es  mir  als  Regel  galt, 
auch  mit  Weingeist  abgewaschen  worden;  sie  schienen  ganz 
rein.  Der  Unterschied  fand  sich  jetzt  aus  5  Abwägungen 
=  3,557  M.  Da  diese  Vergrößerung  seines  Werthes  auffiel, 
so  untersuchte  Steinheil  die  Oberflächen  nochmals  genau, 
und  fand  jetzt  auf  derjenigen  des  schwereren  Stückes  zwei 
kleine,  wahrscheinlich  von  Fliegen  herrührende  Flecken, 
welche  weggewaschen  wurden;  ein  paar  vorläufige  Beobacht- 
ungen zeigten  sogleich,  dass  diese  schwer  wahrnehmbare 
Verunreinigung  die  Ursache  der  Differenz  gegen  das  alte 
Mittel  gewesen  war.  Die  Gewichte  kamen  jetzt  in  meine 
Hände;  es  ergaben  mir 
5)   12  Vergleichungen  von  März  13.  bis  16.     3,394  Milligr. 

In  den  nächstfolgenden  Tagen  wurde  vom  Mechaniker 
noch  eine  Justirung  am  Sperrwerk  vorgenommen,  durch 
welches  jedesmal  zwischen  zwei  Beobachtungen  der  Wage- 
balken von  den  Achatplatten,  auf  welchen  seine  Schneide 
ruht,  und  die  Wagschalen,  die  ihrerseits  mit  Achatplatten 
über  den  beiden  Endschneiden  des  Balkens  spielen,  von 
diesen  letzteren  sich  abheben.  Beim  Lösen  dieser  Arretirung 
hatte  nemlich  zuweilen  die  eine  Schale  durch  eine  Reibung 
zwischen  dem  Arme  des  Sperrwerks  und  der  Fassung  ihres 
Steines  einen  Anstoss  erhalten ,  der  die  Regelmässigkeit  der 
Initialschwingungen  beeinträchtigte.  Unterdessen  unterzog 
ich  auch  die  Krystalle  nochmals  einer  sorgfältigen  Reinig- 
ung mittelst  feiner  Seife,  die  vom  Ballen  der  Hand  aus 
nass  aufgerieben  und  dann  mit  reinem  Wasser  abgewaschen 
wurde,  und  mit  Weingeist.  Die  hiernach  am  21.  und  22.  März 
vorgenommenen  neuen  Wägungen  ergaben 
0)  mit  dem  Gewichte  von  14,5  Bestimmungen  3,455  Milligr. 
Daher  im  Mittel  aller  2G,5  neuen  Wägungen  3,431       „ 


"242  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

wenn  man  den  Einzelbeobachtungen  der  Reihe  6,  bei  wel- 
cher die  Wage  in  besserer  Ordnung  war,  gegenüber  den- 
jenigen der  Reihe  5  ein  im  Verhältnisse  von  4:3  grösseres 
Gewicht  beilegt. 

Das  Hauptmittel  aus  allen  alten  und  neuen  Beobacht- 
ungen wird  dann  (da  ihre  Gesammtgewichte  sich  sehr  nahe 
wie  20  :  25  oder  wie  4 :  5  verhalten)  : 

3,440  M.; 
vom  Mittel  der  alten  allein  abweichend  um  — 0,013,  von 
dem  der  neuen  allein  um  -+-  0,009.  Man  bemerkt  noch, 
dass  unter  den  alten  Wägungsreihen  die  sicherste  (Nr.  3) 
ein  Resultat  giebt,  welches  mit  dem  Mittel  aller  neuen 
(3.431)  genau  übereinstimmt;  umgekehrt  trifft  das  Ergebniss 
der  sichersten  unter  den  beiden  neuen  Reihen  (3,455)  bis 
auf  0,002  M.  überein  mit  dem  Gesammtmittel  der  alten 
Reihen. 

Es  haben  also  hier  Wägungen,  welche  um 
20  Jahre  auseinanderliegen,  für  die  gesuchte  Ge- 
wichtsdifferenz Zahlen  gegeben,  die  keine  Spur 
eines  constanten  Unterschiedes  erkennen  lassen, 
und  völlig  ebenso  gut  zusammenstimmen,  als  die 
einzelnen  bald  nach  einander  erhaltenen  Reihen 
unter  sich.  Zugleich  darf  man,  da  das  definitive  Mittel 
bis  auf  +0,01  Milligrammen  mit  den  beiden  Separatmitteln 
übereinkommt ,  demselben  einen  hohen  Grad  von  Sicherheit 
beilegen.  Der  wahrscheinliche  Fehler,  nach  den  Regeln  der 
Methode  der  kleinsten  Quadrate  berechnet ,  findet  sich  für 
eine  einzelne  Bestimmung  0.0265  und  für  das  allgemeine 
Mittel  der  sechsundvierzig  Wägungen  0,00391;  wenn  man 
aber  auch  annimmt,  (wie  ich  es  thue),  dass  das  letztere 
noch  um  +  0,01  Miligrammen  unsicher  sein  kann,  d.  h. 
um  soviel  als  es  von  jedem  der  beiden  einseitigen  Mittel 
abweicht,  —  so  macht  dies  nur  den  50  Millionsten  Theil 
einer  jeden   der   beiden    mit   einander   verglichenen    Massen 


Seidel:  Gegenwärtige  Genauigkeit  der  Wägungen.  243 

aus.  Man  verdankt  die  Möglichkeit,  solche  Genauigkeit  zu 
erreichen,  der  chemischen  Unveränderlichkeit  und  der  Härte 
des  Materiales  der  Gewichte,  durch  welche  allein  die  un er- 
lässlich nothwendige  scrupulöseste  Reinhaltung  der  Ober- 
flächen unbedenklich  gemacht  wird.  Wo  die  günstigsten 
Umstände,  wie  in  unserem  Falle,  vorhanden  sind,  ist  man 
in  der  That  berechtigt  zu  sagen,  dass  die  Genauigkeit  der 
Wägungen  weiter  geht,  als  die  irgend  welcher  anderer 
Messungen.  Ein  fünfzig  Millionstel  des  Ganzen  würde  z.  B. 
auf  die  analytische  Einheit  des  Winkels,  neinlich  denjenigen, 
dessen  Bogen  dem  Radius  gleich  ist,  nur  ausmachen  0,004 
Bogensekunden,  d.  i.  eine  Grösse ,  bis  zu  welcher  die  Un- 
sicherheit in  der  Messung  eines  solchen  Winkels  durchaus 
nicht  herabgebracht  werden  kann. 

Für  die  zweite  Controle  war,  wie  schon  oben  erwähnt, 
die  wiederholte  Vergleichung  des  Cylinders  von  0,2  Kilo- 
gramm mit  den  beiden  von  0,1  Kilogramm  ausgewählt 
worden.  Aus  drei  Wägungen  von  1846  war  das  erstere 
Gewicht  leichter  gefunden  worden  als  die  Summe  der  beiden 
anderen  um  1,787  Milligramme.  Sieben  neue  Bestimmungen 
(vom  22.  März  1867)  ergaben  identisch  dieselbe  Differenz, 
wobei  natürlich  der  Zufall  mit  im  Spiele  ist. 

Da  jede  Wage  nur  bei  einer  bestimmten  Belastung  das 
Maximum  ihre  Leistung  gewährt,  und  da  überdies  bei  ge- 
ringer Last  und  grosser  Empfindlichkeit  der  störende  Ein- 
fluss  von  Luftströmungen  und  anderen  Fehlerursachen  zu- 
nehmen muss,  so  werden  nothwendig  die  Unsicherheiten  in 
der  Bestimmung  sehr  kleiner  Massen  verhältnissmässig 
grösser,  als  bei  massig  grossen.  Die  absoluten  Werthe 
der  Unsicherheiten  aber  nehmen  allerdings,  auch  bei  unserer 
Wage,  für  kleinere  Gewichte  noch  weiter  ab.  Zum  Beweise 
kann  ich  die  Zahlen  anführen,  welche  durch  drei  verschie- 
dene und  von  einander  ganz  unabhängige  Auswägungen  für 
die  Gewichte   der  Platin-Drahtstücke    erhalten  worden  sind, 


244         Sitzung  der  math.-phys.  vom  (Rasse  6.  Juli  1867. 

welche  zu  unserem  Bergkrystall-Einsatz  die  Theile  abwärts 
von  der  Gramme  repräsentiren ,  und  die  jetzt  auch  mit 
nach  Wien  gekommen  sind. 

Zum  erstenmal  wurden  die  betreffenden  Stücke  im 
Januar  1844  auf  die  Art  bestimmt,  dass  sie  einzeln  ab- 
gewogen wurden  gegen  Stücke  eines  ähnlichen  Einsatzes  von 
Platindraht,  der  dem  Staatsrath  Schumacher  in  Altona 
gehörte  und,  dem  Decimalsystem  entsprechend,  Vielfache 
und  aliquote  Theile  von  dänischen  Grains  repräsentirte. 
Seine  Stücke  waren  von  Schumacher  1836  und  wiederholt 
1838  bestimmt  worden;  die  durchschnittliche  Differenz 
zwischen  beiden  Bestimmungen  (die  zusammengestellt  sind 
in  der  schon  citirten  x^bhandlung  Steinheil's  von  1844,  p.  55) 
war  0.013  Milligr.:  Einmal  erhebt  sich  der  Unterschied 
auf  0,039  m.  und  Einmal  ist  er  0,032  M.  Diese  Gewichte, 
welche  auch  schon  bei  Steinheil's  Vergleichungen  der  Pariser 
Originale  gedient  hatten,  waren  durch  Schumacher's  Güte 
nach  München  geliehen  worden.  Ihre  Vergleichung  mit  den 
unsrigen  wurde  noch  nicht  mit  der  Schneidewage  vor- 
genommen ,  sondern  mit  der  von  Steinheil  Anfangs  der 
vierziger  Jahre  construirten  Bandwage ,  bei  welcher  statt 
der  drei  Schneiden  Suspensionen  an  kurzen  und  schmalen, 
oben  und  unten  festgeklemmten  Stückchen  von  dünnem 
Seidenband  angeordnet  waren.  —  Bei  der  zweiten  Ver- 
gleichung, im  Juli  1844,  diente  bereits  die  Schneidewage; 
diesmal  wurde  die  Summe  der  vier  die  Ordnung  der  Deci- 
grammen  repräsentirenden  Stücke  unserer  Platin-Drähte  in 
Verbindung  gesetzt  mit  der  Gramme  des  oben  erwähnten 
Kilogramm-Einsatzes  von  vergoldetem  Messing ,  dessen  Ge- 
wichte damals  genau  bestimmt  worden  waren,  und  durch 
Vergleichung  zwischen  den  einzelnen  Stücken  der  Uebergang 
zu  den  kleineren  Tlieilen  gemacht.  Nach  demselben  Principe 
und  gleichfalls  mittelst  der  Schneidewage  wurde  die  dritte 
Bestimmung    1846    ausgeführt,     nur    beruht     sie    auf    den 


Seidel:  Gegenwärtige  Genauigkeit  der  Wägungen. 


245 


Grammen  des  Bergkrystall-Einsatzes.  —  In  den  drei  ersten 
Columnen  der  folgenden  Tabelle  sind  die  Werthe  neben 
einander  gestellt,  welche  durch  diese  verschiedenen  Beob- 
achtungsreihen für  dieselben  Gewichte  gefunden  wurden :  die 
vierte  Columne  enthält  die  definitiv  angenommenen  Werthe: 


I. 

IL 

III. 

Def. 

M. 

M. 

M. 

M. 

399,868 

399,789 

399,780 

399,780 

299,690 

299,587 

299,580 

299,580 

199,370 

199,354 

199,340 

199,314 

100,676 

100,661 

100,665 

100,662 

40,100 

40,099 

40,097 

40,098 

30,381 

30,390 

30,397 

30,394 

20,118 

20,126 

20,126 

20,126 

10,292 

10,265 

10,257 

10,261 

3,877 

3,901 

3,907 

3,904 

2,921 

2,909 

2,905 

2,907 

2,005 

1.978 

1,969 

1,973 

0,902 

0,920 

0,931 

0,926 

Die  Zahlen  der  ersten  Reihe  können  mit  denen  der 
zweiten  und  dritten  nicht  concurriren:  denn  die  Bandwage, 
die  sich  durch  die  Wohlfeilheit  ihrer  Herstellung  empfiehlt, 
stand  entschieden  hinter  der  Schneidewage  zurück.  Andrer- 
seits waren  die  Schumacher'schen  Gewichtchen  selbst  nicht 
mit  der  Sicherheit  bestimmt,  wie  die  unsrigen  es  durch 
die  zweite  und  dritte  Reihe  sind,  da  in  diesen  die  Differenz 
nur  Einmal  den  Werth  0,0 14 M.  erreicht,  —  und  es  ist 
auch  die  Methode  der  Bestimmung,  von  den  grösseren  Ge- 
wichten allmählich  herabzugehen,  besser  als  die,  Stück  für 
Stück  durch  Vergleichung  mit  bekannten  Massen  selbst- 
ständig zu  bestimmen.  Uebrigens  wTird  die  Uebereinstim- 
mung  der  Zahlen  sub  I.    mit    den  übrigen    in  der  Ordnung 


246         Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

der  Decigrammen,  wo  die    ersten  durchweg  etwas    zu  gross 
sind,    sehr   bedeutend    erhöht,    wenn   man    durch   einen   an 
allen    Zahlen    dieser    Reihe     anzubringenden    corrigirenden 
Factor  die  Summe  der  vier  grössten  Stücke  auf  ihren  besst- 
bestimmten  Werth  999,366  M.  (wie  er  der  dritten  Reihe  zu- 
gehört)  reducirt:     denn    die    Verhältnisse    der    einzelnen 
Gewichte   kommen  in    allen  dreien   noch   näher  überein  als 
die  absoluten  Werthe 3).   Die  definitiv  angenommenen  Zahlen 
in  der  vierten  Columne  wurden  aus  den  angeführten  Gründen 
blos  aus   II.  und   III.    abgeleitet:     sie    sind    einfache  Mittel 
aus    den    directen   Werthen  III    einerseits    und    den    durch 
eine  kleine  Reduction  der  eben  bezeichneten  Art  verbesserten 
Werthen  IL  andrerseits.    Nach  dieser  Reduction  der  Zahlen 
II.  (im  Verhältnisse  von  399,391 :  399,366)  beträgt  ihr  Unter- 
schied, sowie  derjenige  der  Zahlen  III.,  von  den  definitiven 
Werthen  in  sechs  Fällen  kein  Tausendtel  eines  Milligrammes, 
zweimal    nur    ein    Tausendtel,    etc.,     und    nur   Einmal    im 
Maximum    sechs   Tausendtel;     der   durchschnittliche    Werth 
für  die  Abweichung    der   definitiven  Zahl   von   den    beiden, 
deren  Mittel    sie    ist,    beträgt   0,0026,    oder   ein    Vierhun- 
derttel  Milligramm.     Bis   auf  diese  Grösse    bei   den  Unter- 
abtheilungen der  Gramme,  und  bis  auf  ein  Hundertel  Milli- 
gramm   bei  verglichenen  Massen  von     x|2   Kilogramm   kann 
also  die  Unsicherheit  der  Bestimmung  zurückgedrängt  werden, 
und  es  ist   demnach    eine    berechtigte  Forderung,    dass   bei 
Gewichten,  die  nicht  allein  dem  öffentlichen  Verkehr  dienen, 
sondern    auch    für    wissenschaftliche   Präcisionsarbeiten    zur 
Grundlage  geeignet  sein  sollen,   für  die  faktisch  erreich- 
bare Unveränderlichkeit  innerhalb  so  kleiner  Grössen  künftig 
immer  vorgesorgt  werde. 


3)  Es  versteht  sich,  dass  bei  Berechnung  der  Reihen  II.  u.  III. 
die  Luftgewichtsunterschiede  von  Platin  gegen  Messing  und  Berg- 
krystall  in  Rechnung  gezogen  sind. 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  247 


Herr  Kuhn  trägt  vor: 

„Bemerkungen  über  Blitzschläge". 

Vor  einem  Jahre  hatte  ich  die  Ehre,  der  hochverehr- 
lichen  Classe  über  zwei  Blitzesereignisse  zu  berichten  *),  die 
als  geeignet  erschienen,  um  die  gewöhnlichen  Vorstellungs- 
weisen über  die  Wirkung  von  Gewitterwolken  gegen  irdische 
Objecte  und  über  die  Entstehung  eines  sogenannten  Blitz- 
schlages in  sachgemässer  Weise  zu  berichtigen. 

Bei  jener  Gelegenheit  habe  ich  die  wesentlichen  jener 
Grundsätze  hervorgehoben ,  durch  welche  die  Wirksamkeit 
der  Blitzableiter  und  die  Beschädigung  irdischer  Objecte 
durch  Blitzschläge  ihre  sachgemässe  Erklärung  finden  kann. 
Ich  zeigte  dabei,  dass  bloss  die  von  Seite  der  Gewitter- 
wolke gegen  die  unterirdische  Wusserstrecke  ausgeübte  In- 
fluenz als  primitive  Ursache  eines  Blitzschlages  angesehen 
werden  müsse,  und  dass  diesen  Influenzwirkungen,  die  be- 
kanntlich entweder  selbst  wieder  die  Entstehung  von  Neben- 
wirkungen erzeugen,  oder  von  solchen  im  Augenblicke  der 
Entstehung  des  Entladungsstromes  begleitet  sein  können, 
alle  Erscheinungen  zugeschrieben  werden  müssen ,  welche 
während  des  Blitzereignisses  an  irdischen  Objecten  beob- 
achtet werden  können;  mögen  diese  Erscheinungen  dabei 
als  noch  so  complicirt  auftreten,  so  müssen  dieselben, 
wenn  alle  Umstände  gehörig  erhoben  werden  können,  den- 
noch ihre  einfache  und  naturgemässe  Erklärung  nach  den 
gedachten  principiellen  Grundlagen  finden  können. 

Bezüglich  der  Anordnung  der  Blitzableiter  wurde  unter 


1)  Sitzungsberichte  der  k.  b.  Akad.  d.  W.  1866,  Bd.  II,  p.  192. 
(Ausführlicher  im  Polytechnischen  Journal,  Bd.  CLXXXII,  S.  291.) 


248  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Anderm  bei  jener  Gelegenheit  von  mir  besonders  hervor- 
gehoben, dass  vermöge  der  gedachten  Principien  auf  die 
unmittelbare  Ausleitung  in  das  Grundwasser  zunächst  Be- 
dacht genommen  werden  müsse,  dass  es  für  einzelne  Ge- 
bäude, die  sämmtlich  auf  der  gleichen  Terrainstrecke  sich 
befinden ,  keinen  Blitzableiter  gibt ,  der  alle  übrigen  oder 
auch  nur  eines  derselben  selbst  kleineres  Gebäude  gegen 
Blitzschläge  zu  schützen  vermag,  dass  man  vielmehr  in  allen 
solchen  Fällen  —  und  diess  sind  gerade  die  häufigsten  — 
ein  Blitzableiter-System  für  eine  jede  der  Gebäudegruppen 
gemeinschaftlich  in  sachgemässer  Weise  herzustellen  habe, 
dass  ferner  die  noch  herrschende  Ansicht,  als  ob  ein  Blitz- 
ableiter mit  hoher  Auffangstange  einen  sogenannten  Schutz- 
kreis für  die  umgebenden  Objecte  darbiete ,  als  nicht  stich- 
haltig bezeichnet  werden  müsse,  dass  es  vielmehr  eine 
Wirkungssphäre  in  dem  Sinne,  wie  man  eine  solche  ge- 
wöhnlich anzunehmen  pflegt,  gar  nicht  geben  könne. 

Obgleich  eine  grosse  Anzahl  von  Blitzesereignissen  auf- 
gewiesen werden  kann,  durch  welche  jene  Folgerungen  be- 
stätiget werden  können ,  so  erscheint  es  dennoch  als  uner- 
lässlich,  durch  fortgesetzte  Registrirung  von  authentisch 
nachgewiesenen  Blitzschlägen  an  irdischen  Objecten  die  er- 
wähnte principielle  Erklärungsweise  und  die  daraus  entnom- 
menen Folgerungen  wiederholt  zu  prüfen,  und  die  in  Rede 
stehende  Angelegenheit  nunmehr  in  gründlicher  Weise  zur 
Erledigung  zu  bringen.  Hiefür  erscheint  es  aber  als  uner- 
lässlich,  nicht  bloss  die  Bahn  der  Entladung  an  allen  Stellen 
des  getroffenen  Objectes  zu  verfolgen,  sondern  auch  und 
zwar  insbesondere  den  discontinuirlichen  Leitungsbogen  auf- 
zusuchen, den  die  Entladung  vom  Boden  aus  bis  zur 
unterirdischen  Wasserstrecke  einschlug,  so  weit  als 
thunlich  zu  verfolgen. 

Unter  den  im  Laufe  der  gegenwärtigen  Gewitterperiode 
mir  bekannt    gewordenen   Blitzesereignissen    dürften   einige 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  249 

als  interessant  genug  erscheinen ,  um  an  dieselben  die  oben 
gedachten  principiellen  Grundlagen  gleichsam  als  Prüfstein 
anlegen  zu  dürfen.  Auf  das  erste  der  Ereignisse,  die  hier 
betrachtet  werden  sollen,  wurde  ich  durch  eine  Notiz2)  auf- 
merksam gemacht,  in  welcher  die  Verheerungen  geschildert 
wurden,  welche  die  am  24.  und  25.  Juni  im  Odenwald,  am 
Rhein  und  Main  bis  an  die  Lahn  stattgehabten  Gewitter 
zur  Folge  hatten  und  wobei  unter  Anderm  erwähnt  ward, 
dass  zahlreiche  Blitzschläge  in  der  Umgebung  von  Darm- 
stadt und  mehrere  in  Darmstadt  selbst  vorkamen.  Die 
Umstände,  unter  welchen  letztere  eintraten,  veranlassten 
mich  zur  näheren  Erholung  der  Sachverhältnisse.  Von  den 
15  Fragen ,  welche  ich  zu  diesem  Zwecke  durch  gefällige 
Vermittlung  der  Redaction  der  Bayerischen  Zeitung  an  den 
Verfasser  jenes  Artikels  richten  konnte,  konnten  mir  zwar 
die  wesentlichsten  nicht  näher  erörtert  werden;  ein  Theil 
aber  wurde  in  ausreichender  Weise  beantwortet.  Da  jener 
Herr  Correspondent  selbst  Interesse  genug  daran  fand,  um 
die  mir  mitgetheilten  Schilderungen  in  mehreren  Artikeln 
zum  Gegenstand  einer  öffentlichen  Besprechung  (in  mehreren 
deutschen  Zeitungen)  zu  machen,  so  mag  es  ausreichen, 
aus  dem  mir  zugekommenen  umfassenden  Berichte 3)  so  viel 
hervorzuheben  v  als  zur  Beurtheilung  der  in  Rede  stehenden 
Ereignisse  als  nöthig  erscheint. 

Die  (von  unserem  Gewährsmann)  beobachteten  Gewitter  zogen 
von  Osten  nach  Westen,  und  traten  am  24.  und  25.  Juni  in  grosser 
Ausdehnung  und  mit  grosser  Heftigkeit  auf.  Derlei  Gewitter  gehören 
immer  zu  den  seltenen  Erscheinungen;    der  normale  Zug  ist  fast  in 


2)  Bayerische  Zeitung,  Morgenausgabe  vom  30.  Juni  1867. 

8)  Hiefür  habe  ich  sowohl  dem  Herrn  H.  B.  in  Darmstadt,  als 
auch  den  Herren:  Director  Dr.  Hügel,  Ingenieur  Zaubitz,  sowie 
den  Prof.  Dr.  Bender  und  Dr.  D  res  er,  welche  bei  den  Ermitte- 
lungen sich  freundlich  betheiligten,  meinen  Dank  auszusprechen. 


250  Sitzung  der  math.-phys.  Gasse  vom  6.  Juli  1867. 

ganz  Mitteleuropa  aus  SW.  und  W.  gen  NO.  und  0.  „In  Darmstadt 
erschien  das  erste  jener  Gewitter  am  24.  um  7  Uhr  Abends.  Ich 
sah  es  vom  grossen  Wog  aus,  einem  kleinen  See,  den  der  Darmbach 
östlich  Yon  Darmstadt  bildet.  Ueber  das  Darmthälchen  kam  ein 
Wolkenzug,  der  lagerte  sich  (buchstäblich)  tintenschwarz  in  einem 
grossen  Bogen  über  das  Thal.  Unter  ihm  her  zogen  leichtere  weisse 
Wolken  dicht  wie  der  Dampf  in  einem  Dampfbad,  wie  lange  Barte 
herabhängend;  sie  schienen  herunter  in  den  Wald  zu  reichen.  Lang- 
sam ging  das  Wetter  vorwärts.  Auf  einmal  ein  ungeheurer  Blitz, 
der  den  ganzen  Bogen  von  S.  nach  N.  spaltete  (im  Winkel  von 
etwa  70°),  dann  in  den  Wald  herein  schlug.  Bald  darauf  mehrere 
gleiche  Schläge;  der  Himmel  wurde  immer  schwärzer;  die  Blitze  leuch- 
teten wie  rothglühende  Strahlen  von  geschmolzenem  Eisen,  die  vom 
Himmel  sprühten;  oft  spielten  sie  ins  Violette  und  beleuchteten  die 
Gegend  weithin ,  wie  mit  bengalischem  Feuer.  Nach  einer  Viertel- 
stunde kam  ein  sanfter  Wind,  der  den  See  kräuselte,  darauf  ein 
leichter,  dann  ein  heftiger  strömender  Kegen,  der  erst  zwischen  9 
und  10  Uhr  aufhörte,  währenddem  fortwährend  heftige  Schläge, 
ich  zählte  deren  6 — 8,  die  in  der  Nähe  vorkamen.  Um  12  Uhr  kam 
ein  zweiter  Gewitterzug ,  der  bis  nach  2  Uhr  (den  25.  Juni)  an- 
dauerte. Die  Blitzschläge  waren  noch  stärker  wie  am  Abend;  sie 
gingen  meist  senkrecht  wie  am  Abend,  sie  schienen  bläulich.  Ich 
zählte  wieder  etwa  6,  die  in  nächster  Nähe  einschlugen  (in  Nieder- 
Ramstadt  und  Eberstadt).  Am  folgenden  Morgen  und  um  die 
Mittagszeit  donnerte  es  fortwährend  im  Westen;  es  war  ein  Gewitter 
in  Oppenheim,  Mainz  und  Wiesbaden.  Am  Abend  um  10  Uhr  kam 
der  dritte  Gewitterzug,  gleichfalls  aus  Osten.  Gleich  ein  furchtbarer 
Schlag,  wie  wenn  ein  ungeheurer  hohler  Thurm  in  sich  zusammen- 
stürzte; darauf  noch  mehrere,  alle  in  unmittelbarer  Nähe  .  .  .  Etwa 
fünf  Minuten  nachher  ein  neuer  Schlag,  wie  ein  heftiges  Rotten- 
feuer .  .  .  Ich  spürte  es  wie  einen  Schlag  mit  der  flachen  Hand  auf 
den  Kopf.  .  .  .  Ich  hatte  dem  offenen  Fenster  zunächst  gesessen) 
und  gegen  eine  Commode  gelehnt;  vielleicht  mag  ich  dadurch  die 
Erschütterung  stärker  gespürt  haben.  Diess  war  der  letzte  Schlag; 
dann  fiel  ein  Platzregen,  wie  ich  ihn  nur  einmal  in  ähnlicher  Stärke 
in  dieser  Gegend  gesehen  habe.  —  Ich  wohne  fast  auf  dem  höchsten 
Punkte  von  Darmstadt;  kaum  ein  Dutzend  Häuser  stehen  bis  zu 
dem  Höhenpunkte  der  hier  kreuzenden  Strassen  —  Sand-  und  Stein- 
strasse — ,  die  ziemlich  rasch  abfallen.  Südöstlich  von  meiner  Wohn- 
ung —  in  einer  Entfernung  von  200  Fuss  —  hatte  der  Blitz  ein- 
geschlagen. Der  Blitz  war  zu  gleicher  Zeit  in  zwei  Häuser  gefahren, 


Kuhn:  Bemerkungen  xiber  Blitzschläge.  251 

in  das  katholische  Pfarrhaus  und  in  das  Schulhaus,  die  30  Fuss  von 
einander  entfernt  stehen.  Ausserdem  schlug  der  Blitz  in  das  Haus 
der  barmherzigen  Schwestern  und  in  einen  Hof  in  der  Waldstrasse, 
im  Ganzen  zweimal  in  auffallender  Weise  dicht  neben  Blitz- 
ableitern. Das  Schwesterhaus  und  das  Pfarr-  und  Schulhaus  liegen 
auf  derselben  Anhöhe,  einem  hier  von  Osten  nach  Westen  gehenden 
Ausläufer  des  Neunkircher  Höhenzuges,  auf  der  südlichen  Seite  des 
Darmbaches ;  das  Haus  in  der  Waldstrasse  am  Ende  dieser  Anhöhe 
in  der  Ebene.  Die  drei  Blitzorte  sind  je  6 — 700  Schritte  von  ein- 
ander entfernt.  Das  Schwesterhaus  liegt  etwa  300  Schritte  vom 
Wog  und  ebenso  weit  von  der  Gewerbschule.  Letztere  ist  mit  gut 
construirten  Blitzableitern  versehen;  auf  dem  Schwesterhause,  dann 
auf  dem  Pfarr-  und  Schulhause  ist  kein  Blitzableiter,  hingegen  ist 
das  Nachbarhaus  nach  Süden,  das  (an  das  Pfarrhaus?)  angebaut  ist, 
mit  einem  Blitzableiter  versehen,  und  ebenso  steht  auf  dem  Hause 
in  der  Waldstrasse  ein  ■ —  12  Fuss  hoher  —  Blitzableiter.  Auf  der 
Kirche  (_im  Westen)  steht  ein  Blitzableiter,  in  horizontaler  Richtung 
bis  zum  Pfarrhaus  auf  150  Fuss  Entfernung.  Ferner  stehen  ringsum 
nach  N.,  0.  und  S.  drei  Blitzableiter  auf  150  bis  200  F.,  noch  zwei 
nach  0.  und  W.  auf  300  F. ,  -einer  auf  400  F.,  und  auf  500  F.  (in 
der  Hügelstrasse)  eine  ganze  Reihe,  fünf  nebeneinander  und  einer 
gegenüber.  Die  sämmtlichen  Häuser  sind  fast  alle  50  bis  60  Fuss 
hoch,  die  Kirche  mit  der  Kuppel  ungefähr  150  F.,  der  Blitzableiter 
darauf  30 — 40  F.  hoch.  Ueberhaupt  ist  dieser  Stadttheil  wie  fast 
die  ganze  Neustadt  mit  Blitzableitern  reichlich  versehen.  Die  Blitz- 
ableiter bestehen  fast  alle  aus  1  bis  ll/i  Zoll  breiten  und  V3  Zoll 
dicken  Eisenstangen ;  oben  ein  vergoldetes  Kreuz,  dann  läuft —  aber 
meist  nur  ein  einziger  —  Ast  über  das  Dach  nach  dem  Boden  hin.  Auf 
dem  Palais  des  Prinzen  Ludwig  läuft  ein  kupferner  Blitzableiter  über 
das  ganze  Haus;  nach  3  Seiten  gehen  4  Aeste  von  V4  Zoll  starkem 
Kupferdraht  in  den  Boden." 

Von  dem,  was  über  die  Spuren  der  Blitzeseatladungen  an  den 
angeführten  vier  Objecten  mitgetheilt  wurde,  mag  Nachstehendes 
hervorgehoben  werden : 

„Das  Pfarrhaus  steht  an  der  Wilhelminen-Strasse  50  Fuss  von 
der  katholischen  Kirche;  das  Schulhaus  hinter  diesem  getrennt  im 
Huf.  Das  Pfarrhaus  hat  ein  vierseitiges  Dach;  der  Blitz  schlug  in 
die  östliche  Wand.  Das  Schulhaus  hat  ein  zweiseitiges  Dach ,  mit 
dem  Giebel  nach  dem  Pfarrhaus;  der  Blitz  schlug  in  diesen  west- 
lichen Giebel.  Das  auf  der  südlichen  Seite  an  das  Pfarrhaus  an- 
gebaute und  mit  diesem  von  gleicher  —  beiläufig  CO  Fuss  —  Höhe  ist, 


252  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

wie  erwähnt,  mit  einem  Blitzableiter  verseben;  hinter  dem  nörd- 
lichen Nachbarhause  (des  Pfarrhauses)  steht  ein  mit  Zink  gedeckter 
kleiner  Anbau,  dessen  Dach  mit  einem  Bau  verbunden  ist,  an  wel- 
welchen  das  Schulhaus  mit  seiner  hinteren  östlichen  Seite  anstösst. 
Das  Zinkdach,  von  beiden  Einschlagpunkten  im  Vorder-  und  Hinter- 
haus 30 — 40  Fuss  entfernt,  ward  als  unbeschädiget  befunden.  Von 
dem  Pfarrhaus  führt  vom  Treppenfenster  zwischen  dem  2.  und  3. 
Stocke  ein  Schellenzug  nach  dem  Fenster  der  Wohnung  des  Küsters 
im  Dachgeschosse  des  Schulhauses.  Beide  Fenster  sind  40  Fuss  vom 
Boden;  an  beiden  Punkten  schlug  der  Blitz  zugleich  ein.  Am  Vorder- 
haus fuhr  er  gerade  an  der  Oeffnung ,  durch  die  der  Glockenzug 
geht,  hinein,  am  Treppenbau  hinab,  Zickzack  hin  und  her,  dann 
durch  eine  Seitenwand  an  dem  Gussrohre  hinab  in  die  Cloake.  Am 
Hinterhaus  fuhr  er  eine  Spanne  von  dem  Schellendrahte  entfernt 
durch  ein  kleines  Loch  in  dem  Fensterbalken  in  das  Zimmer  nach 
dem  gegenüberstehenden  Ofen,  von  da  schlug  er  ein  kleines  Loch 
durch  die  Seitenwand,  ging  durch  die  untere  Wand  durch  die  zwei 
Stockwerke,  an  der  senkrechten  Wand  die  Verkleidung  los  schleissend 
und,  wie  mir  scheint  zur  Hausthüre-  (?)  hinaus.  Der  Küster  und 
seine  Frau  (kamen  mit  dem  Schrecken  davon ,  denn  sie)  waren  in 
der  an  die  Dachstube  anstossenden  Dachkammer  gesessen.  Die  Frau 
sah  den  Blitz  am  Boden  sich  hinbewegen;  sie  will  die  Erscheinung 
in  Gestalt  eines  Apfels  oder  einer  Birne,  als  Feuerkugel  gesehen 
haben.  Von  dem  Schrecken,  den  diese  Erscheinung  in  ihr  erregte, 
hatte  sich  die  Frau  erst  nach  acht  Tagen  wieder  erholt.  —  Die 
beiden  Blitzhäuser  haben  keine  Gas-  und  keine  Wasserleitung;  ein 
einfacher  verdeckter  Brunnen  ist  im  Hof  .  .  ."  An  dem  Blitz- 
ableiter des  Nachbarhauses  sowie  auch  an  dem  der  katholischen  Kirche 
waren  keine  Spuren  der  Entladung  wahrzunehmen.  Nachträglich 
wird  aber  im  Berichte  bemerkt,  „dass  der  Blitzableiter  des 
(angebauten)  Nachbarhauses  vor  dem  Einschlagen  gerasselt 
habe". 

„Das  Haus  der  barmherzigen  Schwestern  ist  zweistöckig,  etwa 
50  Fuss  hoch,  steht  von  Süden  nach  Norden  und  ist  neu  aus  Steinen 
gebaut.  Der  Blitz  schlug  auf  der  Westseite  ins  Dach,  in  das  nörd- 
liche Dachzimmer,  spaltete  sich  dort,  ging  mit  einem  Zug  von 
einem  Balken  herab,  den  er  vom  Speis  entkleidete  und  wobei  einige 
Wäsche  an  einem  Nagel  gezündet  wurde,  und  gelangte  in  das  untere 
westlich  gelegene  Schlafzimmer  der  Schwestern,  wo  die  Spuren  in 
Zickzack  an  den  Betten  her  wahrgenommen  wurden,  und  von  wo 
aus    der   Weg   in   das   untere  Zimmer   der  Oberin   und   nach   dem 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  253 

Keller  ging.  Ein  zweiter  Zug  ging  nach  der  andern  Seite  durch 
die  Wand  nach  dem  Treppenhaus,  theilte  sich  da  wieder;  ein  Theil 
ging  am  Treppenhaus  herab,  ein  anderer  nach  dem  Gussrohre  in 
die  Cloake.  In  den  unteren  Stockwerken  geschah  ausser  dem  Zer- 
stören des  Schellendrahtes  und  dem  Abschleissen  der  Speis  kein 
weiterer  Schaden  .  .  .  An  dem  Einschlag  war  nichts  Aussergewöhn- 
liches,  als  dass  er  nicht  auf  die  Spitze,  sondern  die  Seite  des  Hauses 
traf.  Merkwürdig  aber  war,  dass  bei  diesem  augenscheinlich  von 
Norden  kommenden  Strahl  (?)  eine  Feuerflamme  in  dem  südlichen 
Theil  des  Hauses  gesehen  wurde,  der  von  dem  Strahl  sonst  gar 
nicht  getroffen  war.  Die  Frau  Oberin  —  welche  während  des  Er- 
eignisses in  der  Kapelle  auf  der  entgegengesetzten  südlichen  Seite 
sich  aufhielt  —  will  ganz  deutlich  eine  züngelnde  Flamme  um  die 
heilige  Lampe  gesehen  haben,  ehe  sie  den  Schlag  hörte". 

„In  der  Waldstrasse  fuhr  der  Blitz  etwa  12  F.  vom  westlichen 
und  4  F.  von  dem  südlichen  Flügel  herab  in  den  Rasen,  beschrieb 
im  Zickzack  einen  6  F.  langen,  4  F.  breiten  Dreiviertelovalring 
und  verschwand  in  die  Erde.  Die  Furchen,  die  er  zog,  sind  1/i—l  F. 
tief,  an  einzelnen  Stellen  sind  V/2 — 2  F.  tiefe  Löcher.  Die  Richtung 
geht  von  W.  nach  0.,  vom  Blitzableiter  her.  Der  Einschlagpunkt 
ist  von  der  Auffangstange  kaum  24  F.  entfernt;  diese  schätzte  ich 
auf  12  F.  Höhe  .  .  .  Die  Theorie  (hier  meint  unser  Gewährsmann 
die  Charles'-Arago'sche  Regel  für  den  sogenannten  Schutzkreis) 
wurde  nicht  vollkommen  entkräftet,  weil  der  Blitzableiter  ziemlich 
gerostet  ist,  und  nur  in  trockenes  sandiges  Erdreich  abgeleitet 
wird,  während  unter  dem  Einschlagpunkt  ein  Senkloch  sich  befindet, 
das   den  Blitz  anziehen  konnte". 

Versuchen  wir  es  nun,  an  die  eben  erwähnten  Blitzes- 
ereignisse unsere  bei  früheren  Gelegenheiten  auseinander- 
gesetzte Erklärungsweise  als  Prüfstein  anzulegen,  so  können 
wir  zunächst  bestätigen,  dass  die  am  Eingänge  des  vorstehen- 
den Berichtes  angegebenen  Erscheinungen  zu  den  wirklichen 
Blitzschlägen  gehörton.  Vermöge  der  für  solche  Vorgänge 
äusserst  günstigen  Terrainbeschaffenheit  konnten  durch  die 
langsam  vorwärts  von  0.  gen  W.  ziehenden  und  immer 
dichter  gewordenen  elektrisirten  Wolkenmassen  weit  aus- 
gedehnte unterirdische  Wasserstrecken  der  Influenz  ausgesetzt 
werden,  mit  denen  sicherlich  einzelne  an  Abhängen  gelegene 
[1867.  II.  2.]  17 


254  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Bäume  oder  Bauingruppen  des  getroffenen  Waldes  in  dis- 
continuirlicher  leitender  Verbindung  stehen  mussten,  da  die 
Blitzesentladung  nicht  direct  gegen  den  Wald,  sondern  in 
einem  langen  Bogen  statt  fand.  Erst  als  die  Wolken- 
gebilde auf  ihrem  Zuge  sich  tiefer  gesenkt  hatten,  konnte 
die  Bahn  des  kürzesten  Leitungswiderstandes  mittelst  der 
tief  herabhängenden  Wolken  zwischen  dem  elektrisirten  Ge- 
bilde und  der  unterirdischen  Wasserstrecke  durch  die  her- 
vorragendsten und  am  tiefsten  wurzelnden  etc.  Bäume  her- 
gestellt und  die  Ausgleichung  zwischen  der  negativ  mit  der 
Wolke  geladenen  oberirdischen  Strecke  und  einem  Theile 
der  Ladung  der  Wolke  als  eigentlicher  Blitz  auftreten.  Da 
diese  Blitzeserscheinungen  —  nach  der  oben  gegebenen  Be- 
schreibung —  nicht  von  momentaner  Dauer  waren ,  so 
müssen  dieselben  als  eine  Folge  von  discontinuirlichen  rasch 
auf  einander  folgender  Entladungen  bei  jedem  der  am  An- 
fange statt  gehabten  Vorgänge  betrachtet  werden4).  Von 
den  während  der  Nacht  —  von  12  bis  2  Uhr  —  aufgetre- 
tenen Ereignissen  wurde  ohnehin  die  directe  Entladung  der 
Gewitterwolken  gegen  die  Erde  durch  unmittelbare  Wahr- 
nehmung constatirt ;  dieselbe  war  viel  heftiger ,  „die  Blitze 
gingen  meist  senkrecht,  wie  am  Abend  (?)",  es  waren  näm- 
lich die  Umstände  durch  den  schon  im  Voraus  stattgehabten 
starken  Regen  noch  günstiger  vorbereitet,  wie  am  24.  Abends. 
Diesen  Vorgängen  mag  es  auch  zuzuschreiben  sein,  dass  die 
innerhalb  jener  zwei  ersten  Perioden  durch  die  gleichen 
Gewitterzüge5)    aufgetretenen  Entladungen   an    oder  in    der 


4)  In  einem  der  uns  vorliegenden  Zeitungsberichte  heisst  es 
unter  Anderm  (aus  Nidda)  bezüglich  dieser  Gewitter:  „Das  elek- 
trische Licht,  welches  oft  8 — 10  Sekunden  dauerte,  war  so  stark  und 
dicht,  dass  man  in  weiter  Ferne  beinahe  den  kleinsten  Gegenstand 
unterscheiden  konnte". 

5)  Am  24.  und  25.  Juni  kamen  in  den  gedachten  Gebieten 
mehrfach  Blitzschläge  vor.  Ob  aber  diese  sämmtlichen  Erscheinungen 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  255 

Nähe    von    Gebäuden    im    Allgemeinen    keine    bedeutenden 
Wirkungen  zum  Vorschein   kamen,    da    die    Gewitterwolken 


den  gleichen  Gewitterzügen  zugeschrieben  werden  dürfen ,  oder  ob 
letztere  von  einander  unabhängig  auftraten ,  lässt  sich  wohl  erst 
durch  eine  nähere  Untersuchung  entscheiden.  Vorläufig  dürften 
wohl  einige  Notizen  hierüber  nicht  uninteressant  sein ;  so  wird  aus 
Nidda  vom  25.  Juni  geschrieben:  „Per  gestrige  Tag  —  Johanni- 
tag  —  wird  Vielen  lang  im  Gedächtniss  bleiben.  Gestern  Vormittag 
schon  um  9  Uhr  donnerte  es  stark  und  viele  schwere  Wetter  stiegen 
im  Westen  auf  und  bewegten  sich  über  das  Niddathal  nach  Osten 
hin.  Um  41/-*  Uhr  verkündete  starker  Donner  und  Blitz  die  Rück- 
kehr der  über  unsere  Stadt  hingezogenen  Gewitter...."  — 'Aus 
Lang-Göns  (16  Stunden  nordwestlich  von  Nidda)  wird  unter  Anderm 
geschrieben:  „Unser  Ort  wurde  am  24.  d.  Mts.  von  sehr  starken 
Gewittern  heimgesucht.  Dieselben  währten  fast  ununterbrochen  von 
Morgens  bis  tief  in  die  Nacht.  Fast  alle  kamen  von  Nordosten  her- 
angezogen und  schienen  sich  nur  so  einander  abzulösen.  Der  Blitz 
schlug  bei  dem  ersten  Gewitter,  das  nur  aus  drei  Schlägen  bestand, 
und  sich  in  unmittelbarer  Nähe  entwickelt  haben  muss, 
in  das  hiesige  Stationsgebäude  (an  der  Main-Nekar-Bahn,  2  Stunden 

südlich  von  Giessen)  ein" In  Neuwied  —  3  Stunden  unterhalb 

der  Lahnmündung,  etwa  30  Stunden  östlich  von  Nidda  —  kamen 
die  Gewitter  mit  Verheerungen  zwischen  3  und  4  Uhr  vor.  Gleich- 
zeitig finden  wir  aus  den  vorliegenden  Berichten  über  die  Gewitter 
im  Odenwalde,  in  der  Wetterau,  u.  s.  w.,  dass  an  dem  gleichen 
Tage  starke  Gewitter  im  Schwaben,  in  der  Rheinpfalz,  im  Thüringer— 
wald,  dann  im  bayerischen  Oberfranken,  ferner  in  Mähren  u.  s.  w. 
statthatten;  es  dürfte  daher  vorläufig  anzunehmen  sein,  dass  diese 
sämmtlichen  Gewittererscheinungen,  welche  im  entferntesten  Osten 
noch  am  28.  Juni  noch  nicht  zu  Ende  waren,  wohl  einer  und  der- 
selben oder  vielmehr  einem  Complexe  primitiver  Entstehungsquellen 
zugeschrieben  werden  dürfen ,  dass  hingegen  von  dem  Zuge  eines 
und  desselben  Gewitters  innerhalb  der  Periode  vom  24.  mit  20.  Juni 
keine  Rede  sein  kann.  Eine  spätere  nähere  Untersuchung  wird  viel- 
mehr vermuthlich  herausstellen,  dass  jedes  einzelne  jener  Gewitter 
hauptsächlich  durch  locale  Wirkungen  bedingt  wurde,  und  dass 
daher  letztere  auf  eine  und  dieselbe  Grundursache  zurückzuführen 
sein  dürften. 

17* 


25G  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

schon  vorher  auf  ihrem  Wege  über  Wasserflächen,  Fluss- 
thäler  und  Waldungen  einen  grossen  Theil  ihrer  Ladung 
verloren  hatten6). 


6)  Unter  den  am  24.  Juni  am  Tage  und  vom  24.  auf  den  25.  Juni 
vorgekommenen  Blitzschlägen  mögen  mehrere  hier  bloss  kurz  auf- 
gezählt werden:  In  Lang-Göns  wurde  beim  ersten  Gewitter  das 
Stationsgebäude  getroffen  und  der  Telegraphenapparat  zerstört,  beim 
zweiten  wurde  eine  Scheuer  getroffen;  in  beiden  Fällen  ohne  zu 
zu  zünden.     In    Neuwied    „schlug    ein   kalter  Blitzstrahl  gegen  halb 

4  Uhr  in  den  Thurm    der   katholischen   Kirche" In  Gräven- 

wiesbach  (4  St.  westl.  von  Wetzlar,  9  St.  östl.  von  Nidda  an  der 
westl.  Abdachung  der  Taunushöhe)  „brannte  eine  vom  Blitze  ge- 
troffene Scheune  ab  und  wurde  ein  Wohnhaus  beschädiget,  eine  Kuh 
verunglückte  dabei.  In  Echzell  (2  St.  südwestwestlich  von  Nidda) 
„fuhr  ein  Blitestrahl  mit  furchtbarem  Krachen  auf  den  Kirchthurm" 
ohne  zu  zünden;  in  Melbach  (3  St.  südwestwestlich  von  Nidda) 
wurde  eine  Scheuer  vom  Blitze  in  Brand  versetzt,  eine  Wohnung 
von  einem  anderen  Schlage  getroffen  ohne  weitere  Beschädigungen. 
In  der  bei  Eberstadt  (1  St.  südl.  von  Darmstadt)  gelegenen  Krugs- 
Mühle  ist  durch  den  Blitzschlag  eine  Scheuer  in  Brand  versetzt 
worden.  In  Nieder-Kamstadt  (gleichfalls  im  Modauthal,  1  St.  von 
Darmstadt)  „schlug  der  Blitz  in  den  Kirchthurm,  ohne  zu  zünden. 
In  der  Nähe  von  Därmstadt  wurden  mehrere  Bäume  vom  Blitze  ge- 
troffen". —  In  nächster  Nähe  von  Nidda  wurden  während  der  beiden 
Gewitterzüge  8  verschiedene  Bäume  getroffen.  —  In  Weiterstadt 
(1  St.  von  Darmstadt  nordwestl.  von  der  Eisenbahn  nach  Mainz) 
schlug  der  Blitz  bei  Abgang  des  letzten  Eisenbahnzuges  am  24.  Juni 
in  eine  Signallaterne  ...  Im  Walde  nahe  bei  Wiesbaden  wurde  am 
24.  Nachmittags  ein  junger  Mann  vom  Blitze  getroffen  uud  bedeutend 
verletzt.     In    Günsheim    (eine   halbe   Stunde   vom  linken   Bheinufer, 

5  St.  von  Darmstadt)  hat  der  Blitz  am  25.  Juni  Vormittags  11  Uhr 
in  das  Pfarrhaus  eingeschlagen;  die  Bahn  ging  vom  Schornstein  zum 
geheizten  Heerd  und  von  der  Küche  in  die  Erde;  dabei  heisst  es 
u.  A.:  „es  scheint,  als  ob  sich  die  Kraft  des  Blitzes  getheilt  habe, 
denn  hie  und  da  im  Hause  findet  man  kleine  Beschädigungen". 
Weiter  kamen  Blitzschläge  vor,  in  Speyer  und  Neustadt  (Pfalz),  in 
Ettenbeuern   (Schwaben),   in  Ebersdorf  (in   der   Rhön),   Brückenau, 


Kahn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  257 

Was  nun  die  in  Rede  stehenden  Blitzesereignisse  vom 
25.  Juni  10  Uhr  Abends  betrifft,  so  muss  zunächst  ein 
Umstand  hervorgehoben  werden,  der  uns  als  besonders 
wichtig  erscheint.  Die  beiden  in  der  vorausgegangenen  Nacht 
vorgekommenen  Gewitter  hatten  nämlich  dieselbe  Richtung 
und  waren  von  nicht  geringerer  Intensität  als  das  am  Abend 
des  25.,  und  dennoch  wurden  bei  letzterem  solche  Objecte  von 
Blitzschlägen  heimgesucht,  welche  vorher  verschont  blieben, 
und  selbst  diessmal  hat  man  kein  Blitzesereigniss  an  den- 
jenigen benachbarten  Gebäuden  wahrnehmen  können,  deren 
Blitzableiter  weit  über  die  getroffenen  hervorragen.  Die  Ur- 
sache des  sogenannten  Einschiagens  darf  also  —  wie  wir  bei 
einer  früheren  Gelegenheit  ausführlich  erörtert  haben  —  nicht 
bloss  in  der  Anordnung  und  Beschaffenheit  etc.  der  Ge- 
bäude und  anderer  irdischer  Objecte  gesucht  wurden,  über 
welche  die  Gewitterwolke  hinwegzieht,  sondern  sie  muss 
hauptsächlich  von  der  Terrainbeschaffenheit  und  von  der 
Lage  des  Objectes  bezüglich  der  Gewitterwolke  und  der 
ausgedehnten  unterirdischen  Wasserstrecken  abhängig  sein. 
In  der  That  finden  wir  auch  aus  der  vorliegenden  Beschreib- 
ung, dass  Gebäude  von  geringer  Höhe  vom  Blitzschlage  be- 
rührt wurden ,  und  dass  selbst  an  jenen  die  Spuren  der 
Entladung  nicht  an  den  hervorragendsten  Stellen ,  sondern 
nur  da  sich  vorfanden,  wo  sich  Strecken  von  Constructions- 
theilen  etc.  befinden,  die  der  elektrischen  Influenz  etc.  fähig 
sind.  Ausserdem  finden  wir  aber  noch  darin  den  wesent- 
lichsten Unistand,  dass  —  vermöge  der  uns  vorliegenden 
Zeitungsberichte  —  vom  24.  Juni  Nachmittags  bis  25. 
Morgens  2  Uhr  massenhafte  Niederschläge  in  jenen  Gebieten 
stattgefunden  haben,    und  zwar  in  solcher  Menge,  dass  tief 


Grossostheini  (bei  Aschaffenburg),  Gräfenberg,  Forchheim  und  Selb 
(Überfranken)  u.  8.  w.,  die  wir  für  jetzt  bloss  vorübergehend  an- 
führen; über  den  in  Forchheini  wird  unten  berichtet  werden. 


258  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

gelegene  Wohnungen  und  Keller  schon  während  der  Regen- 
güsse unter  Wasser  standen;  um  so  mehr  darf  also  an- 
genommen werden,  dass  nicht  bloss  die  oberen  Erdschichten 
an  den  Abhängen  noch  am  Abend  des  25.  Juni  reichlich 
durchnässt  waren,  sondern  dass  auch  das  Niveau  des  unter- 
irdischen Wassers  auf  eine  bedeutende  Höhe  gestiegen  sein 
musste  und  vielleicht  sogar  noch  nicht  einmal  seine  grösste 
Höhe  erreicht  hatte,  als  der  dritte  Gewitterzug.  herankam. 
Jene  Anomalie  kaun  daher  nur  dadurch  ihre  erkleckliche 
Erklärung  finden,  wenn  wir  annehmen,  dass  die  an  der  ge- 
dachten Anhöhe  und  an  ihrem  Ende  befindlichen  Gebäude 
die  günstigsten  Umstände  für  die  bei  der  gegen  das  Grund- 
wasser von  Seite  der  Gewitterwolke  ausgeübten  Influenz  ein- 
getretenen Entladungserscheinungen  dargeboten  haben,  dass 
also  jene  Objecte  in  nächster  Communication  mit  der  unter- 
irdischen Wasserstrecke  standen.  Dass  übrigens  jene  An- 
höhe auf  Grundwasser  ruhen  müsse,  zeigt  uns  schon  die 
Terraingestaltung  jenes  Gebietes.  (In  der  Nähe  eines  der 
getroffenen  Häuser  befindet  sich  ein  selbstständiger  Brunnen, 
wie  oben  erwähnt  wurde,  und  vermuthlich  sind  deren  noch 
mehrere  an  jenem  Abhänge  aufzufinden.) 

Unsere  Erklärung  der  oben  angeführten  Blitzesereignisse 
auf  der  von  Osten  nach  Westen  gehenden  Anhöhe  des 
Darmthaies  besteht  daher  beiläufig  in  Folgendem;  Die  von 
Osten  nach  Westen  gezogene  elektrisirte  Wulkenmasse  hat 
in  einer  grossen  Ausdehnung  die  unterirdischen  Gewässer, 
mit  welcher  die  Thalsohle  in  leitender  Verbindung  stand, 
nebst  der  ganzen  darüber  befindlichen  Erdstrecke  durch 
Influenz  in  den  polarisch  elektrischen  Zustand  versetzt; 
in  Folge  der  gegenseitigen  Anziehung  der  Ladung  der 
Wolke  und  der  mit  ihr  ungleichnamigen  an  der  Wasser- 
oberfläche etc.  angehäuften  Elektricitätsmenge  wurde  letztere 
über  den  ganzen  Complex  der  oberirdischen  Objecte,  die 
selbst,  je  nach  ihrer  Leituugsfähigkeit    an  der  Influenz  An- 


Kulm:  Bemerkungen  über  Blitzschläge :  259 

theil  nahinen,  verbreitet  und  über  dieses  discontinuirliche 
Leitungssystem  in  der  Art  angesammelt,  wie  es  die  Ver- 
keilung unter  den  herrschenden  complicirten  Umständen 
erforderte.  Fand  nun  die  Entladung  der  Wolke  durch  einen 
wirklichen  Blitzschlag  statt,  so  musste  die  Bahn  des  kürze- 
sten Leitungswiderstandes ,  welche  schon  während  der  In- 
fluenz gewählt  wurde,  als  Schliessungsleiter  die  ungeheuren 
Elektricitätsmengen  von  dem  zugewendeten  Theile  der  Wolke 
aus  bis  zum  Grundwasser  aufnehmen  und  zur  Ausgleichung 
bringen,  da  mau  für  alle  hier  vorliegenden  Fälle  wohl  an- 
nehmen darf,  dass  die  indifferente  Stelle  an  der  Wasser- 
oberfläche selbst  oder  in  deren  nächster  Nähe  sich  ver- 
mutlich befinden  musste.  Geschah  aber  die  Entladung  der 
Wolke  in  der  Atmosphäre  selbst ,  so  musste  in  diesem  Mo- 
mente die  ganze  durch  Influenz  nach  Oben  gedrängte  und 
an  den  äussersten  Stellen  der  Gebäude  etc.  angehäufte 
Elcctricitätsmenge  in  die  unterirdische  Wasserstrecke  sich 
ergiessen.  Ob  nun  die  Vorgänge  in  der  einen  oder  anderen 
Art  statt  fanden,  kaun  aus  den  hierüber  bekannt  gewordenen 
Mittheilungen  nicht  beurtheilt  werden.  In  dem  einen  wie  in 
dem  anderen  Falle  würden  keinerlei  Wirkungen  im  Gebäude 
selbst  etc.  wahrgenommen  worden  sein,  wenn  die  für  die 
Influenz  ausgewählten  Strecken  continuirlich  und  von  hin- 
reichender Leitungsfälligkeit  gewesen  wären.  Dieser  Beding- 
ung wurde  aber  in  keinem  der  vorliegenden  Fälle  Genüge 
geleistet,  und  gerade  hierin  ist  die  Ursache  der  bei  den  Blitz- 
schlägen aufgetretenen  Erscheinungen  zu  suchen. 

Die  Bahn  des  kürzesten  Leitungswiderstandes  lässt  sieh 
weder  bei  dem  Blitzesereignisse  am  Pfarr-  und  Schulhause 
noch  an  dem  im  Schwesterhause  mit  Hülfe  der  oben  an- 
gegebenen s.  g.  Spuren  des  Blitzes  angeben.  Mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  kann  vermuthet  werden,  dass  am  Pfarr- 
hause  diese  Bahn  direct  vom  Grundwasser  aus  durch  die 
durchnässten  Erdschichten  an  der  Cloakc  und  endlich  durch 


260  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

das  eiserne  Gussrohr  und  die  oberen  Theile  der  östlichen 
Mauerwand  des  Hauses  vermittelt  wurde.  Da  diese  Bahn 
—  wie  es  scheint  —  nur  »um  geringsten  Theile  aus  guten 
Leitern  (Gussrohr,  Klammern  in  den  Wänden  etc.)  be- 
stand ,  die  selbst  durch  die  übrigen  Strecken  von  einander 
gleichsam  isolirt  waren,  so  konnten  die  in  der  discontinuir- 
lichen  Leitungsstrecke  befindlichen  elektrisirten  Leiter  selbst 
wieder  Influenzerscheinungen  hervorbringen,  welche  ihrer- 
seits die  anderen  der  beobachteten  Nebenwirkungen  zur 
Folge  hatten.  Nach  den  Spuren  zu  urtheilen  ,  die  sich  im 
Schulhause  vorfanden  und  mit  Rücksicht  auf  die  discontinuir- 
liche  leitende  Verbindung ,  welche  vom  westlichen  Giebel 
dieses  Gebäudes  aus  —  theilweise  auch  von  dem  Zinkdache  — 
nach  dem  östlichen  Giebel  des  Pfarrhauses  geht,  dürfte  es 
übrigens  nicht  unmöglich  sein,  dass  in  dem  Augenblicke, 
in  welchem  der  eigentliche  Entladungsstrom  auf  dem  ge- 
nannten (vermutheten)  Wege  eintrat,  auf  der  zweiten  Bahn 
gegen  das  Schulhaus  hin  eine  Seitenentladung  vorkam, 
welche  oben  als  ein  Zweig  des  Blitzstrahles  bezeichnet  wurde, 
und  welchem  alle  auf  diesem  Wege  wahrgenommenen  Wirk- 
ungen dann  zuzuschreiben  wären.  Jedenfalls  aber  ist  das 
ganze  System  in  der  Nähe  dieser  Gebäude  und  daher  auch 
das  Nachbarhaus  mit  seinem  Blitzableiter  auf  directe  oder 
indirecte  Weise  in  den  influencirten  Zustand  versetzt  worden, 
so  dass  Entladungsströme  der  verschiedensten  Art  dabei 
vorkommen  konnten ;  die  dabei  beobachteten  physiologischen 
Wirkungen  deuten  darauf  hin,  dass  Rückschläge  auf  einem 
grossen  Theile  der  betreffenden  Erdstrecke  stattgefunden 
haben  müssen.  Jener  einzige  Blitzableiter  des  an  das  Pfarr- 
haus angebauten  Nachbarhauses  würde  das  Eintreten  jener 
Blitzeswirkungen  verhütet  haben,  wenn  seine  Ausleitung  in 
die  unterirdische  Wasserstrecke  vorhanden  gewesen  und 
durch  Zweigleitungen  der  obere  Theil  desselben  mit  den 
Giebeln  und  Dachkanten    der    angrenzenden  Häuser    in   ge- 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  261 

höriger  Weise  verbunden  gewesen  wäre;  die  Höhe  der  Auf- 
fangstange selbst  hatte  dabei  im  Allgemeinen  keinen  maass- 
gebenden  Einfluss. 

Die  im  Hause  der  bannherzigen  Schwestern  beobachte- 
ten Erscheinungen  sind  nach  der  obigen  Schilderung  viel 
zu  complicirt,  als  dass  es  ohne  nähere  Kenntniss  jener 
Räumlichkeiten  möglich  wäre,  die  Bahnen  des  eigentlichen 
Entladungsstromes  von  denen  der  durch  diesen  sowie  durch 
Influenz  erzeugten  Seiten-  und  getrennten  Entladungen  etc.  ver- 
folgen zu  können.  Die  eigentliche  Ausleitung  oder  vielmehr 
der  Weg  des  kürzesten  Leitungswiderstandes  ,  auf  welchem 
vor  dem  Einschlagen  die  Influenzelektricität  vom  Grund- 
wasser aus  durch  die  Erdschichten  sich  verbreitete,  kann 
sowohl  an  der  Cloake  als  auch  am  Keller  angenommen 
werden ;  ob  die  ungeheuren  hier  frei  gewordenen  Elektricitäts- 
mengen  beide  Wege  längs  der  an  den  Wänden  und  im 
Treppenhaus  sowie  am  Dache  sich  vorfindenden  metallischen 
und  Halbleiter  etc.  gleichzeitig  angenommen  haben,  lässt 
sich  wohl  vermuthen,  aber  nicht  mit  Sicherheit  behaupten. 
Alle  übrigen  im  Schwesterhause  beobachteten  Erscheinungen 
dürften  lediglich  den  durch  Influenz  in  grösseren  oder 
kleineren  Entfernungen  gegen  isolirte  discontinuirliche  Metall- 
strecken entstandenen  Entladungsströmen  zuzuschreiben  sein, 
deren  nähere  Präcisirung  weitere  Detailuntersuchungen  an 
den  betreffenden  Orten  selbst  erfordern   würde. 

Die  Lichterscheinungen,  welche  an  den  beiden  soge- 
nannten Blitzhäusern  am  Boden  und  überhaupt  in  den 
unteren  Räumen  der  Gebäude  etc.  beobachtet  wurden, 
bieten  nichts  Sonderbares,  sie  mussten  sogar  in  noch  grösserer 
Zahl  zum  Vorschein  kommen,  da  an  jeder  Unterbrcchungs- 
stelle,  welche  einem  der  eingetretenen  Entladungsströme  dar- 
geboten wurde,  solche  Lichterscheinungen  unter  sonst  gleichen 
Umständen  in  um  so  höherem  Grade  auftreten,  je  grösser 
die  Men^e    und  Dichte    der    an    ihren    Enden   influencirten 


262  Sitzung  der  math.-phys.  Glosse  com  6   Juli  1867. 

Elektricität  und  je  grösser  diese  Schlagweite  ist.  Ob  hiebei 
zugleich  materielle  Substrate  im  feinst  vertheilten  Zustande 
innerhalb  des  stark  erhitzten  Luftstromes  von  einem  Ende 
der  Unterbrechungsstelle  zum  anderen  als  leuchtende  Materie 
geführt  werden  konnte,  dürfen  wir  —  bekannter  Thatsachen 
halber  —  nicht  in  Abrede  stellen  ;  es  kann  daher  allerdings 
die  Frau  Küsterin  eine  derartige  Erscheinung  am  Boden 
der  genannten  Dachstube  zwischen  dem  eisernen  Scharnier 
am  Fenster  oder  irgend  einem  anderen  metallischen  Ob- 
jecte  in  der  Nähe  des  Bodens  und  einer  kleineren  oder 
grösseren  Metallstrecke  am  Ofen  gesehen  haben,  über  deren 
Gestalt  wohl  schwerlich  eine  genaue  Angabe  zu  liefern  ist; 
eine  „Feuerkugel"  in  gewöhnlichem  Sinne  dieses  Ausdruckes 
war  es  nicht.  Ebenso  ist  die  Möglichkeit  vorhanden,  dass 
bei  einer  Ladung  von  so  mächtiger  Dichte  und  Menge  wie 
sie  an  der  Umfassung  des  ganzen  Hauses  der  barmherzigen 
Schwestern  vorkam,  unmittelbar  vor  dem  Einschlagen  alle 
isolirt  aufgehängten  oder  sonst  wie  angeordneten  und  isu- 
lirten  metallischen  Objecte  durch  Influenz  elektrisirt  wurden, 
und  in  diesem  Zustande  elektrische  Lichtbüschel  an  Ketten 
und  anderen  metallischen  Objecten  wahrgenommen  werden 
konnten.  Die  züngelnde  Feuerftamme,  welche  die  Frau 
Oberin  an  einer  Lampe  in  der  südlich  liegenden  Kapelle 
vor  dem  Einschlagen  gesehen  hat,  möchte  daher  einer  der- 
artigen Erscheinung  zuzuschreiben  sein;  letztere  musste 
auch  in  dem  Augenblicke  wieder  verschwinden,  in  welchem 
die  Entladungsströnie  als  Blitzschlag  auftraten. 

Aus  den  mechanischen  Wirkungen  und  den  Detona- 
tionen, wie  sie  oben  geschildert  wurden ,  können  wir  bloss 
entnehmen,  dass  nicht  allein  die  Menge  und  Dichte  der  zur 
Ausgleichung  gekommenen  Elektricitäten  von  mächtiger 
Stärke  gewesen  sein  müsse,  sondern  dass  auch  gleichzeitig 
Entladungsströme  an  sehr  vielen  Stellen  über  schlechte 
Leiter  —  Stein-   und   Sandschichten   etc.    —   von   der   ver- 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  263 

seliiedensten  Beschaffenheit  und  grosser  Ausdehnung  sich 
verbreiten  mussten.  Es  liisst  sich  daher  vermuthen,  dass 
auch  die  nächst  liegenden  Gebäude  in  der  Sphäre  der  In- 
flueuz  sich  befanden ,  dass  jedoch  bei  diesen  die  Wirkungen 
sich  lediglich  auf  die  (im  Boden  wahrscheinlich  vorgekom- 
menen Durchbohrungen  u.  dgl.  und)  heftige  Erschütterungen 
und  Schallerscheiuungen  sich  beschränkten,  weil  die  an  den- 
selben befindlichen  Blitzableiter  den  Ladungen  und  Ent- 
ladungen die  Bahn  schon  vorgeschrieben  hatten. 

Einfacher  erscheint  das  Ereigniss  an  der  Waldstrasse; 
hier  lässt  sich  mit  grosser  Vvahrscheinlichkeit  vermutheu, 
dass  die  Bahn  des  kürzesten  Leitungswiderstandes  von  dem 
oben  erwähnten  Senkloche  aus  —  das  vermuthlich  dem 
Niveau  des  Grundwassers  am  nächsten  lag  —  in  den  feuchten 
Eid-  und  Sandschichten  unmittelbar  zum  unteren  Theile  des 
Blitzableiters  selbst  ging,  der  nicht  mit  dem  Grundwasser 
in  Coiumunication  stand ,  und  weshalb  jene  mechanischen 
Wirkungen  und  JKrdaushebungen  den  Entladungsstrom  be- 
gleiteten. 

Die  vorliegenden  Thatsachen  über  die  in  Darmstadt 
vorgekommenen  —  Dank  der  Vorsehung  —  äusserst  seltenen 
Blitzesereignisse  haben  unsere  Betrachtung  insbesondere  des- 
halb in  so  umfassender  Weise  in  Anspruch  genommen,  weil 
dieselben  zu  den  wichtigsten  Belegen  gegen  die  Annahme 
gehören,  als  ob  der  Blitzstoff  —  wenn  wir  uns  dieses  Aus- 
druckes bedienen  dürfen  —  von  der  Wolke  gegen  die  Erde 
ströme  und  hier  in  der  verschiedenartigsten  Entladungsweise 
durch  die  im  Wege  stehenden  irdischen  Objecte  gehen  müsse, 
um  endlich  in  den  Boden  selbst  gelangen  zu  können.  Unter 
Anwendung  der  einfachsten  und  längst  bekannten  Lehren 
hingegen  lässt  sich  mittelst  jener  Thatsachen  von  Neuem 
zeigen,  dass  die  Ursache  eines  jeden  Blitzschlages  in  der 
Influenzfähigkeit  der  Terrainschichten,  über  welche  die  Ge- 
witterwolke hinwegzieht,   zunächst  gesucht  werden,    al^o  von 


264  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

der  Ausdehnung    und    der  Lage   des  Niveau's   der  Wasser- 
strecken abhängig  sein  muss,    auf  oder  an  welchen  die  be- 
treffende Erdstrecke    sich   befindet;     dass  hingegen  die    an 
der  Erde   selbst    in  Folge    des  Blitzschlages    zu  Stande  ge- 
kommenen Wirkungen  an  Gebäuden,  Blitzableitern  etc.  ledig- 
lich den  Entladungserscheinungen  zugeschrieben  werden  müssen, 
welche  jene  Influenz  zur  Folge  hatte.     Wenn  wir  so  unsere 
bei  früheren  Gelegenheiten    erörterte  Anschauungsweise  und 
die  dort  daraus  gezogenen  Folgerungen    wiederholt    als   be- 
stätiget ansehen,  so  dürfte  nunmehr  auf  die  Umstände  selbst, 
unter  welchen  die  ihrer  Entstehungsweise   nach   als  bekannt 
anzusehenden  Blitzesentladungen    an   irdischen  Objecten  auf- 
treten, besonders  aufmerksam   zu  machen  sein.     Die  Wirk- 
ungen  nämlich,    welche    hiebei   zum    Vorschein    kommen 
können,    sind  zum  Theile  noch  so  räthselhafter  Natur,  dass 
für  manche  dieser  Erscheinungen  eine  genügende  Erklärung 
nicht  gegeben  werden  kann,  ohne  dabei  Hypothesen  zu  Hülfe 
zu   nehmen,    welche    durch  Analogien    bis»  jetzt   noch  nicht 
gerechtfertiget    werden    können.     Zu    diesen   Erscheinungen 
gehören  namentlich  die  mechanischen  und  Wärmewirkungen, 
und   die   sie   begleitenden  Schallerscheinungen,    deren    Auf- 
treten  an   eine  Quelle   von  Explosionskräften  unwillkührlicl 
erinnern  muss,    für  welche  uns  alle  Anhaltspunkte  für  jetz 
noch   zu    fehlen  scheinen.     Es    ist  wohl  bekannt,    dass   alle 
Wirkungen  eines  Entladungsstromes  von  seiner  Stärke,  von 
der  Art  und  Weise   der  Entladung,    von    der  Beschaffenheit 
und  Natur  der  im  Schliessungsbogen  enthaltenen  Stoffe,  von 
der  Anordnung  des  letzteren  u.  s.  w.  abhängig  sein  müssen; 
die    hierüber     bekannt     gewordenen   Untersuchungsresultate 
reichen  jedoch  nicht  aus,  um  die  bei  Blitzesentladungen  zu- 
weilen vorkommenden  Erscheinungen  genügend    erklären  zu 
können ,    abgesehen    davon ,    dass  wir   über   die  Vertheilung 
und  Anordnung  der  Elektricität   an  den  durch  Influenz  von 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  265 

Seite    einer  Gewitterwolke    elektrisirten  Körpern   wohl    nie- 
mals präcise  Aufschlüsse  erhalten  werden. 

Unter  den  mir  bekannt  gewordenen  während  der  Ge- 
witter des  Monates  Juni  eingetretenen  Blitzschlägen  verdient 
ein  in  Forchheim  vorgekommenes  Ereigniss  hier  noch  be- 
sondershervorgehoben zu  werden,  theils  deshalb,  weil  es  unserer 
gedachten  Anschauungsweise  abermals  einen  wesentlichen  Be- 
leg liefert,  nicht  minder  aber  der  Wirkungen  halber,  welche 
die  Entladung  begleiteten.  Ueber  diesen  Fall  lasse  ich  hier 
einen  sehr  gründlichen  Bericht 7)  im  Auszuge  folgen,  welcher 
die  Beantwortung  mehrerer  Fragen  enthält ,  die  über  die 
stattgehabten  Vorgänge  genügenden  Aufschi  uss  zu  geben  ge- 
stattet; leider  konnten  die  Spuren  im  Boden  selbst  nicht 
näher  verfolgt  werden: 

,,Das  Haus  zu  Forchheim,  in  welches  der  Blitz  am  24.  Juni  18G7 
Abends  4  Uhr  einschlug,  wird  von  einem  Fallmeister  mit  Familie 
bewohnt,  und  steht,  wie  es  schon  des  Fallmeistergeschäftes  wegen 
sein  muss,  ganz  isolirt  auf  einem  Anwesen  ,  das  von  anderen  Woh- 
nungen ferne  liegt.  In  der  Nähe  des  Hauses  —  72  bayr.  Fuss  davon 
entfernt  —  vereinigen  sich  zwei  Arme  des  Flüsschens  Wiesent,  das 
sich  dann  in  der  Nähe  in  die  Regnitz ,  die  in  einer  Entfernung  von 
310  Fuss  an  diesem  Hause  vorbeifliegst,  ergiesst.  Der  Donau-Main- 
Kanal  dagegen  ist  2080  und  die  Eisenbahn  ist  gegen  2790  F.  von 
diesem  Hause  entfernt.  Das  Bezirksamtsgebäude,  welches  innerhalb 
der  Festungsmauern  liegt  und  mit  Blitzableiter  versehen  ist,  —  die 
übrigen  Gebäude  daselbst  haben  keine  Blitzableiter  —  ist  nördlich 
vom  Hause  des  Fallmeisters  und  in  gerader  Linie  1210  bis  12G0  F. 
davon  entfernt.    Auf  die  gestellten  Fragen  wird  Folgendes  bemerkt: 


7)  Diesen  Bericht  habe  ich  meinem  Freunde,  dem  kgl.  Herrn  Bau- 
beamten Ilatzel  in  Bamberg  zu  "verdanken.  Mein  Freund  bemühte 
sich  auf  mein  Ansuchen  selbst  nach  Forchheim,  und  nahm  hier  in 
sachgemässer  Weise  die  Untersuchung  so  weit  vor,  als  es  die  herr- 
schenden Umstände  erlaubten.  Die  mir  freundlichst  angelegten 
vier  graphischen  Darstellungen  lassen  über  die  Spuren  der  Entlad" 
ung  nicht  den  mindesten  Zweifel  übrig. 


266  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

1)  Ueber  Richtung,  Zug  und  Dauer  des  Gewitters  am  24.  Juni  1867 
konnte  man  keine  genauen  und  zuverlässigen  Mittheilungen  mehr 
erhalten.  2)  Das  vom  Blitz  getroffene  Gebäude  des  Fallmeisters  ist 
nicht  mit  Blitzableiter  versehen.  3)  Dieses  Gebäude  ist  zweistöckig, 
und  hat  bis  zum  First  eine  Höhe  von  etwa  27  Fuss.  Die  an  der 
Westseite  angebauten  Nebengebäude  sind  um  10  F.  niedriger,  zwei 
isolirt  südlich  davon  stehende  Nebengebäude  sind  nur  10  bis  12  F. 
hoch.  Die  östliche  —  oder  vielmehr  etwas  südöstliche  —  Giebelseite 
des  Hauses  wurde  allein  vom  Blitze  getroffen.  4)  Der  Haussockel 
liegt  circa  5  Fuss  über  dem  Niveau  des  jetzigen  Wasserstandes  der 
Wiesent  und  Regnitz  (vom  18.  Juli).  Das  Terrain  um  das  Gebäude 
besteht  aus  Sand  (Alluvium).  5)  Im  Boden  sind  keine  Spuren  des 
Blitzschlages  bemerkt  worden.  6)  Die  Bewohner  wurden  vom  Blitz- 
schlage betäubt,  konnten  daber  keine  Aufschlüsse  über  die  Licht- 
erscheinungen geben.  Von  anderen  Personen  wurde  der  Blitzschlag 
nicht  bemerkt,  da  das  Gebäude  ganz  isolirt  liegt.  (Die  beiden  ver- 
schont gebliebenen  Kinder  —  s.  unten  —  dürften  jedenfalls  durch 
die  Lichterscheinungen  verscheucht  worden  sein)". 

„Die  Umfangswände  des  Gebäudes  bestehen  aus  Riegelwerk  von 
0,5  Fuss  starkem  Holze,  deren  Fache  mit  Backsteinen  und  Sand- 
steinen ausgemauert  und  mit  Mörtel  verputzt  sind.  Die  Bahn  des 
Blitzschlages  zeigt  sich  an  allen  Stellen  der  Giebelwand  an  der 
inneren  Seite  der  Wandfläche,  nur  zwischen  dem  zweiten  und  ersten 
Stock  ist  die  Spur  an  der  Aussenseite  der  Wand  sichtbar.  Der  Blitz 
schlug  unter  dem  Giebelbrett  in  das  Haus  ein,  zertrümmerte  daselbst 
das  Giebelfenster  vollständig,  wovon  nur  noch  kleinere  Splitter  übrig 
geblieben  sind,  fuhr  dann  an  dem  rechtseitigen  Fensterpfosten  von 
Holz  herunter  bis  zu  einer  eisernen  Klammer  und  versengte  das 
Holz  —  es  sind  schwarzbraune  Brandflecken  von  3  bis  4  Zoll  vor- 
handen — .  Die  eiserne  Klammer  circa  1  Fuss  lang  ist  mit  beider 
Spitzen  in  das  Holz  geschlagen,  so  dass  der  Zwischentheil  1  Zoll 
weit  vom  Holze  absteht;  auf  der  Höbe  dieser  Klammer  sind  weder 
Brandflecken  noch  sonstige  Beschädigungen  des  Holzes  bemerkbar, 
vom  unteren  Ende  dieser  Klammer  abwärts  ist  jedoch  die  Bahn  des 
Blitzstrahles  wieder  durch  Brandflecken  bezeichnet.  Die  Verkohlunc 
beschränkt  sich  jedoch  an  allen  Stellen  nur  auf  die  Oberfläche  des 
Holzes  und  dringt  nirgends  tief  in  dasselbe  ein.  Das  Holzwerk  ist 
auch  nicht  in  Brand  gerathen.  Der  Blitz  fuhr  dann  durch  eine 
Fuge  zwischen  Giebelwand  und  Dachgebälk  hindurch;  an  der  unteren 
Fläche  des  Dachgebalkes  werden  die  hinterlassenen  Spuren  desselben 
wieder  sichtbar,  indem  hier  ein  quadratförmiges  Stück  Deckenverputz 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  2G7 

der  Lattendecke  von  0,2  Fuss  Seitenlänge  scharfkantig  wie   heraus- 
geschnitten,  abgesprengt,   die  Latte    darunter  stark  geschwärzt  und 
eine  kleine  Vertiefung  eingebrannt  ist.  Ausserdem  ist  an  dem  recht- 
seitigen  Fensterpfosten   oben    an   der  Decke   ein    Stückholz    0,05  F. 
hoch,     3/i  Zoll    breit    und    tief  in  Form  einer  scharfkantigen  Rinne 
herausgesplittert,  deren  Flächen  jedoch  keine  Spuren  von  Verkohlung 
zeigen.      Von  hier    aus    fuhr    der   Blitz   durch    den    zwischen   zwei 
Fenstern  hängenden  Spiegel  im  ersten  Stocke,  schlug  an  der  oberen 
Ecke    desselben    ein  Loch    0,4  F.  breit,  0,95  F.    hoch    in    denselben, 
ging  hinter  dem  Spiegel  diagonal  herunter,  hinterliess  Brandflecken 
auf  der  hölzernen  Spiegelwand  und  auf  der  Hauswand  daselbst,  fuhr 
an  der  unteren  Ecke  des  Spiegels  durch  das  Glas  heraus  und  schlug 
daselbst  ein  Loch  0,1  F.  hoch    und  0,7  F.  breit    in    denselben.     Die 
Ränder  dieser    beiden  Löcher    sind    in   unregelmässigen  Linien    aus- 
gesplittert, die  vorstehenden  Spitzen  auswärts  etwas  aufgebogen,  und 
das  Glas  auf  0,05  F.    bis  0,15  F.  Breite    sehr    stark   angeschmolzen, 
so  dass  es  auf  diese  Breite  blind,  d.  h.  nicht  mehr  durchsichtig  ist.  — ■ 
Die  Fenster  beiderseits  des  Spiegels  sind  mit  eisernen  Winkelbändern 
beschlagen,    die    an    den  Spitzen   ebenfalls  Spuren    von   Schmelzung 
zeigen.     Auf  dem  Tische    vor    dem  Spiegel    (der   Tisch    befand   sich 
ebenfalls  an  der  Wand  des  Zimmers)    lagen    einige  Kleidungsstücke, 
welche  in  Brand  geriethen  und  ein  tellergrosses,  7*  Zoll  tiefes  Loch 
in  den  Tisch  brannten.     Der  Blitz  fuhr  an  der  Ecke  zwischen  Tisch 
und  Fenster  durch  eine  Fuge  zwischen  dem  Brustriegel  des  Fensters 
und  der  Fachausmauerung  hindurch,    splitterte  dabei  ein  Holzstück 
ab  und  darunter  einige  Fenstersplitter  aus ;  nahm  dann  seinen  Weg 
auf  der  Aussenfläche  des  Hauses  bis  zum  Fenster  des  Erdgeschosses". 
[„An    dieser    Stelle   der    von    der    Blitzesentladung    durchbrochenen 
Wand  soll  eine  rinnenförmige  Vertiefung,  und  der  Mörtel  derselben 
wie  geschmolzen  oder  salpetrig  gewesen  sein.     Diese  Stelle  ist  aber 
inzwischen  wieder   verputzt    und    übertüncht  worden1'.]     „ Durch  das 
Fenster    (des    nordöstlichen    Zimmers)    des    Erdgeschosses    ging    die 
Entladung    hindurch,    schmolz    das    Blei    an    verschiedenen    Stellen, 
splitterte  Glasstücke  aus,    fuhr  in  das  Zimmer,    wo  sich  die  Familie 
befand,    hinterliess    am    Tisch   und    am   Fussboden    mehrere   kleine 
Brandflecken,    und   fuhr   durch   die   östliche  Wand   an    einer  Stelle 
hindurch,    wo    am  Hause  selbst    die    (aus  einer  schräg  an  das  Haus 
anliegenden  Steinplatte   bestandene)   Ilundshütte    war.     In    letzterer 
lag  ein  grosser  Haushund,    an    einer    7  Fuss    langen   starken  Eisen- 
kette angebunden,  der  erschlagen  wurde.  Weitere  Spuren  des  Blitzes 
vuiii  Hunde  weg  am  Boden  etc.  sollen  (?)    nicht  bemerkbar  gewesen 


268  Sitzung  der  math-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

sein".  —  „So  weit  gehen  die  Beobachtungen,  die  ich  bei  der  Local- 
erhebung  machen  konnte.  Ferner  hat  mir  der  Fallmeister  Folgendes 
über  die  Wirkung  des  Blitzschlages  erzählt.  Er  sei  mit  seiner 
Familie  bei  Feier  seines  Namenstages  am  Tisch  (im  nordöstlichen 
Zimmer  des  Erdgeschosses)  gesessen ,  und  zwar :  eine  16jährige 
Tochter  und  ein  lOj ähriger  Knabe  seien  unmittelbar  am  (letzt- 
erwähnten) Fenster  auf  der  (an  der  östlichen  Zimmerwand  befind- 
lichen) Bank  gesessen,  und  vom  Blitz,  der  —  wie  gesagt  —  durch 
dieses  Fenster  fuhr,  getödtet  worden;  die  Kleider  des  Knaben  hätten 
gebrannt  (derselbe  sei  auch  schwarz  gebrannt  gewesen,  während  beim 
Mädchen  nur  eine  geringe  Spur  am  Arme  ersichtlich  war).  Seine 
Frau  sei  auf  dem  südlichen  Stuhl,  er  auf  dem  Stuhle  gegenüber  der 
Kinder  und  ein  Gast  auf  der  Bank  an  der  nördlichen  Wand  des 
Zimmers  —  und  zwar  alle  drei  um  den  Tisch  herum  mit  ihren 
Kindern  gesessen.  Alle  drei  —  Mutter,  Vater  und  Gast  —  seien 
vom  Blitzschlag  betäubt  worden  und  in  gleicher  Richtung  (von 
Norden  gen  Süden)  auf  den  Boden  gefallen,  seine  Frau  habe  eine 
Lähmung  am  linken  Bein,  wovon  jetzt  schwache  Spuren  zurück- 
geblieben ,  er  eine  vier  Tage  dauernde  Lähmung  am  rechten  Arm 
erlitten.  Zwei  auf  der  Bank  an  der  (dem  Fenster  gegenüberliegen- 
den) Bückwand  des  Zimmers  sitzende  Kinder  von  3  und  13  Jahren 
seien  nicht  vom  Blitze  beschädiget  worden,  sondern  nach  dem  Blitz- 
schlage zur  Thüre  hinausgelaufen.  Unter  der  Bank  am  Fenster,  auf 
welcher  die  von  der  Blitzesentladung  getödteten  zwei  Kinder  sassen, 
seien  drei  Hunde  gelegen,  die  ebenfalls  vom  Blitzschlage  erschlagen 
worden  seien.  Ausserdem  wurde,  wie  bereits  bemerkt,  der  Haus- 
hund ausserhalb  des  Hauses  —  der  unmittelbar  unter  diesem  Fenster 
am  Boden  lag  und  mit  der  genannten  Kette  (an  der  Wand  (?))  an- 
gebunden war  —  in  der  Hundshütte  erschlagen". 

Wenn  wir  die  Spuren  der  Entladungen  nach  der  eben 
vorgeführten  Beschreibung  (und  mittelst  der  uns  vorliegenden 
Abbildungen)  genau  durchgehen,  so  zeigt  es  sich,  dass  der 
eigentliche  Entladungsstrom  nicht  am  Dache,  sondern  erst 
unterhalb  des  Giebelbrettes  seinen  Ausgangspunkt  hatte; 
von  da  aus  ist  seine  Bahn  durch  die  Metalltheile  am  Dach- 
fenster, durch  mechanische  Wirkungen  bis  zur  Klammer 
des  Gebälkes,  von  hier  abermals  durch  mechanische  Wirk- 
ungen  und  Unterbrechungsfunken    bis   zur   Spiegel folie   und 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  269 

den  dünnen  eisernen  Fensterbeschlägen,  hierauf  durch  eigen- 
tümliche mechanische,  Wärme-  und  Lichterscheinungen  in 
und  an  der  Mauerwand,  dann  durch  die  Metalltheile  und  die 
starken  mechanischen  Wirkungen  am  Fenster  des  Zimmers, 
am  Erdgeschosse  und  endlich  durch  die  —  vermuthlich  an 
der  Aussenseite  des  Hauses  befestigte  —  lange  starke  Kette 
des  Haushundes  und  durch  letzteren  selbst,  der  auf  dem 
Boden  lag,  bezeichnet.  Wenn  wir  nun  in  Erwägung  ziehen, 
dass  die  nächste  Umgebung  von  Forchheim  ein  auf  grosse 
Ausdehnung  flacher  Wiesengrund  (mit  vielfachen  Bewässer- 
ungskanälen) ist,  dass  ferner  jenes  Haus  ohnehin  fast  un- 
mittelbar an  grossen  Bächen  sich  befindet,  deren  Niveau 
selbst  am  18.  Juli  noch  5  Fuss  unter  dem  Hause  lag,  wenn 
wir  ferner  erwägen,  dass  die  im  Juni  stattgehabten  mehr- 
fachen Regengüsse  einen  weit  höheren  Wasserstand  am 
Johannitage  vermuthen  lassen,  ferner  berücksichtigen,  dass 
in  diesem  Sommer  das  Grundwasser  in  den  Brunnen  auf 
einem  grossen  Gebiete  in  unseren  —  und  vermuthlich 
auch  in  den  Main-  etc.  —  Gegenden  einen  ungewöhnlich 
hohen  Stand  zeigt,  so  müssen  wir  schon  daraus  vermuthen, 
dass  die  Ursache  jenes  Ereignisses  nicht  in  einer  geringen 
Entfernung  des  unglücklichen  Hauses  von  der  Gewitterwolke 
oder  gar  am  Hause  selbst,  sondern  lediglich  in  den  Terrain- 
verhältnissen jenes  Stückes  Land,  über  welches  die  Gewitter- 
wolke gezogen  und  in  der  vermuthlich  äusserst  starken 
elektrischen  Ladung  der  letzteren  gesucht  werden  müsse. 
Die  über  die  Bahn  der  Entladung  berührten  Umstände  so- 
wie die  Localerhebungen  zeigen  uns  aber,  dass  am  Dache 
selbst  keinerlei  Beschädigungen  vorkamen  und  dass  die  In- 
fluenzfähigkeit der  am  Hause  und  an  seinen  Wänden  etc. 
vorkommenden  Materialien  und  Objecte  hier  gar  nicht  in 
Anschlag  gebracht  werden  kann :  es  muss  also  die  unge- 
heure Elektricitätsmenge,  welche  beim  Blitzschlage  zur  Ent- 
ladung kam,  sich  lediglich  aus  der  durch  Influenz  elektri- 
[1867.  II.  2.]  18 


270  Sitzung  der  math.-phys.  Gasse  vom  6.  Juli  1867. 

sirten  unterirdischen  Wasserstrecke  an  den  genannten  Theilen 
des  Hauses  von  unten  nach  oben  verbreitet  haben;  von  einem 
directen  Einschlagen  der  Gewitterwolke  oder  des  Blitzes 
dürfte  vermuthlich  hier  nicht  die  Rede  sein8).  Allem  Anschein 
nach  zog  letztere  von  Osten  her,  die  ausgedehnte  Grund- 
wasserstrecke konnte  eine  starke  influencirende  Wirkung  er- 
fahren; letztere  war  vermuthlich  an  der  Stelle,  wo  der 
Kettenhund  lag,  dem  Boden  am  nächsten,  und  durch  diesen 
verbreitete  sich  nun  die  in  Beziehung  auf  die  Wolke  nega- 
tive Ladung  über  die  bereits  beschriebenen  Strecken,  um 
nach  genügend  grosser  Entfernung  der  influencirenden  Wolke 
oder  nach  der  Entladung  der  letzteren  in  der  Atmosphäre 
als  Entladungsstrom  innerhalb  der  discontinuirlichen  Leitungs- 
bahn bis  zum  Grundwasser  hin  aufzutreten.  Das  ganze  Er- 
eigniss  scheint  bloss  ein  sogenannter  kalter  Schlag,  also 
eigentlich  ein  Rückschlag  gewesen  zu  sein,  deren  ausserdem 
noch  mehrere  andere  in  secundärer  Weise  gleichzeitig  ein- 
getreten sein  konnten9).  Die  vorher  beschriebene  Bahn  ist 
nämlich  augenscheinlich  der  Weg  des  kürzesten  Leitungs- 
widerstandes   für   den  Ladungs-   und   Entladungsstrom   ge- 


8)  Vergl.  Polytechn.  Journ.  Bd.  CLXXXII,   S.  295. 

9)  Ein    ähnliches   jedoch   von   unwesentlichen   Wirkungen   unc 
von    keinerlei    Unfall    begleitetes    Blitzesereigniss   kam    bei   einer 
schwachen  von  West  gen  Ost  ziehenden  Gewitter    am  22.  Juli  d.  J. 
Abends  10  Uhr  am  neuen  Gottesacker    an    der  Thalkirchner-Strasse 
zu  München   vor.     Die  Gewitterwolken    zogen   dabei   über    das    mit 
Grundwasser   reichlich    versehene   kleine    Thal   —    zwischen    Über- 
sendung und   der  Isar  —  und   der  Blitzschlag   kam   an    dem   west- 
lichen Thorbogen    der    Umfassungsmauer    vor.     Die  Spuren    an   der 
unteren  beiden  Enden  des  Sockels,   an   dem  Bogen,    sowie    die  Zer 
Störung  des  aus  Backsteinen  bestehenden  Kreuzes  Hessen    erkennen, 
dass  alle  hier  befindlichen  Metalltheile  —  Gitterthor,  eiserne  Stange 
des  Kreuzes  etc.  —  die  discontinuirliche  Leitungsstrecke  für  die  ir 
fluencirte   Ladung    bildeten.   — ■   Diese    Entladung    soll   von   einem 
starken  (elektrischen  oder  Ozon-)  Geruch  begleitet  gewesen  sein. 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  27 i 

weseu;  bei  einer  solch  ungeheuren  Elektricitätsmenge  vop 
so  bedeutender  Dichte,  die  unmittelbar  vor  der  Entladung 
an  den  verschiedenen  Theilen  der  östlichen  Giebelwand  also 
auch  an  der  untersten  Fensterwand,  an  der  Fensterumfassung 
und  den  hier  befindlichen  Metalltheilen  sich  anhäufte,  konnte 
die  influencirende  Wirkung  gegen  die  beiden  unmittelbar  am 
Fenster  gesessenen  zwei  Kinder  sowie  gegen  die  übrigen  in 
deren  Nähe  befindlichen  Personen  uud  Objecte  nicht  unter- 
bleiben; theilweise  durch  ihre  Verbindung  mit  der  östlichen 
Wand,  theils  mit  dem  Boden  selbst,  konnten  die  getrennten 
Entladungsströme  zu  Stande  kommen,  welche  natürlich  mit 
Rücksicht  auf  die  Entfernung  von  der  Wand  bei  den  ver- 
unglückten Kindern  —  die  am  stärksten  influencirt  waren  — 
stärker  ausfallen  mussten ,  als  bei  den  übrigen  Personen. 
Betrachten  wir  jedoch  die  Anordnung  und  Gruppirung  der 
getroffenen  Personen  (nach  dem  uns  vorliegenden  Grund- 
plan) im  Erdgeschosse,  so  möchte  es  nicht  unmöglich  sein, 
dass  die  beiden  unmittelbar  an  den  Schliessungsbogen  an- 
gelehnt gewesenen  zwei  Kinder,  sowie  die  drei  Hunde  unter 
der  Bank ,  auf  welcher  jene  sassen ,  durch  eine  Seitenent- 
ladung getödtet  wurden,  dass  hingegen  der  Entladungsstrom, 
welcher  die  drei  älteren  um  den  Tisch  herum  an  der 
abgewendeten  Seite  in  einer  discontinuirlichen  Kette  befind- 
lichen Personen  betäubt  und  oberflächlich  verletzt  hat,  viel- 
leicht ein  seeundärer  oder  inducirter  war.  Mag  nun  die 
Natur  dieser  Ströme,  durch  welche  das  unglückliche  Er- 
eigniss  sich  manifostirte,  von  der  einen  oder  anderen  Art 
gewesen  sein,  so  können  wir  immerhin  noch  ausserdem  mit 
der  grössten  Wahrscheinlichkeit  annehmen ,  dass  der  ganze 
Boden ,  auf  dem  das  Haus  ruht ,  an  der  Influenz  Antheil 
nehmen  musste;  der  Rückschlag  selbst  konnte  daher  auch 
starke  erschütternde  Wirkungen  am  ganzen  Gebäude  und 
selbst  an  den  unverletzt  gebliebenen  zwei  Kindern ,  die  an 
der  Rückwand    des  Zimmers  —  vermuthlich    mit    herunter- 

18* 


272  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

hängenden  Beinen  —  sassen,  auftreten:  sowohl  die  im  Zim- 
mer wahrgenommenen  Entladungsfunken  als  auch  eine  etwas 
ungewöhnliche  Erschütterung  verscheuchte  dann  die  erschreck- 
ten Kinder  aus  dem  Hause.  [Auffallend  ist  es ,  dass  bei 
diesem  sowie  bei  den  oben  beschriebenen  Blitzesereignissen 
der  eigenthümliche  Ozongeruch  selbst  in  der  nächsten  Um- 
gebung nicht  wahrgenommen  worden  ist.] 

Sowohl  die  physiologischen,  als  auch  die  mechanischen 
und  die  mit  diesen  verbunden  gewesenen  äusserst  intensiven 
Wärmewirkungen ,  welche  das  in  Forchheim  am  24.  Juni 
stattgehabte  Blitzesereigniss  begleiteten ,  sind  so  eigentüm- 
licher Natur,  dass  dieselben  einer  näheren  Untersuchung 
wohl  unterworfen  werden  dürften .  wenn  noch  weitere  Er- 
hebungen hiefür  möglich  gemacht  werden  könnten;  wir 
müssen  uns  auf  einige  Bemerkungen  hierüber  beschränken. 
Die  im  Zimmer  der  Familie  des  Fallmeisters  vorgekommenen 
physiologischen  Wirkungen  dürften  uns  zunächst  zeigen,  dass 
[was  wir  übrigens  an  vielen  der  schon  früher  vorgekom- 
menen Fälle  dieser  Art  nachweisen  könnten]  die  Tödtung 
durch  einen  sogenannten  Blitzschlag  bei  verschiedenen  Per- 
sonen im  Allgemeinen  nicht  auf  ein  bestimmtes  Alter  oder 
Geschlecht  sich  beschränkt,  und  dass  überhaupt  von  einer 
Auswahl,  die  eine  Blitzesentladung  in  dieser  Beziehung  treffe, 
keine  Rede  sein  und  dass  ebenso  wenig  ein  derartiger  Unter- 
schied zwischen  Menschen  und  Thieren  gefunden  werden 
kann;  es  sind  lediglich  die  Umstände,  unter  welchen  die 
Influenz-  und  die  diese  begleitenden  Nebenwirkungen  etc., 
sowie  die  aus  diesen  verschiedenartigen  Vorgängen  ent- 
springenden Entladungssströme  zu  Stande  kommen  können, 
bei  der  physikalischen  Beurtheilung  eines  derartigen  Falles 
ins  Auge  zu  fassen10).     Statistische  Nachweise   solcher  Art, 


10)  Die  Untersuchung,   welche   an    der   Leiche   des    16jährigen 
Mädchens  und  derjenigen  des  10jährigen  Knabens  an  der  Unglücks- 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  273 

wie  sie  für  vorgekommene  Fälle  von  Tödtungen  von  Per- 
sonen durch  Blitzschläge  in  den  verschiedensten  Gebieten  etc. 
noch  häufig  zusammen  gestellt  werden,  dürften  wohl  ihren 
eigenthümlichen  Werth  haben;  in  rein  physikalischer  sowie 
physiologischer  Beziehung  aber  dürfte  ihre  Bedeutung  als 
zweifelhaft  erscheinen.  —  Als  besonders  auffallend  möchten 
die  Producte  der  Wärme-  und  mechanischen  Wirkungen  her- 
vorzuheben sein,  welche  nach  dem  Blitzschlage  in  dem 
Wohnzimmer  der  Familie  aufgefunden  worden  sind,  sowie 
jene,  welche  in  der  Mauer  zwischen  dem  ersten  Stockwerke 
und  dem  gedachten  untersten  Fenster  vermuthungsweise 
sich  noch  vorfinden  sollen.  Der  mir  zugekommene  Bericht 
meines  Freundes  spricht  sich  hierüber  in  nachstehender 
Weise  aus :  „Von  anderen  Personen,  die  das  Haus  am  darauf 
folgenden  Tage  besuchten,  hörte  ich  sagen,  dass  sie  förm- 
liche Röhren,  die  der  Blitz  durch  Holz  und  Mauerwerk  ge- 
bohrt habe,  gesehen  hatten  (s.  o.  S.  267);  allein  dieses  be- 
ruht auf  Täuschung  oder  falscher  Auffassung  der  Sache, 
denn  es  sind  nur  ausgesplitterte  Rinnen  am  Holzwerk,  und 
Aussplitterungen  an  den  Fugen  zwischen  Holz  und  Mauer- 
werk bemerklich.  Ferner  soll  am  Fussboden  des  Wohn- 
zimmers Sand  gestreut  gewesen  sein  —  nach  ländlicher 
Sitte  geschieht  diess  in  Oberfranken  am  Vorabende  eines  jeden 
Feier-  oder  Festtages  — ,  der  in  der  Richtung  des  Blitz- 
schlages geschmolzen  und  sich  in  eine  Röhre  verwandelt 
haben  soll  ....     An  den  Fussbodenbrettern  sind  übrigens 


statte  vorgenommen  wurde,  hat  sich,  wie  es  den  Anschein  hat,  bloss 
auf  eine  oberflächliche  am  Leibe  u  dgl.  beschränkt.  Die  Spuren 
der  Entladung  an  beiden  Kindern  möchten  wohl  am  Kopfe  —  unter 
den  Haaren  —  oder  selbst  an  anderen  blossgelegten  zarten  Organen 
sich  vorfinden ;  nur  dürfte  zu  deren  Unterscheidung,  da  sie  vermuth- 
lich  in  schwachen  siebartigen  Durchbohrungen  bestehen,  mindestens 
die  Anwendung  einer  Loupe  nöthig  gewesen  sein. 


274  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

nur  ein  oder  zwei  Brandflecken  in  Kreuzergrösse"  (also  kein 
Loch  in  Thalergrösse  wie  diess  von  anderer  Seite  angegeben 
wurde)  ,,und  am  Tische  unten  nur  einige  Stellen ,  kaum 
merklich  versengt,  aber  kein  Strahl  mit  Brandflecken,  wie 
er  an  der  Wand  im  oberen  Stocke  vorhanden,  zu  bemerken 
ist".  Die  Entstehungsweise  des  am  Zimmerboden  der  Un- 
glücksstelle vorgefundenen  „röhrenförmigen  Concrements", 
von  welchem  durch  ein  Fragment11)  nachgewiesen  worden 
ist,  dass  diess  eine  wirkliche  Blitzröhre  war,  muss  vor- 
läufig als  ein  in  ein  Dunkel  verhülltes  Phänomen  angesehen 
werden;  ein  ähnlicher  Fall  ist  meines  Wissens  bis  jetzt  noch 
nicht  bekannt  geworden.  Jenes  Fragment  ist  beiläufig  1  bayer. 
Dec.  Zoll  lang,  ganz  unregelmässig  gestaltet,  seine  Grund- 
form dürfte  etwa  als  ein  stumpfer  Kegel  mit  ovalen  Grund- 
flächen angesehen  werden,  von  welchen  die  Hauptaxen  der 
grösseren  beiläufig  6'"  und  2'"  (b.  Dec.  M.),  jene  der 
kleineren  o'"  und  l1/«'"  sind;  dieses  Röhrenstück  ist  sehr 
dünnwandig  (an  der  stärksten  Stelle  etwa  1js  bayr.  Decimal- 
linie  dick)  an  verschiedenen  Stellen  mit  Ausbiegungen  und 
Zacken  versehen,  im  Innern  vollkommen  verglast,  an  den 
Aussenflächen  rauh  und  mit  weissen  Sandkörnern  (?)  besetzt. 
Unwillkührlich  taucht  beim  Anblicke  dieses  Gebildes  —  das 
mit  den  gewöhnlichen  Blitzröhren  volle  Aehnlichkeit  zeigt  — 
der  Gedanke  auf,  es  müsse  auf  der  angeblich  zwei  Fuss 
langen  Strecke  der  dünnen  Saudschichte  am  Zimmerboden 
ein  bis  zum  höchsten  Glühgrade  erhitzter  Luftstrom  die 
Bahn  der  elektrischen  Entladung  bezeichnet  haben.  —  Eine 
Nachgrabung   im   Boden    ausserhalb    des  Hauses    wurde   bis 


11)  Dieses  Fragment  befindet  sich  im  physikalischen  Cahinete 
des  Lyceum's  in  Bamberg;  es  wurde  mir  durch  die  Güte  meines  ge- 
ehrten Collega  Herrn  Prof.  Dr.  Höh  zur  Ansicht  zugesendet;  durch 
Vermittelung  des  Untersuchungsrichters  Herrn  llath  Miltner  ist 
dasselbe  in  seinen  Besitz  gelangt. 


Kuhn:  Bemerkungen  über  Blitzschläge.  275 

jetzt  nicht  vorgenommen ;  ob  man  hier  nicht  auf  Blitzröhren 
bei  vorsichtiger  Bohrung  kommen  dürfte,  könnte  natürlich  nur 
als  eine  Vermuthung  hingestellt  werden. 

Durch  die  über  die  hervorgehobenen  Blitzesereignisse 
im  Vorstehenden  angestellten  Betrachtungen  dürfte  nunmehr 
die  Anschauungsweise  über  die  Entstehung  von  Blitzschlägen 
als  hinreichend  begründet  angesehen  werden.  Praktische 
Folgerungen  aus  den  durch  jene  Ereignisse  gewonnenen  Er- 
fahrungen zu  ziehen ,  dürfte  hier  als  unnöthig  erscheinen ; 
die  oben  (S.  247)  angeführten  Sätze  erlangen  ohnehin  hie- 
durch  eine  neue  Bestätigung 12).  Hingegen  mag  zum  Schlüsse 
noch  angeführt  werden,  dass  unsere  Erörterungen  vielleicht 
auch  für  die  Häufigkeit  der  Blitzschläge  neue  Anhaltspunkte 
liefern  können.  Es  scheint  uns  nämlich  daraus  hervorzu- 
gehen, dass  in  solchen  Jahren,  in  denen  durch  massenhafte 
Niederschläge  während  der  eigentlichen  Gewitterperioden  die 
Gewässer  überhaupt  sowie  namentlich  die  unterirdischen 
einen  hohen  Stand  annehmen ,  die  Zahl  der  Blitzschläge 
unter  sonst  gleichen  Umständen  —  also  auch  bei  gleicher 
Frequenz  und  Stärke  der  Gewitter  —  grösser  sein  müsse, 
als  in  Frühlings-  und  Sommermonaten  von  geringer  Regen- 
menge. Ebenso  scheint  aus  den  obigen  Betrachtungen  die 
Folgerung  gezogen  werden  zu  dürfen,  dass  bei  periodisch 
an  einem  und  demselben  oder  an  unmittelbar  auf  einander 
folgenden  Tagen  auftretenden  Gewittern  die  Wahrscheinlich- 
keit des  Eintretens  von  Blitzschlägen  bei  den  folgenden  Ge- 
wittern um  so  grösser  werden  müsse,  je  grösser  die  Regen- 
menge war,  welche  die  vorausgegangenen  Gewittererschein- 
ungen  als  Begleiter  und  zur  Folge  hatten. 


12)  Die  bei  meiner  Besprechung  über  die  neue  französische  In- 
struction für  Blitzableiter  an  Pulvermagazinen  [s.  Polytechn.  Journ. 
Bd.  CLXXXIV,  S.  4G9 ,  Juni  1867]  erhobenen  Bedenken  werden 
durch  die  eben  beschriebenen  Blitzcscreiguisse  von  Neuem  gercebt- 
fortiget. 


276  Sitzung  der  math.-jphys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 


Herr  v.  Kobell  hält  einen  Vortrag: 

„Ueber    den    Glaukodot    von    Hakansbö   in 
Schweden". 

Ich  habe  kürzlich  den  Glaukodot  von  Hakansbö  unter- 
sucht, welcher  sich  in  der  Krystallisation  von  dem  Glauko- 
dot Breithaupts  nur  dadurch  unterscheidet,  dass  die 
Spaltbarkeit  nach  der  basischen  Fläche  bei  diesem  als  be- 
sonders deutlich  angegeben  wird,  während  sie  bei  jenem 
wenig  deutlich  ist.  Die  Krystallisation  ist  bekanntlich  die 
des  Arsenopyrits  und  konnte  ich  an  den  Krystallen  von 
Hakanbö  ein  neues  Doma  2  P  oo  beobachten.  Meine  Analyse 
war  bereits  vollendet,  als  eine  Abhandlung  von  Tschermak 
über  dasselbe  Mineral  erschien,  worin  auch  eine  Analyse  von 
E.  Ludwig  mitgetheilt  wird.  Der  Inhalt  dieser  Abhandlung 
könnte  gegenwärtige  Publication  als  überflüssig  erscheinen 
lassen,  denn  ich  fand  wesentlich  ihre  Angaben  nur  bestätigt, 
gleichwohl  hat  die  Uebereinstimmung  zweier  unabhängig 
geführten  Untersuchungen  immer  einigen  Werth  und  nament- 
lich in  Bezug  auf  die  chemische  Analyse ,  welche  nicht  so 
leicht  zu  revidiren  ist  als  die  krystallographischen  Verhältnisse. 
Ich  stelle  daher  hier  die  beiden  Analysen  1.  von  Ludwig 
und  2.  von  mir  zusammen. 


1. 

2. 

Schwefel 

19,80 

19,85 

1,24 

S 

Arsenik 

44,03 

44,30 

0,59 

As 

Eisen 

19,34 

19,07 

0,681 

Fe 

Kobalt 

16,06 

15,00 

0,508 

Co 

Nickel 

— 

0,80 

0,027 

Ni 

Kieselerde 

— 

0,98 

99,23     100 


v.  Köbell:  Der  GlauJcodot  von  HaJcansbö.  277 

Die  Formel  ist  4  ^  +  5  Fe  {^, 

Die  Differenz  betrifft  nur  ein  geringer  von  mir  gefun- 
dener Nickelgehalt.  Ich  habe  darauf  ein  besonderes  Augen- 
merk gerichtet,  weil  es  seltsam  ist,  dass  die  bisherigen  Ana- 
lysen kobalthaltiger  Arsenopyrite,  eine  einzige  von  Ph.  Kröber 
ausgenommen,  kein  Nickel  angeben,  wie  auch  keines  in  dem 
analog  zusammengesetzten  Kobaltin,  während  im  Smaltin 
fast  immer  eine  Vertretung  des  Kobalt  durch  Nickel  vor- 
kommt. Ich  trennte  die  beiden  Metalle  durch  salpetricht- 
saures  Kali.  Das  erhaltene  Nickeloxyd  löste  sich  in  Salpeter- 
säure mit  grüner  Farbe  und  gab  mit  Ammoniak  im  Ueberschuss 
die  himmelblaue  Lösung.  Die  Kieselerde  fand  sich,  als  das 
mit  Wasserstoff  reducirte  Kobalt  in  Salpetersäure  gelöst 
wurde. 

Vor  dem  Löthrohr  auf  Kohle  entwickelt  das  Mineral 
anfangs  starken  Arsenikrauch ,  ohne  zu  schmelzen ,  nach 
längerem  Erhitzen  aber  schmilzt  es  ganz  leicht  zu  einer 
stahlgrauen  magnetischen  Perle,  welche  beim  ersten  Zu- 
sammenschmelzen mit  Borax  ein  grünlichblaues,  bei  län- 
gerem Behandeln  im  Reductionsfeuer  ein  schön  kobaltblaues 
Glas  giebt.  —  Dieser  Glaukodot  ist  wie  der  Arsenopyrit 
ein  guter  electrischer  Leiter  und  überläuft,  mit  der  Zink- 
kluppe in  Kupfervitriol  getaucht,  sogleich  mit  glänzendem 
metallischem  Kupfer. 

Als  Pulver  mit  Eisenpulver  gemengt  entwickelte  er  mit 
Salzsäure  reichlich  Schwefelwasserstoff. 

Mit  Salpetersäure  erhält  man ,  unter  Ausscheidung  von 
Schwefel,  eine  schön  rothe  Lösung. 

Der  erwähnte  von  Kröber  analysirte  nickelhaltige  Ar- 
senopyrit stammt  von  La  Paz  und  Yungas  in  Bolivia  und 
enthält  35  Procent  Eisen,  4,74  Nickel  und  nur  eine  Spur 
von  Kobalt.     Das  spec.  Gewicht  4,7    ist    auffallend    gering. 


278  Sitzung  der  mafh.-pliys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Der  Glaukodot  von  Hakansbö  hat  nach  Tschermak 
5,973,  nach  meiner  Wägung  5,96.  — 

Ich  stimme  der  Ansicht  Tschermak's  bei,  das  Mineral 
von  Hakanbö  zum  Glaukodot  zu  stellen  und  die  weniger 
Kobalt  enthaltenden  Verbindungen  dieser  Art  Danait  zu 
benennen.  Wo  bei  diesen  das  Kobaltblau  mit  Borax  nicht 
mehr  sicher  wahrzunehmen,  da  kann  man  sich  vom  Kobalt- 
gehalt überzeugen,  wenn  man  eine  feingeriebene  Probe  von 
etwa  1  Gramm  in  Salpetersäure  löst  und  die  stark  ver- 
dünnte Lösung  mit  ehem.  bereitetem  kohlensaurem  Kalk 
fällt.  Man  filtrirt  den  Niederschlag  des  arseniksauren  Eisen- 
oxyds und  versetzt  das  Filtrat  mit  Schwefelammonium;  er- 
hält man  kein  oder  ein  blass  gelblich  aussehendes  Präcipitat, 
so  ist  kein  Kobalt  vorhanden,  ist  aber  die  Trübung  oder 
der  Niederschlag  graulich  oder  schwarz,  so  säuert  man  die 
Flüssigkeit  mit  Salzsäure  an  und  lässt  sie  durch  einFiltrum 
laufen.  Ohne  weiteres  Auswaschen  trocknet  und  verbrennt 
man  dieses  Filtrum  und  schmilzt  den  Rückstand  im  Platin- 
drath  mit  Borax  zusammen.  Man  kann  so  die  kleinsten 
Mengen  von  Kobalt  in  den  Arsenik  und  Eisen  enthalten- 
den Erzen  nachweisen. 


Voit:  lieber  Harnsäuresed hnente.  279 


Herr  C.  Voit  berichtet  über  eine  in  seinem  Labora- 
torium und  unter  seiner  Leitung  von  Hrn.  stud.  med.  Frz. 
Hof  mann  ausgeführte  Arbeit 

,,Ueber  das  Zustandekommen    der  Harnsäure- 
sedimente". 

Ein  Niederschlag  von  Harnsäure  oder  harnsauren  Salzen 
entsteht,  wie  schon  länger  bekannt  ist,  nur  in  seltenen  Fällen 
dadurch,  dass  der  Harn  wegen  Wassermangels  mit  diesen  Ver- 
bindungen bei  der  Temperatur  des  Körpers  gesättigt  ist  und  sie 
beim  Erkalten  herausfallen  läset,  oder  dadurch,  dass  er  aus 
irgend  welchen  Ursachen  mehr  davon  enthält  als  gewöhnlich. 
Das  erstere  findet  nur  selten  statt,  weil  der  Niederschlag  meist 
erst  längere  Zeit  nach  der  Erkaltung  entsteht  und  beim  Er- 
wärmen  auf  38° C.  sich  nicht  wieder  löst;  das  letztere 
nicht ,  weil  sich  beim  Auftreten  von  Sedimenten  meist 
keine  grössere  Quantität  Harnsäure  findet.  Und  doch  macht 
man  sich  nicht  immer  von  diesem  Vorurtheil  los,  denn  man 
Bchliesst  nur  zu  oft,  wenn  mau  den  Boden  des  Harnglases 
mit  dem  bekannten  Ziegelmehl  bedeckt  findet,  auf  eine  ver- 
mehrte Harnsäureabscheidung.  Aber  auch  bei  dem  reichlich- 
sten Sedimente  darf  man  diesen  Schluss  nicht  machen,  dasselbe 
sieht  nur  voluminös  aus,  denn  sobald  man  zum  Harn  etwas  Säure 
zugiesst,  verschwindet  alles  bis  auf  wenige  Harnsäurekrystalle. 
Die  Menge  der  Harnsäure,  die  ein  gesunder  Mensch  im 
Tag  liefert,  kann  zwischen  0.4  —  2.0  Gramm  schwanken;  ich 
habe  bei  Krankheiten  nie  mehr  beobachtet,  als  normal  auch 
auftreten  kann.  Schon  vor  Jahren  habe  ich  einmal  den 
24stündigen  Harn  eines  Arthritikers  erhalten,  welchem  kalte 
Einwicklungen  gemacht  worden  waren;  der  Harn  war  durch 
Beine    ganze    Masse   trüb,    voll  des    reichlichsten    amorphen 


280  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Sedimentes;  man  wollte  mir  damit  beweisen,  dass  unter  der 
angegebenen  Behandlung  die  Harnsäure  aus  dem  Körper  zur 
Ausscheidung  gebracht  werden  könne;  als  ich  aber  die 
quantitative  Bestimmung  machte,  war  die  Menge  der  Harn- 
säure unter  dem  Mittel. 

Die  Harnsäure  kann  nicht  als  solche  aus  der  Niere  abge- 
schieden werden,  da  sie  in  Wasser  nahezu  unlöslich  ist,  sie 
kann  nur  als  harnsaures  Salz  im  frischen  Harn  enthalten  sein, 
und  muss  also  irgend  woher  ihre  Basis,  meist  Natron,  nehmen. 
Dadurch  ist  die  Menge  der  in  den  Harn  übergehenden  Harn- 
säure eine  sehr  beschränkte,  während  von  dem  in  Wasser 
leicht  löslichen  Harnstoff  unbegrenzte  Mengen  fortgeschafft 
werden  können;  jeder  Mensch  kann  im  Tage,  je  nach  der 
Menge  des  im  Körper  verfügbaren  Alkali's  nur  eine 
begrenzte  Harnsäuremenge  ausscheiden,  und  wenn  mehr 
erzeugt  wird,  als  entfernt  werden  kann,  so  muss  sie  zurück- 
bleiben. 

J.  Scherer  hatte  vor  längerer  Zeit  eine  Theorie  ent- 
wickelt, die  auf  die  Art  der  Bildung  der  betreffenden  Sedi- 
mente und  der  Harnsteine  das  hellste  Licht  zu  werfen  schien 
und  die  noch  heute  allgemein  acceptirt  ist.  Man  war  da- 
mals von  dem  allgemeinen  Vorkommen  der  Milchsäure  im 
Thierkörper  überzeugt.  Man  dachte  nicht  an  anorganische 
Säuren  und  man  hatte  die  Gegenwart  der  Milchsäure  in  der 
sauren  Milch  erkannt  und  so  musste  überall,  wo  man  im 
Organismus  eine  saure  Reaktion  traf,  Milchsäure  die  Ursache 
sein.  Die  saure  Reaktion  des  Harns  leitete  man  daher  auch 
von  der  Milchsäure  ab;  und  da  man  wusste,  dass  auf  Zu- 
satz einer  Säure  zum  Harn  Harnsäure  niederfalle,  so  lag  nichts 
näher,  als  anzunehmen,  die  Sedimentbildung  käme  von  einer 
Vermehrung  der  Milchsäure  im  Harn  nach  der  Entleerung, 
von  einer  sauren  Gährung  des  Harns. 

Nun  kann  man  aber  im  Harn  weder  Milchsäure  finden, 
noch  eine  Vermehrung  der  Säure  beim  Stehen. 


Voit:  Heber  Harnsäuresedimente.  281 

Man  ist  nicht  im  Stande,  Milchsäure  im  Harn  nachzu- 
weisen. Pettenkofer  bemühte  sich,  die  angebliche  Milchsäure 
darzustellen,  er  fand  dieselbe  nicht,  jedoch  statt  ihrer  das 
Kreatinin.  Auch  Liebig  sagt  in  seiner  berühmten  Abhand- 
lung über  den  Harn  des  Menschen  und  der  Thiere,  dass  er 
nicht  eine  Spur  Milchsäure  entdecken  konnte;  er  that  aber 
dar,  dass  die  saure  Reaktion  des  Harns  von  sauren  Salzen 
herrühre,  sauren  phosphorsauren  Alkalien  und  alkalischen 
Erden,  sauren  harnsauren  und  hippursaueren  Salzen,  welche 
durch  Einwirkung  der  letztgenannten  organischen  Säuren 
auf  das  basisch  phosphorsaure  Alkali  des  Bluts  entstan- 
den sind. 

Prüft  man  direkt  die  Säuremenge  des  Harns  durch  die 
Menge  Alkali,  die  zur  Neutralisation  erforderlich  ist,  so 
sieht  man  die  Menge  der  Säure  stetig  abnehmen  und  zu 
keinem  Zeitpunkte  sich  steigern;  es  existirt  keine  saure 
Gährung  des  Harns. 

Es  ist  das  saure  phosphorsaure  Natron,  welches  das 
im  Harn  gelöste  harnsaure  Alkali  allmählich  zersetzt.  Wenn 
man  ausserhalb  des  Körpers  die  Lösungen  beider  Salze  in 
äquivalenter  Menge  zusammenbringt,  so  fällt  nach  einiger 
Zeit  Harnsäure  krystallinisch  heraus  und  die  Flüssigkeit 
reagirt  alkalisch,  d.  h.  es  nimmt  das  saure  phosphorsaure 
Natron  ein  Aequivalent  Natron  von  der  Harnsäure  weg  und 
wird  zu  basisch  phosphorsaurem  Natron,  wie  es  im  Blute 
vorhanden  war  und  die  unlösliche  Harnsäure  muss  heraus- 
fallen. Dieser  Umlagerungsprozess  geht  um  so  schneller 
vorwärts,  je  concentrirter  die  Lösung  des  sauren  phosphor- 
sauren Natrons  ist. 

Diese  Thatsachen  erklären  die  Entstehung  der  harn- 
sauren Sedimente  vollkommen.  Gleich  nach  der  Bildung 
des  sauren  Harns  beginnt  die  Einwirkung  des  sauren  phos- 
phorsauren Natrons  auf  das  harnsaure  Natron;  es  fällt  harn- 
saures Salz  und  dann  Harnsäure  aus  und  zwar  um  so  eher, 


282  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

je  mehr  der  Harn  saures  phosphorsaures  Natron  enthält.  Die 
Fällung  kann  schon  in  den  Harnwegen  oder  der  Blase  ge- 
schehen, und  so  zu  Harngries  oder  Steinen  Veranlassung 
geben  oder  sie  geschieht  erst  ausserhalb  des  Körpers. 

Es  kann  eine  raschere  Unilagerung  entweder  durch 
reichlichere  Auscheidung  von  saurem  phosphorsaurern  Natron 
entstehen  oder  durch  eine  Concentration  des  Harns.  Das 
erstere  tritt  seltener  ein  und  kann  wohl  nur  bei  reichlicher 
Zersetzung  eiweissartiger  Stoffe  im  Körper  stattfinden;  so 
sieht  man  z.  B.  immer  nach  reichlicher  Aufnahme  stickstoff- 
haltiger Nahrung,  ohne  dass  weniger  Harn  entfernt  wird, 
ein  Sediment  von  Harnsäure  auftreten,  nur  veranlasst  durch 
die  grössere  Menge  des  sauren  phosphorsauren  Natrons  im 
Harn. 

In  den  meisten  Fällen  handelt  es  sich  aber  nur  um  eine 
Concentration  des  Harns  und  der  Lösung  des  sauren  phosphor- 
sauren Natrons  durch  eine  geringere  Wasserausscheidung.  Bei 
allen  Umständen,  bei  denen  dem  Harn  Wasser  entzogen  wird, 
treten  Sedimente  von  Harnsäure  auf,  ohne  dass  irgend  eine 
pathologische  Veränderung  vorhanden  zu  sein  braucht.  Haben 
wir  eine  Nacht  durch  getanzt,  so  bemerken  wir  im  Morgenharn 
ein  reichliches  Ziegelmehlsediment,  ebenso  wenn  wir  geschwitzt 
haben,  oder  wenn  durch  die  Haut  durch  Vorbeiströmen  kalter 
trockner  Luft ,  wie  bei  uns  in  München ,  viel  Wasser  in 
Dampfform  weggeht.  Geht  bei  Krankheiten  auf  anderen 
Wegen  Wasser  verloren,  so  bemerken  wir  die  Niederschläge; 
bei  jedem  Nasenkatarrh  zeigt  sich  ein  saturirter  Harn  und 
ein  Sediment;  ebenso  wenn  bei  Entzündungen  sich  Wasser 
in  Organen  oder  Höhlen  anhäuft  oder  wenn  dabei  durch  die 
Haut  bei  reichlichem  Schwitzen  Wasser  entfernt  wird;  in 
früherer  Zeit  hat  man  in  diesen  Fällen  von  kritischen 
Sedimenten  gesprochen. 

Aber  jeder  Harn  sedimentirt  zuletzt.  Eine  rasche  Wirk- 
ung des  sauren  phosphorsauren  Salzes  bewirkt  den  amorphen 


Voit:  Ueber  Harnsäuresedimente.  283 

Niederschlag,  eine  langsamere  scheidet  die  Harnsäure  kry- 
stallinisch  aus,  was  nur  keine    so  auffällige  Erscheinung  ist. 

Durch  die  beschriebene  Umwandlung  nimmt  die  saure 
Reaktion  des  Harns  nach  und  nach  ab.  Es  kann  schon 
bald  ohne  Zersetzung  des  Harnstoffes  und  ohne  Entstehung 
von  Ammoniak  eine  alkalische  Reaktion  auftreten,  wenn  nur 
gerade  so  viel  saures  phosphorsaures  Natron  vorhanden  ist, 
um  mit  dem  an  die  Harnsäure  gebundenen  Natron  basisches 
Salz  zu  bilden.  Ist  einmal  auf  diese  Weise  der  Harn  alka- 
lisch oder  schwach  sauer  geworden,  dann  beginnt  auch  die 
weitere  Zersetzung  desselben  unter  Einwirkung  der  Pilze 
und  greift  rasch  um  sich. 

Die  Ursache  der  Bildung  der  Harnsäuresedimente  wird 
somit  in  jedem  speciellen  Falle  leicht  zu  finden  sein;  es 
handelt  sich  um  Prozesse,  die  in  jedem  Harn  vor  sich 
gehen  und  nur  manchmal  schneller  verlaufen,  was  aber  bei 
ganz  normalem  Körper  ebenso  geschehen  kann,  wie  bei  er- 
kranktem. — 

Die  näheren  Ausführungen  werden  in  einer  eigenen  Ab- 
handlung von  Hrn.  Hofmann  gegeben  werden. 


284  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 


Herr  Seidel  berichtet  über  einen  Aufsatz  von  Hrn. 
Dr.  Adolph  Steinheil: 

,,Ueber  Berechnung  optischer  Construktionen" 
indem  er  zugleich  Instrumente  (Camera  obscura  und  Mi- 
kroscop-Objektiv)  vorzeigt,  welche  von  Herrn  Adolph  Stein- 
heil nach  den  in  dem  Aufsatz  dargelegten  Principien  con- 
struirt  worden  sind,  sowie  auch  Probe-Photographieen ,  die 
damit  erhalten  wurden. 

Nachdem  der  berühmte  Frauenhofer  durch  Entdeckung 
und  Anwendung  der  fixen  Linien  im  Sonnenspektrum  ge- 
zeigt hatte,  wie  sich  die  Eigenschaften  der  Glassorten  präcis 
durch  Zahlen  ausdrücken  lassen  und  dadurch  die  strenge 
Rechnung  in  der  Optik  möglich  gemacht  hatte,  verwendete 
er  diese  in  der  Art  für  optische  Construktionen,  dass  er 
die  Lichtstrahlen  durch  strenge  trigonometrische  Rechnung 
auf  ihrem  Wege  durch  ein  Linsensystem  verfolgte,  den  Ein- 
fluss  der  Halbmesser  und  Dicken  auf  die  Vereinigungsweiten 
verschiedener  Strahlen  bestimmte  und  diese  Kenntniss  zur 
Feststellung  derjenigen  Dimensionen  benutzte ,  welche  für 
gegebene  Glasarten  ein  möglichst  deutliches  Bild  eines  in 
der  Axe  gelegenen  leuchtenden  Punktes  ergeben. 

Seine  Untersuchungen  bezogen  sich  zunächst  auf  das 
Fernrohrobjektiv,  welches  er  in  zwei  Construktionen  aus- 
führte, sowie  auf  das  einfache  Mikroskopobjektiv.  Bei  letz- 
terem und  dem  für  kleinere  Dimensionen  angewendeten 
Fernrohr  objektive  (mit  ineinanderpassenden  inneren  Flächen) 
waren  es  3  Bedingungen,  die  er  erfüllte;  nämlich:  Herstell- 
ung einer  vorher  bestimmten  Brennweite  bei  gleichzeitiger 
Hebung  des  Kugelgestalt-  und  Farben-Fehlers. 

Bei    dem    Fernrohrobjektive    für   grössere  Dimensionen 


Steinheü-  Berechnung  opt.  ConstruTctionen.  285 

kam  noch  eine  weitere  Bedingung  *  und  die  Wahl  der  Glas- 
sorten in  Bezug  auf  secundäres  Spektrum  dazu.  Welches 
die  vierte  Bedingung  war ,  die  Frauenhofer  zur  Annahme 
dieser  (unter  dem  Namen  Frauenhofer'sche  Construktion  so 
berühmt  gewordenen)  Form  des  Objektives  bestimmte, 
konnte,  trotz  der  gediegenen  Untersuchungen  in  dieser 
Richtung,  leider  nicht  mit  Sicherheit  *)  festgestellt  werden, 
da  seine  hinterlassenen  Arbeiten,  soweit  sie  nicht  vor  seinem 
Tode  publicirt  waren,  als  Geheimniss  behandelt  wurden  und 
anderweitige  direkte  Angaben  von  ihm  fehlten.  Vielleicht 
aber  sind  gerade  durch  diesen  Umstand  die  Eigenschaften 
des  Objektives  genauer  untersucht  und  besser  bekannt  ge- 
worden. 

Das  Objektiv  erfüllt: 

1)  Wie  Herschel 2)  nachwies ,  sehr  nahe  die  Bedingung 
der  Hebung  des  Kugelgestaltfehlers  für  nahe  und  ferne 
Objekte. 

2)  Wie  Biot3)  zeigte,  ist  es  stabil  achromatisch;  d.  h. 
Strahlen  von  zweierlei  Farben,  welche  vor  der  Brechung  an 
der  ersten  Fläche  des  Objektives  demselben  weissen  Strahl 
angehörten,  treten  nach  der  letzten  Brechung  nicht  nur 
nach  demselben  Punkte  zielend  ,  sondern  auch  unter  dem- 
selben Winkel  und  an  derselben  Stelle  aus  (wieder  einen 
weissen    Strahl    bildend).      Diese    Bedingung    ist   für    einen 


1)  Ein  Ausspruch  Utzschneider's,  dass  Frauenhofer  die  Fehler 
über  das  ganze  Gesichtsfeld  möglichst  zu  heben  bestrebt  gewesen 
sei,  lässt  die  sub  3)  angeführte  von  Prof.  Seidel  gefundene  Eigen- 
schaft mit  am  meisten  Wahrscheinlichkeit  als  die  Bedingung  er- 
scheinen, welche'  Frauenhofer  erfüllte. 

2)  Herschel,  Dioptrik. 

3)  Traite  elementaire  d'astronomie  physique  par  J.  B.  Biot, 
Paris  1844.     Tome  deuxieme  p.  82. 

[1867.11. 2.]  19 


286  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Punkt  der  Oeffnung  streng  erfüllt   und  bedingt  zugleich  die 
Hebung  des  Farbenfehlers  ausser  der  Axe. 

3)  zeigte  Prof.  Dr.  Seidel4)  dahier,  dass  bei  dem 
Frauenhofer'schen  Objektive  die  Bedingung  der  gleichzeitigen 
Hebung  der  Kugelgestalt  in  der  Mitte  und  am  Rande  des 
Gesichtsfeldes  sehr  nahe  erfüllt  ist. 

4)  fand  Hr.  Prof.  Seidel  (und  theilte  es  mir  mit  der 
Erlaubniss  zur  Veröffenlichung  in  dieser  Abhandlung  mit) 
dass  das  Frauenhof  er' sehe  Objektiv,  so  definirt ,  wie  er  es 
in  den  astronom.  Nachrichten  Nr.  1029  angenommen  hat, 
vor  allen  anderen  die  Auszeichnung  geniesst,  dass  es  keine 
Brennflächen  erzeugt,  so  dass  die  kleinen  Lichtscheibchen, 
welche  man  je  nach  der  Stellung  des  Okulares  sieht, 
gleichmässig  erleuchtet  erscheinen,  während  sie  bei  jedem 
andern  Objektive  (auch  abgesehen  von  dem  Effekte  der 
Diffraktion)  helle  Lichtsäume  (die  Durchschnitte  der  Brenn- 
fläche mit  der  jedesmaligen  Ebene  des  deutlichen  Sehens) 
haben;  und  endlich 

5)  ergab  mir  die  trigonometrische  Rechnung,  dass  für 
den  Lichtbüschel  parallel  zur  Axe.  der  Kugelgestaltfehler 
(sekundärer  Ordnung)  für  Strahlen,  die  bei  2/3  der  Oeffnung 
des  Objektives  auffallen,  bei  dieser  Construktion  ein  Mini- 
mum ist;  wenn  man  Dicken  und  Abstand  der  Linsen  als 
Elemente  ausschliesst. 

Diese  grossen  Vortheile  erreichte  Frauenhofer,  ohne 
dass  er  mehr  als  2  Linsen  anwendete.  Dadurch  war  dieses 
Objektiv  ein  Triumph  der  Wissenschaft,  indem  es  bewies, 
dass  diese  eine  zuverlässigere  Führerin  ist ,  um  unter  vielen 
Möglichkeiten  die  günstigste  zu  wählen,  als  die  Empirie. 


4)  Gelehrte  Anzeigen  der  k.  bayr.  Akademie  der  Wissenschaften 
1855  Nr.  16  und  17.  Astronom.  Nachrichten  Nr.  1027—1029. 


Steinheil:  Berechnung   opt.  Construltionen.  287 

Bei  den  von  Frauenhofer  gerechneten  Fällen  handelte 
es  sich  um  Instrumente ,  welche  einen  geringen  Oeffnungs- 
winkel  (Verhältniss  der  wirksamen  Oeffnung  zur  Brennweite) 
hatten  und  bei  welchen  nur  ein  kleiner  Gesichtsfeldwinkel 
(Verhältniss  der  benützten  Ausdehnung  des  Bildes  zur  Brenn- 
weite) zur  Anwendung  kam. 

Leider  ward  Frauenhofer  durch  seinen  frühen  Tod  ver- 
hindert eine  beabsichtigte  gründliche  Bearbeitung  der  Oku- 
lare durchzuführen;  durch  welche  die  Bedingungen  für  ein 
grosses  Gesichtsfeld  festgestellt  und  erfüllt  worden  sollten. 

Trotz  der  grossen  Fortschritte,  welche  die  Theorie  der 
Optik  seit  Frauenhofer's  Tod  durch  die  Arbeiten  von  Gauss, 
Bessel,  Biot,  Petzwal,  Seidel  etc.  gemacht  hat,  wurde  sie 
doch  in  Bezug  auf  Construktionen  von  der  Empirie  überholt. 

Es  wurden  zusammengesetzte  Mikroskopobjektive  mit 
sehr  grossen  Oeffnungswinkeln  und  Photographenapparate 
mit  ausgedehntem  Gesichtsfelde  construirt.  Mikroskopobjek- 
tive sowohl,  wie  Photographenapparate  wurden  in  den  ver- 
schiedensten Construktionen  hergestellt,  ohne  dass  behauptet 
werden  kann,  dass  die  einfachsten  und  günstigsten  Möglich- 
keiten dadurch  ermittelt  worden  wären.  Es  hat  eben  Frauen- 
hofer keinen  Nachfolger  gefunden,  der  die  Lust  und  Aus- 
dauer besass,  auf  -dem  sicheren  aber  mühsamen  Wege  der 
trigonometrischen  Rechnung,  die  Eigenschaften  der  Bilder 
genau  kennen  zu  lernen  und  auf  diese  Kenntniss  gestützt 
unter  den  Möglichkeiten  zu  wählen. 

Dass  die  Theorie  nicht  direkte  Vorschriften  zur  Berech- 
nung von  Construktionen  geben  kann  liegt  in  der  Natur  der 
Aufgabe.  Während  schon  alle  Gleichungen,  die  den  4,e"  Grad 
übersteigen  direkte  Lösung  ausschliessen ,  ist  die  Zahl  der 
variabeln  Elemente  und  der  zu  erfüllenden  Bedingungen  so 
gross,  dass  eine  Orientirung  sehr  schwierig  wird;  zumal 
wenn    man    bedenkt,    dass    die  Werthe   der  variabeln  Ele- 

19* 


288  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

mente 5)  innerhalb  vorgeschriebener  Grenzen  gehalten  werden 
müssen  und  dass  die  zu  erfüllenden  Bedingungen  Fehler- 
grenzen6) gestatten,  die  sich  nur  für  den  speciellen  Fall 
bestimmen  lassen. 

Bei  Berechnung  optischer  Systeme,  die  grossen  Oeff- 
nungswinkel  besitzen ,  ist  es  nicht  genügend ,  die  parallel 
zur  Axe  auf  ein  System  fallenden  Strahlen  streng  in  einen 
Punkt  zu  vereinigen,  selbst  wenn  ein  nur  sehr  kleiner  Ge- 
sichtsfeldwinkel benützt  wird,  wie  z.  B.  bei  den  Mikro- 
skopen; denn  es  kann  der  Fall  vorkommen,  dass  das  Bild 
eines  ausser  der  Axe  gelegenen  Punktes  so  grossen  Durch- 
messer erhält,  dass  es  den  Bildpunkt  in  der  Axe  deckt  und 
dadurch  undeutlich  macht;  es  darf  also  in  solchen  Fällen 
nicht  ohne  Rücksicht  auf  einen  zweiten  Bildpunkt  vorge- 
gangen werden;  in  Fällen,  die  grosses  Gesichtsfeld  verlangen, 
natürlich  noch  viel  weniger. 

Aus  Obigem  folgt  nun,  dass,  um  sichere  Resultate  zu 
erzielen,  die  trigonometrische  Rechnung  auch  auf  einen 
zweiten  Bildpunkt  ausgedehnt  werden  muss;  und  es  sollen 
nachfolgend  die  Bedingungen  zusammengestellt  werden, 
welche  an  die  beiden  Bildpunkte  zu  stellen  sind. 

Der  Bildpunkt  in  der  Axe,  von  einem  parallel  zu  dieser 


5)  Die  Brechungs-  und  Zerstreuungscoefficienten  müssen  sich 
innerhalb  der  Grenzen  halten,  welche  durch  die  Anforderungen  der 
Dauerhaftigkeit  und  Farblosigkeit  der  Gläser  gesetzt  sind.  Die 
Längen  der  Halbmesser  sind  durch  die  nöthigen  Oeffnungsmaasse 
beschränkt;  die  Dicken  einerseits  durch  diese,  andererseits  durch 
den  Kostenpunkt,  das  Gewicht,  die  Lichtabsorbtion  etc. 

6)  Es  ist  die  Empfindlichkeit  des  Auges  (oder  besser  dessen 
Unempfindlichkeit  gegen  kleine  Winkelfehler),  welche  diese  Grenze 
bildet,  je  nachdem  das  Auge  ein  Bild  direkt  oder  durch  eine  Loupe 
bewaffnet,  betrachtet;  es  ist  der  absolute  Massstab  der  Instrumente, 
der  ihre  grössten  Fehler  über  oder  unter  die  Empfindlichkeitsgrenze 
des  Auges  bringt. 


Steinheil:  Berechnung  opt.  Construktionen.  289 

auf  das  System  fallenden  Lichtbüschel  gebildet,  bedingt  zu- 
nächst die  Brennweite  des  Systemes.  Ein,  in  diesem  Licht- 
büschel liegender,  ganz  nahe  der  Axe  einfallender  Strahl 
ergibt  den  Brennpunkt  als  Ende  und  den  Hauptpunkt  als 
Anfang  der  Brennweite ;  ersteren  durch  seinen  Durchschnitt 
mit  der  Axe,  letzteren  durch  eine  sehr  einfache  Construk- 
tion.  Verlängert  man  nämlich  den  einfallenden  Strahl  vor 
der  Brechung  an  der  ersten  Fläche  in  der  Richtung  seiner 
Bewegung  und  denselben  austretenden  Strahl  nach  der 
letzten  Brechung  gegen  die  Richtung  seiner  Bewegung,  bis 
sich  beide  schneiden,  so  ergibt  ein  Perpendikel  von  diesem 
Punkte  auf  die  Axe  den  Hauptpunkt7)  (oder  wahren  An- 
fangspunkt der  Brennweite).  Hat  mit  diesem  Strahle  ein 
gleichfarbiger  in  grösserem  Abstände  von  der  Axe  einfallen- 
der denselben  Brennpunkt,  so  ist  der  Kugelgestaltfehler  ge- 
hoben und  es  ist  diess  mit  dem  Farbenfehler  der  Fall, 
wenn  dieser  nämliche  Brennpunkt,  auch  einem  Strahle  von 
anderer  Brechbarkeit   zukömmt. 

Das  Bild  eines  Punktes  ausser  der  Axe  muss  untersucht 
werden : 

1)  In  Bezug  auf  seinen  Abstand  von  der  Axe, 

2)  in  Bezug  auf  seine  Form, 

3)  in    Bezug    auf    seinen    Abstand    vom    Hauptpunkte 
(oder  Knotenpunkt). 

Die  Bedingungen    bezüglich    des    Abstandes    des    Bild- 
punktes von  der  Axe  ergeben   sich    aus    den  Eigenschaften 


7)  Wie  Gauss  in  seinen  „dioptrischen  Untersuchungen"  nach- 
gewiesen hat,  besitzt  jedes  optische  System  2  Haupt-  und  2  Brenn- 
punkte, je  nachdem  der  zur  Axe  parallele  Lichtbüschel  von  der 
einen  oder  von  der  andern  Seite  auf  das  System  fällt.  Für  die 
Bildpunkte  in  der  Axe  haben  die  Hauptpunhte  die  Bedeutung  der 
Anfangspunkte  der  Brennweiten,  während  die  Brennpunkte  deren 
Enden  bezeichnen. 


290  Sitzung  ätr  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

der  Hauptstralilen.  —  Ein  Hauptstrahl  ist  jeder  Strahl,  der 
vor  dem  Eintritt  in  ein  Linsensystem  denselben  Winkel  mit 
dessen  Axe  bildet;  wie  nach  seinem  Austritte  aus  demselben. 
Ist  bei  einem  Systeme  das  erste  und  letzte  brechende  Me- 
dium das  gleiche,  so  werden  die  beiden  Punkte,  auf  welche 
ein,  nur  sehr  wenig  gegen  die  Axe  geneigter,  Hauptstrahl 
vor  der  ersten  und  nach  der  letzten  Brechung  zielt,  mit 
denjenigen  zusammenfallen ,  welche  die  Anfangspunkte  der 
beiden  Brennweiten  bilden;  diess  ist  die  zweite  Bedeutung 
der  Gauss'schen  Hauptpunkte,  dass  sie  die  virtuellen  Kreuz- 
ungspunkte eines  Hauptstrahls  mit  der  Axe  sind. 

Ist  jedoch  der  Brechungscoefficient  des  ersten  und 
letzten  Mediums  verschieden ,  so  heissen  die  Anfangspunkte 
der  Brennweiten  die  Hauptpunkte;  die  virtuellen  Kreuzungs- 
punkte eines  Hauptstrahls  die  Knotenpunkte;  und  fallen 
nicht  zusammen. 

Die  Verzerrung  ist  nun  bei  einem  optischen  Systeme 
gehoben ,  wenn  bei  einem  Hauptstrahl ,  der  einen  grossen 
Winkel  gegen  die  Axe  bildet,  die  virtuellen  Kreuzungspunkte 
mit  der  Axe  mit  den  Hauptpunkten  (oder  Knotenpunkten) 
zusammenfallen.  Die  beiden  Haupt-  oder  Knotenpunkte  haben 
in  einem  solchen  Systeme  die  Eigenschaft,  dass  vom  ersten 
aus  die  Objekte  unter  denselben  Winkeln  erscheinen ,  wie 
vom  zweiten  aus  deren  Bilder. 

Haben  zwei  Hauptstrahlen  von  verschiedener  Brechbar- 
keit, welche  denselben  Winkel  gegen  die  Axe  bilden,  ge- 
meinsame Haupt-  oder  Knotenpunkte,  so  sind  die  Farben 
ausser  der  Axe  gehoben;  und  werden  hierdurch,  wenn  gleich- 
zeitig der  Farbenfehler  für  den  Brennpunkt  in  der  Axe  ge- 
hoben ist,  die  verschieden,  farbigen  Bilder  gleich  gross  sein 
und  an  derselben  Stelle  liegen,  also  sich  decken. 

Um  die  Form  des  Bildes  eines  Punktes  zu  bestimmen, 
ist  es  nöthig,  in  dem  Lichtbüschel,  der  den  Bildpunkt  ausser 
der  Axe  bildet,    ausser   dem   Hauptstrahle   noch    3  weitere 


Steinheil:  Berechnung  opt.  ConstruUionen.  291 

Strahlen  auf  ihrem  Wege  durch  das  optische  System  zu 
verfolgen  und  ihren  Durchschnitt  mit  einer  zum  Hauptstrahl 
senkrechten  Ebene  in  dem  Punkte  zu  bestimmen,  in  welchem 
sie  sich  einander  möglichst  nahe  gekommen  sind,  d.  h.  im 
Bildpunkte. 

Von  diesen  3  Strahlen,  welche  in  gleichem  Abstände 
vom  Hauptstrahl  anzunehmen  sind,  liegen  zwei  in  einer 
Ebene,  die  sich  durch  die  optische  Axe  des  Systemes  und 
den  Hauptstrahl  legen  lässt.  Die  Ebene,  in  welcher  der 
dritte  liegt,  enthält  ebenfalls  den  Hauptstrahl  und  steht 
senkrecht  zur  vorher  angenommenen.  In  dieser  Ebene  ge- 
nügt ein  Strahl,  da  der  gegenüber  vom  Hauptstrahl  liegende 
mit  ihm  symmetrisch  geht. 

Liegen  im  Bildpunkte  diese  3  Strahlen  symmetrisch 
gegen  den  Hauptstrahl,  so  ist  kein  Astigmatismus  vorhanden. 
Als  Bildpunkt  ist  stets  der  engste  Querschnitt  des  Licht- 
büschels anzunehmen;  und  es  bedingt  der  Abstand  dieses 
Bildpunktes  vom  Haupt-  oder  Knotenpunkt  die  Form  der 
Bildfläche.  Ist  dieser  Abstand  dem  entsprechenden  des 
Axenbildpunktes  gleich,  so  liegt  das  Bild  auf  einem  Kugel- 
segmente, das  aus  dem  Hauptpunkte  mit  der  Brennweite  als 
Radius  beschrieben  werden  kann;  und  das  Bild  ist  ein  ebenes, 
wenn  die  Distancen  vom  Hauptpunkte  im  Verhältnisse  zur 
Sekante  des  Winkels  wachsen,  den  der  entsprechende  Haupt- 
strahl mit  der  Axe  bildet. 

Der  Kugelgestaltfehler  ausser  der  Axe  kann  als  gehoben 
betrachtet  werden,  wenn  der  Bilddurchmesser  vom  Haupt- 
punkte aus  unter  keinem  grösseren  Winkel  erscheint,  als  der- 
jenige ist,  welcher  beim  Axenbildpunkte  unvermeidlich  bleibt. 

Die  Bestimmung  der  3  letzten  Elemente :  Astigmatismus, 
Kugelgestaltfehler  ausser  der  Axe  und  Form  der  Bildfläche, 
wurde  mir  erst  durch  die  von  Herrn  Prof.  Seidel  ent- 
wickelten : 

„Trigonometrischen  Formeln  für  den  allgemeinsten  Fall 


292  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

der  Brechung  des  Lichtes  an  centrirten  sphärischen  Flächen" 
möglich. 

Bei  Berechnung    einer    optischen    Construktion   müssen 
somit  folgende  Punkte  berücksichtigt  werden: 
Bei  dem  ßildpunkte  in  der  Axe: 

1)  Brennweite. 

2)  Hebung  des  Kugelgestaltfehlers. 

3)  Hebung  des  Farbenfehlers. 

Bei  dem  Bildpunkte  ausser  der  Axe: 

4)  Hebung  der  Verzerrung. 

5)  Hebung  der  Farben  ausser  der  Axe. 

6)  Bestimmung  der  Form  der  Bildfläche. 

7)  Hebung  des  Astigmatismus. 

8)  Hebung  des  Kugelgestaltfehlers  ausser  der  Axe. 

Für  Fälle,  in  denen  ein  sehr  grosser  Oeffnungswinkel 
verlangt  wird,  müssen  den  3  Bedingungen  für  den  Licht- 
büschei  in  der  Axe  noch  2  weitere  beigefügt  werden;  es 
ist  nämlich  nöthig,  den  Farbenfehler  und  den  Kugelgestalt- 
fehler noch  für  einen  weiteren  Punkt  der  Oeffuung  zu  heben. 

Die  Hauptschwierigkeiten  bei  der  Berechnung  optischer 
Construktionen  liegen  darin,  die  richtige  Reihenfolge  zu  finden, 
in  welcher  die  Bedingungen  erfüllt  werden  müssen,  sowie  für 
die  Auswahl  direkt  vergleichbare  Fälle  herzustellen;  beob- 
achtet man  diese  beiden  Punkte  nicht,  so  tritt  sehr  leicht 
der  Fall  ein,  dass  einzelne  Fehler  wieder  wachsen,  während 
man  der  Meinung  war,  alle  zu  verkleinern. 

Es  dürfte  kaum  gelingen,  die  Bedingungen  7)  und  8) 
streng  zu  erfüllen,  wenn  ein  ebenes  Bild  von  grosser  (Winkel-) 
Ausdehnung  verlangt  wird;  während  diess  nicht  schwierig 
ist,  wenn  das  Bild  auf  einer  mit  der  Brennweite  als  Radius 
beschriebenen  Kugelfläche  liegen  darf. 

Schliesslich  sei  es  mir  noch  gestattet,  einige  einfache 
Construktionen  zu  erwähnen,  welche  durch  trigonometrische 


Steinheil:  Berechnung  opt.  Construktionen.  293 

Rechnung  festgestellt  wurden  und  die  Elemente  anzuführen, 
welche  dabei    als  veränderliche  Grössen   in  Betracht  kamen. 

Bekanntlich  wäre  es  unmöglich,  achromatische  Linsen 
mit  positiven  Brennweiten  herzustellen,  wenn  bei  den  beiden 
verwendeten  Glasarten  das  Verhältniss  der  Brechungskräfte 
dem  der  Zerstreuungskräfte  gleich  wäre;  wenn  z.  B.  ein 
Flintglas,  das  bei  gleichem  Prismenwinkel  die  Ausdehnung 
des  Spektrum's  noch  einmal  so  gross ,  gibt  als  ein  Crown- 
glas,  auch  einen  noch  einmal  so  grossen  Brechungscoefflcien- 
ten  hätte. 

Es  ist  ferner  unmöglich,  ein  achromatisches  Objektiv 
aus  zwei  verkitteten  Linsen  herzustellen,  welches  gleichzeitig 
die  Kugelgestalt  und  Farbenfehler  hebt,  wenn  diejenige  Glas- 
art ,  welche  die  stärkere  Zerstreuungskraft  besitzt .  eine 
schwächere  Brechungskraft  hätte8). 

Hieraus  folgt  die  grosse  Wichtigkeit,  welche  die  Wahl 
der  Glasarten  in  Bezug  auf  ihre  Brechungs-  und  Zerstreu- 
ungskräfte für  optische  Construktionen  haben  muss. 

Berücksichtigt  man  nun  zur  Bestimmung  der  günstig- 
sten Form  eines  Doppelobjektives  die  Wahl  der  Glasarten 
in  der  angedeuteten  Weise  und  den  Einfluss  der  Reihenfolge 
der  Glasarten,  so  wird  man  auf: 

1)  ein  Doppelobjektiv  geführt,  bei  welchem  die  Flint- 
glaslinse vorausliegt  und  das  den  Kugelgestaltfehler  für  2 
verschiedene  Distanct-n  streng  hebt.  Dieses  Objektiv  erfüllt 
säniintliche  Bedingungen,  denen  das  Frauenhofer'sche  genügt 
und  ist  in  Bezug  auf  die  Form  der  Bildfläche  besser.    Zum 


8)  Beim  menschlichen  Auge  ist  die  Anordnung  der  brechendun 
Flächen  und  die  Reihenfolge  der  Medien  eine  solche,  dass  dabei  der 
Kugelgestaltfehler  nicht  gehoben  werden  kann;  denn  alle  Ablenk- 
ungen, die  ein  parallel  zur  Axe  einfallender  Strahl  erleidet,  liegen 
in  derselben  Richtung;   er  wird  stets  zur  Axe  gebrochen. 


294         Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Gebrauche  der    opt.   und  astron.  Werkstätte  ist  dasselbe  in 
Tafeln  gebracht  worden. 

2)  Das  monocentrische  Objectiv,  bei  welchem  das  Bild 
auf  einer  Kugelfläche  liegt,  deren  Radius  die  Brennweite, 
deren  Mittelpunkt  der  gemeinschaftliche  Hauptpunkt  ist  (es 
fallen  nämlich  die  beiden  Hauptpunkte  in  einen  zusammen). 
Es  erfüllt  sämmtliche  8  oben  gestellten  Bedingungen  und 
es  ist  hiebei  nur  über  2  Radien,  die  Wahl  und  die  Reihen- 
folge der  Glasarten  verfügt.  Es  besteht  aus  einer  Kugel 
und  zwei  gleichen  Menisken,  in  deren  innern  Flächen  die 
Kugel  eingekittet  ist,  während  die  äusseren  mit  einem  (um 
die  Dicke)  längeren  Radius  aus  dem  Mittelpunkte  der  Kugel 
gezogen  sind.  In  dem  Meridian  der  Kugel,  der  senkrecht 
zur  optischen  Axe  des  Systemes  steht,  ist  eine  Blendung 
eingeschliffen.  Ein  parallel  zur  Axe  einfallender  Büschel 
erfüllt  die  Bedingungen  1)  bis  3);  alle  Hauptstrahlen  gehen 
ungebrochen  durch  das  System,  alle  gegen  die  Axe  geneig- 
ten Lichtbüschel  erleiden  gleiche  Brechungen  wie  der  pa- 
rallel zur  Axe.  Für  Fälle,  in  welchen  kein  grösseres  Ge- 
sichtsfeld verlangt  wird,  als  beim  Fernrohr-  oder  Mikroskop- 
objektiv ist  die  Kugelform  der  Bildfläche  kein  Nachtheil,  da 
die  Sicherheit  der  Einstellung  geringer  ist  als  die  Verstell- 
ung, welche  der  Rand  eines  solchen  Bildes  gegen  die  Mitte 
erfordert.  Bei  schlechten  Construktionen  von  Mikroskop- 
objektiven ist  die  Krümmung  der  Bildfläche  eine  ausser- 
ordentlich viel  stärkere.  Das  Objektiv,  welches  der  Classe 
vorgelegt  wurde,  hat  einen  Oeffnungswinkel  von  14°  =  V* 
der  Brennweite  und  4'"  Aequivalentbrennweite. 

3)  Das  aplanatische  Objektiv  mit  ebenem  Bilde  erfüllt 
die  Bedingungen  1)  — 6)  streng;  7)  und  8)  sehr  nahe;  ist 
symmetrisch  gegen  den  optischen  Mittelpunkt  und  jede  Hälfte 
wird  gebildet  von  einem  verkitteten  Doppelobjektive,  das 
aus  einem  positiven  und  einem  negativen  Flintglasmeniskus 
besteht. 


Steinheil:  Berechnung  opt.  Construktionen.  295 

Zur  Berechnung  desselben  wurde  über  3  Radien,  einen 
Abstand,  sowie  über  die  Wahl  und  Reihenfolge  der  Glas- 
arten als  veränderliche  Elemente  verfügt.  Es  gestattet  bei 
einem  Oeffnungswinkel  von  9°  10'  (gleich  V  Brennweite) 
die  Benutzung  eines  Gesichtsfeld  winkeis  von  36°;  und  durch 
Anwendung  einer  kleineren  Centralblende  bei  einem  Oeff- 
nungswinkel von  ca.  2° gleich  Vso  Brennweite  die  Benutzung 
eines  Gesichtsfeldwinkels  von  60°. 

Bei  diesem  Objektive  sind  ausser  den  für  die  Richtig- 
keit des  Bildes  nothwendigen  8  Bedingungen  noch  2  weitere 
erfüllt,  welche  die  Praxis  fordert  und  zwar: 

9)  möglichste  Vermeidung  von  Lichtverlusten  und 
10)  Vermeidung  störender  Reflexbilder. 

Da  das  aplanatische  Objektiv  zunächst  zu  photographi- 
schen Zwecken  bestimmt  ist,  so  sind  die  Helligkeit  und 
die  Tiefe9)  der  Bilder  zwei  sehr  wichtige  Eigenschaften, 
welche  beide  hauptsächlich  vom  Verhältnisse  der  Oeffnung 
zur  Brennweite  abhängen.  Mit  der  Vergrösserung  der  Oeff- 
nung im  Verhältnisse  zur  Brennweite  nimmt  die  Helligkeit 
zu,  die  Tiefe  der  Bilder  jedoch  nothwendig  ab ;  desshalb 
ist  es  wesentlich  den  Einfluss  derjenigen  Ursachen  zu  ver- 
mindern, welche,  ohne  die  Tiefe  zu  erhöhen,  die  Helligkeit 
der  Bilder  verkleinern.  Es  sind  diess  hauptsächlich  die 
Lichtverluste  durch  Reflexion  an  den  Glasflächen  und  die 
Absorbtion  des  Lichtes  durch  die  Masse  des  Glases.  Da 
die  Verluste  durch  Reflexion  mit  der  Grösse  der  Einfalls- 
winkel und  derjenigen  des  Brechungsunterschiedes  der  Medien 
wachsen,    so    bietet   die    Verkittung    der    inneren    Flächen, 


9)  Ein  Apparat  gibt  tiefe  Bilder,  heisst,  er  besitzt  die  Fähigkeit 
von  ungleich  entfernten  Objekten  gleichzeitig  ein  deutliches  Bild  in 
derselben  Ebene  zu  erzeugen. 


296         Sitzung  der  math.-i>hys.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

welche  viel  stärker  gekrümmt  sind  als  die  äusseren  und  der 
geringe  Unterschied  des  Biechungscoefficienten  der  beiden 
verwendeten  Flintgläser  in  dieser  Beziehung  bedeutenden 
Vortheil.  Der  geringe  Brechungsunterschied  der  verwende- 
ten Glasarten  bedingt  überdiess  noch  eine  Form  der  Linsen, 
die  bei  Herstellung  eines  ebenen  Bildes  einen  nur  geringen 
Abstand  der  beiden  Objektive  erfordert;  diess  gewährt  den 
Vortheil,  dass  auch  bei  Benutzung  eines  grossen  Sehfeldes 
die  Linsen  nur  um  Weniges  grösser  zu  sein  brauchen,  als 
es  der  Oeffnungswinkel  (die  Helligkeit  des  Bildpunktes  in 
der  Axe)  erfordert;  und  es  ist  leicht  einzusehen,  dass 
kleinere  Linsen  mit  geringeren  Dicken  ausgeführt  werden 
können;  dadurch  ist  eine  Verminderung  der  Lichtverluste 
durch  Absorbtion  erzielt.  Schliesslich  bietet  die  Menisken- 
form der  beiden  Objektive  den  Vortheil,  dass  die  Reflex- 
bilder, welche  von  Strahlen  gebildet  werden,  die  eine  gerade 
Anzahl  von  Reflexionen  erlitten  haben  und  desshalb  in  der 
Richtung  gegen  das  Bild  weiter  gehen,  sämmtlich  zwischen 
oder  ganz  nahe  an  den  Linsen  liegen,  so  dass  das  von 
ihnen  ausgehende  diffuse  Licht  in  der  Bildebene  keine 
störende  Intensität  mehr  hat,  zumal  diese  Reflexbilder  sehr 
kleinen  Brennweiten  entsprechen.  Während  alle  bis  jetzt  ge- 
bräuchlichen Construktionen ,  bei  welchen  der  Kugelgestalt- 
fehler gehoben  ist,  wenigstens  6  Brechungen  von  Luft  in 
Glas  haben,  hat  das  aplanatische  Objektiv  deren  nur  4  und 
in  Folge  dessen  auch  weniger   reflektirtes  Licht. 

Die  beiden  als  Muster  der  Classe  vorgelegten  Photo- 
graphien sind  mit  einem  solchen  Apparate  von  19"'  Oeff- 
nung  und  10"  Brennweite  aufgenommen;  der  gleichfalls 
vorlag. 

4)  Die  aplanatische  Landschaftslinse,  für  Landschaften 
und  Architekturen  bestimmt  ist ,  hat  als  grösste  Helligkeit 
nur  V24  Brennweite;  gewährt  aber  dabei  ein  ebenes  deut- 
liches Bild  von  80°   und  gestattet  bei  kleineren  Blendungen 


Eoclcinger:  Handschriften  zum  Schwabenspiegel.  297 

Gesiclitsfeldwinkel  von  105  Graden.  Es  gibt  bei  V"  Öff- 
nung und  6"  Brennweite  Bilder  bis  16"  Durchmesser.  Es 
erfüllt  die  gleichen  Bedingungen  wie  das  lichtstärkere  apla- 
natische  Objektiv,  ist  aber  aus  anderen  Glasarten,  deren 
Brechungscoefficienten  nicht  2/3  Procente  von  einander  ver- 
schieden sind. 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  6.  Juli  1867. 


Herr  Rockinger  spricht: 

,,Ueber  drei  mit  einem  Anhange  zum  Land- 
rechte vermehrte  Handschriften  des  soge- 
nannten Schwabenspiegels  auf  der  Staats- 
bibliothek zu  München." 

In  den  deutschen  Rechtsbüchern  des  Mittelalters  und 
ihren  Handschriften  S.  38  und  44  bemerkt  Homeyer,  dass 
in  einer  heidelberger  Handschrift  des  sogenannten  Schwaben- 
spiegels (a.  a.  0.  Num.  317,  und  in  dem  der  Ausgabe  des 
Freiherrn  v.  Lassberg  vorstehenden  Verzeichnisse  der  Hand- 
schriften Num.  61)  das  bekannte  Buch  der  Könige  mit  einer 
.,  Her  renlehre"  endigt,  das  ist  der  Geschichte  von  der 
Zählung  Israels  durch  David,  welcher  sich  dann  noch 
ltechtssätze  in  11  §§  anschliessen.  Ferner  dass  in  Hand- 
schriften zu  Fulda,  Königsberg,  und  einer  aus  dem  Stifte 
Weingarten  stammenden  aber  nun  zu  Stuttgart  nicht  mehr 
vorhandenen  (a.  a.  0.  Num.  206,  364,  649;  in  Endemanu:s 


298  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Einleitung  zum  Kaiserrecht  S.  XLIX.  Num.  6 ;  bei  Freiherrn 
v.  Lassberg  Num.  150)  diese  11  §§  ein  eigenes  zweites 
Stück  nach  dem  Buche  der  Könige  bilden.  Weiter,  dass 
die  Handschrift  zu  Herisau,  der  cod.  germ.  553  der  Staats- 
bibliothek zu  München,  und  zwei  der  öffentlichen  Bibliothek 
zu  Stuttgart  (a.  a.  0.  Num.  328,  475,  643,  644;  bei  Frei- 
herrn v.  Lassberg  Num.  69,  105,  146,  147)  die  Herrenlehre 
mit  den  11  §§  ohne  das  Buch  der  Könige  enthalten,  die 
erstere  im  Eisgänge ,  die  übrigen  am  Schlüsse  des  Land- 
rechtes. 

Zu  den  zuletzt  aufgeführten  zählen  von  Handschriften 
der  Staatsbibliothek  zu  München  neben  dem  cod.  germ. 
553  noch  zwei  weitere,  welche  um  so  mehr  einer  kürzeren 
Erwähnung  werth  sein  dürften  als  eigentlich  nur  der  eben 
bezeichnete  bisher  aus  der  Beschreibung  des  Freiherrn  von 
Lassberg  Num.  105  näher  bekannt  ist,  der  cod.  germ.  3967 
sogar  am  eben  bemerkten  Orte  Num.  25  als  hier  nicht 
mehr  vorhanden  bezeichnet  wird,  des  cod.  germ.  4929 
aber  nirgends  sonst  genauer  gedacht  wird. 

Gleich  der  zuletzt  aufgeführte  =  I,  mit  Ausnahme  des 
ersten  und  zwölften  wie  des  (nunmehr  ausgeschnittenen) 
sechsten  und  des  siebenten  Blattes,  also  der  äusseren  und 
der  inneren  Lage  des  ersten  Sexternes,  welche  Pergament 
sind,  sonst  auf  Papier  in  Folio  zweispaltig  wohl  noch  in 
der  ersten  Hälfte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  geschrieben, 
im  Jahre  1770  dem  „Joseph  Bernhard  Parth  Stattschreiber 
in  Mospurg:t  gehörig,  enthält  von  fol.  1—63'  Sp.  1  das 
Landrecht,  welchem  unmittelbar  bis  fol.  64  Sp.  1  die  gute 
Herrenlehre  in  nachstehender  Fassung  folgt. 

Nu  sült  ir  edeln  tugentlichen  herren  an  disem  püch 
pesserung  lernen  an  tugentlichem  leben,  vnd  sült  alle  zeit 
in  ewerem  herzen  tragen  ditz  vorbilde  das  ew  der  almächtig 
got  an  disen  kunigen  vnd  an  disen  herren  vnd  richtern  hat 
erzaiget,   das  ir  recht  gerichte  habt    vnd  euch  arm  lewt  lat 


Bockinger:  Handschriften  zum  Schwabenspiegel.  299 

erparmen  die  kain  vbel  vnib  euch  dienen,  jst  hallt  das  si 
ainualtigklichen  schuldig  gen  ew  werdent,  dannoch  süllen  si 
euch  erparmen,  so  erparmt  sich  got  vber  euch  an  eweren 
lezten  Zeiten,  vnd  ir  sült  got  vor  äugen  haben,  vnd  sült 
in  mynnen  vnd  furchten,  so  wachset  ewer  sälde  an  leib  vnd 
an  sei,  vnd  alle  ewer  lewte  vnd  das  land  ist  dester  säliger, 
als  an  disen  herren  offte  schein  ist  worden  di  an  disem 
buche  sind,  wann  das  hat  der  alniächtig  got  an  manigen 
enden  erzaiget  in  der  heiligen  schrift,  alls  der  herre  gottes 
willen  tet,  das  alles  sein  lewt  vnd  alles  sein  land  dester 
säliger  was.  vnd  als  der  herre  wider  got  iclit  tet,  so  war 
er  selb  des  ersten  an  leibe  vnd  an  seile  vnsälig,  vnd  dar- 
nach alle  di  in  an  horten,  lewt  vnd  gut  vnd  land. 

Das  hat  vns  got  erzeuget  an  dem  edelen  heiligen  kunig 
Dauid.  der  tet  ein  klaine  sünd  wider  got.  vnd  müsten 
seiner  leut  manig  tausent  menschen  den  pitern  tod  dar 
vmb  leiden ,  als  auch  hieuor  von  maniges  küniges  schulde 
geschach. 

Her  Dauid  der  kunig  hies  im  niwan  ze  einem  male  sein 
lewte  zelen  wie  vil  er  stritber  lewte  hetet  in  seinem  lande,  dar- 
umb  wolt  got  des  nicht  enpern,  er  müst  dreyer  püsse  aine  dar- 
umb  leiden,  gern  oder  vngern.  wie  vil  herre  Dauid  sprach :  herre 
got,  genade,  vergib  mir  dise  sünde,  ich  getun  es  nymmermer, 
vnd  vber  heb  mich  dirrer  dreier  püsse,  das  half  nicht,  er 
müszte  vnd  müze  dirrer  dreier  püzze  aine  nemen,  das  siben 
iar  hunger  in  seinem  lande  wäre,  oder  das  er  vnd  alle  die 
sein  drey  moneyde  vor  seinen  veinten  fluhtich  müsten  sein, 
oder  das  drey  tag  grosser  lantsterbe  in  seinem  lande  wäre, 
do  der  edel  vnd  der  weise  herre  das  vernam ,  das  es  de- 
hain  rat  was,  er  müst  der  dreier  püsse  eine  nemen,  do 
sprach  der  tugendreiche  vnd  der  heilige  Dauid  also,  nym 
ich  nu  di  siben  hunger  iar,  so  trawt  ich  doch  wol  etwas 
vinden  das  ich  mich  hungers  nerte.  owe,  herre,  so  stürben 
awer  alle  mein  lewte   vnd   die  gar  vnschuldig  sind  an  dirre 


300  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

sünde.  näm  ich  di  drey  monede,  so  entrunne  ich  ettwo 
wol  meinen  veinden,  ich  hab  gut  pürge  das  ich  di  drey 
monede  wol  genäse  vor  meinen  veinden.  owe,  herre,  so 
wurden  alle  mein  lewte  erslagen  di  an  meiner  sünd  vn- 
schuldig  sind,  herre  got,  ich  wil  der  zwaier  pusse  nicht, 
seid  es  kain  radt  ist,  so  wil  ich,  herre,  auf  dein  genad  vnd 
auf  dein  erbärmde  di  drei  tag  den  lewt  sterben  nemmen.  so 
triftest  du,  herre,  mich  selben  als  schir  als  di  fremden,  wann 
ich  pin  der  recht  schuldig,  herre,  ich  pin  der  di  sünde 
getan  hat.  dauon  lassen  auch  dein  gericht  vnd  dein  räche 
vber  mich  armen  nach  deinen  genaden  geen.  als  do  got 
sein  trewe  also  lauter  vnd  also  raine  sach,  do  tet  er  im  di 
genade :  der  lewtsterbe  der  di  drey  tag  solte  han  gewert, 
der  werte  niwan  von  prime  vntz  her  zu  terzie  zeit. 

Als  genädig  ist  der  almächtig  got  noch  heute,  wer  also 
beschaiden  rew  gein  im  hat  vmb  sein  sünde.  vnd  also  ver- 
dinent  di  herren  noch  hewte  mit  iren  sünden ,  das  in  iren 
lande  vrleuge  wirt,  oder  viehe  sterbe,  oder  hunger  iar,  oder 
ander  vngelüke.  dauon  süllen  si  sich  dester  halter  hüten 
durch  ir  sälichait  leibes  vnd  seile  vnd  durch  di  säligkait 
irer  lewte  und  ir  landes,    das  si  hie  vnd  dort  herren  sein. 

Des  helfe  vns  der  almächtig  got.     amen. 

Hieran  reiht  sich  nach  einem  kleinen  leeren  Zwischen- 
räume von  fol.  64  Sp.  1  auf  fol.  64  Sp.  2  der  aus  11  Ar- 
tikeln bestehende  Anhang  zum  Landrechte,  den  wir  am 
Schlüsse  in  seinem  ganzen  Umfange  mittheilen,  bis  fol.  68 
Sp.  2.  Ihm  folgt,  wiederum  nach  einem  kleinen  leeren 
Zwischenraum  von  fol.  68  Sp.  2,  mit  fol.  68'  Sp.  1  das 
Lehenrecht  bis  fol.  93'  Sp.  1,  wovon  die  letzteren  Blätter 
wie  es  scheint  durch  anhaltende  Feuchtigkeit  gebrochen  und 
vermodert  sind ,  wie  deren  Schrift  theilweise  ganz  und  gar 
unleserlich  geworden  und  auch  der  mit  rothem  Leder 
überzogene  Holzdeckelband  durch  und  durch  wurmstichig 
und  an  manchen  Stellen  ganz  gebröckelt  ist 


Roelciiiger:  Handschriften  zum  Schwabenspiegel.  301 

Der  cod.  germ.  3967  =  II,  aus  dem  Stifte  St.  Ein- 
meram  stammend,  von  woher  dem  Reichsfreiherrn  Heinrich 
Christian  v.  Senkenberg  die  Beschreibung  zuging  welche  er 
in  seinen  visiones  diversae  de  collectionibus  legum  germani- 
carum  S.  188 — 190  mittheilte,  am  31.  Juli  des  Jahres  1444 
von  „Johannes  die  czeyt  kyrehner  czu  Weysselstorff  ge- 
besen"'  auf  festem  Papiere  in  Folio  in  zwei  Spalten  vollendet, 
enthält  von  fol.  1  —  68'  Sp.  2  das  Landrecht,  welchem  sich 
ohne  alle  und  jede  Unterbrechung  unmittelbar  bis  fol.  73' 
Sp.  1  der  Anhang  hiezu  anschliesst,  worauf  wieder  ohne 
Zwischenraum  bis  fol.  74  Sp.  2  die  gute  Herrenlehre  folgt, 
welche  sogar  nach  den  auf  ihrem  Schluss  roth  hinbemerkten 
Worten  „dictum  est.  explicit"  noehmal  bis  zu  den  Worten 
„dy  kein  vbel  vmb  euch  dynen;'  angefangen  ist,  woran  ohne 
jede  Unterbrechung  der  Zeile  unmittelbar  der  zu  Punkt  9 
des  Anhangartikels  3  über  die  Handfestenfälschung  gehörige 
Satz  ,,Ist  ein  czinser  an  ein  goczhawsz"  bis  zu  den  Worten 
,,vber  svmeliche  sache  der  man  nicht  verkeret"  gereiht  ist. 
Nachdem  noch  auf  fol.  74  Sp.  2  der  kleine  leere  Raum  durch 
die  rothe  Ueberschrift  des  Lehenrechtes  ,,Hye  hebet  sich 
daz  lehen  buch  an"  und  den  gleichfalls  roth  geschriebenen 
Vers 

Amen  solamen. 

Si  deficit  fenum,  aeeipe  stramen 
ausgefüllt  ist,  beginnt  das  Lehenrecht  selbst  mit  fol.  74'  Sp.  1 
und  reicht  bis  fol.   102'  Sp.  2,   an  dessen  Schlüsse  sich  die 
Verse 

Hie  hat  diez  puch  ein  ent. 

Got  vns  seineu  gütlichen  segen  sent. 

Explicit,  expliciunt. 

Sprach  dy  kaez  czu  dem  hunt : 

dy  fiaden  sein  dir  vngcsvnt 
und  die  Angabe  des  Schreibers    samnit  der  Datumsbezeich- 
nuug  finden    wovon  bereits  die  Rede  gewesen. 
[18G7.II.2.]  20 


302 


Sitzimg  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 


Der  cod.  germ.  553  endlich  =  III,  in  Folio  auf  Papier 
auch  noch  in  der  ersten  Hälfte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts 
zweispaltig  geschrieben,  enthält  von  fol.  1  —  83  Sp.  1  das 
Landrecht,  woran  sich  unmittelbar  bis  fol.  83'  Sp.  2  die 
gute  Herrenlehre  anschliesst,  worauf  nach  kleinem  leeren 
Zwischenräume  der  Spalte  2  des  fol.  83  mit  fol.  84  der 
bemerkte  Anhang  zum  Landrechte  bis  fol.  89'  Sp.  2  folgt, 
welchem  sich  abermals  nach  kleinem  leeren  Zwischenräume 
der  Sp.  2  des  fol.  89  von  fol.  90  an  das  Lehenrecht  bis 
fol.  122'  Sp.  2  anreiht,  wie  in  I  und  II  alles  unter  rothen 
Kapitelüberschriften  und  mit  rothen  Initialen  des  Textes  der 
Kapitel. 

Vergleichen  wir  nunmehr  genauer  den  Inhalt  des 
Land-  wie  des  Lehenrechtes  unserer  Gruppe1)  mit 
der  vom  Freiherrn  v.  Lassberg  besorgten  Ausgabe  des  so- 
genannten Schwabenspiegels,  so  stellt  sich  folgendes  Ergeb- 
niss  heraus. 


Das  L 

andrecht. 

L. 

I. 

IL       m. 

L. 

I. 

H. 

III 

Vorw.  a ' 

Vorw.  g 

1 

1 

1 

—  b 

—  c 

Vorw. 

Vorw.  Vorw. 

-x"} 

2 

2 

2 

—   d 

2 

3 

3 

3 

—    e, 

3 

4 

4 

4 

—    f 

1 

1           1 

4 

52) 

5 

5 

1)  Vgl.  hierüber  Ficker  über  einen  Spiegel  deutscher  Leute 
und  dessen  Stellung  zum  Sachsen-  und  Schwabenspiegel  S.  150  (2GG) 
unter  IV  c.  3. 

2)  Die  Ueberschrift  fehlt  hier,  indem  der  dafür  leer  gelassen 
gewesene  Raum  für  die  wie  es  scheint  anfänglich  vergessenen  Schluss- 
worte des  vorhergehenden  Kapitels  verwendet  worden. 


Boclcinger:  Handschriften  zum  Sclacahensiriegcl. 


303 


L. 

I. 

II. 

III. 

L. 

I. 

IL 

III 

5 

G 

{! 

6 

16 
17 

12 
13 

13 

13 

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72) 

18 

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19 

14 

15 

7 

20 

8 

7 

8 

8 

21 

15 

15 

16 

9 

10  J 

22 

i.  { 

163)\ 
173)/ 

17 

11  1 

1   8 
° 

9 

9 

23 

(17)*) 

18 

18 

12  J 

24 

(IS)4) 

19 

19 

13 

9 

10 

10 

25 

(19) 

20 

20 

14 

10 

11 

11 

26 

(20) 

21 

21 

15 

11 

12 

12 

27 

21 

22 

22 

1)  Die  Abtheilung  dieser  beiden  Kapitel  gegen  den  L-Druck  5 
S.  8  ist  folgende. 

Ersteres  reicht  unter  der  Ueberschrift  ,,Wie  die  muter  mit  den 
kinden  teylt,  sagt  das  capitel''  bis  zu  den  Worten:  vnd  darnach 
gleich  teylen  unter  weyp  vnd  vnter    kint  dy  vn    aus  gestewret  sein. 

Dann  folgt  das  andere  unter  der  Ueberschrift:  Von  geystlicher 
gab  sagt  das. 

2)  Durch  ein  Yerweisungszeichen  ist  als  hieher  gehörig  nach- 
stehender von  gleicher  Hand  auf  einem  besonderen  beigehefteten 
Streifen  geschriebener  Artikel   eingetragen: 

Von  prüdem  heyrat 
Nement  zwen  prüder  zwo  swesster,  vnd  nyinbt  der  dritt  prüder 
ein  fremdes  weil),    jre    kind    sind    doch  geleich  nahen  an  der  sippe, 
jr  yetweders  des  andern  erb  ze  nemen,  ob  sy  ebenbürtig  sind. 

3)  Die  Scheidung  dieser  zwei  Kapitel  gegenüber  dem  L-Drucke 
22  S.  14  ist  nachstehende. 

Das  erstere  reicht  unter  der  Ueberschrift  ,,Wy  ein  man  gut 
schaffen  schol  seinen  frewnden"  bis  zu  den  Worten:  ader  sy  mngen 
sich  versawmen. 

Dann  folgt  das  andere  unter  der  Ueberschrift:  „Was  ehafft 
not  sey. 

4)  Die  in  Klammern  gesetzten  Kapitel  fehlen  gänzlich,  indem 
das  sechste  Blatt  aus  der  Handschrift  ausgerissen  ist. 

Das  fünfte  schliesst   mit  den  Worten  L  22  S.  14  Sp.  2  :     das  si 

20* 


*04 

Site 

ung  der 

hmto) 

L. 

I. 

II. 

III. 

28 

22 

23 

23 

29 

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30 
31 

23 

24 

24 

32 

24 

25 

25 

33 

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34 
35 

25 

26 

26 

36 
37 

l 

s 

26 

27 

27 

38 

27 

28 

28 

39 

28 

29 

29 

40 

29 

30 

30 

41 

30 

31 

31 

42 
43 

\ 

31 

32 

32 

44 

32 

33 

33 

45 

33 

34 

34 

46 

34 

35 

35 

47 

35 

36 

36 

48 

— 

— 

-- 

49 

36 

37 

37 

50 
51 

} 

37 

38 

38 

52 
53 

} 

38 

39 

39 

54 
55 

} 

39  - 

40 

40 

56 

57 

} 

40 

41 

41 

58 

41 

42 

42 

Clause  vom  G.  Juli  1867. 


II. 


59 
60 
61 
62 
63 
64 
65 
66  \ 


42 


43 


J 


67 

68a 

68b  \ 

68c  / 

69 

70 

70b 

71 

72 

73 

74 

75 

76 

77 

78 

79 

80 

81 

82 

83 

84 

85 

86 


44 1) 

45 
46 


47 


48 


54 
55 

56 

57 


44 

45 
46 

47 

48 
49 


49 

50 

50 

51 

51 

}  52 

52 

53 

53 

54 

00 

56 
57 
58 


IU. 

43 

44 

45 
46 
47 

48 

49 

50 

51 

52 

53 

54 

55 
56 

57 

58 


im  slechtes  ledig  wirt  als  hie  vor  geschriben  ist.  Das  siebeute  be- 
ginnt mit  den  Worten  L  27  S.  17  Sp.  1  unten:  hat  das  selb  recht 
so  si  kumbt  vber  z'welf  iar. 

1)  Beim  Beginn  von  L  67   findet   sich  keine  Ucberschrift ,    aber- 
eiue  rothe  Initiale. 


Hockhujer:  ITandsclirlftev  r.um  Sclncalcnspiegel. 


305 


87 

88 

89 

90 

91 

92 

93 

94 

96 

96 

97 

98 

99 
100 
101 
1U2 
103a 
103b 
104 
105 
106 
107 
108 
109 
110 
111 
112 
113 
114 
115 
116 
117 
118 
11!» 


1 
I 
I 

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I. 

58 
59 

601)! 

61 
02 
63 
64 
65 

66 

67 

68 

69 

70 
71 

72 

73 
74 
75 

76 

77 

78 


II. 

59 
00 
61 

62 


68 

69 
70 

71 

72 
73 

74 

75 
76 

77 

78 
79 
80 


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59 
60 

61 


63 

02 

64 

G3 

G5 

04 

00 

05 

07 

00 

67 

68 
69 

70 

71 

72 

73 

74 
75 
76 

77 
78 
79 


120 

121 

122 

123 

124 

125  - 

126 

127 

128 

129 

130 

131 

132 

133 

134 

135 

136 

137a 

137b 

137c 

138 

139a 

139b 

140a 

140b 

141 

142 

143 

144 

145 

146 

147 

148 

149 


I. 

IL 

III. 

79 

81 

80 

80 

82 

81 

81 

83 

82 

82 

84 

83 

83 
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85 

84 

}  84 

86 

85 

85 

87 

86 

86 

88 

87 

87 

89 

88 

}  88 

90 

89 

}  89 

91 

90 

90 

1  »i 

92 

91 

93 

92 

92 

93 

94 

95 

96 

97 

98 

99 

100 

101 

102 

103 

104 


94 

95 

96 

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98 

99 

100 

101 

102 

103 

104 

105 

106 


93 

94 

95 

96 

97 

98 

99 

100 

101 

102 

103 

104 

105 


1)  Beim  Beginne  von  L  00  findet  sich  keine  Ueberschrift ,  aber 
der  Text  fangt  mit  einer  neuen  Zeile  und  einem  rothen  Anfangs- 
buchstaben an. 


306 


Sitzung  der  histor.  Classc  vom  6.  Juli  1867. 


L. 

I. 

II. 

III. 

L. 

I. 

IL 

III. 

150 

105 

107 

106 

187 

} 

151  1 

188 

132 

137 

133 

152 
153 

106 

108 

107 

189 
190 

133 

138 

134 

154 

191 

134 

139 

135 

155 

107 

109 

108 

192 

135 

140 

136 

156 

108 

110 

109 

193 

136 

141 

137 

157 

109 

111 

110 

194 

137 

142 

138 

158 

110 

112 

111 

195 

138 

143 

139 

159 

160 

111 
112 

113 
114 

112 

113 

196 
197 

} 

139 

144 

140 

161  1 
162 

f  113 

i  115 
l  116 

}  114 

198 
199 

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140 

145 

141 

163 

\   114 

I  U7 
1  118 

}  115 

200 

141 

146 

142 

164 

201 

142 

147 

143 

165 

119 

202 

143 

148 

144 

166 

f  115 
116 

120 

116 

203 

144 

149 

145 

167 
168a 

121 

117 

204 
205 

} 

145 

150 

146 

168b 
169 

f  117 

122 

118 

206 
207 

146 
147 

151 
152 

147 
148 

170 

171 

|  118 

123 

119 

208 
209 

} 

148 

153 

149 

172 
173 

j  119 

124 

120 

210 
211 

149 
150 

154 
155 

150 
151 

174 

120 

125 

121 

212 

151 

156 

152 

175 

121 

126 

122 

213 

152 

157 

153 

176 

122 

127 

123 

214 

153 

158 

154 

177 
178 

|  123 

128 

124 

215 
216 

154 
155 

159 
160 

155 
156 

179 
180 

124 
125 

129 
130 

125 

126 

217 
218a 

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156 

161 

157 

181 

126 

131 

127 

218b 

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182 

127 

132 

128 

219 

157 

162 

158 

183 

128 

133 

129 

220 

184 

129 

134 

130 

221 

158 

163 

159 

185 

130 

135 

131 

222 

X 

159 

164 

160 

186 

131 

136 

132 

223 

1 

Bock 

inger : 

Handschriften 

zum  Schwahensplegel. 

307 

L. 

I. 

II. 

III. 

L. 

I. 

II. 

III. 

224 

159 

164 

160 

252 

\ 
1 

225  ' 

253a 

175 

180 

176 

22G 

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253b 

227 

228 

•  160 

165 

161 

253c 
254 

176 

177 

181 

182 

177 
178 

229 

255 

178 

183 

179 

230   ; 

256 

179 

184 

180 

231  \ 

232  S 

161 

166 

162 

257 

258 

180 
181 

185 
186 

181 

182 

233 

162 

167 

163 

259 

182 

187 

183 

234 

163 

168 

164 

260 

} 

235 

164 

169 

165 

261 

183 

188 

184 

236 

165 

170 

166 

262 

237  . 
238 
239  ' 

263 

184 

189 

185 

166 

171 

167 

264 

185 

190 

186 

265 

186 

191 

187 

240  , 
241 
242  J 

266 

187 

192 

188 

>   167 

172 

168 

267 

188 

193 

189 

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243  1 

244  J 

\   168 

173 

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269 
270 

189 

194 

190 

245 

169 

174 

170 l) 

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190 

195 

191 

246 

170 

175 

171 

271b 

} 

191 

196 

192 

247 

171 

176 

172 

272 

248  \ 

249  J 

■  172 

177 

173 

273 

274 

1 

192 

197 

193 

250 

173 

178 

174 

275 

i 

251 

174 

179 

175 

276a 

1)  Zur  Geschichte  der  Caefurnia  hat  eine  flüchtige  Hand  des 
sechzehnten  Jahrhunderts,  von  welcher  sich  auch  sonst  an  anderen 
Stellen  Bemerkungen  finden,  an  den  oberen  Rand  von  fol.  55'  Sp.  2 
beigeschrieben : 

Nota,  non  obtenta  sententia  a  Kalfulnea  judicj  et  ceteris  asses- 
soribus  nuda  fuerunt  ostensa  ab  eadem  posteriora.  ob  quod  inter- 
dictum  ex  post  est  omnibus  niulieribus  officium  postulandi.  nee  in 
illo  casu  cesante  causa  cessat  et  efiectus.  etc. 


308 


Sitzung  der  Mstor.  (lasse  vom  6.  Juli  1867. 


L. 

276b 

276c 

277   194 

278 

279 

280 

281 

282 

283 

284 

285 

286 

287 

288a 

289b}202 


|  193 


195 

}  196 

197 
198 

}  199 

200 

}  201 


290 
291 
292 
293 
294 
295 
296 
297 
298 
299 
300 
301 
302 


203 


205 
206 
207 
208 
209 
210 
211 


II. 

198 

199 
200 


202 
203 

204 

205 

206 

207 
208 


204   209 


210 
211 
212 
213 
214 
215 
216 


III. 

194 

195 
196 


201   197 


198 
199 

200 

201 

202 

203 
204 

205 


206 
207 
208 
209 
210 
211 
212 


L. 
303 
304 
305 
306 
307 
308 
309 
310 
311 
312 


}2 


12 


213 

214 
215 
216 
217 

218 


313   219 


314 
3141 


220 
221 


314II  222 

315   223 

316 

317 

318 

319 

3191 

320 

32 

322 

323a 

323b 

324 

325 

326 


»}22 


224 

225 

226 

2) 

7 


228 
229 
230 
231 
232 
233 


IL    III. 


217   213 


218  I  2141> 
218  l  2151) 


219 
220 
221 
222 
223 


f  224  1 
\  225  1 


230 
231 
232 
3) 
233 

234 
235 
236 
237 
238 
239 


216 
217 
218* 
219 
220 

221 


226  222 

227  223 

228  224 

229  225 


226 
227 
228 
4) 
229 

230 
231 
232 
233 
234 
235 


1)  Das  erstere  dieser  zwei  Kapitel  reicht  bis  zu  den  Worten  L 
307a  S.  131  Sp.  1:  der  sol  im  raten  als  auch  an  dem  buche  stet. 

Ohne  Unterbrechung  der  Zeile  wird  dann  weitergefahren.  Aber 
an  den  Rand  ist  hiezu  mit  kleinerer  Schrift  roth  als  Ueberschrift 
beigesetzt:  Von  ayden. 

2)  Vgl.  unten  Kapitel  280. 

3)  Vgl.  unten  Kapitel  287. 

4)  Vgl.  unten  Kapitel  282. 


Eocl-ingcr:  Handschriften  zum  Schväbenspiegel. 


309 


L. 

I. 

IL 

III. 

L. 

I. 

IL 

III. 

327   234 

240 

236 

350  \ 

351  J 

244 J)/ 

250  »)\ 

2511)/ 

246 x) 

3271  235 

241 

237 

245  {)\ 

247  *) 

328  236 

329  > 

330  [  237 

331  J 

242 

238 

352  \ 

353  \ 

246 

252  \ 
2532)/ 

248 

243 

239 

354 

247 

254 

249 

355 

248 

255 

250 

332   238 

244 

240 

356 

249 

256 

251 

333  ' 

357 

250 

257 

252 

334 

358 

251 

258 

253 

335 

359 

252 

259 

254 

336 

360 

253 

260 

255 

337 

361 

254 

261 

256 

338 

>239 

245 

241 

362 

255 

262 

257 

339 

363a 

256 

263 

258 

340 

363b 

258 

265 

260 

341 

3631 

257 

264 

259 

342 

364 

259 

266 

261 

343  J 

3641 

260 

267 

262 

SJ  }  240 

34o  ) 

246 

242 

365 
366 

261 
262 

268 
269 

263 
264 

346  \   9d1 

347  f  241 

247 

243 

367 
3671 

263 
264 

270 
271 

265 
266 

348    - 

— 

— 

367II 

265 

272 

267 

349   242 

248 

244 

368 

266 

273 

268 

3491a  — 

— 

— 

3681 

267 

274 

269 

3491b  243 

249 

245 

369 

268 

275 

270 

1)  Die  Abtheilung  dieser  beiden  Kapitel  gegen  L  350  und  351 
ist  folgende. 

Ersteres  reicht  bis  zu  den  Worten  L  351  S.  150  Sp.  2:  darumb 
das  si  nicht  mit  ein  ander  sünde   tünt. 

Dann  folgt  das  andere  unter  der  Ueberschrift:  Dem  geuangen 
lewte  entrinett  (II:  entrienen  sint.  III:  entrinnent). 

Zu  bemerken  ist  vielleicht  noch,  dass  sich  in  I  und  III  beim 
Beginne  von  L  351  ein  rother  Anfangsbuchstabe  findet. 

2)  Die  Ueberschrift  fehlt  hier.  Der  Text  beginnt  aber  mit  einer 
neuen  Zeile  und  rother  Initiale. 


310  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

L.  I.         IL        III.  L.  I.        II.         III. 


370 

269 

278 

271 

3751 

276 

283 

278 

3701 

270 

276 

272 

375II 

277 

284 

279 

370II 

271 

277 

273 

375IV 

278 

285 

280 

371 

273 

280 

275 

375V 

279 

286 

281 

372  \ 

373  J 

274 

281 

1  276 

376 

280 

282 

287 
289 

282 
284 

374 

— 

— 

— 

377 

281 

288 

283 

3741 

272 

279 

274 

3771 

283 

290 

285 

375 

275 

282 

277 

—  Herrenl. 

-2) 

Herrenl 

Anhang  zum  Lanclrechte. 


— 

1 

1 

i 

79IID 

7(a) 

7(a)   7(a) 

— 

2 

2 

2 

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7(b) 

7(b)   7(b) 

3691 

3 

3 

3 

221  . 

7(c) 

7(c)   7(c) 

— 

4 

4 

4 

— 

8 

8     8 

— 

5 

5 

5 

314IV 

9 

9     9 

79IIA] 

363II 

10 

10    10 

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6 

6 

6 

377IV 

11 

11    11 

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is  Leb 

enreclit. 

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3 

3 

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5 

5     5 

1)  Vgl.  oben  Kapitel  319  I. 

2)  Die  Herrenlehre  ist  hier  erst  nach  dem  sogleich  folgenden 
Anhange  zum  Landrechte  gesetzt,  wie  oben  S.  301  des  näheren  be- 
merkt worden  ist. 

3)  Die  Abtheilung  dieser  beiden  Kapitel  gegenüber  L  1  und  2 
ist  folgende. 

Ersteres  schliesst  gegen  L  1  b  S.  171  Sp  2:  Darnach  geet  dew 
sibende  zal  an.  da  mues  dew  werlt  ein  ende  mit  nemen.  weder  der 
sibenden  zal  noch  tausent  iar  werden,  oder  mer  oder  minder,  das 
wais  nicman. 


Bockinger:  Handschriften  zum  Schwabenspiegel.  311 

i.       ii.      in.         l.       i:       IL      III. 


5 

6 

6 

6 

14 

20 

20 

20 

6 

7 

7 

7 

15 

21 

21 

21 

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10 

10 

10 

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11 

11 

11 

17 

24 

24 

24 

9a 

12 

12 

12 

18 

25 

25 

25 

9b 

13 

13 

13 

19 

26 

26 

26 

10a 

14 

14 

14 

20 

27 

27 

27 

10b  \ 
11  J 

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») 

15 

21 

22 

28 
29 

28 
29 

28 
29 

12a 

16 

16 

16 

23a 

30 

30 

30 

12b 

17 

17 

17 

23b 

31 

31 

31 

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32 

32 

32 

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192) 

24b 

33  . 

33 

33 

Hierauf  folgt  als  zweites  Kapitel  die  nachstehende  Fassung: 
Di  des  herschiltes  darbent. 

Nu  hat  man  ew  genant  alle  di  des  herschiltes  darbent. 

Vnd  ist  das  ein  herre  ir  einem  ein  lehen  leihet,  der  hat  als  gut 
recht  daran  als  der  in  dem  sechsten  herschilt  vert.  vnd  erbent  dew 
lehen  an  ire  kinder. 

Awer  vmb  alles  lehenrecht  mügen  si  nicht  vrtail  vinden  di  des 
herschiltes  darbent  wann  vor  iren  herren  von  dem  si  lehen  haut. 

Iren  gezeügen  den  verlegt  man  wol  vmb  lehenrecht  vor  andern 
herren  on  vor  jren  herren. 

1)  Die  Abtheilung  dieser  beiden  Kapitel  gegen  L  7  S.  172  Sp.  2 
ist  folgende. 

Ersteres  reicht  bis  zu  den  Worten :  der  hilfet  im  wol  mit  rechte, 
den  mag  der  herre  nicht  verwerffen. 

Dann  folgt  das  andere  unter  der  Ueberschrift :  Wie  der  man 
den  herren  eren  sol. 

2)  Die  Abtheilung  dieser  beiden  Kapitel  gegen  L  13  S.  175  Sp.  1 
ist  folgende. 

Ersteres  reicht  unter  der  Ueberschrift  „Sprechent  zwen  ain  gut 
an  dy  der  gewer  darbeut"  bis  zu  den  Worten:  das  müs  er  erzeugen 
zu  im  mit  zwain  des  herren  mannen. 

Dann  folgt  das  andere  über  der  Ueberschrift:  Gcdingde. 


312 


Sitzung  der  histor.  Geisse  vom  6.  Juli  1867. 


L. 

25 
26 
27 
28 
29 
30 
31 
32 
33 
34 
35 
36 
37 
38 
39 

40  | 

41 

42a  \ 
42b  J 


I. 

34 
35 
36 

37 
38 
39 
40 


IL 

34 
35 
36 
37 
38 
39 
40 
41 


42 

43 

44 

45 

46 

472)/ 

48  l 

49 


III. 

34 
35 
36 
37 
38 
39 
40 


1  55  1  56  | 

i 4l,)}  « ) 411)    !;} 56 } 57 } 

|  57  }  58  1 


43 

44 

45 

46 

47 

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49  l 

50 


50 


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42 

43 

44 

45 

46 

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48 

49 

50 


L. 
42c  \ 

42dJ 

43  \ 

44  j 
45 
46 
47 
48 
49 
50a 
50b 
51 
52 
53 
54 
55 
56 
57 
58 
59 


I.  IL  III. 

51  1  52  |  51 

523)\  533)\  523) 

68»)/  543)/  533) 

54  55  54 


58 
59 
59 

59 
60 
61 
62 


59 
60 
60 

60 
61 
62 
63 


55 
56 

57 

58 
59 
59 

-4) 

59 

60 

61 

62 


1)  Beim  Beginne  von  L  33  findet  sich  hier  der  rothe  Anfangs- 
buchstabe N. 

2)  Die  Abtheilung  dieser  beiden  Kapitel  gegenüber  L  40  S.  181 
Sp.  2  und  182  Sp.  1  ist  folgende: 

Ersteres  reicht  unter  der  Ueberschrift  „Wem  der  herre  leihen 
sol"  bis  zu  den  Worten  L  40  c:  Wem  der  herre  gut  gelihen  hat,  des 
kinden  mag  er  nicht  verzeihen. 

Dann  folgt  das  andere  unter  der  Ueberschrift:  An  welher  stat 
man  nicht  leihen  sol. 

3)  Die  Abtheilung  dieser  zwei  Kapitel  gegen  L  43  und  44  ist 
folgende: 

Ersteres  reicht  bis  zu  den  Worten  L  43b  S.  184  Sp.  2  unten: 
der  tage  sol  ie  ainer  sein  vber  vierzehen  nacht. 

Dann  folgt  das  andere  unter  der  Ueberschrift:  Dem  dreistund 
tag  gegeben  wirt. 

4)  Vgl.  unten  die  Note  zu  Kapitel  137. 


Rockiiiger:  UandacJiriften  :.um  Scliwubeiispiegcl. 


313 


L. 

I. 

IL 

III. 

L. 

I. 

IL 

III 

GO 
Gla 

63 
64 

64 
65 

63 
64 

82  \ 

83  / 

84  1 

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65 

66 

65 

84 

85 

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62 
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67 

67 
68 

66 
67 

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64 

68 

69 

68 

86 

88 

90 

88 

65 

69 

70 

69 

87 

— 

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70 
71 

71 
72 

70 
71 

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89 

671) 

72 

73 

72 

90 

90 

92 

90 

68a 

73 

74 

73 

91 

91 

93 

91 

68b 

74 

l 

75  1 

74 

92 

92 

94 

92 

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69  j 

,  — 

75  J 

\     ~ 

93 

93 

95 

93 

74 

74 

94a 

94 

96 

94 

70 

75 

76 

75 

94b 

95 

97 

95 

71  , 

l 

95a 

96 

98 

96 

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72b 
73  ' 

76 

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95b 
95c 
96 

>  97 

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74 

77 

79 

77 

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75 

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98 

98 

100 

98 

76 

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79 

99 

99 

101 

99 

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100 

79 

81 

83 

81 

102 

101 

103 

101 

80 
81 

82 
83 

84 
85 

82 
83 

103  1 
104a/ 

102  j 

104  ] 

102 

1)  Beim  Beginne  von  L  72  b  findet  sich  ohne  besondere  Ueber- 
schrift  in  neuer  Zeile  die  rothe  Initiale  0. 

2)  Nach  dem  Schlüsse  von  L  75  findet  sich  hier  noch  der 
Zusatz : 

Vnd  kom  der  man  nicht  dar,  vnd  das  in  des  ehaft  not  latzte, 
das  müs  er  selbdritte  erzeugen  di  das  wars  wissen,  damit  hat  er 
awer  behabt. 


314 


Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6,  Juli  1867. 


L. 

I. 

II. 

III. 

L. 

I. 

IL 

III. 

104b 

103 

105 

103 

125 

120 

122 

120 

105 

104 

106 

104 

126 

121 

123 

121 

106 

105 

107 

105 

127 

122 

124 

122 

107 

106 

108 

106 

128a 

123 

125 

123 

108 
109 

107 
108 

109 
110 

107 

108 

128b  1 
128c  / 

124  ] 

126 

1  124 

110 

109 

111 

109 

129 

125 

127 

125 

111 
112 

l110l)l 
'•(1H)1) 

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130  \ 

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113 

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114 
115 

}  (112)2) 

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112 

132b 
133 

127 

128 

129 
130 

127 
128 

116 

113 

115 

113 

134 

129 

131 

129 

117 
118 
119 

115 

116  1 
117 

114 
115 

135 

136  \ 

137  / 

130 
131  j 

132 

133 

130 
/  131 

120 

116 

118 

116 

138 

132 

134 

132 

121 

1173) 

1193) 

1173) 

139 

122 
123 

118 

120 

118 

140 
141 

>  1334) 

>1354)il33' 

124 

119 

121 

119 

142 

- 

1)  Die  Abtheilung  dieser  beiden  Kapitel  gegenüber  L  111 — 113 
ist  folgende. 

Ersteres  reicht  unter  der  Ueberschrift  „Lehen  an  manschaft'1 
bis  zu  den  Worten  L  112  a  S.  204  Sp.  1:  on  in  kirchen  vnd  in 
kirchhöuen. 

Dann  folgt  das  andere  unter  der  Ueberschrift  in  I  und  III: 
Lehentädingk  lang  vnd  vil,  in  II:    Lehen  teiding  lang  ist  daz. 

Die  in  I  in  Klammern  geschlossenen  Kapitel  sind  durch  Aus- 
riss  des  Fol.  85  nicht  mehr  ganz  vorhanden.  Kap.  111  bricht  näm- 
lich mit  den  Worten  L  112a  S.  204  Sp.  2  ab:  wo  dew  stat  oder  das 
dorff  sey  da  er  in.  Fol.  86  sodann  beginnt  mit  den  Worten  L  115  b 
S.  206  Sp.  2 :  schulde  als  im  der  herre  gedinget  ist. 

2)  Vgl.  den  Schlussabsatz  der  vorhergehenden  Note. 

3)  Diesqs  Kapitel  schliesst  schon  mit  den  Worten:  vnd  gibt 
ienem  dehein  losung,  in  II:  vnd  gibt  jenem  losvnge. 

4)  Der  Schlussatz  von  L  142    über  den  Thorwart  fehlt  hier. 


Rockinger:  Handschriften  sum  Schwabenspiegcl  315 


L.     I. 

II. 

III. 

L. 

I. 

II. 

III. 

143  )  134 

144  1  ld4 

)  136 

}  134 

151 
152 

140 
141 

142 
143 

140 
141 

145   135 

137 

135 

153 

142 2) 

144 2) 

142  2) 

146   136 

138 

136 

154 

143 

145 

143 

147   137 

1'39 

1371) 

155 

144 

146 

144 

112  }  138 
149a  J 

}  140 

}  138 

156 

157 

145 
146 

147 

148 

145 

146 

149b   139 

141 

139 

158 

147 

149 

147 

150   140 

142 

140 

159 

148 

150 

148 

Wir  sehen  hier  im  Ganzen  von  einer  ausführlichen  An- 
gabe der  Abweichungen  ab  welche  unsere  drei  Handschriften 
in  der  Trennung  einzelner  Kapitel  des  L-Druckes  in 
mehrere  wie  umgekehrt  in  der  Zusammenziehung  von 
so  und  so  vielen  Kapiteln  jenes  Druckes  in  nur 
eines  darbieten,  oder  von  einer  genauen  Verzeichnung  der 
in  unserer  Gruppe  vielfach  anders  lautenden  Ueberschrif- 
ten  der  Kapitel. 

Im  übrigen  stellen  sich  bei  der  Betrachtung  unserer 
vergleichenden  Zusammenstellung  nachfolgende  mehr  oder 
weniger  wesentliche  Punkte  heraus. 

Zu  den  letzteren  zählen  etwa  Versetzungen  von 
Kapiteln,  wie  im  Landrechte  von  1257  und  258  = 
II 264  und  265  =  III  259  und  260  gegen  L  3631  und 
363  b;  oder  von  1272  bis  275  =  II 279  bis  282  =  III  274 
bis  277  gegen  L  371  bis  375;  oder  von  I  281  und 
282=11288  und  289  =  111283  und  284  gegen  L  376  und 
377;  oder  noch  besonders  von  II  276  bis  278  gegen  L  370 


1)  Hiezu  ist  ein  kleiner  von  der  gleichen  Hand  beschriebener 
Zettel  eingeklebt,  welcher  das  üben  fehlende  Kapitel  L  55  ohne 
Ueberschrift  mit  rotlier  Initiale  enthält. 

2)  Der  erste  nicht  daher  gehörige  Satz  L  153a  fehlt  hier,  wo- 
selbst der  Text  richtig  beginnt:  Der  man  sol  dem  herren  nicht 
wider  sagen,  noch  der  herrc  dem  man,  wann  si  paide  etc. 


316  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

bis  370  II;  oder  im  Lehenrechte  von  I  und  III  69  und  70 
gegen  L  65  und  66. 

Wichtiger  ist  sodann,  dass  gegenüber  der  vom  Freiherrn 
v.  Lassberg  seinem  Drucke  zu  Grunde  gelegten  Haupthandschrift 
aus  allen  drei  Gliedern  unserer  Gruppe  die  Kapitel 
48,  316,  348,  374  des  Landrechtes,  und  die  Kapitel  55, 
68c,  87,  122,  132a  des  Lehenrechtes  fehlen,  und  ausser- 
dem noch  in  II    das  Kapitel  17  des  Landrechtes. 

Dagegen  bietet  unsere  Gruppe  gegenüber  der  bemerkten 
Handschrift  nicht  blos  nach  einer  Seite  hin  sondern  in  mehr- 
facher Beziehung  ein  Mehr. 

Ein  solches  findet  sich  einmal  in  III  in  der  Ein- 
schiebung  des  Artikels  7  zwischen  L  5  und  6,  wovon 
S.  303  in  der  Note  2  die  Rede  gewesen.  Es  mag  hiezu  das 
Kapitel  5  der  Handschrift  von  Herrenchiemsee  verglichen 
werden,  welches  wir  im  Berichte  der  Sitzung  vom  26.  Jänner 
S.  220  mitgetheilt  haben. 

Sodann  finden  sich  in  allen  drei  Handschriften 
unserer  Gruppe  gemeinschaftlich  in  dem  mit  Art.  314 
des  L-Druckes  beginnenden  dritten  Theile  des  Land- 
rechtes noch  die  in  der  Züricher,  ebner'schen,  wie  anderen 
Handschriften  des  sogenannten  Schwabenspiegels  vorkom- 
menden Kapitel  des  L-Druckes  3141,  314II,  3191,  3271, 
3491b,  3631,  3641,  3671,  367 II,  3681,  3701,  370 II, 
3741,  3751,  375  II,  375  IV,  375  V,  3771. 

Dieses  letzte  Kapitel  „Von  huren  kinden"  weist  auch  in 
seiner  Fassung  gegenüber  dem  L-Drucke  die  bedeutend 
weitere  Gestalt  der  Handschrift  Basel-Fäsch  *)  auf,  wie 
hier  folgt: 

Hat  ein  ledig  man  pey  einem  ledigen  weibe  ein  kind, 
oder  mer  dann  eines,  vnd  nimbt  er  darnach  ein  eweib  vnd 
gewinnet  pey  der  ekind,    was  er  dem  vnelich  gibt  pey  dem 


1)  In  der  Ausgabe  Wackernagel's  Kapitel  334  S.  296  und  297. 


Hochinger:  Handschriften  sam  Schwabens]) iegcl.  317 

gesunden  leibe,  das  miigendt  dew  ekind  nynnuer  wider 
sprechen  mit  rechte,  noch  enniögen  in  es  mit  recht  nymer 
genemen.  an  seinem  todpette  gibt  er  in  wol  varend  gut  on 
erbe  gut. 

Hat  awer  er  das  vnelich  kinde  pey  einem  eweibe,  oder 
was  er  selb  ein  emau  ze  den  zeiten  do  si  des  kindes  pey  im 
swanger  ward,  dew  kind  haissent  hür  kind,  vnd  habent  kain 
recht,  wenn  welherlay  gut  der  vater  den  kiuden  gibt,  das 
chan  noch  enmag  er  in  mit  nichtew  gesteten,  im  nement 
es  seinew  ekind  mit  allem  rechten  wol. 

Hat  awer  er  das  vnelich  kind  pey  einer  seiner  niftelen 
dew  im  an  der  vierden  sippe  sein  mag  ist  oder  näher,  wann 
so  ie  näher  so  ie  sünder  vnd  auch  schäntlicher,  oder  hat 
er  es  pey  ainer  dew  im  swagerlichen  sippe  ist,  das  ist  also 
gesprochen:  welich  weib  einen  man  hat  zu  der  ee  oder  ze 
vne,  was  dew  niftel  hat  vntz  an  dew  vierden  sippe  zal, 
vnd  ligt  ein  man  bey  der  ainer  dew  seiner  vnelichen  frewn- 
din  oder  seiner  elichen  hausfrawen  niftel  ist  von  der  vierden 
sippe  oder  näher,  der  ist  ein  sippe  precher,  gar  ein  grosse 
sünde.  vnd  was  ein  man  also  pey  den  selben  fraweii  kinde 
liat  di  im  fleischliche  sippe  oder  swägerlich  sippe  sind,  dew 
kind  habent  dasselbe  recht  als  dew  hür  kind,  weder  minuder 
noch  rner. 

Hat  awer  er  si  pey  einer  geuatern  oder  pey  seiner 
toten  di  er  aus  der  tauffe  erhaben  hat  oder  dew  in  aus  der 
taufte  erhaben  hat ,  dew  kind  habent  alle  geleiches  recht 
sam  dew  hurkind. 

Vnd  hat  ein  man  ein  kind  pey  einer  nunnen  dew  orden 
in  einem  kloster  empfangen  hat,  vnd  kompt  si  holt  wider 
aus  dem  orden,  vnd  ist  si  ausserhalb  des  ordens  lang  oder 
kürtz,  darumb  hat  dehain  man  dester  pesser  recht  au  ir. 
wann  wer  pey  ir  niwana  ze  einem  male  ligt  süntliehen 
mit  seiner  wissen,  der  ist  sozehannt  in  dem  aller  höchsten 
panne  den  got  enhimel  vnd  enerde  hat.  ob  man  in  halt 
[1867.  II.  2.]  21 


318  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1S67. 

nymmer  ze  panne  tut,  noch  ob  man  in  nimmer  in  keinen 
pann  gekündet,  so  ist  er  doch  in  den  höchsten  pann  körnen 
niwan  [vmb]  di  ainig  sünde  den  got  in  himel  vnd  in  erde 
hat.  vnd  was  auch  ein  man  pey  den  selben  nünnen  kinde 
hat,  dew  habendt  auch  dew  recht  als  dew  hüren  kind,  vnd 
si  haissen  halt  von  allem  recht  hürkind. 

Weiter  schliesst  sich  dann  dem  Landrechte  noch  der 
aus  den  mehr  berührten  11  Kapiteln  bestehende 
Anhang  zu  demselben  unter  der  Ueberschrift  „Das  sind 
auch  landtrechtu  an. 

Wir  haben  uns  zur  Zeit  nicht  vorgesetzt,  des  näheren  über 
ihn  zu  handeln.  Immerhin  aber  dürfte  —  abgesehen  von  an- 
derem —  die  Bemerkung  nicht  überflüssig  erscheinen,  dass  seine 
Kapitel  6  und  7  zu  den  Kapiteln  88  a  und  88  b  des  Deutschen- 
spiegels =  Kapitel  89  und  90  der  jetzt  so  bedeutsam  ge- 
wordenen freiburger  Handschrift,  wie  nicht  minder  zu  den 
Kapiteln  71a  theilweise  und  71b  bis  f  des  Deutschenspiegels 
=  den  ihnen  entsprechenden  Kapiteln  der  freiburger  Hand- 
schrift, wozu  noch  Ficker  über  einen  Spiegel  deutscher  Leute 
S.  25  (137)  und  134  (250)  verglichen  werden  mag,  stimmen. 
Auch  ist  sodann  beachtenswerth,  dass  die  übrigen  —  mit  einer 
kleinen  Ausnahme  bei  10  —  sich  in  einer  bisher  nicht  genauer 
berücksichtigten  Gruppe  der  systematisch  geordneten  Hand- 
schriften des  sogenannten  Schwabenspiegels  in  die  betreffen- 
den Abtheilungen  aufgenommen  finden.  Insoferne  nun  die 
genauere  Keuntniss  seiner  Beschaffenheit  im  Ganzen 
für  den  Behuf  der  Beurtheilung  anderweitiger  Handschriften 
des  sogenannten  Schwabenspiegels  nicht  ohne  Bedeutung  ist, 
glauben  wir  selben  in  seinem  Zusammenhange  nach  der 
Fassung  von  I  mittheilen  zu  sollen,  welcher  wir  die  ent- 
sprechenden Abweichungen  von  II  und  III  je  unter  B  und 
C  in  den  Noten  beifügen. 


Boclcinger:  Handschriften  zum  Schwabenspiegel.  319 

1.     Ob  ein2)  herre  ein  kirchen  leihet. 

Vnd  ist  das  ain  werltlich  herre  den  gewalt  hat  das  er 
ein  kirchen  leihen  sol  oder  zwo  oder  mer,  vnd  pitet  in  ein 
pfaffe  oder  ein  schüler  das  er  im  ain  kirche  leihe,  vnd  der 
herre  leihet  im  di  kirchen,  vnd  kompt  dann  ein  ander  pfaffe 
oder  schüler  an  den  selben  herren  vnd  pitet  in  auch  das 
er  im  di  kirchen  leihe  di  er  da  ienem  hat  gelihen,  das  tut 
der  here  wol  mit  rechte,  ob  im  dirre  lieber  ist  dann  iener, 
oder  ob  in  des  tünkchet  das  dew  kirche  an  disem  pas  be- 
statet  sey  dann  an  ienem,  so  leihet  er  si  disem  wol  mit 
recht. 

Hat  awer  im  der  bischof  den  alter  gelihen  dem  der 
herre  di  kirchen  des  ersten  lech,  so  mag  er  si  niman  mer 
geleihön  di  weile  der  lebt,  dem  mag  si  weder  leye  herre 
genemen  noch  der  bischof. 

Alle  di  weile  ein  pfaffe  oder  ein  schüler  den  alter  von 
dem  bischoue  nicht  empfangen  hat,  wie  wol  im  der  werltlich 
herre  di  kirchen  gelihen  hat,  vnd  leihet  si  der  herre  einem 
anderen,  vnd  wirt  auch  dem  der  alter  von  dem  bischofe 
gulihen  e  ienem,  er  hat  si  mit  rechte. 

Ist  awer  ein  dingk  das  der  werltlich  herre  dem  erern 
pffafen 3)  oder  schüler  seinen  brief  mit  insigelen  gibt  an  den 
bischof  das  er  im  den  alter  leihe .  vnd  gereuet  den  herren 
das,  vnd  sendet  dem  bischof  einen  andern  brief  das  er 
disen  man  auf  hallte  an  der  geistlichen  gäbe  ,  er  hab  sich 
eines  Wägern  bedacht,  das  hat  dehain  kraft,  wann  wem  der 
herre  seinen  brief  mit  insigel  an  den  bischof  gibt,  dem  müs 
der  bischof  den  altar  leihen,  vnd  wäre  halt  der  bischof 
dem  selben  veint,  er  müs  im  in  doch  leihen  mit  rechte. 

Vnd  hat  auch  der  herre4)    di  kirchen  in  seiner  gewalt 


2)  B:  der. 

3)  B:  dem  ersten  pfarrer. 

4)  B:  der  selbe  herre. 

2V 


320  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

vnuerlichen 5)  sechs  moned  oder  lenger,  so  hat  er  den  ge- 
walt  verloren  der  lehenunge,  vnd  sol  si  der  bisckof  leihen 
wem  er  wil,  baiden  kirchen  vnd  altar. 

Wirt  awer  si  darnach  ledig,  so  leihet  der  herre  si  awer 
wol.     er  verleuset  niwan6)  das  aine  lehen  daran. 

Dise  sache  ist  werltlichen  herren  gut  zewissen.  man 
müs  awer  vor  geistlichem  gerichte  darumb  rechten,  vnd 
gehört  auch  gaistlich  vnd  werltlich  herren  an. 

2.     Wie  man  kloster  gut  kauffen7)  sol. 

Vnd  ist  das  ain  abbt  oder  ein  brobst  oder  ein  abb- 
tässin  oder  ein  priorin 8)  oder  wie  er  so 9)  gehaissen  ist  der 
hauptman  oder  ein  maister  oder  ein  pfleger  da  ze  einem 
kloster  ist,  vnd  wil  der  selb  dem  kloster  ein  gut  an  werden 
das  vrbor  10)  haisset  vnd  nicht  varend  gut  ist,  das  mag  er 
mit  recht  nymmer  on  werden  dem  kloster  wie  gewaltig  er 
ist,  er  bewer  dann  des  ersten  drew  dingk  vor  der  samnunge 
des  klosters.  vnd  ist  dew  samnunge  nicht  gar  da,  also  das 
man  ir  nicht  gar  zu  samen  pringen  mag,  so  sol  zum  aller 
minsten  doch  der  samnunge  das  merer  tail  da  sein:  vor 
denn  sol  er  bewaren  ee  das  er  das  gut  on  werde. 

Des  ersten  sol  er  bewären,  das  man  das  gut  von  dem 
kloster  gelten  süll  da  durch  man  das  gut  on  werden  müsse. 

Zum  andernn  mal  sol  er  bewaren,  das  er  nindert 
wisse  dehain  varend  gut  das  des  klosters  sey  damit  er  di 
gülten 1  *)  vergelten  müge. 

Zum  dritten  mal  sol  er  bewarn,    das    er  nindert  wisse 


5)  B  und  C:   vnverlihen. 

6)  B:  nicht  wann. 

7)  B:  verkauften. 

8)  B :  ein  brior. 

9)  C:  wie  so  er. 

10)  B:  erber. 

11)  B;  gult.    C:  gülte. 


Rockinger:  Handschriften  sinn  Schwabenspicgel  321 

dehaiu  ander  gut  das  des  klosters  sey  das  mau  dem  kloster 
als  vnschedlich  an  werde  als  das  selb  gut. 

So  wird  er  das  gut  an  mit   rechte. 

Vnd  der  das  gut  da  kauffen  wil,  der  sol  pey  dem 
ersten  fragen12)  das  es  der  merer  tail  der  samnunge  höre, 
ob  des  kloster  hauptman  dise  drey  sache  bewärt  hab.  vnd 
sind  si  nicht  bewärt,  so  sol  er  es  nicht  kauffen.  sind  si 
awer  bewärt,  so  kauffet  er  das  gut  mit  recht,  vud  nem 
darüber  hantueste  der  samnunge  vnd  auch  des  pflegers.  so 
kauffet  er  das  gut  mit  rechte  an  krieg  13). 

3.    Ob  ein  hantueste  valsch  sey14),  wie  man  das 
kiesen16)  sol16). 

Man  velschet  ein  hantueste  mit  manigen  dingen  der  di 
trieger  vnd  die  velscher  vil  künnen.  vnd  darumb  süllen  wir 
di  getrewen  vnd  di  geweren  leren  wi  si  die  valschen  hant- 
ueste kiesen  vnd  schauen  süllen,  das  man  si  desterbas  er- 
kenne, das  di  rechten  lewte  damit  nicht  geäffet  noch  17)  be- 
trogen werdent. 

Ein  hantueste  wirt  entwicht  von  dem  gediente  enmani- 
gen  ende  18).  das  kan  ein  wolgelert  man  wol  erkennen,  vnd 
ettwenne  von  der  geschiente,  nennet  man  vns  an  einer  stat 
des  ersten,  vnd  sprich  ich  das  es  dew  samnung  gelobt19) 
hab,  vnd  si  des  nicht  getan  hat,  so  ist  dew  hantuest  valsch. 


12)  A:  sagen. 

13)  B:  an  allen  krieck. 

14)  B:  ist. 

15)  B:  bessern. 

16)  Aus  dem  cod.  germ.  553  ist  dieses  Kapitel  abgedruckt  in 
der  Ausgabe  L  369 1  S.  157  Sp.  2  und  S.  158 ,  in  der  Ausgabe  W 
419  S.  340—34_'. 

17)  B:  lewte  icht  da  mit  ge  efft  vnd.     C:  vnd. 

18)  B:  an  mangen  euden. 

19)  B:  sammenunge  gar  gelobet.     C:  samnunge  gar  gelobt. 


322  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Das  ander  ist,  wann  man  oben  vnd  niden  das  insigel 
auf  clozzet20),  vnd  maa  ein  ander  seiden  darein  tut,  vnd 
das  enrniten  nicht  enist. 

Das  dritte  ist,  das  man  an  ertlicher  hantueste  di  seiden 
oben  Yon  ein  ander  sneidet,  vnd  sleusset  si  durch  ein  ander 
hantueste  dew  nach  seinem  willen  geschriben  ist,  und  man 
zaizet21)  di  seiden  dann  klaine  ausz  ein  and«r  vnd  trädt22) 
si  dann  ze  samen  vnd  machet  si  wider  gantz.  das  müs 
awer  yon  gefügen  frawen  hannden  geschehen. 

Das  virde  ist  awer  meistic  an  den  newen  jnsigeleD,  das 
man  etwenne  mit  hitze  di  seiden  gar  aus  zeuhet,  vnd  tut 
newe  dar  ein  durch  ein  ander  hantueste  di  er  auch  nach 
seinem  nuze  geschriben  hat. 

Das  fünfte  ist  da23)  man  ein  hantueste  mit  velschet, 
wenn  man  si  geschahen  sieht  an  der  stat  da  man  das  da24) 
schreibet  da  si  vber  gegeben  ist.  jst  aber  si  geschahen 
anderswo  dann  an  der  stat  da  man  das  da  triftet  vnd 
nennet  da  si  vber  geben  ist25),  als  ettwo  da  di  maister  ir 
kunsc  iegent,  wie  nutz  vnd  wie  gut  es  sey  das  si  gegeben 
ist:  ist  si  da  geschahen,  das  wirret  nicht. 

Das  sechste  ist,  das  man  ettwenne  machet  von  weine 
vnd  von  wasser  das  dew  schrift  gar  ab  geet,  vnd  gibt  es 
einem  biichueller 26)  der  es  mit  seiner  kunst  gar  ab  tut, 
vnd  scribet  danu  wider  daran  nach  seinem  willen  vnd  nach 
seinein  nutze,     das  sol   man  gen  der  sunnen  haben,  so  mag 


20)  B:  cloesset. 

21)  B:  czeyset.     C:  zeyzet. 

22)  B:  dret.     C:  drät. 

23)  B:  ist  daa  da. 

24)  B:  stat  do  man  do. 

25)  In  B   ist   dieser   Satz  durch   öfxoiott'Atvxov    bis  hieher   aug- 
gefallen. 

26)  B:  buch  veller. 


Bockinger:  Handschriften  zum  Schcabenspiegcl.  323 

man  es  wol  erkennen,  so  sieht  man  der  allten  schrifft 
immer27)  etwe  uil  in  dem  pirniit  in28)   der  newen. 

Das  sibend  ist,  das  mau  ettwenn  auch  ein  klaines  per- 
mit  dünne29)  auf  di  schritt  leimet  mit  einer  hausen  pla- 
teren30),  vnd  sneidet  es  dann  geleiche  als  es  nywan31)  ein 
permett  sey,  vnd  schreibet  dann  auf  das  chlaine  permeit 
was  im  geuellet. 

Das  achtende  ist,  so  das  merrer  tail  der  hantueste  ge- 
zeugen  wider  di  hantueste  sind,  so  ist  si  awer  valsche. 

Das  neunte  ist,  so  man  an  der  hantuest  leuget  also : 
das  ich  mich  ze  ainem  ekind  erbewte,  vnd  ich  des  nicht 
enpin;  oder  das  ich  sprich  ich  sey  armm,  vnd  das  ich  ain 
kirchen  han  dauon  ich  mich  wol  betrage;  oder  ob  ich 
sprich  ich  sey  frey,  vnd  ich  aigen  pin,  oder  ein  zinser  an 
ein  gotzhaus;  oder  an  manigen  dingen  wann  man  gicht  des 
nicht  war  ist ;  vnd  wenne  ich  der  rechten  forme  nicht  enhan 
di  der  stiil  ze  Rome  gibt  vber  solich32)  sache  der  man 
nicht  verkeret. 

Das  zehende  ist,  das  man  an  neuen  hantuesten  bewärn 
müs  das  es  des  herren  Schreiber  geschriben  hab  des  insigel 
daran  ist,  ob  leicht  einer  ein  insigel  stäle  vnd  brächte  es 
zu  ainem  Schreiber  der  im  schrib  das  in  gut  deucht,  oder 
ob  er  des  herren  insigel  sunst  fünde  da  sein  aine*  vergasse 
ein  kamerer  oder  ein  Schreiber,  oder  im  süst  einpfiele33), 
als  offt  geschieht. 

Das  aindleffte  ist,  ob  man  ein  ander  insigel  grebt'  nach 


27)  A:  inner. 

28)  B:  perment  boy.     C:  permit  jn. 

29)  B:  perment  dvnnz. 

30)  B:  blatern.     C:  platcrn. 

31)  B:  nicht  wann. 

32)  B:  svemlich. 

33)  B:  enpliile. 


324  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

clisera.  das  ist  awer  leichte  ze  erkennen  der  sein  wol  war 
nimpt  vnd  es  zu  dem  rechten  jnsigel  habt. 

Das  zwölfte  ist,  wa  man  ein  hantueste  schreibt  vnd  man 
ze  letzt  nicht  vnsers  herren  jar  daran  schreibet  wie  mauig 
iar  von  vnsers  heren  Jesu  Cristi  gepurd  sey  vntz  an  den 
tag  das  dew  hantueste  geschriben  ward. 

Das  dreyzehendc  das  ist,  das  man  ettwas  macht  das 
linde  ist  als  ein  wachs,  vnd  truket  das  auf  das  wachsen34) 
insigel,  vnd  machet  das  dann  herte  vnd  das  es  sich  doch 
nicht  erheuet35),  das  ist  gar  mülich  ze  erkennen,  vnd 
süllen  wir  es  nyman  leren  machen. 

4.     Der  in  dem  panne  ist. 

Vnd  ist  das  ein  man  in  dem  panne  ist ,  ob  der  mit 
seinen  aigen  lewten  icht  rett36)  oder  schaffet,  di  sind  dar- 
umb  nicht  in  dem  panne,  ob  das  in  ir  herzen  ist  das  si 
sein  gern  vber  waren37)  das  si  mit  im  nicht  ze  schaffen 
hieten  die  weil  er  in  dem  panne  ist. 

Der  im  awer  also  gedenket,  we  ich  wil  nur38)  dester 
mer  mit  im  reden  vnd  schaffen  das  ich  im  dester  lieber  sey, 
der  kompt  in  den  selben  panne  da  der  herre  innen  ist. 
wann  man  sol  got  den  himelischen  herren  harter  fürchten 
dann  den  •irdischen  herren. 

Sein  weib  vnd  seine  kind  mügen  des  nicht  wol  enbern: 
si  müssen  mit  im  reden. 

5.     Von  der  gemeine39). 
Wer  ein  gemaine  an  spricht,  das  ein  man  sich  der  ge- 


34)  B:  wechsein.     C:  wähsin. 

35)  B:  erhebet. 

36)  A  und  C:  reit. 

37)  B:  vberich  wem. 

38)  B:  wil  nicht  wann. 

39)  C:  gemein  ist  daz. 


BocTcingcr:  Handschriften  zum  Sclucabenspiegel.  325 

maine  vnder  windet,  cintweder  ze  wisrnade40),  oder  äker 
daraus  machet,  oder  welherlaye  er  darauf  pauet  vnd  es  in 
sein  nütz  zeuhet,  vnd  sol  doch  ein  rechte  gemaine  sein,  vnd 
spricht  jn  eiD  einig  man  darumb  an  das  er  es  ze  vnrecht 
hab,  dem  sol  er  ze  recht  darumb  nicht  antwürten,  er  seze 
im  dann  gut  porgen,  ob  er  im  enbreste 4  *) ,  das  im  vmb 
das  gut  nymermer  kain  man  angespreche ,  wann  es  ein  ge- 
maine ist.  enprest41)  er  dann  heut  einem,  so  spräche  in 
alle  tag  ein  itnewer42)  an,  wann  des  landes  herre,  der 
sprichet  in  wol  mit  rechte  an. 

Was  gemaine  ist,  das  stillen  auch  di  lewte  gemaine13) 
ansprechen  di  es  an  get44). 

6.  Wie  di  kempfen45)  auf  den  ringk  süllen  komen46). 

M 

Wer  einen  seine  genos  kämpflichen  wil  an  sprechen, 
der  sol  den  lichter  pitten ,  das  er  sich  vnder  winde  eines 
fiidbrechen  mannes.     das  sol    mit  vrtail  geschehen. 

Vnd  ob  er  sich  sein  vnderwunden  hat,  so  sol  in  der 
richter  vragen  im  welher  weise  er  den  frid  an  ira  geprochen 
habe,  da  mag  der  klager  gespräches  vmb  begern47),  oder 
er  mag  dem  richter    ze  haut  wol  antwürten.     er  sol  sagen 


40)  B:  entweder  wyszmat. 

41)  B:  enbreche. 

42)  B:  ein  newer. 

43)  B:  dy  gemein  lewte. 

44)  A:  geendt. 

45)  B:  kenippfier. 

46)  Dieses  Kapitel  entspricht  den  Kapiteln  88a,  88b,  theilweisc 
71,  71b,  71c  des  Deutschenspiegels  und  den  liiezu  stimmenden  Ka- 
piteln der  freiburger  Handschrift,  deren  Text  die  Ausgabe  W  Ka- 
pitel 350,  351,  34(3  bietet,  wozu  noch  der  Grossfoliudruck  (in  Senken- 
berg's  Ausgabe  Kapitel  167  §  8  —  15)  verglichen  werden  mag. 

47)  B :  vmb  gern. 


326  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

in  wellier  weise,  ob  er  in  beraubet  hab  auf  der  Strasse  mit 
raube  oder  mit  wunden,  oder  wo  es  jm  geschehen  ist,  oder 
in  welher  weise  er  den  frid  an  im  geprochenn  hab.  in  der 
selben  weise  sol  er  auf  in  klagen. 

Schuldiget  er  in,  er  hab  in  gewunndet,  vnd  ist  die 
wunde  hail,  er  sol  beweisen  di  masen.  dew  weisunnge  hat 
doch48)  nicht  krafft.  er  müs  di  wunden  erzeugen  selb- 
dritte,  ob  iener  seinen  aid  bewtet.  hat  er  nicht  gezeugen, 
so  sol  er  im  di  hant  ab  ziehen,  vnd  sol  also  sprechen: 
herr,  herr  richter,  mit  ewerem  vrlaub  so  wer  ich  im  den 
aid,  vnd  zeuhe  im  di  hant  von  dem  aide,  vnd  wil  das  he- 
uerten mit  meinem  leibe  auf  seinen  leib  das  ich  recht  hab. 
so  sol  der  richter  von  in  baiden  porgschaft  nemen. 

Den  kämpf  sol  man  in  gepieten  ze  laisten  vber  sechs 
wochen. 

Sprichet  man  einen  man  kämpflichen  an  nach  mitem 
tage,  er  gewaigert  sein  wol. 

Sprichet  ein  man  den  andern  an  kämpflichen  der  wirs 
geporen  ist,  der  waigert  sein  wol. 

Sprichet  ein  hochgeborn  man  einen  kampflichen  an  der 
nyder  geborn  ist,  der49)  mag  im  nicht  gewaigern. 

Vnd  sprichet  einer  den  andern  an  ze  kämpfe,  vnd  sind 
si  also  nahen  mage ,  so  mag  ir  ietweder  mit  dem  andern 
kempfen50),  ob  di  mage  gereiten01)  mügen  das  si  zu  der 
fünften  sippe  ein52)  ander  sippe  sint.  des  müs  ir  vater 
mage  sibene  vnd  ir  müter  mage53)  zu  den  heiligen  sweren. 
ettwenne  was  es  zu  der  sibende  sippe.     nu  habent  di  bäbst 


48)  In  B  fehlt  doch. 

49)  In  A  und  C  ist  von  „waigert"  angefangen   bis   hieher  aus- 
gefallen. 

50)  B:  gekemppfen. 

51)  B:  mage  ein  ander  gereiten. 

52)  B:  sipp  czu  ein. 

53)  B:  ir  vater  mage  vnd  ir  muter  mage  siben. 


Rockingcr:  Handschriften  zum  Schwabenspicgel.  327 

weib  erlaubet  ze  nemen  an  der  fünften  sippe,  vnd  darumb 
hant  auch  die  kunig  gesezet  das  ain  ieglich  man  mit  dem 
andern  wol  kempfen  sül  der  im  sippe  sey  vber  di  fünften  sippe. 

Der  richter  sol  leihen  dem  den  man  schuldiget  auf  den 
man  dar54)  klaget  einen  schilt  vnd  ein  swert. 

So  man  da  hin  kompt  da  der  kämpf  da  ist,  so  sol  der 
richter  geben  zvven  poten  zu  in  baiden55)  di  das  sehen  das 
man  si  nach  rechter  gewonhait  an  gelege  vnd  in  gärbe  56). 

Leder  vnd  leinein  dingk  süllen  si  an  legen  als  vil  als 
si  wellent,  haubt  vnd  fusz57)  sullenn  in  blos  sein,  vnd  an 
den  hennden  sullen  si  dünne  hantschüch58)  haben  lidrein, 
vnd  in  der  hant  blos,  vnd  einen  schilt  da  nicht  dann  holtz 
an  sey.  ettwo  ist  gewonhait  das  si  an  schilte  vehten  mit 
pugkeleren  di  eisnein  sind,  si59)  süllen  roke  an  tragen  on 
ermel. 

Auch  sol  man  lewten60)  frid  gepieten  pey  dem  halsse, 
vnd  das  si  nyman  irre  an61)  ir  kämpfe. 

Ir  ietwederm  sol  der  richter  einen  man  geben  der  ein 
stauge  trage,  di  sol  der  vber  den  haben  der  da  geuellet. 
vnd  gibt  er,  so  ist  er  vbervvunden62).  mag  er  auf,  man  sol 
in  auf  lan.  weder63)  der  stange  mutet,  dem  sol  man  si 
vnderstossen.     das  sol  der  richter  erlauben. 

Einen  ringk  sol  man  in  machen,  der  sol  sein  zwainczig 
füsse  oder  fünf  vnd  zwainzig  weit,  weder63)  daraus  fleuht, 
der  ist  siglos. 


54)  A  und  C:  da. 

55)  B:  richter  czwen  boten  czu  yn  beyden  senden. 
5G)  B:  geverbe.     C:  gaerwe. 

57)  C:  füzze. 

58)  B:  sy  bloz  hantschue. 

59)  B:  vnd. 

60)  B:  man  den   lewten. 
Gl)  A :  dann. 

G2)  A:  ist  erwunden. 
63)  B:  welcher. 


328  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Di  swert  di  si  tragen  dt  sullen  ön  ortband 64)  sein. 

Vor  dem  richter  süllen  si  baide  engegenwert65)  sein, 
vnd  sol  der  ain  sweren  das  es  war  sey  das  er  auf  in  hat 
geklagt66),  so  sol  der  ander  des  sweren  das  er  vnschuldig 
sey,  vnd  das  in  got  also  helfe  zu  irem  kämpfe. 

Di  sunnen  sol  man  in  mit67)  tailen  geleiche  so  man 
si  des  ersten  an  einander  ze  sainen  lät68). 

Wirt  der  vber  wunden  auf  den  man  da  klagt,  man  sol 
vber  in  richten,  wirt  auch  der  siglos  der  auf  in  da  klagt, 
man  richtet  auch  vber  in. 

Vnd  wer  den  andern  an  sprichet  vmb  den  todslag, 
weder69)  da  siglos  wirt,  dem  geet  es  an  das  haupt.  vnd 
ist  es  vmb  ein  läme,  es  geet  im  an  die  hant. 

Vmb  ander  wunden  di  nicht  ze  uerch  geend  vnd  auch 
nicht  ze  läme  gendt,  da  sol  niman  vmb  vehten :  man  sol 
nicht  vmb  klain  wunden  kempfen. 

Jst  das  ein  man  di  notwer  bereden  wil,  der  sol  also 
bereden  mit  seinem  aide,  das  er  da  getan  habe  das  hab  er 
getan  in  rechter  notwer  seines  leibes.  vnd  hat  der  tod 
man  niman  der  im  den  aide  mit  kämpfe  were,  so  sol  der 
richter  den  man  behalten  sechs  wochen  vnd  einen  tag  der 
di  notwer  da  hat  berait.  kompt  in  der  weil  nimant  der 
in  an  spreche,  er  sol  ein  ledig  man  sein  vor  den  di  ienner 
landes  sind,  di  ausser  lanndes  sind,  den  müs  er  antwurten 
vber  zehen  iar.  da  sol  er  dem  richter  porgen  vmb  setzen 
vntz  an  das  selb  zil.  vnd  stirbet  der  richter,  oder  kumpt 
sust  ein  ander  richter  an  sein  stat,  dem  ist  er  der  borg- 
schaft auch  schuldig  als  ienem  vntz    auf   das  selb  zil.     vnd 


64)  B:  au  ortbant. 

65)  B:  in  gewer.     C:  in  gegenwürt. 

66)  C:  in  da  hat. 

67)  B:  mite. 

68)  B:  ein  ander  let. 
60)  B:  welcher. 


Eockinger:  Handschriften  zum  Schwabenspiegel.  329 

als  dew  zeben  iar  für  kömnient,  so  ist  er  ein  ledig  man  vor 
allen  lewten. 

Ein  yeglich  man  waigert  wol  das  er  nicht  kempfet  mit 
seinem  vndergenossen.  ein  ieglich  man  müs  kempfen  mit 
seinem  genos. 

[b] 

Es  ist  manig  man  rechtlos,  vnd  mag  doch  ein  weib  70) 
geneuien,  vnd  ekind  pey  ir  gewinnen,  si  müzzen  awer  ires 
vater  recht  haben,  si  sein  dann  eines  herren  aigen  oder 
eines  gotzhauszes. 

Dew  kind  di  nicht  elich  geporen  sind  di  erbeut  nicht 
ir  vater  noch71)  ir  müter  gutes  nocli  dehain  irs  mages 
gutes. 

7.  Auch  von  kempfen72). 
[a] 
Ein  freyew  frawe  mag  gewinnen  fünf  hau  de  kinde  der 
ie  ains  des  anderen  genos  nicht  enist,  eins  das  ir  genos  ist. 
also  ob  ir  man  ir  genos  ist.  si  inage  gewinnen  einen  unteren 
freyen,  ob  ir  mau  mitterfrey  ist.  si  mag  gewinnen  ein 
lantsässen  freyen,  ob  si  einen  lantsässen  freien  zu  ir  legt, 
si  mag  gewinnen  einen  dienstman,  ob  si  einen  diensteman 
nimpt73).     einen  aigen  man  dasselb. 

[b] 
Welich  semper   freye  74)    einen  seinen  genos  ze  kämpfe 


70)  B.  ein  eweyp. 

71)  B:  vnd. 

72)  Dieses  Kapitel  entspricht  den  Artikeln  71  d,  71  e,  71  f  des 
Deutschenspiegels  und  den  hiezu  stimmenden  Kapiteln  der  frei- 
burger  Handschrift,  deren  Text  die  Ausgabe  W  Kapitel  347,  348, 
349  bietet. 

73)  B :  dinstman  czu  ir  leget. 

74)  B:  freyer  herre. 


330  Sitzung  der  liistor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

an  sprichet,  der  mus  wissen  wer  sein  vier  anen  sind  ge- 
wesen, er  niüs  si  auch  nennen,  ob  ienner  wil  den  er  an- 
gesprochen hat.  vnd  nennet  er  ir75)  im  nicht,  er  gewaigert 
im  mit  recht  wol  das  er  mit  im  nicht  kempfet. 

Wer  den  ander  kempflichen  an  sprichet,  vnd  enget  er 
im  mit  rechte,  er  müs  im  das  ze  recht  büssen  das  er  in 
angesprochen  hat,  vnd  müs  auch  dem  richter  püssen. 

Ditz  entsprich  ich  nicht  vmb  denn  todslag.  wann  da 
gehört  nicht  wann  leib  wider76)  leib. 

M 

An  elich  dingk  mag  nieman  sein  aigen  verkauffen  das 
es  krafft  hab.  es  antwurt  auch  dehain  man  nieman  vmb 
sein  aigen  ob  man  in  b. klagt  e  in  vogtes  dinge,  ob  er  es 
in  der  gewer  hat.     ettwa  haisset  es  paudingk. 

Gibt  ein  man  sein  aigen  hin  wider  seiner  erben  willen 
vnd  ön  vogtes  dingk,  si  süllen  es  vor  dem  richter  in  seiner 
gewalt  han  versprochen77),  vnd  der  richter  sol  es  den 
erben  antwurten.  etwa  ertailt  man,  es  süll  der  richter  in 
seiner  gewalt  han.     das  stet  an  des  lanndes  gewonhait. 

8.  Der  einen  man  pey  seiner  konen78)  vindet79). 

Dise  vrtail  gehört  geistlich  gerichte  vnd  werltlich.es  ge- 
richte  an80). 

Vnd  ist  das  ein  man  den  andern81)  bey  seiner  konen82) 


75)  In  B  fehlt  ir. 

76)  B:  an. 

77)  B:  in  seiner  versprochen  haben. 

78)  C:  koenen. 

79)  B  fügt  noch  bei:  sag  das. 

80)  B  :  gericht  halt  an. 

81)  B:  man  einen  andern  man. 

82)  B:  ekonen  vindet  vnd. 


Eochnger:  Handschriften  zum  Schwabenspiegel.  331 

begreiffet  in  der  weise  das  in  sein  gut  gewissen  nicht  erlät 
er  müsse  im  des  gedengken  das  si  ir  ee  mit  im  geprochen 
hab,  vnd  pringet  in  sein  zoren  daran  das  er  si  baidew  ze 
tode  siecht,  er  sol  si  weder  got  noch  der  werlte  nicht 
püssen.  er  mag  gen  got  von  im  selber  wol  in  einer  piisse 
erscheinen,  das  ist  nicht  verloren,  wann  das  tut  ainer  der 
nie  mensch  ertotte.  jn  sol  awer  nieman  darzu  twingen  als 
vmb  ander  schulde,  noch83)  dehain  werblicher  richter  mag 
im  mit  recht  nimmermer 84)  pfenning  darumb  nemen85). 
weder  mannes  frewnd  noch  weibes  freunde  mügen  in  darumb 
nymmer  an  gesprechen  vor  kainem  gerichte. 

Mag  man  awer  vier  dinge  eins  auf  in  bewaren88),  so 
müs  er  si  got  vnd  der  werlt  püssen  als  ander  tod  slag. 

Der  ist  eins,  mag  man  bewären  auf  in  das  er  sein  ee 
auch  ze  prochen87)  hat  seid  er  di  selben  fraun  zu  der  ee 
nam  die  er  da  entleibett  hat,  so  müs  er  den  leib  verlorn 
han,  vnd  richtet  vber  in*  als  vmb  ander88)  todslag.  hat 
awer  er  sein  ee89)  haimlich  zeprochen  als  hieuor  gesprochen 
ist,  das  man  jn  sein  nicht  vberzeugen  mag,  so  mus  er  si 
doch  dem  almächtigen  got  püssen  zu  allem  rechten,  wann 
er  ist  an  irem  tode  schuldig. 

Das  ander  ist,  ob  si  in  des  geindert  hat  mit  warten 
oder  mit  gepärden  das  si  geren  hette  gesehen  das  er  pey 
ir  gelegen  wäre,  vnd  er  das  wol  weist  vnd  sein  wol  innen 
wirt  das  si  es  es  geren  sähe ,  vnd  er  sein  nicht  tun  wil. 
vindet  er  si  darnach    pey  einem   manne,    er  sol  ir  an  dem 


83)  In  B  fehlt  noch. 

84)  In  C  fehlt  mer;  in  A  scheint  es  durchstrichen. 

85)  B:   mag   ym    auch   nymmer   mit   rechte   pfening   dar    vmb 
genemen. 

86)  B:  bewern. 

87)  B:  auch  gebrochen.    C:  auch  zerprochen. 

88)  B:  vmb  einen  andern. 

89)  B:  er  sy. 


332  Sitzung  der  Mstor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

leib  nicht  tun.  nimpt  er  ir  den  leib  darüber,  er  sol  si  got 
vnd  der  werlte  püssen.  er  ist  vor  got  schuldig ,  awer  vor 
den  levvten  nicht,     wann  es  ways  nieman  wann  er  vnd  got. 

Das  drite  ist,  ob  ein  man  aus  dem  lande  varen  wil 
vnd  dew  frawe  sprichet:  vil  lieber  wirt,  wenne  körnest  du 
her  wider  haim?  oder  ob  er  ir  vngefragt  ein  zil  gibt,  so 
das  er  sprichet:  ich  kumm  vber  sechs  wochen.  oder  vber 
achtag90),  oder  vber  zwelif,  oder  welichs  zil  er  ir  benennet 
langk  oder  kurtz,  das  er  ir  gehaisset  er  komm  her  wider 
haim  jnnen  des  selben  zils ,  vnd  ist  er  einigen91)  ganczen 
tag  vber  dasselbe  zil  das  er  ir  gehies  do  er  aus  für,  vnd 
kompt  er  darnach  vnd  vindet  einen  man  bey  ir,  er  sol  ir 
nichtes  nicht  tun  an  dem  leibe,  vnd  ist  das  er  ir  den  tod 
tut  darüber,  vnd  haut  ir  freunde  des  gezeugen  siben  man 
das  er  ir  das  zil  gab  ze  komen,  sy  gewinnent  im  den  leib 
an.  möchte  awer  er  das  selb  sibende  erzeugen  das  si  vor 
dem  zil  ir  e  geprochen  hette  dicweil  er  vnder  wegen  was, 
er  ist  ein  ledig  man.  hat  awer  si  ir  ee  behalten  vntz  nach 
dem  zil  als  hieuor  gesprochen  ist,  vnd  tut  er  ir  den  tod, 
er  ist  got  schuldig  an  irem  tode. 

Das  vierde  ist.  ob  ein  herre  mit  gewalte  zu  einer 
fraun  sprichet  oder  ir  es  empeutet  das  si  in  zu  ir  lege  oder 
er  verderbe  si  vnd  iren  wirt  an  leib  vnd  an  gut,  ob  er  vber 
si  gewaltig  ist,  vnd  sagt  das  di  fraue  dem  92)  wirte  ee  das 
ir  der  herre  pey93)  gelige,  vnd  vindet  er  si  darnach  bey 
dem  selben  herren,  er  sol  ir  awer  nicht  tun,  oder  er  wirt 
schuldig  an  ir  vor  got.  oder  ob  ein  man  so  bösse  an 
seinem  mute    ist  das   sein  e  kon  gut  darumbe  nymmet  mit 


90)  B:  echte.     C:  ächte. 

91)  B:  einen. 

92)  B:  irm. 

93)  B:  e  das  der  herre  bey  ir. 


Bockinger:  Handschriften  zum  Schivabcnspiegel.  333 

seinem  willen,  dew  sol  gar  pillichen  sicher  sein  vor  allem 
vbel,  vnd  hallt  der  man  darzü    der  ir  das  gut  da  gibt. 

Vnd  ist  der  man  dirre  vier  dinge  vnschuldig,  so  püsset 
er  nieman94)  ze  recht. 

Geschiecht  es  auch  ettwenn  vber  einer95)  fraun  willen 
das  si  ein  man  notzogt,  der  sol  ir  wirt  auch  an  irem  leibe 
nicht  tun.  der  man  wäre  im  zehen  tode  schuldig  wo  er  in 
begreiffen  möchte. 

9.     Ob  zwen  man  vmb  ein  sache  klagent. 

Vnd  ist  das  ein  man  vor  gerichte  gelobt  ein  gewiszhait 
vmb  ein  sache,  vnd  komt  ein  ander  vnd  klagt  dem  richter 
auch  vber  den  selben  man  vmb  di  selben  sache  da  er  di 
gewiszhait  vmb  gelobt  hat,  er  sol  im  nicht  antwurten  e  das 
er  ienem  empristet96)  der  in  da  des  ersten  ansprach,  oder 
wirt  er  schuldig,  er  püsset  awer  niewan97)  dem  einem  der 
in  bey  dem  ersten  an  sprach. 

Vnd  enbristet96)  der98)  im,  vnd  ist  dew  sache  dann 
ienes  der  in  da  anderstund  angesprochen  hat,  er  sol  im 
antwurten. 

Vnd  ist  dew  schulde  halbe  sein ,  er  sol  sich  an  ienen 
haben  der  da  behabt  hat. 

10.     Wie  man  pfenning  slahen  sol. 

Ditze  ist  von  valschen  münzzen.  es  stet  noch  mer  an 
disem  puche  von  valschen  münssen. 

Ditz  püch")  hat  der  heilige  vnd  der  sälige  kaiser 
Karlt  geseczet  vber  die  di  valsch  pfenning  slahent. 


94)  B:  nicht. 

95)  B:  der. 

96)  B:  enbrichet. 

97)  C:  er. 

98)  B:  nicht  wann. 

99)  B:  recht. 

[1867.  II.  2.]  22 


334  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  6.  Juli  1867. 

Welicher  munsser  valsch  pfenning  siecht,  dem  sol  man 
di  hant  absiahen. 

Wir  haissen  das  valsch  pfenning  di  in  dem  recht  nicht 
stendt  als  si  gesezet  sind,  si  sullen  also  weis  sein  das  von 
der  markch  nicht  enge  wann  ein  setin.  die  pfenning  süllen 
pfundig  sein,  nu  machent  si  di  herren  ettwo  ringer.  wie 
si  di  herren  haissen  machen  ringer  oder  swärer,  also  süllen 
si  di  munzer  machen,  vnd  dehain  herre  hat  des  nicht  ge- 
walt  ze  rechte,  das  er  die  pfennig  an  der  weise  icht  anders 
machen  süll  wann  das  ein  setin  von  der  marchk  gee  so 
man  si  ze  silber  prennet.  vnd  sind  di  pfenning  icht  10°) 
anders,  so  sind  si  valsch. 

Weliche  herren  si  haissen  anders  slahen  wann  als  hie 
geschriben  stet,  so  hat  er  des  riches  huld  verlorn. 

Vnd  ist  er  ein  pfaffen  fürste,  so  sol  es  der  römisch 
könig  dem  pabst  haissen  klagen,  der  sol  im  sein  recht  tun. 
nu  was  ist  sein  recht?  da  sol  in  der  pabst  degradiren. 
das  ist  also  gesprochen:  er  sol  im  all  sein  pfafflich  ere 
nemmen.  vnd  sol  darnach  der  römisch  künig  vber  in  richten 
als  vber  einen  välscher.  dem  gerichte  ist  also:  er  sol  im 
das  haubt  absiahen. 

Vnd  ist  er  ein  laie  der  di  münsse  also  geuelschet  hat, 
dem  sol  man  auch  das  haubt  absiahen. 

Man  sol  di  herre  dirre  sache  vberzeugen  nicht  anders 
wann101)  mit  den  pfenningen.  der  pfenninge  so  sol  man 
ein  mark  nemen,  vnd  sol  di102)  sezen  in  einen  tegel  in  ein 
glüt.  vnd  süllen  im  das  tun  vor  seinen  äugen  das  er  es 
gelauben  müsse  vnd  sein  nicht  gelaugen  möge,  vnd  sol 
man  di  pfenning  prennen.  vnd  hant  si  ir  recht  nicht,  das 
mer  dann  ein  setin  von  der  markt  get,  so  sind  si  schuldig. 

Vnd  welich  münsser  si  siecht,    dem    sol  man  die  hant 


100)  B:  ichtes  icht.    C:  ichte  iht. 

101)  B:  nicht  wann. 

102)  B:  sy. 


Bockinger:  Handschriften  zum  Schwabenspiegel.  335 

absiahen,  oder  welicher  Wechsler  oder  hausgenos  si  mit 
wissen  hin  wechselt,  der  hat  awer  die  haut  verloren. 

Vnd  wer  auch  einen  gäben  pfenning  verwirffet  der  sein 
recht  hat  vnd  als  gut  ist  als  ich  iezo  gesprochen  han ,  der 
ist  dem  gerichte103)  schuldig  vierzig  Schillinge104),  diselben 
pfenning  süllen  dem  richter  halb  werden,  vnd  ienem  halbe 
des  dew  münsze  da  ist.  das  ist  recht,  wann  wer  einen 
guten  pfenning  velschet  und  verwürffet,  der  hat  den  münser 
gefelschet.  seit  nu  der  münsser  so  hohe  püssen  müs  ob 
er  einen  valschen  pfenning  siecht,  so  wil  auch  er  das  man 
im  püsse  der  in  einen  velscher  haisset  vnd  er  des  vnschuldig 
ist.  ye  doch  geschiecht  es  einem  ainualtigen  menschen  das  ,05) 
nicht  pessers  wais  noch  kan,  da  hört  genade  vber. 

Welich  genmlde  ein  herre  an  sein  pfenninge  sezet,  vnd 
sezet  ein  ander  herre  dasselb  gemeide  an  sein  pfenninge,  di 
pfenninge  sind  valsch,  vnd  ist  der  herre  ein  välscher.  vnd 
sol  man  vber  in  richten  als  vber  ein  välscher. 

Vnd  ist  das  iener  nicht  pfenninge  hat  der  den  pfenning 
da  verwürffet ,  so  sol  man  vber  in  richten  ze  haut  vnd  ze 
har  bey  dem  höchsten,  das  sind  vierzig  siege  sol  man  im 
slahen106)  oder  an  einen  vierzig. 

11.     Ob  zway  dorffer  kriegent. 

Ob  zwai  dorffer  kriegent  vmb  ein  marche ,  das  nächst 
dorf  das  da  bey  ligt  das  sol  sy  beschayden  mit  getzeugen. 
das  süllen  sein  di  eltisten  vnd  di  besten,  weders  dorf  der 
getzeugen  mer  hat,  das  behabt  sein  marche. 

Mag  man  der  nicht  gehaben  di  also  alt  sind  das  si 
darumb  nicht  enwissen,  so  sol  man  dise  marche  beschaiden 
als  das  lantrecht  püch  sagt. 


103)  B:  richter. 

104)  B:  eschillinge. 

105)  B:  einveltigen  man  der. 

10G)  B  schliesst  schon  hier  das  Kapitel. 

22* 


336  Sitzung  der  histor.  QlassG  vom  6.  Juli  1867. 

Herr  Riehl  hielt  einen  Vortrag: 

„Ueber  Sebastian  Bach    und    dessen  Stellung 
zu  den  theologischen  Parteien  seiner  Zeit". 


Herr  Kluckhohn  trug  vor: 

„Die  Wittenberger  Theologen    nach  Melanch- 
thon's  Tode". 


Herr  C.  Hof  mann: 
Berichtigender  Nachtrag  zu  S.  171  dieses  Bandes 
der  Sitzungsberichte. 

Durch  die  Güte  des  Hrn.  ßibliotheksekretärs  Au  in  er 
bin  ich  jetzt  in  den  Stand  gesetzt,  befriedigenden  Aufschluss 
über  den  Verfasser  des  arabischen  Zauberbuchs  zu  geben. 
Er  theilte  mir  auf  mein  Ersuchen  Folgendes  mit:  „Der 
arabische  Verfasser  des  besprochenen  Zauberbuches  dürfte 
wohl  der  von  Hadji  Kh.  an  vielen  Stellen  erwähnte ,  von 
Wüstenfeld  in  seiner  Geschichte  der  arabischen  Aerzte  p.  60 
und  120  besprochene  bekannte  Arzt  Abu  Dscha'far  Ahmed 
b.  Ibrahim  Ibn-ul-Dsehezzär  (Dschezzär  hat  nämlich  dieselbe 
Bedeutung  wie  Qac^äb)  sein.  Im  Verzeichnisse  seiner 
Schriften  a.  a.  0.  ist  auch  ein  „Liber  experimentorum" 
und  weiters  „Experimenta  medica"  angeführt." 


Ocffentlkhe  Sitzung  vom  25.  Juli  1867.  337 


Oeffentliche  Sitzung  der  k.  Akademie  der  Wissen- 
schaften 

zur  Vorfeier  des  Allerhöchsten  Geburts-   und 

Namensfestes  Sr.  Majestät  des  Königs  Ludwig  II. 

am  25.  Juli  1867. 


Nach  den  einleitenden  Worten  des  Vorstandes  der 
k.  Akademie  der  Wissenschaften,  Herrn  Geh.-Rathes  Baron 
v.  Liebig  wurden  folgende  Wahlen  verkündet: 

A.     Als  Ehrenmitglied: 

Seine  Kaiserliche  Hoheit  Herr  Herzog  Nicolaus  von 
Leuchteubcrg,  Präsident  der  mineralogischen  Gesellschaft  in 
St.  Petersburg. 

B.     Als  auswärtige  Mitglieder: 
a.     Der  philosophisch-philologischen  Classe: 

1)  Dr.  Eduard  von  Kausler,  Vicedirector  des  k.  Württemberg. 
Haus-  und  Staats-Archives  in  Stuttgart. 


338  Oeffentliche  Sitzung  vom  25.  Juli  1867. 

2)  Cavaliere  Giovanni  Battista  de  Rossi  in  Rom. 

3)  Wilhelm  Henzen  aus  Bremen,  Professor  in  Rom. 

4)  Charles  Newton,  Archäolog  in  London. 

b.     Der  mathematisch-physikalischen  Classe: 

1)  Carlo  Matteucci,  Professor  der  Chemie  in  Florenz. 

2)  Arcangelo  Scacchi,    Professor  der  Mineralogie  in  Neapel. 

c.     Der  historischen  Classe: 

1)  Marchese  Gino  Capponi  in  Florenz. 

2)  Franz  August  Mignet,  Sekretär  der  Akademie  der  Wissen- 
schaften in  Paris. 

3)  Dr.  Wilhelm  Röscher,  Professor  in  Leipzig. 

4)  Alexandre  Herculano  de  Carvalho  in  Lissabon. 

C.     Als  correspondirende  Mitglieder: 
a.     Der  mathematisch-physikalischen  Classe: 

1)  Don  Ramon  Torres  Munoz  de  Luna,  Professor  der  Chemie 
an  der  Central-Universität  in  Madrid. 

2)  Pater  Angelo  Secchi  in  Rom,    Vorstand    der  Sternwarte 
des  Collegium  Romanum. 

3)  Henri  Hureau  de  Senarmont,    Professor  der  Mineralogie 
an  der  ecole  des  mines  in  Paris. 

4)  Friedr.   Ant.    Wilh.    Miquel,    Professor    der   Botanik    in 
Utrecht. 

5)  Filippo  Pariatore,  Professor  der  Botanik  in  Florenz. 


Neuwahlen.  339 

b.     Der  historischen  Classe: 

1)  De  Leva,  Professor  in  Padua. 

2)  Dr.  Georg  Voigt,    Professor  der  Geschichte  an  der  Uni- 
versität zu  Leipzig. 

3)  Dr.  Ottokar  Lorenz,    Professor   der  Geschichte    an    der 
Universität  zu  Wien. 

4)  Dr.  Max  Büdinger,  Professor  der  Geschichte  an  der  Uni- 
versität zu  Zürich. 


Hierauf  hielt   Herr   Brunn,    ordentliches  Mitglied   der 
philosoph. -philologischen  Classe,  einen  Vortrag  über 

„die    sogenannte    Leucothea    der    Glyptothek 
Sr.  Majestät  des  Königs  Ludwigs  I.". 

Diese  Rede  ist  im  Verlage  der  Akademie  erschienen. 


340  Einsendungen  von  Druckschriften. 


Einsendungen  von  Druckschriften. 


Von  der  Universität  in  Kiel: 
Schriften  der  Universität  aus  dem  Jahre  1866.  Band  13.  1867.    4. 

Von  der  Jcaiserl.  Leopoldino-Carol mischen  deutschen  Akademie  der 
Naturforscher  in  Dresden: 

Verhandlungen.     32.  Band.     2.  Abtheilung.  1867.     4. 

Vom  Hennebergischen  alterihumsforschenden  Verein  in  Meiningen: 

Neue  Beiträge  zur  Geschichte  deutschen  Alterthums.    3.  Lieferung. 
1867.     8. 

Vom  Gewerbe- Verein,  naturforschenden  Gesellschaft  und   bienemvirth' 
schaftlichen  Vereine  in  Altenburg: 

Mittheilungen  aua  dem  Osterlande.  18.  Bd.  1.  und  2.  Heft   1867.    8. 

Von  der  pfälzischen  Gesellschaft  für  Pharmacie  in  Speyer: 

Neues  Jahrbuch  für  Pharmacie  und   verwandte  Fächer.    Zeitschrift. 
Bd.  28.   Heft.  1.  2.    Juli  und  August.    1867.     8. 

Von  der  deutschen  morgenländischen  Gesellschaft  in  Leipzig: 

a)  Zeitschrift.     21.  Bd.    1.  und  2.  Heft.  1867.     8. 

b)  Indische  Studien.    Beiträge   für   die  Kunde   des  indischen  Alter- 

thums. 10.  Bd.  1.  Heft.  1867.    8. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  o41 

Von  der  deutschen  geologischen  Gesellschaft  in  Berlin: 
Zeitschrift.     19.  Band.   1.  Heft.    Novbr.  Dezbr.  1866.   Jan.    1867.    8. 

Vom   Verein  für  siebenbürgische  Landeskunde  in  Hermannstadt: 

a)  Archiv.    Neue  Folge.    6.  Band  3.  Heft.    7.  Band  1.  und  2.  Heft. 

1866.     8. 

b)  Jahresbericht.    Vereinsjahr  1864.  65    und  1865.  66.  8. 

c)  Siebenbürgisch- sächsische    Volkslieder,     Sprichwörter,     Räthscl, 

Zauberformeln  und  Kinderdichtungen.  Von  Friedr.  W.  Schuster. 

1865.  8. 

d)  Siebenbürgische  Chronik   des  Schässburger  Stadtschreibers  Georg 

Kraus.     II.  Theil.  Wien.  1864.     8. 

e)  Die  Römischen  Inschriften  in  Dacien.     Von   Michael  Ackner    und 

Friedrich  Müller.  1865.     8 

f)  Flora  transsilvaniae    excursoria.     Auetore  Michaele   Fuss.   Cibinii. 

1866.  8. 

g)  Plan  zu  den  Vorarbeiten   für    ein    Idiotikon    der  siebenbürgisch- 

sächsischen  Volkssprache.    Kronstadt  1865.     8. 

Vom  physikalischen   Verein  in  Frankfurt  a.  M. : 
Jahresbericht  für  das  Rechnungsjahr  1865.  66.     8. 

Von  der  geologischen  Eeichsanstall  in  Wien: 
Jahrbuch.     Jahrg.  1867.  17.  Bd.  Nr.  2.  April,  Mai,  Juni.  1867.     8. 

Von  der  k.  preussischen  Akademie  der  Wissenschaften  in  Berlin: 
Monatsbericht.     Mai    Juni  1867.     8. 

Von  der  Universität  in  Heidelberg : 

Heidelberger  Jahrbücher  der  Literatur.  Unter  Mitwirkung  der  vier 
Fakultäten.  60.  Jahrgang.  4.  5.  6.  und  7.  Heft.  April — Juli. 
1867.     8. 


342  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Vom   Verein  für  Geschichte  und  Alterthumslcunde  Westphälens  in 

Münster : 

a)  Zeitschrift   für   vaterländische   Geschichte  und  Alterthumskunde 

3.  Folge.     5.  und  6.  Bd.  1865.     8. 

b)  Beiträge  zur  Geschichte  Westfalens.  Paderborn.  1866.    4. 

Von  der  Bedaktion  des  Correspondenzblattes  für  die  gelehrten  und 
Eeälschulen  Württembergs  in  Stuttgart: 

Correspondenzblatt  Nr.  5.  6.  7.  8.     1867.    8. 

Von  der  naturforschenden  Gesellschaft  in  Emden: 
52.  Jahresbericht.  1866.  1867.    8. 

Vom  Museum  Franzisco  Carolinum  in  Linz: 
Urkundenbuch  des  Landes  ob  der  Ens.  4.  Bd.  Wien  1867.     8. 

Von  der  Gesellschaft  der  Aerzte  in  Wien: 
Medizinische  Jahrbücher.  14.  Bd.  23.  Jahrg   4.  Heft  1867.    8. 

Von  der  physikalisch-medizinischen  Gesellschaft  in  Würzburg: 
Würzburger  medizinische  Zeitschrift.    7.  Bd.  4.  Hft.  1867.    8. 

Vom  k.  sächsischen  Verein  für  Erforschung  und  Erhaltung  vater- 
ländischer Geschichts-  und  Kunstdenkmale  in  Dresden: 

Mittheilungen.     17.  Heft.  1867.    8. 

Vom  Verein  für  Geschichte  der  Mark  Brandenburg  in  Berlin: 
Märkische  Forschungen.     10.  Bd.  1867.    8. 

Vom  thüringisch-sächsischen  Verein  für  Erforschung  des  vaterländi- 
schen Alterthums  und  Erhaltung  seiner  Denkmäler  in  Halle: 

Neue  Mittheilungen  aus  dem  Gebiete  historisch-antiquarischer  Forsch- 
ungen. 11.  Bd.  1.  2     1865.  67. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  343 

Von    der  Pollichia,    natunvissenschaftlicher  Verein  der  Bheinyfalz  in 

Dürkheim : 

a)  22.-24.  Jahresbericht.  1866.     8. 

b)  Verzeichniss     der    in    der  Bibliothek    der  Pollichia    enthaltenen 

Bücher.  1866.     8. 

Vom  Mährischen  Landes- Ausschuss  in  Brunn: 
Urkundenbuch  der  Familie  Teufenbach.  1867.     4. 

Vom   Voigtländischen-alterthumsforschcnden   Verein  in  Hohenleuben : 
37.  Jahresbericht.     Weita  1867.     8. 

Vom  historischen  Verein  für  Niedersachsen  in  Hannover: 

a)  Zeitschrift.     Jahrgang  1866.  1867.     8. 

b)  Urkundenbuch.     Heft.  7.  1867.     8. 

c)  Katalog  der  Bibliothek  des  historischen  Vereins  für  Niedersachsen. 

1866.     8.  . 

Von  der  landioirthschaftlichen  Centralschule  in  Weihenstephan: 
Jahresbericht  14.  pro  1865.66.     15.  pro  1866.67.    Freising  1867.     8. 

Von  der  k.  physikalisch- ökonomischen  Gesellschaft  in  Königsberg: 

Schriften.     6.  Jahrg.  1865.  2.  Abthlg. 

7.  Jahrg.  1866    1.  und  2.  Abtheilung.  1865.  66.     4. 

Von  der  k.  k.  mährisch-schlesischen  Gesellschaft   zur  Beförderung  des 
Ackerbaues,  der  Natur-  und  Landeskunde  in  Brunn: 

a)  Schriften  der  histor.-statistischen  Sektion.     15.  Bd.  1866.     8. 

b)  Zur  Geschichte  des  Bergbaues  und  Hüttenwesens   in   Mähren  und 

Oesterr.  Schlesien.     Von  Bitter  Delvert.  1866.     8. 

Von  der  schlesischen  Gesellschaft  für  vaterländische  Kultur  in  Breslau: 
44.  Jahresbericht  vom  Jahre  1866.  1867.     8. 


344  Einsendungen  von  Druckschriften. 


Vom  historischen  Verein  für  Steiermark  in  Grata: 

a)  Mittheilungen.     15.  Heft.  1867.    8. 

b)  Beiträge  zur  Kunde  steiermärkischer  Geschichtsquellen.  4.  Jahrg. 

1867.    8. 


Von  der  Academie  des  sciences  in  Paris: 

a)  Comptes  rendus  hebdomadaires  des  seances. 

Tom  64.  Nr.  20—25.  Mai  Juin  1867. 

Tom  65.  Nr.  1—5  Jaulet  1867.    Vol.  65  Nr.  8.  9.  1867.     4. 

b)  Tables  des  comptes  rendus  des  seances.  Deuxieme  Semestre  1866. 

Tom  63.  1867.     4. 

Von  der  geologischen  Commission  der  schiveizerischen  naturforschenden 
Gesellschaft  in  Bern: 

Beiträge  zur  geologischen  Karte  der  Schweiz. 

3.  Lieferung.     Die  südöstlichen  Gebirge  von  Graubünden. 

4.  Lieferung.     Geologische  Beschreibung  des  Aargauer-Jura  und 
der  nördlichen  Gebiete  des  Cänton  Zürich.     Von  C.  Moesch. 

5.  Lieferung.    Textband.    Tafeln   und  Karte   zur  5.   Lieferung. 
1866. 67.     4. 

Vom  Istituto  technico  in  Palermo: 

Giornale  di  scienze  naturali  economiche. 

Vol.  2.  Anno  1866.  Fase.  2.  3.  und  4.  1866.    4. 

Von  der  Accademia  delle  science  in  Turin: 

a)  Memorie.     Serie  seconda.  Tom.  22.  1865.     4. 

b)  Atti.     Vol.  1.  Disp.  3—7  gennaio  e  giugno  1866. 

„     2.     „      1.  2.  3.   novbre  e   decembre  1866.    gennaio, 
febraio  1867.    8. 

Von  der  Societe  imperiale  des  naturalistes  in  Moscau: 

Bulletin.    Annee  1865.  Nr.  2.  3.  4. 
„      1866.  Nr.  1.    8. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  345 

Von  der  Academie  imperiale  des  sciences  in  St.  Petersburg: 

a)  Memoires.     Tome  10.  Nr.  3—15.     1866.     4. 

b)  Bulletin.    Tom  10.  Nr.  1—4. 

„     11.  Nr.  1  und  2.     1866.    4. 

c)  Melanges  physiques   et   chimiques.    Bulletin.   Tom.   6.     1865.    8. 

Von  der  Accademia  pontificia  de1  nnovi  lincei  in  Moni: 

A.tti.    Anno  19.    Sessione  I.  Decbr.  1865. 

„      19.  „       1.— 7.  Gennaio— Giugno  1866.    4. 

Von  der  Sternwarte  in  Bern: 
Meteorologische  Beobachtungen.    Septbr.   Oktober.  Novbr.  1866.    4. 

Von  der  naturforschenden  Gesellschaft  in  Zürich: 

Vierteljahrsschrift.    9.  Jahrg.  1.— 4.  Heft.  1864. 

10.  „        1.— 4.     „      1865. 

11.  „        1.-5.     „       1866.     8. 

Von  der  Academie  royale  de  medecine  de  Belgique  in  Brüssel: 
Bulletin.    Annee  1867.  3.  Serie.  Tom.  1.  Nr.  3.  4.  5.  6.  1867.    8. 

Von  der  Academie  royale  des  sciences  des  lettres  et  des  beaux-arts  de 
Belgique  in  Brüssel: 

Bulletin.    36.  annee.  2.  Serie.  Tom.  24. 

Von  der  historischen  Gesellschaft  in  Basel: 

Die  Schlange  im  Mythus  und  Cultus  der  classischen  Völker.  Von 
J.  Maehly.  Der  naturforschenden  Gesellschaft  von  Basel  zur 
Feier  ihres  50jährigen  Bestehens.     1867.    8. 

Von  der  antiquarischen  Gesellschaft  in  Basel: 

Ueber  die  Minerven  Statuen  von  Dr.  Bernvalli.  Der  naturforschen- 
den Gesellschaft  von  Basel  zur  Feier  ihres  50jährigen  Bestehens. 
1867.    8. 


346  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Von  der  antiquarischen  Gesellschaft  für  vaterländische  Älterthümer  in 

Zürich : 

a)  Mitteilungen,     Bd.  15.  Heft  7.  Pfahlbauten.  6.  Bericht.  1866.     4. 

b)  „  31.  Aventicum  Helvetiorum.  1867.     4. 

Vom  historischen  Verein  des  Gantons  Bern: 
Archiv.     6.  Bd.  1.  2.  3.  Heft.  1867.     8. 

Von  der  Asiatic  Society  of  Bengal  in  Calcutta: 

a)  Proceedings.     Title,  index  and  appendix  for  1865. 

Nr.  4—12.  May— Dec.  1866. 
Nr.  1.     January  1867.     1866.     8. 

b)  Bibliotheca  Indica  a  collection  of  oriental  works. 

Nr.  216.    217.    New  Series.     Nr.  88.    93.    96.   97.   98.     1866.     8. 

Von  der  geological  Survey  of  India  in  Calcutta: 

a)  Memoirs.     Palaeontologia  Indica.    3.  10 — 13.     The  fossil  Cephalo- 

poda  of  the   cretaceous  Roks  of  Southern   India.  1866.     4. 

b)  Memoirs.     Vol.  5.  p.  2.     Wynne.     On  the  Geology    of   the  Island 

of  Bombay.  1866.     8. 

c)  Memoirs.    Vol.  5.  p.  3.  Hughnes.   T    W.  H.     On   the  structure  of 

the  Jherria  Coal-Field.    Stoliczka,  Ferd.  Geological  observations 
in  Western  Tibet.    1866.     8. 

d)  Annual  Report.     Tenth  year  1865.  66.     8. 

e)  Catalogue  of  the  meteorites.     In   the    museum    of   the  geological 

survey  of  India.     1866.     8. 

f)  Catalogue  of  the  organic  remains  belonging   to    the  Cephalopoda. 

1866.     8. 

Von  der  Societe  royalc  des  sciences  in  Lüttich: 
Memoires.  2.  Serie.     Tom  1.    1866.    8. 

Von  der  Societe  d'  Anthropologie  in  Paris: 

Bulletins.     Tom  1.     2.  Serie;  5me   Fascicule.  Juillet— Decembre   1866. 
Tom  II.  2.  Serie.  1  Fascicule.  Jan.— Mars  1867.     8. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  347 

Von  der  Chemical  Society  in  London : 

Journal.    Ser.  2.  Vol.  4.  Octbr.— Decbr.  1866. 

„     2.     „      5.     January— June  1867.     8. 

Von  der  Royal  Geographical  Society  in  London: 
Proceedings.    Vol.  11.    Nr.  2.  1867.    8. 

Von  der  Geological  Society  in  London: 
Quarterly  Journal.    Vol.  23.  Part.  2.  Nr.  90.  Mai  1867.  1.    8. 

Von   der  Societe   Vaudoise  des  sciences  naturelles  in  Lausanne: 
Bulletin.    Vol.  9.  Nr.  56.  57.  Decembre  1866.  Juin  1867.    8. 

Von  der  dänischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Kopenhagen: 

Forbandlinger  og  dets  Medlemmers  Arbeider  i  Aaret  1865.  Nr.  4 

„      „      1866.  Nr.  2—6 
1867.  Nr.  1—3 


]>  )) 


Von  der  Provinciaal  Utrechtsche  Genootschap  van  Künsten  an  Weten- 
schappen  in  Utrecht: 

a)  Aanteekeningen  van  bet  verbandelde  in  de  Sectie-  vergaderingen, 

gehouden  in  bet  jaar  1866.     8. 

b)  Verslag  van   bet  verbandelde   in   de  algemeene  Vergadering  ge- 

bouden  den  17.  Oktober  1866.     8. 

c)  De  wettelijke  Bewijsleer  in  Strafzaken   door  Mr.  W.  Modderman. 

1867.     8. 


Vom  Surgeon  General' s  Office  in  Washington: 

Reports  of  Rvt.  Brig.  Gen.  D.  C.  Mc.  Callum   and  tbe  provost  mar« 
sbal  Generals.    Part.  1.  2.  1866.    8. 


Von  der  Universität  in  Leyden: 
Annales  Academici  1862.63.  Lugduni-Batavorum  1866.     4. 


348  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Von  der  Societe  HoUandaise  des  sciences  in  Hartem: 

a)  Archives  Neelandaises  des  sciences  exactes  et  naturelles. 

Tom  1  und  1  5me  livraison. 
„     2     „     1  und  2.  livraison.     1866.  67.     8. 

b)  Natuurkundige  Verhandeln! gen.     20.  22.  .24.  Deel.     4. 

c)  Beiträge  zur  Kenntniss  der  Feldspathbildung  von  C.  F.  Weiss.  Ge- 

krönte Preisschrift.     1866.     4. 

d)  Untersuchungen   über  die  Form   des  Beckens  javanischer  Frauen 

von  Dr.  T.  Zaaijer.  1866.    4. 

e)  Die   Basaltbildung   in   ihren    einzelnen  Verbänden    erläutert   von 

L.  Dressel.  Preisschrift.  1866.    4. 

Von  der  R.  Accademia  economico-agraria  de'  Georgoßi  in  Florenz: 

a)  Continuazione.     Nuova  Serie  Vol.  13.  Disp.  3  und  4.  1866. 

•  „  „        „     14.       „      1.  1867.  Nr.  47—49.  8. 

b)  Parte  istorica  1867.    Dispensa  1.  2.    1867.     8. 

Vom  Verein  für  Geschichte  und  Älterthümer  in  Odessa: 

Sapiski  Odesskago    obschtscheetwa.     Denkwürdigkeiten    des  Vereins. 
•       Bd.  6.     1867.     4. 

Von  der  Societe  de  Physique  et  d'histoire  naturelle  in  Genf: 
Memoires.    Vol.  19  p.  1.  1867.    4. 

Von  der  Societe  d'histoire  de  la  Suisse  Eomande  in  Lausanne: 
Memoires.    Vol.  22.     1867.    8. 

Vom  Lyceum  of  Natural  History  in  New-YorJc: 
Annais.    Vol.  8.  Nr.  11.  12.  13.  14.  1867.    8. 

Von  der  California  Academy   of  Natural  Sciences  in  San  Francisco : 
Proceedings.     Vol.  3.  p.  2.  3.     1864—66.     8. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  349 

Von  der  Historical  Society  of  Pennsylvania  in  New- York: 

Thirty  eight  annual  report  of  the  Inspectors    of  the  State  Peniten- 
tiary.  18G7.     8. 

Vom  Office  of  the  American  Ephemer is  and  Nantical  Almanac  in 
Washington : 

Schubert.     Tables  of  Eunomia.     186G.     4. 

Vom  Bureau  of  Navigation  in  Washington: 

The  American  Ephemeris  and  Nautical  Almanac   for  the  year  1868. 
1866.     4. 

Von  der  American  Academy  of  Arts  and  Sciences  in  Boston: 
Proceedings.     Vol.  7.  Bogen  13—23.  1866.     8. 

Von  der  Academy  of  Natural  Sciences  of  Philadelphia: 

a)  Proceedings.     Nr.  1—5.  Jan.— Decbr.  1866.  1867.     8. 

b)  Journal.     New  Series.  Vol.  6  p.  1.  1866.     4. 

Vom  Obscrvatory  of  Harvard  College  in  Cambridge: 
Annais.     Vol.  2.  p.  2.  1854—1855.  1867.    4. 

Von  der  National  Academy  of  Sciences  in  Washington: 
Memoirs.     Vol.  I.  1866.     4. 

Vom  Ohio  State  Board  of  Agriculture  in  Columbus  Ohio: 
20.  Jahresbericht  für  das  Jahr  1865.     1866.     8. 

Vom  Essex  Institut  in  Salem,  Massach.: 

Proceedings.    Vol.  4.  Nr.  1 — 8.  Jan.-Decbr.  1866. 
„     5.  Nr.   1.  2.  1865—66.     8. 
[1867.  II  2.]  23 


350  Einsendungen  von  Druckschriften. 


Von  der  Boston  Society  of  Natural  History  in  Boston: 

a)  Memoirs.     Vol.  1.   p.  1.  2.   1866—67.     4 

b)  Proceedüigs.     Vol.  10.  Bogen  19—27.  Schluss. 

„     11.        „       1—6.     1866.     8. 

c)  Condition  and  Doings  May  1866.     8. 

Von  der  Connecticut  Academy  of  Arts  and  Sciences  in  New-Haven: 

a)  Transactions.     Vol.  1.  p.  1.  1866.     8. 

b)  The  American  Journal  of  Arts  and  Sciences. 

Vol.  42.     Nr.  124—126. 
„     43.     Nr.  127—129.     1866—67.     8. 

Von  der  Smithsonian  Institution  in  Washington: 

a)  Smithsonian     Miscellaneous    Collections.     Vol.  6.  7.   1867.     8. 

b)  Annual  Report  of  the  Board    of  Regents    of  the  Smithsonian  In- 

stitution for  the  year  1865.  1866      8. 

c)  Pumpelly,   Geological  Researches  in  China,    Mongolia    and   Japan 

during  the  years  1862    to  1865.  1866.     4. 

Vom  United  States  Naval  Obscrvatory  in  Washington: 
Astronomical  Observations  during  the  year  1851  and  1852.   1867.    4. 

Vom  Secretary  of  War  in  Warhington' 
Report,  with  aecompany  in  papers.  1866.     8. 

Von  der  Natural  History  Society  of  Montreal: 
The  Canadian  Naturalist  New  Series  Vol.  3  Nr.  1.  1866.     8. 

Von  der  Commission  liydrometriqiie  in  Lyon: 

Resume  des  Observations  recueillees    dans    les  bassins.  de   la   Saone, 
du  Rhone  et  quelques  autres  regions.     1866 — 23me   Annee.     8. 

Vom  Beale  Istituto  Lombardo  di  scienze  e  lettcre  in  Mailand: 

a)  Memorie.     Classe    di    scienze    matematiche    e    naturali.     Vol.    10. 
1.  Della  Serie  3.     Fascicolo  3.     1866.     4. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  -  »     351 


b)  Memorie.     Classe  di  lettere  e  scienze  morali  e  politiche.  Vol.  10. 

1.  Della  Serie  3.  Fase.  3.  4.    1866.     4. 

c)  Rendiconti.     Classe  di  scienze  matematiche  e  naturali. 

Vol.  2.  Fase    9—10.     Septbr.— Decbr.   1865. 
„     3.       .,       1—9.     Gennajo— Novbr.   1866.     8. 

d)  Rendiconti.     Classe  di  lettere  e  scienze  rnorali  e  politiche. 

Vol.  2.  Fase.  8—10.     Agosto— Decbr. 
„     3.       „      1  —  10      Gennajo— Decbr.  1866.     8. 

e)  Solenni  Adunanze  del  7.  Agosto  1866      8. 
fj  Annuario  1866.     8. 

g)  II  secondo  congresso  internazionale  samtario  ed  il  regno    d'Italia. 
1866.     8. 


Vom  Herrn  Bruno  Hildebrand  in  Jena: 

Statistik  Thüringens.  Mittheilungen  des  statistischen  Bureaus  ver- 
einigter thüringischer  Staaten.  Band  1.  2.  und  3.  Lieferung. 
1867.     4. 

Vom  Herrn  Christ.  Lassen  in  Bonn: 
Indische  Alterthumskunde      1.  Bd.  2    Hälfte.  Leipzig  1867.     8. 

Vom  Herrn  A.  Grunert  in  Greifswahl: 

Archiv  der  Mathematik  und  Physik.  46.  Thl.  4.  Hft. 

47.     „      1.  u.  2.  Hft.  1866.  67.  8. 

Vom  Herrn  B.  Clausius  in  Braunschweig : 

Abhandlungen  über  die  mechanische  "Wärme-Theorie.  2.  Abthlg. 
1867.     8. 

Vom  Herrn  II.  Knoblauch  in  Halle: 

a)  Ueber     die    Interferenzfarben    der    strahlenden    Wärme.      Berlin. 

1867.     8. 

b)  Ueber  den  Durchgang    der  Wärme  und  Lichtstrahlen    durch    ge- 

neigte diathermane  und  durchsichtige  Platten      Berlin  1866.     8. 


* 


352  0  Einsendungen  von  Druckschriften. 


Vom  Herrn  G.  Noll  in  Frankfurt  a.  M.: 

Der  zoologische  Garten.     Zeitschrift    für    Beobachtung,    Pflege    und 
Zucht  der  Thiere.     8.  Jahrg.  1867.     Nr.  1—6.     Jan.— Juni.     8. 


Vom  Herrn  J.  B.  Mayer  in  Stuttgart: 
Die  Mechanik  der  Wärme.  1867.     8. 

Vom  Herrn  Aug.  Mor.  Franke  in  Dresden: 

Neue  Theorie    über    die   Entstehung    der    krystallinischen  Erdrinde- 
schichten.    8. 

Vom  Herrn  Theodor  Vgl  in  Greif swald: 
Pommei'scke  Geschichtsdenkmäler.     Zweiter  Band.  1867.     7. 

Vom  Herrn  J.  Dienger  in  Braunschweig: 
Grundriss  der  Variations-Rechnung      1867.     8. 

Vom  Herrn  C.  H.  Davis  in  Washington: 

Astronomical  and  meteorological  observations    made    at    the    united 
states  naval  observatory  during  the  year  1864.  1866.     4. 

Vom  Herrn  Gustav  Hinrichs  in  Joiva: 

Atomechanik  oder  die  Chemie  eine  Mechanik   der  Panatome.     Jowa- 
City  1867.     4. 

Vom  Herrn  Boucher  de  Perthes  in  Paris: 
Des  idees  innees:  de  la  memoire  et  de  l'instinct.  1867.     8. 

Vom  Herrn  F.  J.  Bietet  in  Genf: 

Melanges  Paleontologiques.     Deuxieme  Livraison.    Faune  de  Berrias. 
1867.     4. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  353 


Vom  Herrn  C.  Piazzi  Smyth  in  Edinburgh: 

Life  andworth  at  the  great  pyramid  during  the  montlis  of  January, 
February,  March,  and  April  with  a  discussion  of  the  facts  ascer- 
tained.     Vol.  1.  2.  3.  1867.     8. 


Vom  Herrn  Eobert  Main  in  Oxford: 

Astronomical  and  meteorological  observations  made  ad  the  radliffe 
observatory  Oxford  in  the  year  1864.  Vol    21.  1867.     8 

Vom  Herrn  P.  Duchartre  in  Paris: 

Elemens  de  Botanique,  comprenant  l'anatomie,  l'organographie,  la 
Physiologie  des  Plantes,  les  familles  naturelles  et  la  geographie 
botanique.  1867.     8. 

Vom  Herrn  C.  M.  Marignac  in  Paris: 

Essais  sur  la  Separation  de  l'Acide  Niobique  et  de  l'Acide  Titanique 
analyse  de  l'aeschynite.     8. 

Vom  Herrn  G.  J.  Adler  in  New-Yorlr. 

a)  Wilhelm  von  Humboldt's  linguistical  studies.   1866.     8. 

b)  The  poetry  of  the  Arabs  of  Spam.  1S67.      8.  „ 

Von  den  Herren   W.  Fischer,  H.  Schiveizer-Sidlcr  und  Kicsslivg  in 

Basel : 

Neues  schweizerisches  Museum.  Zeitschrift  für  die  humanistischen 
Studien  und  'las  Gymnasialwesen  in  der  Schweiz.  6.  Jahrgang. 
3.  Vierteljahr'  eft.     1866.     8. 

Vom  Herrn  Baldassare  Poli  in  Mailand: 

a)  Del  lavoro  messo  a  capitale  e  dclla  sua  applicazione    agli  scicnzi 

ati  e  letterati  italiani      8. 

b)  Süll'    insegnamento    dell  economia    polilica    e    sociale    in    Inghil- 

terra.     8. 


354  Einsendungen  von  Druckschriften. 


Vom  Herrn  Ltiigi  Magrlni  in  Mailand: 

Sulla  importanza  dei  cimelij    scientifici    e   dei    manoscritti    di   Ales- 
sandro  Volta.  1864.     8. 


Vom  Herrn  E.   W.  Ludehing  in  Heidelberg: 

Natuur  en  Geneskundige  Topographie  van  Agam  (Westkust  van 
Sumatra).  Sgravenhage  1867.     8. 

Vom  Herrn  Em  est  Trumpp  in  Pfulingen: 

SindhlLiterature.  The  divän  of  Abd-Al-Latif.  Shäh,  known  by  the 
name  of  Shäha  Jö  Risälo.  Leipzig  1866.     8. 

Vom  Herrn  Giuseppe  Milani  in  Mailand: 
Sulla  scrofola.  1862.     8. 

Vom  Herrn  Studer  in  Bern: 

Die  Chronik  des  Mathias  von  Neuenbürg.  Nach  der  Berner-  und 
Strassburgerhandschrift  mit  den  Lesarten  der  Ausgaben  von 
Cuspinian  und  Urslisius.   Zürich  1867.     8. 

Von  den  Herren  Hirsch  und  Plantamonr  in  Genf: 
Nivellement  de  precision  de  la  Suisse.     1864.     4. 

Vom  Herrn  A.  Scacchi  in  Neapel: 

a)  Sulla  poliedra  delle  faccie  dei  cristalli.   1S82.     4. 

b)  Memorie  geologiche  sulla  Campania  e  relazione  delF  incendio  ac- 

caduto  nel  Vesuvio  nel  mese  di  Febbrajo  dei  1850.     4. 

c)  Della  polisimmetria  dei  cristalli.    1867.     4. 

d)  Sülle  combinazioni  della  litina  con  gli  acidi  tartarici.  1866.     4. 

e)  Esperienze  sul  cambiamento  dei    cristalli  di  nitrato  di  strontiana 

idrato  in  cristalli  anidri  e  di  questi  in  quelli.     4. 

f)  Prodotti  chiuiici  cristallizzati  spediti  alla  esposizione  universale  di 

Parigi.   1867.     4. 

g)  Dei  solfati  doppi  di  manganese  e  potassa.  1867.     4. 


Einsendungen  von  Druckschriften,  355 

h)  Della  humite  e  del  peridoto  del  Vesuvio.     1850.     4. 

i)    Della  polisimmetria  e  del  polimorfismo  dei  cristalli.    I8ü5      4. 

k)  Dei  tartrati  di  stronziana  e  di  barite.  1863.     4. 

1)  Del  paratartrato  ammonico-sodico.  18G5.     4. 

Vom  Herrn  Oristoforo  Negri  in  Florenz: 

a)  La  storia  politica  dell'  antichitä  peragouata  alla  moderna.  Vol.  1. 

2.  3.     1867.     8. 

b)  Memorie  storico-politiche  sugli  antichi  greci  e  romani.    1864.     8. 

Vom  Herrn  M.  A.  Quetelet  in  Brüssel: 

a)  Memoire  snr  la  temperature  de  l'air  a  Bruxelles.    1867.     4. 

b)  Meteorologie  de  la  Belgique  comparee  a  celle  du  globe.  1867.    8. 

c)  Communications.     Sur  le  17.  volume  des  annales  de  l'observatoire 

royal  de  Bruxelles.  1866.     8. 

d)  Deux  lettres  de  Charles-Quint  a  Francois  Rabelais.    1866.     8. 

e)  De  lois  mathematiques  concernant  les  etoiles  filantes.     8. 

f)  Communications.     Observation  des  etoiles  filantes  periodiques  de 

Novembre  1866.     8. 

g)  Etoiles  filantes.    Publication  des  annales    meteorologiques  de  l'ob- 

servatoire royal.  Sur  l'heliographie  et  la  selenographie.  Orages 
observes  a  Bruxelles  et  a  Louvain  du  7.  Fevrier  jusqu'ä  la  fin 
du  Mai.     8. 

Vom  Herrn  Emilio  Boncaglia  iu  Modena: 
Illusioni  commedia.     8. 

Vom  Herrn  Giorolamo  Galassini  in  Modena: 

Del  miglioramento  delle  condizioni   fisiehe    e    morali    del    proletario 
specialmente  rurale  etc.   1865.     8. 

Vom  Herrn  Domenico  Mochi  in  Modena: 

Con  quali    mezzi,    oltre   i  rcligiosi,    possa   nelF   odierna   societa    re- 
staurarsi  il  prineipio  di  autoi-itä  etc.    1865.     8. 


356  Einsendungen  von  Druckschriften. 


Vom  Herrn  A.  Spring  in  Lüttich: 

Symtomatologie  ou  traite  des  accidents  morbides.     Tom.  1.     1  u.  2. 
Fase.     18G6.  67.     8. 


Vom  Herrn  Casimir  Bicliauä  in  Born: 

a)  Sur.la  resolution  des  equations    x2— x2  =  l.     18C6.     4. 

b)  Note  sur  la  resolution  de  l'equation  x3-f-(x-j-r)3-(-x-(-2r)3-(- 

-Hx+(n  —  l)r]3  =  y2.     1867.     4 

Vom  Herrn  Eugene  Catälan  in  Born: 

a)  Note  sur  un  probleme  d'analyse  indeterminee.     1866.     4. 

b)  Sur  quelques  questiones  relatives  aux  fonetions  elliptiques.  1867.  4. 

Vom  Herrn  Ottav.  Fabrizio  Mossoti  in  Rom: 

Intorno    ad    un    passo    della    divina    commedia    di  Dante    Allighieri. 
1865.     4. 

Vom  Herrn  M.  Aristide  Woepcke  in  Rom: 

Introduction  au  calcul  Gobäi'i  et  Hawäi  traite  d'arithmetique  traduit 
de  Farabe.     1866.     4 


Vom  naturwissenschaftlichen  Verein  für  Sachsen  und  Thüringen  in 

Halle : 


1867.     8. 

Von  der  deutschen  geologischen  Gesellschaft  in  Berlin: 
Zeitschrift.     19.  Bd.  2.  Heft.  Februar,  März,  April  1867.     8. 


Sitzungsberichte 


der 


königl.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften. 


Philosophisch  -  philologische  Classe. 

Sitzung  vom  9.  November  1867. 


Herr  Hof  mann  übergiebt  den  Schluss  seiner  Bemerkungen: 
„Zur  Gudrun". 

Str.  297,4  ist  wohl  nicht  guotes  zu  ergänzen,  sondern 
waz  sie  da  veile  heten. 

Str.  299,4  1.  schapel  unde  vingerl,  um  die  vierte  Heb- 
ung zu  beseitigen,  die,  von  Eigennamen  abgesehen,  immer 
eine  sehr  störende  Wirkung  macht. 

Str.  303,4.  gevazzet  mit  golde  heisst  nicht:  mit  Gold 
angefüllt,  wie  B.  deutet,  sondern  wie  das  Mhd.  WB.  richtig 
erklärt,  bedeckt,  überzogen.  Der  Ausdruck  kömmt  noch  in 
der  technischen  Sprache  vor,  einen  Altar  fassen  =  das 
Schnitzwerk  daran  vergolden.  An  einer  andern  Stelle  der 
Gudrun  muss  vazzen  allerdings  die  Bedeutung  füllen  haben, 
1131,2  s.  Mhd.  WB.  sub  voc.  Nr.  6. 
[1867.  IL  3.1  24 


358      Sitzung  der  phüos.-philöl.  Classe  vom  9.  November  1867. 

Str.  322,3  1.  unze  sie  besaezen  bi  im  fürsten  riche.  Der 
Vers  bedeutet  nicht,  so  lange  sie  in  seinem  Fürstenreiche 
sich  aufhielten,  wie  B.  und  Simrock  ihn  fassen,  sondern, 
bis  sie  von  ihm  die  versprochenen  fürstlichen  Lehen  (vgl. 
Str.  316)  in  Besitz  bekommen  würden,  so  lange  sollten  sie 
seine  Tischgäste  sein. 

Str.  333,2  1.  der  =  daz  er  d.  h.  gegen  Horant  konnte 
Niemand  aufkommen,  der  behauptet  hätte,  besser  als  er  ge- 
kleidet zu  sein. 

Str.  346,3.  Die  Wiederholung  von  bürge  aus  der  vori- 
gen Zeile  ist  ungeschickt.  Die  Stelle  ist  corrupt;  denn  Weib 
und  Kind  siteen  nicht  bloss  in  der  Burg,  sondern  in  dem 
besonderen  Theile  derselben,  welcher  in  allen  germanischen 
Sprachen  bür  =  das  Frauengemach,  heisst.  Man  lese  da- 
her oder  hat  er  in  büre  ivip  Wide  Teint? 

ich  ivaene  sie  getriutet  von  siner  hende  selten  sint. 

lu  dieser  Bedeutung  war  für  das  Mhd.  das  Wort  bür 
schon  veraltet,  daher  der  Schreiber  bürge  dafür  setzen 
musste. 

Str.  350,4  1.  von  den  minen  erben  belihe  ich  inner 
järes  friste  staete.  B.  und  Simrock  haben  die  Stelle  nicht 
verstanden.  B.  erklärt:  Innerhalb  Jahresfrist  will  ich  da- 
heim sein.  S.  ungefähr  ebenso:  mir  wird  mein  Land  wohl 
wieder  binnen  Jahresfrist  und  wenig  Tagen.  Es  handelt  sich 
hier  um  die  Anwendung  einer  land-  und  lehenrechtlichen 
Satzung.  Binnen  Jahr  und  Tag  konnten  Erbe  und  Lehen 
nicht  rechtsgültig  dem  Besitzer  und  seinen  Erben  entzogen 
werden,  vgl.  Sachsenspiegel  I.  38  §.  2.  Die  6h  jär  unde 
dach  im,  dez  rtkes  ächte  sin,  die  delt  man  rechtlos,  wnde 
verdelt  in  6gen  wnde  Un,  dat  Jen  den  herren  ledich,  dat 
egen  in  die  JconingWzen  geivalt.  Ne  tut  de  erven  nicht  üt 
üt  der  ~komngVtken  geicalt  binnen  jär  unde  dage  mit  irme 
ede,  se  verleset  it  mit  sament  jeneme,  it  ne  neme  in  echtnöt, 
dat  se  nicht  vore  komen  ne  mögen.  Diess  ist  die  Hauptstelle, 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  359 

ferner  III,  34  §.  3  (von  der  Aberacht)  II,  41  §.  2  u.  s.  w. 
Im  Schwabenspiegel  findet  sich  die  gleiche  Stelle  Landrecht, 
45  (Lassb.),  ausserdem  vgl.  Lehenrecht  11,  25  Schluss, 
42  Schluss,  62  Anfang,  76  Anfang,  85.  Deutsch.  Spieg.  S.  58. 

Str.  351,1  1.  Do  sie  von  dannen  giengen,  u.  s.  w.  um 
die  Verbindung  mit  dem  folgenden  herzustellen.  3  1.  sitzens 
von  stat  regiert  oder  ze  sitzen. 

Str.  364.  dolte  so  geradewegs  mit  B.  zu  verwerfen,  weil  es 
sonst  nicht  vorkömmt,  ist  schwerlich  erlaubt.  Wenn  wir  es 
von  toi  ableiten,  so  können  wir  es  einfach  im  Sinne  unseres 
herumtollen  =  herumtreiben,  jagen,  nehmen.  Im  zweiten 
Verse  gibt  begossen  brant  einen  schlechten  Vers  und  ein 
barockes  Bild;  denn  einen  schwitzenden  Menschen  mit  einem 
begossenen  Feuerbrand  zu  vergleichen,  ist  schwerlich  dem 
Dichter  eingefallen.  Ich  halte  braut  für  verlesen  für  brate, 
denn  das  ist  bekanntlich  das  Simile,  welches  heute  noch 
wenigstens  in  ganz  Süddeutschland  allgemein  vom  Schwitzen 
gebraucht  wird  und  zwar  ein  familiärer  aber  durchaus  kein 
unedler  Ausdruck  ist.  Hatte  der  Schreiber  einmal  brat  für 
brant  genommen ,  so  musste  er  den  Brand  natürlich  auch 
begiessen,  um  ihn  dampfen  zu  lassen. 
Ich  lese  also  die  ganze  Strophe  so: 

Hagenen  sere  tolte  der  liinstelöse  man, 

daz  alsam  ein  brate  riechen  began 

der  meister  von  dem  jünger,  ja  ivas  er  starc  genuoc, 

der  tvirt  ouch  sinem  gaste  siege  unmaezlichen  sluoc. 
Uebrigens   will    ich   nicht  in  Abrede   stellen,    dass    die 
Vergleichung  eines  Zornigen,     Erhitzten    mit   einem  Brande 
zulässig  ist.     Biterolf  Y.  11123 

Dieterich  roch  sam  ein  hol, 
dö  diz  Wolfhart  gesprach. 
Freilich  darf  man  hier  an  Dietrichts  Feuerathem  denken 
und  der  Zusatz  begozzen  findet    sich   auch    hier   nicht;    mit 
brunt  allein    aber   lässt  sich  der  Vers  nicht  herstellen.     Am 

24* 


360      tiitzung  der  philos.-philol.  Gasse  vom  9.  November  1867. 

weitesten  in  der  Anwendung  des  Vergleiches  geht  das  gro- 
teskobscöne  Turney  von  dem  czers  (v.  Keller,  Erzählungen 
S.  443—459),  wo  es  S.  456  Z.  35  heisst:  die  aptissyn 
dünst  recht  als  eyn  smytte.  Findet  man  übrigens  meine 
Erklärung  von  tolte  zu  gewagt,  (und  ich  muss  selbst  zuge- 
stehen, dass  sie  es  ist),  so  lässt  sich  mit  Hülfe  der  hand- 
schriftlichen Lesung  doch  eine  Emendation  gewinnen ,  die 
dem  Ueberlieferten  die  wenigste  Gewalt  anthut  und  sich  in- 
nerhalb des  bekannten  mhd.  Sprachgebrauches  hält.  Fasst 
man  nämlich  dolte  in  seiner  gewöhnlichen  Bedeutung,  so 
kann  der  dazu  gehörige  Accusativ  nicht  wohl  in  den  Minste- 
lösen  man  gesucht  werden;  er  muss  vielmehr  in  sere  stecken. 
Man  kann  diess  vielleicht  als  Accus,  des  st.  Fem.  sere  (Leid, 
Betrübniss)  fassen  und  dann  lesen :  der  künstelöse  man  d.  h. 
der  arglose  Hagene.  Doch  würde  ich  in  diesem  Falle 
lieber  annehmen,  dass  sere  für  swere  =  swaere  (molestiam) 
verlesen  ist,  wodurch  jede  vom  Buchstaben  der  Ueberliefer- 
ung  weiter  abgehende  Aenderung  unnöthig  würde,  auch 
vom  für  den  wegfiele.  Ich  schlage  also  vor:  Hagene  swaere 
dolte  der  Jcünstelöse  man.  Fasst  man  dagegen  sivaere  als 
Adverbium  und  bezieht  dolte  auf  den  künstelosen  man,  so 
wäre  die  Sache  noch  einfacher:  Hagano  aegre  sustinuit 
virum  armorum  imperitum. 

Bei  unserer  noch  immer  so  lückenhaften  Kenntniss  des 
mhd.  Sprachschatzes  und  Sprachgebrauches  ist  es  nicht  zu 
verwundern,  wenn  sich  für  eine  Stelle  selbst  im  engsten 
Anschlüsse  an  die  HS.  zwei,  drei  Emendationen  bieten, 
zwischen  denen  die  Entscheidung  schwankend  bleibt. 

Das  Wort  brant  kömmt  an  einer  zweiten  Stelle  der 
Gudrun  vor,  wo  es  nicht  minder  unglücklich  erklärt  worden 
ist.  Str.  514,2  schlägt  Hagene  auf  Watens  Helm  und  um- 
gekehrt, dass  da  sach  manic  degen  das  fiiver  üz  keimen 
stieben  sam  die  röstbrende.  ,, Gleich  lichten  Feuerbrän- 
den4' übersetzt  Simrock,  und  Bartsch   erklärt:     Feuerbrand, 


I 

Hofniann:  Zur  Gudrun.  361 

ein  angebranntes  Stück  Holz.  Wieder  eines  jener  barocken 
und  naturwidrigen  Bilder,  die  nicht  wirklichen  Dichtern, 
sondern  nur  modernen  Uebersetzern  und  Erklärern  gut  genug 
sind.  Funken,  die  aus  Helmen  stieben,  sehen  nicht  aus, 
wie  herumfliegende  angebrannte  Holzstücke,  sondern  wie  die 
Funken,  die  unter  dem  Schmiedehammer  aufstieben,  d.  h. 
die  rostbrende  =  der  sog.  Hammerschlag,  wie  sie  nach  der 
Erkaltung  genannt  werden.  In  der  Schweiz  wird  röst  == 
strues  und  rost  —  acrugo  in  der  Aussprache  heute  noch 
scharf  geschieden. 

Str.  368,2  1.  ir  sprächet,  ir  ivelt  lernen  u.  s.  w.  Der 
Wechsel  des  Tempus    ist   hier  logisch  nicht  zu  beanstanden. 

Str.  372,1  an  einem  ahmt,  wie  die  HS.  und  alle  Her- 
ausgeber, auch  Wackernagel  im  LB.  bis  auf  B.  haben,  ist 
grammatisch  falsch;  denn  der  Dativ  von  abent  heisst  äbende 
oder  äbiinde.  B.  setzt  üf  einen  abent,  unnöthig;  denn  an 
einen  abent  ist  vollkommen  richtig,  da  man  sagt  an  eine 
Sit  oder  üf  eine  zit,  an  oder  üf  eine  stat  u.  s.  w. 

Str.  372,3  1.  mit  herlicher  stimme,     so  ist  unnöthig. 

Str.  380,4  1.  der  gast  was  wol  beraten.  Es  heisst  nicht, 
wie  B.  erklärt:  etwa  mit  Zuhörern  oder  allgemeiner:  dem 
Gaste  ging  Alles  nach  Wunsche,  sondern :  der  Gast  hatte 
richtig  gerechnet,  indem  ihn  die  Königstöchter  nun  wirk- 
lich hörte.  Simrock  lässt  vorsichtig  stehen  ,,war  wohl  be- 
rathen'" ,  worunter  sich  jeder  denken  kann ,  was  ihm  am 
besten  scheint. 

Str.  381,2  daz  muss  in  da  geändert  werden;  denn 
dass  die  entzückten  Zuhörer  neben  Hörants  Stimme  auch 
auf  das  Verstummen  der  Vöglein  horchen  sollen,  heisst  ihnen 
zu  viel  zugemuthet.     Z.  3  1.  doene  vergäben. 

Str.  382, 1.  2. 1,  Do  im  ivart  gedanket  von  wiben  tmdc  man, 
dö  sprach  von  Tenen  Fruote:     min  neve  möhte  län 
sin  ungefüege  doene  u.  s.  w. 

Ich    will    hier    eine    allgemeine   Bemerkung    einflechten, 


362       Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  9.  November  1867. 

die  an  jeder  Stelle  passt.  Ein  besonderer  poetischer  Vor- 
zug der  Gudrun  besteht  darin,  dass  die  Strophe  wo  mög- 
lich nur  einen  Satz  bildet,  wodurch  dem  Staccato,  welches 
jede  Strophentheilung  nothwendig  und  nachtheilig  in  dem 
epischen  Flusse  hervorbringt,  ein  natürliches  Gegengewicht 
gegeben  wird,  dessen  Wirkung  für  mein  Gefühl  wenigstens 
eine  höchst  melodische  ist.  Die  alte  vierzeilige  Strophe  der 
Nibelungen  war  für  den  reicheren,  der  typischen  Form  ent- 
wachsenen Ausdruck  der  klassisch  werdenden  mittelhoch- 
deutschen Sprache  zu  eng,  ebenso  wie  der  Stabreim  einer 
freieren  und  tieferen  Entwicklung  des  Gedankens  geopfert 
werden  musste.  Daher  ihre  von  richtigem  Kunstgefühl  ge- 
leitete Erweiterung  einerseits  in  der  Gudrunstrophe,  und 
ihrer  Fortbildung  im  Titurelmetrum ,  auf  der  andern  Seite 
in  den  längeren  Sätzen  der  späteren  Volksepik,  die  einen 
ganz  anderen  künstlerischen  Eindruck  machen  würden,  wenn 
sie  von  Dichtern  ersten  Ranges  gehandhabt  wären ,  wie  die 
Ariosto-  und  Spenserstanze  zeigen.  Ganz  kurze  Sätze  im 
Gesänge  wie  in  gebundener  und  ungebundener  Eede  ver- 
langen zu  voller  Wirkung  eine  Mächtigkeit  des  Inhalts,  die 
bei  breiter  und  ruhig  fliessender  Darstellung  nicht  in  jedem 
Momente  sich  ansammeln  kann,  daher  der  öde  Eindruck, 
den  zerhackte  Strophen  und  Melodieen  auf  uns  machen. 
Deshalb  suche  ich  in  der  Gudrun  wo  möglich  in  jeder 
Strophe  eine  syntaktische  Einheit  mit  Entfernung  der  Zwischen- 
schlusspunkte. 

Str.  386,2  ist  E.  Martins  Emendation  unbedingt  anzu- 
nehmen, nur  dürfte  statt  triuteclichen  zu  lesen  sein  triute- 
lichen,  welches  im  Alt-  und  Mittelhochdeutschen  wirklich 
belegt  ist,  vgl.  Graff  V,  473,  Mhd.  VVB.  III,  112.,  während 
für  jenes  ein  Nachweis  zu  fehlen  scheint. 

Str.  391,2.  minnert  braucht  nicht  angetastet  zu  werden, 
dagegen  ist  choren,  wie  mir  scheint,  verlesen  für  cehoren; 
also  sich  oder    sin  minnert  in  ze  hoeren  da  von  der  pfaffen 


Hofmam:  Zur  Gudrun,  363 

stmc  =  Pfaffensang  und  Glockenklang  achteten  sie  gering, 
vergassen  sie  über  Hörants  Lied,  da  von  der  pfaffe  sanc 
halte  ich  darum  für  unstatthaft,  weil  es  nur  auf  den  Inhalt 
dessen,  was  der  Pfaffe  singt,  gehen  kann.  Von  dem  ist  aber 
hier  keine  Rede,  sondern  von  der  schönen  Stimme  und  dem 
kunstreichen  Gesänge,  minnern  ist  ahd.  und  mhd.  hinläng- 
lich belegt. 

Str.  392,4  1.    s'äbents    oder   des    äbents,    da   der  Vers 
sonst  eine  Hebung  zu  viel  hat. 

Str.  397,1.2.  Jcristen  darf  nicht  durch  die  Cäsur  von 
mensche  getrennt  werden,  man  lese  die  nie  kristeu  mensche 
gelernte  sit  noch  e.  Was  Amile  ist,  hat  man  bisher  nicht 
gewusst,  doch  vernautliet,  es  sei  ein  orientalisches  Wort. 
Ich  kann  es  nun  wirklich  im  Arabischen  nachweisen,  wie- 
wohl damit  freilich  nicht  gesagt  ist,  dass  beide  Namen 
sich  decken  müssen.  Unter  den  südarabischen  Stämmen 
der  Jiehlänischen  Familie  heisst  einer  Amüeh%  wie  drei 
Autoren,  welche  davon  handeln,  Ihn  Koteibah,  Ihn  Doreid 
und  Ibn  Abd  Rabbihi,  übereinstimmend  angeben.  Man 
sehe  die  Tafel  bei  v.  Kremer  Südar.  Sage  S.  30.  Wie  ein 
solches  arabisches  Wort  in  die  Gudrun  kommen  konnte, 
wer  wird  das  ergründen?  Dass  es  möglich,  will  ich  an 
einem  andern  nachweisen,  von  dem  mit  Sicherheit  behauptet 
werden  kann,  dass  es  seinen  Weg  von  Südarabien  nach 
Norwegen  gefunden  hat.  Unter  den  norwegischen  Volks- 
märchen (Norske  Folkeeventyr  von  P.  Chr.  Asbjörnsen  und 
Jörgen  Moe,  Christ.  1852)  handelt  das  27te  S.  145  vom 
Soria-Moria-Schloss,  welches  so  weit  entfernt  ist,  dass  der 
Held  Halvor  Mond  und  Westwind  befragen  muss,  um 
den  Weg  zu  erfahren,  und  mit  letzterem  hinzureisen.  Nun 
liegen  wirklich  im  Südosten  von  Arabien  der  Weihrauch- 
küste gegenüber  zwei  Inseln,  die  Cooria  Mooria  heissen  und 
zu  denen  von  Aegypten  aus,  dem  Lande,  wo  1001  Nacht 
seine  letzte  Gestalt  gewonnen   hat,    ganz    richtig  der  Nord- 


364       Sitzung  der  phüos.-pMöl.  Gasse  vom  9.  November  1867. 

Westwind  führt.  Hier  wird  man  die  Identität  der  Namen  zu- 
geben müssen  und  dass  Soria  Moria  nur  aus  dem  Arabischen 
kommen  kann,  während  das  Märchen  sonst  eine  ganz  nationale 
norwegische  Färbung  hat.  In  1001  Nacht  steht  dafür  die 
Insel  Wäkwäk  im  indischen  Ocean,  „wo  die  Mädchen  auf 
Bäumen  wachsen",  deren  reale  Grundlage  Humboldt  in  dem 
Essai  critique  nachgewiesen  hat. 

Es  bleibt  nun  noch  der  3.  und  4.  Vers  von  397  zu 
betrachten.  Dass  kein  Christenmensch  die  Weise  von  Amile 
jemals  anders  als  auf  der  wilden  Fluth  gelernt  habe,  ist 
eine  Sonderbarkeit,  die,  wie  mir  scheint,  nicht  dem  Dichter 
zur  Last  fallt.  Bezieht  man  das  Lernen  auf  Hörant,  so 
schliesst  sich  auch  der  4.  Vers  ungezwungen  dem  einheit- 
lichen Bau  der  Strophe  an,  wobei  die  hässliche  Vier- 
hebigkeit  der  ersten  Hälfte  durch  Umsetzung  sehr  leicht  be- 
seitigt wird.  Ich  ändere  also: 
tvaen,  er  sie  gehörte  iif  dem  wilden  fluote, 
da  mite  ze  liove  diente  Hörant  der  snette  degen  guote. 

Hörant,  meint  der  Dichter,  habe  die  Weise  auf  einer 
seiner  weiten  Meerfahrten  gelernt.  Die  mythologische  Be- 
ziehung auf  Meerfrauen ,  Sirenen ,  Strömkarl,  Nix  und  wie 
alle  die  dämonischen  Tonkünstler  heissen ,  wird  dadurch 
freilich  sehr  zurückgedrängt,  bedenken  wir  indess,  dass  diese 
Strophe  mit  ihrer  weithergeholten  Gelehrsamkeit  doch  ohne 
Zweifel  eine  jüngere  ist,  so  wird  ihr  Ausfall  weniger  zu  be- 
deuten haben. 

Dass  die  primitive  Anschauung,  welche  anthropomor- 
phisch  in  den  wilden  und  geheimnissvollen  Tönen  des  Meeres 
die  Quintessenz  menschlicher  Sing- und  Saitenkunst  verkörpert, 
nicht  bloss  im  Norden  zu  Hause  war,  zeigt  ausser  den  im 
Altfr.  häufig  vorkommenden  Seraines  Sirenen  besonders 
schön  die  spanische  Romanze  vom  Grafen  Arnaldos  (Prima- 
vera von  Wolf  und  mir,  Nr.   153),    der  an  einem  Johannis- 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  365 

morgen  das  Glück  hatte,  die  Galeere  mit  dem  Zaubersänger 
zu  erblicken, 

marinero  que  la  manda 
diciendo  viene  un  cantar 
que  la  mar    facta  en  calma, 
los  vientos  hace  amainar, 
los  peces   que   andan  'nel  hondo 
arriba  los  hace  andar 
las  aves  que  andan  volando 
en  el  mastel  los  face  %>osar. 
Der  Dichter  schildert    hier    schön   die   Wirkung    des 
Wunderliedes,  ein  ungeschickter  Fortsetzer  (a.  a.  0.  Note  10) 
wollte  den  Text  dazu  erfinden. 

Str.  415,3  1.    Das  doppelte  kröne   ist   verdächtig.     Ich 
schlage  vor: 

swie  er  nicht  entrüege,  er  dienet  im  die  kröne. 
Str.  416,2  1.  des  gie  dem  recken  not. 
Str.  417,1  1.  des  recken. 

Str.  418,1  1.  Dem   recken  wart  in  sorge  ein   teil  sin 
herze  ivunt. 

Der  Vers  muss  sich  auf  den  Kämmerer  und  sein  Heim- 
weh beziehen  ,  wie  die  zunächst  folgenden  Verse  beweisen. 
Str.  420,3,  4  sind  im  Grunde  genommen  durch  die 
Wiederholung  von  Hilden  vollkommen  tautologisch.  Dem 
wird  abgeholfen,  wenn  man  mit  leichter  Aenderung  in 
V.  3  liest: 

das  sie  durch  frouwen  hidde  koemen  zuo  dem  lande. 
Str.  421,3  1.  von  dem  künige. 

Str.  428.2  3,4  und  429,1    beginnen    alle  mit  sie.     Um 
dieser  Geschmacklosigkeit  abzuhelfen,  lese  ich : 

und  sagtenz  ouch  den  degenen :  die  in  den  schiffen  lägen, 
horten  z  niht  un  gerne. 

So  wird  das   sechsmalige   sie    in    4  Versen    wenigstens 
zweimal  beseitigt. 


ä66        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  9.  November  1867. 

Str.  435.     Viermal  daz.     Ich  lese: 

daz  uns  ere  dunlcet,  ob  ir  ez  gerne  tuot, 
daz  ir  sehet  selbe. 
Str.  447.     Die  HS.  liest 

ivaz  ir  ir  durch  streyten 
vnns  immer  eylendt  nach 
dann  wol  geicaffent  tausent  ewr  helde. 
was  die  Herausgeber  auf  verschiedene,  wie  mir  scheint, 
durchaus  verunglückte  Weise  verändert  haben.  Nach  meiner 
Ueberzeuguug  handelt  es  sich  bloss  um  Entdeckung  und 
Beseitigung  eines  ganz  unbedeutenden  und  naheliegenden 
Lesefehlers ,  um  in  der  Vorlage  einen  sehr  guten  Sinn  zu 
finden,  immer  ist  verlesen  für  minner,  also  swaz  ir  uns 
durch  striten  minner  Met  nach  danne  wol  gewäfent  tüsent 
iuwer  helde  d.  h.  mit  weniger  als  tausend  wohlbewaffneten 
Kämpfern  dürft  ihr  uns  gar  nicht  zu  verfolgen  wagen;  denn 
eine  geringere  Anzahl  werfen  wir  ohne  weiters  in  die  Fluth. 
Hagene  wusste  ja  nichts  von  der  Menge  der  im  Kielräume 
versteckten  Recken,  deren  mit  den  andern  nach  Str.  455 
gerade  tausend  waren. 

Str.  475,2.     Die   Herstellung    von    so    grözem    givalde, 
die  B.  versucht,  scheint  mir  unglücklich.  Ich  nehme  gewalte 
hier  als  Fem.  und  lese :   von  groezzer  gewalte. 
Str.  474,4  etwa:  ich  tvaene,  dem  degene  etc. 
Str.  484,2.     diu,    womit  auch  der  erste  Vers  beginnt, 
ist  zu  tilgen,  ebenso  dürfte  statt  der  Wiederholung  von  siu 
in    483,4    und   484.4   besser    unt    stehen,     wodurch   beide 
Strophen  zur  syntaktischen  Einheit  gelangen. 
.   Str.  486,4  1.  in  statt  nü. 
Str.  500  1.     Do  stuonden  wider  wehsei  mit  den  herten 

spern, 
die  sich  unter  Schilden  einander  wolten  wem 
wider  ist  offenbar  als  under  verlesen,    wider  ivehsel  ist 
zu  fassen,  wie  wider  strit. 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  367 

Str.  503,3.  Diese  schöne  Stelle  scheint  mir  im  strengen 
Anschlüsse  an  die  HS.  einfacher  zu  erklären ,  als  die  Her- 
ausgeber gethan.  Dass  der  Schreiber  schneeweiss  für  den 
ihm  wahrscheinlich  unverständlichen  Genetiv  sneives  gesetzt 
hat,  ist  klar  genug;  aber  warum  hätte  er  für  flocken,  was 
er  ganz  gewiss  verstund,  flog  setzen  sollen?  Ich  glaube,  er 
hat  nur  flog  für  flügen  gesetzt  und  vor  sich  gehabt :  sam 
sn&ves  flügen  winde  —  als  ob  Winde  mit  Schnee  einher- 
sausten.  Das  Fliegen  der  Winde  ist  ein  natürliches  Bild, 
welches  ich  im  Augenblicke  zwar  nur  durch  ein  einziges 
Citat  belegen  kann,  welches  jedoch  genügen  wird.  Im 
Tristan  des  Eilhart  von  Oberge  hat  JDresd.  die  winde  wordin 
her  gevlogen,  Palat.  der  wind  kam  dar  in  geflogen.  Ich 
wüsste  nicht  zu  sagen,  ob  mir  weitere  Belege  des  Aus- 
druckes nie  vorgekommen  oder  von  mir  als  nicht  auffallend 
vergessen  sind. 

Str.  504,2.  slahen  scheint  mir  ein  verdeutlichendes  Ein- 
schiebsel der  dem  Abschreiber  beliebten  Art  zu  sein,  die 
sin  da  begerten  genügt  vollkommen  und  darauf  führt  auch 
zunächst  das  die  sy  der  HS.  Der  Ausdruck  ist  nebenbei 
gesagt,  einer  der  vielen,  in  denen  deutsche  und  französische 
Sprechweise  zusammenfällt.  Im  Altfr.  heisst  requerre  oder 
requerir,  wenn  von  einem  .Manne  die  Rede  ist.  feindlich  an- 
greifen, wenn  von  einem  Weibe,  um  Liebe  werben.  Im 
Mhd.  scheint  der  Ausdruck  in  der  Falknersprache  am  ge- 
wöhnlichsten, gern  ist  da  technischer  Ausdruck  für  angreifen, 
vgl.  Mhd.   WB.  I.  532. 

Str.  505,1  ist  in  der  Vorlage  einer  der  übelklingend- 
sten Verse  der  Gudrun.  Ich  lese  statt  als  diu  buoch  uns 
kunt  tuont  als  Zwischensatz  diu  buoch  um  künde  taont. 
Das  Adj.  künde  bedeutet  dasselbe,  was  kunt.  Dann  scheint 
mir  der  Sinn  auch  noch  einer  feineren  Modification  fähig. 
Wie  die  Strophe  jetzt  liegt,  heisst  es:  Da  die  Bücher  uns 
melden,  wie  stark  Hagene  gewesen,  so  war  es  ein  Wunder, 


368        Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  9.  November  1867. 

dass  Hetel  vor  ihm  bestund.     Aber  warum    sollte    sich  der 
Dichter  auf  die  Bücher  berufen,    um  eine  Thatsache  zu  er- 
härten, die  im  ganzen  Verlaufe   des  Werkes  fortwährend  im 
Vordergrund  steht,  Hagenes  Stärke?     Ich  meine,    er  wollte 
das  Zeugniss  des  Buches  speciell  für  den  vorliegenden  Zwei- 
kampf anführen,     und    dann    muss    man    im    zweiten  Verse 
Hetele  lesen,    im  natürlich  auf  Hagene  beziehend,  also 
Ez  was  ein  michel  zvunder.  diu  buoch  uns  künde  tuont, 
swie  starc  Hetele  ivaere,  daz  vor  im  ie  gestuont 
der  Hegelinge  herre. 

Str.  509,1  1.  Bi  im  gevriesch  dö  Hagene. 
Str.  510,4.  Hier  scheint  mir  ein  evidenter  Fall  vor- 
zuliegen, wo  der  Abschreiber  einen  ganz  geläufigen  mhd. 
Ausdruck  nicht  mehr  verstanden  und  durch  das  dem  Laute 
nach  nächstliegende  Wort  seines  Sprachschatzes  ersetzt  hat. 
Das  rüeren  hätte  den  Ringen  der  halsberge  nicht  viel  ge- 
schadet ;  der  terminus  technicus  ist  gereret  =  auf  den  Boden 
gestreut,  und  das  wird  gestanden  haben. 
Str.  517  vermuthe  ich: 

Hagenen  brast  diu  stange,  die  er  ze  strite  truoc, 
üf  dem  Waten  Schilde,  der  ivas  starc  genuoc, 
ouch  enkunde  vehten  in  allen  den  riehen 
rechen  baz  deheiner 
oder    mit  Beibehaltung    der  handschriftlichen  Ordnung  ouch 
enkunde  baz  vehten  —  recken  deheiner. 

Str.  518.  Dass  der  alte  Wate  einen  Schwertschlag 
durch  das  Haupt  aushalten  soll,  das  heisst  bei  aller  Recken- 
haftigkeit  ihm  zu  viel  zugemuthet.  Es  genügt  üf  daz 
houbet  vgl.  Str.  864  oder  durch  die  hüben  —  durch  die 
Helmhaube  auf  die  Schwarte.  Im  dritten  Verse  scheint  mil- 
der Zusammenhang  der  Strophe  schön  hergestellt,  wenn 
wir  lesen  daz  (das  fliessende  Blut)  kuolten  im  die  icinde.  im 
für    nu  ist    die   einfachste  Verlesung. 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  369 

Str.  519,3  1.  bouge  statt  bongen,  denn  ein  Helm  hat 
nur  einen  boac  (franz.  cercle). 

Str.  524.  In  dieser  Strophe  ist  der  Sinn  vor  Allem 
herzustellen.  Hagenen  hier,  wo  er  besiegt  ist,  den 
Uebermüthigen  zu  nennen,  geht  nicht  an,  ihn  sagen  lassen, 
er  habe  vor  Hetels  Leuten  Respekt  bekommen ,  als  er  er- 
fahren, dass  sie  mit  reichem  Gute  nach  seiner  Tochter  ge- 
fahren, ebenso  wenig,  denn  dazu  gehörte  weder  Witz  noch 
Math,  der  dritte  Vers  endlich,  wie  er  in  der  HS.  und  bei 
den  Herausgebern  steht,  ist  grammatisch  falsch,  endlich 
war,  was  den  zweiten  Vers  angeht,  das  Kunststück  nicht, 
nach  seiner  Tochter  zu  kommen,  sondern  ihr  nahe  zu 
kommen.  Aus  allen  diesen  Gründen  lese  ich  die  Strophe  so: 

Do  sprach  der  ungemuote:  sit  ich  hau  vernomen, 

äaz  sie  mit  maniger  Ivuote  ir  ivären  nähen  homen, 

sit  ist  iu  grbzer  eren  von  helden  unzerrunncn; 

ir  habt  mit  schocnen  listen  mine  lieben  tochter  gewunnen. 
Str.  329.  Von  einem  arzät  sin,  glaube  ich,  konnte 
man  im  Mhd.  nicht  sagen,  wenn  man  ausdrücken  wollte: 
von  Jemand  die  Arzneikunde  gelernt  haben.  Am  nächsten 
käme  hier  wohl  Str.  156,4;  genügt  aber  nicht  zum  Beweise 
für  vorliegenden  .hall.  In  arzet  waere  scheint  mir  nun  die 
Verlesung  zu  liegen  und  zwar  für  arzetie  laere  =  dass 
Wate  die  Arzneikunst  von  einer  Waldfrau  gelernt  habe.  Ich 
möchte  die  Strophe  dennoch  so  lesen : 

si  heten  in  langer  zite  da  vor  wol  vernomen 

äaz  arzetie  laere  von  einem  wilden  wibe 

Wate  der  vil  maere,  des  gefrumte  er  manigem  an  dem  Übe 

oder  äaz  gefrumte  manigem  an  dem  Übe. 

Diesen  Gebrauch  von  lesen  belegt  Biterolf  V.  83. 
Aehnlich  bedeutet  nema  im  Nord,  lernen. 

Str.  533,1  1.  ich  bin  ir  arzät  nicht,  denn  Wate  will  ja 
nicht  sagen,  dass  er  überhaupt  kein  Arzt  sei,    sondern  nur, 


370       Sitzung  der  philos.-phüos.  Classe  vom  9.  November  1867. 

dass    er   die    Sühne    zur    Vorbedingung    seiner   Kunstübung 
mache. 

Str.  534,3,4   1. 
deich  minen  vriunt  den  besten   niht  getar  enphähen, 
in  und  ouch  den  sinen,  min  grüezen  ivaene,  harte  müge  ver- 
smähen. 

Str.  535,4  1.  diu  woltf  den  iuivern  wunden  helfen  ob 
irz  hetet  ze  minne. 

Bei  V.  hat  der  zweite  Halbvers  eine  Sylbe  zu  wenig, 
bei  B.  ist  zu  weit  und  unnöthiger  Weise  von  der  Vorlage 
abgegangen. 

Str.  547,3  1.  vor  dem  Mnige  statt  von,  denn  die 
Krönung  wurde  ja  in  der  Regel  nicht  von  den  Fürsten 
selbst,  sondern  von  Bischöfen  vollzogen,  bei  einer  Königin 
natürlich   in  Gegenwart  des  Königs. 

Str.  549,2  1.  maget  diu  vil  he>e.  B.  verändert  un- 
nöthig  daz  magetin  vil  tere,  V.  hat,  wie  E.  und  Z.  vor 
ihm,  den  falschen  Halbvers  diu  maget  vil  höre  beibehalten, 
der  nur  zwei  Hebungen  hat,  da  vil  bekanntlich  nur  dann 
vor  einem  Adjectivum  betont  sein  kann,  wenn  dieses  niitw« 
zusammengesetzt  ist  oder  eine  tonlose  Vorsylbe  hat. 

Str.  555.  Eine  feine  Strophe,  die  aber  anders  herge- 
stellt werden  muss,  als  die  Herausgeber  gethan  haben. 
Hildeburg,  bittet  Hagene,  soll  Hilden  ihr  grosses  Ingesinde 
regieren  helfen;  dann  ist  aber  die  Aufforderung,  sie  solle 
selbst  ihre  zuht  zeigen,  unmotivirt,  ich  lese  daher: 
ez  geivirret  lihte  frouwen  an  grözem  ingesinde; 
nu  tuo  genaediclichen  daz  man  dine  zuht    an  ir  bevinde. 

Str.  562,3  1.  unser  juncfrouiven.  tohter  ist  unnöthiger 
Zusatz.  Im  4.  Verse  wohl  besser  durch  sie  ivart  der  brün- 
nen  vil  verhouiven,  da  durch  ir  ein  überhäufter  Auftakt  ist 
und  man  leicht  sieht,  dass  der  Abschreiber  durch  sie  darum 
änderte,  weil  es  nach  seinem  wie  unserem  Sprachgebrauchs 
bedeutete,  die  Jungfrauen  hätten  die  Brünnen  verhauen. 


Hof  mann:  Zur  Grudrun.  371 

Str.  566.  Diese  Strophe  hisst  sich  in  einen  Satz 
bringeD,  wenn  man  liest: 

Swä  Hetele  in  den  landen,  diu  schoenen  magedin 

gefriesch  von  edelem  künne,  getiuret  ivolte  er  sin, 

so  er  ze  hüse  bradite  im  ze  ingesinde 

alle  die  dienern  willen  täten  des  wilden  Hagenen  binde  oder 

alle  die  willen  heten  ze  dienen  des  wilden  Hagenen  kinde. 

Str.  585,1.  Die  Aenderung  von  hoher  muot  in  höch- 
gemiiete,  die  nach  Z.  alle  Herausgeber  angenommen  haben, 
ist  unnöthig  und  unwahrscheinlich,  da  der  Abschreiber  hoch 
gcmüete  wohl  verstanden  hätte  und  daher  nicht  zu  ändern 
brauchte.  Ich  schlage  vor  Hetelen  muot  der  höhe,  wo  ihm 
nur  die  Wortstellung  anstössig  war. 

Str.  592,2  1.  schaz  und  ouch  geicant;  denn  oach  weg- 
zulassen, ist  kein  Grund  und  die  gewöhnliche  Lesung  ouch 
schaz  und  geivant  gibt  einen  falschen  Vers.  Im  4.  Verse 
möchte  ich  die  Ergänzung  nicht,  wie  B.  durch  Verlegung 
von  3  Hebungen  auf  Küdrünen  versuchen,  sondern  lieber 
annehmen,  dass  vor  küniginne  em  Adjectiv,  wie  Mren  oder 
riehen  ausgefallen  ist. 

Str.  594,2  erde  unde  mer  hätte  ich  oben  zu  Str.  208,1 
noch  als  Beleg  für  meine  Conjectur  anführen  sollen. 

Str.  599,4  halte  ich  die  Briefe  für  einen  Zusatz  des 
Schreibers  und  vermuthe: 

e  duz  sie'z  wol  mohten  vollebringen. 

Str.  605,4  möchte    ich,    weil    der  dritte  Vers  auch  mit 
sie  anfängt,  und  weil  das  zweite  ze  überflüssig  ist,  lesen: 
sus  kämen  sie  ze  hove  dem  künige  so  sie  aller  beste  künden. 

Str.  606,4.  Man  könnte  das  Ueberlieferte  hier  wohl 
unangetastet  lassen  und  durch  Umstellung  helfen: 

käme  Hetele,  iväen,  Hartmüote  I  iht  guötes  willen  wdere 
noch  verjache 


372       Sitzung  der  philos.-phüöl.  Classe  vom  9.  November  1867. 

Str.  619,1, 2    1.     Swie   der    helt    gebarte,    sivas   loten 
drumbe  reit, 
das  man  der  da  värte,   das  was  im 
grimme  leit. 
Str.  626,3  1.  der  ir  in  herzen  gerte. 
Str.  631,2,31.  haete  er  tusend  stunde  eins  tages  dar  gesant, 

er  vünde  da  niht  anders  u.  s.  w. 
Str.  632,1  1.  Hetele  bat  in  läsen  das  werben  um  sinlcint 

4  1.  das  im  schade  waere. 
Str.  642,2,  3  1.  da  waere  üngerne  gewesen  dar  vor 

Gudrunen  vater,  swieMene  er  doch  waere 

oder  wenn  man  lieber   einen   klingenden  Ausgang  hat,  vater 

der  Gudrunen.  Meine  Aenderung  bezweckt  einen  volleren  Satz. 

Str.  644,3  4 1.  Gudrun  diu  schoene  das  hete  s'ougemveide, 

der  helt  sie  dühte  biderbe. 
Str.  649,4.  Die  Lesart  der  HS.  ir  vater  vnd  dem 
gaste  sy  wünschte  des  sy  gedachten  in  beiden  wird  schwer- 
lich eine  erträgliche  Erklärung  zulassen.  ,.Sie  wünschte 
ihrem  Vater  und  ihrem  „Liebhaber  das,  woran  sie  beide 
gedachten".  An  was  dachten  sie  denn  sonst,  als  einander 
zu  erschlagen?  Das  war  ja  gerade,  was  Gudrun  nicht  wollte. 
Der  einzige  Ausweg,  den  sie  fand,  um  den  Streit  zu  scheiden, 
war  vielmehr,  dass  Vater  und  Geliebter  an  sie  dächten. 
Ich  schlage  daher  vor: 

do  es  diu  frouive  anders  mohte  niht  gescheiden, 
ir  vater  und  dem  gaste  siu  wünschte  das  sie  ir  gedachten 

beide 
was  nachher  auch  wirklich  geschieht,    da  sie  aus  Rücksicht 
auf  sie  (durch  der  frouwen  liebe)   vom  Kampfe  abstehen. 

Str.  651,4  1.  habende  si  die  sine  beste  mäge  oder  was 
mir  noch  viel  wahrscheinlicher  ist,  habe  die  sine  aller  beste 
mäge. 

Str.  654,2.     Die  HS.  hat  getswayet  mit  ir  muote,  was 


Hofmann:  Zur  Gudrun.  373 

die  Herausgeber  bis  auf  B.  stehen  Hessen,  der  in  für  mit 
setzte,  wodurch  die  Lesart  mnote  allerdings  besser  motivirt 
wird.  Allein  gerade  in  muote  liegt  der  Fehler,  denn  Gudrun 
war  nicht  zwiespältigen  Sinnes,  sie  wusste  im  Gegentheile 
sein-  bestimmt,  was  sie  thun  wollte  und  setzte  es  rasch  ins 
Werk.  Eine  viel  leichtere  Emendation  und  ein  sehr  passen- 
der Sinn  ergibt  sich,  wenn  wir  statt  muote  einfach  muoter 
lesen,  geziveiet  mit  einem  sin  heisst  bekanntlich  =  selbander 
mit  Jemand  sein,  und  nun  zeigt  sich,  dass  in  diesem  Verse 
eine  feine  und  wohlbegründete  Rücksicht  auf  die  Schicklich- 
keit, nicht  bloss  des  Mittelalters,  genommen  ist.  Unschick- 
lich wäre  es  für  Gudrun  gewesen,  unbegleitet  mit  dem 
Manne,  der  eben  noch  ihrem  Vater  im  Kampfe  auf  Leben 
und  Tod  gegenüber  gestanden,  Zwiesprache  zu  halten,  um 
ihm  ihre  Hand  anzubieten;  ganz  anders,  wenn  es  in  Gesell- 
schaft ihrer  Mutter  und  Damen  geschah.  Ich  lese  daher 
unbedenklich 

'Mit  hundert  siner  helde  gieng  er  da  ers  vant, 

gezweiet  mit  ir  muoter  von  Hegelingelant 

Gudrun  empfieng  in  mit  anderen  vrouioen, 

der  edele  ritter  guoter  moht  in  volliclichen  getrouwen. 
denn  niht    im  4.  Verse    muss    als   geradezu  sinnwidrig  aus- 
gestossen    werden ,    da    es   dem    ritterlichen  Herwig  ja  gar 
nicht   in  den  Sinn   kommen  konnte,  seiner  Sühne   bietenden 
Geliebten  zu  misstrauen, 

Str.  655,2  1.  daz  Herwiges  eilen  geliebet  sich  ir  sint. 
Str.  656,2.  Die  Verwandlung  des  handschriftlichen 
mich  in  iuch,  welche  V.  uud  ihm  folgend  B.  vornahmen, 
scheint  mir  ungerechtfertigt  und  der  Sinn  dadurch  weit 
weniger  passend,  als  mit  Beibehaltung  des  Ueberlieferten. 
Ettmüller  scheint  derselben  Ansicht  gewesen  zu  sein,  wenig- 
stens liegt  in  seiner  Emendation  durch  für  von  ungefähr 
angedeutet,  was  Plönnies  in  seiner  Uebersetzung  in  deutlicher 
und  wie  ich  glaube  richtiger  Umschreibung  sagt: 

[1867.  II.  3.]  25 


374      Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  9.  November  1867. 

„Hart  wars  von  Der  zu  hören,  um  die  ich  viel  gewagt." 
Str.  657,4  1.  holder  dann''  ich  iu  ivaere  ist  deheiniu  die 

ir  ie  gesähet, 
mayt  ist  Einschiebsel  des  Schreibers,  dem  entgieng,  dass 
sich  deheiniu  auf  vromve  zurückbezieht,  ich  iu  in  i'u  zu- 
sammenzuziehen, scheint  mir  in  dieser  Stelle  ganz  unzulässig, 
da  auf  ich  der  emphatische  Ton  liegt,  der  durch  die  Ver- 
kürzung nothwendig  verloren  gienge.  Dagegen  hindert  uns, 
um  den  Vers  richtig  zu  lesen,  Nichts,  auf  holder  schwebende 
Betonung  anzunehmen. 

Str.  658,4  1.  siu  truoc  in  in  ir  herzen. 

Zu  Gudrun  Str.  249,2  Heft  II.  S.  229  ist  die  Anmerkung  ganz 
zu  streichen.  Nachdem  mich  Hr.  Staatsrath  von  Hermann  darauf 
aufmerksam  gemacht,  dass  man  in  Amerika  ganze  Cypressenwälder 
zum  Schiffbau  abgehauen,  habe  ich  auch  im  Konrad  von  Megenberg 
(ed.  Pfeiffer  S.  319)  folgende  entscheidende  Stelle  gefunden:  des  cy- 
pressen  holz  ist  gar  guot  zuo  palken  in  Jcirchen  und  zuo  grözem  ge- 
päw  und  ist  gar  vest ,  also  daz  ez  gröz  und  swaer  pürd  mag  auf  ge- 
halten und  getragen. 

Derselbe  übergiebt: 

„Zeugnisse  über  Berthold   von  Regensburg". 

Roger  Bacon  (opera  quaedam  hactenus  inedita  Vol.  I. 
ed.  Brewer.  London  1859,  im  opus  tertium  p.  310)  spricht 
am  Schlüsse  des  Werkes  von  der  rechten  Weise  zu  predigen 
und  fährt  dann  fort: 

Quae  forma  praedicandi  non  tenetur  a  vulgo  theologo- 
rum,  sed  sunt  elongati  ab  ea  his  diebus.  Et  quia  praelati, 
ut  in  pluribus,  non  sunt  multum  instructi  in  thedlogia,  nee 
in  praedicatione ,  dum  sunt  in  studio,  ideo  postquam  sunt 
praelati,  cum  eis  incumbit  opus  praedicandi,  mutuantur  et 
mendicant  quaternos  puerorum,  qui  adinvenerunt  citriositatem 
infinitam  praedicandi,  penes  divisiones  et  consonantias  et 
concordantias  vocales,  tibi  nee  est  sublimitas  sermonis,  nee 
sapientiae  magnitiido,  sed  infinita  puerilis  stultitia  et  vdifi- 
catio  sermonum  Bei;  sicut  praeeipue  exposui  in  Peccato 
Septimo  studii  theologiae,  in  Opere  Secando,    et  in  Peccato 


Hof  mann:  Zu  Berthold  von  Regensburg.  375 

octavo  in  hoc  Opere  Tertio;  quam  curiositatcm  Deus  ipse 
auf  erat  ab  ecclesia  sua,  quia  nulla  utilitas  praedicationis 
potest  fieri  per  hunc  modum.  Sed  excitantur  audientes  ad 
omnem  curiositatcm  intellcctus,  ut  in  nullo  affectus  elevetur 
in  bonum  per  eos  qui  talibus  modis  utuntur  in  praedicatione. 
Sed  licet  vulgus  praedicantium  sie  utatur,  tarnen  aliqui 
modum  alium  habentes,  infinitem  faciunt  utilitatem,  ut  est 
Frater  Berthold us  Alemannus,  qui  solus  plus  facit 
de  utilitate  magnifica  in  praedicatione,  quam  fere 
omnes  alii  fratres  ordinis  utriusque. 

Ein  glänzenderes  Zeugniss  über  unseren  grossen  Prediger 
dürfte  wohl  das  gesammte  Mittelalter  nicht  aufzuweisen 
haben.  Gleichwohl  wird  es  durch  Umfang  und  Wichtigkeit  der 
Mittheilungen  noch  übertroffen  durch  das  des  italienischen 
Zeitgenossen  Salimbeue  de  Adam  in  dessen  Chronica  Or- 
dinis Minorum  (in  Monumeuta  historica  ad  provincias  Par- 
mensem  et  Placentinam  pertinentia  tom.  III.  Parmae  1857 
p.  325—  329).  Diese  Chronik  geht  von  1212—1287  und 
giebt  über  Berthold  den  ausführlichsten  Bericht,  der  bis 
jetzt  überhaupt  gefunden  worden  ist  und  sowohl  wegen 
seiner  Wichtigkeit  als  der  ohne  Zweifel  geringen  Verbreitung 
der  Monuuienta  in  Deutschland  einen  vollständigen  Abdruck 
verdient.     Beide  verdanke  ich  J.   v.  Döllinger. 

„I.  Nunc  ad  l'ratrem  Bertholdum  de  Alamannia 
accedamus.  Hie  fuit  ex  ordine  fratrum  Minorum  sacerdos 
et  praedicator,  et  honestae  et  sanetae  vitae,  sicut  religiosum 
decet:  Apocalypsim  exposuit,  ex  qua  expositione  non  scripsi, 
nisi  de  Septem  episcopis  Asiae.  qui  in  Apocalypsis  prineipio 
sub  angelorum  nomine  indueuntur,  et  hoc  ideo  feci  ad  cog- 
noscendum  qui  (sie)  non  fuissent  illi  angeli,  et  quia  exposi- 
tionem  abbatis  Joachym  super  Apocalypsim  habebam,  quam 
super  omnes  alias  reputabam.  Item  per  anni  circulum  fecit 
magnum  volumen  Sermoiium,  tarn  de  festivitatibus  quam 
de  tempore,  id  est  de  domiuicis  totius  anni;   ex  quibus  non- 

25* 


376      Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  9.  November  1867. 

nisi  duos  scripsi,  pro  eo  quod  optime  de  Antichristo  trac- 
tabat  in  illis.  Quorum  primus  sie  inchoabat;  Ecce  po Si- 
tus est  hie  in  ruinam,  alius  erat:  Ascendente  Jesu  in 
naviculani,  secuti  sunt  eum  diseipuli  ejus:  in  quibus 
plenissime  continetur  tarn  de  Antichristo,  quam  de  tremendo 
judicio.  Et  nota  quod  frater  Bertholdus  praedicandi  a  Deo 
gratiam  habuit  specialem;  et  dieunt  omnes,  qui  eum  audi- 
verunt,  quod  ab  apostolis  usque  ad  dies  nostros.  in  lingua 
theotonica  non  fuit  similis  illi. 

II.  Hunc  sequebatur  multitudo  magna  virorum  et  mu- 
lierum,  aliquando  sexaginta  vel  centum  millia,  aliquando 
civitatum  plurium  simul  maxima  multitudo,  ut  audirent  verba 
melliflua  et  salutifera,  quae  procedebant  ex  ore  ejus  .... 
Hie  ascendebat  bettefredum  sive  turrim  ligneam  quasi  ad 
modum  campanilis  faetam,  qua  pro  pulpito  in  campestribus 
utebatur  quando  praedicare  volebat,  in  cujus  etiam  cacu- 
mine  ponebatur  pennellus  ab  his  qui  artinciiyn  collocabant, 
ut  ex  vento  flaute  cognosceret  populus  in  qua  parte  ad 
melius  audiendum  se  ad  sedendum  collocare  deberet.  Et, 
mirabile  dictu,  ita  audiebatur  et  intelligebatur  a  remotis  ab 
eo  sicut  ab  his  qui  juxta  eum  sedebant;  nee  erat  aliquis  qui 
a  praedicatione  sua  surgeret  et  recederet,  nisi  praedicatione 
finita.  Et,  cum  de  tremendo  judicio  praedicaret,  ita  treme- 
bant  omnes,  sicut  juneus  tremit  in  aqua:  et  rogabant  eum 
amore  Dei  ne  de  tali  materia  loqueretur,  quia  eum  audire 
terribiliter    et  horribiliter  gravabantur. 

III.  Quadam  die,  dum  in  quodam  loco  frater  Berthol- 
dus praedicare  deberet,  aeeidit  ut  quidam  bubulcus  dominum 
suum  rogaret  ut  ad  praedicationem  fratris  Bertholdi  audien- 
dam  eum  amore  Dei  ire  permitteret.  Cui  dominus  suus 
respondit:  ego  ad  praedicationem  ibo,  tu  vero  ibis  ad  agrum 
ad  arandum  cum  bobus  .  .  .  Cum  autem  bubulcus  quodam 
die  summo  dilueulo  arare  inchoasset  in  agro,  mirabile 
dictu!    statim    primam   vocem    fratris  Bertholdi  praedicantis 


Hofmann:  Zu  Berthold  von  Begensburg.  377 

audivit,  qui  illo  die  per  triginta  milliaria  distabat  ab  eo; 
et  statim  bubulcus  boves  disjunxit  ab  aratro  ut  boves  corne- 
derent,  et  ipse  sedendo  pruedicationem  audiret.  Et  facta 
sunt  ibi  tria  miracula  relatu  dignissima:  prinmm ,  quia 
audivit  eum  et  intellexit,  cum  ita  reniotus  esset  et  per  tri- 
ginta milliaria  distaret  ab  eo;  secundum,  quia  totain  pruedi- 
cationem didicit  et  memoriter  tenuit,  tertium,  quia  tantum 
aravit,  praedicatione  finita,  quantum  aliis  diebus  continue 
arare  solebat.  Cum  autem  bubulcus  postea  a  domiuo  suo 
de  praedicatione  fratris  Bertholdi  requireret,  et  ille  eam 
nesciret  repetere,  eam  totaliter  bubulcus  repetiit,  addens 
quod  eam  totam  audivisset  et  didicisset  in  agro.  Tunc  do- 
minus suus,  cognoscens  hoc  ex  miraculo  accidisse,  dedit 
bubulco  plenariam  libertatem  ut,  quotienscumque  vellet,  ad 
praedicationes  fratris  Bertholdi  audiendas  libere  posset  ire 
quantumcumque  servile  opus  facienduin  instaret. 

IV.  Erat  autem  consuetudo  fratris  Bertholdi  ut,  modo 
in  ista  civitate,  modo  in  alia,  praedicationes  quas  facere 
intendebat,  diversis  temporibus  ordinaret  et  locis,  ut  popu- 
lus,  qui  conveniebat,  sine  defectu  victualia  posset  habere. 
Quodam  autem  tempore  quaedam  nobilis  domina,  magno  et 
ferventi  desiderio  inflammata  audiendi  praedicantem  fratrem 
Bertholdum,  eum  per  sex  annos  continuos ,  per  civitatis  et 
castra  cum  quibusdam  suis  sodalibus  ....  (man  ergänze 
pro  habenda  indulgentia  secuta)  cum  eo  potuit  habere  se- 
cretum  et  familiäre  colloquium.  Cum  autem  finitis  sex  an- 
nis,  et  finitis  et  consumptis  suis  expensis,  in  festo  assump- 
tionis  beatae  Virginis  cum  sodalibus  suis  non  haberet  domina 
illa  quid  comedere  posset,  accessit  ad  fratrem  Bertholdum, 
et  haec  omnia  quae  dicta  sunt ,  per  ordinem  retulit  sibi. 
Quae  cum  omnia  frater  Bertholdus  audisset ,  misit  eam  ad 
quemdam    campsorem *) ,     qui    inter    omnes    civitatis    illius 


1)  D.  h.  Wechsler,  Bankier. 


378       Sitzung  der  philos.-phüol.  Gasse  vom  9.  November  1867. 

ditior  habebatur,  imponens  ei  ut  ex  parte  sua  diceret  sibi 
quod  daret  ei  tot  denarios  pro  victualibus  et  expensis, 
quantum  valebat  una  dies  indulgentiae ,  pro  qua  babenda 
fuerat  sex  annis  fratrem  Bertbolduni  secuta.  Quod  cum 
audisset  campsor,  subrisit  et  dixit:  et  quornodo  scire  potero 
quantum  valeat  indulgentia  diei  unius,  quo  fratrem  Berthol- 
dum  secuta  fuistis  ?  Cui  illa  respondit :  dixit  mihi  ut  di- 
cerem  vobis,  quod  poneretis  denarios  ex  una  parte  in  scu- 
tellam  staterae,  et  ego  in  alteram  scutellam  sufflarem ,  et 
hoc  signo  poteritis  cognoscere  quantum  valet.  Posuit  igitur 
denarios  larga  manu  et  implevit  scutellam  staterae;  ipsa 
vero  insufflavit  in  alteram,  et  statim  praeponderavit,  et 
denarii  subito  sunt  elevati,  acsi  conversi  fuissent  in  plumeam 
levitatem.  Quod  videns  campsor,  miratus  est  vehementer, 
et  pluries  ac  pluries  denarios  ex  parte  sua  supraposuit  in 
statera,  nee  sie  potuit  flatum  dominae  elevare,  quia  tanto 
pondere  eum  fixit  Spiritus  Sanctus,  ut  scutella  lanceae,  quae 
erat  ea  parte  dominae  plena  flatu,  elevari  denariorum  pon- 
derositate  nullatenus  posset.  Qaod  videntes  tarn  campsor, 
quam  dornina  et  aliae  mulieres  quae  erant  praesentes,  statim 
venerunt  ad  fratrem  Bertholdum ,  et  ei  per  ordinem  quae 
aeeiderant,  retulerunt.  Cui  etiam  dixit  campsor:  paratus 
sum  restituere  aliena  et  amore  Dei  propria  pauperibus  ero- 
gare, et  desiderio  [lies  desidero]  effici  bonus  homo ,  quia 
revera  mirabilia  vidi  hodie.  Cui  frater  Bertholdus  imposuit 
ut  illi  dominae ,  cujus  occasione  ista  viderat ,  et  soeiis  suis 
victualia  tribueret  larga  manu.  Quod  diligenter  et  liben- 
tissime  adimplevit  ad  laudem  domini  nostri  Jesu  Christi,  cui 
est  gloria  et  honor  in  saecula  saeculorum,  amen. 

V.  Alio  quodam  tempore,  cum  frater  Bertholdus  per 
quamdam  viam  cum  fratre  layco  socio  advesperascente  jam. 
die  transiret ,  captus  est  ab  assassinis  cujusdam  castellani 
et  duetus  ad  castrum  et  nocte  illa  incatenatus  et  male  ho- 
spitatus    servabatur    ibidem.     Castellanus    vero    usque   adeo 


Hofmann:  Zu  Berthold  von  Regensburg.  '  379 

concives  suos  offenderat,    ut  cjin  palatio  Communis  depictus 
esset,  quali  poena,   si  caperetur,    puniri  deberet,    scilicet  ad 
suspendium  judicatus.     In  crastinum  autem    circa  diluculum 
accessit  magister  carnifex  ad  castellanum  dominum  suum  et 
dixit  ei:    quid  jubet  dominium    vestrum  ut  fiat  de  fratribus 
illis,  qui  heri  sero  ducti  fueruut    ad    nos?     Cui    castellanus 
dixit:  ,,quod  expedias  eos".  quod  erat  dicere:  interfice  eos . . 
Sic  erat  de  castellano    isto    et  assasinis   suis,     qui    aliquos 
praedabantur,  aliquos  interficiebant,    aliquos    vero    ducebant 
ad  castrum  et  ponebant  in  carcere.  quousque,  pecunia  data, 
redimi    possent ;    alios   interficiebant    omnino.     Cum    autem 
frater  Bertholdus  dormiret  et  socius  suus  frater  laycus  vigi- 
laret,    qui    matutinum    suum     dicebat   et   sententiam  mortis 
super  se  a  castellano  datans   intellexisset,  eo  quod  non  esset 
inter  utrosque  nisi  paries  intermedius,    coepit    frater   laycus 
fratrem  Bertholdum  pluribus  vicibus  inclamare.    Cum  autem 
castellanus  nomen  fratris  Bertholdi  audiret,    coepit   cogitare 
ne  forte  iste  famosus  ille  praedicator  esset,     de    quo    mira- 
bilia  dicebantur;    et    statim    revocato  carnifice  praecepit  ei, 
ne  laederet  fratres,    sed  ante  conspectum  suum  duceret  eos. 
Qui  cum  perducti  fuissent,    interrogati    sunt    ab  eo ,    quibus 
nominibus  vocarentur.     Cui  frater  laycus  respondit;    nomen 
meum  tale  est;    iste  vero  est  frater  Bertholdus,    famosus  et 
gratiosus    ille    praedicator,     per   quem    Deus    tot    mirabilia 
operatur.     Cum    autem  castellanus   talia    audivisset,    statim 
prostravit    se    ad   pedes   fratris    Bertholdi    et  amplexatus  et 
osculatus  est  eum :  insuper  rogavit  eum  ut  amore  Dei  ipsum 
praedicantem   audiret,    quia   ex  multo    tempore  desiderabat 
ab   eo  verbum  salutis   audire.     Cui  frater   Bertholdus   con- 
sensit  hoc  pacto,  quod  omnes  malefactores ,  quos  secum  ha- 
bebat in  Castro,  ante  suum  conspectum  congregaret  in  unum 
ut  omnes  simul  praedicationem  audirent :    quod    ille  libenter 
se  facturum  proniisit.  Dum  igitur  castellanus  suos  maleficos 
congregaret,    et    frater  Bertholdus    aliquantulum   secessisset 


380       Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  9.  November  1867. 

ad  dominum  exorandum ,  accessit  ad  eum  socius  suus  et 
dixit  ei:  noveritis,  frater  Bertholde,  quod  super  nos  mortis 
sententia  ab  isto  nomine  data  fuit,  quapropter,  si  umquam 
bene  praedicastis  de  poenis  infernalibus  et  de  gloria  para- 
disi,  nunc  tali  magisterro  indigetis.  Audiens  haec  frater 
Bertholdus  totum  se  contulit  ad  rogandum  Deum,  et  reversus 
denuo  illis  congregatis  ita  splendide  peroravit  et  verbum 
salutis  proposuit,  ut  omnes  amarissime  provocarentur  ad 
flendum,  et,  antequam  inde  recederet,  omnes  in  confessione 
audivit  et  praecepit  eis,  ut  a  Castro  illo  discederent  et  male 
ablata  restituerent,  et  toto  tempore  vitae  suae  in  poenitentia 
perseverarent  et  sie  vitam  aeternam  haberent.  Castellanus 
vero  prostravit  se  ad  pedes  fratris  Bertholdi  et  cum  multis 
lacrymis  rogavit  eum,  ut  amore  Dei  eum  ad  ordinem  beati 
Francisci  reeipere  dignaretur :  qui  reeepit  eum ,  sperans 
quod  a  ministro 2)  hanc  gratiam  obtineret.  Cum  autem 
fratrem  Bertholdum  sequi  vellet,  prohibuit  eum  frater  Ber- 
tholdus propter  furorem  populi  quem  offenderat,  et  [qui]  de 
conversione  ejus  nihil  audiverat.  Cum  autem  pervenisset  ad 
civitatem  frater  Bertholdus,  voluit  ipsum  populus  praedi- 
cantem  audire  et  congregati  sunt  omnes  in  glarea  cujusdam 
fluminis,  ubi  e  regione  pulpiti  latrones  in  furcis  pendebant. 
(Cum  talia  audis,  pone  tibi  exemplum  glaream  fluminis  Reni 
de  Bononia  d.  h.  stelle  dir  den  Sand  am  Reno  in  Bologna 
vor)  Castellanus  igitur  supradictus  post  discessum  fratris 
Bertholdi  inflammatus  amore  divino  et  attractus  desiderio 
audiendi  fratrem  Bertholdum,  oblitus  est  omnium  malorum 
quae  umquam  intulerat  civitati,  et  veniens  solus,  ut  iret  ad 
locum  ubi  praedicabatur ,  statim  fuit  cognitus  et  captus  et 
sine  mora  ad  suspendium  duetus.  Currebant  autem  omnes 
post    ipsum    clamantes    et  dicentes :     suspendatur  et  morte 


2)  minister  ist  entweder  generalis  (Ordensgeneral)    oder  provin- 
ciae  (Provincial). 


Hof  mann:  Zu  Berthold  von  Regensburg.  381 

turpissima  moriatur  iste  pessimus  inimicus  noster  .  .  Cum 
autem  videret  frater  Bertboldus  populum  concurrentem  et  a 
praedicatione  sua  recedentem,  miratus  est  valde  et  dixit: 
numquam  aecidit  mihi  quod  aliquis  a  praedicatione  niea 
recederet,  nisi  praedicatione  finita  et  benedictione  accepta. 
Cui  unus  de  residentibus  dixit :  pater,  non  niireinini  ex  hoc, 
quia  captus  est  talis  castellanus,  qui  erat  noster  pessimus 
inimicus,  et  ducitur  ad  suspendium.  Audiens  hoc  frater 
Bertholdus,  totus  contremuit  et  cum  dolore  dixit:  noveritis 
quod  confessionem  ejus  audivi  et  omnium  sociorum  suorum, 
quos  misi  ut  poenitentiam  facerent;  et  istum  ad  ordinem 
beati  Francisci  receperam,  et  modo  veniebat  ut  me  prae- 
dicare  audiret:  quapropter  curramus  omnes  et  liberemus 
eum.  Coeperunt  igitur  omnes  velociter  currere;  cumque 
pervenissent  ad  furcas,  jam  erat  tractus  superras  et  expira- 
verat.  Depositus  est  igitur  ad  jussum  fratris  Bertholdi,  et 
invenerunt  chartam  circa  Collum  ejus  aureis  litteris  scriptam 
et  hanc  scripturam  habentem :  Consummatus  in  brevi  ex- 
plevit  tempora  multa;  placita  enim  erat  Deo  anima  ejus: 
propter  hoc  properavit  educere  illum  de  medio  iniquitatum. 
Sap.  IV.  Tunc  misit  frater  Bertholdus  ut  venirent  fratres 
Minores  de  conventu  civitatis  illius  et  portarent  crucem, 
feretrum  et  habitum  et  viderent  et  audirent  mirabilia  Dei. 
Et  factum  fuit  ita  et  retulit  eis  et  omnibus  totam  hystoriam 
supradictam,  et  portaverunt  corpus  ejus  et  honorifice  sepe- 
lierunt  illud  in  loco  fratrum  Minorum,  laudantes  Dominum 
qui  talia  operatur. 

Hier  schliesst  leider  Salimbenes  Bericht,  der  ausführ- 
lichste und  in  seiner  Art  merkwürdigste,  den  das  Mittelalter 
uns  überliefert  hat.  Der  gute  Minorit  von  Parma  (er  ver- 
abscheute diese  seine  Vaterstadt  wegen  ihres  gottlosen  Be- 
nehmens gegen  die  Mönche  und  die  Diener  Gottes  überhaupt 
so  sehr,  dass  er  in  den  48  Jahren  seines  Mönchthums  nicht 
ein  einziges  Mal  dort  wohnen  mochte,  vgl.  p.  353)  ist  eben 


382       Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  9.  November  1867. 

kein  grosser  Geist;   hat    aber   eine    so  belehrende    und  an- 
ziehende Chronik  geschrieben,    wie   nur  irgend  einer  seiner 
Zeitgenossen.     Er  kümmert  sich  um   sehr  kleine  Dinge;    so 
erzählt    er    S.  222,    dass    im   Jahre  1250  ein  Cardinallegat 
aus  dem  (mit  dem  seinigen  rivalisirenden    und   von    ihm  an 
manchen  Stellen  angestochenen)  Dominikanerorden,  ein  junger 
und    spindeldürrer    Mensch    (juvenis    et    macilentinus)     den 
Damen    durch    das    Verbot   der    überlangen    Schleppkleider 
(caudae  mulierum,    mhd.    swanz)    grossen    Verdruss    bereitet 
habe,    im  Jahre  1285  eine  schreckliche  Epidemie  unter  den 
Katzen  gewesen  sei,  anno  so  und  so  dagegen  die  Flöhe  besonders 
überhand  genommen  hätten.     Wunder-  und  Teufelsgeschich- 
ten berichtet  er  mit  Vorliebe    und    so    darf  uns  denn  nicht 
überraschen ,    wenn    der   grösste  Theil  dessen ,    was    er   von 
unserem  Berthold    zu   sagen    weiss ,    auch    schon  so  weit  in 
das  Gebiet  der  Wunderlegende  streift,  dass  es  aller  Forsch- 
ung schwer  fallen  wird,  den  historischen  Kern  von  der  Ein- 
kleidung zu  sondern.     Gleichwohl   bleibt    sein  Bericht   auch 
nach  Abzug  alles  Wunderhaften  einzig  und  unschätzbar  durch 
die  Fülle    der   Einzelheiten,    die  Lebendigkeit  der  Schilder- 
ung   und   endlich  besonders    dadurch,    dass    es   gerade    ein 
Italiäner  ist,  der  mit  so  begeistertem  Schwünge  von  seinem 
gefeierten  ultramontanen  Ordensbruder  spricht.  Geistig  steht 
freilich  Roger  Bacons  Zeugniss  noch  höher,  der  von  Berthold 
ohne  alle  Ordensrücksichten  geradezu  sagt,    er  leiste  in  der 
wahren    und    rechten   Predigtkunst   mehr,    als   beinahe    alle 
Dominicaner  und  Franciscaner  zusammen ;    denn   es  ist  das 
Zeugniss    eines   umfassenden    und    tiefdenkenden    Gelehrten, 
dessen   überraschend   scharfer   und    klarer   Blick    in    vielen 
Dingen,    die   wir    als  die  Domäne  der  neueren  Wissenschaft 
betrachten,    auf  so  manchen  Seiten    seiner    bisher  unedirten 
Werke   in  Erstaunen  setzt.     So  verdanken   wir  ja    ihm   die 
merkwürdige  Stelle    über   die  Eintheilung   der   französischen 
und  englischen  Mundarten  (Opera  inedita  p.  438,  439,  467). 


Hof  mann:  Zu  Berthold  von  Eegensburg.  383 

Und    auch    für    die    europäische    Beiühmtheit    Bertholds  ist 
Bacons  Zeugniss  höher  anzuschlagen,    da  bei  den  Verkehrs- 
verhältnissen   des  13.  Jahrhunderts    ein  Bekanntwerden    von 
Oberdeutschland    aus    in    Oxford    unendlich    schwieriger    ist, 
als    im    benachbarten  Oberitalien,    wo    der    deutsche  Kaiser 
Herr  war    und  die  deutsche  Sprachgränze    viel    tiefer   nach 
Süden  gieng,  als  wir  heutzutage  uns  vorstellen  können,  wo 
die  italienische  Sprachgränze  uns  durch  die  selbstmörderische 
Indolenz  der  zum  Schutze  deutscher  Mark  im  Südosten  Be- 
rufenen und  Verpflichteten  uns  Deutschen  im  Reiche  täglich 
näher  auf  den  Leib  rückt  und  rücken  wird,    so  lange  jedes 
Wehen  deutschen   Geistes    von    den  Machthabern    im  Alpen- 
lande  als  Pesthanch    der  Häresie  verpönt  und    nach   besten 
Kräften    exorcisirt    wird.      Salimbene    selbst    giebt    uns    in 
seiner  Franziskanerchronik,    ohne    daran    zu  denken ,    einen 
höchst    schätzbaren     Wink     über    die    Fortdauer    deutscher 
Zunge    in  Bergamo  in  Mitte    des  langobardischen  Alpenvor- 
landes zwischen    den  Seen    von  Como    und  Iseo,   somit  weit 
westlich  von  Vicenza's  vielgenannten  deutschen  Sprachinseln. 
Salimbene  also    berichtet    unter    dem  Jahre  1287.     Quid  am 
homines  de  Bergamo,  de  maioribus  civitatis  suae,  propter 
hon/ieidium,  quod  fecerant,  fuerunt  de  civitate  sua  forbanniti 
et  positi  in  confinibus  sempiternis  sine  spe  ulterius  redeundi. 
Cum  ergo  Beginnt    (Beggio    zwischen  Parma    und    Modena) 
devenissent,   petierunt  a    Comnnmi   Begino    locum ,    in    quo 
possent  habitare  securi.     Begini  rero  hanc  eis  gratiam  con- 
cesserunt,  ut  cireuirent  tot  um  episcopatum  eorum  et  tibi  in- 
venirent    locum  non  ab  aliis  oecupatum  et  ydoneum  sibi,  ibi 
suam  munitionem  construerent  et  habitarent;   et  sie  fecerunt 
roketam,  qaae  ab  eis  dieta  est  Tiniberga.  Wenn  verbannte 
bergamaskische  Patrizier  dieses  roketa  (Bei  gschloss),   10  Meilen 
von   Ueggio  und  eiue  Meile  von  Sassolo  (Saxolo),  wie  Salim- 
bene   ebenda  S.   394  ff.  weiter  ausführt,  mit  einem  offenbar 
deutschen  Namen  belegen  konnten,  so  liegt  die  Vermuthung 


384       Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  9.  November  1867. 

wohl  unabweislich  nahe,  dass  sie  selbst  Deutsche  gewesen; 
denn  ein  Wort  wie  Tiniberga  für  ein  schon  im  Italienischen 
eingebürgertes  deutsches  zu  halten,  geht  kaum.  Tiniberganun, 
wenn  wir  uns  an  den  Wortlaut  halten,  wäre  zunächst  aus  alt- 
hochdeutschem Unna,  mittelhochdeutschem  tinne  Stirne,  Zinne 
abzuleiten  und  hiesse  so  viel  als  Zinneberg.  Allein  es  ist 
auch  möglich,  dass  der  Abschreiber  hier  gefehlt  und  das 
Wort  liniberga  vor  sich  gehabt,  welches  im  Ahd.  hinlänglich 
oft  vorkömmt  und  einen  guten  Sinn  an  unserer  Stelle  geben 
würde.  Es  steht  bei  Graff  III.  174  und  heisst  fulcrum, 
pinnaculum,  reclinatorium,  cancelli,  also  ein  eingeschlossener 
Ruhe-  oder  Zufluchtsort;  gewiss  ein  passender  Name  für 
das  Felsennest  der  verbannten  Bergamasken.  Verschreib- 
ungen  dieser  Art  finden  sich  auch  sonst,  so  in  dem  weiter 
unten  zu  erwähnenden  Stücke  in  Versen  JEstuans  intrinsecus 
Strophe  7,  Vers.  4  Älachie  für  Alethiae  (vgl.  Carmina  JBu- 
rana  Nr.  172  Str.  9,  wo  ebenso  unrichtig  Galatiae  steht). 
(An  einer  andern  Stelle  steht  in  bibliotheca,  wo  offenbar  in 
biblia  tota  das  Richtige  ist.) 

Ich  habe  mich,  natürlich  bemüht,  über  die  Mittheilungen 
Salimbenes  nähere  Aufschlüsse  zu  gewinnen  und  wo  ge- 
druckte Werke  solche  nicht  ergaben ,  zu  Schindlers  Real- 
katalog, der  im  25.  Cahier  Blatt  59 — 80  von  Berthold  han- 
delt, meine  Zuflucht  genommen,  sowie  zu  seinen  so  überaus 
wichtigen  Initien.  Bis  jetzt  habe  ich  das,  was  ich  zunächst 
suchte ,  nicht  gefunden ,  nämlich  die  beiden  Predigten  über 
den  Antichrist  und  den  Commentar  über  die  Apokalypse. 
Die  Bibliothek  der  Franziskaner  in  Regensburg  enthielt 
zwar,  wie  Sanftls  Catalog  angiebt,  einen  solchen  Commentar, 
aber  ohne  Angabe  des  Verfassers.  Dagegen  habe  ich  bei 
Durchgehen  der  Schmeller'schen  Blätter  einiges  gefunden, 
was  den  Spezialforschern  auf  diesem  Gebiete  vielleicht  ent- 
gangen sein  dürfte.  Erstens  eine  authentischere  Quelle  über 
seinen  Todestag,    als  die  bisherigen,    nämlich   das  Todten- 


Hofmann:  Zu  Berthold  von  Regensburg.  385 

buch  des  Franziskanerklosters  in  Regensburg,  wo  Berthold 
gestorben  ist.  Es  findet  sich  in  der  Münchner  Hof-  und 
Staatsbibliothek  Ulm.  13030  (Cim.  4)  und  wird  nächstens 
von  Hrn.  Reichsarchivsfunctionär  Primbs  in  den  Schriften 
des  historischen  Vereines  von  Regensburg  herausgegeben 
werden.     Der  Eintrag  lautet: 

XIX.  K.  J  (14.  Dcc.)  0.  fr.  perhtold»  magn*  ~]>äi- 
cator.  M.CCLXX11.  Am  Rande  sein  Miniaturbild  knieend 
und  betend.  In  demselben  Todtenbuche  stehen  auch  seine 
Schwester  und  sein  Schwager. 

6  Jd.  Junij  0.  Elisahet  sechsin  soror  fris  perch- 
toldi  a°.  d.  1.  2.  93. 

I).  V.  J.  Oct.  Item  öbitus  Merkelini  Saxonis  qui 
hdbuit  sororem  fratris  Perchtoldi  magni  predicatoris  a.  d. 
1.  2.  82. 

Demselben  Gelehrten  verdanke  ich  noch  folgende  Mit- 
theilungen. 

,,Das  antiquum  mortiloyium  der  Franziskaner  in 
München  (Cod.  bav.  755  IL  pag.  143)  gedenkt  seiner  unter 
dem  14.  Dec.  Fratcr  Bertlioldus  doctor  gentium  in  Eatis- 
%iona.  Ebenda  wird  auch  seines  Lehrers  Frater  David  in 
Augusta  am   15.  November  gedacht. 

Das  Necrologium  des  Klosters  S.  Clara  am  Anger  in 
München  (Cod.  4,)  gleichfalls  am  14.  Dec.  1272.  Frater 
Bertlioldus  doctor  gentium  in  ratispona. 

Die  Neurologien  von    S.  Clara    und    den  Franziskanern 
in   München    wurden    von    Herman    Sack,     Gardian    des 
letztern  circa  1404  angefertigt.     Die   Necrologien  der  Fran- 
ziskaner in  Kelheim  und  Nürnberg,    sowie  Landshut   haben 
-  seinen  Todestag  nicht1'. 

Von  Bruder  Berthold  war  die  Rede  in  einem  Perga- 
ment-Codex der  Heilsbronner  Bibliothek ,  welcher  leider 
nicht  mit  in  die  Erlanger  gekommen  und  dessen  jetziger 
Aufenthalt  mir   unbekannt   ist.     M.  Job..   Lud.    Hocker    in 


386        Sitzung  der  philos.-fhilol.  Classe  vom  9.  November  1867. 

seiner  Bibl.  Heilsbr.  Norib.  1731.2°  p.  35  giebt  darüber 
folgendes:  (302)  Opera  fratris  Bertholdi  s.  Extravagantes 
Busticani.  fol.  Sermones  hie  continentur  CCXCVII1.  prae- 
fixa  habentes  primo  Prologum  fratris  Heinrici  tmjusdam 
monachi,  quo  operose  Bertholdum  commendat  atqiie  ab  aemu- 
lis  Busticani  nomen  ipsi  impositum  vindicat;  deinde  tripli- 
cem  indicem  u.  s.  w.  Es  wäre  vor  Allem  dieser  Hand- 
schrift und  dem  Prolog  des  Frater  Henricus  nachzuforschen. 
Unsere  Hof-  und  Staatsbibliothek  besitzt  nun  einen  Codex 
von  S.  Emmeram,  Saec.  XIV.  (Cod.  lat.  14093)  mit  dem 
Titel  Sermones  qui  dieuntur  rusticani  de  Saudis  per  circu- 
lum  anni,  318  Blätter  in  4°.  Am  Schlüsse  steht  roth: 
Iste  Über  est  fratris  Hermanni  de  ordine  fratrum  minorum. 
Dann  schwarz  die  Verse: 

Magni  praelati  liber  explicit  atque  beati 
De  Vriberch  lati  nuper  et  bene  morierati. 
Ein  Blatt  von  HoheneichersHand  (Rep.  25/61  bemerkt: 
Auetor  est  Bertholdus  Batisbonensis ,  Ordinis  Minorum. 
Sanftl  in  seinem  berühmten  Cataloge  der  S.  Emmeramer 
Bibliothek  (IH  1540)  (ihm  hat  Hoheneicher  seine  Notiz  ent- 
nommen), bemerkt  zu  demselben  Codex:  Sermones  qui  di- 
euntur rusticani  etc.  Auetor  est  Bertholdus  Batisbonensis 
vide  Kobolt  Baier.  Gel.  Lex.  p.  86.  In  Catalogo  Codd. 
Mss.  Bibliothecae  fratrum  Minorum  Batisbonae,  quem  supra 
pag.  1020  retidi,  notatur:  Nota  de  Busticano  novo  et 
antiquo,  scilicet  fratris  Pertholdi,  welcher  Eintrag 
sich  denn  auch  richtig  am  angegebenen  Orte  des  SanftP- 
schen  Catalogs  ohne  weiteren  Zusatz  findet.  Im  Original- 
Catalog,  welchen  Sanftl  abgeschrieben  und  der  sich  eben- 
falls noch  auf  unserer  Bibliothek  befindet,  (Em.  B.  XX.) 
heisst  es  No  de  Busticano  nouo.  et  antiq.  s.  fris.  phtoldi. 
Die  Codices  der  Regensburger  Franziskaner  sind  nicht  alle 
in  die  hiesige  Staats-,  aus  der  Regensburger  Stadtbib- 
liothek übergegangen,    wo  nun  weitere  Nachforschungen  an- 


Hofmann:  Zu  Berthold  von  Begensburg.  387 

zustellen  sein  werden.  Den  hiesigen  Codex  der  Sermones 
Rusticani  habe  ich  bis  jetzt  noch  nicht  durchlesen  können, 
enthalte  mich  also  hier  vorläufig  jeder  weitem  Bemerkung  und 
Vermuthung.  Dagegen  kann  ich  das  folgende  Werl>  nicht  nur 
anführen  und  dabei  Hockers  Bemerkungen  wiederholen,  son- 
dern es  liegt  mir  durch  die  gefällige  Güte  der  Vorstände 
der  hiesigen  Staats-  und  der  Erlanger  Universitätsbibliothek 
der  Codex  selbst  vor.  Die  Pergamenthandschrift,  welche  bei 
Hocker  die  Nummer  384,  in  der  Erlanger  Bibl.  407  trägt, 
enthält  Sermones  ad  religiosos.  Auf  dem  5  Blatte  findet 
sich  die  Rubrik,  in  welcher  der  Name  des  Verfassers  der 
Predigten  genannt  ist,  den  Hocker  Bertholdi,  Irmischer  da- 
gegen im  Cataloge  der  Erl.  Hss.  S.  118  (Nr.  407)  Gerholdi 
las.  Beide  haben  falsch  gelesen ;  aber  der  Grund,  weshalb 
zwei  so  tüchtige  und  achtbare  Gelehrte  in  ihrer  Deutung 
des  Wortes  so  weit  auseinander  gehen  konnten,  ist  paläo- 
graphisch  so  interessant,  dass  ich  ihn  näher  besprechen 
muss,  so  weit  diess  ohne  Facsimile  möglich  ist.  In  der 
Handschrift  selbst  steht  nämlich  unzweifelhaft  berholdi.  er 
ist  oben  rechts  am  b  durch  einen  Hacken  abbrevirt,  der 
von  oben  nach  unten  geht,  und  den  Irmischer  für  den 
oberen  Zug  eines  grossen  G  hielt,  welcher  Zug  aber  in  der 
HS.  sich  nicht  in  vertikaler,  sondern  in  horizontaler  Richt- 
ung schlingt.  Nachdem  Irmischer  das  b  mit  seinem  abbre- 
virten  er  für  G  genommen  hatte,  musste  er  nun  auch  die 
Abkürzung  für  er  suchen,  denn  sonst  hätte  das  Wort  Gholäi 
gelautet.  Er  fand  sie  in  dem  Häckchen,  mit  welchem  h 
oben  ansetzt  und  welches  gerade  so  aussieht,  wie  der  An- 
fang der  gewöhnlichen  Abkürzung  für  er.  Um  aber  wirklich 
die  Abkürzung  er  zu  sein,  müsste  das  Häckchen  für  sich 
stehen  und  dürfte  nicht  den  obern  Anfang  des  folgenden  h 
bilden.  Leider  sind  von  der  Hand  des  Rubricators  sonst 
zu  wenige  Einträge  vorhanden,  um  die  Frage  mit  absoluter 
Sicherheit  entscheiden  zu  können,  namentlich  findet  sich  kein 


388        Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  9.  November  1867. 

zweites  G  und  kein  zweites  h.  Irmischers  Lesung  erklärt 
und  rechtfertigt  sich  nach  allem  Gesagten  sehr  leicht,  wäh- 
rend Hocker  einfach  berholdi  gelesen  und  das  t  als  selbst- 
verständlich hinein  ergänzt  haben  wird.  Ich  selbst,  meiner 
eigenen  Erfahrung  misstrauend,  habe  vier  der  geübtesten 
hiesigen  Handschriftenleser  zu  Rathe  gezogen.  Einer  davon 
las  Gerholdi,  die  drei  andern  unbedenklich  berholdi,  was 
also  für  jetzt  die  Majorität  für  sich  hat.  Der  Name  Ber- 
hold  scheint  auch  nicht  vorzukommen,  wenigstens  findet  er 
sich  nicht  bei  Förstemann. 

Die  ganze  Rubrik  heisst  nun  so: 

Iste  est  numerus  et  ordo  et  materia  Sermonum  fratris 
berholdi  ad  religiosos  et  quosdam  alios.  Dieses  Verzeich- 
niss  enthält  nun  unter  Nr.  91  Regula  selbhardi  cum  offi- 
cialibus  et  officiis  suis,  also  ist  kein  Zweifel,  dass  die  von 
Wackernagel  LB.  811  nach  R.  von  Raumers  Abschrift  niit- 
getheilte  Regula  Selphardi  dem  Verfasser  der  ganzen 
lateinischen  Predigtsammlung  zugeschrieben  wurde.  Hocker, 
der  nicht  an  Bertholds  Autorschaft  zweifelte  und  die  Regula 
Selphardi  als  Specimen  des  Codex  S.  36—37  vollständig 
abdrucken  Hess,  bemerkt  dazu:  Cur  ab  aemulis  fratribus 
Rusticani  titulum  Bertholdus  iste  reportaverit ,  ex  hisce  94 
sermonibus  hinc  inde  conjectari  potest,  quanta  enim  libertate 
mores  claustralium  perstrinxerü,  vel  sola  Regula  Selphardi 
nomine  insignita,  quam  totam  Sermoni  94.  praemisit,  docet. 

Ich  kann  die  Frage,  ob  diese  Predigten  und  Predigt- 
entwürfe (die  meisten  gehören  wohl  der  letzteren  Kategorie 
an)  von  unserem  Berthold  sind  oder  sein  können,  hier  aus 
Mangel  an  Hülfsmitteln  nicht  weiter  verfolgen,  dass  Berthold 
Sermones  rusticanos  geschrieben,  sagt  auch  Joh.  Vitodur. 
(Pfeiffer  Zeugniss  17). 

Ein  Zeugniss  über  die  Berthold  zugeschriebene  Gabe  zu 
prophezeien,  liefert  uns  Bruder  Chunrad  in  den  Randbemerk- 
ungen des  altehrwürdigen  Missale  von  Andechs  (And.  5),  wo  es 


Hofmann:  Zu  Berthold  von  Regensburg.  389 

f.  79bheisst:  Noverint  xpi  fideles,  quoclego  frater  Ch{unradus) 
concmtus  de  monte  S.  Petri  qui  dicitur  Madron  (d.  li. 
die  Kirche  in  monte  Madarano  oder  auf  dem  Petersberg  bei 
Braunenburg),  cum  edificavimus  capellam  S.  Caterine,  in- 
venimus  plures  Jcartas,  inier  quas  una  erat,  quae  sie  dice- 
bat,  quod  quadam  vice  praedieavit  frater  Perchtöldus  prae- 
dicator  ordinis  fratrum  Minorum  in  monte  et  castroAndess 
in  praesentia  comitis ,  qui  frater  Perchtöldus  multum  dili- 
gebatur  et  commendabatur  a  praedicto  cornite.  Inter  cetera 
prophetisavit  sibi  in  quodam  sermone,  castrum  suum  esse 
destruendum  et  . .  .  (unlesbar)  redißcandam  (sie)  tempore  tri- 
buhdtonis  et  pacis.  tunc  revelabitur  yloria  domini  in  loco 
isto  et  veniet  consolatio  populi  et  quia  prope  annus  gracie 
et  magnificabitur  locus  per  edificationem  u.  s.  w. 

Das  Uebernatüi  liehe  spielt  hier  wie  in  so  manchen 
andern  Erzählungen  von  Lleithold  eine  Rolle,  die  immer 
grösser  wird,  bis  sie  endlich  gipfelt  in  dem  Berichte,  den 
Hottinger  nach  der  Chronik  des  Johann  Ulrich  Krieg  wieder- 
holt, dass  er  nämlich  einen  Todten  wieder  lebendig  gemacht 
habe.  Nach  dem.  was  in  der  Helvetischen  Bibliothek 
Zweites  Stück  S.  129-182  Zürich  1735  über  diese  soge- 
nannte Krieg'sche  Chronik  gesagt  ist,  gehört  sie  einer  so 
späten  Zeit  an,  dass  wir  in  ihrem  Berichte  einen  der  letzten 
Ausläufer  von  Bertholds  legendenhaft  gewordener  Geschichte 
erblicken  dürfen,  wie  sie  sich  wahrscheinlich  auf  schweizeri- 
schem Boden  und  unter  dem  Einflüsse  des  Zeugnisses  von 
Johannes  Vitoduranus  gebildet  hat,  wie  denn  auch  die  irrige 
Notiz,  B.  sei  in  Winterthur  geboren,  aus  den  Angaben  des 
Winterthurer  Chronisten  erschlossen  sein  wird. 

Dagegen  ist  uns  in  neuester  Zeit  ein  zwar  sehr  kurzes 
und  mageres,  aber  durch  seine  Gleichzeitigkeit  wichtiges 
Zeugniss  von  Laraprecht  von  Regensburg  durch  Franz  Pfeiffer 
(Altdeutsches  Uebungsbuch  S.  71  Z.  75)  zum  ersten  Male 
mitgetheilt.  Lamprecht,  der  unsern  Berthold  aller  Wahr- 
[1867.  II.  3.]  2G 


390        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  9.  November  1867. 

scheinlichkeit  nach  persönlich  gekannt  hat,  sagt  von  ihm 
und  einein  (schottischen?)  Ordensbruder,  der  wohl  auch  in 
Regensburg  lebte: 

bruder  Johan  von  Engelant 
Vn  der  svzze  Perhtolt 
liabent  der  genauen  solt 
von  Jesu  enp fangen, 
waer  ez  mir  sam  ergangen, 
daz  nem  ich  vur  die  richeit 
die  diu  werlt  elliu  treit. 
Zum  Schlüsse  muss  ich  noch  einmal  auf  Salimbene  zu- 
rückkommen ,    dessen   Chronik ,    abgesehen  von  ihrer  hohen 
Bedeutung    für  Kirchen-,    Kloster-  und  Reichshistorie  schon 
-in  Bezug    auf  Literatur-   und  Culturgeschichte   einer   beson- 
dern systematischen  Behandlung  würdig  wäre. 

Man  sieht,  dass  die  Sage  vom  gewogenen  Ablass,  die 
ich  mit  Nr.  4  bezeichnet  habe,  ihren  Weitererzähler  gefun- 
den hat  im  37.  Zeugniss  Pfeiffers  von  Marianus  aus  Florenz 
(15./16.  Jh.),  worauf  schon  das  seltene,  beiden  Berichten 
gemeinsame  campsor  hindeuten  könnte.  Wir  dürfen  an- 
nehmen, dass  die  erste  italienische  Quelle  hier  Salimbene 
war,  dass  aber  zwischen  ihm  und  dem  Erzähler  des  16.  Jhd. 
noch  mehrere  Berichte  in  der  Mitte  gelegen  haben  werden, 
die  uns  bis  jetzt  nur  noch  nicht  bekannt  sind,  denn  dass 
Marianus  aus  einem  um  mehr  als  200  Jahre  älteren  Werke 
direkt  geschöpft  habe,  ist  im  Allgemeinen  unwahrscheinlich. 
Bei  der  ethischen  und  ästhetischen  Würdigung  dieser  Le- 
gende müssen  wir  uns  erinnern .  dass  das  Wägen  von  Im- 
ponderabilien durch  das  ganze  Mittelalter  bis  auf  die  neueste 
Zeit  geht  und  ohne  Zweifel  einer  der  vielen  Züge  geistlicher 
Symbolik  ist,  deren  Ursprung  wir  im  Orient  zu  suchen 
haben.  Hier  ist  es  Alexanders  Fahrt  zum  Paradiese,  (Alex 
M.  iter  ad  parad.  ed.  J.  Zacher,  Königsberg  1859  S.22— 29), 
die  wir  als  Quelle  unserer  Bertholdlegende  ansehen  können, 


Hofmann:  Zu  Berthold  von  Regensburg.  391 

da  dieser  Zug  bekanntlich  in  den  deutschen  Alexander  über- 
gegangen ist.  Wie  dort  der  einem  menschlichen  Auge 
gleichende  Edelstein  aus  dem  Paradiese  das  sichtbare  Symbol 
der  unersättlichen  Gier  des  Menschenherzens,  die  nur  ruht, 
wenn  Staub  das  Auge  deckt,  so  ist  in  Salimbenes  Darstell- 
ung noch  des  Blasen  der  Dame  auf  die  Wagschale  der 
materielle  Faktor  .  während  ein  solcher  bei  Marianus  ganz 
fehlt,  ebenso  wie  in  der  modernen  Erzählung,  wo  vom 
Pabst   bestimmt  wird ,     wie  schwer  ein    Vaterunser  wiegt. 

Ueberhaupt  darf  bei  Entstehung  religiöser  Sagen  und 
Legenden  angenommen  werden  ,  dass  die  einer  bestimmten 
Zeit,  wie  die  eines  bestimmten  Landes  auch  einen  gemein- 
samen Zuschnitt  haben  und  zwar  um  so  markirter,  je 
mehr  die  geistige  Entwicklung  eines  solchen  Gebietes  eine 
isolirte  ist,  wie  man  diess  sehr  deutlich  an  den  so 
charakteristischen  irischen  Legenden  studiren  kann.  Dass 
eine  solche  Legendenwelt  dann  ihrerseits  zurückwirkt 
auf  die  Auffassung  der  Vorgänge  des  wirklichen  Lebens  hat 
schon  sehr  richtig  Karl  Schmidt  (Nicolaus  von  Basel,  Wien 
1866  S.  54  ff.)  ausgeführt,  indem  er  genau  die  für  solche 
Erscheinungen  fundamentale  Distinction  zwischen  objectiver 
und  subjectiver  Existenz  festhält,  jene  verwirft,  diese  zugibt. 
Er  hätte  da  wohl  in  einigen  Punkten  noch  weiter  gehen 
und  in  der  frühsten  Jugendgeschichte  des  Nicolaus  (S.  4) 
den  realen  Reflex  der  Alexiuslegende  in  Anschlag  bringen 
können ,  deren  ethische  Wirkung  zu  allen  Zeiten  eine  ge- 
waltige gewesen  sein  muss,  wenn  wir  bedenken,  dass  sie 
nicht  bloss  in  alle  christlichen  Sprachen  des  Mittelalters, 
sondern  auch  in  verschiedenen  Fassungen  in  die  arabische 
übergegangen  ist  (s.  W.  Lane  Anmerkungen  zu  der  grossen 
Ausgabe  von  1001  Nights),  in  einer  dem  Ali,  Sohn  des 
Chalifen  Harun  AI  Raschid  zugeschrieben  wird,  und  noch  in 
unserer  Zeit  auf  den  jungen  Göthe  einen  solchen  Eindruck 
machte,  dass  er  sie  nach  der  Erzählung  einer  alten  Frau  in 

26* 


392      Sitzung  der  philos.-pliilol.  vom  Gasse  9.  Nooember  1867. 

seinen  Schweizer  Reisebriefen  (Anhang  zu  Werthers  Leiden) 
verewigte.  Aehnlich  dürfte  in  dem  mystischen  und  aller 
Welt,  selbst  ihren  getreusten  Anhängern  verborgenen  Zu- 
sammenleben der  Gottesfreunde  in  tiefster  Waldeinsamkeit 
(S.  44  ff.  51—53)  ein  Reflex  des  poetischen  Cönobitenthums 
der  Graaltempleisen  im  unnahbaren  Walde  von  Munsal- 
vaesche  sich  darstellen. 

Unter  den  literarischen  Mittheilungen  Salimbenes  dürften 

folgende  zu    den  wichtigeren    gehören.      Von    vordantischen 

Dichtern,    die  sonst    nicht    bekannt  sind,    nennt  er    S.  189 

einen  Pelavicino  (=  Rupf  den  Nachbar)  von  Parma  als  can- 

tionum  inventor;  von  sicilianischen  Dichtern  S.  245 — 6  einen 

auch    in    der    politischen    Geschichte    bedeutenden    comes  et 

camerarius    des    Königs    Manfred    (welcher    seinen    Bruder 

König  Conrad    durch    Giovanni    da  Procida    vergiften    Hess, 

wie  man   nach    S.  245    erzählte),     mit    Namen   Manfredo 

Maletta,  optimus  et  perfectus  in  cantionibus  inveniendis  et 

cantilenis  excogitandis,  et  in  sonandis  instrumentis  non  cre- 

ditur  habere  parem  in  mundo.     Am   öftesten   aber   (6  Mal) 

citirt  er  von  italienischen  Dichtern    den    magister  Gerardus 

Pateclus  (auch  Patecelus  geschrieben)  vielleicht  von  Cremona 

vgl.  S.  21,  der  ein   Buch  de  Taediis    geschrieben,    zu   dem 

Salimbene    selbst    im  Jahre  1260  eine  Fortsetzung  dichtete, 

wie  er  S.  238  sagt:  In  supradicto  millesimo  (1260)  habita- 

bam  in  Burgo  Sancti  Donini  et  composui    et  scripsi  alium 

librum  Taediorum,   ad  similitudinem  Patecli.     Trotz  des 

lateinischen  Titels  sind  alle  Citate  italienisch    und  das  Buch 

scheint   moralisch-satirischen   Inhalts    gewesen   zu    sein,    so 

dass  sein  Verlust  um  so  mehr  zu  bedauern  ist,  als  fast  alle 

vordantische    Poesie    bekanntlich    in    Liebesliedern    besteht. 

Eine  allgemeine,  italienische  Sprache  kennt  er  natürlich  noch 

nicht;  er  unterscheidet  S.  351    zwischen    tuscice   et  lombar- 

dice  et  gallice  loqui.     Hervorzuheben    ist  auch   sein  Bericht 

über  die  Geissler  und  ihre  Lieder  (S.  238),    anno  1260  ve- 


Hofmann:  Zu  Berthold  von  Regensburg.  393 

nerunt  verberatores  per  Universum  orbcm  et  .  .  .  compone- 
bant  laudes  divinas  ad  honorem  Dei  et  beatae  Virginis 
quas  cantabant,  dum  se  verberando  incederent,  —  über  die 
cantilenas  und  scquentias  des  frater  Henricus  S.  64.  über 
das  nachher  verbranute  Buch  des  frater  Ghirardimus  de 
JBorgo  Sancti  Bonini  (S.  233.  235).  und  besonders  der  über 
den  näheren  Inhalt  des  Commentars  über  die  Apokalypse 
vom  Abbas  Joachym.  den  wir  schon  oben  in  seiner  Erzähl- 
ung von  Berthold  erwähnt  fanden.  Er  hiess  Über  figurarum 
und  deutete  auf  die  Saracenen,  auf  Machometh,  Muthsel- 
mutus,  Saladinus  und  Kaiser  Friedrich  IL,  (S.  224),  während 
ein  anderer  Zeitgenosse  den  König  von  Castilien  für  den 
Antichrist  hielt  (S.  234).  Ein  wahrer  historischer  Roman 
in  nuce  ist  das  Leben  des  Cardinallegaten  Philippo  von 
Ravenna,  aus  Pistoja,  "der  in  seiner  Jugend  als  armer 
Scholar  die  Hochschule  der  schwarzen  Kunst,  Toledo,  be- 
suchte, aber  von  seinem  Professor,  einem  berühmten  Meister 
(capatns,  senex,  aspectu  deformis)  als  unfähig  entlassen 
werden  musste,  weil,  wie  er  sagte:  vos  Lombardi  non  estis 
pro  arte  ista,  et  ideo  dimittatis  eam  nobis  Hyspanis,  qui 
homines  feroces  et  similes  daemonibus  sumus,  tuvero,  fili,  vade 
Parisios  et  stude  in  scriptum  divina,  quia  in  ecclesia  Dei 
adhuc  futurus  es  magnus  (S.  200).  welches  testimonium  er 
indess  später  als  Cardinallegat  zu  Schanden  machte,  wo  sie 
timebant  eum  sicut  diabolum  und  selbst  der  schreckliche 
Ezzelino  di  Romano  nur  partim  plus  timebatur  (S.  204  —  5). 
Von  noch  allgemeinerem  und  zum  Theile  actuellem  Interesse 
wären  die  Urtheile  unseres  freimüthigen ,  charakterfesten 
und  löblichster  Unparteilichkeit  (vgl.  S.  245)  beflissenen 
Minoriten  über  Kirchen-  und  Staatsverhältnisse ,  wie  z.  B. 
das  über  die  Erwerbung  der  Romagna  S.  282.  Hanc  (Ro- 
magnolam)  Ecclesia  romana  dono  obtinuit  a  domino  Rodulf o, 
qui  tempore  domini  Grcgor/i  papae  X.  ad  imperium  fuit 
elcctus.     Saepe  cnim  Romani  Pontifices  de  republica  aliquid 


394       Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  9.  November  1867. 

volunt  emungere,  cum  Imperatores  ad  Imperium  asswnuntur. 
Da  indess  mein  Absehen  hier  kein  historisch-politisches  sein 
kann,  so  schliesse  ich  mit  dem  Zeugnisse  Salimbenes  über 
eine  Persönlichkeit,  die  in  der  Literaturgeschichte  nicht 
minder  berühmt  ist,  als  selbst  Bruder  Berthold,  ich  meine 
den  Archipoeta  Waltharius  oder,  wie  v.  Giesebrechts  Unter- 
suchungen herausgestellt  haben ,  Walther  von  Lille  (Gual- 
terius  ab  Insulis).  Unser  Autor  kennt  ihn  genau,  citirt  ihn 
öfter,  theilt  S.  42 — 45  sein  grosses  Gedicht,  Aestuans  in- 
trinsecus  (=  Carmina  burana  p.  67—71)  ganz  mit,  und 
berichtet  von  ihm,  was  kein  Zeitgenosse  weiss  (S.  41):  Fuit 
Ms  temporibus  Primas  canonicus  Coloniensis,  magnus 
trutannus  (franz.  truan,  engl,  truant)  et  magnus  trufator  et 
maximus  versificator  et  velox,  qui,  si  dedisset  cor  suum  ad 
diligendum  Deum,  magnus  in  litteratura  divina  fuisset  et 
utilis  valde  Ecclesiae  Bei.  Cujus  Apocalypsim,  quam  fece- 
rat,  vidi  et  alia  scripta  plura.  Darauf  folgen  6  seiner 
Epigramme  mit  Angabe  der  Veranlassung,  endlich  das  Ae- 
stuans intrinsecus  mit  folgender  Motivirung:  Item  hie  ac- 
cusatus  fuit  archiepiscopo  suo  de  tribus ,  scilicet  de  opere 
venereo,  id  est  de  luxuria,  et  de  ludo  et  de  taberna.  Et 
excusavit  se  rithmice  hoc  modo.  S.  357  erwähnt  er  noch 
sein  Gedicht  De  vita  mundi  und  theilt  überhaupt  131  Verse 
von  ihm  mit. 

Herr  Plath  trägt  vor: 

,,Ueber   Krause's   Unsterblichkeitslehre". 
Derselbe  behält   sich    die  Verfügung  über  die  Abhand- 
lung vor.  

Der  Classensecretär  Herr  M.  J.  Müller  berichtet: 
„Ueber  mehrere  Nummern    des    türkischen   in 
London    erscheinenden  Journals  'Mukhbir'", 
die  der  Akademie  von  der  Ptedaktion  geschickt  worden  sind. 


Buchner:  Bildung  von  Schioefelarsenik  in  den  Leichen  etc.     395 


Mathematisch -physikalische  Classe. 

Sitzung  vom  9.  November  1867. 


Herr  Büchner  hält  einen  Vortrag: 

„Ueber  die  Bildung  von  Schwefelarsenik  in  den 
Leichen   mit    arseniger   Säure    Vergifteter." 

Die  Umwandlung  der  arsenigen  Säure  in  gelbes  Schwefel- 
arsenik in  faulenden  Eingeweiden  ist  schon  öfter  als  einmal 
nachgewiesen  worden. 

Ich  selbst  habe  eine  solche  Veränderung  vor  einigen 
Jahren  zufällig  beobachtet,  als  ich  Theile  des  Magens  und 
Darmkanales  aus  der  Leiche  eines  Menschen ,  den  man  für 
vergiftet  hielt,  nachdem  dieselben  zerschnitten  und  mit  Koch- 
salz gemengt  waren,  der  zersetzenden  Einwirkung  concentrirter 
Schwefelsäure  unter  Mithülfe  der  Wärme  unterwarf,  um  etwa 
vorhandene  arsenige  Säure  in  flüchtiges  Chlorarsen  überzu- 
führen. Es  fiel  mir  auf,  dass  während  der  Entwicklung  des 
salzsauren  Gases  sowohl  in  der  Wölbung  und  im  Halse  der 
Retorte,  worin  die  Zersetzung  vor  sich  gieng,  als  auch  in 
dem  Recipienten ,  der  das  zur  Absorption  der  salzsauren 
Dämpfe  nöthige  Wasser  enthielt,  ein  gelber  Anflug  zum  Vor- 
schein kam,  welcher  nichts  anderes  als  feinzertheiltes  Schwefel- 
arsenik war.  Das  vorgeschlagene  Wasser  enthielt  arsenige 
Säure  in  nicht  unbedeutender  Menge. 

Es  ist  mir  nicht  erinnerlich,  dass  die  Schleimhaut  dieser 
untersuchten  Eingeweide ,  welche  trotz  der  Gegenwart  von 
Arsenik  in  starker  Fäulniss  begriffen  waren,  einen  gelben 
Ueberzug  hatte,    allein    es   ist  eine   von   mir   und   Anderen 


396      Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  9.  November  1867. 

schon  öfter  beobachtete  Thatsache,  dass  Schwefelarseuik 
durch  heisse  concentrirte  Salzsäure  vermöge  chemischer 
Massenwirkung  zersetzt  und  in  Chlorarsenik  und  Schwefel- 
wasserstoff umgewandelt  werden  kann,  dass  hingegen  die 
beiden  letzteren  wieder  Schwefelarsenik  bilden,  wenn,  indem 
^ie  sich  gleichzeitig  mit  einem  Ueberschuss  von  Salzsäure 
verflüchtigen ,  der  Dampf  in  kalte  Luft  oder  in  Wasser 
gelangt,  wodurch  Salzsäure  und  Chlorarsenik  stark  verdünnt 
und  geschwächt  werden.  Jener  gelbe  Anflug  musste  auf 
solche  Weise  entstanden  sein;  er  rührte  ohne  Zweifel  von 
in  den  untersuchten  Eingeweiden  vorhandenem  Schwefelarsenik 
her,  welches  den  zur  Hervorrufung  der  erwähnten  reciproken 
Verwancltschaftsäusserung  nöthigen  Schwefelwasserstoff  lieferte. 

Durch  den  Ende  Januars  1862  in  Darmstadt  öffentlich 
verhandelten  Process  gegen  Jacobi,  welcher  des  Giftmordes, 
begangen  an  seiner  Frau,  angeklagt  war>  und  dieses  Ver- 
brechens überwiesen  zum  Tode  verurtheiit  wurde,  wurden 
wir  von  einem  weiteren  Fall  einer  Verwandlung  der  arse- 
nigen Säure  in  Schwefelarsenik  unterrichtet.  Frau  Jacobi 
starb  im  Monat  August  ,des  Jahres  1861  in  Folge  einer 
Vergiftung  mit  arseniger  Säure,  welche  ihr,  wie  sich  bei  der 
Untersuchung  herausstellte,  von  ihrem  Manne  als  Pulver 
beigebracht  worden  war.  Zwei  Monate  darauf,  nämlich  im 
Oktober ,  nachdem  der  Verdacht  einer  Vergiftung  rege  ge- 
worden, wurde  die  Leiche  wieder  ausgegraben,  und  bei  der 
vorgenommenen  Obduction  und  Section  fand  man  in  den 
Eiugeweiden  eine  gelbe  Masse  und  namentlich  auf  der 
Schleimhaut  des  Magenmundes  einen  gelben  Ueberzug, 
welcher  bei  der  von  Hrn.  Obermedicinalrath  Dr.  Win  ekler 
ausgeführten  chemischen  Untersuchung  als  Schwefelarsenik 
erkannt  wurde.  Uebrigens  war  die  Umwandlung  der  arsenigen 
Säure  in  Schwefelarsenik  in  dieser  Leiche  nur  eine  partielle, 
wie  die  nähere  Untersuchung  dargethan  hat. 

Einen  ebenfalls  ganz  sicheren  Beweis   der  Umwandlung 


Büchner:  Bildung  von  Schwefelarsenik  in  den  Leichen  etc.    397 

der  arsenigen  Säure  in  Schwefelarsenik  in  faulenden  Ein- 
geweiden lieferte  mir  vor  zwei  Jahren  die  chemische  Unter- 
suchung der  Eingeweide  der  Bauersfrau  M.  T.  von  G.  Dieselbe 
erkrankte  nach  kaum  viermonatlicher  Ehe  plötzlich  sehr  heftig 
und  starb  kurz  darauf  am  19.  Juli  1864.  Dass  man  damals 
trotz  der  auffallenden  Krankheitserscheinungen  und  des 
schnellen  Todes  au  keine  Vergiftung  dachte ,  ergibt  sich 
daraus,  dass  die  Leiche  unseccirt  und  ohne  das  geringste 
Hinderniss  nach  zwei  Tagen  beerdigt  wurde.  Erst  einige 
Monate  später  wurde  das  Gerücht,  dass  M.  T.  durch  ihren 
Ehemann  vergiftet  worden  sei ,  so  laut ,  dass  gegen  diesen 
die  gerichtliche  Untersuchung  eingeleitet  werden  musste. 

Die  Exhumation  der  Leiche  fand  am  12.  Juni  1865,  also 
47  Wochen  nach  der  Beerdigung  statt.  Das  ober  dem  Sarge 
befindliche  Erdreich  war  sehr  trocken  und  steinig  und  der 
fichtene  Sarg,  obwohl  er  nur  3  l\t  Fuss  tief  mit  Erde  bedeckt 
war,  noch  vollkommen  gut  erhalten. 

Aus  dem  Sectionsprotokolle  entnehmen  wir ,  dass  das 
Gesicht  der  Leiche  mumienartig  geschwärzt  und  eingetrocknet 
war,  ebenso  die  oberen  Extremitäten  in  ihren  Fleischtheilen; 
die  Glieder  der  Finger  waren  nur  mehr  in  einem  lockeren 
Verbände.  An  der  Brust  sowie  an  der  vorderen  Bauchdecke 
zeigte  sich  die  Oberhaut  gleichfalls  schwärzlich,  während  das 
darunter  liegende  Fettgebilde  noch  ziemlich  gut  erhalten 
war.  Auch  die  Haare  am  Kopfe  und  an  den  Genitalien  so- 
wie die  Nägel  an  den  Zehen  und  Fingern  waren  noch  gut 
erhalten. 

Aus  der  Brust  -  und  Unterleibshöhle  quoll  bei  der 
Eröffnung  ein  höcht  übelriechender  Dunst  heraus;  die 
Musculatur  an  der  vorderen  Brustwand  sowie  an  der  Bauch- 
decke bot  noch  eine  gut  kennbare  Röthe  dar  und  in  den 
Achselhöhlen  sowie  in  den  beiden  Leistengegenden  und  in 
den  noch  ziemlich  gut  erhaltenen  Kleidungsstücken  hatte  sich 
bereits  viel  Ungeziefer  eingenistet. 


398      Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  9.  November  1867. 

Als  Grund  der  noch  ziemlich  guten  Conservirung  der 
Leiche  gibt  der  Sectionsbericht  ausdrücklich  das  trockene 
sandige  Erdreich   und  die  hohe  Lage  des  Leichenackers  an. 

Die  mir  zur  chemischen  Untersuchung  überschickten 
Eingeweide  dieser  Leiche  fand  ich  sehr  weich,  faulig  und 
trotzdem,  dass  sie  der  Vorschrift  gemäss  mit  Weingeist  über- 
gössen waren,  im  hohen  Grade  übelriechend.  Beim  Oeffnen 
der  unterbundenen  Speiseröhre  war  nichts  Besonderes  zu 
beobachten,  aber  beim  Aufschneiden  des  unterbundenen  leeren 
Magens  und  Düundarnies  und  Besichtigen  der  inneren  Fläche 
fiel  es  mir  im  hohen  Grade  auf,  dass  ein  grosser  Theil  der 
blass  und  wenig  geröthet  aussehenden  Schleimhaut,  beim 
Magen  besonders  gegen  das  Duodenum  zu,  mit  einer  lebhaft 
gelben  Schicht  eines  zarten  Pulvers  bedeckt  war ,  was  sich 
mit  Wasser  theilweise  von  der  Schleimhaut  wegspülen  Hess. 
Gegen  den  unteren  Theil  der  Schleimhaut  und  auf  der 
Mucosa  des  Dickdarmes  konnte  gar  nichts  davon  bemerkt 
werden. 

Es  bedurfte  nur  weniger  Versuche,  um  über  die  Natur 
dieses  gelben  Ueberzuges  ins  Reine  zu  kommen.  Das  weg- 
gespülte Pulver  löste  sich  in  Ammoniak;  die  ammoniakalische 
Lösung  hinterliess  beim  Verdampfen  in  einem  Schälchen  gelbe 
Ringe ;  beim  Ansäuern  dieser  Lösung  entstand  ein  gelbe 
Trübung.  Beim  Erhitzen  in  einer  Glasröhre  verflüchtigte  sich 
das  Pulver  vollkommen;  es  bildete  sich  oberhalb  der  erhitzten 
Stelle  ein  rothbraunes  Sublimat ,  welches  während  des  Er- 
kaltens  blassgelb  wurde.  Als  der  Dampf  in  einer  zu  einer 
Spitze  ausgezogenen  Röhre  über  glühende  Kohleasplitterchen, 
welche  mit  Soda  imprägnirt  waren ,  geleitet  wurde ,  legte 
sich  im  weiteren  Theile  der  Röhre  ein  Spiegel  von  metall- 
ischem Arsenik  an. 

Diese  Erscheinungen  bewiesen  hinlänglich,  dass  der  gelbe 
Ueberzug  auf  der  Schleimhaut  aus  Dreifach-Schwefelarsenik 
bestand.     Es    war    nun    die  Frage    zu   erörtern,    ob   diese 


Buchner:  Bildung  von  Schwefelarsenik  in  den  Leichen  etc.   399 

Verbindung  als  schon  gebildet  in  den  Magen  und  Darmkanal 
der  M.  T.  gelangt  sei,  d.  h.  ob  die  Verstorbene  Schwefel- 
arsenik bekommen  habe,  oder  ob  sie  mit  arseniger  Säure 
vergiftet  worden  sei,  welches  dann  erst  in  den  genannten 
Eingeweiden  durch  den  während  der  Fäulniss  entwickelten 
Schwefelwasserstoff  in  Schwefelarsenik  umgewandelt  wurde? 

Diese  Frage  war  leicht  mit  Hülfe  folgender  Thatsachen 
zu  beantworten: 

Das  auf  der  Schleimhaut  liegende  gelbe  Pulver  zeigte 
ganz  das  Aussehen  und  die  Feinheit  des  aus  einer  Lösung 
der  arsenigen  Säure  durch  Schwefelwasserstoff  präcipirten 
Schwefelarseniks.  Hätte  M.  T.  gepulvertes  Auripigment  be- 
kommen, so  wäre  dasselbe  jedenfalls  nicht  so  feiu  gewesen 
wie  das  hier  vorgefundene  Pulver. 

Als  ein  Theil  des  Magens  und  Dünndarmes  in  einer 
Retorte  mit  Salzsäure  gekocht  worden  war,  fand  sich  in 
dem  vorgeschlagenen  Wasser,  in  welches  man  die  salzsauren 
Dämpfe  leitete,  so  viel  arsenige  Säure,  dass  Schwefelwasser- 
stoff sogleich  eine  starke  gelbe  Trübung  darin  hervorbrachte. 
Diess  wäre  gewiss  nicht  der  Fall  gewesen,  wenn  diese  Ein- 
geweide das  Arsenik  nur  als  Schwefelarsenik  und  nicht  auch 
als  arsenige  Säure  enthalten  hätten.  Schwefelarsenik  wird, 
wie  schon  vorhin  erwähnt,  durch  heisse  concentrirte  Salzsäure 
wohl  auch  zersetzt  und  in  Chlorarsenik  übergeführt,  aber 
doch  nur  in  geringer  Menge,  jedenfalls  nicht  der  verhältniss- 
mässig  grossen  Quantität  Chlorarsenik  entsprechend,  das  sich 
mit  den  salzsauren  Dämpfen  entwickelte  und  durch  das  vor- 
geschlagene Wasser  wieder  zu  arseniger  Säure  wurde.  Dass 
auch  hier  wieder  eine  theilweise  Zersetzung  des  in  diesen 
Eingeweiden  enthaltenen  Schwefelarseniks  stattfand ,  ergab 
sich  daraus,  dass  besonders  gegen  das  Ende  der  Einwirkung 
Wölbung  und  Hals  der  Retorte  sich  aus  der  schon  angegebenen 
Ursache   mit   einem  gelben  Anfluge  bedeckten  und  auch  das 


400      Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  9.  November  1867. 

die  salzsauren  Dämpfe  aufnehmende  Wasser  durch  die  auf- 
tretenden Spuren  Schwefelwasserstoff  gelblich  getrübt  wurde. 

Reines  Schwefelarsenik  wird  wegen  seiner  Unlöslichkeit 
in  Wasser  und  schwach  sauren  Flüssigkeiten  vom  Magen 
und  Darmkanal  aus  nicht  oder  kaum  absorbirt  und  in  das 
Blut  übergeführt.  Hätte  M.  T.  Schwefelarsen  bekommen,  so 
wären  in  deren  Leber  und  Milz  kaum  mehr  als  Spuren  von 
Arsenik  übergegangen.  Allein  diese  Organe  enthielten,  wie 
die  chemische  Untersuchung  bewies,  ebenfalls  eine  verhält- 
nissmässig  grosse  Menge  Arsenik,  woraus  geschlossen  werden 
muss,  dass  dieses  als  arsenige  Säure  in  die  genannten  Ein- 
geweide gelangt  ist. 

Aber  den  sichersten  Beweis,  dass  in  in  den  untersuchten 
Eingeweiden  noch  arsenige  Säure  vorhanden  war,  lieferte 
der  dialytische  Versuch.  Klein  zerschnittene  Theile  des  Magens 
und  Dünndarmes  mit  Wasser,  welches  nur  schwach  mit  Salz- 
säure angesäuert  war ,  in  den  Dialysator  gebracht .  gaben 
binnen  24  Stunden  an  das  vorgeschlagene  Wasser  so  viel 
arsenige  Säure  ab,  dass  Schwefelwasserstoff  darin  eine  deut- 
liche gelbe  Trübung  hervorbrachte.  Diess  wäre  gewiss  nicht 
der  Fall  gewesen,  wenn  die  Eingeweide  bloss  Schwefelarsenik 
enthalten  hätten,  denn  dieses  wird,  wie  schon  erwähnt,  durch 
schwach  angesäuertes  Wasser  bei  gewöhnlicher  Temperatur 
kaum  zersetzt  und  aufgelöst. 

Aus  allen  diesen  Beobachtungen  sowie  aus  den  dem 
Tode  vorausgegangenen  Erscheinungen  muss  mit  Gewissheit 
geschlossen  werden,  dass  die  Bauersfrau  M.  T.  an  den  Folgen 
einer  Vergiftung  mit  arseniger  Säure  gestorben  und  dass  das 
im  Magen  und  Dünndarm  der  nach  fast  eilfmonatlicher  Be- 
erdigung wieder  ausgegrabenen  Leiche  vorgefundene  Schwefel- 
arsenik das  Produkt  der  Einwirkung  des  während  der 
Fäulniss  entwickelten  Schwefelwasserstoffes  auf  die  arsenige 
Säure  ist. 


Buchner:  Bildung  von  Schwefelarsenik  in  den  Leichen  etc.    401 

Die  Bildung  von  Schwefelarsenik  in  den  Leichen  von 
mit  arseniger  Säure  Vergifteten  ist  der  sicherste  Beweis,  dass 
die  arsenige  Saure  in  der  Menge,  in  welcher  sie  bei  damit 
bewirkten  Vergiftungen  gewöhnlich  in  den  Leichen  bleibt, 
die  Fäulniss  derselben  nicht  zu  verhindern  im  Stande  ist. 
Ich  werde  meine  Erfahrungen  über  diesen  Gegenstand  sowie 
über  die  sogenannte  Mumification  solcher  Leichen  später  aus- 
führlich mittheilen;  vorläufig  sei  nur  erwähnt,  dass  der  Ver- 
lauf der  Fäulniss  und  überhaupt  der  Zersetzung  von  Leichen, 
welche  Arsenik  enthalten,  und  von  solchen,  die  frei  davon 
sind;  vorausgesetzt,  dass  sie  sich  unter  sonst  gleichen  Um- 
ständen befinden,  ganz  derselbe  ist. 

Aber  es  bleibt  noch  die  Frage  zu  lösen  übrig,  warum 
man  die  Umwandlung  der  arsenigen  Säure  in  Schwefelarsenik 
in  faulenden  Eingeweiden  bisher  nicht  häufiger  wahrgenommen 
hat?  Ich  habe  sie,  wie  schon  erwähnt,  nur  zweimal  beob- 
achtet trotz  meiner  zahlreichen  Untersuchungen  arsenhaltiger 
Eingeweide,  welche  aus  den  Leichen  in  den  verschiedensten 
Stadien  der  Zersetzung,  vom  zweiten  Tage  nach  dem  Tode 
bis  zum  fünften  Jahre  nach  der  Beerdigung,  genommen 
worden  waren. 

Beiläufig  will  ich  noch  erwähnen,    dass    der  Bauer  T., 

des  Giftmordes,  begangen  an  seiner  Frau,  angeklagt,  in  der 

öffentlichen  Verhandlung    vor    dem    Schwurgerichtshofe    zu 

Straubing  dieser  That  für  schuldig  befunden  und  zum  Tode 

'    verurtheilt  wurde. 


402      Sitzung  der  math.-phys.  Glosse  vom  9.  November  1867. 


Herr  C.  Voit  spricht: 

„Ueber  die  Fettbildung  im  Thierkörper." 

Ehe  man  mit  den  Umwandlungen  der  organischen  Sub- 
stanzen näher  bekannt  war,  meinte  man,  das  im  Thierkörper 
aufgespeicherte  Fett  könnte  nur  aus  dem  Fett  der  Nahrung 
hervorgehen ;  man  musste  sich  aber  bald  überzeugen ,  dass 
das  in  der  Nahrung  eingeführte  Fett  in  vielen  Fällen  nicht 
hinreicht,  um  das  bei  der  Mästung  von  Schweinen  angesetzte, 
oder  das  in  der  Milch  von  guten  Milchkühen  abgeschiedene, 
oder  von  Bienen  im  Wachs  producirte  Fett  zu  liefern.  Es 
war  nicht  zu  verkennen,  wie  unter  dem  Einflüsse  von  Kohle- 
hydraten die  Thiere  Fett  ansetzen,  und  man  wurde  um  so 
mehr  auf  die  Möglichkeit  der  Erzeugung  von  Fett  aus  Kohle- 
hydraten hingewiesen,  als  unter  den  Zersetzungsprodukten 
der  Kohlenhydrate  niedere  Fettsäuren  gefunden  wurden. 
Allerdings  dachte  man  auch  an  die  Bildung  von  Fett  aus 
eiweissartigen  Substanzen;  man  hatte  allerlei  Erfahrungen 
gesammelt,  die  einen  solchen  Vorgang  wahrscheinlich  machten, 
so  z.  B.  die  Entstehung  des  Leichenwachses,  das  Auftreten 
von  Fettsäuren  bei  der  Zerstörung  des  Eiweisses,  die  fettige 
Degeneration  eiweisshaltiger  Organe,  die  Umwandlung  von 
in  die  Bauchhöhle  von  Thieren  eingebrachten ,  an  Eiweiss 
reichen  Organen  in  eine  Fettmasse  etc.  Aber  diese  Be- 
obachtungen waren  zum  Theil  nicht  beweisend,  zum  Theil 
zweifelte  man,  ob  aus  Eiweiss  hinreichend  Fett  entstehen 
könne,  um  die  beobachtete  Fettbildung  zu  decken;  nament- 
lich dachte  man  sich  bei  Pflanzenfressern  den  Eiweissumsatz 
wegen  des  geringen  procentigen  Stickstofigehaltes  des  Futters 
für  viel  zu  gering  zur  Hervorbringung  einer  grösseren  Fett- 
menge. Die  Sachlage  stand  so,  dass  man  den  Uebergang  von 
Eiweiss  in  Fett  für  sehr  wahrscheinlich,  aber  für  unzureichend 


Voit:  Feltbildang  im  Thierkörper.  403 

hielt,  und  dass  man  die  Umwandlung  von  Kohlehydraten  in 
Fett  zwar  nicht  für  bewiesen,  jedoch  für  äusserst  wahr- 
scheinlich erachtete. 

Nach  den  von  Pettenkofer  und  mir  am  fleischfressen- 
den Hunde  gemachten  Versuchen  konnte  der  Körper  auf 
Kosten  von  reinem  Eiweiss  fetter  werden,  denn  bei  Fütterung 
grosser  Fleischmengen  erschien  sämmtlicher  Stickstoff  der 
Einnahmen  in  den  Excreten,  während  vom  Kohlenstoff 
beträchtliche  Mengen  nicht  zum  Vorschein  kamen;  bei  Dar- 
reichung von  Fett  speicherte  sich  ein  Theil  desselben  auf, 
während  bei  Darreichung  von  Stärke  allein  oder  mit  Fleisch 
ein  Ausatz  von  Fett  nicht  zu  constatiren  war.  Wir  hielten 
es  nach  unsern  damaligen  Untersuchungen  für  wahr- 
scheinlich, dass  jeder  Ausatz  von  Fett  beim  Fleischfresser 
nur  durch  Fett  möglich  ist,  entweder  aus  dem  in  der  Nahrung 
aufgenommenen  Fett,  oder  aus  dem  bei  der  Zersetzung  von 
Eiweiss  im  Organismus  neu  entstandenen. 

Eine  Reihe  von  Erfahrungen  hielt  mich  ab,  eine  prinzi- 
pielle Verschiedenheit  in  den  Umsetzungsmöglichkeiten  eines 
fleisch-  und  pflanzenfressenden  Körpers  anzunehmen,  ich 
erblickte  hierin  vorzüglich  nur  quantitative  Aenderungen, 
veranlasst  durch  den  verschiedenen  Bau  des  Darmes  und 
die  ungleich  zusammengesetzte  Nahrung;  ich  wusste  ferner, 
dass  Pflanzenfresser  mit  eiweissarmer  Nahrung  sich  nicht 
mästen  lassen  und  ich  kannte  den  gegenüber  den  gewöhn- 
lichen Vorstellungen  höchst  bedeutenden  täglichen  Eiweiss- 
umsatz  dieser  Thiere.  Diese  Gründe  bewogen  mich  in 
einem  bei  der  in  München  im  Jahre  1865  tagenden  Ver- 
sammlung deutscher  Agriculturchemiker  gehaltenen  Vortrage 
es  nicht  für  undenkbar  zu  erklären,  dass  auch  beim  Pflanzen- 
fresser die  Kohlehydrate  nicht  in  Fett  übergehen ,  sondern 
nur  das  aus  dem  Eiweiss  abgespaltene  oder  als  solches  ein- 
geführte Fett  vor  der  Verbrennung  schützen  und  so  einen 
Fettansatz   ermöglichen.     Damals   schlug  Herr    von  Liebig 


404      Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  9.  November  1867. 

ein  experimentum  crucis  vor  und  empfahl  Versuche  an 
Milchkühen  zur  Entscheidung  der  Frage,  ob  die  eiweiss- 
artigen  Stoffe  und  das  Fett  der  Milch  durch  das  Eiweiss 
und  den  meist  geringen  Fettgehalt  der  Nahrung  gedeckt 
weiden. 

Ich  hatte  mir  damals  vorgenommen,  die  gestellte  Frage 
zu  beantworten.  Zunächst  machte  ich  Versuche  an  einer  Hündin 
bei  verschiedener  Nahrung;  das  Ergebniss  derselben  war,  dass 
hier  unter  allen  Umständen  das  Fett  und  der  Milchzucker  der 
Milch    durch   das   aus    dem  Stickstoff  des  Harns   gerechnete 
zerstörte  Eiweiss  geliefert  werden  könne;  der  Fett-  und  Milch- 
zuckergehalt der  Milch  bei  Fütterung  mit  viel  reinem  Fleisch 
war  grösser  als  bei  Fütterung  mit  Fleisch  und  Kohlehydraten. 
Aehnliche  Resultate   haben    schon  Ssubotin    und   Kemme- 
rich    bei    der  Untersuchung   säugender  Hündinnen   erhalten. 
Ich    inusste  mich  aber  entschliessen ,    den  Versuch  an  einer 
Milchkuh  zu  machen.    Da  mir  meine  Mittel  die  Anschaffung 
einer  solchen  nicht  gestatteten,  so  wandte  ich  mich  im  vorigen 
Jahre    an   die  Vorstände    der   hiesigen  Veterinärschule ,    die 
mir  mit  der  grössten  Bereitwilligkeit  eine  ihrer  besten  Race- 
kühe  zur  Verfügung  stellten.  Ich  liess  die  Menge  der  Milch 
und  des  entleerten  Harns  während  6  Tagen  bestimmen,  aber 
es    setzten    sich    dem    genauen    Aufsammeln    des    Harns    so 
grosse  Schwierigkeiten  entgegen,  dass  höchstens  die  Angaben 
der  4  ersten  Tage  auf  einige  Genauigkeit  Anspruch  machen 
konnten.  Das  im  Körper  zersetzte  Eiweiss  konnte  den  Fett- 
gehalt  der  Milch    bis   auf  18°/o  liefern;    rechnete    ich   auch 
das  nach    einem    Ueberschlag    im    Futter   schon   enthaltene 
Fett  hinzu,    so   war   es    im  höchsten  XJrade  wahrscheinlich, 
dass  weder  für  das  Fett  noch  für  den  Milchzucker  der  Milch 
die    Kohlehydrate    der    Nahrung    einen    Beitrag    zu    hefern 
brauchen.  Es  war  mir  lange  nicht  möglich,  den  Versuch  mit 
allen  Vorsichtsmassregeln  zu  wiederholen ;  vor  einigen  Wochen 


Voif-  Fettbildung  im  Thierkörper.  405 

überliess  mir  einer  unserer  besten  Mitbürger,  Herr  Fabrikant 
Rieinerschmidt,  mit  gewohnter  Opferwilligkeit  seine  Milch- 
kuh zur  Ausführung  des  Versuchs  und  meine  Assistenten  und 
Schüler,  die  Herren  E.  Bischoff,  Fr.  Hofmann,  X.  Petten- 
kofer  und  P.  Aichberger  unterzogen  sich,  in  Erforschung  der 
VfahAeit  beschwerliche  Arbeit  nicht  achtend,  der  Aufgabe 
6  Tage  und  Nächte  bei  dem  Thiere  zu  wachen,  um  sämmtlichen 
Harn  und  Koth  aufzufangen.  Das  Experiment  ist  auf  diese 
Weise  vollkommen  geglückt,  und  ich  kann  das  Resultat  des- 
selben als  sicher  hinstellen. 

Die  Kuh  verzehrte  in  den  6  Tagen  im  Mehl  und  Heu 
1407  Grm.  Stickstoff;  im  Harn,  dem  Koth  und  der  Milch 
wurden  dagegen  1440  Grm.  entleert,  d.  h.  der  Stickstoff 
der  Einnahmen  und  Ausgaben  stimmt  auf  2°/o  überein, 
das  Thier  befand  sich  also  im  Stickstoffgleichgewicht. 
In  80.6  Kilo  Heu  und  14.7  Kilo  Mehl  waren  2663  Grm. 
Fett,  in  178  Kilo  Koth  befanden  sich  1044  Grm.,  es  wurden 
also  1619  Grm.  Fett  in  die  Säftemasse  aufgenommen.  In 
130.7  Kilo  Harn  waren  562.4  Grm.  Stickstoff ;  berechnet  man 
letztere  auf  Eiweiss  und  zieht  den  Kohlenstoffgehalt  einer 
dem  Stickstoff  entsprechenden  Harnstoffmenge  ab,  so  erhält 
man  daraus  den  Kohlenstoff  von  '2220  Grm.  Fett  oder  nach 
Abzug  von  4.5%  Kohlenstoff,  welche  den  nach  der  Abtrennung 
des  Harnstoffes  vom  Eiweiss  überschüssigen  Sauerstoff 
binden,  2120  Grm.  Fett.  Die  57.3  Kilo  Milch  enthielten  aber 
1877  Grm.  eiweissartige  Substanz,  1976  Grm.  Fett  und 
3177  Grm.  Milchzucker.  Das  im  Körper  zersetzte  Eiweiss 
kann  also  144  Grm.  Fett  mehr  erzeugen ,  als  in  der 
Milch  sich  fanden;  der  Kohlenstoff  des  Milchzuckers  entspricht 
1670  Grm.  Fett,  während  vom  Eiweiss  144  Grm.  und  von 
dem  Fett  der  Nahrung  1619  Grm.  =  1763  Grm.  zur  Ver- 
fügung stehen.  Mau  braucht  somit  weder  für  das  Fett,  noch 
für  den  Milchzucker  in  der  Milch  die  Kohlehydrate  in  Anspruch 
zu  nehmen  und  es  ist  dadurch  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich, 
[1867.  II.  3.]  27 


406      Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  9.  November  1867. 

dass  auch  beim  Pflanzenfresser  die  Kohlehydrate  nicht  das 
Material  für  die  Fettbildung  abgeben ,  sondern  nur  dieselbe 
ermöglichen,  indem  sie  statt  des  Fettes  verbrennen.  Bei  dem 
grossen  Sauerstoffreichthum  der  Kohlehydrate  müsste  zur 
Erzeugung  von  Fett  eine  grosse  Menge  Sauerstoff  austreten 
oder ,  da  ein  solcher  Vorgang  nicht  wahrscheinlich  ist ,  ein 
beträchtlicher  Theil  Kohlenstoff  mit  dem  Sauerstoff  sich  zu 
Kohlensäure  vereinigen,  so  dass  nur  ein  kleiner  Theil  des 
Kohlenstoffs  zum  Uebergang  in  Fett  übrig  bliebe;  bei  der 
Bildung  von  Fett  aus  Eiweiss  braucht  nur  */3  so  viel  Sauer- 
stoff auszutreten. 

Die  Struktur  der  kleinsten  Theile  einer  Milchdrüse  zeigt 
uns  auch,  dass  es  sich  hier  um  eine  Werkstätte  zur  Zersetzung 
von  Stoffen  handelt  und  nicht  um  ein  einfaches  Filtrations- 
organ. Es  findet  sich  dort  vorzüglich  eine  fettige  Degenera- 
tion eiweissartiger  Substanz  und  vielleicht,  wie  ich  es  auch 
für  die  Leber  annehme,  ein  Uebergang  von  Fett  in  Zucker. 
Sobald  eine  Milchkuh  Fett  und  Fleisch  am  Körper  ansetzt, 
nimmt  die  Milchabsonderung  ab.  Eine  gute  Milchkuh  muss 
in  ihrem  Darm  viel  Eiweiss,  Fett  und  Kohlehydrate  aufnehmen 
können  und  bei  möglichst  geringer  Sauerstoffaufnahme  wenig 
davon  verbrennen,  sie  muss  aber  auch  eine  entwickelte  Milch- 
drüse haben,  um  aus  dem  grossen  Vorrath  von  Material  die 
Bestandteile  der  Milch  abzuscheiden  und  theilweise  zu  be- 
reiten. Ich  glaube,  dass  ein  grosser  Theil  des  Eiweisses  in 
der  Drüse  selbst  zersetzt  wird.  Die  ausführliche  Mittheilung 
der  Ergebnisse  des  Versuchs  werde  ich  demnächst  in  der 
Zeitschrift  für  Biologie  geben. 


Sitzung  der  math.-phys.  Geisse  vom  9.  November  1867.        407 

Herr    Moritz    Wagner    macht    unter    Vorzeigung   ver- 
schiedener Kundstücke  einige  Mittheilungen 

„Ueber  die  Entdeckung  von  Spuren  des 
Menschen  in  den  neogenen  Tertiärschichten 
von  Mittelfrankreich". 

Ein  umfassender  Vortrag  darüber  wird    von  ihm  nach- 
träglich gehalten  werden. 


Herr  Seidel  macht  Mittheilung: 

,, Ueber    eine    Darstellung     des    Kreisbogens, 
des    Logarithmus    und    des   elliptischen    In- 
tegrales    erster    Art    mittelst    unendlicher 
Produkte", 
in  welchen  die  unendljehe  Vieldeutigkeit    der  genannten 
Funktionen    durch    algebraische   Vieldeutigkeiten    wiederge- 
geben ist. 


27* 


408  Sitzimg  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1S67. 


Historische  Classe. 

Sitzung  vom  9.  November  18G7. 


Herr  Rockinge r  gab  Erörterungen 

„Zur    näheren   Bestimmung    der  Zeit   der  Ab- 
fassung des  sogenannten  Schwabenspiegels". 

Wenn  wir  für  heute  die  weitere  Mittheilung  der  Unter- 
suchungen über  die  hiesigen  Handschriften  des  sogenannten 
Schwabenspiegels  und  ihre  Gruppirung  unterbrechen,  so  ge- 
schieht dieses  in  Berücksichtigung  eines  Wunsches  geehrter 
Freunde,  welche  die  Veröffentlichung  eines  für  die  Frage 
nach  der  Zeit  der  Abfassung  unseres  Rechtsbuches 
nicht  unwichtigen  Ergebnisses  nicht  länger  hinausgeschoben 
sehen  wollten.    . 

Es  enthält  nämlich  eine  der  Handschriften  welche  der 
Gruppe  des  vom  Herrn  von  Berger  seiner  Ausgabe  vom 
Jahre  1726  zu  Grunde  gelegten  Codex  des  Reichsgrafen  von 
Wurmbrandt  angehören  Randbemerkungen  aus  zwei 
anderen  Handschriften  des  sogenannten  Schwaben- 
spiegels, wovon  die  eine  besondere  Beachtung  für  die  an- 
gedeutete Frage   in  Anspruch  nimmt. 

I. 

Die  Handschrift  selbst  um  welche  es  zunächst  sich 
handelt  ist  gegenwärtig  im  Besitze  unseres  geehrten 
Collegen  Föringer,  welcher  selbe  am  25.  April  1833  von 
dem  seither   verstorbenen  Hofrathe  Hoheneicher  käuflich  an 


Bockinger:  Zur  Abfassungszeit  des  Sclnoabenspiegels.        409 

sich  gebracht  und  uns  seinerzeit  zur  Vervollständigung  unserer 
Forschungen  über  die  hiesigen  Handschriften  des  soge- 
nannten Schwabenspiegels  und  ihre  Gruppirung  in  zuvorkom- 
mendster Weise  überlassen  hat,  in  einer  Güte  wofür  wir 
ihm  in  gegenwärtiger  Untersuchung  den  sprechenden  Be- 
weis unseres  Dankes  zu  liefern  nicht  verfehlen. 

Nicht  durch  hohes  Alter  zieht  diese  Handschrift  an. 
Auch  nicht  durch  die  Anlehnung  an  eine  der  hervorragenden 
Gestalten  unseres  Rechtsbuches,  indem  sie  —  wie  schon 
bemerkt  —  nur  zur  Gruppe  des  v.  wurmbrandt'schen  Codex 
zählt.  Auch  nicht  durch  besondere  Güte  des  in  dieser  Form 
vertretenen  Textes.  Die  Randbemerkungen  dagegen  welche 
ihr  aus  zwei  anderen  Handschriften,  und  vorzugsweise  jene 
welche  ihr  aus  einem  alten  Pergamentcodex  des  sogenannten 
Schwabenspiegels  angefügt  sind,  sie  verleihen  ihr  einen 
Werth  ganz  besonderer  Art. 

Was  ihre  äussere  Beschaffenheit  anlangt,  ist  sie 
auf  sechzehn  je  unten  auf  der  zweiten  Seite  des  letzten 
Blattes  mit  der  entsprechenden  Zahl  bezeichneten  Sexternen 
in  Folio  auf  Papier  einspaltig  —  mit  Ausnahme  des  in  zwei 
Spalten  geschriebenen  Inhaltsverzeichnisses  —  von  einer  nicht 
sonderlich  schönen  Hand  der  zweiten  Hälfte  oder  wohl  eher 
des  letzten  Viertels  des  15.  Jahrhunderts  gefertigt,  und  in 
helles  aussen  schön  geglättetes  Schweinsleder  in  der  Weise 
gebunden  dass  über  ihren  Rücken  ein  mit  dunkelbraunem 
Leder  überzogenes  Holzblatt  befestigt  ist,  welches  gegen 
oben  und  unten  ein  Lederknöpfchen  zeigt,  während  das 
Schweinsleder  der  hinteren  Seite  noch  zum  Umschlage  über 
jenes  der  vorderen  bis  in  die  Mitte  reicht  und  gegen  oben 
wie  unten  mit  fein  gedrehten  Spagatschnürchen  —  von  deren 
oberem  die  Enden  schon  längere  Zeit  abgerissen  zu  sein 
scheinen  —  behufs  besseren  Verschlusses  ohne  Zweifel  zum 
Einhängen  in  die  beiden  Lederknöpfchen  am  Rücken  ver- 
sehen ist.     Der  erste  der  genannten  Sexterne  war  Ursprung- 


410  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867, 

lieh  weder  foliirt  Doch  paginirt,  während  vom  zweiten  an 
bis  einschliesslich  dem  dritten  Blatte  des  sechzehnten  die 
Seitenzählung  1  —  350  angebracht  war.  Jetzt  ist  sie  von  der 
Hand  des  gegenwärtigen  Besitzers  foliirt. 

Ihren  Inhalt  bildet  zunächst  ein  Verzeichniss  der 
Kapitel  des  Buches  der  Könige  alter  E  wie  des 
Land- und  Lehenrechtes  des  sogenannten  Schwaben- 
spiegels, dann  diese  drei  Stücke,    in  folgender  Weise. 

Nachdem  auf  der  ersten  Seite  des  ersten  anfänglich 
leeren  Blattes  la  der  Titel  des  ganzen  Werkes  als  „Kaiser 
Karls  dess  Grossen  Landtgerichts  Buech  dess  Landess  zu 
Schwaben"  sich  eingetragen  findet,  beginnt  auf  Fol.  1  b  Sp.  1 
bis  Fol.  6  Sp.  2  das  Verzeichniss  der  Kapitel  der  drei  vor- 
hin bezeichneten  Bestandtheile,  und  zwar  sind  den  Kapiteln 
des  Land-  und  Lehenrechtes  des  sogenannten  Schwaben- 
spiegels die  je  entsprechenden  Seiten  des  nachfolgenden 
Textes  beigeschrieben. 

Auf  Seite  1  der  alten  und  Fol.  8  der  neuen  Bezeichnung 
beginnt  das  Buch  der  Könige  alter  E  in  dem  Umfange  wie 
es  uns  die  Ausgabe  Massmann's  in  des  Herrn  v.  Daniels 
Rechtsdenkmälern  des  deutschen  Mittelalters  III.  Sp.  XXXIII 
bis  CXXII  zugänglich  gemacht  hat,  und  reicht  bis  S.  98 
beziehungsweise  Fol.  56'. 

Nachdem  das  nächste  Blatt,  ursprünglich'  mit  S.  99 
und  aus  Ueberzählung  101  bezeichnet,  leer  gelassen  worden, 
beginnt  mit  S.  102  beziehungsweise  Fol.  58  ohne  besondere 
Ueberschrift  das  Landrecht  des  sogenannten  Schwaben- 
spiegels bis  S.  284  beziehungsweise  Fol.  148',  woran  sich 
ohne  Unterbrechung  der  Seite  sogleich  ,,kayser  Karls  lehen 
recht  puch"  bis  S.  349  beziehungsweise  Fol.  181    anreiht. 

Den  Schluss  dieser  Seite  und  die  folgende  füllt  eine 
Anzahl  von  kurzen  Rechtssätzen ,  wie  über  ehehafte  Noth 
und  anderes,  unter  dem  Rubrum :  Secuntur  articuly  generales. 

Beim  Lehenrechte  ist  der  Haupttitel,    und    bei  all  den 


Bochinger :  Zur  Abfassungszeit  des  Sclwabenspiegels.        411 

genannten  Bestandteilen  sind  die  Ueberschriften  der  Kapitel 
roth  eingetragen.  Beim  Buche  der  Könige  alter  E  finden 
sich  überdiess  je  am  Anfange  der  Kapitel  rothe  Initialen, 
welche  von  da  ab  auslassen,  so  dass  sie  für  das  Landrecht 
des  sogenannten  Schwabenspiegels  zum  grossen  Theile  gänz- 
lich fehlen,  während  sich  gegen  den  Schluss  des  Lehen- 
rechtes die  betreffenden  Anfangsbuchstaben  schwarz  einge- 
zeichnet finden. 

Was  des  genaueren  insbesondere  über  das  Land-  und 
Lehenrecht  unseres  Rechtsbuches  zu  bemerken  ist,  behalten 
wir  uns  für  die  seinerzeitige  Besprechung  von  fünf  weiteren 
hiesigen  Handschriften,  welche  zu  dieser  Gruppe  ge- 
hören, vor. 

Theils  an  den  vom  Texte  der  genannten  Bestandteile 
nicht  ausgefüllten  Blättern  wie  theilweise  an  dem  Rande 
des  Textes  selbst  begegnen  nun  noch  von  einer  gewand- 
ten Hand  des  Anfanges  des  17.  Jahrhunderts  ver- 
schiedenartige Bemerkungen,  von  Anfang  an  zahl- 
reicher, weiter  gegen  die  Mitte  oder  gar  das  Ende  zu 
sparsamer. 

Die  einen  bilden  Verweisungen  auf  das  sächsische 
Landrecht  nach  einer  der  bis  dahin  erschienenen 
Ausgaben  Zobel's,  welche  *)  jener  Schreiber  sich  aus  irgend 


1)  Wir  lassen  sie  hier  in  ihrem  Zusammenhange  folgen. 

Auf  fol.  59  ist  zu  den  Worten  der  Vorrede    „dar    umb  so  liesz 
er  zway  swert"  u.  s.  w.    bis    zu  den  Worten    „vnd    ander  werntlich 
fursten  betwingen  mit  der  acht"   an  den  Rand  bemerkt: 
Concordat  Artic.  1.  Landrecht. 

Was  hiebei  insbesondere  den  Satz  ,,das  swert  des  werntlichen 
rechtens  das  leichet  der  pabst  dem  kayser"  anlangt,  finden  wir  an 
den  Rand  beigeschrieben: 

Haec  pon  habentur  in  articulo. 

Auf  fol.  59'  begegnet  uns  weiter  zu  den  Worten  der  Vorrede  (in 
der  durch  Freiherrn  v.  Lassberg  besorgten  Druckausgabe  Absatz  g) 


412  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

welchem    Grunde    beigezeichnet    hat.     Die    anderen    bieten 
eine  Vergleichung  einer  einem  nicht    näher   gekenn- 


,,vnd  sol  ain  yeglich  Christen  mensch"    bis    zu    den  Worten    „da  er 
gutt  jnne  hatt"  die  Bemerkung: 

Concordat  Landrecht  art.  2.    Vide  ibi  latius. 
Sodann    ist    zu  Artikel  1  =  L  Vorwort  h   an    den  Rand    bei- 
gefügt : 

Im  Landrecht  art.  2  werden  sie  genannt  Schöppenbare  freyen 
seu  Banniti;  PfleghafFten  seu  Proprietarij ;  Landsessen  oder  lassen, 
Pagani. 

Auf  fol.  60  zu  Artikel  3  =  L.  2  bis  zu  den  Worten  „ob  der 
sibende  herschilt  lehen  muge  geLaben  oder  nicht,  den  sibenden  her- 
schilt hat  ain  yeglich  man  der  nicht  aigen  ist  vnd  der  ain  ee  kind 
ist"  finden  wir  die  Bemerkung: 

Concordat  Landrecht  art.  3. 
Insbesondere    zu    dem   Satze    dass    die  Laienfürsten    den  dritten 
Heerschild  heben  ist  noch  an  den  Rand  beigefügt: 

Nota  im  Landtrecht  stehet  dabey:  seit  sy  der  Bischoff  Mann 
worden  sind. 

Zu  Art.  4  =  L  3  ist  bemerkt: 
Concordat  Landrecht  art.  3. 
Auf  fol.  61  ist  zu  Artikel  5  =  L  4  beigesetzt:. 

Concordat  Landrecht  art.  5. 
Auf  fol.  61'    finden  wir    zu  den  Worten  des  Artikels  6  =  L  5  a 
„geswistergeit    taylent  nicht    mit  jm  chain  varendes  gutt  wie  vil  er 
gult  haben  sulle"    an  den  Rand  bemerkt: 
Concordat  Landrecht  art.  5. 
Sogleich    zu   den  Anfangsworten    der   gegen    den  Schluss  dieses 
Artikels  gegen  L  5  a  weiteren  Fassung   „Der  pfaffe    erbet  aigen  mit 
anderen  seynen  geswistergeitten,    vnd   dy    lehen   nicht,     da    von    ist 
das  ainem  yeglich  man  der  lehen  hat  des  heren  man  haisset  der  jm 
das  lehen  leihett.     vnd  wan  all  pfaffen  frey  sind,    da  von  sullent  sy 
auch  dy  erben  nicht  erben"   ist  an  den  Rand  beigeschrieben: 
Landrecht  ibidem. 
Zu  Artikel  7  =  L  5b    ist  an  den  äusseren  Rand  bemerkt: 

Concordat  Landrecht  art.  5  et  art.  6;  ^ 

und  zu  den  Worten  „als  erb  gutt"  an  den  inneren: 
es  sey  denn  lehen. 


Bockinger:  7avt  Abfassungszeit  des  Schivabenspiegels.        413 

zeichneten  Gabriel  Mair  gehörigen  Handschrift  des 
sogenannten  Schwabenspiegels.  Wieder  andere  endlich 
sind  uns  als  Nachrichten  über  eine  alte  Pergament- 
handschrift desselben  ungemein  willkommen. 

Sie  sind  es  denn,  mit  welchen  wir  allein  fortan  uns 
beschäftigen  wollen. 

II. 

Der  zunächst  vor  allem  wichtige  Eintrag  findet 
sich  auf  dem  früher  leeren  Blatte  zwischen  dem  Inhaltsverzeich- 
nisse der  Handschrift  und  dem  Beginne  des  Buches  der  Könige, 
nunmehr  Fol.  7,  in  deutscher  Schrift,  während  die  Anführ- 
ungen aus  der  alten  Pergamenthandschrift  mit  lateinischen 
Buchstaben  gegeben  sind,  und  lautet  in  seinem  Zusammen- 
hange : 

Nota  bene.     Jn    einem    alten   pergamen   buch    darein 


Zu  den  Worten  „selb  sibent"  daselbst  ist  beigeschrieben: 

Nota.    Jus  Saxonicum  requirit  72  Bannitos  testes  oder  Schöp- 
penware  leute.  ibidem. 

Auf  fol.  62  zu  dem  Artikel  8  =  L  5c  ist  bemerkt: 

Concordat  Landrecht  art.  6. 
Auf  fol.  62'  zu  Artikel  12  =  L  10  steht  am  Rande: 

Concordat  Landrecht  art.  6  lib.  1. 
Sodann   zu   Artikel  13  =  Lllb  und  c   von   den  Worten    „oder 
an  dem  franpotten"  an: 

Concordat  Landrecht  art.  8  lib.  1. 
Auf  fol.  64'  zu  Artikel  19  =  L  17  zu  den  Worten  „Swäbischew 
recht  zwayent  sich  nichte  zw  Sachsen  vvan  an  erb  zw  nemeu  vnd  an 
vrtail  zw  geben"  ist  am  Rande  bemerkt: 
Concordat  Landrecht  art.  19  lib.   1. 
Zu  Artikel  20  =  L  18  bis  zu  den  Worten    „sy    sol  es  aber  von 
erste  den  erben   an  pietten   zw    losen    nach    erber   luwt   rat"    finden 
wir  am  Rande: 

Concordat  Landrecht  art.  20  lib.  1. 

Alda  stehet:  Ein  ieglich  Mann  der  Ritters  arth  ist- 


414         Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

volgend  rechtbuch  gantz  schön  vnd  sauber  geschriben 
worden,  welches  mir  herr  Nicomad  Schwäbl  den 
7.  februar  1609  zu  ersehen  communicirt,  sonst  herrn 
A  gehörig,  darinn  auch  herrn  Vrban  Trinkhls  etwo 
dess  raths  vnd  cammerers  alhie  wappen  im  anfang  zu 
sehen,  stehen  vornher  volgende  wordt : 

Di ss  pergamene  recht  puech  ha b  ich  Hein- 
rich der  Preckendorffer,  zue  dem  Prek- 
hendorff  vnd  Krebliz  doheim,  mit  mir 
auss  Schweyttz  gebracht. 

Schankht  vnd  vererdt  mir  ein  ritter  vnd 
burger  auss  Zürikh  als  ich  der  zeyt  bey 
graf  f  Rudolff  von  Habspurg  inrt  vier  heim 
edler  kriecht  gewesen,  vnd  erdamals  sambt 
andern  rittern  vnd  knechten  auss  Zürich 
meinem  hern  dem  graffen  zu  hilff  ge- 
schikht  ward,  der  dan  disser  zeit  wider 
di  hern  von  Regensperg  den  bischoff  von 
Bassel  vnd  zwayen  grafen  von  Toggenburg 
krieg  gefürth  hat. 

Vnd  bin  anno  1264  zu  graff  Rudolff  von 
Habspurg  komen,  vnd  anno  1268  vff  zu- 
schreiben meines  prueder  Georgen  dem 
Prekhendorffer  abgezogen,  laut  meines 
schrifftlichen  redlichen  vnd  gnedigen  ab- 
schidt,  wie  auch  in  meinem  raysbuech 
verzaichnet. 

Auff  der  andern  seiten  diss  blats  ist  obermelter 
Prekhendorffer  abgemahlt  zu  sehen,  in  gantzem  kiriss 
kniendt  vor  einem  gemaltem  crucifix,  mit  aufgerekhten 
henden,  blossem  grauen  haubt  vnd  bardt ,  sein  heim 
auf  der  erden  ligent,  gegen  vber  volgendes  wappen: 


Rockingcr:  Zur  Abfassungszeit  des  Sclnvabcnspiegels.        415 


Unter  der  figur  vnd  wappen  stunden  volgende  reimb: 

Ein  edelkhnecht  vnd  krieger  ich  XXXI  jar  war 

in  V  schlachten  gnanden,  schirm  Scharmützeln 

one  zal, 

dorin  mich  gott  liebt  vnd  Hess  genesen. 

Achtet  besser,  ich  wer  auch  todt  gewesen, 

dan  vil  bluts  ich  mein  tag  tett  vergiessen. 

Trag  sorg,  mein  kinder  Werdens  lützel  ge- 
messen. 

Doch  der  barmhertz  gottz  icli  vertrau, 

vnd  allein  auf  gott  durch  Christum  bau. 

Fünff  sprachen    auss    meinem  mund  ich  reden 

khunt, 

Wie    man   solchs    in    meinem    raysbuch    finden 

thuet. 

Was  haben  wir  hieraus  zu  entnehmen?   Dem  Besitzer 
der  jetzt  unserem   verehrten  Collegen  Föringer  an- 


416  Sitzung  der  Mstor.  Gasse  vom  9.  November  1867. 

gehörenden  Handschrift,  welche  wir  fortan  als  die  Hand- 
schrift F  bezeichnen  wollen,  gewährte  am  7.  Februar  1609 
ein  Herr  Niconied  Schwäbl  die  Einsicht  einer  dem  Hein- 
rich dem  Preckendorfer  von  einem  Ritter  und  Bürger 
aus  Zürich  zwischen  den  Jahren  12  64  bis  12  68  ge- 
schenkten und  von  ihm  aus  der  Schweiz  mitgebrachten  Per- 
gamenthandschrift  des  sogenannten  Schwabenspie- 
gels, für  den  weiteren  Verlauf  unserer  Erörterung  als  Hand- 
schrift P  getauft,  in  welcher  sich  das  Wappen  eines  Kam- 
merers und  Mitgliedes  des  inneren  Stadtrathes  Urban  Trinkl 
fand,    und    welche   einem  Herrn  A  gehörte. 

Fragen  wir  zunächst  nach  dem  erwähnten  Heinrich 
dem  Präckendorfer  oder  Preckendorfer,  zu  dem 
Preckendorf  und  Kreblitz  daheim,  so  werden  wir  in  die 
baierische  Oberpfalz  geführt,  in  deren  Landgerichte  Neun- 
burg vorm  Wald  die  beiden  genannten  Orte  liegen,  heute 
Prackendorf  und  Kröblitz  geschrieben. 

Weniger  einfach  ist  die  Sache  bezüglich  der  übrigen 
Persönlichkeiten  gelagert  welche  namhaft  gemacht  worden 
sind.  Doch  dürfen  wir  uns  aus  Gründen ,  die  von  selbst 
einleuchten,  dieser  Frage  nicht  entziehen.  Und  insoferne 
bei  Erwähnung  des  Urban  Trinkl  die  Bemerkung  „alhie" 
beigesetzt  ist,  kennzeichnet  sich  einmal  der  Besitzer  unserer 
Handschrift  als  am  7.  Februar  1609  an  demselben  Orte  be- 
findlich, und  wird  auf  der  andern  Seite  auch  der  damalige 
Besitzer  der  in  Frage  stehenden  Pergamenthandschrift  wie 
nicht  minder  Nicomed  Schwäbl  schwerlich  anderswo  als 
eben  daselbst  zu  suchen  sein. 

Unsere  Nachforschungen  haben  in  diesen  Beziehungen 
auf  Regensburg  geführt.  Die  aus  dieser  ehemaligen 
deutschen  Reichsstadt  in  das  baierische  allgemeine  Reichs- 
archiv  gelangten  Urkunden  und  Akten  führen  uns  nämlich 
zu  folgenden  Ergebnissen. 

Was    zunächst   den  bemerkten     Urban   Trinkl    oder 


Eockinger:  Zur  Abfassungszeit  des  Schwabenspiegels.         417 

T  r  im  k  1  anlangt,  von  welchem  eben  ganz  einfach  die  Untersuch- 
ung ausgehen  kann,  findet  er  sich  urkundlich  in  den  zwanziger 
und  dreissiger  Jahren  des  IG.  Jahrhunderts  zu  Regensburg.  In 
einer  Urkunde  vom  Donnerstage  nach  Katharina  des  Jahres 
1524,  an  welcher  auch  sein  Sigel  hängt,  erscheint  Vrban 
Trunckl  des  rates.  In  einer  anderen  vom  Mittwoche  nach 
Leonhart  des  Jahres  1530  begegnet  uns  Vrban  Trunckl  des 
rates  als  Zeuge.  Nach  einer  weiteren  vom  Mittwoche  nach 
Maria  Himmelfahrt  des  Jahres  1532  ist  Vrban  Trunckl  des 
jnnern  rates  als  Schiedsrichter  von  Kammerer  und  Rath 
von  Regensburg  verordnet.  An  einem  Aktenstücke  vom 
Montage  nach  Lätare  des  Jahres  1533  sigelt  her  Vrban 
Trunckl  burger  zu  Regenspurg  des  jnnern  rates  vnd  der  zeit 
stat  camerer.  Am  Donnerstage  nach  Jakob  des  Jahres  1536 
sigelt  Vrban  Trunckl  burger  vnnd  des  jnnern  rates  zw  Re- 
genspurg als  Schiedsrichter  des  Rathes  eine  Urkunde.  Weiter 
begegnet  er  uns  in  einer  vom  Montage  nach  Bartolomäus 
1537.  Im  Jahre  1540  wird  er  als  verstorben  erwähnt. 

Gehen  wir  zu  Nicomed  Schwäbl  über,  für  welchen 
von  vornherein  der  7.  Februar  1609  feststeht,  so  finden  wir 
ihn  als  Sohn  des  Nicomed  Schwäbl,  welcher  uns  gegen 
Ende  des  zweiten  Viertels,  und  als  Mitglied  des  inneren 
Rathes  und  Kämmerer  von  Regensburg  mehrfach  mit  Dionys 
von  Preckendorf  in  Aktenstücken  des  dritten  Viertels  des 
16.  Jahrhunderts2)  begegnet,  in  einer  Urkunde  vom  6. Febr.  1584 


2)  Bei  der  Erbschaftsauseinandersetzung  unter  die  Kinder  des 
Mitgliedes  des  inneren  Ratlies  zu  Regensburg  Simon  Sclvwäbl  am 
18.  Februar  1542  ist  er  nocb  unmündig. 

Am  19.  Mai  1543  erscheint  er  als  Lehenträger  für  seinen  Bruder 
Alexander. 

Aus  einer  Urkunde  vom  20.  Februar  1548  haben  wir  Kunde  über 
die  sclnväbl'sche  Behausung  in  Scherer  strasz. 


418  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

worin  dem  Christof  Schwäbl  als  Lehenträger  seiner  Mutter 
Elisabet  und  für  sich  selbst  wie  anstatt  seiner  Brüder  Sieg- 
mund und  Nicomed  der  Schwäbl  von  dem  confirmirten  Bi- 
schöfe Philipp  von  Regensburg  Güter  verliehen  werden.  Von 
seinem  Vetter  dem  älteren  Wolf  von  Asch  und  Paimlikhofen 
erhielt  Nicomed  Schwebl  des  jnnern  rhats  zw  Regenspurg 
einen  Weingarten  nach  Urkunde  vom  Nicolausabende  des 
Jahres  1586,  zu  welcher  ein  Lehenbrief  des  confirmirten 
Bischofs  Philipp  vom  14.  Juni  1588  verglichen  werden  mag. 
Weiter  erscheint  in  einer  Urkunde  des  Herzogs  Wilhelm 
vom  7.  August  1592  Nicomed  Schwäbl  burger  vnnd  dess 
jnnern  raths  als  Lehenträger  seiner  Vaterstadt.  In  einer 
vom  19.  August  1599  wird  Nicomed  Schwäbel  burger  vnnd 
des  jnnern  raths  auch  statt  camerer  zw  Regenspurg  vom 
Bischöfe  Siegmund  belehnt.  Wieder  treffen  wir  in  einer 
vom  Herzoge  Maximilian  zu  München  ausgestellten  und 
unterschriebenen  Urkunde  vom  15.  Jänner  1600  als  Lehen- 
träger des  Kammerers  und  Rathes  von  Regensburg  Nicomed 


Am  31.  Jänner  1551  wird  er  für  sich  und  als  Lehenträger  für 
seinen  Bruder  Timotheus    vom  Bischöfe  von  Regensburg  belehnt. 

Bald  finden  wir  ihn  jetzt  in  Verbindung  mit  Dionys  von  Precken- 
dorf.  So  beispielsweise  in  einer  Urkunde  vom  Mittwoche  dem  1.  Februar 
1553  über  die  Erbschaftsauseinandersetzung  des  Alexander  Schwäbl, 
welche  Dionisi  von  Präckendorf  des  jnnern  ratts  vnd  burger  zu  Re- 
genspurg sigelt. 

Am  25.  Oktober  1555  vergleicht  er  und  einige  andere  Raths- 
freunde  sich  wegen  einer  ihnen  von  Kammerer  und  Rath  von  Re- 
gensburg bewilligten  Abwasserbenützung. 

Nicomed  Schwäbl  vnnd  Dionisi  von  Präckhendorff,  bede  burger 
vnnd  des  jnnern  raths  zu  Regenspurg,  erscheinen  als  Vormünder 
über  des  Dionisi  Schiltl  Kinder   in  einem  Briefe  vom  24.  Juni  1565. 

Auch  war  er  Lehenträger  seiner  Vaterstadt ,  wie  wir  einer 
Urkunde  vom  16.  März  1557  entnehmen,  und  leistete  nach  seinem 
Absterben  Haubold  Flettacher  als  solcher  dem  Herzoge  Albrecht 
am  16.  Juni  1571  den  Eid. 


Rockinger:  Zur  Abfassungszeit  des  Schwabenspiegels.        419 

Schwäbl  burger  vnd  dess  jnnern  rhats  daselbs.  In  zwei 
Urkunden  vom  9.  Februar  1604  belehnt  Bischof  Wolfgang 
von  Regensburg  den  Nicomed  oder  Nicornedt  Schwäbel 
burger  vnd  des  jnnern  raths  auch  stadt  camerer  zu  gemel- 
ten  Regenspurg  mit  verschiedenen  daselbst  näher  bezeich- 
neten Gütern.  Nach  einer  Urkunde  vom  4.  September  1609 
gehört  er  nicht  mehr  den  Lebenden  an,  indem  weillundt 
Nicomeden  Schwäbeis  gewesten  jnnern  raths  vnd  statcam- 
merers  zue  Regenspurg  hinderlassenen  wittib  Vrsula  vom 
Bischöfe  Wolfgang  mehrere  der  früheren  Lehen  ihres  ein- 
stigen Ehegatten  durch  ihren  Lehenträger  Friderich  Reitmor 
zu  Perckhausen  (und  nach  einer  Urkunde  vom  1.  Juli  1615 
vom  Bischöfe  Albrecht  durch  ihren  Lehenträger  Andreas 
Reitmor  zu  Deidenhouen)  übertragen  wurden. 

Weniger  sichere  Anhaltspunkte  stehen  uns  für  den  da- 
maligen Besitzer  der  Pergamenthandschrift  P,  wie  für  den  des 
Codex  F,  welcher  die  Nachricht  darüber  enthält,  zu  Gebote. 
Sehr  natürlich,  indem  der  erstere  blos  als  Herr  A  bezeichnet 
wird,  der  letztere  aber  nirgends  in  der  Handschrift  selbst 
genannt  ist.  Doch  dürfen  wir  wohl  auch  über  beide  einige 
Muthniassungen  äussern  welche  nicht  allen  Grundes  ent- 
behren möchten,  insbesondere  wenn  wir  noch  den  Gabriel 
Mair  für  diesen  Punkt  herbeiziehen,  welcher  auch  eine 
Handschrift  des  sogenannten  Schwabenspiegels  besass  über 
welche  in  unserem  Codex  F  Mittheilungen  gemacht  sind. 

Steht  fest,  dass  Nicomed  Schwäbl,  dessen  Vermittlung 
am  7.  Februar  1609  der  Besitzer  der  uns  erhaltenen  Papier- 
handschrift  F  die  Benützung  der  sonst  oder  —  wie  wir  uns 
jetzt  vielleicht  genauer  ausdrücken  könnten  —  eigentlich 
dem  Herrn  A  gehörigen  Pergamenthandschrift  P  verdankte, 
Mitglied  des  inneren  Ratlies  und  Kammerer  zu  Regensburg 
gewesen,  so  wird  der  Herr  A  kaum  anderswo  zu  suchen 
sein.  Auch  liegt  sicher  die  Annahme  sehr  nahe,  dass  er 
eine   Persönlichkeit    war   welche  mit   Nicomed    Schwäbl   in 


420  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

gewissen  sei  es  freundschaftlichen  sei  es  geschäftlichen  Be- 
ziehungen stand.  Nun  begegnet  uns  in  der  Zeit  um 
welche  es  sich  handelt  Christof  Adler  sicher  im  ersten 
Decennium  dieses  Jahrhunderts  als  Mitglied  des  inneren 
Ratlies  zu  Regensburg.  Er  erscheint  in  zwei  Urkunden  vom 
4.  Mai  1607,  wovon  er  eine  sigelt,  als  burger  vnd  dess 
jnnern  rathes  zu  Regenspurg  vnnd  dissorts  verordneter  wacht- 
herr.  In  einer  vom  Herzoge  Maximilian  zu  München  aus- 
gestellten und  unterschriebenen  Urkunde  vom  12.  März  1610 
begegnet  er  uns  als  Lehenträger  des  Kammerers  und  Rathes 
von  Regensburg.  Als  solchen  treffen  wir  nach  seinem  Ab- 
leben3) das  Mitglied  des  inneren  Rathes  Hanns  Jakob 
Aichinger  in  einer  gleichfalls  vom  Herzoge  Maximilian  zu 
München  am  3.  Juli  1616  ausgestellten  und  unterschriebenen 
Urkunde.  Auch  begegnet  er  uns  ,,des  jnnern  geheimen 
raths"  als  Zeuge  bei  einem  Kaufe  der  Stadt  Regensburg  in 
einer  Urkunde  vom  13.  April    1622. 

Aus  derselben  Zeit  haben  wir  dann  Kunde  von  dem 
schon  berührten  Gabriel  Mair.  In  einer  auf  dem  Rath- 
hause  zu  Regensburg  am  14.  Oktober  alten  und  24  neuen 
Kalenders  1613  vorgenommenen  Verhandlung  erscheint  als 
Zeuge  Gabriel  Mayer  burger  vnd  eines  e(rbern)  Stattgerichts 
beysitzer  vnnd  assessor.  In  einer  Urkunde  vom  6.  Oktober  1614 
sodann  begegnet  uns  als  Zeuge  bei  einem  Kaufe  in  Regens- 
burg   Gabriel  Meier  eines  e(rbern)  Stattgerichts  assessor. 

Haben  wir  es  auf  solche  "Weise  —  selbst  wenn  Christof 
Adler  nicht  als  nothwendig  annehmbar  erscheint  —  mit  an- 
gesehenen Bürgern  der  ehrwürdigen  Reichsstadt  zu  thun,  so 


3)  Aus  erster  Ehe  wie  es  scheint  hatte  er  eine  Tochter  Susanna, 
welche  an  den  Bürger  und  Stadtgerichtsbeisitzer  zu  Regensburg 
Daniel  Eder  verheiratet  war,  wie  aus  der  Urkunde  über  den  Verkauf 
ihrer  zwei  anererbten  an  dem  unteren  Wörth  zu  Eegensburg  ge- 
legenen Pulvermühlen  u.  s.  w.  vom  17.  Juni  1G22  hervorgeht. 


Rockinger:  Zur  Abfassungszeit  des  Sclncahenspiegels.        421 

wird  vielleicht  nunmehr  auch  ein  Schluss  auf  den  Besitzer 
der  Handschrift  F  erlaubt  sein,  welche  uns  die  Einträge 
aus  dem  alten  Pergamentexemplare  P  des  sogenannten 
Schwabenspiegels  erhalten  hat.  Dass  er  in  engen  Bezieh- 
ungen namentlich  zu  Nicomed  Schwäbl  und  Gabriel  Mair 
gestanden,  unterliegt  keinem  Zweifel,  indem  beide  ihm  Hand- 
schriften unseres  Rechtsbuches  zur  Benützung  gaben.  Dass 
er  selbst  ein  Mann  gewesen  der  dafür  reges  Interesse  ge- 
habt, beweisen  die  Einträge  welche  er  daraus  in  sein  eigenes 
Exemplar  machte.  Dass  wir  wohl  nicht  mit  Unrecht  einen 
rechtsgelehrten  Mann  in  ihm  vermuthen  dürfen,  gründet 
sich  auf  die  Betrachtung  der  verschiedenen  Anmerkungen 
welche  namentlich  vom  Anfange  an  —  neben  den  schon 
bemerkten  Einträgen  aus  den  beiden  Exemplaren  des  so- 
genannten Schwabenspiegels  —  bezüglich  der  Uebereinstim- 
mung  mit  dem  von  ihm  so  bezeichneten  Landrechte  den 
Rand  füllen.  Nun  finden  wir  gerade  in  der  Zeit  welche  in 
Frage  kommt  einen  Doctor  beider  Rechte,  Paul  Dins- 
peckh,  als  Stadtschultheissen  von  Regensburg.  Er  wurde 
als  solcher  nach  der  im  baierischen  allgemeinen  lieichsarchive 
aufbewahrten  Designation  derer  Herren  Stadt  Schultheissen 
löblicher  Reichs  Stadt  Regenspurg  von  Johann  Georg  Gölgel 
im  Jahre  1600  bestellt,  und  sigelte4)  mehrfach  Urkunden 
über  verschiedene  an  Kammerer  und  Rath  daselbst  vorge- 
nommene Verkäufe,  beispielsweise  vom  20.  Februar  und  31.  März 
1G02,  vom  30.  Juli  und  25.  September  1607.  Gerade  in  dem 
Jahre  in  welchem  die  Einträge  in  unserer  Handschrift  ge- 
macht worden  sind,  am  21.  August  1G09,  kaufte  er  einen 
Acker  zu  Regensburg  vor  dem  prepronner  Thore.  Zuletzt 
begegnen  wir  ihm  in  Urkunden  vom  3.  Oktober  und  24.  Jänner 


4)  Die  Umschrift  seines  Sigels  lautet: 
Paulus  Dinspeccius  i.  v.  d.  vnd  schvlthais  zv  Regenspurg. 
[1867.11.3.]  28 


422  Sitzung  der  Mstor.  Gasse  vom  9.  November  1867. 

1616.  Warum  soll  er  nicht  Besitzer  der  Handschrift  F  ge- 
wesen sein  können? 

Doch  gleichviel ,  ob  dem  Christof  Adler  die  viel  er- 
wähnte alte  Pergamenthandschrift  P  gehörte ,  gleichviel  ob 
Paul  Dinsbeck  der  Besitzer  unseres  Codex  F  gewesen,  Re- 
gens bürg  ist  jedenfalls  der  Ort  an  welchem  beide  Hand- 
schriften sich  am  7.  Februar  1609  befanden,  denn  wenn  die 
letztere  auch  nicht  dem  Paul  Dinsbeck  gehört  haben  sollte, 
kann  nach  den  obigen  Ergebnissen  in  dem  Beisatze  ,,alhie" 
kein  anderer  Ort  als  Regensburg  verstanden  werden. 

"Wie  nun  dahin  die  für  uns  so  wichtige  Pergamenthand- 
schrift P  gelangt,  vermögen  wir  nicht  sicher  zu  bestimmen. 
Ohne  Zweifel  durch  die  Pr ecken dorf  er.  Auf  welchem  Wege 
aber,  wir  haben  darüber  so  wenig  bestimmte  Nachrichten 
als  über  die  ältere  Genealogie  dieses  Geschlechtes.  Gerade 
über  den  Heinrich  wie  über  seinen  Bruder  Georg  und  seine 
eigene  Familie,  welche  man  annehmen  muss  da  er  selbst 
von  seinen  Kindern  spricht,  fehlen  uns  im  Augenblicke 
weitere  Anhaltspunkte  als  was  sich  aus  dem  bereits  be- 
rührten Eintrage  in  der  Pergamenthandschrift  P  entnehmen 
lässt.  So  interessant  sein  Reisbuch  gewesen  sein  mag,  so 
wichtig  es  nicht  allein  für  die  nähere  Bekanntschaft  mit 
dem  Manne  sondern  auch  für  die  in  manchen  Einzelheiten 
noch  keineswegs  ganz  und  gar  aufgehellten  Fehden  des 
Grafen  Rudolf  von  Habsburg  mit  den  Herren  von  Regens- 
berg, dem  Bischöfe  von  Basel,  den  beiden  Grafen  von  Tog- 
genburg in  den  Jahren  1264  bis  1268 5)  sein  dürfte,  so 
vielfach  willkommene  geschichtliche  und  andere  Mittheilungen 
es    ausserdem    aus    der   Feder    eines    Edelknechtes    bieten 


5)  Wir  können  für  unseren  Behuf  hier  ganz  kurz  auf  Lich- 
nowsky's  Geschiebte  des  Hauses  Habsburg  I.  S.  69  ff.  und  besser 
Kopp 's  Geschichte  der  eidgenössischen  Bünde  II.  S.  639  ff.  verweisen 


Rockinger:  Zur  Abfassungszeit  des  Schwabenspicgels.         423 

müsste  der  Herr  über  fünf  Sprachen  war  und  nicht  weniger 
als  ein  und  dreissig  Jahre  im  Kriegsgetüunnel  umherzog,  es 
liegt  uns  nicht  vor.  Mutmasslich  blieb  es  wohl  zunächst 
im  Besitze  der  Preckendorfer,  über  welche  insbesondere  um 
die  Mitte    des  14.  Jahrhunderts6)    die    urkundlichen  Belege 


6)  Wohl  noch  ziemlich  über  sie  hinauf  reicht  der  Heinrich 
Präkendorfer  dessen  im  sechsten  Absätze  Erwähnung  zu  geschehen  hat. 

Jacob  der  Prakkendorfer  stiftet  sich  am  Nicolaustage  des  Jahres 
1358  einen  Jahrtag  im  Gotteshause  Maria  Magdalena  auf  prukker 
Vorst.  Mon.  boic.  XXVII  S.  164  und  165. 

Auch  treffen  wir  um  diese  Zeit  herum  Glieder  unseres  Ge- 
schlechtes als  Lehensleute  des  Landgrafthums  Leuchtenberg. 

So  begegnet  uns  in  dem  ältesten  wohl  noch  im  dritten  Viertel 
dieses  Jahrhunderts  geschriebenen  leuchtenbergischen  Lehenbuche 
unter  der  Abtheilung  „daz  sind  di  lehen  di  gehorn  zum  Lewtem- 
berg  in  die  herschaft"  auf  fol.  18'  der  Eintrag:  Stephan  vnd  Virich 
di  Prechendorfer  haben  zu  lehen  zwen  hof  zu  Prechendorf  mit  irr 
zuegehorung. 

Weiter  finden  wir  daselbst  unter  der  Abtheilung  ,,daz  sind  di 
lehen  der  pürger  zu  der  Weyden1'  auf  fol.  41  bemerkt:  Wolfhart 
Pregendorffer  vnd  sein  prüder  Jacob  habent  zu  Pregendorf  vij  gut 
vnd  einen  zehent  ze  Pernhof  vber  viiij  gut. 

Heinrich  und  Hanns  die  Pioshawpper  mit  ihrer  Mutter  Alhayt 
vergleichen  sich  über  die  Erbschaft  ihres  Oheims  Haynreichs  dez 
Präkendorfers  mit  dem  Kloster  Schönthal  und  ihrer  Muhme  Agnes 
der  Lichtenekkerin  laut  Urkunde  vom  Freitage  in  der  ersten  Fasten- 
woche des  Jahres  1382 ,  in  welcher  Steffan  der  Präkendorfer  unter 
den  Zeugen  erscheint.     Mon.  boic.  XXVI   S.  219  und  220. 

Der  Registratur  über  das  Lehenbuch  des  Landgrafen  Johann 
des  jüngeren  von  Leuchtenberg  entnehmen  wir  nachstehende  vier 
Einträge  zu  den  Jahren  1408  und  1416. 

Anno  1408  feria  quinta  ipsa  die  sanctj  Jordanj  et  Epimachj 
martyrum  Vlrichen  Preckendorffer  den  sitz  zu  Preckendorff  mit  aller 
zugehörung  an  veld  wismad  darauff  er  sitzet. 

Anno  1408  feria  vj,a  proxima  Niclassen  Preckendorffer  den  sitz 
darauff  er  sitzet  zw  Preckendorff  mit  aller  zugehqrung  an  veld  wis- 
mad vnnd  holtze. 

28* 


4  24         Sitzung  der  histor.  Glasse  vom  9.  Noveviber  1867. 

reichlicher  fliessen.     An    welche    von   den    betreffenden  Fa- 
miliengliedern    es  gelangte,    wissen  wir  nicht.     Ob  und  von 


Anno  1416  feria  quinta  octaua  beatj  Stephanj  Lorentz  Raschawer 
burger  zw  Vichtag  ij  lehen  zw  Preckendorff  gelegen  die  er  von 
Niclasen  Preekendorffer  gekaufft  hatt.  derselb  Preckendorffer  hatt 
den  sitz  zu  Preckendorfl1  darauf?  er  sitzet   mit  seiner  zugehörung. 

Anno  et  die  ut  supra  Hannsen  Raschawer  zw  Vichtag  bey  Mu- 
rach gelegen  gesessen  zwey  lehen  zu  Preckendorff  jnn  newnburger 
gericht  dietrichskürchner  pfarr  die  sein  vatter  Raschawer  von  Ni- 
lasen  Preckendorffer  gekaufft  hat. 

Andre  Prakendorffer  oder  wie  er  unten  in  der  Urkunde  ge- 
schrieben ist  Brakendorffer  zue  Prakendorff  stiftet  einen  Jahrtag  im 
Kloster  Schönthal  am  24.  Juni  1431.  Mon.  boic.  XXVI  S.  391—393. 
Die  Umschrift  in  seinem  Sigel  lautet:  Andre  Preckendorfer.  Ihm 
übergab  am  Franciscustage  des  Jahres  1433  Landgraf  Leopold  von 
Leuchtenberg  drei  einstmals  dem  Niclas  Brackendorffer  verliehen 
gewesene  Güter  zu  Brackendorff  welche  heimgefallen  waren.  Auch 
als  oberpfälzischen  Lehenmann  finden  wir  ihn,  indem  nach  Herzog 
Johanns  Lehenbuche  fol.82'  dem  Endres  Praeckendorffer  am  Dienstag 
nach  Lucia  des  Jahres  1434  ein  verfallenes  Lehen  einer  bei  Prae- 
ckendorff  gelegenen  Wiese  übertragen  wurde. 

Albrecht  Präkkndorffer  zum  Sigenstain  erscheint  in  einem  Hof- 
gerichtsbriefe vom  Freitage  nach  dem  Gilgentage  des  Jahres  1446 
in  den  mon.  boic.  XXVII  S.  433—435. 

Auf  den  Montag  nach  Gall  des  Jahres  1448  fällt  eine  land- 
gräflich leuchtenbergische  Belehnung  des  Sigmund  des  Prackenn- 
dorffers  mit  dem  Sitze  Prackenndorff. 

Peter  Prackendarffer,  Richter  zu  Camb,  sigelt  eine  Urkunde  vom 
9.  August  1454.  Mon.  boic.  XXVI.  S.  476  und  477.  Die  Umschrift 
im  Sigel  lautet:  Peter  Prackendorffer. 

Wir  könnten  in  solcher  Aufzählung  bis  in  die  zweite  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  fortfahren.  Doch  genügt  es  uns  hier,  aus  einer 
zu  Anfang  des  genannten  Jahrhunderts  amtlich  vorgelegten  arbor 
consanguinitatis  praeckhendorffianae,  welche  wir  mit  genauen  Be- 
legen versehen  in  der  Sitzung  der  historischen  Klassa  vom  7.  Dezember 
mitzutheilen  gedenken ,  die  nächste  Nachkommenschaft  des  zuletzt 
genannten  Peter  und  jene  seines  Sohnes  Georg  vorzuführen ,  inso- 
ferne  wir   hiemit  über   das   Geschlecht   der  Preckendorfer   bis  zur 


Rockinger:  Zur  Abfassungszeit  des  Schwabenspiegels.        425 

welchem  derselben  es  vielleicht  mit  der  Pergamenthandschrift 
P  des  sogenannten  Schwabenspiegels,  welche  sie  nach  der 
heraldischen  Erscheinung  des  Wappens  in  ihr7)  zu  schliessen 
wenigstens  bis  gegen  das  16.  Jahrhundert  besessen  haben 
müssen,  nach  Regensburg  gelangte,  woselbst  wir  sie  in  den 
zwanziger  oder  dreissiger  Jahren  dieses  Jahrhunderts  im 
Eigenthume  des  Urban  Trunkl  wissen,  wir  vermögen  das 
nicht  zu   entscheiden.     So    viel   übrigens   können    wir  sicher 


Uebersiedlung  des  (Georg  und  seines  Sohnes)  Dionys  nach  Regensburg 
soweit  als  vorerst  nöthig  unterrichtet  sind. 

•   Petter 

i  i  i  i  i 

Matthes     Steffan     Albrecht     Wolff        Georg 
Wolff  Wolf       Sigmundt 

Georg 

i  i  i      ""  "T"       "1  i 

Georg      Christoff       Wolff      Johannes     Dionisi    Johannes 

7)  Wir  haben  es  oben  S.  415  genau  nach  dem  Eintrage  in  der 
Handschrift  F  mitgetheilt. 

Man  möchte  sich  hienach  der  Ansicht  zuneigen,  vorausgesetzt 
nämlich  dass  die  Zeichnung  in  der  Handschrift  F  wirklich  ganz 
genau  ist,  es  sei  nur  eine  ältere  Darstellung  desselben  durch  ein 
späteres  Glied  des  Geschlechtes,  in  welchem  sich  der  Schatz  des 
Ahnherrn  aus  dem  13.  Jahrhunderte  fort  vererbte,  übermalt  worden, 
wie  sich  von  selbst  versteht  in  der  heraldischen  Form  der  betreffen- 
den Zeit. 

Wenigstens  zeigt  uns  das  prächtige  Aquarell geinäldchen  in  der 
einst  im  Besitze  der  Preckendorfer  befindlich  gewesenen  Pergament- 
handschrift von  des  Konrad  von  Megenberg  berühmten  Buche  von 
den  natürlichen  Dingen,  welche  uns  die  oben  im  Eintrage  der 
Handschrift  F  geschilderte  bildliche  Darstellung  in  einer 
Fertigung  etwa  aus  dem  Beginne  des  letzten  Viertels  des  14.  Jahr- 
hunderts erhalten  hat,  cod.  germ.  raon.  38,  insbesondere  den  Schild 
nicht  allein  ganz  und  gar  frei  und  nicht  vom  Mantel  oben  auf  beiden 
Seiten  überdeckt,  sondern  auch  in  der  alten  spitzen  Form. 


426  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

den  Fainilienaufzeichnungen    entnehmen    welche   sich  in  der 
einst   im    Besitze    der    Preckendorfer    befindlich    gewesenen 
herrlichen  Pergamenthandschrift  von  des  Konrad  von  Megen- 
berg    berühmten  Buche    von    den  natürlichen  Dingen,    nun- 
mehr cod.  germ.  38  der  Staatsbibliothek  zu  München,    ein- 
getragen finden,  dass  ganz  am  Schlüsse  des  15.  Jahrhunderts 
Georg   von    Preckendorf    sich    mit    Agnes    vermählte,    der 
Tochter    von    Kaiser    Friedrichs    Rath     Konrad     Trinkl    zu 
Hautzendorf,    welche    nach    dem    Tode    ihres    Gatten   noch 
36  Jahre  lang  als  Wittwe  lebte  und  in  Regensburg  wohnte, 
woselbst    sie  kurz  nach  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  als 
die  letzte  ihres  Geschlechtes  starb.  Auf  solche  Weise  möchte 
für  den  Uebergang  der  fraglichen  Handschriften  oder  wenig- 
stens der  Pergamenthandschrift    des   sogenannten  Schwaben- 
spiegels sowohl    dahin    als    auch    in    die  Hände   des  Urban 
Trunkl  ein  sehr  natürlicher  Weg  gefunden  sein.    Auch  Hess 
sich  vielleicht    um  die    Zeit    von    welcher    es    sich    handelt, 
abgesehen  von  dem  berührten  Eheverhältnisse,  der  eine  oder 
andere    aus    der    preckendorferischen   Familie    überhaupt  in 
Regensburg  nieder,    woselbst  wir  wenigstens  im  Jahre  1553 
den  Dionys  von  Preckendorf  als  Mitglied  des  inneren  Rathes 
und  im  Jahre  1559  wie  1572  als  Kammerer  wie  gegen  den 
Ausgang  der  siebenziger  Jahre  dieses  Jahrhunderts  sogar  als 
obristen  Kriegsherrn8)    finden.     Doch  mag  dem  so  oder  »so 


8)  Vgl.  über  die  Urkunde  vom  1.  Februar  1553  oben  S.  418 
Note  2.  Die  Umschrift  des  Sigels  lautet:  S.  Dionisi.  von.  Precken- 
dorff. 

Herr  Dionysi  von  Praegkhendorff  des  jnnern  raths  erscheint  als 
Zeuge  bei  einem  von  Kammerer  und  Rath  von  Regensburg  ge- 
machten Verkaufe  am  Sonntage  den  10.  Oktober  1557  nach  der 
darüber  unterm  Mittwoche  den  16.  Febr.  1558  ausgestellten  Urkunde. 

Herr  Dionysi  von  Prägkhenndorff  etc.  des  jnnern  raths  der  zeit 


BocTcinger:  Zur  Abfassungszeit  des  Sclnvabenspiegels.        427 

sein,  es  hat  am  Ende  für  die  Frage  welche  uns  beschäftigt 
keine  unmittelbare  Bedeutung,  wiewohl  möglicher  Weise 
etwa  über  den  Ritter  und  Bürger  von  Zürich,  mit  welchem 
unser  Krieger  jedenfalls  in  innigen  Verkehr  getreten  sein 
muss,  wenn  jener  ihm  eine  so  werthvolle  Handschrift  zu 
verehren  sich  veranlasst  gefunden,  nicht  zu  verachtende  Auf- 
schlüsse aus  dem  fraglichen  Tagebuche  zu  schöpfen  sein 
dürften. 

Was  schliesslich  noch  gerade  dijese  schweizer  Per- 
sönlichkeit betrifft,  dürfen  wir  uns  nicht-  wie  allenfalls 
beim  Herrn  A  und  beim  Paul  Dinsbeck  lange  in  Muthmass- 
ungen  ergehen,  sondern  ein  Eintrag  welchen  uns  die  Hand- 
schrift F  aus  P  über  deren  Besitzer  erhalten  hat  bietet  die 
erwünschteste  Auskunft.  Es  heisst  nämlich  dortselbst  auf 
Fol.  182,  dass  nach  dem  den  Schluss  des  sogenannten  Schwaben- 
spiegels bildenden  Endartikel  =  L  159  des  Lehenrechtes 
und  nach  der  Angabe  des  Schreibers  welcher  die  Hand- 
schrift gefertigt9)  noch  nachstehende  Bemerkung  gefolgt  sei: 

Disz  buch  höret  einem  herreu  an 

der  vnrecht  ze  rechte  kan 

bringen,  ob  ers  gerne  tut. 

Gott  gebe  im  ehre  vnd  gut 

hie  vntz  vf  sin  ende, 


statt  camerer  ist  Zeuge  und  Sigler  für  eine  Heiratsverabredung  am 
Samstage  den  23.  Dezember  1559. 

Ueber  die  Urkunde  vom  24.  Juni  1565  ist  oben  S.  418  Note  2 
zu  vergleichen. 

Herr  Dionisius  von  Prägkhendorff  dess  jnnern  ratlis  begegnet 
uns  als  Zeuge  bei  einem  Verkaufe  Samstags  den  11.  Mai  1566. 

Herr  Dionisius  von  Prackendorff  erscheint  als  einer  der  Käm- 
merer von  Regensburg  bei  einem  Vertrage  der  Stadt  mit  dem  Bi- 
schöfe vom  15.  Juni  1571 ,  vom  Kaiser  Maximilian  am  23.  August 
1572  bestätigt. 

9)  Vgl.  unten  S.  436. 


428  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

vnd  dort  on  alle  missewende 
teile  mit  im  froliche 
sin  ewig  himelriche. 

Amen. 
Herre,  were  iht  bessers  gewesen 
danne  daz  ir  hie  haut  gelesen, 
daz  hette  ich  gewünschet  vf  minen  eid 
iv  ze  einer  selikeit. 
Swer  mir  nu  gelikes  bitte, 
dem  müsse  gott  wesen  mitte 
hie  vnd  dort  mit  wunne. 
Swer  mir  anders  gunne, 
dem  müsse  oech  also  geschehen. 
Anders  kan  ich  nicht  veriehen: 
Gott  vns  müsse  wesen  bi 
durch  sine10)  heyligen  namen  dri. 
Aber  nu  der  herre  müge  genesen 
den  wir  hievor  haben  gelesen 
den  disz  buch  anhoeret. 
Es  ist  ein  man  der  gerne  stoeret 
daz  vnrecht  zallen  ziten. 
Nicht  lang  ich  will  biten. 
Ich  wil  iu  hie  sa  ze  hant 
den  ere  gernden  tun  erkant 
e  daz  ich  sin  vergesse. 
Herr  Rudiger  der  Manesse 
von  Zürich,  ein  ritter,  ist  er  genant. 
Vmb  ine  ist  es  so  gewant, 
daz  er  vf  die  rehtekeit 
zallen  ziten  svnder  leit 
setzet  gar  den  sinen  muet. 


10)  In  der  Handschrift  steht:   siner. 


Bockinger:  Zur  Abfassungszeit  des  Sclnvabenspiegels.        429 

Da  von  im  ehre  vnd  guet 
gott  soll  geben  zallen  zit 
an  aller  slahte  widerstrit. 

Keinem  anderen  demnach  als  dem  berühmten  Rudiger 
dem  M  anessen  dem  alte  reu  gehörte  die  fragliche  Per- 
gamenthandschrift an.  Am  1.  Juli  1264  erscheint  er  als 
der  fünfte  unter  den  bürgerlichen  Käthen  des  in  glücklicher 
Entwicklung  begriffenen  Zürichs.  Am  15.  März  1268  ist  er 
der  zweite  unter  den  Beisitzern  des  Rathes  aus  dem  Ritter- 
stande. Es  ist  eine  bekannte  Thatsache,  wie  mitten  unter 
dem  Waffengeräusche  einer  kriegerischen  Zeit  und  den 
Sorgen  des  aufstrebenden  und  bewegten  städtischen  Gemein- 
wesens, woran  Rudiger  der  Manesse u)  eifrigsten  Antheil 
genommen,  auch  friedlichere  Bestrebungen,  eine  schöne  der 
Wissenschaft  und  Kunst  gewidmete  Müsse  in  seinem  Leben 
Raum  gefunden.  Wie  frühe  dieses  der  Fall  gewesen,  die 
fragliche  Pergamenthandschrift  —  woran  wir  vor  der  Hand 
keine  weiteren  Folgerungen  knüpfen  —  liefert  einen  spre- 
chenden Beweis   hiefür. 

Wir  könnten  sie  hienach  mit  vollem  Fuge  als  manes- 
sische mit  der  Abkürzung  als  Handschrift  M  bezeichnen. 
Wenn  wir  diesen  Buchstaben  oben  nicht  gewählt  haben, 
sondern  sie  nach  ihrem  nächsten  Besitzer  als  precken- 
dorfer'sche  unter  der  Abkürzung  als  Handschrift  P  vorführen, 
hat  dieses  seinen  Grund  lediglich  darin,  dass  auf  solche 
Weise  Verwechslungen  mit  der  seinerzeit  auch  zur  Besprech- 
ung zu  bringenden  Handschrift  des  Gabriel  Mair  =  M  leichter 

vermieden  werden. 

III. 

Sind  wir  auf  diesem  Wege  über  die  Schicksale  der  in- 
teressanten   Pergaiiienthandsehrift    P     wenigstens     bis     zum 


11)   Vgl.  Wysa   Beiträge    zur    Geschichte    der   Familie    Maness 
S.  4-10. 


430         Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

7.  Februar  1609  ausreichend  genug  unterrichtet,  so  gehen 
wir  nunmehr  auf  sie  selber  über,  soweit  sich  nämlich 
näheres  über  sie  herausbringen  lässt.  Die  Mittel  hiezu  bieten 
uns  die  Einträge  in  der  Handschrift  F.  In  diese  hat 
sich  nämlich,  wie  bereits  oben  S.  411 — 413  bemerkt  worden, 
aus  ihr  wie  aus  Gabriel  Mair's  Exemplar  Paul  Dinsbeck  oder 
wer  eben  der  Besitzer  der  noch  erhaltenen  Papierhandschrift 
F  gewesen  sein  mag  einfach  was  ihm  bemerkenswert!! 
dünkte  verzeichnet  oder  vielleicht  richtiger  gesprochen 
verzeichnen  wollen.  Es  scheint  ihm  nämlich  hiebei  im 
allmäligen  Verlaufe  der  Vergleichung  die  Arbeit  über  den 
Kopf  hinaus  gewachsen  zu  sein.  Denn  von  Anfang  an  ging 
insoferne  die  Sache  leichter  als  die  Handschriften  des  soge- 
nannten Schwabenspiegels  welche  der  alten  und  noch  nicht 
einer  so  zu  sagen  systematischen  Ordnung  folgen  in  einer 
gewissen  Weise  regelmässig  zusammenstimmen,  abgesehen 
von  der  Zusammenziehung  mehrerer  Artikel  in  einen  oder 
von  der  Trennung  eines  Kapitels  in  mehrere.  Unglücklicher 
Weise  bot  nun  aber  sein  Exemplar  die  Gestalt  jener  Gruppe 
welche  von  Artikel  27  des  durch  Freiherrn  v.  Lassberg  be- 
sorgten Druckes  an  eine  hübsche  Reihe  hindurch  jene  starken 
Versetzungen  aufweist  welche  aus  der  auf  der  Handschrift 
des  Reichsgrafen  von  Wurmbrandt  besorgten  Ausgabe  des 
Herrn  v.  Berger  =  B  leicht  zu  ersehen  sind.  Gleich  die 
erste : 


L       F 

26     27 


27 

28 
29 


39 
40 
41 


B 

27 
37 
38 
39 


30  \  421  40 
311  43/ 


L 

32 
33 
34 
35 


F      B 

44     41 


45 

46 
47 


42 

43 
44 


36 {  48{  45 

l  49  1  46 


B 
47 
48 
49 

40  53     50 
1!)  117   106 

41  118  107 


L  E 

37  50 

38  51 

39  52 


L 
42 

43     55 


F       B 

54     51 


44  28 

45  56 
46 
47 


52 
28 
53 

61  58 

62  59 


12)  Vgl.  Artikel  13. 


Bockinger:  Zur  Abfassuvgszeit  des  Schwabenspiegels.        431 

u.  s.  w.  Hier  scheint  sich  im  ersten  Augenblicke  der  gute 
Mann  nicht  mehr  recht  ausgekannt  zu  haben.  Es  hört  näm- 
lich jetzt  die  einlässlichere  Vergleichung  nicht  blos.aus  der 
Pergamenthandschrift  P.  sondern  auch  aus  Gabriel  Mair's 
Exemplare  auf,  von  welchem  indessen  die  bis  zum  Artikel  44 
des  L  Druckes  reichenden  Verstellungen  angemerkt  sind, 
während  bezüglich   P  auf  fol.  67'  nur  bemerkt  ist: 

Nota  bene.  dise  vnd  volgende  titul  sein  im  pergamenen 

rechtbuch  vil  änderst  gesetzt  vnd  geordnet. 
Leider  ist  ihre  genaue  Folge  nicht  beigesetzt  worden, 
während  das  Verzeichniss  der  Artikel  der  Handschrift  des 
Gabriel  Mair  vollständig  auf  den  leeren  Blättern  der  Hand- 
schrift F  nachträglich  noch  eingefügt  wurde.  Hört  indessen 
auch  wie  bemerkt  am  angegebenen  Orte  die  eigentliche  Ver- 
gleichung auf,  so  wird  doch  auch  fortan  an  verschiedenen 
Stellen  noch  dieses  oder  jenes  bald  mehr  bald  minder 
wichtige  theils  am  Rande  theils  auf  anfänglich  leeren  Blättern 
angemerkt. 

Die  Nachricht  über  den  ursprünglichen  Besitzer 
Heinrich  den  Preckendorfer  und  die  späteren  Schick- 
sale der  Handschrift  P,  soweit  sie  bis  zum  7.  Februar 
1609  bekannt  sindj  sie  ist  bereits  oben  S.  413 — 415  mit- 
getheilt  worden. 

Wir  lassen  nunmehr  die  übrigen  Einträge  folgen. 

Auf  fol.  6'  Sp.  2  nach  dem  Schlüsse  des  Verzeichnisses 
der  Kapitel  sowohl  des  Königebuches  als  auch  des  Land- 
und  Lehenrechtes  des  sogenaunten  Schwabenspiegels  rindet 
sich  nachstehende  Bemerkung: 

In  dem  pergamenen  Buch  stunden  nachvolgende  Raimen: 
Hie  hat  daz  lehenbuch  ein  ende. 
Gott  vns  sich  selben  sende 
ze  einem  suessen13)  tröste. 


13)  In  der  Handschrift  steht:  su eilen. 


432  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

Wann  er  vns  eine  erloste 
von  der  helle  pine, 
da  von  er  vns  ze  schine 
sich  selben  iemer  geben  wil, 
des  ist  im  heren  nicht  ze  vil. 
In  gottes  namen  u) 
sun  wir  sprechen   Amen. 
Auf  Fol.  8  zum  Eingange  des  Königebuches    lautet    in 
der  Handschrift  F  der  Text :  durch  den  rechten  fride,  durch 
den  raynen  fride,  durch  den  schadhaften  fride,  durch  staten 
fride.     Dieser  ist  dann    theils    durch  Randbemerkung   theils 
gleich  durch  Einsetzung    in    die   betreffenden   Zeilen    selbst 
folgendermassen  geändert : 

durch  den  rechten  fride,  vnde  durch  den  seide- 
haften fride,  durch  den  raynen  fride,  durch  den 
schadhaften  fride,  vnde  durch  den  staten  fride, 
wonach  eben  in  den  Worten  ,, durch  den  seidehaften  fride" 
der  sinnlose  erst  weiter  unten  stehende  und  daher  beim 
ersten  Lesen  nicht  allsogleich  schon  bemerkte  Ausdruck 
,, durch  den  schadhaften  fride"  aus  der  Pergamenthandschrift 
P  verbessert  erscheint. 

Auf  Fol.  38  ist  zu  der  Ueberschrift :  Von  dem  chunig 
Daio,  in  welch  letzterem  Worte  über  dem  i  das  Abkürz- 
ungszeichen angebracht  ist,  die  aufgelöste  Form  „Dario"  an 
den  Rand  bemerkt. 

Auf  Fol.  62'  zu  Art.  11  =  L  9  des  Landrechtes  tritt 
uns  der  Eintrag  entgegen: 

Im  peigamenen  buch  stehet  der  titul   also: 
Der  man  ist  der  frowen  maister, 
wobei   über    dem    o  in  „frowen"    noch    ein    kleines  v  über- 
gesetzt ist. 

Auf  Fol.  63    zu  Art.  16   =  L  14    des  Landrechtes  ist 


14)  In  äer  Handschrift  steht:    In  gottes  namen  amen. 


Bockinger:  Zur  Abfassungszeit  des  Schwabenspiegels.        433 

anstatt  der  Ueberschrift  ,.des  suns  gut"    als  solche  aus  der 
Pergamenthandschrift  P  angeführt: 
dess  kindes  guet. 
Auf  Fol.  64'    zu  Artikel  19   =  L  17    des  Landrechtes 
ist  uns  folgender  Text  von  P  am  Rande  angemerkt: 

Die  Swabe   setzent  wol    ir  vrteil  vnder  in 
selben,  vf  swebischer  [erde]  ist  daz  recht, 
vnd  ziehend  si  ouch  wol    an  ein  höher  ge- 
richte.   [daz  gerichte]  mvotzen   sie  nemen, 
vnd  band    si  oech  die  minren  volge.      swe- 
bisch15)  recht   zweyen  sich  etc.  ut  hie16). 
Auf  Fol.  67    zu    Artikel  27   =  L  26    des  Landrechtes 
ist  in  den    für    den  rothen  Anfangsbuchstaben  W  leergelas- 
senen Raum  ein  schwarzes  S  undW  eingeschrieben,  so  dass 
es  den  Anschein   hat,    es  stand    anstatt  „Wo"   in  der  Per- 
gamenthandschrift  P:  Swo. 

Von  der  auf  Fol.  67'  zu  Artikel  39  =  L  27  des  Land- 
rechtes eingetragenen  Bemerkung  ist  vorhin  S.  431  die  Rede 
gewesen. 

Auf  Fol.  75'  zu  Artikel  64  =  L  52  des  Landrechtes 
ist  zu  den  Worten  des  Textes  „mit  aynem  schilt  vnd  mit 
aynem  sper  gesitzen  mag"  an  den  Rand  als  Lesart  der 
Pergamenthandschrift  P  beigeschrieben : 

mit  schilte  vnd  mit  schaffte  gesitzen  mag. 
Auf  Fol.  98  zu  Artikel  145   =  L  122  des  Landrechtes 
ist  zu  dem  falsch  geschriebenen  Worte  jmselsuchtig  die  Cor- 
rectur  aus  der  Pergamenthandschrift  P 

miselsuhtig 
an  den  Rand  bemerkt. 

Auf  Fol.  100'   zu   Artikel  155   =  L  130  a    des   Land- 


15)  In  der  Handschrift  steht:  swel. 

16)  Vgl.  oben  S.  413  Note  1  zu  fol.  G4\ 


434  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

rechtes  ist  zu  den  Worten  des  Textes  ,.der  vierd  an  der 
wall  das  ist  der  herczog  von  Beyren  des  reiches  schenck" 
an  den  Rand  —  abgesehen  von  dem  in  Gabriel  Mair's 
Exemplar  vorfindlichen  Texte17)  —  bemerkt: 

Concordat  daz  pergamen  rechtbuch  so  anno  1264 
schon  geschribn  gewesen,  aberdarinn  radürt  vnd  dafür 
gesatzt  worden: 

der   könig  von  Beheim. 
Auf   fol.  116   zu  Artikel  207   =  L   377  II    des  Land- 
rechtes  begegnet  uns  die  Randbemerkung : 

Nota   bene.     diser    gantz   titul    ist    im    pergamenen 
puch  hieher  nicht  gesetzt,  sonder  volgt  der  titul: 
der  dess  nachtes  körn  stilt. 
Aber  folio  c  vnter  dem  buch  von   lehen  da  wird  er 
erst  gesetzt. 

Auf  Fol.  123  zu  Artikel  222  =  L219  des  Landrechtes 
finden  wir  an  dem  untern  Rand  bemerkt: 

Im   pergamen   buch    steht  zu   ende  dess   tituls   von 
mülinen  vnd  von  zöln  vnd  von  münzen: 
Hie  ist  das  landrecht  buch  vsz. 
Voigt  ein  figur  eines  richters    dem    einer    ein    brief 
mit  sigl  vberreicht,  vnd  volgend  titul: 

Hie  hebt  an  das  edel  buch  das  da  haisset  daz 
buch   von  lehenrechte. 

Das  erste.  Jn  nomine  patris  et  filij  et  Spiri- 
tus   sancti.     Ob  ein  kind  etc. 

Auf  Fol.  148'    ist   zum  Anfange    des  Lehenrechtes  am 
unteren  Rande  bemerkt: 
Im  pergamenen  buech: 

Hie  hebt  sich  das  edle  vnd  recht  lehen  buch 
an,  daz  das  dritte  stukh  ist  diss  buchs. 


17)  Der  vierd    ist   der  kertzog   in  Bayrn,    dess   reichs   sckenkk. 
der  soll  dem  könig  den  ersten  becher  tragen. 


Eochinger:  Zur  Abfassung  szeit  des  Schwabenspiegels.        435 

Von  rechten  lehen. 

Jn  nomine  patris  et  filij    et  Spiritus  sancti. 
Auf  Fol.   150  ist  zu  den  Worten  des  Artikels  7  =  L  8 
des  Lehenrechtes    „vnd    der    herczog   von   Bayren"   an   den 
Rand  geschrieben : 

Concordat  das  pergamenen.     hier    ist    aber   widerumb 
etwas  corrigirt,  vnd  der  konig  vonBeheimb  gesetzt. 
Auf  Fol.   182    begegnet    uns    zum  Schlüsse    des  Lehen- 
rechtes =  L  159  nachstehender  Eintrag: 

Nota   bene.     Im  pergamenen  Buch   post  §  ultimum 
„Lehen"  etc.  post  uerba  postrema    „da   von  daz  er 
desz  heerschildes  darbet"    volgt  hernach: 
Hie  hat  daz  lehenbuch  ein  ende. 

Hie  hat  daz  lehen  buch  ein  ende,  elliu18) 
lehen  reht  han  ich  zu  ende  bracht  diu18) 
von  lehen  rehte  sint. 

Vnd  wissent  das  lehenreht  liht  were  ze 
bescheidene,  were  der  so  vil  niht  die  des 
vnrehten  varent  vnd  vnreht  thun  durch 
gutes  willen  das  sie  ie  zu  ze  rehte  sagent 
durch  ir  selber  munt.  vnd  werdent  si 
des  selben  sa  ze  hant  gevraget  dar  nach, 
das  verkerent  si,  vnde  sagent  ein  anders. 
Es  ist  nieman  so  vnrehter,  in  dunke  vn- 
billich  ob  man  im  vnrehte  thut.  darumbe 
bedarff  man  wiser  rede  vnd  guter  künste 
wol  wie  man  sie  an  di  reht  bringe. 

Swer  zallen  ziten  vf  das  recht  sprichet 
der  gewinnet  mangen  vient.  des  sol  sich 
der  biderman  gerne  bewegen  durch  gott 
vnd  durch  sine  ehre  vnd  durch  siner  seele 
heil. 


18)  In  der  Handschrift  ist  das  i  über  das  u  gesetzt. 


436  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

Gott  durh  sine  gute  der  gebe  vns  sine 
genade,  das  wir  das  reht  also  minnen  in 
dirre  weite,  vnd  daz  vnreht  krenken  in 
dirre  weite,  das  wir  sin  da  geniessen  da 
sich  lip  vnde  sele  schaident.  das  verlihe 
vns  der  vater  vnd  der  sun  vnd  der  heilige 
geist.  amen,     daz  werde  war. 

Qui  wole19)  mich  geschriben  hat, 
Wilt  schriber  nomen  habebat. 
Die  Verse    welche  hiernach    noch    über   den    ursprüng- 
lichen   Besitzer    der  Pergamenthandschrift  P    angereiht  sind 
haben  wir  bereits  oben  S.  427 — 429  mitgetheilt. 

Die  Bemerkung  welche  dann  noch  weiter  über  Kaiser 
Friedrichs  IL  mainzer  Landfrieden  folgt  werden  wir  unten 
S.  437  berühren. 

Auf  Fol.  181  endlich  ist  bezüglich  einer  Anzahl  von 
kurzen  Rechtssätzen,  wie  über  ehehafte  Noth  und  anderes, 
welche  in  der  grossen  Mehrzahl  der  der  Gruppe  der  Hand- 
schrift des  Reichsgrafen  von  Wurmbrandt  angehörigen  Co- 
dices als  „Generalartikel!i  noch  nach  dem  Schlüsse  des 
Lehenrechtes  des  sogenannten  Schwabenspiegels  angehängt 
erscheinen,  die  Bemerkung  gemacht; 

Nota  bene.     dise  general  articul    sein   im   pergamenen 
exemplar    nit  gesetzt. 

IV. 

Hienach  sind  wir  jetzt  in  den  Stand  gesetzt,  uns  ein 
gewisses  Bild  von  der  Pergamenthandschrift  P  zu 
machen. 

Sie  hat  zunächst  das  Buch  der  Könige  wenigstens 
der  alten  E  enthalten.  Ihm  folgte  das  Land-  und  das 
Lehenrecht     des     sogenannten     Schwabenspiegels. 


19)  In  der  Handschrift  steht:  wele. 


BocUnger:  Zur  Abfassungszeit  des  Schtvabenspiegels.       437 

Weiter  fand  sich  in  ihr  auch  Kaiser  Friedrichs  IL  be- 
rühmter mainzer  Landfrieden.  Letzteres  entnehmen 
wir  noch  dem  Eintrage  der  Handschrift  F  auf  Fol.  182' 
nach  den  Versen  über  den  ursprünglichen  Besitzer  der  Hand- 
schrift P: 

Voigt    jm    pergamenen    Buch   Kaiser   Fridrich    des 
andern  Landfridt  verteutscht,  aber  nicht  gar. 
Dessen  Eingang  ist: 

Dirre  fride  wart  gesetzet  von  dem  an- 
dern kaiser  Fridriche  mit  der  fürsten 
vnd  anderer  hohen  herren  rate  ze  dem 
grossen  hofe  ze  Megenze  ze  vnser  frowen 
mes  ze  mittem  ovgesten  do  von  gottes  ge- 
burde  M°  CC°  vnd  36  jaren  warent. 

Wir  setzen  vnd  gebietend  von  vnserm 
keiserlichen  gewalte  etc. 
Betrachten  wir  uns  nun  einzeln  die  vorgeführten  Ein- 
träge näher,  so  gestatten  sie  uns  leider  ob  ihrer  nur  ge- 
ringen Anzahl  keineswegs  einen  Schluss  darüber,  zu  welcher 
der  bekannten  älteren  Formen  des  sogenannten 
Schwabenspiegels  ein  näheres  Verhältniss  besteht. 
Immerhin  aber  ergeben  sich  doch  einige  nicht  unwichtige 
Folgerungen.  Es  versteht  sich  hiebei  von  selbst,  dass  wir 
vor  allem  den  Deutschenspiegel  ins  Auge  fassen,  soweit 
uns  eben  Anhaltspunkte  dafür  vorliegen,  insoferne  wir  in 
ihm  zunächst  den  Ausgangspunkt  für  den  sogenannten  Schwaben- 
spiegel und  den  unmittelbaren  Vorläufer  seiner  ältesten  Ge- 
stalten zu  erkennen  haben. 

Was  zunächst  die  beiden  Bemerkungen  auf  fol.  62'  zu 
Artikel  11  =  L  9  und  auf  Fol.  63  zu  Artikel  16  =  L  14 
des  Landrechtes  hinsichtlich  der  Ueberschriften  dieser  Artikel 
anlangt,  schliessen  sich  selbe  eng  an  den  Deutschenspiegel 
an,  für  dessen  Artikel  13  und  19  sie  lauten:  Der  man  ist 
der  frowen  maister  vnd  vogt;  Der  vater  erbet  des  chindes 
[18G7.  IL  3.]  29 


438  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

guot.  Es  erscheint  fast  kleinlich  auf  die  Einzeichnung  von 
Fol.  67  Rücksicht  zu  nehmen;  doch  beginnt  auch  im  Deut- 
schenspiegels der  entsprechende  Artikel  28  mit  Swa.  Nicht 
minder  stimmt  der  Eintrag  zu  Fol.  75'  mit  dem  Texte  des 
Artikels  49  des  Deutschenspiegels,  worin  es  heisst:  mit 
einem  schilte  vnd  mit  einem  Schafte  gesitzen  mag.  Das- 
selbe lässt  sich  zu  Fol.  98  anführen,  woselbst  auch  im  ent- 
sprechenden Artikel  295  des  Deutschenspiegels  miselsuchtig 
steht. 

Entschieden  dagegen  weichen  die  Einträge  auf  Fol.  100' 
und  Fol.  150  bezüglich  der  vierten  weltlichen  Kurstimme 
von  der  jetzt  allein  bekannten  erst  dem  15.  Jahr- 
hunderte angehörigen  Handschrift  des  Deutschen- 
spiegels ab,  indem  dessen  Artikel  303  des  Land-  und  11  des 
Lehenrechtes  den  in  der  Pergamenthandschrift  P  anstatt  des 
Herzogs  von  Baiern  erst  durch  Correctur  eingesetzten  König 
von  Böhmen  aufführen. 

Insoferne  nun  nach  Ficker's  Untersuchungen  der  Deut- 
schenspiegel nicht  lange  vor  aber  auch  nicht  lange  nach 
dem  Jahre  1260  entstanden  ist,  möchte  man  vielleicht  bei 
Berücksichtigung  des  Sachverhaltes  dass  die  in  Frage 
stehende  Pergamenthandschrift  P  zwischen  den  Jahren  1264 
und  1268  unserem  Preckendorfer  geschenkt  wurde,  also  in 
einer  Zeit  welche  ungemein  an  das  vorbezeichnete  Jahr  der 
Abfassung  des  Deutschenspiegels  angränzt,  nicht  unschwer 
auf  den  Gedanken  verfallen,  ob  wir  es  nicht  vielmehr 
mit  einem  Deutschenspiegel  als  mit  dem  sogenann- 
ten Schwabenspiegel  zu  thun  haben. 

Wir  sind  dieser  Meinung  nicht.  Sind  auch  die  An- 
haltspunkte welche  uns  zu  Gebote  stehen  ihrer  Zahl  nach 
verhältnissmässig  nur  wenige,  so  dürfte  sich  doch  daraus 
diese  Frage  entscheiden  lassen. 

Einmal  ist  vor  allem  nicht  zu  übersehen,  dass  der  Be- 
sitzer der  Handschrift  F  gleich  in  dem  Eintrage  wovon  oben 


Eochinger:   Zur  Abfassungszeit  des  Schioabcnspiegcls.       439 

S.  413  — 415  die  Rede  gewesen  von  der  Perganienthandschrift 
P  mit  dürren  Worten  sagt,  dass  „darein  volgend  recht- 
buch gantz  schön  vnd  sauber  geschriben"  gewesen.  Insoferne 
nun  die  Handschrift  F  den  mit  dem  Buche  der  Könige 
alter  E  verbundenen  sogenannten  Schwabenspiegel 
enthält,  welches  Werk  ihm  das  „volgend  rechtbuch"  ist, 
erscheint  eine  andere  Annahme  als  dass  die  Pergament- 
handschrift P  auch  diesen  Inhalt  hatte  ganz  unthunlich.  Denn 
wenn  in  ihr  etwas  anderes  gestanden  wäre ,  wie  hätte  ihm 
das  wohl  bei  der  Genauigkeit  welche  wir  bei  den  einzelnen 
Einträgen  aus  ihr  finden  entgehen  können? 

Uebrigens  ganz  abgesehen  hievon  stehen  uns  noch  andere 
Gründe  zu  Gebot.  Zunächst  ersehen  wir  aus  der  den  Ein- 
gang des  Buches  der  Könige  berührenden  Stelle  auf 
Fol.  8 ,  dass  dieser  nicht  in  der  gekürzten  Form  des 
Deutschenspiegels20)  gestanden  hat,  sondern  der  volleren, 
welche  wir  aus  Massmanns  Ausgabe  in  des  Herrn  v.  Daniels 
Rechtsdenkmälern  des  deutschen  Mittelalters  III  Sp.  XXXIII 
zur  Genüge  kennen. 

Ohne  Zweifel  dürfen  wir  auch  daraus,  dass  zum  ganzen 
Buche  der  Könige  alter  E  wie  es  in  der  Handschrift  F 
steht  —  ausser  der  Auflösung  der  wie  es  scheint  in  der  Ab- 
kürzung ihrem  Besitzer  nicht  verständlichen  Form  des  Namens 
Darius  —  keine  Bemerkung  gemacht  ist  welche  das  Vor- 
handensein grösserer  Veränderungen  andeuten  würde ,  nicht 
ohne  Grund  den  Schluss  ziehen,  dass  es  in  der  Pergament- 
handschrift P  in  demselben  Umfange  vorhanden  gewesen. 

Auf  das  Buch  der  Könige  folgt  im  Deutschenspiegel 
eine  Umarbeitung  der  Präfatio  rhythmica  des  Sach- 
senspiegels wie  des  Prologus  und  des  sogenannten 
Textus   prologi   dieses    Rechtsbuches.      Wären    diese 


20)  Vgl.  hiezu  F  ick  er  über  einen  Spiegel  deutscher  Leute  und 
dessen  Stellung  zum  Sachsen-  und  Schwabenspiegel   S.  14  (126). 

29* 


440         Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

Stücke  in  der  Handschrift  P  vorhanden  gewesen,  die  An- 
deutung darüber  würde  sicher  nicht  fehlen.  Wir  ersehen 
also  hierin  einen  ferneren  Grund  für  unsere  Annahme. 

Scheint  dann  die  einzige  ursprüngliche  Eintheilung 
des  Deutschenspiegels  nur  die  in  eine  ungezählte 
Reihe  kleiner  Abschnitte  gewesen  zu  sein,  und  ist  in 
ihm  noch  von  keiner  Scheidung  in  bestimmte  Abtheil- 
ungen die  Rede,  so  dass  nicht  einmal  der  Beginn  des  Lehen- 
rechtes äusserlich  mehr  hervortritt  als  der  eines  andern  Ar- 
tikels ,  so  tritt  uns  in  der  Pergamenthandschrift  P  bereits 
die  Sonderung  des  Land-  und  Lehenrechtes  ganz 
scharf  entgegen,  und  wird  weiter  auch  das  Land  recht  selbst 
durch  eine  auch  sonst  in  verschiedenen  Handschriften  auf- 
tauchende Abtheilung  nach  L  Artikel  219  als  aus  zwei 
Theilen  bestehend  vorgeführt. 

Hatte  weiter  der  Deutschenspiegel  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  keine  Artikelüberschriften,  und  bietet  er 
auch  in  der  uns  erhaltenen  Form  solche  in  seinem  späteren 
Verlaufe  nicht,  soj  entnehmen  wir  aus  den  Einträgen  auf 
Fol.  62'  wie  63  und  116,  dass  in  der  Pergamenthandschrift  P 
sich  selbe  bereits  fanden. 

Dass  umgekehrt  in  ihr  die  beiden  im  Deutschenspiegel 
zu  den  Artikeln  29c  und  80b  aufgenommenen  Gedichte 
des  Strickers  nicht  vorhanden  gewesen,  entnehmen  wir 
wohl  nicht  mit  Unrecht  dem  Schweigen  das  in  dieser  Be- 
ziehung hierüber  obwaltet. 

Sehen  wir  uns  näher  nach  dem  Inhalte  einzelner  Ar- 
tikel um,  so  können  wir  wohl  die  Theorie  von  den  zwei 
Schwertern  nicht  umgehen.  Der  Deutschenspiegel  weist 
noch  das  weltliche  dem  Kaiser  unmittelbar  zu.  Wäre  diese 
Auffassung  in  der  Pergamenthandschrift  P  vertreten  gewesen, 
unser  Gewährsmann  hätte  unmöglich  eine  Anmerkung  zu 
dem  Texte  von  F,  welcher  als  sogenannter  Schwabenspiegel 
beide   Schwerter   dem   Pabste   zuzuwenden   für   gut   findet, 


BocJcinger:  Zur  Abfassungszeit  des  Sclnvabenspiegels.        441 

unterschlagen  können,  um  so  weniger  als  er  gerade  bei  der 
Stelle  dass  erst  der  Pabst  dem  Kaiser  das  Schwert  des 
weltlichen  Gerichtes  leihe  die  ausdrückliche  Bemerkung  an 
den  Rand  setzt  dass  diese  im  sächsischen  Landrechte  nicht 
vorkomme.  Man  müsste  nur  geradezu  annehmen,  er  habe 
im  vorliegenden  Falle  die  Pergamenthandschrift  P  einzusehen 
vergessen. 

Findet  sich  sodann  von  der  langen  Abhandlung  über 
die  Ehe  im  Deutschenspiegel  keine  Spur,  wohl  aber  in  an- 
erkannt alten  Handschriften  des  sogenannten  Schwabenspiegels, 
wie  dem  cod.  germ.  90  der  münchner  Staatsbibliothek,  der 
uber'schen  Handschrift  zu  Breslau,  der  französischen  Ueber- 
setzung  des  sogenannten  Schwabenspiegels  zu  Bern,  und 
bereits  in  gekürzter  Fassung  im  Cod.  Fäsch  zu  Basel ,  und 
berichtet  uns  der  Eintrag  auf  Fol.  116  dass  sie  in  der 
Pergamenthandschrift  P  gestanden,  so  ist  wohl  nicht  zu 
bezweifeln ,  dass  wir  es  mit  einem  Codex  des  sogenannten 
Schwabenspiegels  zu  thun  haben. 

Auch,  nach  einer  andern  Seite  hin  ist  gerade  dieser 
Eintrag  nicht  ohne  Werth.  Iusoferne  nämlich  die  berührte 
Abhandlung  auf  Fol.  100  des  Codex  P  am  Ende  des  Land- 
rechtes ihren  Platz  hatte,  ergibt  sich  für  diese  Handschrift  — 
in  welcher  von  Fol.  100  an  eben  diese  lange  Abhandlung 
und  dann  erst  noch  das  Lehenrecht  folgte  —  ein  Umfang 
welcher  über  den  des  Deutschenspiegels  weit  hinausgeht. 

Was  noch  eben  das  Lehenrecht  betrifft,  welches  im 
Deutschenspiegel  der  Schlussartikel  L  157  und  158  und  ins- 
besondere des  Schlusswortes  =  L  159  des  sogenannten 
Schwabenspiegels  entbehrt,  vernehmen  wir  aus  dem  Eintrage 
auf  Fol.  182,  dass  sein  Text  in  der  Pergamenthan dschriftP 
mit  den  Worten  ,,da  von  daz  er  desz  heerschildes  darbet"  des 
im  Deutschenspiegel  gar  nicht  vorhandenen  Artikels  L  154  ge- 
endet hat,  und  das  Schlusswort  =  L  159  in  der  dem  soge- 
nannten Schwabenspiegel  angehörigen  Form  in  ihr  gestanden. 


442  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

V. 

Steht  auf  solche  Weise  fest,  dass  diese  keinen  Deutschen- 
spiegel sondern  den  sogenannten  Schwabenspiegel  enthalten, 
so  ist  nunmehr  bei  Berücksichtigung  des  Sachverhaltes  dass 
sie  zwischen  den  Jahren  1264  und  1268  unserem  Precken- 
dorfer  geschenkt  wurde  die  Zeit  der  Abfassung  des 
sogenannten  Schwabenspiegels  gegen  die  bisherige 
Annahme  um  etwas  hinaufzurücken. 

Welches  ist  der  gegenwärtige  Stand  dieser  Frage?  Jo- 
hannes Merkel,  welcher  noch  vor  der  Auffindung  des  Deut- 
schenspiegels in  seinen  Commentarien  de  republica  Alaman- 
norum  XVI  S.  22 — 24  mit  den  einschlägigen  Noten  ausführ- 
lich über  diese  Frage  handelte,  gelangte  zu  dem  Ergebnisse 
dass  unser  Rechtsbuch  zwischen  den  Jahren  1276  und 
1281  vollendet  worden.  Als  es  Ficker  gegönnt  war,  den 
glücklichen  Fund  der  innsbrucker  Handschrift  des  Deutschen- 
spiegels mit  der  ihm  eigentümlichen  geistreichen  Schärfe 
zu  verwerthen,  stellte  sich  ihm  —  auf  Merkels  Forschungen 
fussend  —  in  seiner  akademischen  Abhandlung  über  einen 
Spiegel  deutscher  Leute  und  dessen  Stellung  zum  Sachsen- 
und  Schwabenspiegel  S.  164  und  165  das  Ergebniss  heraus, 
dass  die  Abfassung  unseres  Rechtsbuches  nach  seinen  staats- 
rechtlichen Bestimmungen  nicht  vor  das  Jahr  1275  fallen 
könne,  und  sein  Alter  sich  etwa  dahin  bestimmen  lassen 
möchte,  er  könne  nicht  lange  vor  und  nicht  lange  nach 
1280  entstanden  sein.  Dem  entgegen  machte  Laband  in 
seiner  Arbeit  über  den  Ursprung  des  sogenannten  Schwaben- 
spiegels geltend,  dass  es  in  ihm  auch  nicht  an  Andeutungen 
fehle  dass  er  unter  der  Regirung  König  Richards 
verfasst  worden,  worüber  er  insbesondere  in  seinen  Bei- 
trägen zur  Kunde  unseres  Rechtsbuches  S.  23  und  24  handelt. 
Es  war  zu  vermuthen.  dass  nach  den  Untersuchungen  welche 
er  abgesehen  gerade   von  dieser  Frage  noch  am  bemerkten 


BoeTcinger:  Zur  Abfassungszeit  des  Schväbcnspicgels.        443 

Orte  veröffentlicht  hat  Ficker  sich  weiter  in  der  Sache  ver- 
nehmen lassen  würde.  Das  geschah  denn  auch  in  seiner 
akademischen  Abhandlung  zur  Genealogie  der  Handschriften 
unseres  Rechtsbuches,  worin  er  glaubt,  an  der  bisherigen 
Ansicht  die  Abfassung  desselben  dürfe  wegen  der  staats- 
rechtlichen Sätze  nicht  vor  die  ersten  Jahre  König 
Rudolfs  gesetzt  werden  auch  nach  Erwägung  der  von 
Laband  aufgestellten  Gegengründe  festhalten  zu  müssen, 
worauf  er  bei  anderer  Gelegenheit  zurückzukommen  denke, 
wogegen  er  der  Beweisführung  des  Verfassers,  dass  das 
Verhältniss  zum  augsburger  Stadtrechte  eine  Ab- 
fassung nach  1276  nicht  nöthig  mache,  bereitwilligst 
beistimmt,  wie  er  das  ja  auch  schon  früher  nur  bedingt  für 
diesen  Zweck  geltend  gemacht. 

Fragen  wir  diesen  so  zu  sagen  ausschliesslich  aus  in- 
neren Gründen  gewonnenen  wissenschaftlichen  Ergebnissen 
gegenüber  nach  allenfallsigen  Datirungen  der  zunächst  in 
Betracht  kommenden  ältesten  Handschriften,  so  stehen  die 
zwei  Jahrzahlen  welche  hier  vor  allem  ins  Auge  fallen  mit 
jenen  Ergebnissen  in  keinem  Widerspruche.  Einige  Hand- 
schriften beziehen  sich  nämlich  auf  eine  Vorlage  vom 
Jahre  1282.  Die  lassberg'sche  gibt  uns  den  Beweis,  dass 
im  Jahre  1287  der  sogenannte  Schwabenspiegel  be- 
reits vorhanden  gewesen.  Allerdings  sind  wir  hiedurch 
um  keinen  Schritt  für  eine  nähere  Bestimmung  der  Zeit 
seiner  Abfassung  als  die  schon  aus  den  eben  berührten  Er- 
gebnissen hervorgehende  weiter  gefördert. 

Wichtig  werden  in  dieser  Beziehung  die  aus  einem  zu 
Anfange  des  16.  Jahrhunderts  gefertigten  Einbände  eines 
Werkes  der  königlichen  Bibliothek  zu  Berlin  abgelösten 
Bruchstücke  einer  Pergamenthandschrift  des  soge- 
nannten Schwabenspiegcls,  über  welche  Pertz  in  der 
Sitzung  der    historisch-philosophischen  Classe  der  Akademie 


444         Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

der  Wissenschaften  daselbst  vom  4.  Februar  1850  und  im 
Archive  der  Gesellschaft  für  ältere  deutsche  Geschichtkunde 
X  S.  415—425  Nachricht  gegeben,  insoferne  nach  seiner 
Mittheilung  „die  Schrift  noch  mehr  gegen  die  Mitte  als 
den  Schluss  des  13.  Jahrhunderts,  mithin  in  die  für 
jetzt  wahrscheinliche  Zeit  der  Entstehung  dieses  Rechts- 
buches gesetzt  werden  niuss."  Eine  nähere  Bestimmung  ist 
natürlich  bei  der  geringen  Anzahl  dieser  so  interessanten 
berliner  Bruchstücke  nicht  möglich. 

Sie  wird  es  nunmehr  durch  den  in  unserer  Handschrift 
F  erhaltenen  Eintrag,  wonach  der  oberpfälzische  Edel- 
knecht Heinrich  der  Preckendorfer  von  dem  be- 
rühmten Rudiger  dem  Manessen  aus  Zürich  eine 
Pergamenthandschrift  unseres  Rechtsbuches  zwi- 
schen den  Jahren  1264  und  1268  zum  Geschenke  er- 
hielt. 

In  welchem  der  genannten  Jahre  das  der  Fall  gewesen, 
vermögen  wir  nicht  zu  behaupten,  da  eine  nähere  Angabe 
hierüber  nicht  gemacht  ist,  und  uns  das  Reisbuch  des  be- 
neidenswerthen  Besitzers  der  Handschrift  nicht  vorliegt,  aus 
welchem  vielleicht  bestimmtere  Anhaltspunkte  zu  gewinnen 
wären. 

Von  dem  Eintrage  auf  Fol.  100'  der  Handschrift  F, 
dass  der  Pergamentcodex  P  bereits  im  Jahre  1264  geschrie- 
ben gewesen,  machen  wir  keinen  Gebrauch,  weil  wir  nicht 
wissen,  ob  und  welcher  verlässige  Grund  für  diese  Bemerk- 
ung den  Besitzer  von  F  geleitet  haben  mag,  uns  jedenfalls 
ein  solcher  nicht  zu  Gebote  steht. 

Sicher  ist  nur,  dass  das  Geschenk  spätestens  im  Jahre 
1268  gemacht  worden,  in  welchem  Jahre  unser  Edelknecht 
mit  seinem  Schatze  aus  der  Schweiz  in  seine  Heimat  zu- 
rückzog. Bedenkt  man  nun,  dass  die  jetzigen  Annahmen 
die  Abfassung    des  Deutschenspiegels    wie   des    sogenannten 


Bockinger:  Zur  Alfassungszeit  des  Schwabenspiegels.        445 

Schwabenspiegels  nach  Augsburg21)  verlegen,  dass  von  da 
vielleicht  nicht  gleich  die  allerersten  Abschriften  nach  Zürich 
gelangten,  dass  wahrscheinlicher  Weise  auch  Rudiger  der 
Manesse  sein  Exemplar  nicht  schon  im  ersten  Augenblicke 
des  Empfanges  unserem  Preckendorfer  verehrt,  so  werden 
wir  immerhin  auf  einige  Zeit  noch  vor  1268  oder  auch 
1267  oder  vielleicht  1266  oder  am  Ende  1265  oder 
gar  1264  hingewiesen.  Muthmassungen  in  der  Beziehung 
hängen  vor  der  Hand  in  der  Luft.  Wir  nehmen  daher 
hierauf  keine  Rücksicht,  sondern  constatiren  zur  Zeit  nur 
gegenüber  den  bisherigen  Ergebnissen  das  urkundliche 
Zeugniss  dass  spätestens  im  Jahre  1268  der  soge- 
nannte* Schwabenspiegel  vorhanden  gewesen. 

VI. 

Es  ist  uns  wohl  nunmehr  noch  gestattet,  einige  Folger- 
ungen vorzuführen ,  welche  sich  nach  der  bisherigen  Unter- 
suchung aus  den  Mittheilungen  über  den  leider  zur  Zeit  für 
verloren  zu  erachtenden  ohne  allen  Zweifel  zu  den  ältesten 
der  bisher  bekannten  Handschriften  des  sogenannten  Schwaben- 
spiegels zählenden  Pergamentcodex  für  die  früheste  oder 
wenigstens  eine  der  frühesten  Gestalten  dieses 
Rechtsbuches  selbst  ergeben. 

Was  zunächst  das  Buch  der  Könige  anlangt,  hat 
Ficker  mit  guten  Gründen  ausgeführt,  dass  es  ursprünglich 
mit  dem  sogenannten  Schwabenspiegel  verbunden22)  gewesen. 
Dennoch  —  bemerkt  er  —  erscheint  es,  abgesehen  von  den 
berliner  Fragmenten,  in  keiner  der  ältesten  Handschriften, 
und  auch  im  14.  Jahrhunderte  überhaupt  nur  in  fünf  Hand- 
schriften. Der  Pergamentcodex  P  bietet  nun  einen  ausreichenden 


21)  A.  a.  0.  S.  167  (283)  —  172  (288). 

22)  Ebendort  S.  12  (124)  Ö'. 


446  Sitzung  der  histor.  Classe  vom  9.  November  1867. 

Beleg  dafür,  dass  das  Buch  der  Könige  wenigstens  der  alten 
E  bereits  in  einer  spätestens  in  das  Jahr  1268  fallenden 
Handschrift  des  sogenannten  Schwabenspiegels  mit  unserem 
Rechtsbuche  verbunden  gewesen. 

Dass  in  ihr  die  im  Deutschenspiegel  wie  in  der  homeyer'- 
schen  Handschrift  des  sogenannten  Schwabenspiegels  num.  330 
erscheinende  Umarbeitung  derPräfatio  rhythmica  des 
Sachsenspiegels  wie  des  Prologus  und  des  sogenann- 
ten Textus  prologi  dieses  letzteren  Rechtsbucbes 
nicht  vorhanden  gewesen,  davon  haben  wir  oben  S.  439 
und  440  gesprochen. 

Dasselbe  ist  nach  den  Andeutungen  auf  S.  440  bezüglich 
der  beiden  im  Deutschenspiegel  wie  noch  in  der  freiburger 
und  der  bemerkten  homeyer'schen  Handschrift  des  sogenannten 
Schwabenspiegels  begegnenden  Gedichte  des  Strickers 
wie  des  in  der  herrenchiemsee'schen  Handschrift  erscheinen- 
den Gedichtes  des  Freidank  der  Fall. 

Fassen  wir  näher  den  Inhalt  einzelner  Artikel  ins  Auge, 
soweit  darüber  die  verhältnissmässig  so  geringen  Einträge 
in  der  Handschrift  F  einen  Schluss  gestatten  ,  so  erscheint 
nach  ihnen  zu  Artikel  155  des  Land-  und  Artikel  7  des 
Lehenrechtesdie  vierte  weltliche  Kurstimme  im  Besitze 
des  Herzogs  von  Baiern,  welcher  erst  durch  Rasur  und 
Correctur  getilgt  ist,  und  auf  diesem  Wege  im  sogenannten 
Schwabenspiegel  —  ob  schon  vor  dem  Jahre  1268,  können 
wir  bezweifeln,  vermögen  es  aber  nach  dem  Wortlaute  der 
Einträge  auf  Fol.  100'  und  Fol.  150'  nicht  bestimmt  zu 
entscheiden  —  dem  Könige  von  Böhmen  hat  Platz  machen 
müssen. 

Betrachten  wir  einen  anderen  nicht  unwichtigen  Artikel. 
Hat  Laband  bereits23)  die  lange  aus  Bruder  Berchtolds  von 


23)  In  seinen  Beiträgen    zur  Kunde    des  Schwabenspiegels  S.  30 
bis  32,  45  und  46. 


Bockingcr:  Zur  Abfassungszeit  des  Schivabenspiegels.       447 

Regensburg  Predigten  entlehnte  Abhandlung  über  die 
Ehe  als  ursprünglich  für  den  sogenannten  Schwabenspiegel 
in  Anspruch  genommen  so  erwächst  dieser  Annahme  ein 
bedeutendes  Gewicht  dadurch  dass  gerade  die  in  Frage 
stehende  spätestens  dem  Jahre  1268  angehörige  Pergament- 
handschrift P  selbe  bereits  enthalten  hat. 

Nicht  ohne  Bedeutung  ist  sodann  die  Frage  nach  der 
Eintheilung  des  gesammten  sogenannten  Schwaben- 
spiegelwerkes sowohl  im  grossen  Ganzen  als  in  seinen 
etwaigen  Unterabtheilungen. 

Was  hier  zunächst  das  Landrecht  betrifft,  machen 
viele  Handschriften,  darunter  die  im  Jahre  1287  gefertigte 
oder  wenigstens  auf  einer  Vorlage  vom  Jahre  1287  fussende 
lassberg'sche,  ohne  alle  und  jede  Rücksicht  auf  einen  innern 
Scheidungsgrund  —  welcher  eine  Dreitheilung  in  L  Artikel 
1  bis  117,  118  bis  313  b.  314  bis  zum  Schlüsse  rechtfertigen 
würde  —  nach  L  Artikel  219  eine  Abtheilung,  wonach  das 
ganze  Landrecht  in  zwei  Theile  zerfällt.  Der  Eintrag 
in  der  Handschrift  F  auf  Fol.  123  erweist  diese  Scheidung 
als  bereits  in  der  Pergamenthandschrift  P  vorhanden. 

Was  sodann  die  Frage  nach  den  Ueberschriften  der 
iu  diesen  Hauptabtheilungen  erscheinenden  Artikel 
anlangt,  ist  nicht  nur  durch  den  Eintrag  auf  Fol.  62'  und 
63  zu  den  L  Artikeln  9  und  14  erwiesen,  dass  die  Pergament- 
handschrift P  solche  für  den  ersten  Theil  des  sogenannten 
Schwabenspiegels  L  1 — 117  hatte,  sondern  belegt  auch  der 
Eintrag  auf  Fol.  116,  dass  sie  für  den  zweiten  von 
L  Artikel  118  — 313b  reichenden  Theil  vorhanden  waren. 

Was  weiter  die  Frage  nach  der  gleichzeitigen  oder 
späteren  Entstehung  des  dritten  Theiles  betrifft,  adhuc  sub 
judice  lis  est.  Bekanntlich  hat  Ficker  sich  von  der  letzteren 
Ansicht  gegenüber  Laband  auch  noch  in  seiner  akademischen 
Abhandlung  zur  Genealogie  der  Handschriften  des  sogenannten 
Schwabenspiegels  nicht  losgesagt.     Entgegen  hält  aber  auch 


448  Sitzung  der  histor.  Gasse  vom  9.  November  1867. 

Laband  die  erstere  seinerzeit  von  ihm  in  den  Beiträgen 
zur  Kunde  des  Schwabenspiegels  geltend  gemachte  Anschauung 
noch  fortwährend  fest,  indem  er  in  der  Zeitschrift  für  Rechts- 
geschichte III  S.  154  bemerkt,  obgleich  er  gestehe  in  manchen 
Punkten  berichtigt  worden  zu  sein ,  beharre  er  doch  bei 
gewissenhafter  Prüfung  der  Streitfrage  noch  heute  bei  seiner 
Ansicht.  Die  Einträge  welche  uns  die  Handschrift  F  über 
P  erhalten  hat  können  uns  für  eine  Entscheidung  in  dieser 
Beziehung  keinen  Beleg  liefern.  Es  findet  sich  unter  den 
leider  schon  bald  nach  dem  Anfange  immer  spärlicher  er- 
scheinenden Bemerkungen  zu  der  ganzen  Partie  von  L  Ar- 
tikel 314  an  bis  zum  Schlüsse  des  Land-  und  Anfange  des 
Lehenrechtes  gar  keine.  Allerdings  dürfen  wir  wohl  annehmen, 
dass  das  Auffallen  des  Mangels  dieser  ganzen  Partie  zu  einer 
Mittheilung  hierüber  Veranlassung  hätte  bieten  müssen,  ins- 
besondere da  sich  eine  solche  bezüglich  des  Anfanges  des 
Lehenrechtes  findet.  Und  insoferne  liegt  uns  wenigstens  ein 
Grund  zu  der  Annahme  vor.  dass  wenigstens  spätestens 
im  Jahre  1268  der  dritte  Theil  des  Landrechtes 
bereits  fest  mit  den  beiden  ersten  verbunden  ge- 
wesen. 

So  wichtig  eine  Entscheidung  des  berührten  Punktes  für 
die  Möglichkeit  einer  näheren  Bestimmung  der 
Zeit  der  Hauptentwicklungsstufen  des  sogenannten 
Schwabenspiegelwerkes  wäre,  die  eben  beklagte  so 
geringe  Anzahl  der  noch  dazu  im  allmäligen  Verlaufe  fort 
und  fort  sich  mindernden  Einträge,  wie  sie  einerseits  die 
scharfe  Erkennung  der  Gruppe  hindert  welche  die  Perga- 
menthandschrift  P  vertreten  hat,  tritt  sie  auch  dort  nicht 
fördernd  in  den  Weg. 

Was  endlich  das  Lehen  recht  anlangt,  erscheint  das- 
selbe nach  dem  Eintrage  auf  Fol.  148'  neben  dem  wie  bemerkt 
in  zwei  Theile  geschiedenen  Landrechte  ausdrücklich  als 


BocHnger:  Zur  Abfassungszeit  des  Schwab enspieg eis.       449 

so  bezeichneter  dritter  Theil   des  gesanimten  soge- 
nannten Schwabenspiegelwerkes. 

Auch  über  den  Schluss  des  Lehenrechtes  selbst 
entnehmen  wir  dem  Eintrage  auf  Fol.  182,  dass  der  letzte 
Artikel  desselben  L  154  bis  zu  den  Worten  „da  von  daz  er 
desz  heerschildes  darbet"  entsprochen  hat,  während  uns  jener 
Eintrag  weiter  das  Schlusswort  in  der  spätestens  in  das 
Jahr  1268  fallenden  Pergamenthandschrift  P  in  dem  auf 
S.  435  und  436  mitgetheilten  namentlich  vom  vorletzten  auf 
den  letzten  Absatz  zu  gegen  die  Fassung  von  L  159  nicht 
unmerklich  gekürzten  und  in  dieser  Rücksicht  mehr  zu  den 
alten  Codices  germanici  21  und  23  der  münchner  Staats- 
bibliothek wie  theil  weise  zur  ambraser  Handschrift  stim- 
menden Wortlaute  vorführt. 

VII. 

Wie  erfreulich  nun  nach  verschiedenen  Seiten  die  Er- 
gebnisse sind  wozu  wir  in  der  vorhergehenden  Untersuchung 
durch  die  Einträge  geleitet  wurden  welche  die  Hand- 
schrift F  aus  der  Pergamenthandschrift  P  erhalten  hat,  mit 
um  so  grösserem  Schmerze  muss  auf  der  andern  Seite  er- 
füllen, dass  dieses  Kleinod  selbst  nicht  zu  Gebot  steht.  Wenn 
es  nicht  die  Ungunst  der  Zeiten  vollends  vernichtet  hat,  wo 
es  allenfalls  noch  zu  suchen  und  zu  finden  sein  dürfte,  wir 
vermögen  darüber  nichts  zu  bestimmen.  Der  letzte  Anhalts- 
punkt welcher  uns  zur  Verfügung  steht  ist  nur,  dass  es  am 
7.  Februar  1609  sich  zu  Regensburg  und  zwar  in  Privathänden 
befand.  Ob  die  Wogen  des  dreissigjährigen  Krieges  schon 
es  von  dort  oder  überhaupt  hinweggespült?  Ob  es  späterer 
Zeit  zum  Opfer  fiel?  Ob  es  am  Ende  noch  gegenwärtig 
irgendwo  innerhalb  der  Mauern  der  einstigen  Reichsstadt 
oder  anderswo  verborgen  weilt  und  endlicher  Erlösung 
harrt  ? 

Nachforschungen   in   dieser  Beziehung  möchten   im  In- 


450         Sitzung  der  Mstw.  Classe  vom  9.  November  1867. 

teresse  des  gegenwärtig  mehr  als  je  zu  einem  gedeihlichen 
Abschlüsse  drängenden  sogenannten  Schwabenspiegelwerkes 
gewiss  in  hohem  Grade  angezeigt  erscheinen.  So  wird  man  uns 
denn  schwerlich  verargen  wollen ,  dass  wir  mit  dem  nicht 
ungerechtfertigten  Wunsche  schliessenr  es  möge  den  Männern 
der  Wissenschaft  welche  hier  oder  dort  hiezu  Gelegenheit 
und  Müsse  haben  gefallen,  ihr  Augenmerk  hierauf  zu 
richten. 


Herr  Graf  von  Hundt  gab: 

„Beiträge  zur  Feststellung  der  historischen 
Ortsnamen  von  Bayern,  insbesondere  des 
ursprünglichen  Besitzes  des  Hauses  Wittels- 
bach." 


Einsendungen  von  Druckschriften.  451 


Einsendungen  von  Druckschriften. 


Vom  Herrn  August  Grunert  in  Greif sioalä: 
Archiv  für  Mathematik  und  Physik.     47.  Theil.  3.  Heft.  1867.     8. 

Vom  Herrn  M.  A.  Stern  in  Göttingen: 

Ueber   die  Bestimmung    der  Constanten   in    der  Variationsrechnung. 
1864.    4. 

Vom  Herrn  Hermann  von  Meyer  in  Frankfurt  a.  M. : 

Palaeontographica.      Beiträge     zur     Naturgeschichte    der    Vorwelt. 
17.  Band.  1.  Lieferung.  Kassel.  1867.     4. 

Vom  Herrn  v.  Ettinghausen  in  Wien: 

a)  Die  fossile  Flora  des  Mährisch-Schlesischen  Dachschiefers.  1865.   4. 

b)  Die  Kreideflora   von  Niederschoena    in   Sachsen,    ein  Beitrag   zur 

Kenntniss  der  ältesten  Dicotyledonen-Gewächse.  1867.     8. 

c)  Die   fossilen  Algen   des  Wiener  und   des   Karpathen-Sandsteines. 

1863.     8. 

d)  Die    fossile    Flora     des   Tertiär-Beckens    von    Bilin.     1.    Theil. 

1866.     4. 

Vom  Herrn  Bioritz  Mühlmann  in  Leipzig: 

Untersuchung   über   die  Aenderung  der  Fortpflanzungsgeschwindig- 
keit des  Lichtes  im  Wasser  durch  die  Wärme.   1867.    8. 


452  Einsendungen  von  Druckschriften. 


Vom  Herrn  Matthew  Ryan  in  Washington: 

The  celebrated  theory  of  paralleles.  Demonstration  of  the  celebrated 
theorem.     Euclid  1.  Axiom.  12.  1866.     8. 


Vom  Herrn  E.  Hegel  in  St.  Petersburg: 

a)  Enumeratio  plantarum  in  regionibus    eis-  et  transiliensibus  a  Se- 

menovio  1857  collectarum.  Moskau  1866.     8. 

b)  International-Ausstellung   von  Gegenständen    des  Gartenbaues  im 

Frühlinge  1867  in  St.  Petersburg.     8. 

c)  Index  seminum,  quae  hortus  botanicus  imper.    Petropolitanus  pro 

mutua  commutatione  offert.  1866.     8. 

Vom  Herrn  Carlo  Anselm  in  Piacenza: 
Quadratura  del  circolo  scoperta.  1867.    8. 

Vom  Herrn  Gustav  Hinrichs  in  Jowa,   State  Jowa: 
On  the  spectra  and  compositum  of  the  elements.  1866.     8. 

Vom  Herrn  Rudolf  Wolf  in  Zürich: 
Astronomische  Mittheilungen.     22.  und  23.  1867.     8. 

Vom  Herrn  A.  T.  Kupffer  in  St.  Petersburg: 
Compte-Rendu-Annuel.  Annee  1894:  1865.    4. 

Vom  Herrn  Giovanni  Gozzadini  in  Bologna: 
Di  aleuni  sepolcri  della  necropoli  felsinea  ragguaglio  1867.    8. 

Vom  Herrn  F.  J.  Pictet  in  Genf: 

Notice  sur  les  calcaires  de  la  porte  de  France  et  sur  quelques  gise- 
ments  voisins.   1867.    8. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  453 


Vom    Verein  für  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen  in  Prag: 

a)  Mittheilungen  des  Vereins.     5.  Jahrg.   Nr.  2— G. 

6.       „  „     1.  2.     186G.  G7.     8. 

b)  Fünfter  Jahresbericht.     Vom  IG.  Mai  1866   bis    15.  Mai  1867.     8. 

c)  Statuten.  18G6.     8. 

d)  Mitglieder-Verzeichniss.     Geschlossen  am  7.  März.   1867.     8. 

Von  der  deutschen  morgenländischen  Gesellschaft  in  Leipzig: 

a)  Zeitschrift.    21.  Bd.  3.  Hft.  1867.     8. 

b)  Indische  Studien.     Beiträge    für    die  Kunde   des  deutschen  Alter- 

thums.     10.  Bd.  2.  Hft.  18ö>7.     8. 

Vom  statistisch-geographischen  Bureau  in  Stuttgart: 

Württembergische  Jahrbücher  für  Statistik  und  Landeskunde.   Jahr- 
gang 1865.  1867.     8. 

Von  der  Societä  italiana  di  scienze  naturali  in  Mailand: 

Atti.     Vol.  8.  Fascic.  3.  4.  5. 

„  -9.        „       1.  2.  3.  1865.  66.  67.   8. 

Vom  Fondazione  scientifica  Cagnola  in  Mailand: 
Atti.    Vol.  4.  Part.  1.  2.  3.  186G.     8. 

Von  der  allgemeinen  gcschichts forschenden  Gesellschaft   der  Schiceiz  in 

Zürich : 

a)  Archiv  für  Schweizerische  Geschichte.    15.  Bd.  186G.     8. 

b)  Schweizerisches  Urkunden-Register.    1.  Bd.  3.  Hft.  Bern  1866.     8. 

Vom  Musee  Teylcr  in  Ilarlem: 
Archives.    Vol.  1.  Fase.  2.  18G7.    8. 

Von  der  Societe  des  sciences  physiques  et  naturelles  in  Bordeaux: 

Memoires.    Tom.  4.    1.  cahier  (suite) 

.,     5.     1.      „       18G6.  67.    8. 
[1867.11. 3.]  30 


454  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Von  der  Societe  imperiale  des  naturalistes  in  Moskau: 
Bulletin.    Annee  1866.     Nr.  3.  4.     1866     8 

Von  der  Academie  imperiale  des  sciences,  arts  et  helles  lettres  in  Dijon : 
Memoires.    2.  Serie.  Tome  12.  13.  Annee  1864.  1865.     8. 

Von  der  Societe  Bolanigue  de  France  in  Paris: 
Bulletin.     Tom.  14.  1867  (Revue  bibliographie)  C.     8. 

Von  der  Historisch  Genootschap  in  Utrecht: 

a)  Kronijk.     22.  Jaargang.  5.  Serie.  2.  Deel  1867.     8. 

b)  Werken.     Nieuwe  Serie  Nr.  7.   1867.    8. 

Von  der  American  philosophical  Society  in  Philadelphia: 
Proceedings.    Vol.  10.  1866.  Nr.  75.  76.     8. 

Von  der  Accademia  di  scienze  morali  e  politiche  in  Neapel: 
Rendiconto.     Anno  sesto  quaderui  di  Luglio  e  Agosto  1867.     8. 

Vom  historischen  Verein  der  fünf  Orte  Luzern,    TJri,   Schiuys,    Unter- 
tcalden  und  Zug  in  Einsiedeln: 

Der  Gescbichtsfreund.     22.  Band.  1867.     8. 

Von  der  Academie  imperiale  des  sciences  in  St.  Petersburg: 

a)  Bulletin.     Tom.  11.  Nr.  3.  4. 

„      12.     „     1.     4. 

b)  Memoires.     Tom.  10.  Nr.  16. 

„     11.     „     1.— 8.     1867.     4. 

c)  Melanges  mathematiques  et  astronomique.  Tom.  4.     8. 

d)  Jahresbericht  am  20.  Mai  1866.    Dem  Comite  der  Nikolai-Haupt- 

Stemwarte  abgestattet  vom  Director  der  Sternwarte.    8. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  455 

Von  der  Academie  des  sciences  in  Paris: 
Comptes  rendus  hebdoinadaires  de  seances.  Tora.  05.  Nr.  6.  7.  10.  11. 

Von  der  meteorologischen  Central- Anstalt    der  schweizerischen   natur- 
forschenden Gesellschaft  in  Zürich: 

Meteorologische  Beobachtungen.     Dezember    1866.     Januar    Februar 
*1867.     4. 

Vom  koninklijk  Nedcrlandsch  meteorologisch  Instituut  in  Utrecht: 
Meteorologisch  Jaarbock  voor  1866.  2.  Deel.  1867.     4. 

Von  der  kaiserlichen  Universitäts-Sternwarte  in  Dorpat: 
Beobachtungen  von  Dr.  H.  Maedler.  16.  Bd.  1866.     4. 

Von  der  Zoological  Society  in  London: 

a)  Transactions.     Vol.  6.  Part.  1.  2.  3.  1866.  67.     4. 

b)  Proceedings.  Part.  1.  2    3.    1866.     8. 

Von  der  Societe  des  sciences  de  Finlande  in  Helsingfors : 

a)  Acta  Societatis  scientiarum  Fennicae.  Tom.  8.  Pars.  1.  2.  1867.   1- 

b)  Bidrag  tili  Finlands  naturkännedom.  10  Heft.  1867.     8. 

c)  Bidrag  tili  kännedom  af  Finlands  natur  och   folk  7.  8.  9.  10  Hft. 

1866.  67.    8. 

d)  Oeversigt    af    Finska    Vetenskaps-Societetens.     Förhandligar   6. 

7.  8.     8. 

Vom  Istituto  technico  in  Palermo: 

Giornale    di    scienze  naturali    ed    economiche.     Anno    1867.     Vol.  3. 
Fase  1.  2.  3.  1867.     4. 

Von  der  Royal  Society  in  London: 

a)  Philosophical  transactions.     For  the  year    1866.    1867.     Vol.  156. 
157.  Part.  1.2.     4. 

30* 


456  Einsendungen  von  Druckschriften. 


b)  Proceedings.     Vol.  16.  Nr.  87—93. 

.,      16.     „     94.     1866.    -7.     8. 

c)  Fellows  of  tlie  Society.  November  30.  1866.     4. 

Von  der  Acadcmie  royale  des  seiences  des  lettres   et  des  beaux-arts  de 
Belgiqxie  in  Brüssel: 

a)  Memoires.     Tome  36.  1867.     4. 

b)  Bulletins.     35.  Armee.  2.  Ser.  Tom.  22.  1866. 

36.       „         2.     „         „       23.  1867.     1866.     8. 

36.       „         2.     „         „       24.  Nr.  9  et  10.  1867.     8. 

c)  Annuaire.     1867.     8. 

d)  Tables  generales  et  analytiques  du  recueil  des  bulletins.  2.  Serie. 

Tom.  1.  a  20.  1857  a  1866.  1867.     8. 

e)  Biograpbie  nationale  Tom.  1.  2.  Partie.  Lettre  13.  1867.     8. 

Vom  Observatoire  royal  in  Brüssel: 

a)  Annales.     Tome  17.    1866.     4. 

b)  Annuaire.  1867.     34.  annee.  1866.     8. 

Von  der  Begia  Accademia  di  scienze,   lettere  ed  arti  in  Modena: 
Memorie.     Tom.  7.    1866.     4. 

Vom  B.  Osservatorio  in  Modena: 
Bulletino  meteorologico.     Vol.  1.  Nr.  4 — 7.     4. 

Vom  Ateneo  Veneto  in  Venedig: 
Atti.     Serie  seconda.     Vol.  4.  1867.     8. 

Von  der  k.  k.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien: 

a)  Denkschriften.     Philosophisch-Historische  Classe.  15.  Bd.  1867.    4. 

b)  Sitzungsberichte.     Philosophisch-Historische  Classe. 

54.  Band.  Heft  1—3.  Jahrgang  1866.  Oktbr.  Novbr.  Dezbr. 

55.  „        „       1  „  1867.  Januar.    8. 

c)  Denkschriften.  Mathematisch-naturwissenschaftliche  Classe.  26  Bd. 

1867.     4. 


Einsendungen  von  Druckschriften.  457 

d)  Sitzungsberichte.     Mathematisch-naturwissenschaftliche  Classe. 

54.  Band.  4  und  5.  Heft.  Jahrg.  1866.     Novbr.   Dezbr. 

55.  „       1     „      2.       „         „         1867.     Januar.  Februar. 
Erste  Abtheilung.     Enthält  Abhandlungen   aus  dem  Gebiete  der 

Mineralogie,  Botanik,    Zoologie,    Anatomie,    Geologie  und  Pa- 
läontologie.    1867.     8. 

e)  Sitzungsberichte.     Mathematisch-naturwissenschaftliche  Classe. 

54.  Band.  5.  Heft.  Jahrg.  1866.     Dezember. 

55.  „       1.  u.  2.  Heft.  Jahrg.  1867.     Januar.  Februar. 
Zweite    Abtheilung.     Enthält    Abhandlungen    aus    dem    Gebiete 

der  Mathematik,  Physik,  Chemie,  Physiologie,  Meteorologie  etc. 
1867.     8 
fj   Archiv  für  österreichische  Geschichte.  37.  Band.   1.  und  2.  Hälfte. 
1867.     8. 

Von  der  Je.  preussiscJien  Akademie  der  Wissenschaften  in  Berlin: 
Monatsbericht.     Juli  1867.     8. 

Von  der  pJiysikalisch-mcdicinischen  Gesellschaft  in  Würzburg: 

Würzburger    medicinische    Zeitschrift.       7.    Band.     5.    und   6.    Heft. 
1867.     8. 

Von  der  Geschichts-  und  altcrthumsforschenden  Gesellschaft  des  Oster- 
landes  in  Altenburg: 

Mittheilungen.     7.  Band.  1.  Heft.  1867.     8. 

Von  der  pfälzischen  Gesellschaft  für  Phannacic  etc.  in  Speicr: 

Neues  Jahrbuch  der  Pharmacie  und   verwandte  Fächer.     Zeitschrift. 
Bd.  28.     Heft.  4.  Oktober.  1867.     8. 

Von  der  l'hilomathie  in  Neisse: 

a)  15.  Bericht  vom  März  1865  bis  zum  Juli  1867.     8. 

b)  Geschichte  der  Stadt  Neisse  mit  besonderer  Berücksichtigung  des 

kirchlichen    Lebens    in    der   Stadt    und    dem  Fürstenthume  von 
A.  Kastner.  1866.     8. 


458  Einsendungen  von  Druckschriften. 

Vom  Verein  für  Naturkunde  in  Mannheim : 

33.  Bericht.     Erstattet   am    23.  Februar    1867.    Nebst   wissenschaft- 
lichen Beiträgen.  1867.     8. 


Von  der  Senkenbergischen  natur forschenden  Gesellschaft  in  Frankfurt 

am  Main: 

Abhandlungen.     6.  Bd.    3.  und  4.  Heft.  1867.     4. 


Vom   Verein  für  hessische  Geschichte  und  Landeskunde  in  Kassel: 

a)  Zeitschrift     Statistische  Mittheilungen.     9.  Supplement.  2.  Liefg. 

1867.     4. 

b)  Mittheilungen.      Nr.    23.    24    und    1.    2.    Dezember    1866— April 

1867.     8. 

c)  Zeitschrift.     Neue  Folge.     Erster  Band.    Heft  2.  3.  4.  1867.     4. 


Von  der  natur  forschenden  Gesellschaft  in  Freiburg: 
Berichte  über  die  Verhandlungen.     Band  4.  Heft  1.  2.  3.  1867.     8. 

Von  der  Oberlausitzischen  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  Görlitz: 
Neues  Lausitzisches  Magazin.     44.  Bd.   1.  Hft.  1867.     8. 

Von  der  Universität  in  Heidelberg : 
Jahrbücher  der  Literatur.     60.  Jahrg.  8.  Heft.  August.  1867.     8. 

Von  der  Redaktion  der  Sitzungsberichte  der  Gelehrten  und  Realschulen 
Württembergs  in  Stuttgart: 

Correspondenzblatt.     Nr.  9.     10.  Septbr.  Oktbr.  1S67.     8. 


Nachtrag.  459 


Nachtrag  zu  S.  392  (Berthold). 

Aus  dem  eben  ausgegebenen  Hefte  des  Jahrbuches  f. 
roman.  und  engl.  Liter.  (VIII.  213)  sehe  ich,  dass  Pateclus 
nicht  mehr  ganz  unbekannt  ist,  und  dass  sein  verlornes 
Werk  Enueg  (eben  unser  über  de  tediis)  schon  im  Jahr- 
buche VI.  223 — 224  erwähnt  wurde,  ferner  von  seiner 
metrischen  Paraphrasirung  der  Proverbia  Salomonis  in  der 
Bodleiana  in  Oxford  (Man.  Canonici  48)  ein  Bruchstück 
von  38  Hexametern  existirt,  von  welchen  A.  Mussafiaa.  a.  0. 
einen  neuen  Text  aus  dem  in  Venedig  aufbewahrten  hand- 
schriftlichen Collectaneen  des  Apostolo  Zeno  mitgetheilt  hat. 
Wir  sehen  aus  diesem  der  ehemaligen  Saibantischen  Biblio- 
thek in  Verona  entstammenden  Fragmente,  dass  der  Name 
des  Autors  Girard  Pateg  (da  Cremona)  geschrieben  ist, 
was  nach  Mussafias  Ausführung  als  mundartliche  Form 
(Patey  auszusprechen)  für  toskanisches  Patecchio,  latinisirend 
Pateclo  und  gutlateinisch  Pateculus,  angesehen  werden  muss. 


Sitzungsberichte 

der 

königl.  bayer.  Akademie  der  Wissenschaften. 


Philosophisch-philologische  Classe. 
Sitzung  vom  7.  Dezember  18G7. 


Herr  Hofmann  legt  vor  von  Herrn  Zingerle  in  Inns- 
bruck : 

„Bemerkungen  zum  Nachtsegen." 

Die  Sitzungsberichte  der  k.  bayer.  Akademie  theilten 
den  in  mehrfacher  Beziehung  merkwürdigen  , .Nachtsegen" 
mit  und  gaben  sowohl  bei  dem  Erscheinen  desselben  (1867. 
IL  1,  p.  1 — IG),  als  später  ebenda  (p.  159)  höchst  dankens- 
werte Erläuterungen  dieses  namentlich  in  culturhistorischer 
Beziehung  wichtigen  Denkmals.  Wenn  ich  mir  erlaube, 
nochmals  darauf  zurückzukommen,  so  möchte  ich  nur  einiges 
zur  Bestätigung  des  schon  gesagten  beibringen ;  denn  wo 
eine  so  tüchtige  Hand  schon  gearbeitet  hat,  bleibt  einer 
zweiten  nur  eine  karge  Nachlese  über. 

Zu  v.  1  „das  saltir   deus  brunnon"  bietet  eine  Parallele 
die  Beschwörung  in  der  Erzählung  „Irregang  und  Girregang" 
mit  dem  Verse: 
[1867.11.4.]  31 


462    Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  von  7.  Dezember  1867. 

,,Bi  deus  salter  ich  dich  swer"1). 

Wenn    „brunnon"    berechtigt    ist,    dürfte    damit    der 
49.   Psalm :      „Quemadmodum    desiderat    cervus   ad   fontes 
aquarum  etc."    oder   der    136.  :     ,, Super  flumina  Babilonis" 
gemeint  sein.     Ist  aber  vielleicht  nicht  zu  lesen: 
„Daz  saltir  deus  benedictum, 
daz  hoyste  numen  divinum"? 

Zu  v.  6  verweise  ich  auf  „Der  Seelen  Trost"  32)  und 
Geilers  Emeis.3)  Einen  der  interssantesten  Berichte  über 
die  Nachtfahr  giebt  Vintler  in  seiner  „Blueme  der  Tugend", 
wo  er  die  schon  aus  Grimms  Mythologie  p.  1011  mitgetheilte 
Legende  vom  heiligen  Germanus  erzählt.  Da  seine  Dar- 
stellung meist  unbekannt  sein  dürfte,  theile  ich  dieselbe  zum 
Theile  hier  mit.  Am  Schlüsse  des  Abschnittes  über  den 
Aberglauben  seiner  Zeit  sagt  er: 

So  varen  etleich  mit  der  var 
auf  kelbern  und  auf  pöcken 
durch  staine  uud  durch  stocken 
und  fährt  dann  fort: 

Von  dem  schreibt  also  Gregorius 

in  seinem  puech  dyalogus, 

das  ain  pischolf  was, 

der  hiez  Germanus,  als  ich  las, 

und  was  gar  ains  hailigen  leben. 

nu  was  dem  selben  pischolf  geben 

ain  ander  pistum  ze  Ravenn 

als  man  noch  wechselt  ettewenn 

umb  die  pistum  ietzund. 

nu  ward  dem  selben  pabest  kunt, 


1)  HGA.  LV  v.  89. 

2)  Zeitschrift  für  deutsche  Mundarten  I.  183. 

3)  Stöber.  Zur  Geschichte  des  Yolksaberglaubens.  Basel  1856  p.  18. 


Zingerle:  Zum  Nachtsegen.  463 

er  solt  den  pischolf  von  Ravenn 

schicken  in  die  stat  ze  Senn, 

da  er  vor  pischolf  was  gewesen 

und  das  er  da  solte  lesen 

christenleichen  glauben  drat. 

also  für  er  in  die  stat 

zu  ainem  wirt,  der  was  unfro 

und  sprach  zu  dem  pischolf  do: 

„herre  mein,  ich  wolt  dass  ir 

heint  die  nacht  nicht  wärt  pei  mir, 

wann  wir  haben  heint  ze  schaffen, 

darzu  wir  nicht  bedürfen  pfaffen." 

do  sprach  der  pischolf:  „sage  an, 

was  haben  dir  die  pfaffen  getan, 

das  du  si  nicht  leiden  wilt?" 

„herr  do  hob  wir  heint  ain  spil. 

das  wir  sicher  alle  sampt 

varen  mit  der  var  zehant." 

do  sprach  der  pischolf:  ,,sag  mir  war, 

was  ist  das,  das  man  die  var 

haisset  hie,  mein  lieber  frewnt?" 

„herr  das  tuen  ich  ew  wol  kunt, 

unser  seind  hie  in  der  stat 

wol  zwainzig,  die  da  in  dem  rat 

sein  die  pesten  sicherlich. 

herr,  die  varen  all  als  ich." 

„nu  sag,  mein  frewnt,  wo  vart  ^es  hin?" 

„herr,  wir  varen  nach  gewin. 

wo  uns  nuer  der  will  hin  get, 

da  sei  wir  für  sich  an  der  stet." 

„vart  es  danne  ainen  steg?" 

„nain,  es  vert  iederman  sein  weg." 

,,nu  wann  kumpt  es  herwieder?" 

„zu  mitternacht  lass  wir  uns  nider 

31* 


464     Sitzung  der  pliüos.-philol  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

wider  in  das  selbe  liaus, 

da  wir  sein  gevaren  aus." 

„und  wie  gesecht  es  auf  der  strass?" 

„herr,  wir  gesechen  pass, 

dann  ob  wir  füren  ze  mittertag." 

„nu  sag  an  frewnt,  wes  ich  dich  frag: 

esset  es  under  wegen  nicht?" 

„herr,  wir  haben  alleu  gericht, 

der  man  nuer  gedenken  kan. 

wo  wir  wissen  ain  reichen  man, 

der  do  hat  kost  und  wein, 

da  selbs  da  varn  wir  alle  ein 

und  essen  was  wir  bedürfen  da." 

„nu  sag  mir,  lieber  freunt,  wa 

weit  es  heinte  varen  hin?" 

„ich  sag  euchs,  herr,  als  ichs  vernim : 

wir  wellen  heinte  ain  verzeren 

des  mag  er  sich  nicht  erweren, 

des  sei  wir  worden  in  ain, 

das  er  muss  sterben  an  aim  pain." 

„nu  underweise  mich  auch  des: 

was  habet  nuer  ze  reiten  es?" 

„herr,  wir  haben  ze  reiten  gnug 

iederman  nach  seinem  fug. 

ainer  reit  ain  kue,  der  ander  ain  hunt, 

der  dritt  ein  kalb,  dem  vierden  pald  ain  gais  kumt, 

der  fünft  ain  pack,  der  sechst  ain  swein, 

der  sibent  ain  stul,  der  acht  ain  schrein" 

„nu  sag  mir,  zarter  wirt  mein, 

möcht  ich  nicht  ewr  geverte  sein, 

das  ich  auch  sagen  kunt  davon." 

der  wirt  der  sprach:  „ia  trawn, 

ob  ir  sein  euch  biet  bedacht, 

ir  möcht  halt  varen  heinte  nacht." 


Zingcrlc:  Zum  Nachtsegen.  465 

iirnb  die  zeit  als  tag  unt  naclit  sich  scliait 
und  umb  die  ersten  hanen  krait, 
so  solt  ir  kumen  in  mein  kamer. 
da  vindet  ir  uns  pei  einander"  etc. 
Bei   bicrizen   v.  7    möchte    ich    das  diabetische  kritzen 
(Schöpf  347)  —  eine  Kerbe  machen  —  herbei  ziehen.  Ohne 
Zweifel    hatte    es  die  Bedeutung  durch  einen  Einschnitt  be- 
zeichnen, und  dann  bezeichnen  überhaupt.    Vielleicht  wurde 
es  auch  mit  dem  Begriffe  „zum  Schutze,  schützend  bezeich- 
nen" wie  segnen  gebraucht. 

V.  9.  Dient  das  ,,die  Guten"  schon  zur  Bezeichnung 
der  Eiben.  Noch  heutzutage  ist  der  Name  ,, Gütchen"4)  ein 
fast  so  allgemeiner  Name  für  elbische  Geister  wie  ,.gute 
Holde."  Simrock  Myth.  482.  In  derselben  Bedeutung  kommt 
,,guoter"  auch  schon  in  der  früher  genannten  Erzählung 
Irregang  und  Girregang  vor: 

Er  solde  sin  ein  guoter 
und  ein  pilewiz  geheizen5) 
Zu  v.  14  bemerke  ich ,  dass  in  Mähren  der  Name 
Skritek6)  gleichbedeutend  wie  skreti  vorkommt.  Jedenfalls 
möchte  ich  hier  Schrite  für  gleichbedeutend  mit  Schrat, 
Schrätle  nehmen,  somit  für  Kobolde,  die  auf  den  Wegen 
sich  umtreiben  und  den  Wanderer  necken  und  belästigen. 

Zu  v.  19.  Vergleiche  Meiers  Sagen  aus  Schwaben 
Nr.  140—158.  Birlinger  Sagen  I,  33  ff. 

V.  20.  21.  Geilers  Stelle  lautet  vollständig:  Also  redt 
der  gemein  man  darvon,  das  die,  die  vor  den  Zeiten  sterben 


4)  Den  frommen  Gütchen  nah  verwandt.  Göthes  Faust  II,  51. 
Daemones,  qui  quotidie  partem  laboris  perficiunt,  curant  jumenta,  et 
quos,  quia  generi  humano  mites  sunt  aut  saltem  esse  videntur,  Ger- 
inani  Gutelos  appellant.  Georg  Agricola  de  re  metallica  (15G1, 
XII.  p.  492). 

5)  H  G  A.  LV,  1002. 

6)  Grohmann,  Aberglauben  und  Gebräuche  Nr.  80. 


466     Sitzung  der  phüos.-phüol  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

ee  den  das  innen  got  hat  uff  gesetzt,  als  die,  die  in  die 
reisz  lauffen  und  erstochen  werden,  oder  gehenckt  und  ertrenckt 
werden,  die  müszen  also  lang  nach  ireni  todt  lauffen  bysz 
das  das  zyl  kumpt,  das  innen  got  gesetzet  hat,  und  dan  so 
würckt  got  mit  innen  waz  sein  göttlicher  will  ist.  Und  die, 
die  also  lauffen,  die  lauffen  aller  meist  in  den  fronfasten, 
und  vorausz  in  den  fronfasten  vor  weinnachten;  das  ist  die 
heiligest  zeit.  Und  laufft  yetlicher  als  er  ist ,  in  seinem 
cleide. 

Zu  v.  23  „alb  unde  elbelin"  vgl.  den  Anfang  eines 
Alpsegens:  „Alp  oder  Eibin",  den  Grohmann  in  seinen  Ge- 
bräuchen Nr.   114  mittheilt. 

V.  27  u.  30.  Das  Wort  „Mahr"  lebt  noch  in  der 
Volkssprache  fort,  s.  Kuhn  mark.  Sagen  Nr.  185.  Kuhn  nord- 
deutsche Sagen  p.  418.    Wolf  niederl.  Sagen  Nr.  249  ff. 

Vgl.  über  Mahr  Wolfs  Beiträge  II,  264  ff. 

Ueber  Trute  vgl.  Zingerle  Sitten  36,  62,  139,  148,  166, 
190.     Sagen  p.  337,  347,  348,  426,  427. 

Truden  oder  Mahrsegen  finden  sich  häufig:  Grohmann 
Gebräuche  Nr.  113,  114,  130.  Kuhn  westfälische  Sagen 
II  p.  191.  Pröhle  Harz -Bilder  p.  80.  Kuhn  nordd.  Ge- 
bräuche Nr.  458.     Grimm  Mythologie  1194. 

Zu  v.  31  und  32   vrgl.   die  Verse   eines  Fiebersegens: 
Hat  dich  überritten  ein  Mann, 
so  segne  dich  Gott  und  S.  Cyprian; 
hat  dich  überschritten  ein  Weib, 
so  segne  dich  Gott  und  Mariae  Leib. 

Wolfs  Beiträge  p.  256. 

Zu  31  vgl.  „dich  hat  geriten  der  mar."  HGA. 
LV,  646. 

36.  Wenn  hier  cruchen  =  mit  einer  Krücke,  einem 
Hacken  fangen  bedeutet,  ist  wohl  an  den  oftgenannten 
Hackemann  (Curtze  Nr.  61.  Meier  I,  149.  Müller,  nieder- 
sächs.  Sagen  Nr.  90  und  Anm.  Stöber  Nr.  324)  zu  denken. 


Zingerle:  Zum  Nachtsegen.  467 

In  der  Erzählung  Irregang  und  Girregang  kommt  in  der  Be- 
schwörung vor:  „und  bi  Getanis  krükken."  H  G  A.  LV, 
1320.— Vielleicht  steht  aber  hier  „chruchen"  für  chriechen?  — 

„anehuchen"  bedeutet  hier  wohl  aufhocken,  aufsitzen. 
Kobolde  und  Geister  lieben  es,  Wanderern  aufzuhocken  und 
sich  von  ihnen  tragen  zu  lassen,  vgl.  Lütolf  Sagen  p.  126, 
Zingerle  Sagen  Nr.  250,  251.  Pröhle  Harzsagen  p.  77,  117. 
Grimm  Sagen  I,  129.  Panzer  I,  178.  Bechstein,  thüringer 
Sagenbuch  I,  105.  Kuhn,  norddeutsche  Sagen  p.  120.  Groh- 
mann  Gebräuche  Nr.  58. 

V.  39.  Der  Volksglaube  von  der  Klage,  Klagemutter 
(Ulula)  lebt  heute  noch  fort,  vgl.  meine  Tiroler  Sitten  Nr.  367. 
368.  Grohmann  Gebräuche  Nr.  31. 

V.  41.  Herbrant,  vrgl.  Kuhn  westfäl.  Sagen  II,  26. 
„Den  Dräk  nennt  man  in  Freckenhorst  Herbrant.  Wenn 
der  Hiärbrand  in  ein  Haus  fällt,  so  brennt  dasselbe  nach 
sieben  Jahren  ab."  Vrgl.  Wöste  Volksüberlieferungen  p.  40 
und  Montanus  p.  39.  Es  vertritt  dies  Herbrant  den  tirol- 
ischen Alber.  Herbrote  ist  wohl  nur  als  Feminin  zu  Her- 
brant zu  fassen,  wie  vermuthlich  v.  23:  „alb  unde  elbelin" 
letzteres  für  eibin  steht.  Vrgl.  in  einem  Segen  (Wolf  Bei- 
träge I.  254)  „do  mutten  ihnen  Alf  medi  Alfinne." 

Zu  „Molkenstellen"  v.  43  vgl.  Lütolf  Sagen  p.  575. 
Zingerle  Sagen  Nr.  545.  Vonbun  p.  20.  Müller,  sieben- 
bürgische  Sagen  p.  106.  Wolf,  niederländische  Sagen  p.  370. 
Rochholz  II,   167.     Viutler  sagt: 

und  vil  iechen,  man  stele  der  chue 
die  milch  aus  der  wammen. 
und  Geiler  predigte  über  diesen  Glauben  (Stöber  p.  G2). 

V.  45.  vuzspor  ist  wohl  eine  Krankheit  an  den  Füssen, 
vgl.  das  volksthümliche :  Maulsperr,  herzgespor,  herzgespör, 
Schöpf  Idiot.  687. 

Zu  v.  49  entsehen,  vgl.  Geiler:  Item  wir  sahen  men- 
schen ,    die  mit   dem   gesicht  sollen  ein  Ding  vergiften ;    als 


468     Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

dick  beschicht,  dasz  zauberer  oder  hexen  ein  kind  ansehen, 
so  sol  es  nimer  guot  mee  thuon,  und  dorret  und  verdirbt  etc. 
Stöber  zur  Geschichte  d.  V.  A.  p.  45.  Ueber  das  Entsehen 
theilt  Grohmann  viele  Aberglauben  mit  p.  155  ff. 

Zu  v.  50.     In  Patznaun   schreckt   man   die  Kinder  mit 
dem  Waldmännlein  Märzhackel  und  sagt:    Geht  nicht  allein 
in  den  Wald ,    sonst   kommt   das  Märzhackel   und  schneidet 
euch  die  Schinken  ab.     (Meine  Gebräuche  Nr.  18.)     Hieher 
beziehen  kann  man  auch  Vintlers  Stelle : 
So  sein  ettleich  als  behend, 
das  sew  varen  hundert  meil 
gar  in  einer  kleinen  weil; 
sunderleich  die  prechen  leuten  ab 
die  pain,  als  ich  gehöret  han. 
V.  51.  Vom  Saugen  der  Trude  sagt  Vintler: 
so  spricht  maniger  tummer  leib, 
die  trutte  sei  ein  altes  weib 
und  chunue  die  leut  saugen. 
Der  Glaube ,    dass  Truden ,    Hexen  etc.    das  Blut   aus- 
saugen,   lebt  noch  fort.     Zingerle   Sagen  Nr.  750.     Vonbun 
p.  23.    Schönwerth  I,  211.    Grohmann  Gebräuche  Nr.  117, 
118,   124.     Vgl.   auch    dort    das  Bluttrinken  in  den  Zauber- 
segen Nr.   1144,   1248.  1300. 
Zu  v.  55  vgl.  die  Verse: 

dich  hat  geriten  der  mar, 
ein  elbischez  äs, 
du  solt  daz  übele  getwäs 
mit  dem  kriuze  vertriben 
HGA.  LV.  646  und 

nü  sagä  mir,  elbischez  getwäs. 
Ebendort  v.  1310. 

V.  68  ist  vermuthlich  ,,bi  dem  babes  olio  untus  =  oleo 
unctus"  zu  lesen.  Der  babes,  wahrscheinlich  steht  bäben  für 


Zingerle:  Zum  Nachtsegen.  469 

bäbes,  oleo  unctus  würde  verinuthlich  Aaron  sein,  von  dem 
Rudolf  in  seiner  Reimchronik  sagt : 

daz  heilic  öl  er  im  do  göz 

üf  daz  houbet  sin,  daz  ran 

unz  an  den  pari  dem  reinen  man, 

als  an  dem  salter  noch  da  stät. 

Davit  da  von  gesprochen  hat: 

als  diu  salbe,  diu  so  schone 

ran  nider  Aärone 

von  dem  houbet  in  den  part, 

und  vürbaz  ran  nach  siner  art 

unz  an  sin  gewandes  ort. 
Es  wäre  dann  der  32.  Psalm  gemeint,  in  dem  man 
liest:  „sicut  unguentum  in  capite,  quod  descendit  in  barbani, 
barbam  Aaron,  quod  descendit  in  oram  vestimenti  ejus."  — 
V.  65.  66.  Unter  laudem  deus  ist  vermuthlich  der 
108.  Psalm  mit  dem  Anfange:  ,,Deus  laudem  meam  ne  ta- 
cueris",  sowie  ,,bi  dem  voce  meus"  der  76.:  „Voce  mea 
ad  dominum  clamavi"   gemeint. 

V.  73  ist  ohne  Zweifel  „Jerusalem"  zu  lesen  und  dabei 
das  Himmelreich ,  das  Jerusalem  der  Apocalypse  zu  ver- 
stehen. Auch  die  Stadt  Jerusalem  wird  in  Segen  und  Be- 
schwörungsformeln öfter  genannt  z.  B.  Kuhn  westfälische 
Sagen  II,   198,  207.  Birlinger  I,  204.  Meier  Sagen  525. 

Zu  V.  74  „daz  du  vares  obir  mer"  vgl.  die  Verse  in 
den  Alpsegen :  „Alle  Wasser  sollst  du  waten"  (Grohmann 
Gebräuche  Nr.  113)  „Olla  Wosser  woten"  ebendort  Nr.  114. 
„Bevor  du  nicht  gezählt  den  Sand  im  Meer"  ebendort 
Nr.  130  und  ähnl.  Grimm  Myth.  1194.  Haupt  Zeitschrift  III, 
350.  Kuhn  westfäl.  Sagen  II,  191  oder  im  Spruche  gegen 
den  Rothlauf,  „Kommst  du  aus  dem  Wasser,  geh  ins  Meer. 
Im  Meere  schöpfe  das  Wasser,  zähle  den  Sand,  diesen  Leib 
aber  lass  in  Ruh."  Ebendort  Nr.  1138  und  ähnliche  Stellen 
bei  Grohmann  Nr.  1143,   1256,  1300. 


470       Sitzmg  der  philos.-phüöl.  Glosse  vom  7.  Dezember  1867. 

Seit  dem  Erscheinen  des  Nachtsegens  habe  ich  in 
Konrads  von  Megenberg  Buch  der  Natur  (ed.  Pfeiffer  S.  107) 
eine  auf  V.  61  bezügliche  Stelle  entdeckt,  die  merkwürdig 
genug  ist,  um  hier  noch  mitgetheilt  und  besprochen  zu  werden. 
Konrad  handelt  im  33.  Capitel  von  dem  Erdbeben  und  sagt: 
Nun  wissen  gemeine  Leute  nicht,  woher  es  komme;  darum 
dichten  alte  Weiber,  die  sich  gar  klug  dünken,  es  sei  ein 
grosser  Fisch,  der  Celebrant  heisse  und  auf  dem  das 
Erdreich  stehe.  Er  habe  seinen  Schwanz  im  Maule,  und 
wenn  er  sich  bewege  oder  umwende,  so  erbebe  das  Erd- 
reich. Das  ist  ein  Riesenmärchen  und  nicht  wahr  und  gleicht 
wohl  der  Sage  der  Juden  von  dem  Ochsen  Vehemot. 

Man  sieht  hier  die  Verquickung  der  germanischen  Welt- 
schlange (mi&garSs  ormr) ,  die  zu  einem  Fische  geworden, 
mit  dem  symbolischen  christlichen  ix&vs,  der  für  die  obige 
Stelle  des  Nachtsegens  gewiss  feststeht.  Das  Mittelalter  war 
bekanntlich  immer  sehr  darauf  bedacht,  „das  Kind  beim 
Namen  zu  nennen."  Woher  er  kam,  und  ob  er  passte,  war 
Nebensache.  So  wird  man  hier  zugeben  müssen,  dass  der 
Name  Celebrant  nur  aus  einer  mit  dem  Verse  des  Nacht- 
segens inhaltlich  identischen  Stelle  dem  Weltungeheuer  des 
heidnischen  Mythus  aufgebracht  sein  kann. 

Herr  Dr.  R.  Hildebrand  hat  mir  zu  bicrizen  in  V.  7  fol- 
gende Aufklärung  mitgetheilt.  „daz  selbe  schülkint  ging  in  di  cap- 
pelle  der  heiligen  lantgrävin  unde  pam  ....  eine  rebe  (Rippe)  üz 
dem  grabe  unde  bekreiz  sine  ougen  unde  sine  kel  in  spotte  unde 
in  unglouben  da  mite.  Koediz  von  Saalfeld,  Leben  des  heil.  Ludwig 
78,17.  Ich  denke,  es  ist  Alles  klar,  w.e  nicht  oft:  der  kreiz  war 
eine  heilige  Form,  mit  einer  Reliquie  beschrieb  man  um  das  zu 
heilende  Glied ,  um  eine  zu  bezaubernde  Stelle  einen  Kreis  oder 
Kreise.  Zu  V.  36,  cruchen  bemerkt  er:  Es  bedeutet  mitteldeutsch  noch 
jetzt  und  bis  ins  16.  Jahrhundert  bezeugt,  kriechen,  genauer  sich 
ducken,  sich  einziehen  und  so  wo  hineingehen,  zu  V.  10,  dass  im 
16.  Jahrhundert  Brockel  bezeugt  ist,  „Melibocus  mons  der  brockel 
quod  latine  dicitur  mons  rupium  vel  confragus".  Bald.  Trochus 
Ascaniensis  vocabulorum  rerum  promptuarium  Lpzg.  1517.  d.  &>  Noch 
bemerke  ich,  dass  Herr  Jaffe  in  Vers  I  deus  bravium,  in  2  numen 
divinum  und  in  68  baben  conjunctus  gefunden  hat,  endlich,  dass  in 
V.  58  wazzere,  und  in  V.  75  numermer  zu  lesen  ist. 

C.  Hofmann. 


Zingerlc:  Zur  Eneide  Heinrichs  von  VeldeJcen.  471 


Von  ebendemselben: 

„Meraner  Fragmente  der  Eneide  von  Heinrich 
von  Veldeken,"  jetzt  in  der  Münchner 
Staatsbibliothek. 

Ich  bin  so  glücklich  dem  neuen  Quellenmateriale ,  das 
unlängst  Professor  Dr.  Pfeiffer  zur  Eneide  (Wien,  1867) 
veröffentlicht  hat,  die  spärlichen  Bruchstücke  einer  sehr  alten 
und  werthvollen  Handschrift  anzuschliessen.  Am  3.  Oktober 
d.  J.  schrieb  mir  mein  Freund  Dr.  David  Schönherr,  dem 
ich  schon  so  oftmals  liebevolle  Förderung  meiner  Forsch- 
ungen zu  danken  hatte,  dass  er  im  Stadtarchive  zu  Meran 
auf  einem  Gerichtsbuche  des  14.  Jahrhunderts  drei  mit 
Versen  beschriebene  Pergamentblätter  gefunden  habe  und 
hatte  die  Güte,  mir  dieselben  zur  Ansicht  zu  übermitteln. 
Es  war  ein  Doppelblatt  und  ein  Einzelblatt  mit  Versen  aus 
der  Eneide.  Dies  enthält  ein  Fragment,  das  nach  Ettmüllers 
Ausgabe  mit  V.  204.17  beginnt,  jenes  giebt  nach  Ettmüller 
die  Verse  240,15  —  244,10  und  260,13  —  264,7.  —  Leider 
haben  die  Blätter  theils  durch  Verschneiden ,  theils  durch 
Abnützung  und  Feuchtigkeit  so  sehr  gelitten,  dass  viele  Verse 
selbst  nach  Anwendung  von  Reagentien  unleserlich  bleiben. 
Dennoch  sind  uns  im  Ganzen  circa  340  Verse  einer  Hand- 
schrift erhalten,  die  jedenfalls,  das  Regensburger  Bruchstück 
ausgenommen,  die  übrigen  an  Alter  übertrifft.  Höchstens 
könnten  Pfeiffers  Bruchstücke  ihr  den  Vorrang  noch  streitig 
machen.  Die  Blätter  in  Quart  sind  doppelspaltig  beschrieben, 
je  die  Spalte  mit  beiläufig  38  Versen.  Die  Schrift  ist  durch- 
aus sehr  sorgfältig,  schön,  ja  zierlich  und  kann  noch  in  das 
Ende  des  12.  Jahrhunderts  zurückreichen,  spätestens  gehört 
sie  noch  dem  Anfange  des  13.  Jahrhunderts  an.  Durchaus 
hat   sie  nur  langes  s ,    nur  in  Eigennamen  und  im  Anfange 


472     Sitzung  der  plülos.-philol.  Ciasse  vom  7.  Bezemler  1867. 

der  Verse  macht  sich  manchmal  grosses  S  bemerkbar;  u 
wird  immer  durch  v  oder  ü  bezeichnet,  w  durch  vv,  für  z 
steht  noch  immer  das  alte  Zeichen  7  oder  7,  das  im  13.  Jahr- 
hundert nur  selten  mehr  begegnet.  *)  Die  schlichten  Initialen 
sind  roth.  Der  erste  Buchstabe  eines  jeden  Verses  ist  etwas 
hinausgerückt  und  durch  ein  rothes  Pünktchen  ausgezeichnet. 
Die  Eigennamen  sind  öfters  durch  grosse  Schrift  hervor- 
gehoben z.  B.  PALLAS,  ENEAS  etc.  Von  andern  Eigen- 
tümlichkeiten ist  nur  die  Doppellung  des  z  und  f  zu  bemerken 
z.  B.  liezzen  205,18,  240,18,  lazzen  205,6, »ebenmazzen  205.5, 
geheizzen  242.9,  grozzen  262.25,  begriffet  262,22,  waffen 
262,27,  slaffen  262,28.  Statt  ge  findet  sich  oft  gi  z.  B.  gi- 
waltlich  207,32,  giwalt  207,29,  ginesen  207,33,  ginuoch 
207,36,  gitun  241,1,  ginutzen  243,26,  ginomen  260,24  u.  a.  m. 
V.  242,31  ist,  „waeren"  für  wem  geschrieben.  In  V.  262,16 
steht  „entswebet"  für  entsebet,  welch  letzteres  Wort  unserm 
Schreiber  nicht  verständlich  sein  mochte,  da  es  wohl  nur 
im  „Mitteldeutschen"  gebräuchlich  war.  V.  262,24  ist  „sel- 
went"  Schreibfehler  fürt  selwet.  Unser  Text  stimmt  mit  dem 
der  Berliner,  noch  mehr  aber  mit  der  Münchner  Handschrift 
überein,  theilt  aber  nicht  die  Wortschreibung  der  letztern, 
welche  das  i  manchmal  schon  in  ei  und  ü  in  au  auflöst 
z.  B.  241,7  smaechleiche ,  241,16  stetechleichen .  261,14 
saelichleiche,  244.6  durchlauchtet.  244,8  lauchte.  —  Wie  in 
den  Handschriften  B  und  M  fehlen  auch  hier  die  Verse  = 
Ettm.  205,  21— 26  und  262,  27  —  28  und  sind  die'' folgenden 
V.-  27  und  28  umgestellt.  Wie  in  M  sind  die  Verse  244,  7 
und  8  auch'  hier  verwechselt.  Ich  stelle,  um  die  Ueberein- 
stimmung  zu  zeigen,  noch  folgende  Belegstellen  zusammen. 
205,10  dar  quam  B  M  G.  206,14  stunt  er  B  M.  206,21 
der  herre  Pallas  B  M.  240.39  unzalihaft  B.  240,40  Kamille 


1)  Germania  III,  344. 


Zingerle:  Zur  Eneide  Heinrichs  von   Veldelcen.  473 

da  vaht  B  G  M.  242,38  liaz  B  G  H  M.  243,16  do  enuam 
B  M.  243,19  prister  B.  priester  M.  243,20  meister  BGH 
M.  261,28  anegenge  B  G  M.    261,32  niemen  enmach  B  M. 

262.33  vil  misliche  BMGE  262,37  enkau  enmach  B  G 
HM.  262,39  daz  ich  B  G  H  M.  tohter  du  erchennest  B  M. 
264,1  tut  dicclie  B  M.  ze  groz  M  B.  Mit  B  allein  hat  sie  die 
Lesearten  206,17  vnder  dem  halsperge  243,9  ritterliche,  gemein. 

Viel  zahlreicher  sind  die  Fälle,  wo  unsere  H  S. 
meist  mit  der  Münchner  allein  stimmt  z.  B.  205,14 
und  242,3  ors.  205,34  der  herre  P.  206,21  do  lac  der 
herre  Pallas  erslagen.  206,23  veige  G  H  M.  207,30 
sit  vil  sere.  240,17  erstochen.  241,1  siz  wol  torste  getün. 
241,16  stetechleichen  M.  242,4  selbe  räch  si.  242,21  niemer 
me  M  G.  242,32  harte  wol  G  M.  242,40  ein  ritter  der. 
243,1  Troyanen  H  M.  243,2  alze  na.  243,33  andere.  243,39 
er  mohte  bezzer.  244,3  vn  vor  an  dem.  244,4  ein  granate 
iochant.  244,6  durchlauchtet.  260,21  schoniu.  260,31  als/ als. 

260.34  dir  wol  aller  M  G.  261,14  saelichleiche.  261,19  denne. 
262,12  deD  andern  gewisen  G  M.  263,3  denne  M  H.  263,24 
grozzer.  263,34  iesliche.  263,37  muge  eh.  Zu  andern  Hand- 
schriften neigt  sich  unser  Text  selten  vrgl.  z.  B.  204,28 
wan  er  PI.  207,34  niwan  durch  daz  G.  242,26  in  unschöne 
H.  243,26  genuzzen  G.  261,6  deheine  H.  261,37  bechennen 
H.  262,36  von  ir  G  H.  263,19  wie  ich  dir  b.  H.  263,20 
von  leide  G.  Manchmal  weicht  unsere  Handschrift  von  den 
übrigen  Texten  ab  und  ich  gebe  hier  die  wichtigeren  Fälle. 
204,24  wol  geneset.  204,12  ander  ächein  sin  schulde.  207,31 
do  der  herre  Eneas.  267,36  entgalt  ouch  crs.  240,19  unz 
an  (bis  an  G  II).  240,38  -helide  die  da.  242,21  f «sprach. 
242,23  in  daz.  242,24  des  ir.  242,29  bieten.  242,39  geschehen. 
243,15,17  enheinen.  243,18  herre.  260,28  din  wol  wert. 
260,30  du  tusent  stunt.  260,36  erchennest.  261,4  rechter 
solt.  261,23  ob  erz.  261,33  dehein.  262,4  weder  ich  tuo. 
262,23  begarwe.  262,40  denne.    263,18  erfurhte.    263,34  ze 


474     Sitzimg  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

allem  Dinge  i.  263,40  da  vorn.  Wir  haben  in  den  Meraner 
Fragmenten  somit  einen  Text,  der  der  Münchner  Handschrift 
an  Alter  vorangeht,  ja  vielleicht  dieser  als  Vorlage  gedient 
hat,  und  ein  neuer  Herausgeber  der  Eneide  wird  desshalb 
auf  unsere  Fragmente  immer  vorzugsweise  Rücksicht  nehmen 
müssen.  Zum  Schlüsse  theilen  wir  eine  diplomatisch  genaue 

Abschrift  mit.     ("Was  cursiv  eingesetzt  ist,  hat  Herr  Hofmann  später 
gefunden.)  A.  d.  R. 

I. 

(=  Ettmüller  204,17—205,32.) 

fliehen  la 

v  nt  .     .     .  liehen  ziehen 

d  iv  wol  .     .     .  denden  swert, 
20  o  b  ir  des  libes  iht  gert, 

v  nt  slaht,  die  iueh  wellent. 

daz  dvnchet  mich  baz  getan, 

daz  ir  gute  knehte  weset 

vnt  mit  eren  wol  geneset 
25  vnt  rüm  erwerbet, 

.     .     .     .  schänden  sterbet. 

D  o  -sp'ch  aber  Pallas, 

w  ann  er  ein  helt  was : 

,,ich  wil  .     .     .     .  verzaget. 
30  der  ivch  da  her  hat  geiaget, 

ich  wil  des  gedingen 

vnt  wil  in  dar  zu  bringen, 

daz  ers  niht  me  entü  . 

.     .     .     .  wider  sten  nu, 
35 

den  andern  lege  .     .     . 

(Lücke  von  Vers  37—205,3.) 

getorste  lb 

5  .     .     .     .  ebenmazzen 
lazzen, 


Zingerle:  Zur  Eneide  Heinrichs  von   Veldeken.  475 

D  o  sagte  im  Pallas 

.    .  rehte,  wer  er  was 

vnt  daz  er  im  waere  gram 
10  vnt  daz  er  durch  daz  dar  qvam, 

daz  er  im  schaden  wolde, 

dvrch  ander  deheine  sin  [durchstr.]  schvlde. 

daz  was  Tvrno  vil  zorn, 

daz  ors  rürt  er  mit  den  sporn. 
15  alse  tet  ouch  Pallas  . 

daz  sine  vil  snel  was  . 

er  wolte  im  niht  entwichen. 

si  liezzen  dare  strichen, 

die  zwene  degen  riche 
20  .  Ihten  sich  riterliche 

.  10  .  he  .  geliehen 

si  griifen  .     .  den  swerten, 

des  si  sere  gerten. 

die  helde  vil  milte 
25  zerhiewen  die  Schilde 

ze  spaenen  vil  chleine. 

si  zwene  waren  da  eine, 

daz  niem  da  bi  in  was  . 

do  slüch  der  herre  Pallas 
30  .     .     .    einen  solhen  slach, 
.     r  nider  lach.  . 
.  innen  . 

dann  noch  Reime  . . .  erte  . . .  cli  . . .  lü.ch 
(=  Ettmüller  206,9—208,5.) 

der  maere  helt  lvssam  lc 

10  vf  div  knie  er  nider  qvam 

vor  Pallas  an  den  sant. 

daz  swert  behielt  er  in  der  hant, 

er  moht  deheinen  slach  er  zien. 

alda  stynt  er  vf  knien, 


476      Sitzung  der  pliilos.-phüol  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

15  er  het  sich  gerne  erwert, 

e  r  stach  Pallas  daz  swert 

vnder  dem  halsp-ge  in  den  lip, 

so  daz  er  im  lant  vnt  wip 

i  mmer  me  mit  fride  liez : 
20  toten  er  in  der  nider  stiez. 

D  o  lach  der  herre  Pallas  erslagen, 

den  sine  frivnt  wol  müsen  chlagen, 

daz  er  also  veige  was, 

der  ivnge  künich  Pallas. 
25  do  was  der  iamer  vil  groz, 

d  az  er  des  vbele  ginoz, 

daz  er  dvrch  ere  dar  qvam. 

d  er  maere  helt  lvssam , 

ez  was  ein  vil  vbel  zit, 
30  erne  was  in  stürm  noch  in  strit 

da  bevor  nie  chomen  e 

noch  getet  sint  nimmer  nie. 

dennoch  was  ez  im  ze  frü. 

er  greif  vil  manlichen  zu 
35  d  er  helt  vnbescholten. 

er  hete  sich  vergolten 

da  bevor  allen    d  . 

daz  er  mit  .     . 

w  an  er  het  ... 

hvndert  m  .     . 
207  d  az  half  in  .     . 

wan  das  man 

vnt  div  t     . 

w  aere  er  m  .     . 
5  d  az  al  \evsmgen  tuaere 


Zingerle:  Zur  Eneide  Heinrichs  von  Veldeken.  477 

D  .     .     .     . 
10  daz  .     .     . 

vnt  ,     .     . 

ein  .     .     . 

den  .     .     . 

daz  .     .     . 
15  dvr  .     .     . 

dvr  .     .     . 

daz  .     . 

ez  .     .     . 

vnt  .     .     . 
20  mit  .     .     . 

daz  was  ein  sma  .     .     . 

Tvrn9der  helt  chüne 

v  ergaz  sin  selbes  sere  dar  ane. 

e  danne  er  eher  .     .  dane. 
25  abe  dem  vinger  .  e  .  im  nam, 

daz  im  sit  ze  vnstatten  qvä. 

er  tet  oveh  bösliche 

T  vrnus  der  riche 

vnt  harte  sinen  giwalt, 
30  des  er  sit  vil  sere  engalt, 

do  der  herre  Eneas 

sin  so  giwaltlich  was, 

daz  er  wol  ginesen  mohte  sin, 

nivwan  dvreh  daz  vingerlin 
35  daz  er  in  darvmbe  slücli. 

damit  engalt  ouch  ers  ginüch. 

D  o  Tvrnvs  da  mit  vmbe  giench 
.  sin  dinch  ane  viench, 
.  im  selben  geviel, 
.  was  da  bi  in  eime  kiel 
208  .     .  schvtze  mit  eine  pogen. 

.  schoz  Tvrnü  den  herzogen 
[1867.  II.  4.]  32 


478       Sitzung  der  philos.-philol.  Gasse  vom  7.  Dezember  1867. 

.     .  den  halsp'ch  in  die  sit  . 
.  elben  ze  vbeln  zite  .     .  , 
5  .     .  erz  mit  dem  libe  g  .     .     . 
II. 
(=  Ettmüller  240,15-244,10.) 
15  z  e  Lavrent  hin  wider  2a 

do  gelag  ir  vil  da  nider 
erstochen  und  erslagen. 
also  liezzen  si  sich  iagen 
vaste  vnze  an  daz  wichüs 

do  sprancte 5  * 

(Lücke  von  Vers  20—31.) 
.  michel  gedranch 
.  witen  gevilde. 
hiwen  si  die  Schilde 
35  .     .  helme  gute 

.  von  dem  blute 
.  ne  gras  al  rot. 
die  helide,  die  da  lagen  tot, 
die  waren  vnzalhaft. 
s  tarche  Camille  da  vaht, 
241  wan  siz  wol  torste  gitün. 
do  was  de  riter  Darcvn 
ein  harte  hobsch  Troian 
vnt  ein  riter  wol  getan, 
5  hofsch  vnt  gutes  willen. 
er  sp'ch  ze  frowen  Camillen 
ein  teil  smäeheliche 
D  orcon  der  riche : 
„w  az  meinet  daz,  frowe  maget, 
10 


Zingerle:  Zur  Eneide  Heinrichs  von  Veldeken.  479 

i  ch  waene  ez  übel  ende  ...        2b 

15  d  az  ir   svs  gerne  stritet 

v  nt  staotichlichen  ritet. 

i  ch  sage  iv  waerlichen  daz, 

ein  ander  stvrm  zaeme  iv  baz, 

waere  daz  irs  pflaeget 

daz  ir     .     .     .     laeget 

(Lücke  von  Vers  20—30.) 

242  D  arcvn  sweich  do  stille, 
do  rürte  frowe  Camille 
d  az  ors  vaste  mit  den  sporn, 
selbe  räch  si  ir  zorn 
5  d  en  ir  Darcon  sprach, 
d  vrch  den  lip  si  in  stach 
d  az  er  schiere  tot  lach, 
ein  sin  neve  daz  gesach 
d  er  was  geheizzen  Flemin. 
(Lücke  von  Vers  10 — 15.) 


15 bar 

.     .  de  einiv  giwar 

.     .     .  Tarpite, 

diu  het  in  dem  strite 

r  iterschefte  vil  getan. 
20  s  i  stach  den  einen  troian, 

d  az  er  nimmer  me  wort  ensp'ch. 

Camille  den  andern  stach, 

d  az  er  tot  viel  in  daz  gras. 

si  sp'ch,  des  ir  ze  mute  was 
25  z  e  dem  riter  Darcone. 

s  i  grüzte  in  vnschone. 

si  sprach:  ,,nv  lige  hie! 

wie  getorste  dv  mir  ie 

boese  rede  bieten? 
30  dvne  darft  mich  niht  mieten. 


480       Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

s  vs  sol  man  chlafiaer  waeren. 
ich  mach  harte  wol  enbern 
d  iner  phenninge. 
nv  hastv  din  gedinge 
35  v  ergolten  mit  dem  lebene. 
nvne  hast  dv  niht  ze  gebene 
weder  rede  noch  schaz. 

dv  bist  givarn  in  gotes  haz. 

Do  daz  also  geschehen  was, 

do  was  ein  riter,  der  hiez  Arras 
243  mit  den  Trojanen  da. 

Camillen  reit  er  al  ze  na 

verre  allen  den  tach. 

der  marchte  vnt  sach, 
5  wie  si  sluch  vn  wie  si  stach, 

vnt  wie  si  ir  sper  brach. 

vn  wie  si  ivstierte, 

vnt  wie  si  pvngierte 

vnt  wie  riterliche  sie  sluch. 

io :    .    • 


das  er     

15  erne  hetes  enheinen  willen.  2 

do  ennam  frov  Camille 

enheiner  slahte  war  des. 

do  reit  der  herre  Chores, 

der  Trojaere  priester 
20  vnt  ir  e  meister, 

vnt  was  doch  riter  vil  gut 

vnt  hete  manlichen  mut. 

v  ri  chünde  wol  an  riterschaft. 

groz  was  sin  giselleschaft 


Zingerle:  Zur  Eneide  Heinrichs  von  Veldeken.  481 

25  riter  vnt  schvtzen. 

er  chvnde  wol  ginvtzen 

beicliv  buch  vnt  swert. 

daz  ross  was  manges  pfvndes  wert, 

da  der  helt  vffe  saz. 
30  er  was  gewaffent  baz 

danne  iemen  da  waere 

vnder  den  troiaere 

ode  in  andere  site 

in  allen  dem  strite. 
35  se  den  selben  stvnden 

hjet  er  vf  gibvnden 

'einen  heim  schoene  vn  so  lieht, 

d  .     .     .  man  vns  niet, 

d  az  er  molite  bezzer  sin. 

z  e  oberst  stünt  ein  rvbin 
244  v  nt  al  vmbe  an  der  liste 

s  maragde  un  amatiste 

vn  vor  an  dem  nasebant 

ein  granat  iochant, 
5  ginüch  groz  vnt  gut, 

dvrchlvhtet  rot  sam  ein  blüt. 

er  lvhte  engegen  dem  tage. 

waz  mag  ich  iv  me  sage? 

d  iv  küniginne  Camille 


10 


III. 

(=  Ettmüller  260,13—264,7.) 

.     .  was  div 

eins  abendes  spate  3" 

in  ir  chemenate  . 
15  ir  tohter  si  fvr  sich  nam, 
ein  frowen  lussam. 


482     Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

einer  rede  si  begvnne, 

die  si  vil  wol  ehünde, 

m  it  michelni  sinne. 
20  do  sp'ch  div  kvnneginne: 

,,s  choeniv  Lavine, 

liebiv  tohter  mine, 

nv  mag  ez  lihte  so  chomen, 

daz  dir  din  vater  hat  ginom 
25  michel  gut  vnt  ere. 

Tvrnvs  der  helt  here, 

der  diner  niinnen  starche  gert, 

der  ist  din  wol  wert. 

daz  ist  mir  wol  chvnt 
30  vn  waerest  dv  tüsent  stvnt 

als  schcene  vn  als  gut, 

so  ...  st  dv  wol  dinen  müt 

gerne  an  in  che  .     .     . 

i  ch  gan  dir  wol  aller  eren 
35  vnt  wil  daz  dv  in  minnest 

vnt  daz  dv  wol  erchennest, 

d  az  er  ein  edel  fvrste  is. 

darvmbe  warn  ich  dich  des 

v  mbe  den  helt  lvssam 

vnt  wis  Enease  gram, 
261  dem  unsaeligen  Trojan, 

d  er  in  ze  tode  wil  erslan, 

den,  der  dir  ist  von  hercen  holt. 

dar  zu  hastv  rehten  solt, 
5  daz  dv  im  vngenaedich  sis 

vfi  im  deheine  wis 

(Lücke  von  Vers  7 — 11.) 

vn  wil  erben  3b 

dines  vater  riche   . 
o  b  dv  saelichliche 


Zingerle:  Zur  Eneide  Heinrichs  von   Veldeken.  483 

15  vn  wol  wellest  tun, 

toliter  so  minne  Tvrnvm." 

w  arnit  sol  ich  in  minnen  ? 

,,mit  dem  herceu  vn  mit  den  sinnen." 

sol  ich  im  denne  min  herce  geben? 
20  .,ia  dv."  wie  sol  ich  denne  gileben? 

„dvne  solt  ez  im  so  geben  niht." 

w  az  ob  ez  nimmer  geschiht  ? 

„vn  waz,  toliter,  ob  erz  tut?" 

frowe.  mie  mohte  ich  minenjnüt 
25  an  einen  man  gecheren? 

„div  minne  sol  dichz  leren" 

dvrch  got,  wer  ist  div  minne? 

„si  ist  von  anegenge 

gewaltlich  vb"  die  werlt  al 
30  vnt  immer  me  wesen  sal 

vnze  an  den  ivngisten  tach, 

d  az  ir  niemen  enmach 

d  ehein  wis  widerstan, 

w  an  si  ist  so  gitau, 
35  daz  mans  enhoeret  noch  ensiht" 

frowe,  der  erchenne  ich  niht. 

„dv  solt  si  bechennen  noch." 

wan  mvgt  irs  erbeitten  doch. 

i  ch  erbeitte  es  gerne,  ob  ich  mach. 

„lihte  gilebe  ich  noch  den  tach, 
262  daz  dv  vngebeten  minnest. 

swenne  du  beginnest, 

d  ir  wiit  vil  liebe  darzü." 

ich  enweiz,  frowe,  weder  ich  tu 

5  dv  mäht  .     .  wesen  gewis" 
(Lücke  von  Vers  6 — 10.) 

so  gitan 

d  az  ez  rehte  nieman  3° 

den  andern  gewisen  chan, 


484    Sitzung  der  phüos.-phüol  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

d  em  sin  herce  so  stet, 

daz  si  drin  nine  get, 
15  der  so  steinliche  lebet: 

swer  aber  ir  rehte  entswebet 

vnt  zu  ir  cheret, 

vil  si  in  des  leret, 

daz  im  e  was  vnchvnt. 
20  si  machet  in  schiere  wünt, 

ez  si  man  ode  wip, 

si  begriffent  im  den  lip 

vn  die  sinne  begarwe 

vn  selwent  im  die  farwe 
25  mit  vil  grozzer  gewalt. 

si  machet  in  vil  diche  ehalt. 

s  olich  sint  ir  wafien 

si  benimt  im  daz  slaffen 

v  n  ezzen  vn  trichen. 
30  si  leret  in  gedenchen 

v  il  misliche. 

niemen  ist  so  riche, 

der  sich  ir  mvge  erwern 

o  de  sin  herce  von  ir  ginern 
35  noch  enchan  noch  enmach. 

nv  ist  des  vil  manich  tach, 

daz  ich  nie  so  vil  dar  abe  gisp'ch" 

fröwe  ist  denne  minne  vngimach?" 
263  „nein  si,  niwan  nahen  bi." 

ich  waene,  daz  si  stercher  si, 

denne  div  suht  ode  daz  lieber. 

si  waeren  mir  beidiv  lieber, 
5  w  an  man   .     .     .  dem  siveizze 

minne  tut  ehalt  un  heisze 

d  er  denne  .     .     .  tage  rite. 
(Lücke  von  Vers  8=13.) 


Zingerle:  Zur  Eneide  Heinrichs  von  VeldeTcen.  485 

.     .     .     .  mich  mvzze  3d 

15  .  en  vnt  vermiden. 

wie  solt  ich  die  not  .     .  erliden? 

Div  müter  aber  wider  sp"ch: 

„niht  enfvrhte  daz  vngemach, 

m  ei  che  wie  ich  dir  bescheide : 
20  michel  liep  chvmt  von  leide, 

r  üwe  chvmt  nach  vngimache. 

daz  ist  ein  trostlich  sache. 

g  emach  chvmt  von  der  arbeit 

d  iche  ze  grozzer  staeticheit. 
25  v  on  röwe  chvmt  wünne 

vnt  frovde  manger  chvnne. 

t  raren  machet  hohen  müt, 

div  angest  machet  die  staete  gut. 

d  az  ist  der  minne  zeichen : 
30  lieht  varwe  chvmt  nach  der  bleichen, 

div  vorhte  git  guten  trost, 

.     .     .  re  .     .     .  erlost. 

das  darben  tut  daz  herce  riche. 

z  e  disem  dinge  iesliche 
35  hat  div  minne  solhe  büzze." 

si  ist  aber  von  erst  vil  vnsüzze, 

e  div  senfticheit  müge  chonf. 

„t  ohter,  dv  erchennest  ir  niht  ze  from" 

Si  sünet  selbe  den  zorn;' 

div  qvdle  ist  ze  groz  da  vorn. 
264  „si  tut  diche  vnder  stunden. 

d  az  si  heilet  die  wunden 

a  ne  salben  vn  ane  tranch." 

div  arbeit  ist  aber  e  vil  lanch. 
5  ,,t  ohter,  daz  stet  an  de  gelüch, 

s  o  man  geqvilt  ein  lanch  stüch 

vn  mit  arbeiten  gilept 


486       Sitzung  der  pliilos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 


Herr  Hof  mann  legt  vor: 

„Eine    Anzahl    altfranzösischer   lyrischer   Ge- 
dichte aus  dem  Berner  Codex  389". 

Ich  gebe  hier  den  vorläufigen  Schluss  meiner  Mittheil- 
ungen aus  dem  Berner  altfranz.  Codex  389,  dem  ich  die 
vor  zwei  Jahren  publicirten  20  Pastourelles  entnommen  habe. 
Noch  mehr  Stoff  liegt  im  Pulte  und  soll  seiner  Zeit  verar- 
beitet werden.  Aber,  dass  ich  es  hier  schon  sage,  dieser 
grosse  Trouverecodex,  die  Perle  der  kleinen,  aber  unschätz- 
baren Bongarsischen  Sammlung,  verdient  vollständige  und 
baldige  Herausgabe.  Er  ist  für  die  altfranzösische  Lyrik 
der  klassischen  Zeit,  was  der  Manessische  Codex  für  die 
Minnesinger,  eine  Quelle,  die,  wenn  auch  der  grossen  Masse 
wegen  nicht  immer  an  Reinheit,  so  doch  an  Reichheit  alle 
andern  weit  übertrifft.  Was  ich  hier  gegeben,  was  W. 
Wackernagel  in  den  Altfranzösischen  Liedern  und 
Leichen  (Basel  1846)  mitgetheilt,  ist  doch  nur  ein  klein- 
ster Theil  dieser  einzigen  burgundischen  Liederhandschrift, 
deren  Fülle  man  am  besten  aus  dem  Verzeichnisse  aller 
Liederanfänge  ersehen  kann,  die  mein  Freund  Paulin  Paris 
dem  VI.  Bande  seiner  Manuscrits  francois  de  la  Bibliotheque 
du  Roi  S.  48  —  100  beigegeben,  und  das,  nebenbei  gesagt, 
die  beste  existirende  Vorarbeit  für  das  Studium  der  Trou- 
veres,  wie  sein  Romancero  frangois  (Paris  1833)  noch  immer 
die  wichtigste  Publication  lyrischer  Texte  ist.  —  Mehrere  Ver- 
besserungen sind  mit  Cursiv  gleich  in  den  Text  aufgenommen. 

I. 

C.  Bern.  389.  f.  2r. 

Jeus  partis.    Cunes  de  Betunes.  (was  offenbar  falsch  ist.) 

1    Amis  Bertrans,  dites  moy  le  millor 
d'un  jeu  partit,  de  vos  le  veul  oir: 


Hof  mann:  AUfranzösische  Gedichte.  487 

ki  de  s'amie  auroit  eü  l'amor 

et  parleraent  de  li  a  son  plaisir, 

et  c'elle  adonc  sens  forfait  s'en  partoit 

por  autre  ameir  et  pues  paix  refaisoit 

por  lui  tenir  de  samblaut  sens  plux  mais, 

li  keis  valt  inuelz,  tous  jors  guerre,   ou  teil  paix? 

Sires  Guichairs.   saichies,  ceste  dolor, 

ke  je  vos  oi  resconteir  et  jeliir, 

ont  autre  fois  eü  tost  [1.  tuit]  li  pluxor. 

sovent  voit  on  ceste  chose  avenir, 

teil  dame  lait  son  boen  amin  sens  droit, 

ke  s'en  repent,  quant  eile  s'en  persoit. 

guerre  en  amors  n'est  prous,  por  ceu  m'en  tais. 

la  paix  valt  muels,  servir  a  euer  verai. 

Amis  Bertrans,  li  cuers  urais  [1.  verais],  por  voir, 

est  per  tout  bons,  ceu  sai  certainnement, 

et  eil  est  fols  selonc  le  mien  savoir, 

ke  fauce  dame  aimme  a  son  essiant, 

ke  bien  saveis,  k'en  reprovier  dist  on, 

ke  leires  est  li  compans  a  lairon, 

et  eil  est  folz  et  fait  gabeir  de  lui, 

c'on  sert  de  bordes  et  on  festoie  autrui. 

Sire  Guichart,  or  puet  en  bien  savoir, 
ke  vos  d'amors  savois  pouc  ou  noiant; 
car  je  veul  muelz  toz  jors  de  li  avoir 
k'elle  m'  esgairce  bien  debonairement 
a  bei  semblant  et  a  douce  raixon, 
c'avoir  a  li  mellee  ne  tenson. 
soffrirs  atrait  amors,  certains  en  sui, 
et  orguels  fait  a  mainte  gens  aniii. 


488     Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

5  Amis  Bertrans,  vostre  sens  n'est  pais  grans, 
ou  on  vos  ait,  espoir,  en  vain  chargie, 

ke  tout  prandreis  a  greit  com  peneans. 
ains  ne  vi  home  de  si  pou  apaier; 
quant  d'un  samblant  et  d'uu  trespovre  ris 
vos  puet  tenir,  trop  estes  vrais   amis. 
celui  sembleis,  cui  on  tolt  son  chaistel, 
ke  pues  en  prent  decoste.   1.  bei  juel. 

6  Sires  Guichairs,  jai  nulz  saiges  amans 
ne  me  tanrait  por  ceu  mal  afaitie, 

se  j'en  greit  pran  doulz  mos  et  biaul  [1.  biauls]  semblantz 

ains  ke  tot  laisse,  se  seroit  malvoistie. 

aincor  valt  muelz  avoir,  ce  m'est  avis, 

pou,  ke  mans  [1.  rians],  car  de  ceu  seux  toz  fis, 

ke  per  dousor  fait  on  savaige  oxel 

saige  et  priveit  et  guerpir  son  rivel.  (riuel)   =  Wildheit, 

rebellion) 
per  deu,  Bertran,  vos  permenteis  molt  bei; 
mais  n'i  aurai  avant  [1.  auan]  talent  novel. 

II. 

C.  Bern.  389  f°.  3.  r°. 
Jugemans  d'amors.  (Von  Gillebert  de  Berneville  nach  Paris.) 

1    Amors,  je  vos  requier  et  pri, 
ke  vos  me  faites  jugement 
d'une  amie  et  de  son  amin 
ki  entreameit  s'ont  longuement 
des  pues  k'il  furent  jovencel, 
or  sont  si  grant,  ke  del  donsei 
ait  on  piece  ait  fait  chevelier, 
et  c'est  prous,  mais  j'o  tesmoignier, 
ke  il  ne  poroit  barbe  avoir. 
puet  l'amor  dureil'  ne  valoir? 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  489 

2  „Guillebert,  por  verteit  vos  di, 
ke  la  chose  est  si  faitement, 

ke,  pues  ke  Tuns  l'autre  ait  choisi, 
je  veul,  k'il  aince  loiaulmant. 
quant  il  est  [l'J  un  et  l'autre  bei 
l'amor  ferme  de  mon  saiel. 
et  quant  li  dui  euer  s'entr'ont  cbier, 
je  les  veul  ensemble  laissier. 
eil  iront  outre  mon  voloir, 
ki  les  en  voront  reruovoir." 

3  Amors,  se  ne  doutoie  si 
vostre  ire  et  vostre  maltalent, 
jai  auries  la  tenson  a  mi, 
quant  obei'ssies  a  teil  gent. 

ne  sont  digne  d'avoir  juel, 

k'a  dame  soit,  nes  .1.  cliaippel, 

ne  de  roze  ne  d'auglentier  [1.  aiglentier] 

ne  lor  devroit  dame  baillier, 

et  Celle  ferait  graut  savoir, 

se  celui  met  en  nonchaloir. 

4  „Gillebers,  por  vostre  merci ! 
pairleis  un  pouc  plux  bellement. 
tuit  ne  sont  mie  si  joli 

com  vos  estes,  mien  esciant. 

s'une  dame  aimme  .1.  garsencel, 

se  li  semble  il  peirs  de  chaistel, 

lai  fais  je  mon  droit  avancier  • 

et  ma  signorie  enforcier, 

ke  pues  c'on  aimme  ou  blanc  ou  noir, 

tuit  semble  [=  semblent]  boen,  si  com  je  crov." 

5  Amors,  je  croy  et  sai  de  fi, 
k'elle  n'ait  desir  ne  talent 


490       Sitzung  der  philos.-pJiüol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

ne  euer,  ki  puist  ameir  celui 

per  enfance  a  comancement. 

sens  tricherie  ou  sans  rivel 

on  ne  poroit  .1.  sac  [1.  sec]  paxel  (=  paxillus  pr.  paisselh 

Pfahl) 
faire  florir  ne  verdoier; 
niant  plux  puet  montiplier 
l'amor  de  lui,  je  V  sai  de  voir, 
ne  il  ne  doit  amie  avoir. 

6  „Gillebers,  vos  parieis  ensi 
com  uns  hom  sens  entendement. 
se  j'avoie  celui  trai 

et  vers  lui  ovreit  faucement, 
je  sembleroie  lou  rainxel 
ki  se  ploie  a  chaseun  oixel, 
s'en  feroie  moins  a  proixier. 
vos  me  voleis  mal  consilier, 
si  com  je  croi  a  mien  espoir. 
querons,  ki  nos  en  die  voir." 

7  Amors,  la  contesse  en  apel, 

se  nuls  hom,  ki  ait  teil  musel, 
doit  per  amors  dame  enbraiscier. 
chaistelains,  veneis  moy  aidier ! 
de  Biaume,  tost  fereis  paroir 
lou  droit  et  le  tort  encheoir. 


m. 


C,  Bern.  289.  f°.  11.  v°. 


1    An  .1.  florit 
vergier  jolit 

Pautre  jor  m'en  entroie. 
dame  choisi 


Hof  mann:  Altfranzösische  Gedichte.  491 


leis  son  rnari 
ki  forment  la  chaistoie, 
se  li  ait  dit: 
„vilains  floris," 
la  dame  simple  et  coie, 
„j'ai  bei  amin 
coente  et  joli 
a  cui  mes  cuers  s'otroie. 
ne  soies  de  mois  jalous, 
maix  aleis  vostre  voie; 
car,  per  deu!  vos  sereis  cous, 
por  riens  ne  m'en  tenroie." 
„C'est  grans  folors 
et  desonors, 
dame,  ke  m'aveis  dite; 
car  vostre  amor 
aveis  mis  tout 
dou  tout  en  vostre  eslite. 
jai  en  nul  jor 
n'eii  serez  [1.  vos] 
certes  per  moi  despite; 
maix  des  plusors 
et  des  millors 
en  sereis  vos  desdite. 
et  se  je  puis,  per  mon  chief! 
vos  n'en  sereis  pais  kite, 
mavaixe  robe  en  aureis 
et  livrexon  petite." 
Vilains  bossus 
et  malestrus 

et  toz  plains  de  graipaille, 
vos  crolleis  tous, 
reposeis  vous, 
seeis  sus  vostre  celle. 


492      Sitzung,  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

je  ne  quier  maix 

avoir  per  vos 

ne  sorcot  ne  cotelle. 

vezsi  le  dous  tens  ou  vient, 

ke  renverdist  la  pree, 

s'irons  moi  et  mon  ami 

coillir  la  flor  novelle." 

IV. 

C.  Bern.  389.  f°   30   v°. 
Blondelz. 

1  Bien  c'est  amors  trichie, 
quaat  eile  m'ait  ocis, 

ki  m'ait  fait  sens  aurie 
ameir  tant  com  fui  vis. 
mors  sui,  se  m'est  avis, 
por  ceu  ke  je  n'ain  mie 
ne  jaimaix  en  ma  vie 
ne  serai  fins  amis. 

2  La  joie  m'est  faillie, 
ke  m'ait  faite  toz  dis 
amors  per  tricherie, 
ke  toiit  avoit  conquis. 
lais!  je  m'estoie  mis 
dou  tout  en  sa  baillie; 
or  c'est  de  moy  partie, 
ja  maix  ne  serai  pris. 

3  Pris?  je  per  coy  seroie, 
quant  je  sui  eschaipeis? 
ne  sai  maix  teil  folie, 
ke  pues  revient  aisseis 
lai,  dont  il  est  greveis. 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  493 

deuö !  se  jeu  seu  faissoie. 
plux  douce  inort  auroie; 
maix  trop  m'en  sui  blaimeis. 

4  Je  m'en   repontiroie, 
se  j'estoie  escliaipeis. 
per  foit,  ke  je  parloie, 
com  hom  desespereis. 
aiuors,  cor  m'ocieis! 
certes,  je  le  voldroie, 
la  forcu  n'est  pais  nioie 
vers  vos,  bien  lou  saveis. 

5  Dame,  cest  douls  martyre 
doi  je  bien  endureir, 

ne  jaimaix  nostre  siie 
ne  me  puist  amandeir, 
se  je  m'en  quier  oster. 
se  me  devies  occire, 
je  ne  puis  pais  elire 
millor  mort  ne  trouveir. 

6  D'amors  ne  sai  ke  dire; 
quaut  muels  i  veul  penseir, 
l'une  lioure  me  fait  rire, 
l'autre  me  fait  ploreir. 

jai  ne  m'en  doit  blasmeir, 
maix  malz  talens  et  ire 
me  fait  dire  et  desdire 
et  folement  pairleir. 

V. 

C.  Bern.  389.  f.  31.  r°. 
1    Bels  m'est  l'ans  en  may,  quant  voi  lou  tens  florir, 

oxel  chanteut  doucement  a  1'enseriV. 

[1867.II.4.[  33 


494        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  lt>67. 

toute  nuit  veil  et  tressaul,        ne  puis  dormir, 

car  a  cen  [1.  ceu]  m'estuet  penseir  ke  plux  desir. 

molt  hei  ma  vie, 
s'a  teil  tort  nie  fait  morir 
rua  douce  araie. 

2  Lais,  por  coy  nie  fait  la  belle        mal  sentir, 
quant  del  tout  seux  atorneis  a  li  servir? 
je  ne  veul  ne  se  ne  puis           de  li  partir, 
car  ne  puis  de  ines  dolors          sens  li  guerir. 

molt  hei  ma  vie 
s'a  teil  tort  me  fait  morir 
ma  douce  amie. 

3  Nuls  ne  seit,  a  keil  dolor        je  ni'en  consir; 
ains  ne  li  osai  mon  euer  del  tout  gehir. 
siens  seux  et  fui  et  serai  sans  repentir. 
tous  jors  veul  lou  sien  Service  maintenir. 

molt  hei  ma  vie 
s'a  teil  tort  me  fait  morir 
ma  douce  amie. 

4  Deux,  com  sont  en  grant  doutance  de  faillir 
eil  ki  aimme  de  boin  euer           et  sans  trair! 
losenjor,  ke  por  noient           suellent  mentir, 

fönt  bone  amor  remenoir  et  depairtir. 

molt  hei  ma  vie 
s'a  teil  tort  me  fait  morir 
ma  douce  amie. 

5  Nuls  ne  puet  de  fauce  amor  a  bien  venir, 
car  chaseuus  veult  puue  ameir  et  bien  joir. 
li  malvaix  l'ont  les  cortois           avelenir, 


Hofmann:  Ältfransösische  Gedichte.  495 

nuls  ne  seit  iriaix  cui  ameir  ne  cui  servir. 

Kiolt  hei  ma  vie 
s'a  teil  tort  me  fait  niorir 
ma  douce  ainie. 
6    Tresor  veul  ma  retrowange  defineir  [1.  definir]. 

Gontier  pri  molt  k'il  la  chant  et  faice  oir. 

ou  pascor,  quant  on  vairait  lou  bruel  norir, 

chevelier  la  chanterout  per  esbaudir. 

or  aim  ma  vie; 
car  del  tout  m'ait  afieit 
ma  douce  amie. 

VI. 

C.  Bern.  389.  f°.  58  r°. 

Kreuzlied  ohne  Bezeichnung. 

1  Douce  dame  cui  j'ain  en  bone  foi, 

de  loiaul  euer  sens  jamaix  arier  traire, 
mercit.  dame,    a  mains  jointes  vos  proi. 
se  seux  croixies,  ne  vos  doie  desplaire; 
desoremaix  ai  talent  de  bien  faire, 
aleir  m'en  veul  a  glorious  tornoi 
outre  la  meir,  ou  la  gent  sont  sens  foi, 
ke  Ihucrist  firent  tant  de  mal  traire. 

2  ,,Biauls  dous  amis.  certes,  se  poise  moi, 
ains  maix  mes  cuers  ne  fut  si  a  mesaixe, 
c'outre  la  meir  vos  en  irois  sens  moi. 
j'amaixe  muels  tous  jors  vestir  la  haire; 
maix  pues  k'il  veult  a  deu  et  a  vos  plaire, 
je  ne  veul  pais  k'il  remaigne  por  moi. 

a  mains  jointes  a  la  meire  deu  proi, 

ke  vos  ramoinst  et  vos  laist  grant  bien  faire.'' 

3  Molt  me  mervoil,    se  del  sen  ne  mervoi. 
quant  je  dirai :  .,a  deu  jusc'a  repaire," 

a  ma  dame,  ke  tant  ait  fait  por  moi, 

33* 


496      Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

ke  lou  diine  n'en  sauroie  retraire; 

maix  nuls  ne  puet  trop  por  damedeu  faire. 

quant  me  nienbre,  que  il  morit  per  moi, 

tant  ai  en'lui  de  pitiet  et  de  foy, 

riens,  ke  je  laisse  [1.  lais],  ne  me  poroit  mal  faire. 

VII. 

C.  Bern.  389.  f°.  59.  v°. 
Li  cuens  de  Cousit.  (fehlt  bei  P.  Paris.) 

1  De  jolit  euer  enamoreit 
chansonete  comencerai, 

por  savoir,  s'il  vanroit  a  greit 
celi,  dont  jai  ne  pertirai, 
ains  serai  en  sa  volenteit. 
jai  tant  ne  m'i  aurait  greveit, 
ke  ne  me  truist  amin  verai. 

2  Quant  son  gent  cors  et  son  vis  cleir 
et  sa  grant  valour  acoentai, 

lors  la  trovai  si  a  mon  greit, 
ke  toute  autre  amor  obliai; 
si  ne  fut  pais  por  ma  santeit, 
aineois  cuit  bien  tout  mon  aie 
languir,  ke  jai  ne  li  dirai. 

3  Raixons  me  blaime  durement 
et  dist,  ke  ne  Tai  pais  creü, 
quant  d'ameir  si  tres  hautement 
ai  trop  mavaix  consoil  eü; 

maix  pities  ki  le  [1.  les]   vrais  amans 

fait  estre  iries  lies  et  joians, 

et  [1.  ce]  dist,  c'ancor  m'estrait  ran  du. 

4  Dame,  se  j'ain  plux  hautement. 
ke  mestiers  ne  me  soit  eü, 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  497 

la  grant  bialteis.  c'a  vos  apent, 
ait  si  raoii  couraige  meü, 
se  vos  pri  mercit  doucement. 

VIII. 

Cod.  Bern.  389.  f°  69  v°.  (alte  Foliirimg  71). 
Adefrois  li  baistairs. 

1  En  novel  tens  pascour  ke  Aorist  Taube  espine, 
espousoit  li  coens  Guis  la  bien  faite  Aglentine. 
tant  jurent  doucement  brais  a  brais  soz  cortine 
ke  .VI.  biaus  fils  en  ot,   pues  li  moustrait  käme 
por  ceu  ke  inuels  amait  sa  pucelle  Sabine. 

ke  covant  ait  a  mal  marit, 

trop  sovent  voit  son  euer  marrit. 

2  Li  coens  por  sa  biateit  l'ania  tant  et  tint  chiere, 
ke  de  li  ne  se  pot  partir  ne  traire  ariere. 

tant  li  semont  ces  cuers  ke  s'amor  li  requiere, 
ke  per  devant  li  vient  por  faire  sa  proiere. 
ke  covant  ait  a  mal  marit  etc. 

3  „Sabine,  fait  li  coens,  vostre  amor  m'atalente, 
la  vostre  vos  requier,    la  moie  vos  presente; 

et  se  vos  me  faillies,  mis  m'aveis  en  tormente." 
et  la  belle  respont:  ,,jai  deus  ne  le  consente, 
k'en  soignantaige  soit  usee  ma  juvente." 
ke  covant  ait  a  mal  marit  etc. 

4  „Sabine,  dist  li  coens,  tant  vos  voi  debonaire, 
ke  de  vos  ne  me  puis  partir  ne  arrier  traire, 
et  se  vos  me  voleis    et  mes  boens  voleis  faire, 
n'ait  hörne  en  mon  pooir.  s'il  en  voloit  retraire 
malvaix  rnut,  ke  les  euls  ne  li  feisse  traire." 

ki  covant  ait  etc. 


498        Sitzung  der  philos.-philol.  Glosse  vom  7.  Dezember  1867. 

5  Tant  ait  li  coens  cloneit  et  promis  a  la  belle, 
ke  il  li  ait  tolut  le  clouls  nora  de  pucelle, 
toutes  ces  volenteis   fait  de  la  damoiselle. 
Aglente  s'en  persoit,  son  seignor   en  apelle, 

por  pouc  ke  ne  li  pairt  li  cuers  sous  la  mamelle. 
ki  covant  ait  a  mal  etc. 

6  La  dame  en  sospirant  ait  moustreit  son  coraige: 
,,sire,  por  deu  merci!    trop  m'aveis  en  viltaige, 
ke  devant  moi  teneis  amie  en  soignointaige; 

se  nie  mervoil  coment  me  faites  teil  hontaige, 
car  onkes  en  moi  n'ot  folie  ne  outraige." 
ki  covant  etc. 

7  ,, Aglente,  bien  aveis  vostre  raixon  moustree. 
sor  les  euls  vos  comant  ke  veudies  ma  contree 
et  gairdeis  ke  n'i  soit  seüe  la  rentree; 

car  maintenant  seroit  la  vostre  vie  outraie." 
ki  covent  ait  a  mal  marit  etc. 

8  Aglente  c'est  en  pies,  vosist  ou  non,  drescie, 
en  plorant  prant  congie,  dolente  et  correcie, 
de  ces  enfans  nidier  a  tous  les  barons  prie, 
pues  les  baisse  en  plorant   et  il  Tont  embraissie. 
quant  pertir  Ten  covient,  a  pouc  n'est  enraigie. 

ke  covent  ait  a  mal  marit  etc. 

9  La  dame,  a  duel  k'elle  ot,  est  cheüe  sovine. 
quant  redrescier  se  pout,  dolente  s'acliamine, 
del  euer  vait  sospirant  et  de  ploreir  ne  fine. 
les  lairmes  de  son  euer  corrent  de  teil  ravine 
ke  ces  bliaus  en  rnoille  et  ces  mantels  hermine. 

ke  covant  ait  a  mal  mari, 

trop  sovent  voit  son  euer  marrit. 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  499 

IX. 

C.  Bern.  389  f°.  73.  r°. 

1  E  amerouse,  belle  de  biaul  semblaut, 
deignies  chanteir  la  chanson  vostre  amin 
ki  angoissous  et  pensis  et  trauiblans 

a  euer  dolant  de  vos  se    departi. 

bien  nie  peüstes  veoir  esbahi, 

quant  je  vos  dix:  „male  riens  sens  merci, 

n'a  deu  n'a  sains  vostre  cors  ne  comans, 

ains  vos  deinant  ma  mort  et  bien  vos  di, 

k"en  grant  torment  m'avels  niis,  mar  vos  vi." 

2  Lais  moi  cbaitif!  mar  la  vi  voirement, 
mar  la  conu,  mar   m'i  delitai  si 

en  remireir  son  cleir  vis  bei  et  gent 
et  ces  vairs  euls  ke  m'ont  mort  et  trai't. 
trop  durement  laissiet  m'ont  et  saixit. 
quant  en  seux  Ions,  nulle  lioure  ne  m'obli, 
tous  jors  m'est  vis  k'elle  me  soit  davant. 
dormant  vaillant  la  reclam  et  depri, 
nes  en  sonjaut  son  nom  sovent  escri. 

3  Li  deus  d'amors  m'ait   pris  a  lais  coursour, 
se  ne  li  puis  de  son  lais  esehaipeir; 

maix  tost  auroit  en  ris  torneit  mon  plour, 

se  per  amors  faifc  de  celi  ma  peir, 

ke  deus  formait  por  cuers  de  gens  embleir. 

nuls  ne  puet  riens  en  li  a  droit  blameir, 

tant  i  ait  sen,  cortoisie  et  valour. 

muels  ain  doloir  por  li  en  grief  penseir, 

ke  d'autre  avoir  lou  desduit  ne  le  greit. 

4  Dame  plaixans.  trop  belle  a  pouc  d'ator, 
molt  vos  avient  a  rire  et  a  pairleir. 

vostre  biaultcis  voint  roze  et  lis  et  flours, 


500        Sitzung  der  pliilos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezemher  1867. 

ne  je  m'en  puis  recroire  ne  laissier 

de  vos  samblans  amerous  recordeir 

ne  des  biaus  euls  ke  tant  peux  compareir, 

k'en  esgairdeir  moi  firent  tant  bei  tour. 

plains  de  dousor  les  vi  vers  moi  torneir, 

mil  fois  le  jour  m'en  covient  sospireir. 

5    Je  vos  ain,  dame,  et  bien  i  ait  por  coy 
je  doie  estre  vostre  loiauls  amins; 
car  en  vos  sai  trestous  les  biens  et  voi 
ke  puissent  estre  en  cors  de  dame  aissis. 
gens  cors,  frans  cuers,  belle  bouche  et  cler  vis, 
ki  seroit  dont  vers  vos  fauls  ne  faintis, 
tant  eüst  mal  ne  folie  en  soi? 
molt  m'en  coentoi,  quant  de  vos  seux  sospris, 
k'en  noble  poent  m'ait   li  deux    d'amors  mis. 

X. 

C.  Bern.  389.  f°.  76. 
De  nostre  daime. 

1  Fins  de  euer  et   d'aigre  talent 
veul  un  serventois  comencier 
per  loweir  et  regraicier 

la  roine  dou  firmament. 
de  sa  loenge  et  de  son  nom 
muevent  tuit  mi  lai  e  mi  son, 
ensi  veul  useir  mon  juvent 
en  li  servir  en  boen  espoir 
de  tant,  com  j'aurai  de  savoir. 

2  Gabriel  gloriousement 
alait  ceste  dame  noncier, 
k'en  li  se  devoit  herbegier 
et  panre  cbarneil  vestement 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  501 

eil  ki  fist  Adam  purement. 
la  virge,  ke  fut  en  frison, 
lou  creit  et  fut  eiTammant 
parolle  chairs,  et  consut  l'oir 
ki  poissance  ait  a  son  voloir. 

Nes  plux  ke  li  aire  se  mue, 
quant  on  i  giete  im  esprevier, 
ne  muait  eile  a  l'enchairgier 
ne  a  naistre  de  son  enfant. 
virge  portait  son  enfanson, 
virge  le  tint  en    son  giron, 
virge  li  vit  mort  recevoir 
et  virge  en  paradix  seoir. 

S'en  ceste  dame  eüst  noient, 
ke  trop  ne  feist  a  preixier, 
jai  eil,  ki  tout  puet  justicier, 
n'i  fust  enclos  si  longuernent. 
mais,  se  tuit  ierent  Salemon, 
home  et  oixel,  beste  et  poixon, 
et  la  loescent  bonement, 
ne  porroient  dire  le  voir 
de  s'onor  et  de  son  pooir. 

Tres  douce  danie,  a  vos  me  rant. 

se  vos  me  voleis  consillier, 

je  n'ai  gairde  de  perillier 

*)de  nesciteit  [=  pr.  nescietat]  ne  de  torment. 

meire  a  l'aignel,  meire  a  lion 

meire  a  vrai  [1.  verai]  fil  Salemon, 

meire,  ou  tres  tous  li  biens  resplant, 

meneis  nos  en  vostre  menoir, 

ou  nuls  malvais   ne  puet  menoir. 


*)  HS.  da  nerciteit. 


502       Sitzung  der  philos.-phüol.  vom  Ciasse  7.  Dezember  1867. 

XI. 

C.  Bern.  389  f°.  80  v°. 

Adefrois  li  baistars. 

1  Fine  amor  en  esperance 
m'ait  mis  et  doneit  voloir 
de  chanteir  por  aligence 
des  inals,  que  me  fait  avoir 
celle,  ke  bien  ait  pooir 
d'amenuisier  ma  grevence; 
maix  paour  ai  et  doutance, 
ke  per  felon  losengier 

ne  me  veulle  justicier. 

2  Tant  me  piaist  sa  contenence 
et  ces  gens  cors  a  veoir 

et  sa  tresdouce  semblance, 
ke  veul  en  greit  recevoir 
kan  ke  m'i  ferait  doloir, 
c'ades  en  ai  remenbrance, 
ke  biaus  servirs  et  sousfrance 
fait  fins  amans  avancier 
et  sevoir  croistre  et  haucier. 

3  Per  sa  tresdouce  acoentance 
et  per  son  bei  decevoir 

fist  mes  cuers  de  moi  sevrance 
et  prist  leis  le  sien  menoir, 
tant  li  piaist  a  remenoir, 
k'il  aimme  la  demourance; 
maix  ains  n'i  out  retenance, 
ains  crien  orguel  et  dongier, 
ki  me  fait  colour  chaingier. 

4  Sovent  ai  ire  et  pesence 
d'amors,  ke  tant  suelt  savoir. 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  503 

or  ai  torneit  en  enfance 
sa  coentixe  et  sou  savoir, 
quant  ceaulz  met  en  nonchaloir, 
ki  por  li  ont  mesestance, 
et  ceauls  done  recovrance, 
ki  se  poennent  de  boixier 
et  de  faulz  cuers  renvoixier. 

Dame  debonaire  et  franche, 

bien  me  faites  persevoir, 

ke  fins  cuers  sens  repentence 

ne  m'i  puet  mais  riens  voloir  [1.  valoir]. 

vostres  seux,  saiclries  de  voir, 

se  per  vos  n'ai  delivrance, 

cui  je  ne  puis  eslongier 

ne  ma  dolour  aligier,   [fehlt  ein  Vers.] 

(Jhancon,  vai  ramentevoir 
a  la  plux  belle  de  France, 
de  pair  moi  li  fai  moustrance, 
ke  ne  me  sai  revengier 
fors  ke  per  mercit  proier. 

XII. 

C.  Bern.  389  f°.  87. 

C'est  dou  conte  de  Bair  et  d'Ocenin  son  ganre  (nach  P. 
Paris  le  conte  Henri  de  Bar). 

Gautiers,  ki  de  France  veneis 
et  fustes  aveuc  ces  barons, 
cor  me  dites,  se  vos  saveis, 
keilz  est  la  lor  entensions  ? 
durrait  maix  tous  jors  lor  tensons, 
ke  jai  ne  s  vairons  acordeis 
ne  jai  ne  s  vairont  si  melleis, 
ke  percies  en  soit  uns  blasons? 


504       Sitzung  der  pliüos.-philol  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

2  Pieres,  se  nostre  coens  Henris 
en  est  creüs  et  li  Bretons, 

et  li  Bretons  k'est  si  ozeis, 
et  li  sires  des  Borgignons, 
ansois  ke  paissent  rouvexons, 
vaires  Baicles  si  raüsseis, 
ke  lors  bobans  serait  mateis. 
jai  rois  ne  lor  iert  guerixons. 

3  Gautiers,  trop  dure  longuement 
eist  meneciers  et  si  valt  pou, 
mal  semble,  k'il  aient  talent 
d'ous  vengier,  si  ont  il  per  foit. 
chaseun  jor  asembleis  les  voy 
de  loing  venir  atout  grant  gent, 
bien  perdent  honor  et  argent, 
quant  il  ne  fönt  ne  ceu  ne  coi. 

4  Pieres,  on  ait  veüt  sovent 
mesavenir  per  grant   desroi. 
honor  ont  fait  a  esciant 

et  li  chardenal  et  li  roi, 
ki  les  ait  moneis  en  besloi 
per  lou  consoil  dame  Hersant; 
desore  irait  la  paille  avant, 
ceu  puet  chaseuns  penseir  de  soy. 

5  Gautier,  je  ne  m'i  os  fieir, 
trop  les  voi  lens  a  cest  raestier. 
lou  bei  tens  ont  laissiet  paisseir 
tant  com  doit  plovoir  et  negier, 
et  quant  plux  les  voi  correcier 
et  de  la  cort  por  mal  torneir, 
s'en  fönt  11.  ou  111.  demoreir 
por  truwe  en  covert  raloignier. 


Hof  mann:  Ältfranzösische  Gedichte.  505 


Piere,  ne  fönt  pais  a  blameir 
eil,  ki  eu  partirent  premiers, 
k'ains  pues  ne  vorent  demoreir, 
maix  nostres  coroneis  ligiers 
por  lou  chardenal  losengier, 
cui  il  n'oserent  rien  veeir, 
et  por  ceuls    de  blame  geteir, 
firent  la  ferne  un  pou  laissier. 

XIII. 


Aidefroi 
Kant  je  voi  et  fuelle  et  flor 
colur  mueir, 
c'oisilloz  por  la  froidor 
n'osent  chanteir, 
adonkes  sospir  et  plor, 
car  conforteir 
ne  m'i  .sai,  tant  sent  dolor 
por  bien  ameir, 

car  soffrir  ne  puis  sens  morir 

cors,  ki  sent  teil  mal  longuement, 

car  la  nuit,  quant  me  despeul 
et  dormir  veul, 
sovent  meul  [HS.  moul] 
mon  lit,   tant  plourent  mi  eul. 

Trop  me  piaist  et  nuit  et  jor 
a  remireir 

son  gent  cors  et  sa  faisson 
et  son  vis  cleir. 
e  lais!  je  cuidai  en  li 
mercit  trover. 
por  coi  j'apris  la  folor, 
ke  je  compeir. 
quant  jehir 


C.  Bern.  389  f°.  115.  v°. 


506    Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1861 

osai  mon  desir, 

folenient  a  son  bei  cors  gent, 

lors  ine  heit  et  moustre  orguel 

et  mon  acuel, 

c'avoir  suel, 

ai  perdut,  dont  trop  nie  duel. 

3  Son  gent  cors  mar  acoentai, 
ou  faut  mercis, 

sa  biaulteit  mar  regardai, 

por  coy  languis. 

grief  poene  et  dolor  entrai 

et  asseis  pis, 

et  sai  bien,  jai  n'en  guerrai, 

ke  bien  m'est  vis, 

k'en  pensant  sa  cbiere  riant 

davant  moi  et  nuit  et  jor  voy. 

li  tres  bei  eul  de  son  front 

en  mon  euer  sont  • 

et  seront, 

je  cuitj  tant  ke  mort  m'auront. 

4  De  nioy  nul  consoil  ne  sai, 
tant  seux  sospris, 

fors  en  vos  belle,  ke  j'ai 

mon  penseir  mis. 

mercit  tant  vos  proierai 

com  serai  vis, 

et  bonement  atandrai 

com  fins  amis; 

maix  itant  vos  veul  dire  avent, 

se  de  moy  pities  ne  vos  prent, 

certes  trestuit  eil  del  mont 

vos  blameront 

et  tanront 

a  cruel  quant  lou  sauront. 


Hofmann:  Ältfranzösische  Gedichte.  507 

3    Mors  seux,  de  mercit  li  pri, 
car  certains  sui, 
jai  n'aurai  de  li 
coufort  de  mon  anui, 
car  folement  m'enbati 
lai  ou  ne  dui, 
et  a  mon  pooir  clioisi 
ceu,  qu'iert  autrui, 
dont  movoir 
ne  puis  ruon  voloir, 
ke  piece  ait  retint  et  laissait 

mon  euer  per  moi  ostaigier. 
a  comencier 
ke  laissier 
le  peiisse  de  legier. 

XIV. 

C.  Bern.  389.  f°.  123.  r°. 

Cunes  de  Betunes  (bei  P.  Paris  Rom.  fr.  S.  89  fehlt  die 
4.  Strophe). 

L    L'autrier  un  jor  apres  la  saint  Denise 
iere  a  Butimeö,  ou  j'ai  estei  sovent. 
remenbrait  moi  des  gens  de  male  guisse. 
ke  m'ont  sus  mis  mensonge  a  esciant, 
ke  j'ai  chanteit  des  dames  folement; 
mais  il  n'ont  pais  ma  chanson  bien  aprise, 
k'ains  n'en  chantai  fors  d'une  soulement, 
ke  me  fist  taut,  ke  vengence  en  fut  prise. 

!    II  n'est  pas  drois  d'un  home  desconfire, 
se  vos  dirai  bien  la  raison,  coment: 
s'on  prant  per  droit  d'un  lairon  la  justice, 
k'en  afiert  il  a  loiaul  de  noient? 
niaut.  per  deu!  ke  raixon  i  entent; 
mais  la  raixon  est  si  ariere  mise, 


508       Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

ke  ceu,  c'on  doit  loweir,  blaiment  la  gent 
et  lowent  ceu,  ke  li  saige  liioins  prisent. 

3  Dame,  lonc  tens  ai  fait  vostre  servixe. 
la  mercit  deu!  or  n'en  ai  maix  talent, 
c'une  autre  amor  ra'est  el  euer  si  asisse, 
ke  tous  li  cors  m'en  alume  et  enprant 
et  me  semont  d'ameir  si  hautement. 

et  j'amerai.  ne  puet  estre  autrement, 
k'en  raoy  ne  truis  ne  orguel  ne  faintixe, 
se  me  metrai  del  tout  en  [1.  sa]  franchixe. 

4  En  la  millor  del  roiame  de  France, 
voire  del  mont,  metrai  tout   mon  penseir; 
maix  ceu  me  fait  sovent  estre  en  doutance, 
ke  sa  valor  ne  me  taigne  en  vilteit. 

mais  ceu  m'en  ait  mainte  fois  conforteit, 
k'el  monde  n'ait  nulle  si  grant  fierteit, 
c'amors  ne  puist  plaissier  per  sa  pouxance. 

XV. 

C.  Bern.  f°.  129.  r°. 

Gavaron  Grazelle  (am  Rande  von  anderer  Hand  als  die  ge- 
wöhnliche und  unsicher;  es  ist   dieselbe  Hand,    welche    die 
zwei  letzten  Zeilen  beifügte). 

1    L'autrier  lou  premier  jor  de  mai 
jueir  m'alai  dehors  Parix 
con  eil  ki  est  en  grant  esmai 
d'une  amor  ou  j'ai  mon  euer  mis, 
s'o'i  chanteir  a  haute  voix 
dame  amerouse,  se  m'est  vis: 
„mes  peires  ne  fut  pais  cortois, 
quant  vilain  me  donait  marit. 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  509 

2  Si  tost  com  la  darae  escoutaj, 
vers  li  m'en  voix  et  pues  li  dix: 
„dame,  deus  sault  vo  cors  lou  gai! 
k'aveis,  porcoi  ploreis  ensi?" 

eile  raoi  dist:  „sire,  per  foi! 
j'ai  un  vilain  ki  m'ait  trait." 

3  ,,Daine,  jai  ne  vos  quier  nientir, 
en  moy  ait  nn  euer  ainerous. 
loiaul  de  euer  seus  repentir, 
sens  tricherie  et  sens  folour 

vos  servirai  com  fins  amis." 
,,biaul  sire,  et  je  vos  doing  m'amor, 
mes  cuers  vos  est  a  bandon  mis 
sens  penseir  nulle  autre  folour." 

4  Tout  maintenant  l'alai  saixir, 
si  la  jetai  sor  la  verdor. 
trois  fois  li  fix  sens  defaillir 
lou  jeu  c'on  appelle  d'amors. 
eile  moi  dist:  ,,biaus  douls  amis, 
onkes  mes  inaris  a  nul  jor 

ne  fist  vers  moi,  je  vos  plevis, 
por  coi  deüst  avoir  m'amor." 

5  Per  grant  solaus,  per  grant  deduit 
me  dist  la  belle  et  per'  amor: 
„faites  le  moy  aincor,  amis." 
lors  rencomensai  sens  demor 

lou  jeu,  k'elle  m'avoit  requis ; 
et  g'i  failli,  s'en  fui  irous. 

6  Et  eile  dist:  „sire,  per  foi! 
vos  estes  fols  et  jangleos. 

il  fait  trop  malvaix  acoeutier 
[1867.11. 4.]  34 


510      Sitzung  der  phüos.-philol.  Gasse  vom  7.  Dezember  1867. 

home  ke  si  est  vanteou«. 

fueis  de  ci.  faulz  cuers  faillis! 

je  ne  vos  pris  un  vies  tabour. 

honie  soit  dame  de  prix 

ke  a  vilain  done  s'amor." 
dann   folgt   von   anderer  jüngerer  Hand  auf  der  leergeblie- 
benen Stelle  der  Zeile 

certes  dame  ne  Ai'en  chaut, 

que  ge  en  ai  purtei  la  flour. 
was  offenbar  ein  müssiger  Zusatz  ist. 

XVI. 

C.  Bern.  389.  f°.  139.  ,v°. 
Anonym. 

1  Lors  quant  l'aluelle 
et  la  quaille  crie, 
chante  l'arondelle, 
la  rose  est  florie, 
lais  !  dont  sospir, 
ke  plux  desir 

la  tresplux  belle  del  mont 

sens  mentir, 

mout  me  satelle  [1.  sautelle] 

li  cuers  et  oxelle, 

quant  la  cuit  tenir. 

deux,  k'en  apelle, 

m'en  doinst  la  novelle 

de  joie  a  oir. 

2  Se  mon  fol  couraige 
me  convient  a  plaindre, 
si  baie  a  outraige, 

n'i  porai  ataindre 
nes  por  morir. 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  511 

bien  doi  hai'r 
icelle  raige 
ke  me  fait  languir, 
et  cest  damaige 
k'ai  per  mon  folaige, 
quant  ne  Tos  jehir 
ne  a  niessaige 
jor  de  mon  eaige 
n'ou  ferai  oir. 

Prieir  la  voloie, 

non  ferai  eincore, 

k'aiseis  tost  auroie 

pix  ke  n'en  ai  ore; 

ains  la  reinir 

a  mes  euls   aisseis  m'otroie 

son  cors  a  sentir 

s'or  la  nietoie  de  s'amor  envoie; 

bien  sai  sens  mentir, 

k'iere  sens  joie  avoir  en  poroie. 

muels  m'en  veul  souffrir. 

Molt  est  debonaire, 

ceu  ine  resconforte, 

bien  me  sait  atraire 

ces  cleirs  vis  ke  porte. 

longues  souffrir  et  esbaudir 

moy  covient  faire. 

por  gent  signorir 

Ten  ne  vaut  gaire, 

cui  joie  n'esclaire 

sens  mal  soustenir. 

n'en  sai  ke  faire, 

tant  ain  son  repaire. 

deux  m'i  doinst  venir! 

34* 


512        Sitzung  der  phüos.-philol.  Gasse  vom  7.  Dezember  1867. 

5    Deux!  com  dure  vie 
est  en  moy  enclose, 
cor  ne  1  seit  m'amie 
ne  dire  ne  l'ose, 
ke  je  m'esmai 
et  si  ne  sai 
ke  celle  pense, 
dont  j'ai  lou  euer  gai. 

molt  me  tormente 
celle  k'est  plus  gente 
ke  la  rose  en  mai. 
bone  fiance 
i  ai  sens  doutance, 
ke  s'amor  aurai. 

XVII. 

C.  Bern.  389.  f°.  151  r°. 

Robers  de  l'Epiz  a  Maheus  de  Gan.  (sie)  Jeu  parti. 

1  Maheus  de  Gans,  respondeis 
a  moi  com  a  vostre  amin: 
chanones  d'Ares  sereis 

tot  vo  vivant  per  ensi, 

ke  jai  amie  n'aurais 

awan;  maix  [1.  ou]  toute  vo  vie 

sereis  sens  la  chanonie. 

dites  lou  keil  vos  prandeis. 

2  Robers,  bien  seux  apeuseis 
de  respondre  a  jeu  parti.      n 
prevendes  et  richeces  [1.  richeteis] 
ne  tien  je  pais  en  despit; 

maix  muels  ameroie  aisseis 
d'estre  ameis  la  [1.  ke]  siguorie. 


Hofwann:  Altfranzösische  Gedichte.  513 

ki  ke  lou  tiengne  a  folie, 
iteille  est  ma  volenteis. 

Maheus,  riches  et  moules 
fait  boen  estre,  je  1  vos  di, 
niolt  est  eil  bieneüreis 
ki  est  issus  de  nierci. 
tous  riches  ameir  poeis, 
ceu  est  trop  d'avoir  amie. 
ki  aimme  sens  triclierie, 
tout  son  sen  ait  oblieit. 

Robert,   d'amors  recreeis, 
pues  c'aveis  moible  choisi. 
cuers  ki  est  enamoreis, 
doit  tout  ceu  nieitre  en  obli, 
et  d'autre  pairt  bien  saveis, 
c'amors  ait  en  sa  baillie 
sen,  honor  et  cortoixie, 
ke  inuelz  valt  k'estre  renteis. 

Maheu,  mal  vos  deffendeis, 
a  muels  prendre  aveis  failli. 
se  d'amie  est  fais  vos  greis, 
jai  pues,  n'aureis  euer  joli. 
vos  desirs  est  achieveis, 
ceaus   recroit,  ke  maix  ne  prie. 
requise  ne  deffent  mie, 
(Ton   aint  trop,  grant  tort  aveis. 

Robert,  ains  pues  ke  fui  neis, 

si  esbahit  ne  vos  vi, 

ou  la  raixon  n'entendeis. 

avoirs  vos  ait  si  sougit, 

ke  jamaix  bien  n'amereis. 

amors  loiaul  dru  n'oblie,  [HS.  loiauls— oblieis] 


514       Sitzung  der  phüos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

ne  ne  veult,  k'en  velonnie 
chiece  ne  en  povreteit. 

7    Boutilliers,  or  i  penseis, 
li  keils  ait  millor  partie, 
ou  rieh  es,  ki  merci  krie 
sa  danie,  ou  povres  ameis. 
Coppin,  lou  keil  muels  loeis, 
ou  avoir  sa  druerie 
del  tout  sens  mal  acomplie. 
ou  estre  riches  clameis? 


XVIII. 

Anonym. 

1  Or  cuidai  vivre  sens  amors 
des  or  en  paix  tout  mon  aie, 
maix  retrait  m'ait  en  la  folour 
mes  cuers,  dont  l'avoie  eschaipeit. 
enpris  ai  grignor  folie 

ke  li  fols  enfes,  ki  crie 
por  la  belle  estoile  avoir, 
k'il  voit  hault  el  ciel  seoir. 

2  Coment  ke  je  me  desespoir, 
bien  m'ait  amors  gueridonei 
ceu,  ke  je  Tai  a  mon  paoir 
servie  sens  desloiaulteit, 

ke  roi  m'ait  fait  de  folie. 
se  si  gart  bien,  ki  [1.  s'i]  fie, 
de  si  haut  rnerite  avoir. 

3  S'  [1.  N'J  est  mervelle,  se  je  m'air 

vers  amors  [1.  amor],  ke  si  m'ait  greveit. 


C.  Bern.  389.  f°.  175. 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  515 

deus!  cor  la  puisse  je  tenir 

un  soul  jor  a  ma  volenteit; 

eile  compairroit  sa  folie, 

si  nie  faice  deus  aie! 

a  morir  la  covenroit, 

ce  ma  dame  ne  m'ooit  [HS.  ocit]. 

Hai,  frans  cuers!  ke  tant  covoit, 

ne  beies  a  ma  foleteit. 

bien  sai,  k'en  vos  ameir  n'ai  droit, 

s'amors  ne  m'i  eüst  doneit; 

maix  efforcies  fais  folie, 

si  com  fait  neif  ke  vans  guie, 

ke  vait  lai,  ou  il  l'eüpoent, 

si  ke  toute  et  [zu  tilgen]  esmie  et  fraint. 

Dame,  ou  nuls  biens  ne  souffraint, 

merci  per  franchise  et  per  grei! 

pues  k'en  vos  sont  tuit  mal  estaint  # 

et  tuit  bien  vif  et  aluin ey, 

cognoissies,  dont  la  folie 

me  vient,  ke  me  tolt  la  vie? 

k'a  riens  n'oz  faire  clamour 

s'a  vos  non  de  ma  dolour. 

Chanson,  ma  belle  folie 
me  salue  et  se  li  prie, 
ke  por  deu  et  por  s'onor 
n'ait  jai  euls  de  traitor, 
ke  bien  seivent  li  pluxor, 
ke  Judas  fist  son  signor. 


516        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

XIX. 

C.  Bern  389.  f°.  182. 

Le  duchaise  de  Loraiane. 

1  Per  maintes  fois  aurai  estei  requise, 
ke  ne  chantai  ensi  com  je  soloie, 
ke  tant  per  seux  aloignie  de  joie, 
ke  je  vodroie  estre  muels  eutreprise. 

[1.  jai]  a  mien  veul  moroie  en  etail  guisse 
com  fist  celle,  cui  resembleir  voldroie, 
Dido  ke  fut  por  Eneam  occise. 

2  Biaus  douls  amins,  tout  a  vostre  devise 
ke  ne  fix  jeu,  tandis  com  vos  avoie! 
gens  vilainne,  cui  je  tant  redoutoie, 
m'ont  si  greveit  et  si  ariere  mise, 
c'ains  ne  vos  pou  merir  vostre  servise. 
s' estre  pooit,  plux  m'en  repentiroie, 
c'Adam  ne  fust  [1.  fist]  de  la  pome  c'ot  prise. 

3  Per  deu,  amors!  en  grant  dolor  m'ait  mise 
mort  vilainne,  ke  tout  le  mont  guerroie. 
tolut  m'aveis  la  riens  ke  plux  ainoie; 

or  seux  Fenix,  laisse,  soule  et  eschive, 
dont  il  n'est  c'uns,  si  com  on  le  devise. 
or  veul  doloir  en  leu  de  moneir  joie, 
poene  et  travail  iert  maix  ma  rante  asise. 

4  Ains  por  Forcon  tant  ne  fist  Anfelixe, 
com  je  por  vos,  amis,  se  vos  ravoie; 
maix  se  n'iert  jai,  se  aincois  ne  moroie, 
ne  je  ne  puis  morir  en  itel  guisse, 
c'aiucor  me  rait  amors  joie  proinise. 
maix  a  mien  veul  se  m'en  repentiroie, 

se  por  tant  n'iert,  c'aimors  m'ait  en  jostice. 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  517 

XX. 

C.  Bern.  389  f°.  190. 

Anonym. 

Per  une  matineie  en  mai 

por  moi  deduire  et  soulaicier 

a  une  fontenelle  alai, 

s'oi  chanteir  en  [un]  vergier 

lou  rosignor  si  doucement 

ke  tous  li  cuers  d'amors  m'esprent, 

et  se  vi  leans  consillier 

une  dame  et  un  chevelier. 

am" er  me  traix  seleement, 

ke  ne  lor  voloie  anoier. 

Ensi  com  je  m'en  retornai 

per  un  estroitelet  sentier, 

une  damoiselle  trovai 

seant  en  l'onbre  d'un  rozier. 

lou  chief  ot  blond  e  lou  cors  gent, 

uns  euls  por  traire  cuers  de  gent, 

bouche  bien  faite  por  baissier. 

deus !  ke  la  poroit  enbraissier, 

et  tenir  nue  a  son  talent, 

jamaix  de  muels  n'aurait  mestier. 

Cortoisement  la  saluai, 

car  molt  me  piaist  a  acoentier, 

et  li  dix:  „belle,  je  serai 

vostre  amis  de  fin  euer  entier. 

a  vos  m'otroi  et  doing  et  rent, 

faites  vostre  comandement 

de  moi  com  de  vostre  amin  cliier. 

mains  jointes  mercit  vos  requier, 


518       Sitzung  der  philos.-phüol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

de  vos  ma  grant  lionor  atent, 
ke  d'autre  avoir  ne  la  quier." 

4  „Certes,  sire,  de  cest  present 
vos  doi  je  savoir  molt  boen  grei; 
maix  uns  autres  a  moi  s'atent, 

et  cui  j'ai  euer  et  cors  donei, 
n'autre  ke  lui  je  n'amerai ; 
car  si  fin  et  franc  le  trovai 
et  del  tout  a  ma  volentei, 
ke  jai  nul  jor  de  mon  ae 
de  m'amor  ne  lou  boiserai, 
ains  li  porterai  loiaultei." 

5  „Belle,  Pamor  ke  me  souprant, 
vient  de  vostre  fine  biaultei, 

si  me  fait  perleir  folement. 
or  me  soit  por  deu  perdone, 
ke  ja  maix  ne  vos  proierai, 
ne  jai  jor  ne  me  recroirai 
de  vos  ameir  sens  faucetei, 
aincor  m'aies  vos  refuseit, 
et  sai  ke  tout  cest  duel  moinrai 
ke  jai  ne  m'iert  gueridonei." 

6  Quant   vi   ke  n'en  auroit  [1.  ne  vauroit]  noient 
li  proiers,  si  la  rant  a  dei. 

n'o  gaires  aleit  longuement 

fors  c'un  palis  ou  trespaissei 

et  vers  lou  vergier  resgairdai, 

et  vi  la  tresbelle  a  cors  gai 

ke  son  amin  ot  acollei 

et  si  li  rist  une  bontei 

davant  moy,  dont  je  grans  duels  ai; 

maix  jai  per  moi  n'iert  rescontei. 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  519 

XXL 

C.  Bern  389.  f°.  202. 

Messires    Ferris   de   Ferrierez   (bei  P.  P.  anonym  aus  1989 
und  nur  4  Str.) 

1  [Quant  li  roisignors  jolis 
chante  sor  la  flor  d'estei, 
ke  naist  la  rose  et  li  lis 
et  la  rousee  el  vert  prei, 
plains  de  bone  volentei 
chanterai  com  fins  amis; 
maix  de  tant  seus  esbaihis, 
ke  j'ai  si  treshaut  pensei, 
c'a  poenes  iert  acomplis 

li  servirs  dont  j'aie  grei. 

2  Leiement  ont  entrepris 

sil  ke  tant  m'auront  grevei, 
mi  fol  eul  volenteis, 
ki  tant  auront  esgairdei 
lai,  ou  je  n'ai  mie  osei 
dire  ke  j'estoie  ainins. 
ieul,  per  vos  seux  je  trais, 
voirs  est,  mal  avais  errei; 
maix  or  en  aies  merci 
et  tout  vos  soit  perdonei. 

3  Tout  ce  n'est  poent  ke  noiant, 
je  ne  vos  puix  mal  voloir; 
car  la  belle,  cui  j'am  tant, 
est  si  plaixans  a  veoir. 
sovent  m'en  estuet  doloir, 

car  trop  me  secorreis  lent; 

maix  li  rasuaigement 

des  grans  biens,  k'en  cuis  avoir, 


520      Sitzung  der  philos.-philol.  Gasse  vom  7.  Dezember  1867. 

nie  fönt  doubleir  mon  talent 
et  servir  en  boen  espoir. 

4  Benois  soit  li  herdemens 
ke  m'ait  doneit  teil  pooir, 
amors,  eürs  et  talens 

me  poroient  bien  valoir. 
tout  ceu  doie  je  voloir, 
k'a  li  soie,  ke  g'i  pens 
voire,  se  j'ai  tant  de  san, 
c'on  ne  s'en  puist  persevoir, 
aincor  vaurait  leus  et  tens 
de  ma  tres  giant  joie  avoir. 

5  He  deus !  quant  vanrait  li  jors, 
ke  j'ai  tous  tens  desireit, 

ke  ma  dame  per  amor 
m'acömplist  ma  volenteit? 
lors  auroie  conquesteit 
lou  gueridon  a  estrous 
de  trestoutes  mes  dolors, 
ke  j'ai  ades  endureit. 
lors  auroie  boen  secors, 
c'elle  me  doignoit  ameir. 

XXII. 

C.  Bern  389.  f°.  226.  V. 

Colins  Muzes. 

1    Sospris  seux  d'une  amorete, 
d'une  Jone  pucelete, 
belle  est  et  blonde  et  blanchete 
plux  ke  n'est  une  erminete, 
s'ait  la  color  vermoillete 
eDsi  com  une  rosete. 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  521 

2  Iteile  est  la  damoiselle. 
fille  est  a  roi  de  Tudelle, 
d'un  draip  d'or  ke  restancelle 
ot  robe  frexe  et  novelle, 
mantel  sorcot  et  gonelle 
molt  siet  bien  a  la  donselle. 

3  En  son  chief  sor  [zu  tilg.]  ot  chaipel  d'or 
ki  reluist  et  estancelle, 

saiffirs,  rubis  i  ot  entor 

et  maintes  [1.  mainte]  esmeraude  belle, 

et  m  [he  mi?]  ke  fuise  jeü 

amins  a  la  damoiselle. 

4  Sa  seinture  fut  de  soie, 
d'or  et  de  pieres  ovreis 
tous  li  cors  li  reflamboie 
si  com  fust  enlumineis. 

or  me  doinst  deus  de  li  joie, 
k'aillors  nen  ai  ma  pensee. 

5  Jeu  esgardai  son  cors  gai, 
ke  trop  me  piaist  et  agree. 
j'en  moHrai,  bien  lou  sai, 
tant  Tai  de  euer  enamee. 
non  ferai,  se  [a]  deu  piaist, 
airieois  m'iert  s'amor  donee. 

6  En  trop  biaul  vergier 
la  vi  celle  matinee 
jueir  et  solacier. 

jai  per  moi  n'iert  obliee, 
car  bien  [1.  par  mien]  cuidier 
jai  si  belle  n'iert  trovee. 


522       Sitzung  der  phtlos.-pMos.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

7  Leis  un  vergier  c'est  asise 
la  tresbelle,  la  senee. 

eile  resplant  a  devise 
com  estoile  a  l'anjornee. 
s'ainor  m'anprant  et  atixe 
ke  ens  ou  euer  m'est  entree. 

8  A  li  resgardeir  m'obliai 
tant  k'elle  s'en  fut  aleie. 
deus,  tant  mar  la  resgardei! 
quant  si  tost  m'est  eschaipeie 
ke  jamaix  joie  n'aurai, 

se  per  li  ne  m'est  doneie. 

9  Tantost  com  l'o  esgardeie, 
bien  cuidai,  k'elle  fuist  feie, 
ne  lairoie  por  rien  nee, 
k'aincor  n'aille  en  sa  contree 
tant  ke  j'aie  demandeie 
s'amor,  ou  mes  fins  cuers  beie. 

10  Et  c'elle  devient  m'amie 
ma  grant  joie  iert  asevie, 
ne  je  n'em  penroie  mie 
le  rouame  de  Surie, 

car  trop  moinne  bone  vie 
ki  aimme  teil  signorie. 

Deu  pri,  k'il  men  faice  aie, 
ke  d'autre  nen  ai  envie. 

xxm. 

C.  Bern  389.  f°.  247.  V. 
Colins  Musez. 

1    Une  novelle  amorete,  ke  j'ai 

me  fait  chanteir  et  renvoixier, 


Hofmann:  Ältfranzösische  Gedichte.  523 

lou  euer  enamoreit  et  gai, 

ne  jai  de  ceu  partir  ne  quier. 

rose  ne  lis  ne  floretes        de  glai 

ne  le  me  fait  comencier 

fors  la  blondete,  por  cui  je  morrai, 

se  mercis  ne  m'i  puet  aidier. 

2  Mercit  dement,  mercit  requier, 
mercit  veul  et  merci  desir. 

a  la  blonde(te)  le  veul  proier, 
c'autre  ne  m'en  poroit  guerir, 
n'autre  ne  m'en  poroit  aidier, 
n'autre  n'est  tant  a  mon  plaixir. 
je  la  servirai  sens  dongier, 
se  tost  ne  le  me  veult  merir. 

3  Beile  et  blonde,  je  vos  amerai 
de  fin  euer  loiaul  et  entier, 

ne  jai  de  vos  ne  me  departirai; 
muels  me  lairoie  depecier. 
en  ceste  bone  pensee  serai, 
nuls  ne  m'en  puet  geteir; 
maix  trop  me  tiennent  en  esmai 
li  felon  mavaix  losengier. 

4  Je  redout  tant  lor  encombrier, 
k'ades  se  poenent  de  trair 

seaus  ki  bien  aimment  sens  trichier, 

et  jai  ne  s  en  vaires  joir. 

bien  s'en  doit  blondete  alongier, 

c'ades  veullent  d'ami  servir. 

ne  moy  ne  li  nen  ont  mestier 

por  nostre  joie  departir. 


524        Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

5  L'autrier  un  jor  a  l'entree  de  mai 
l'oi\chanteir  en  un  vergier; 

maix  onkes  niais  si  belle  ne  trovai, 

ceu  vos  poroie  fiancier. 

deus,  tres  dous  deus!  et  keille  amorete  ai, 

se  de  s'amor  puis  esploitier,' 

ne  jamaix  jor  sens  joie  ne  seroie, 

c'  eile  la  nie  veult  otroier. 

6  Je  desir  tant  li  embraissier 
et  li  veoir  et  li  oir, 

se  de  li  ai  un  douls  baixier, 
ne  me  poroit  nuls  mals  venir, 
ne  me  poroient  forjugier 
mavaixe  gent  per  lor  mentir. 
coi  k'il  m'en  doie  avenir, 
je  Patandrai  tout  a  loisir; 
car  fine  amor  me  fait  cuidier: 
boens  servixes  ne  puet  perir. 

XXIV. 

C.  Bern  389.  £°.  247.  r° 
Le  duchase  de  Lourainne  (sie). 

1    Un  petit  davant  lou  jor 
me  levai  l'autrier 
sospris  de  novelle  amor, 
ke  me  fait  vellier. 
por  oblieir  mes  dolors 
et  por  aligier, 
m'en  allai  collir  flors 
dejoste  un  vergier. 
lai  dedans  en  un  destor 
oii  un  Chevalier, 
desor  lui  en  haute  tour 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  525 

dame  ke  raolt  Tot  chier. 

eile  ot  frexe  color 

et  chantoit  per  grant  dousor 

uns  dols  chans  pitous 

melleit  en  plor, 

pues  ait  dit  com  loiauls  drue  : 

,, Amins,  vos  m'aveis  perdue, 

li  jalous  m'ait  mis  en  mue." 

I    Quant  li  chevaliers  oi't 
la  dame  a  vis  cleir, 
de  la  grant  dolor,  k'il  ot, 
comance  a  ploreir, 
pues  ait  dit  en  sospirant : 
„mar  vi  enserreir, 
dame,  vostre  cors  lou  gent, 
ke  doie  tant  ameir. 
or  m'en  covient  durement 
les  dous  biens  compaireir, 
ke  volentiers  et  sovent 
me  solies  doneir. 
lais!  or  me  vait  malement, 
trop  ait  ci  aipre  torment. 
s'il  nos  dure  longuement, 
tres  dous  deus!  ke  devanrons  nos? 
je  ne  puis  dureir  sens  vos 
et  vos  sens  moy,  comant  durereis  vos?" 

Dist  la  belle:  ,,boens  amis, 
amor  me  maintient. 
aisseis  est  plus  mors  ke  vis, 
ki  dolor  soustient. 
leis  moi  geist  mes  anemis, 
faire  le  covient, 
[1867.  IL  5.1  35 


526        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

et  se  n'ai  joie  ne  ris, 

se  de  vos  ne  vient. 

j'ai  si  mon  euer  en  vos  mis, 

tout  ades  m'en  sovient. 

se  li  cors  vos  est  eschis, 

li  cuers  a  vos  se  tient. 

si  faitement  Tai  empris, 

ke  je  serai  sens  repentir 

vostre  loiaul  amie. 

por  ceu,  se  je  ne  vos  voi, 

ne  vos  oblierai  nrie." 

4    „Dame,  je  1  cuit  bien  savoir, 
tant  Tai  esprovei, 
k'en  vos  ne  poroit  avoir 
euer  de  fauceteit; 
maix  ceu  me  fait  molt  doloir, 
ke  j'ai  tant  estei, 
dame,  de  si  grant  valor, 
or  ai  tout  pansei. 
deus  m'ait  mis  en  nonchaloir 
et  de  tout  oblieit, 
ke  je  ne  puisse  cheoir 
en  gringnor  povreteit; 
maix  jeu  ai  molt  boen  espoir, 
k'encor  me  puet  molt  bien  valoir. 
drois  est,  ke  je  lou  die, 
se  deu  piaist,  li  jalous  morait, 
si  raverai  m'amie." 

5    „Amins,  se  vos  desireis 
la  mort  a  jalous, 
aincor  la  desire  jeu 
cent   tens  plux  de  vos. 


Hofmann:  Altfranzösische  Gedichte.  527 

il  est  vieis  et  rasoteis 

et  glous  comme  lous, 

et  si  est  niaiges  [1.  maigres]  et  pailes 

et  si  est  lais, 

tant  putes  taiches  ait  aisseis 

li  deloiaus.  li  rous. 

la  gringnor  bonteit  k'il  ait, 

c'est  de  ceu  k'il  est  cous, 

et  dist:  „lais!  tant  mar  fu  neis, 

c'aitres  en  ait  ces  volenteis.'1 

drois  est,  ke  je  m'en  plaing, 

coment  guerirait  dame  sens  am  in?" 

,,Biaus  amins,  vos  en  ireis, 

car  je  voi  le  jor. 

desormaix  i  poeis 

faire  trop  lonc  sejor. 

vostre  fin  euer  me  laireis, 

n'aies  pais  paour. 

c'aveuc  vos  en  portereis 

la  plux  fine  amor. 

des  ke  vos  ne  me  poeis 

geteir  de  ceste  tor, 

plus  sovant  la  resgairdeis 

por  moi  per  grant  dousor." 

et  sil  s'en  part  toz  iries 

et  dist :  „lais,  tant  mar  fu  neiz ! 

dolans  m'en  pairt, 

a  deu  comans  je  mes  amors, 

ki  les  me  gairt." 


35* 


528        Sitzung  der  philos.-philol  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 


Herr  Lauth  trägt  vor: 

„Die  Achiver  (Achäer)  in  Aegypten". 

Es  sind  erst  sieben  Jahre  her,  seitdem  ich  auf  einem 
Bruchstücke  (Nr.  112)  des  Turiner  Königspapyrus  die  Spuren 
der  Hykschös-Dynastie  ausfindig  machte,  welche  bis  dahin 
als  solche  nur  auf  dem  Zeugnisse  Manetho's  beruhte  und 
daher  von  der  Kritik  bald  angezweifelt,  bald  ganz  und  gar 
als  ungeschichtlich  verworfen  worden  war.  Meine  Vermuth- 
ung,  soweit  sie  sich  auf  das  Fragment  einer  so  arg  zer- 
bröckelten Urkunde  stützte,  schien  allerdings  schwach  be- 
gründet und  weiterer  Bestätigung  dringend  bedürftig;  allein 
im  Zusammenhalte  mit  den  andern  vierzehn  Dynastieen 
jenes  Papyrus  ergab  sich  die  Dynastie  der  Hirtenkönige  mit 
zwingender  Notwendigkeit  als  die  fünfzehnte,  wie  sie  in 
dem  Auszuge  des  treuen  Africauus  wirklich  beziffert  ist. *) 
Die  Inschrift  des  Schiffsobersten  Aahmes  in  El-Kab 2),  welche 


1)  Wie  trotzdem  Hr.  Knoetel  in  seinem  „Cheops  der  Pyramiden- 
Erbauer"  und  in  seinem  Aufsatze  im  Khein.  Mus.  1867  fortfahren 
kann,  alle  Könige  Aegyptens  von  der  IV.— XXVIII.  Dynastie  zu 
Hykschos  zu  stempeln,  ist  unbegreiflich..  Wenn  Herodot  II.  128 
von  den  Pyramiden-Erbauern  sagt:  rovrovg  vno  fxiatog  ov  xtiqxa 
Skkovai  Aiyvnxioi  wofici^Biv,  JMk  xal  rüg  nvQaftidag  xaUovdi  -noiy.ivog 
&iXi'(ff)xiog,  og  xovxov  xov  xqvvov  ivs/xs  xxtjvstt  xaxd  ravxcc  tu  /wpi'er, 
so  unterscheidet  er  ja  ganz  bestimmt  die  Könige  Cheops  und 
Chephren  von  den  Hirten. 

2)  Hr.  Chabas  hat  die  Kichtigkeit  des  Ausdrucks  'Yxcwg  (Euseb. 
'Yxovoowg  cf.  Jos.  dx  —  vx  =  ai^fiakayroi  —  es  ist  die  mit  der  Nord-  I 
pflanze  anlautende  Gruppe  haq  vincire)  bezweifelt,  weil  sie  hier  i 
mena  kopt.  mone  =  pastor  genannt  seien,  vergessend,  dass  I 
schasu  eiu  acht  ägypt.  Wort  ist  und  den  Wandernden  oder  No-  1 
maden  bedeutet.  Das  Szepter  haq  ist  noch  in  unserm  Bischofs- 
stabe getreu  erhalten. 


Lauth:  Die  Achiver  in  Aegypten.  529 

De  Rouge  schon  vorher  übersetzt  hatte,  lieferte  das  Binde- 
glied zwischen  dem  Schlüsse  der  Fremdherrschaft  und  dem 
Haupte"  des  Neuen  Reiches:  Amosis,  der  nach  einer  Stele 
im  Mokattamgebirge  (von  seinem  22.  Jahre  datirt)  die  Stein- 
brüche von  Rofui  (Kopt.  Liui  das  ägypt.  Troja-Tura)  zur 
Wiederherstellung  der  Tempel  von  Memphis  und  Theben 
ausbeutete,  also  wieder  im  Vollbesitze  des  Landes  sich  be- 
finden musste.  Der  wichtige  Papyrus  Sallier  I.  bestätigte 
dieses  Ergebniss,  indem  er  einen  zuerst  gesandtschaftlichen 
Verkehr  zwischen  Seqenen  (Soikunis  des  Eratosthenes),  dem 
unmittelbaren  Vorgänger  des  Amosis,  und  dem  letzten 
Hirtenkönige  Apophis  erzählt,  woraus  zuletzt  der  Ent- 
scheidungskrieg und  die  Vertreibung  der  Hykschos  aus 
Aegypten  erfolgte. 

Seitdem  hat  Mariette  durch  seine  Ausgrabungen  in 
Tanis ,  durch  die  Porträtsphinxe  mehrerer  Hirtenkönige, 
durch  die  Auffindung  eines  vollständigen  Namenprotokolles 
von  Apophis,  den  Beweis  erbracht,  dass  ich  Recht  gehabt 
hatte,  die  ausländische  Herrschaft  der  Hirten  als  eine  ge- 
schichtliche in  vollem  Sinne  des  Wortes  aufzustellen.  Ja, 
eine  von  ihm  aufgefundene  Stele  enthält,  ausser  andern 
werthvollen  Angaben,  die  bis  jetzt  einzig  dastehende  Er- 
wähnung einer  Aera.  Ein  Beamter,  Namens  Seti,  stiftet 
unter  der  Regierung  Ramse's  II.  (Sesostris)  das  betreffende 
Denkmal  und  datirt  es  mit  dem  Jahre  400  eines  Königs 
Set-Nubti,  in  welchem  ich  den  Vorgänger  des  Apophis 
erkennen  zu  dürfen  glaubte.  Man  begreift  so  auch,  warum 
auf  einer  Statue  des  grossen  Ramses  II.  dieser  König  ein 
„Liebling  des  von  Apophis  in  Havaris  durch  einen  Tempel 
geehrten  Sutech'"  (Baal)  genannt  werden  konnte.  Wir  be- 
sitzen somit  eine  annähernde  Bestimmung  des  Zeitabstandes 
zwischen  den  Hirten  und  dem  Ende  der  XVIII.  Dynastie, 
und  da  die  Dauer  der  Hykschosherrschaft  in  runder  Summe 
260  Jahre  betrug,  so  ergiebt  sich  für  den  Anfang  ihrer  In- 


530        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

vasion  das  Jahrhundert  2100—2000  vor  unsrer  Zeitrech- 
nung. In  der  That  bemerkt  Manetho  bei  dem  ersten  Wahl- 
fürsten der  Hirten:  Salatis,  er  habe  Havaris  (Ha-vare 
.,Haus  der  Flucht")  hauptsächlich  gegen  die  damalige  Ob- 
macht  der  Assyrier  befestigt. 

War  somit  dieses  Ergebniss  für  den  nationalen  Ge- 
schichtschreiber Manetho  und  die  Aegyptologie  ein  äusserst 
günstiges  zu  nennen,  so  zeigte  eine  Entdeckung  des  H. 
Chabas,  dass  auch  die  Bibelerklärung  aus  der  neuen  Wissen- 
schaft Nutzen  ziehen  kann.  Dieser  scharfsinnige  Forscher 
identifizirte  nämlich  die  dreimal  genannten  ,,Aperiu,  welche 
Steine  schleppen  zu  dem  Baue  der  Stadt  Ramses"  —  mit 
den  Ebräern,  welche  nach  Exodus  I  bei  den  Arbeiten  der 
Städte  Pithom  und  Ramses  Frohndienste  leisten  mussten. 
Eine  Steinbruchinschrift  von  Hamamat  zeigte  die  nämlichen 
Aperiu  als  ziemlich  zahlreiche  Bergbaucolonie  und  ein  noch 
unedirter  Papyrus  (im  Besitze  des  Herrn  Harris)  spricht 
von  ., Aufsehern  oder  Edlen  (marina)  der  Aperiu". 

Man  glaube  nicht,  dass  dieses  Resultat,  so  natürlich  es 
jetzt  auch  scheinen  mag,  ganz  mühelos  zu  erreichen  war. 
Es  mussten  zuerst  durch  gesunde  Kritik  die  Hindernisse  be- 
seitigt werden,  welche  der  unbesonnene  Eifer  von  Enthu- 
siasten wie  Lenormant  und  Heath  aufgethürmt  hatte.  Diese 
waren  nämlich  der  Ansicht,  das  Volk  Israel  werde  durch 
die  so  häufig  erwähnten  Semat- Leute  als  Semiten  be- 
zeichnet. Allein  Hr.  Chabas  hat  siegreich  nachgewiesen, 
und  ich  konnte  in  meinem  Vortrage  zu  Augsburg  1862  sowie 
in  meiner  Abhandlung  über  den  Bokenchons  der  Münchner 
Glyptothek  seinen  Fund  bestätigen,  dass  jene  Semat- Leute 
nichts  anderes  waren  als  Tempelhörige,  also  nicht  ein- 
mal nothwendig  Ausländer,  abgesehen  davon,  dass  der  Name 
Semiten  eine  ganz  moderne  Formation  der  Gelehrten  ist, 
welche  damit  die  Abkömmlinge  des  biblischen  Sem  im 
Gegensatze  zu  den  Chamiten  und  Japhetiten  bezeichnen. 


Lauth:  Die  Achiver  in  Aegypten.  531 

Eine  ähnliche  Barre  war  durch  missverständliche  An- 
wendung einer  Hieroglyphe  vor  die  Erkenntniss  des  wahren 
Namens  der  Griechen  oder  Jon i er3)  in  ägyptischen 
Texten  gelegt  worden.  Weil  nämlich  in  dem  Namen  der 
Königin  Arsinoe  der  Vokal  i  auch  durch  das  Auge  (iri) 
vertreten  erscheint,  so  glaubte  man  den  Volksnamen,  der 
mit  Auge  Hase  Adler  geschrieben  wird,  Juna  lesen  und  auf 
die  Jonier  deuten  zu  müssen.  Das  fragliche  Volk  bildet 
einen  Bestandteil  der  grossen  vorderasiatischen  Confoedera- 
tion  gegen  Ramses  II,  dessen  Heldenthaten  gegen  dieselbe 
im  Papyrus  Sallier  III.  von  dem  Dichter  Pentaur  besungen 
werden  (auch  die  ägyptische  Ilias  genannt).  An  und  für 
sich  betrachtet,  würden  zu  den  Joniern,  als  Bewohnern 
Kleinasiens,  die  folgenden  Völker  als  Verbündete  nicht  übel 
passen:  Die  Cheta  und  Kaschkasch  (anderwärts  Kar- 
kischa,  entsprechend  den  Chithi  und  Girgaschi  (Josue 
24,21),  die  Masa  oder  Maausa  den  Mas-Mysiern  (1  Moses 
10.20),  Chirabu  dem  Chalybon,  Qadesch  dem  häufigen 
Qodesch  (Heiligthum),  Luka  den  Lykiern,  Aradhu  den 
Bewohnern  von  Aradus,  die  Dardani  auch  Dandani, 
(Dodanim?)  den  Dardanern,  Patasu  dem  niföctdog,  Qar- 
qamascha  dem  Karkemisch  (Circesium).  Ueber  die 
Akerit  oder  Aktera,  die  Qazawatana  und  die  oben  an- 
gedeuteten Ariuna,  die  vermeintlichen  Juna,  fehlen  uns 
bis  jetzt  Anhaltspunkte  zur  Vergleichung  mit  biblischen  oder 
classischen  Völkernamen.  —  Ich  habe  in  einem  Aufsatze  der 
„Zeitschrift  für  ägyptische  Sprache  und  Alterthumskunde:: 
nachgewiesen,  dass  die  Verwendung  der  syllabischen  Hiero- 
glyphen zu  Buchstaben  nur  in  der  aenigmatischen  Schreib- 
art vorkommt,  dass  somit  jener  Volksname  Ariuna,  nicht 
Juna  zu    lautiren  ist.     Damit    fallen    nun    zwar    die  Jonier 


3)  Die  jonischen  Hirtenkönige  Champollion's  beruhten  auf  einer 
falschen  Lesart  von  Goar,  dem  ersten  Herausge!>er  des  S^ucellus. 


532        Sitzung  der  phüos.-phüöl.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

hinweg;  aber  es  fragt  sich,  ob  wir  sie  nicht  unter  einer 
andern  Namensform  doch  antreffen,  die  sogar  bis  in  die 
Zeit  der  XI.  Dynastie  (2600  v.  Chr.)  zurückreicht. 

In  dem  Programme,  dessen  Abfassung  mir  für  das 
eben  abgelaufene  Schuljahr  zugefallen  war,  habe  ich,  unter 
dem  Titel  ,, Homer  und  Aegypten"  die  Beziehungen  zwischen 
dem  ältesten  Dichter  der  Hellenen  und  dem  Pharaonenlande 
nachzuweisen  gesucht.  Wenn  ich  in  Betreff  des  Namens  der 
Jonier  und  anderer  im  Verlaufe  dieses  Aufsatzes  mich  öfter 
auf  diese  meine  Untersuchung  berufe,  so  wird  man  mir  diess 
nicht  als  den  Versuch  einer  Reclame  für  ein  Buch  miss- 
deuten. Denn  das  gedachte  Programm  ist  nur  in  der  bei 
den  Anstalten  üblichen  Auflage  erschienen,  dem  eigentlichen 
Büchermarhte  also  von  vornherein  entzogen.  Aber  gerade 
dieser  Umstand  möchte  es  rechtfertigen,  dass  das  grössere 
Publikum,  welches  sonst  nicht  leicht  damit  bekannt  werden 
dürfte,  mit  Hülfe  der  wissenschaftlichen  Sitzungsberichte  der 
kgl.  Akademie  auf  die  Resultate  der  neuesten  Forschungen 
aufmerksam  gemacht  wird. 

Unter  dem  vorletzten  Könige  der  XI.  Dynastie:  Sanch- 
kera,  den  mir  in  meinem  „Manetho"  sowohl  der  Turiner 
Königspapyrus  als  die  jüngst  entdeckten  Tafeln  von  Abydos 
und  Saqqarah  urkundlich  an  die  Hand  gaben,  erscheinen  die 
fremdländischen  Haunebu  (so  las  man  bisher)  als  eine  be- 
siegte Völkerschaft  zum  ersten  Male.  Von  da  an  treffen 
wir  sie  in  allen  Perioden  der  ägyptischen  Geschichte  in  feind- 
licher Berührung  mit  den  Pharaonen,  bis  sie  zuletzt  durch 
Alexander  den  Grossen  und  die  Dynastie  der  Ptolemäer  als 
s  iegreiche  Eroberer  im  Nilthale  erscheinen  und  sich  drei 
Jahrhunderte  hindurch  behaupten.  Aus  dieser  Zeit  stammen 
die  zweisprachigen  Inschriften  von  Rosette  und  Tanis,  aus 
denen  wir  die  Gewissheit  schöpfen,  dass  jene  Haunebu 
nichts  anderes  sind  als  die  Hellenen.  Der  demotische 
Text    des  Decretes    von  Rosette   gebraucht    die  Namensform 


Lauth:  Die  Achiver  in  Aegypten.  533 

Uinen,  woraus  dann  das  koptische  Ueinin  abgeleitet  ward. 
Da  die  jüngere  Schriftart  des  Demotischen  sich  an  die  Hiero- 
glyphen an^chliesst,  so  niusste  die  Voraussetzung  entstehen, 
dass  Uinen  aus  Haunebu  durch  Abschleifung  sich  gebildet 
habe.  Ich  übergehe  die  verschiedenen  Versuche,  die  man 
angestellt  hat,  um  beide  Formen  mit  einander  zu  ver- 
mitteln, und  wende  mich  sofort  zu  dem  Ergebnisse,  zu  wel- 
chem ich  in  meinem  oben  erwähnten  Programme  gekommen 
bin.  Auf  Grund  einer  alphabetischen  Litanei  an  die  Hathor 
(Venus)  zu  Denderah,  wo  der  streitige  zweite  Bestandtheil 
(nebu)  unter  den  Anlaut  v  gestellt  ist,  nahm  ich  eine  alte 
Metathesis  bei  der  Aussprache  des  Sylbenzeichens  nebu  an 
und  fand  mich  dazu  durch  das  Dinkawort  ben  (Herr)  = 
neb  (dominus)  sowie  durch  analoge  Fälle  bestärkt.  Der  aus 
dem  Papyrus  Grey  bekannt  gewordene  Name  eines  Grabes: 
Ovvccßovvovv  zerlegt  sich ,  wie  neuere  Denkmäler  beweisen, 
in  T-hy-nab-unun  ,,das  Haus  des  Nabunun"  (Priesters  der 
Hathor).  Daraus  würde,  mit  Zulassung  der  Metathesis,  die 
so  häufig  sich  geltend  macht,  für  das  fragliche  Zeichen  sich 
die  Lautung  ban  oder  van  ergeben.  Die  Bedeutung  an- 
langend, so  erhielten  wir  für  Hau-vanu  ,,die  hinter  den 
Wassern".  Die  Vermittlung  mit  Javan,  Javones,  Jones  unter- 
liegt alsdann  keiner  weiteren  Schwierigkeit. 

Aber  wozu,  könnte  Jemand  fragend  einwerfen,  der  müh- 
same Nachweis  eines  classischen  Namens  mit  Hülfe  ägyp- 
tischer Texte,  zumal  das  Ergebniss  doch  noch  zweifelhaft 
genannt  werden  muss?  Was  letzteren  Einwand  betrifft,  so 
ersehe  ich  aus  einem  erst  unlängst  ausgegebenen  Werke: 
„Die  Chronologie  des  Manetho"  von  G.  F.  Unger  p.  145, 
dass  auch  ein  Anderer  unabhängig  und  vielleicht  aus  anderen 
Gründen  auf  die  nämliche  Ansicht  in  Betreff  der  Hauvanu 
=  'Idfoveg  gerathen  kann.  Anlangend  den  Zweck  dieses 
Nachweises,  wird  es  hoffentlich  vor  gebildeten  Lesern,  wie 
ich  sie  bei  diesen  Blättern  voraussetze,  nicht  erst  einer  Ent- 


534      Sitzung  der  phüos.-phüol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

schuldigung  bedürfen,  wenn  ich  versuche,  dem  Stamme  der 
Jonier,  dem  wir  so  Vieles  verdanken,  seine  Stelle  unter 
den  von  den  uralten  Aegyptern  gekannten  und  genannten 
Völkern  anzuweisen.  Auch  erheischt  die  neue  Fackel, 
welche  die  Pfahlbauten4)  über  die  Ureinwohner  Europa's 
angezündet  haben,  eine  gründlichere  Prüfung  der  ältesten 
Monumentalquellen,  die  uns  zu  Gebote  stehen. 

Mit  Uebergehung  des  Danaos  und  der  andern  zu 
Aegypten  in  Beziehung  gesetzten  Einwanderern  Griechenlands 
und  mit  Beiseitelassung  des  für  mythisch  geltenden  Zuges 
der  Argonauten  nach  Kolchis,  wende  ich  mich  gleich  zu  der 
Frage:  Lässt  sich  in  den  vor  den  trojanischen  Krieg  fallen- 
den Zeiten  auf  einem  ägyptischen  Denkmale  ein  griechischer 
Stamm  genügend  nachweisen?  —  Selbstverständlich  kann 
hierauf  nicht  ein  mehr  oder  minder  wahrscheinlicher  An- 
klang von  Namen,  sondern  nur  ein  zucammenhängender 
Text  die  Antwort  geben.  Es  trifft  sich  für  die  allgemeine 
Orientirung  recht  günstig,  dass  das  betreffende  Denkmal5) 
dem  Meneptah  angehört,  d.  h.  jenem  Pharao,  unter  den 
man  den  Exodus  der  Kinder  Israels  anzusetzen  vielfach  be- 
rechtigt ist,  so  dass  über  den  Zeithorizont  des  geschilderten 
Ereignisses  kein  Zweifel  besteht ,  wenn  auch  die  spezielle 
Chronologie  dieses  Königs  bis  jetzt  nicht  endgültig  bestimmt 
werden  kann6). 

In  einem  für  die  Zeitschrift  der  Deutsch-Morgenländi- 
schen Gesellschaft  nach  Leipzig  eingesendeten  und  jetzt  er- 
schienenen Artikel   hatte    ich  schon  zu  Ostern  dieses  Jahres 


4)  Vergl   Herodot.  V,  16. 

5)  Von  Lepsius,  Brugsch  und  jetzt  vollständiger  von  Dümichen 
veröffentlicht  in  seinen  Histor.  Inschr.  Taf.  I — VI. 

6)  Meneptah  ist  der  13.  Sohn  und  unmittelbarer  Nachfolger  des 
Eamses  II.  Miamun  Sesostris,  von  dem  Aristoteles  Polit  VII.  9  sagt: 
noXv  yccQ  vntQTiivti  roig  xq6voi$  ti\v   Alivw  ßaoiXiiav  t]  2'f  a  w  ar  qi  of. 


Lauth:  Die  Achiver  in  Aegypten.  535 

die  ganze  Inschrift  analysirt  und  übersetzt;  einzelne  Theile, 
zum  Beispiele  gerade  die  fremden  Völkernamen ,  habe  ich 
meinem  Programme  ,, Homer  und  Aegypten"  einverleibt.  Je 
wichtiger  diese  neuen  Namen  für  die  Ethnographie  und  Ge- 
schichte der  sog.  vorhistorischen  Zeiten  mir  erscheinen  mussten, 
desto  grössere  Vorsicht  glaubte  ich  anwenden  und  desshalb 
meine  Identifikationen  vorerst  nur  als  Vermuthungen  bieten 
zu  sollen.  Wenn  ich  sie  heute  mit  etwas  grösserer  Zuver- 
sicht ausspreche,  so  veranlasst  mich  dazu  der  Umstand, 
dass  unterdessen  ein  französischer  Aegyptologe  ersten  Ranges, 
kein  Geringerer  als  Herr  Vicomte  de  Rouge7)  selbst,  in 
vollkommen  unabhängiger  Weise,  wie  ich  meinerseits,  zu 
den  nämlichen  Lesungen  und  Deutungen  jener  Völkernamen 
gekommen  ist.  Und  zwar  nicht  auf  Grund  des  lautlichen 
Anklanges,  sondern  geleitet  von  dem  Inhalte  und  Zusammen- 
hange des  Textes.  Wo  sich  Abweichungen  finden ,  rühren 
sie  von  der  Verschiedenheit  der  Copien  her,  die  wir  beide 
dabei  benützten.  De  Rouge  konnte  seine  eigne  an  Ort  und 
Stelle  gemachte  Abschrift  zu  Rathe  ziehen,  während  mir 
Dümichen's  „Historische  Inschriften"  vorlagen. 

War  der  Einfall  der  Hykschos  von  Osten  her  erfolgt, 
und  zogen  sie,  wie  später  die  Kinder  Israels,  die  man  nicht 
mehr,  wie  es  früher  geschehen  ist,  als  identisch  mit  ihnen 
ansehen  kann,  in  derselben  Richtung  nach  Asien  zurück,  so 
versetzt  uns  der  77  Columnen  betragende  Siegesbericht  Me- 
neptah's  an  das  entgegengesetzte  Ende  des  Delta,  nämlich 
in  einen  Memphis  benachbarten  Gau  auf  dem  westlichen  Ufer 
des  Niles.  Der  Pharao  spricht  in  den  sechs  ersten  Vertikal- 
streifen von  der  Conföderation  der  feindlichen  Völker,  — 
die  wir  der  Reihe  nach  später  zu  betrachten  haben  werden  — 
von    seinem  Siege    über    dieselben    mit   Hülfe  Amon's   und 


7)  In  der  Revue  archeol.  p.  45  des  Juliheftes. 


536      Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

aller  andern  Schutzgötter,  sodann  von  der  grossen  Gefahr, 
welche  das  Land  Aegypten  bedroht  hatte,  indem  die  Invasion 
der  fremden  Eindringlinge  Schutzmassregeln  fürMemphis  und 
Heliopolis  nöthig  gemacht  hätte.  Die  Erwähnung  der 
letztern  Stadt  unter  der  Form  Nu-n-Tum  „Stadt  des  Tum" 
woher  auch,  beiläufig  bemerkt,  die  Variante  Nov&wix  für 
Etham  bei  den  LXX  erklärlich  wird,  muss  auffallen,  da  der 
Angriff  von  Westen  aus  geschah.  Allein  eine  weitere  Stelle 
des  Textes  belehrt  uns  (col.  19),  dass  die  Feinde  nicht  bloss 
zu  Lande  die  Gefilde  von  Kemi  (Aegypten)  betraten,  sondern 
auch  durch  den  Fluss  (atur)  in  das  Innere  zu  gelangen 
wussten.  Schon  dieser  Umstand  setzt  voraus,  dass  den  Ver- 
bündeten Schiffe  zu  Gebote  standen,  ein  Postulat,  das 
durch  den  weiteren  Verlauf  mehr  als  befriedigt  wird. 

(Col. 7)  Die  Feinde  lassen  sich  nieder  unter  Zelten  8)  im  An- 
gesichte der  Stadt  Pabari  auf  einem  Terrain,  das  wegen  der 
Einfälle  der  Neunvölker  schon  seit  alter  Zeit  öde  nnd  den 
Viehheerden  als  Weideplatz  überlassen  war ;  die  Bevölkerung 
hatte  sich  daraus  zur  Zeit  der  unterägyptischen  Könige 
(d.  h.  des  Hykschoseinfalles  ?)  in  die  Mitte  ihrer  festen 
Plätze  zurückgezogen  und  durch  einen  Wall  abgesperrt,  aus 
Mangel  an  Soldaten  und  Miethlingen.  Aber  der  Pharao 
„Meneptah,  sitzend  auf  dem  Throne  des  Horus,  schützte 
seine  Unterthanen  mit  mächtigem  Arme;  er  entsandte  Fuss- 
truppen  und  Streitwagen  und  Kundschafter  nach  allen  Richt- 
ungen, er  der  Gepriesene  im  Munde  der  Menschen,  der 
nicht  nöthig    hat  Hunderttausende    am  Tage  der  Schlacht". 

Die  Kundschafter  bringen  die  Meldung,  dass  „der  nichts- 
würdige und  verworfene  Grosse  des  Landes  Lebu  (Libyen): 
Marmeriu,  Sohn  des  Dide  sich  dem  Lande  der  Tha- 
hennu  (westlich  vom  Delta)    nähere  mit  seinen  Miethlingen 


8)  ahel  (^nx).  De  Rouge's  Copie  bietet  dafür  Chennu. 


Lauth:  Die  Achiver  in  Aegypten.  537 

und  den  Fremdvölkern:  Schardana,  Schakalscha,  Aqai- 
wascha.  Leku,  Tuirscha.  In  der  Lücke  des  Textes 
standen  vermuthlich  die  später  erwähnten  Maschawascha 
und  Qahaqa.  Diese  8  Völker  also  begannen  die  Feind- 
seligkeiten, und  dass  es  hiebei  nicht  auf  einen  vorüber- 
gehenden Raubzug ,  sondern  auf  förmliche  Ansiedelung  in 
Aegypten  abgesehen  war,  beweist  der  Zusatz,  dass  ein  Theil 
der  Bundesgenossen,  die  Tuirscha,  Weiber  und  Kinder  mit- 
gebracht hatten  (col.  14).  Die  Verbündeten  machten  rasche 
Fortschritte :  eine  neue  Meldung  berichtet,  dass  sie  die  West- 
grenze des  Reiches  auf  den  Gefilden  von  Paari  (II.  Gau 
des  Delta)  erreicht  hätten.  ,,Da  ward  seine  Majestät  wüthend 
wie  ein  Löwe"  gegen  seine  Grossen,  die  es  an  Wachsam- 
keit hatten  fehlen  lassen ,  und  er  richtet  an  sie  die  strafen- 
den Worte :  „Vernehmet  meine  Reden  und  beobachtet,  was 
ich  euch  zu  wissen  thue,  nämlich:  Ich  bin  der  Fürst,  der 
euch  leitet  und  meine  Kurzweil  ist  aufzufinden  (die  Mittel- 
Lücke)  um  euch  zu  erhalten,  wie  ein  Vater  seine  Kinder, 
ernährend  eure  Leiber  wie  die  von  Mastgänsen.  Aber  ihr 
erkennet  nicht  das  Gute,  das  er  euch  erweist,  erwiedert 
nicht  (seine  Sorgfalt) !  Das  Land  wird  verwüstet,  offen  steht 
es  dem  Angriffe  einer  jeden  Fremdrage;  die  Neunvölker 
(Heiden)  plündern  seine  Grenzbezirke ,  die  Unreinen  über- 
schreiten sie  jeden  Tag;  die  Seeräuber  (?)9)  berauben  die 
Stationen,  dringen  ein  in  die  Gefilde  von  Kemi  durch  den 
Strom  (c.  19).  Siehe  sie  verweilen  Tage,  ja  Monate  lang 
ruhig  sitzend  darin.  So  haben  sie  erreicht  den  Berg  von 
Heseb  (sonst  auch  uta  gelesen,  und  als  wein  reich  ge- 
schildert) —  und  zerstreuen  sich  auf  dem  Bezirke  von 
Toahe  (Heptanomis);  wohl  nie  hat  man  aber  solches,  seit 
es  Könige  des  Oberlandes  gibt,  in  den  Annalen  der  anderen 


9)  Leider  in  einer  Lücke  des  Textes  verschwunden ! 


538       Sitzung  dtr  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Zeiten  gekannt :  sie  kriechen  wie  die  Schlangen,  nicht  gibt 
es,  die  mehr  in  ihren  Bauch  thun;  sie  begehren  nach  Tod 
(Mord),  hassend  das  Leben;  ihre  Verwegenheit  ist  höher 
als  das  Firmament.  Ihr  Grosser  beschäftigt  sie  mit  Ver- 
wüstung des  Landes ,  indem  sie  kämpfen,  um  ihren  Bauch 
zu  füllen  allezeit.  Sie  ziehen  wider  das  Land  Kemi,  um  zu 
suchen  den  Unterhalt  ihrer  Mäuler;  ihre  Herzen  verlangen 
nach  meinen  Tributen,  wie  ein  Netz  nach  Fischen.  Ihr 
Grosser  (Führer)  benimmt  sich  wie  ein  Hund  (wau-wau, 
onomatopoetisch 10) ,  ein  verwünschtes  Individuum,  ohne 
Herz." 

Der  König  rühmt  sich  sodann  seiner  Wohlthaten  gegen 
das  Volk  der  Wüste  (Petischu),  das  er  habe  Getreide  holen 
lassen  auf  Schiffen  „um  zu  beleben  dieses  Land  Chet  .  ." 
—  vielleicht  Scete  bei  den  Natronseen.  Der  Zusammen- 
hang dieser  Stelle  mit  dem  Vorhergehenden  ist  leider  durch 
mehrere  Lücken  unterbrochen. 

Von  hier  an  (col.  24)  spricht  der  König  sein  Vertrauen 
aus  auf  den  Beistand  Amon's  in  Theben,  und  die  Drohung, 
dass  er  die  Maschawascha  und  Thamahu  (Vertreter  der 
libyschen  oder  weissen  Menschenrage)  heimsuchen  und  züch- 
tigen werde,  sowie  die  Lebu:  ,, indem  seine  Soldaten  aus- 
ziehen wider  die  Feinde,  ist  die  Hand  des  Gottes  mit  ihnen, 
Amon-Ra  als  ihr  Schild.  Und  er  sprach  zum  Lande  Kemi: 
Haltet  euch  bereit  auszuziehen  in  14  Tagen !  Siehe ,  da 
schaute  Seine  Majestät-  ein  Traumgesicht  im  Schlafe,  wie 
wenn  ein  Bild11)    des  Ptah   stünde    am  Lager   des  Pharao 


10)  In  Dümichens  Zeichnung  col  23  ein  Schakal,  aber  bei 
Brugsch  und  nach  De  Rouge  ein  deutlicher  Hund  von  der  Art,  wie 
die  wau-wau,  denen  Anepu  sein  der  Frau  Putiphra  in  allem 
gleichendes  Weib  wegen  Verläumdung  seines  Bruders  Batu,  eines 
Seitenstücks  zum  Joseph,  vorwarf  (Roman  der  ,,zwei  Brüder".). 

11)  De  Rouge  übersetzt   hier:    „comme   si   le  (fils?)   unique   de 


Lauth:  Die  Achiver  in  Aegypten.  539 

mit  Leben  Heil  und  Kraft.  Es  schien  zu  erheben  seine 
Stimme  und  zu  ihm  zu  sprechen :  ,,0 !  beendige  das  Zau- 
dern!" und  ihm  die  Siegeswaffe  reichend:  „Du  beseitige  die 
Unentschlossenheit  aus  dir!"  Da  erwachte  der  Pharao  mit 
Leben,  Heil  und  Kraft  und  sofort  entsendete  er  seine  Fuss- 
truppen  und  Wagenstreiter ,  vor  denen  Niemand  sich  halten 
kann ,  auf  den  Weg  ausserhalb  Paari.  Alsdann  wurde  der 
niederträchtige  Grosse  der  Lebu  handgemein  mit  ihnen; 
diese  Begegnung  fand  statt  am  1.  Epiphi  früh  Morgens  (das 
Jahr  ist  in  einer  Lücke  verschwunden).  Mit  den  Soldaten 
und  Wagenkämpfern  Seiner  Majestät  war  Amon-Ra,  Nubti 
(Baal)  reichte  ihnen  die  Hand.  Daher  wälzten  sich  die 
Feinde  bald  in  ihrem  eigenen  Blute ;  keiner  blieb  übrig  von 
ihnen;  die  Bogenschützen  Seiner  Majestät  verbrachten  sechs 
Stunden  im  Kampfe  mit  ihnen;  dann  wurden  sie  (die  Feinde) 
der  Schneide    des  Schwertes    überantwortet. 

Während  nun  die  Fremdvölker  so  bekämpft  wurden, 
siehe !  da  erschrack  der  niederträchtige  Grosse  von  Lebu, 
sein  Herz  ward  muthlos.  Siehe !  er  wandte  sich  zu  eiliger 
Flucht  mit  Hinterlassung  seiner  Sandalen ,  seines  Bogens, 
seiner  Köcher  (aspatha  =  niBWJK),  kurz  alles  dessen ,  was 
er  bei  sich  gehabt,  in  dem  Wunsche,  seine  Glieder  zu  be- 
schleunigen. Grosser  Schrecken  durchbebte  seine  Glieder. 
Er  verlor  all  seinen  Besitz  an  Spangen  (manudatha  = 
nl331[9  12))  Silber  und  Gold,  seine  Gefässe  aus  Metall,  den 
Schmuck  seines  Weibes,  seine  Bogen,  seine  Waffen,  kurz 
Alles,     was    er    mit  sich  geführt  hatte.     Diese  Gegenstände 


Ptah  se  tenait  debout  und  bemerkt  in  der  Note,  dass  ua  „un,  uni- 
que"  auch  dard  bedeuten  könnte.  Aber  es  folgt  auf  ua  ein  tut 
und  dies  bedeutet  sicher  ,,Bild'-. 

12)  Gesenius  bemerkt    bei    diesem  Worte  eigens,    dass    es  trans- 
ponirt    sei   aus  nlT3y.9  von  der  Wurzel  -jjj;  (chald.)  binden. 


540        Sitzung  der  philos.-philol  Gasse  vom  7.  Dezember  1867. 

wurden  zu  dem  Palaste  gebracht,  um  aufgeführt  zu  werden 
mit  den  Gefangenen.  Unterdessen  war  der  niederträchtige 
Häuptling  der  Lebu  auf  eiliger  Flucht  in  sein  Land.  Und 
das  Verzeichniss  der  Feinde,  so  getödtet  wurden  durch  die 
Schläge  der  Schneide,  ward  überreicht  den  Offizieren,  welche 
auf  den  Streitwägen  Seiner  Majestät  sich  befanden,  und  nach 
ihnen  das  Verzeichniss  der  lebend  Gefangenen.  Gross  war 
die  Zahl  der  Feinde  gewesen :  man  hatte  Nichts  Solches  ge- 
sehen zur  Zeit  der  Könige  Unterägyptens,  als  dieses  Land 
in  der  Feinde  Gewalt  war  und  das  Unglück  so  lange  fort- 
dauerte, als  die  Könige  Oberägyptens  nicht  die  Kraft  be- 
sassen,  sie  auszutreiben". 

Herr  Vicomte  de  Rouge  sieht  in  letzterer  Stelle  eine 
Anspielung  auf  den  Einfall  und  die  Herrschaft  der  Hyk- 
schos  —  gerade  wie  ich  es  ebenfalls  in  meinem  Aufsatze  zu 
Ostern  gethan  ;  eine  um  so  merkwürdigere  Uehereinstimmung, 
als  die  betreffende  Columne  sehr  lückenhaft  ist.  Der  Text 
fährt  fort:  „Das  habe  ich  gethan  aus  Liebe  zu  den  Be- 
wohnern, um  zu  schützen  Kemi  als  Herr  des  Landes,  um 
zu  retten  die  Tempel  des  Deltagebietes.  Darauf  sprachen 
die  Leute  der  westlichen  Stationen  in  einer  Botschaft  zu 
dem  Palaste  des  Auserwählten  mit  Leben,  Heil  und  Kraft 
mit  den  Worten:  ,, Sintemal  der  gestürzte  Maurmeriu 
flüchtig  gegangen  in  Person  und  seine  Wenigkeit  entronnen 
ist  den  Menschen  mit  Begünstigung  der  Nacht  auf  abge- 
legenen Wegen ,  verfolgt  von  jedem  Gotte  in  Kemi  —  die 
Prahlereien,  so  er  geäussert,  in  Nichts  zerstieben,  und  alle 
Worte  seines  Mundes  zurückfallen  auf  sein  eigenes  Haupt; 
da  man  nicht  kennt  die  Art  seines  Todes:  so  überlasse 
ihn  seinem  Schicksale;  sollte  er  noch  leben,  so  wird  er  sich 
nicht  wieder  aufrichten:  er  ist  gestürzt,  ein  Spott  seiner 
Soldaten.  Du  aber,  o  König,  bist  es,  der  uns  mitgenommen, 
um  zu  vollbringen  die  Tödtung  der  Feinde  im  Lande  der 
Thamahu.    Setzen  die  Lebu  einen  andern  an  seinen  Platz 


Lauth :  Die  Achiver  in  Aeyypten.  541 

von  seinen  Verwandten  (Brüdern) .  welche  beim  Kampfe 
waren,  so  sieht  er  gebrochen  die  Grossen  wie  die  Kleinen." 

, »Alsdann  brachten  die  Hülfstruppen ,  die  Soldaten  und 
Wagenkämpfer,  die  Veteranen  alle  des  Heeres  und  die  Jung- 
mannschaft (Naruna  =  "p")}^)  gefesselte  Feinde  vor  sich 
her;  Lasten  von  unbeschnittenen13)  Phallen  der  Lebu  und 
abgehauenen  Händen  aller  Fremdvölker,  die  mit  ihnen  gewesen 
waren ,  in  Häuten  auf  Brettern ,  endlich  allerlei  Beute ,  die 
man  genommen  aus  ihrem  Lande. 

Alsdann  ward  das  ganze  Land  Aegypten  aufjubelnd  bis 
zum  Himmel;  die  Flecken  und  die  Städte  waren  in  Wonne 
über  jene  Wunderthaten.  Die  Flüsse  führten  Festfeiernde. 
Alles  ward  vor  den  Balkon  gebracht,  auf  dass  schauete  Seine 
Majestät  die  Ergebnisse  seines  Sieges:  das  Verzeichniss  der 
Gefangenen ,  herbeigeführt  aus  diesem  Lande  der  Lebu  und 
den  übrigen  Fremdvölkern,  sowie  der  Beute  zu  dem  „Neuen 
Hause"  des  Pharao  Meneptah,  des  Ueberwältigers  der  Tha- 
hennu,  welches  in  Paari." 

Von  col.  50  an,  die  jetzt  folgt,  bis  zu  col.  62  erscheinen 
die  detaillirten  Angaben  über  die  Verluste  der  Feinde.  Vor 
allen  werden  die  Phallen  von  sechs  Individuen  aufgeführt, 
die  „Söhne  der  mit  dem  Lebufürsten  verbündeten  Häupt- 
linge" genannt  werden.  Dann  getödtete  Lebu,  deren  Phallen 
eingeliefert  wurden:  6359:  Zusammen  (6365)". 

Die  Zahl  der  getödteten  Schaida(i)na,  Schakalscha, 
Aqaiwascha  „von  den  Gegenden  des  Meeres"  ist  nicht  ganz 


13)  Der  Ausdruck  ist  zweifelhaft;  de  Rouge  übersetzt:  ,,dresses 
en  cornes"  wohl  desshalb,  weil  ihn  das  offenbar  unägyptische  Wort 
qarenatha  an  Wj  cornu    mahnte    —   sollte    es    aber   nicht   erlaubt 

sein,  an  ^nj;  unrein,    unbeschnitten    zu  denken,    da  l  auch  in  CJ/'^D 

=  sanohem  locustae  ein  aegypt.  n  vertritt,    und  das  y  häufig  für 
anlautende  Gutturale  steht? 

[1867.  II.  4.]  30 


542      Sitzung  der  phihs.-philöl.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

erhalten;  nur  die  der  Schakalscha :  222  ist  vorhanden  mit 
dem  Beifügen:  Betrag  an  Händen:  250.  Von  den  Tuirscha 
fielen  742,  Betrag  an  Händen:  7.90.  Die  nächste  Summe 
6111  scheint  sich  auf  die  Maschawascha  zu  beziehen. 

Man  sieht  aus  diesen  Verlusten,  dass  die  Schlacht  bei  Paari 
(/7o^gbeiSteph.?)  eine  mörderische  gewesen  sein  muss.  Die  Zahl 
der  lebendig  Gefangenen  steht  dazu  in  einem  gewissen  Ver- 
hältnisse: ,,2 18  Lebu,  die  Weiber  des  verworfenen  Häuptlings 
der  Lebu,  die  er  mit  sich  geführt  hatte,  lebendige  weibliche 
Lebu  12.  Summe  der  Gefangenen  9376.  Waffen  und  Fahnen, 
welche  in  den  Händen  der  gefangen  Eingeführten  waren, 
Schwerter  der  Maschawascha:  9111."  Es  folgt  die  ungeheure 
Zahl  120,214,  die  sich  auf  einen  Theil  der  Beute  bezieht, 
der  in  einer  Lücke  verschwunden  ist.  „Pferde,  die  das  Eigen- 
thum  des  Fürsten  der  Lebu  und  seiner  Söhne  gewesen, 
wurden  14  Gespanne  erbeutet."  Den  Schluss  des  Verzeich- 
nisses bilden  1314  Stück  Grossvieh,  Ziegen  (zerstörte  Summe) 
sodann  54  verschiedene  Gefässe  aus  Gold ;  an  Silber,  Krüge 
zum  Trinken  '(Zahl  zerstört) ;  au  Erz ,  Schwerter ,  Dolche, 
Kürasse  und  Schienen,  verschiedene  Geräthe :  3174,  offenbar 
den  Meeresvölkern  angehörig. 

„Nachdem  diese  weggeräumt  waren,  legte  man  Feuer 
an  ihr  Lager  und  an  das  Zelt  (qaii  matha  —  ?)  ihres 
Herrn."  Den  Schluss  macht  die  schmeichelhafte  Selbstbe- 
lobung des  ägyptischen  Pharao  Meneptah :  (col.  70)  „Die 
Lebu  hatten  Schlimmes  gesonnen  wider  Kerni ;  aber  siehe, 
sie  sind  gestürzt;  ich  tödtete  sie  und  machte  sie  zu  einem 
Wahrzeichen.  Ich  versetzte  das  Deltagebiet  in  Sicherheit 
und  Frieden :  es  lieben  mich  die  Bewohner,  wie  ich  sie  liebe, 
indem  ich  ihnen  gewähre  den  Lebensathem.  Es  jubeln  ihre 
Städte  auf  bei  meinem  Namen,  als  des  Oberen  der  Länder. 
Man  wird  meine  Zeit  als  eine  glückliche  preisen  im  Munde 
der  Geschlechter  der  Menschen,  gemäss  der  Grösse  der 
Wohlthaten,  die  ich  ihnen  erwiesen.    Und  All  dieses  ist  Wahr- 


T.anth :  Die  Ächiver  in  Aegypi  n  543 

heit  durchaus."  Die  fünf  letzten  Columnen  (73 — 77)  ent- 
halten die  Bestätigung  des  eben  vom  Pharao  Gesagten  yus 
dem   Munde  seiner  ünterthanen. 

Das  ist  weit  ausgeholt,  wird  mancher  denken,  um  die 
Anwesenheit  von  Achivern  in  Aegypten  zur  Zeit  des  Pharao 
Meneptah  wahrscheinlich  zu  machen.  Der  billig  Urtheilende 
wird  aber,  abgesehen  von  dem.  sonstigen  Interesse  des  In- 
haltes der  historischen  Inschrift,  anerkennen,  dass  ohne  einen 
solchen  Zusammenhang  der  Beweis  für  meine  neue14)  Thesis 
völlig  in  der  Luft  schweben  würde.  Was  die  (  ebersetzung 
anbelangt,  su  möchte  der  Umstand,  dass  zu  gleicher  Zeit 
zwei  Acgyptologen,  einer  zu  München,  der  andere  in  Paris, 
unabhängig  den  nämlichen  Text  auf  gleiche  Art  aufgefasst 
haben  ,  jener  noch  immer  bestehenden  Zweifelsucht  endlich 
den  letzten  Stoss  versetzen.  Mit  denjenigen,  die  sogar  die 
Richtigkeit  der  g  lesenen  Vöikernamen  bezweifeln ,  will  ich 
mich  nicht  aufhalten ;  sie  haben  es  ihrer  eigenen  Bequem- 
lichkeit zuzuschreiben,  wenn  sie  über  die  Elemente  einer  der 
wichtigsten  Entdeckungen  unseres  Jahrhunderts  auch  jetzt 
noch  in  Unkenntniss  verharren ,  wo  die  gesteigerten  Hülfs- 
mittel  es  jedem  Wollenden  ermöglichen,  sich  in  einem  halben 


14)  In  der  bekannten  Stelle  vonPlaton's  Timäns,  wo  Kritias  das 
Gespräch  des  Solon  mit  „dem  Kundigsten  der  ägyptischen  Priester- 
schaft" erzählt,  ist  gesagt:  oau  ift  /,'  tici^  v/uty  }j  rr,de  ....  y.ct'Aw 
iij  fiiy«  yiyovtv,  tiuvtk  yiyqauuivu  ix  naXuiov  tJJcT  iaxiv  iv  to?~  froolg 
xcä  ataioauiva.  Das  r#cf«  bezieht  sich  auf  Haie,  in  dessen  Nachbar- 
schaft Paali  (Paali.  //«/«•?)  und  der  Neubau  des  Meneptah  lagen,  wo  also 
der  erwiesenermassen  wiederholte  Text  ebenfalls  angebracht  sein  konnte. 
Nimmt  man  noch  die  weitere  Sage  über  die  Atlantis,  über  die  Inva- 
sion Aißvqg  und  EvQdintjg  [it/Qi  TvfjQtjyt'ag  hinzu,  besonders:  -notäu 
fiip  ovp  iftioi'  y.i'.i  fiByaXa  t'qy«  i7t$  nu'/.twc  (Athens)  Tijd't  ytyQUfifiiya 
!iuvit('Xti«i  —  so  wird  man  geneigt  sein,  darin  geradezu  eine  Bestät- 
igung unserer  Inschrift  und  der  Anwesenheit  der  Achiver  in  Aegypten 
zu  erblicken.  Herr  Collega  Christ  hatte  die  Güte,  mich  auf  diese 
auch  sonst  merkwürdige  Stelle  aufmerksam  zu  machen. 

36* 


544     Sitzung  der  pliilos.-philol.  Clasxe  vom  7.  Dezember  1867. 

Tage  von  der  Sicherheit  des  ägyptischen  Alphabets  zu  über- 
zeugen. Mögen  sie  also  sich  nicht  mehr  hinter  der  Maske 
der  kritischen  Zweifels  verstecken  dürfen! 

Ich  habe  mit  H.  Vicomte  de  Rouge  die  gleiche  Ansicht 
in  Betreff  der  vier  Völkernamen  Tuirscha,  Schakalscha, 
Schardaina  und  Aqaiwascha15)  ausgesprochen,  dass  sie 
nämlich  den  klassischen  T  urs  kern  (Tyrrhenern),  Sikelern, 
Sardiniern  und  Achivern  entsprechen.  Die  Mascha- 
wasch a  hatte  schon  Brugsch  mit  den  Md£vsg  Herodots, 
einer  libyschen  Völkerschaft,  verglichen.  Ueber  die  Qahaqa 
haben  wir  noch  keine  Anhaltspunkte  iti  den  Klassikern 
gefunden;  es  müsste  denn  allenfalls  der  Name  Krjv§,  den 
ein  König  von  Trachin  in  Thessalien  und  später  mancher 
Sclave  in  Rom  geführt,  hieher  zu  ziehen  sein  oder  Caicus 
(Verg.)?  Oder  vielleicht  Herodots  (IV,  193)  Zavrjxeg?  Wenn 
ich  bei  den  Luka  diesmal  an  die  Lucanier  (bos  Lucae)  oder 
an  die  Ligurier  (Ligys)  dachte,  während  de  Rouge  sagt: 
,,nom  qui  designe  probablement  lesLyciens"  —  so  ist  die 
Entscheidung  über  diese  Frage  noch  offen;  die  Luka  Asiens 
habe  ich  ebenfalls  mit  den  Lyciern  identificirt. 

Es  ist  nicht  der  äusserliche  Anklang  dieser  Völkernamen, 
welcher  uns  zu  den  betreffenden  Gleichstellungen  bestimmt 
hat,  sondern  der  innere  Zusammenhang  des  Textes,  der  den 
Schardana,  Schakalscha  und  Aqaiwascha  wörtlich  die 
Herkunft  von  den  Gegenden  des  Meeres  zuschreibt.  Für 
die  ersteren  wusste  man  aus  andern  Texten  bereits ,  dass 
sie  mit  Inseln  des  grossen  Beckens  d.  h.  des  Mittel- 
meeres in  Beziehung  stehen  und  darum  hat  auch  H.  Chabas 
in  seiner  meisterhaften  Arbeit  über  den  Papyrus  Anastasi  I 
die  Schardana  mit  den  Sardiniern  identifizirt.  Abgesehen 
davon ,    dass  unser  Text  auch    die  Varianten  Schardina  und 


15)  In  meinem  Aufsatze  der  Z.  d.  DMG  habe  ich  dabei  auch  an 
Aequus  erinnert. 


Lauth:  Die  Achiver  in  Aegypten.  545 

Schardaina  liefert,  stimmt  Schardana  zu  dem  homerischen  oaq- 
däviov  und  zu  YVW.  Sollte  man  in  Betreff  der  beiden  andern 
das  kritisch  sein  sollende  Bedenken  vorbringen,  dass  iu  2ixsX6g 
und  'A%aif6g  die  Endung  og  nicht  zum  Stamme  gehören 
könne,  so  erinnere  ich  an  den  sichern  Namen  Ntari wusch 
==  JccQsTog,  wo  das  gl  ichische  og  ebenfalls  einer  wurzel- 
haften  Stammsylbe  entspricht.  Das  Digamma  in  yA%aif6g 
anlangend,  so  wird  es  schon  durch  die  lateinische  Form 
Achivus  verbürgt. 

Endlich  dürfte  selbst  der  Accent  dieser  beider  Völker- 
namen einen  Fingerzeig  enthalten ,  dass  die  Endsylbe  als 
Stamm  mit  eigener  Bedeutung  gefasst  wurde  —  und  die 
ägyptische  Schreibung  beweist  jetzt,  dass  in  älterer  Zeit  diese 
Endung  wie  osch  d.  h.  mit  der  Geltung  des  dorischen 
Oav16)  (schin)  ausgesprochen,  wurde. 

Was  ferner  den  Umstand  betrifft,  dass  die  Aqaiwascha 
von  den  Gegenden  des  Meeres  herkamen,  so  lässt  sich  diess 
ebensowohl  auf  eine  Insel,  als  auf  ein  Küstenland  beziehen: 
die  Bezeichnung  Peloponnesus,  die  „Pelops-Insel",  die  Lage 
der  Landschaft  Achaja  am  korinthischen  Meerbusen ,  die 
Anwesenheit  von  Achajern  auf  Ithaka,  wie  an  der  gegen- 
überliegenden Küste,  endlich  die  Ausdehnung  der  Benennung 
Achaja  auf  ganz  Griechenland  unter  der  römischen  Herr- 
schaft —  alle  diese  Einzelheiten,  auch  von  Homer's  Gebrauch 
der  'Ayaipoi  abgesehen,  führen  auf  den  Schluss,  dass  Aqai- 
wascha ein  uralter  Name  für  einen  zahlreichen  hellenischen 
Stamm  gewesen.  Während  aber  Javan  und  Danaos  sich  aus 
dem  Aegyptischen  ohne  Zwang ,  sogar  mit  einer  gewissen 
Notwendigkeit  als    ,,die  hinter  den  Wassern"  und  als  „die 


16)  H.  de  Rouge  brauchte  die  Belehrung  über  den  „son  chuin- 
tant"  des  dorischen  <r«V  nicht  erst  aus  Lenormants  Preiswerk  zu 
entnehmen;  das  Wesentlichste  darüber  steht  schon  in  meinem  Uni- 
versal-Alphabete  p.  67  vom  Jahre  1855. 


546     Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1862. 

Ausländer  (tanau)"  erklären,  widersteht  der  Name  Aqai- 
waseha  einer  Herleitung  aus  dem  Aegyptischen.  Wir  haben 
daher  die  Etymologie  dieses  Namens  auf  griechischem  Boden 
selbst  zu  suchen.  Hier  bietet  sich  der  Stamm  aiyiaXog11) 
Compos.  von  aXg  (die  Salzfluth)  mit  der  Bedeutung  „Ufer,  Küste" 
ziemlich  ungezwungen  dar,  und  da  es  nach  Herodot  (VIII, 
94)  üeXaOyol  cäyictXseg  gab ,  so  wäre  ihre  Verwandtschaft 
mit  den  Achäern  wahrscheinlich  gemacht  und  wir  bekämen 
für  beide  die  Gesammtbedeutung  „Küstenbewohner1'. 

Vielleicht  verhilft  uns  diese ,  allenfalls  pelasgisch  zu 
nennende  Wortformung  zu  einer  befriedigenderen  Etymologie 
des  bisher  so  räthselhaft  gebliebenen  Namens  derPelusger 
selbst.  Man  hat  sie  in  der  Pulista  der  ägyptischen  Texte 
finden  wollen.  Allein  diese  entsprechen  denn  doch  eher  den 
Philistern  (Q>vXiöt£i[jC),  und.  der  angenommene  Wechsel 
zwischen  t  und  g  (T,  .T),  wenn  er  auch  paläographisch  leicht 
zu  erklären  wäre,  ist  sonst  durch  Nichts  belegt.  Auch  hat 
der  Pulista  (Brugsch  Georgr.  II  Taf.  XI,  26)  eine  Kopf- 
bedeckung (Federkrone),  die  nur  bei  semitischen  Stämmen 
getroffen  wird.  Es  sieht  Pelasgos  doch  ziemlich  griechisch 
aus  und  wenn  wir  auch  die  Spielerei  der  Alten,  welche  den 
Namen  dieses  Volksstammes  wegen  seiner  Züge  in  die  Ferne 
mit  nsXaqyoC  „die  Störche"  (schwarz-weiss)  zusammenbrachte, 
nicht  weiter  beachten,  so  drängt  sich  doch  pelas  „nahe" 
mit  fast  unabweisbarer  Notwendigkeit  auf.  Die  neuere  Zeit 
bietet  ein  Volk,  dessen  Namen  auf  den  nämlichen  Stamm 
zurückgeht:  die  Preussen.  Sie  sind  nicht,  wie  man  wegen 
des  lateinischen  Borussia  gemeint  hat,  die  an  Russland 
grenzenden  oder  unter  Russland  stehenden,  wie  Pomerania 
von  po  und  mor  „am  Meere'"  vgl.  des  celtische  Armorica  — 


17)  Herr  Collega  Christ  denkt   an  sanskrit.   aghavya,  „Streit, 
Kampfruf"'. 


Lautli:  iJie  Achiver  in  Aegypten.  547 

und  Morea,  den  slav.  Namen  des  Peloponneses  —  sondern  nach 
unseres  gründlichen  und  nach  seinem  Tode  besser  anerkann- 
ten Landsmannes  Zeuss  Ansicht  von  dem  slavischen  prus  (vgl. 
plesion)  „der  Nachbar"  abzuleiten.  Aehnlich  mögen  die 
Preussen  des  Alterthums,  nämlich  die  Pelasger,  ihren 
Naiven  vun  der  Nachbarschaft  am  Lande  der  Achiver  er- 
halten haben  und  die  Lautverhindung  07  eben  jener  breiten 
Aussprache  des  odv  als  Ueberbleibsel  zu  danken  sein. 

Dem  sei  indess,  wie  da  wolle:  wie  ich  in  meinem  Pro- 
gramme „Homer  und  Aegypten'  weder  die  Phaeaken  noch 
ihr  Land  (nicht  Insel)  Scheria  {px^qoe  —  %£qqoc,  %zqGoq 
trocken)  mythisch  gefunden,  sondern  in  Epirus,  dem  Festlande 
*ar'  e%o%i]v  mit  Bezug  auf  das  platauenblattförmig  gespaltene 
peloponnesische  Griechenland,  wieder  getroffen  habe,  so  sind 
mir  die  Pelasger  kein  mythischer  Name,  sondern  ein  wesen- 
haftes, den  Hellenen  benachbartes,  und  vielleicht  für  ihre 
Sprache  und  Cultur  vorstufiges  Yrolk,  dessen  Existenz  nicht 
später  als  die  der  nunmehr  monumental  erwiesenen  Aqai- 
wascha  zu  setzen  ist. 

Hr.  de  Rouge  bemerkt  zu  col.  60,  dass  die  letzten  17 
Columnen  ihm  an  Ort  und  Stelle  wie  eine  Restauration  aus 
späterer  Zeit  erschienen  seieu,  woraus  sich  die  leeren  Stellen 
erklaren  würden.  Sicherer  ist,  und  aus  Dümichen's  pl.  I  A 
mit  fünf  oben  nicht  zerstörten  Columnenanfängen,  die  den  coli. 
37 — 41  entsprechen,  ersichtlich,  dass  ein  Duplicat  des  Textes 
in  Karnak  selbst  existirt  hat.  Ja  ein  Dichter  jener  Zeit  hat  uns 
im  Papyrus  Anastasi  II  pag.  3,  4  unter  andern  die  Verse 
geliefert:  „Die  Lebu  stürzen  von  seinem  Schlage  :-  sie  werden 
getödtet  von  seiner  Schneide."  pag.  5,  2:  Die  Schardana 
führst  du  her  durch  dein  Schlachtschwert  -'■  es  züchtigt  sie 
das  Volk  der  Mahautu  (Beduinen,  ähnlieh  den  Gensdarmen 
Mazaiu  lin.  2  und  den  Naruua  (Recruten)  des  Textes)  — 
,,tiar  erfreulich  ist  dein  Kommen  nach  Theben  -:■  triuni- 
phirend  wird  dein  Wagen  gezogen  von  Händen  —  die  Iläupt- 


548     Sitzung  der  philos.-philöl.  Classe  vom  9.  Dezember  1867. 

linge  wandeln  gefesselt  vor  dir  her  -:-  du  führest  sie  vor 
deinem  Vater  Anion." 

Ist  es  nun  zufällig,  dass  Herr  Vic.  de  Rouge  in  seinem 
Artikel  auf  diese  nämliche  poetische  Production  verfallen  ist, 
wie  ich  in  meinem  zu  Ostern  nach  Leipzig  eingesendeten 
Aufsatze,  worin  ich  noch  ein  weiteres  Duplicat  (Pap.  Anast.IY,  5) 
aufgezeigt  habe,  zum  Beweise,  dass  der  zu  Theben  ange- 
schriebene Sieg  des  Meneptah  über  die  Libyer  und  die  mit 
ihnen  verbündeten  Schardana,  Schakalscha,  Tuirscha,  Aqai- 
wascha,  Maschawascha ,  Leku  und  Qahaqa  von  den  Zeitge- 
nossen anerkannt  und  dichterisch  besungen  wurde. 

Wie '?  wird  Mancher  denken,  konnte  man  hieroglyphisch 
oder  hieratisch18)  dichten?!  Unglaublich!  und  doch  verhält 
es  sich  so.  Je  zwei  durch  rothe  Punkte  in  dem  Papyrus 
unterschiedene  Halbverse  bilden  einen  Gedanken  und  da  der 
Hexameter,  ohnehin  durch  die  Hauptcäsur  in  zwei  Stücke 
zerfallend ,  in  alten  Schriften  wirklich  zweitheilig  getroffen 
wird,  so  wäre  am  Ende  auch  diese  Blüthe  der  klassischen 
Sprache  aus  ägyptischem  Boden  erwachsen?  Dieser  Gedanke 
lässt  sich  nicht  gerade  desshalb  abweisen,  weil  man  bisher 
noch  nicht  darauf  verfallen  war. 

Die  oben  dargelegte  Inschrift  des  Meneptah  wird  auch 
noch  in  anderer  Beziehung,  abgesehen  von  der  Gleichung 
Aqaiwascha  =  'Axaipos ,19)  von  hoher  Wichtigkeit  als 
geschichtlicher  Hintergrund  des  trojanischenKrieges. 
So  z.B.  für  den  bekannten  Schiffs.katalog  der  Ilias  (B  494 
sqq.)  Es  ist  nicht  zufällig,  dass  die  Pteihe  durch  die 
Boeoter  eröffnet  wird;  denn  es  heisst  v.  496: 


18)  Mit  Namen  „quae  versu  dicere  non  est"  (Horat.) 

19)  Die  in  der  Inschrift  des  Meneptah  aufgeführten  Beinschienen 
gehören  vermuthlich  zu  den  Aqaiwascha  und  bestätigen  aufs  Schönste 
Homers  tvy.ytjfiidctg  lä^aiovg.  Kommt  einmal  eine  bildliche  Dar- 
stellung zu  Tage,  so  darf  man  sicher  sein,  auch  seine  xdqr,  xofxo- 
lavxag  und  ^«/ixo/üwy«f  illustrirt  zu  sehen. 


Latäh:  Die  Achiver  in  Aegypten.  549 

ol'  #"  Yq(rtv  ive/novro  xal  AvAi'da  nsTq^eGOav.  In  Aulis 
war  aber  der  Sammelplatz  aller  Schiffe  und  von  da  lief 
die  vereinigte  Flotte  zu  ihrem  Unternehmen  aus.  Die  fünfzig 
Schiffe  der  Boeoter  mit  je  120  Mann  (also  im  Ganzen  6000) 
scheinen  sogar  einem  authenthischen  Verzeichnisse  entnommen 
zu  sein,  welches  zu  Aulis  vor  Antritt  der  Fahrt  alle  Schiffe 
umfasste.  Die  Zahl  6000  stimmt  zu  den  analogen  Ziffern 
der  Contingente  der  libyschen  Conföderation  und  ihre  spe- 
zielle Angabe  gerade20)  bei  denBoeotern  und  bei  Achil- 
leus  (II,  168—170:50x50)  dürfte  ebenfalls  auf  Aulis  als 
die  Quelle  des  Katalogs  hinweisen.  Daher  die  Ueberschrift : 
Bomxutt  rj  xura'koyog  vecov.  Die  zunächst  folgenden  Völker- 
stämme: Orchomenier,  Phoker,  Lokrer,  Euböer  etc.21) 
bestätigen  diese  Annahme,  dass  Aulis,  wie  der  Ausgangs- 
punkt für  die  Fahrt  nach  Troja,  so  auch  der  Ursprung  des 
Schiffskatalogs  gewesen. 

Noch  eine  andere  Erwägung  dürfte  gerade  die  später 
wegen  Zurückbleibens  in  der  Cultur  so  oft  bespöttelten  Boe- 
oter als  Urheber  dieses  Verzeichnisses  empfehlen.  Es  ist 
bekannt  und  ausgemacht,  dass  die  Griechen  ihre  Buchstaben 
yqumxuxa  (poinxria  und  xadur/Ca  (Herodot.)  auch  (poivixta, 
(foivixixd,  wegen  der  durch  den  Phöniker  Kadmus  geschehenen 
Uebermittelung  genannt  haben.  Auch  zeugt  die  Paläographie 
selbst  für  diese  Thatsache.  Wenn  bisweilen  die  Benennung 
yqdfifjLazu  ntkuOyixd  vorkommt,  so  steht  diess  im  schönsten 


20)  Auch  bei  den  sieben  Schiffen  des  Philoklet  v.  719,  wo  je  50 
iqiiai  zugleich  als  Bogenschützen  erwähnt  sind.  Thucydid.  I,  10. 

21)  Wem  die  öfter  (zehnmal)  vorkommende  Zahl  40  wegen  der 
biblischen  nnd  arabischen  arbainat  (40)  verdächtig  ist,  der  bedenke, 
dass  die  118G  Schiffe,  durch  die  29  Stämme  dividirt,  gerade  die  Durch- 
schnittszahl 40  ergeben.  Thucydid.  I,  10  hat  1200 ,  was  aber  bei  dem 
dann  nothwendigen  Divisor  SO  wieder  die  Durchschnittszahl  40  blank 
ergibt.  Somit  wäre  das  gesammte  Griechenheer  etwa  60,000  Mann 
stark  anzunehmen. 


550     Sitzung  der  phüos.-philol.  Gasse  vom  7.  Dezember  1867. 

Einklänge  mit  der  Vorstufigkeit  der  Pelasger  in  Bezug  auf 
die  Griechen  und  mit  ihren  speziellen  Wohnsitzen  in  Dodona 
und  Epirus  (Scherie),  wie  ich  sie  oben  wahrscheinlich  gefun- 
den habe. 

Eine  schöne  Entdeckung  vonBrandis22)  über  die  sieben 
Thore  Thebens  fügt  ein  neues  Glied  in  die  Kette  der  Beweise. 
Dieser  Forscher  hat  nämlich  mit  siegreichen  Gründen  dar- 
gethan,  dass  die  sieben  Thore  Thebens,23)  wie  di'e  sieben 
Mauern  von  Ecbatana  und  der  siebenstufiige  Baltempel  Ba- 
bylons (Herodot  I,  98,  181),  nach  den  fünf  Planeten  mit 
Sonne  und  Mond  gebildet  und  benannt  waren.  Dadurch 
erhält  die  Deutung  des  Namens  Kddfxoq,  von  Clp.  der  Orient, 
eine  nicht  unerhebliche  Bestätigung  und  Buttmann's  Ver- 
muthung,  dass  in  der  Sage  von  Kadmus  und  Europa  (ZFM 
Abend  cf.  s'geßog  dunkel)  uralte  Beziehungen  zwischen  Morgen- 
und  Abendland  enthalten  sind ,  wird  dadurch  wesentlich 
empfohlen. 

Wenn  daher  Aeschylos  in  seinem  Stücke  sntd  ini 
Grjßag  v.  159  — 165  mit  dem  ^AtiöXXwv  die  (.idxsiq'  avaöOa 
"Oyxa  als  Hauptschutzgötter  der  siebenthorigen  Stadt  an- 
rufen lässt,  so  erhält  diess  jetzt  einen  vollgültigen  Sinn,  seit- 
dem uns  die  ägyptischen  Denkmäler  die  beiden  Gottheiten 
Baal  und  Anuqa24)  als  speziell   phönizische  wie  bei  (Pau- 


22)  Zeitschrift  Hermes  II,  2  1867  —  Vergl.  Allgemeine  Zeitung 
Beilage  Nr.  282,  9.  Oct.  1867. 

23)  Cf.  II.  J  378  ttga  7iqo;  Ttixta  Btjßrjg.  Dass  die  "Oyxa  'A&dva 
der  Venus  (Freitag)  entspricht,  ist  um  so  sicherer,  als  die  ägyptische 
Venus,  nämlich  Hathor,  geradezu  auch  mit  der  Anuqa  identificirt 
wird  (DümichenRecueillV,  XXXVI,  12b,  unmittelbar  hinter  An  atha.) 

24)  Diese  vom  Auslande  in  das  ägyptische  Pantheon  frühzeitig 
aufgenommene  Göttin  bildet  als  "Avovxig  mit  der  lang  und  dem 
Xyovßcg  (Kneph,  Chnum)  die  Triade  der  Katarakten ;  auf  dem  Thier- 
kreise  von  Denderah  habe  ich  die  Anuqa  zweimal  als  Wasserfrau 
getroffen. 


Laiith  :  Die  Achiver  in  Aegypten.  551 

sanias)  kennen  gelelut  haben.  Erstem-  ist  sogar,  wie  "A-nöl- 
Xcov  (n  oder  kv  sein.  Artikel)  mit  dem  bestimmten  Artikel 
versehen:  Pe-Baal85),  und  letztere  erscheint  mit  einem  eigen- 
tümlichen Kopfputze,  den  man  die  Philisterkrone  genannt 
hat ,  weil  die  Abbildungen  der  Ohänaaniten  sie  aufweisen. 
So  viel  über  den  phöni zischen  Ursprung  gewisser 
Einrichtungen  im  kadmeischen  Theben.  Da  nun  jedenfalls 
der  Zug  der  Sieben  gegen  Theben  vor  die  Troica  füllt ,  so 
lässt  sich  das  Dasein  schriftlicher26)  Verzeichnisse,  also 
auch  die  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  eines  geschriebenen 
Schiffskatalogs  für  diese  Zeit  recht  wohl  begreifen  —  um 
so  mehr,  als  uns  die  ägyptischen  Denkmäler  dieser  und  viel 
älterer  Zeiten  nicht  nur  Schrift  in  Ueberfülle,  sondern  auch 
bildliche  Darstellungen  zeigen.  Besonders  will  ich  hier 
noch  der  Pulista  mit  ihrer  Federkrone,  die  auch  dieDan- 
auna  tragen—  und  der  Schardana27)  erwähnen,  welche  seit 
Sethosis  I  als  Gefangene  oder  als  Bundesgenossen  in  pitto- 
resker Tracht  auftreten.  Es  verdient  gewiss  Beachtung,  dass 
auch  Vicomte  de  Rouge  den  Verso  des  Papyrus  Anastasi  II, 
wie  ich  selbst  in  meinem  Aufsatze  für  die  Zeitschrift  der 
DMOr,  auf  diese  Tracht  bezieht.  Der  Text  besagt:  „Die 
Schar dana  des  grossen  Beckens,  welche  zu  den  Gefangenen 
seiner  Majestät  gehören,  sind  geschmückt  mit  Waffen  allerlei, 
in  den  Hallen ;  sie  bringen  die  Tribute  an  Getreide  und  ent- 
laden den  Inhalt  ihrer  Gespanne."  Ihr  Helm  gleicht  einer 
Pickelhaube,  nur  dass  er  oben  zwei  lunulae  zeigt  und  in  eine 


25)  Dümichen  Hist.  Insch.  Taf.  XXIV  col.  43;  Taf.  XIX  col.  33, 
34  sind  dem  Baal  die  Göttinen  Anatha  (Avains)  und  Astartha 
(AoTKQTrj)  beigesellt. 

26)  Der  Vers  Ilias  B,  340  iv  nvqi  &rj  ßovkaC  re  yivoiuxo  fttj&ea 
t'  uvdQwv  lässt  sich  auch  auf  geschriebene  Beschlüsse  deuten  (?)  cf. 
A  158:  uXiov  nt'Ati,  als  Erläuterung  hiezu. 

27)  Vergl.  Brugsch  Geogr.  II,  Taf.  IX  und  X. 


552     Sitzung  der  philos.-philol.  Classc  vom  7.  Dezember  1867. 

Scheibe  oder  Kugel,  statt  in  eine  Spitze  endigt.  Das  Schwert 
ist  pyramidal  geformt,  der  Schild  mit  (11)  Buckeln  versehen 
und  die  Gewandung  nicht  gar  einfach,  sondern  durch  Streifen 
Linien  und  Punkte  gegliedert.  Langen  Bart  und  Locke  zeigt 
das  Bild  des  Maschawascha  (Mdgveg  Herodot  IV,  191), 
während  das  des  Tuirscha  (Thiras  DTfl ,  Tursce .  Tvq- 
Orjvoi)2s)  bartlos  und  ohne  Locken  erscheint. 

Wenn  daher  vun  den  euboeischen  Abantes  II.  B  542 
gesagt  ist ,  sie  seien  om&ev  xofjbdcovvsg  gewesen ,  so  rindet 
dieser  Zug,  sowie  ähnliche  andere,  die  sich  auf  Besonderheit 
der  Tracht  und  der  Bewaffnung  beziehen ,  nunmehr  seine 
vollgültige  Erklärung  in  den  ägyptischen,  treu  porträtirenden 
Darstellungen  der  auswärtigen  Völker  und  braucht  daher 
nicht  gerade  als  ein  poetischer  Schmuck  angesehen  zu  werden. 
Liess  ja  doch  Hamilton  den  Homer  seine  Schlachtberichte 
geradezu  nach  den  ägyptischen  Darstellungen  gestalten! 

Der  griechischen  Conföderation  steht  die  trojani- 
sche feindlich  gegenüber.  Es  gereicht  mir  zu  besonderer 
Genugthuung,  auch  in  diesem  Betreffe  constatiren  zu  können, 
dass  Vicomte  de  Rouge  gleich  mir,  und  ebenso  unabhängig, 
auf  die  Gleichung  Dardani  =  Jccqöccvoi,  die  von  Brugsch 
(Geogr.)  noch  ausdrücklich  verworfen  wurde ,  gekommen 
ist,29)  nicht  aber  wegen  des  verführerischen  Gleichklanges, 
sondern  gestützt  auf  die  Inschriften  und  Texte,  namentlich 
das  Gedicht  des  Pentaur  über  die  Grossthat  des  Ramses  II 
Sesostris ,  welcher  die  Cheta  und  ihre  Verbündeten  bei 
Qadesch  besiegte.  In  dieser  grossen  vorderasiatischen  Con- 
föderation erscheinen  neben  den  Dardani  auch  die  Pidasa 
(IIr}dcc6og),  die  Leku  (Lykier),  die  Tekkaru30)  (Tsvxqoi), 

28)  Brugsch  1.  c. 

29)  Revue  arch.  August  1867. 

30)  Auch  Tekuri  geschrieben  (Brugsch  Geogr.  II,  Taf.  XI  Fig.  25). 
Sie  tragen  die  Philister  kröne,  und  erweisen  sich  dadurch  als 
Stammesgenossen    der  Pulista  [4>v^iartifj).     In    der  That  würde  ihr 


Lauth:  Die  Achiver  in  Aegypten.  553 

die  Mausa  (Mvoof)  und  einige  andere,  noch  nicht  identifi- 
cirbare  oder  hieher  gehörige  Völker.  Die  Analogie  gebietet 
demnach,  auch  in  den  Versen  des  Ilias  (B  816  —  877),  welche 
die  Troer  und  ihre  fremdsprachigen  (II.  B.  804)  Bundes- 
genossen behandeln,  nicht  blos  die  Möglichkeit,  sondern 
auch  die  Wirklichkeit  eines  geschichtlichen  Kernes  anzuer- 
kennen. Der  Ort,  wo  die  Troer  und  ihre  Verbündeten  sich 
aufstellten:  Barieict  (öf^ia  noXvöxaQ&iioio  MvQivrjg31)  in 
der  Göttersprache)  hat  einen  durchsichtigen  Namen.  Er 
bedeutet  eine  dornichte  Höhe,  wie  üirveia  (v.  829)  eine 
mit  Fichten  bewachsene. 

Auf  die  Frage :  wie  es  komme ,  dass  auch  auf  troja- 
nischer Seite  neXaOyoi  (B  840)  erscheinen :  dass  Tsvxqos 
auch  ein  griechischer  Name  ist,  dass  der  hellenischen  JSXe'vi) 
auf  trojischer  Seite  ein  "EXsvog  entspricht  —  kann  hier  nicht 
eingegangen  werden.  Nur  so  viel  möchte  zu  bemerken  sein, 
dass ,  sowie  uns  das  kadmeische  Theben  eine  Amalgamation 
phönikischen  und  pelasgisch  -  griechischen  Wesens  darstellt, 
so  auch  analog  Pelasger  in  Vorderasien  ihr  Larissa  {AagiGct 
B  841)  gründen  und  zu  den  Dardanern  in  das  Verhältniss 
von  Bundesgeuossen  gerathen  mochten. 

Habe  ich  durch  die  bisher  ermittelten  Symptome  die 
Geschichtlichkeit  mancher  Angaben  der  Ilias  darzuthun  ge- 
sucht, so  erhält  der  trojanische  Krieg  selbst  dadurch 
einen  historischen  Boden  von  ziemlicher  Mächtigkeit. 

Schon  die  Alten  betrachteten,  wie  Herodot  I  1 — 5  aus- 
führt, dt'n  trojanischen  Krieg  unter  demselben  Gesichtspunkte, 


Name  regelrecht  aus  ^j  mas,  «('(>w  entstehen  und  die  „Mann  Hohen" 
oder  „Martialischen"  bedeuten.  Diese  eigentümliche  Kopfbedeckung 
erklärt  uns  das  xo<n<[h<iolo$  "Exrtaq  besser,  als  die  bisherigen  Ueber- 
setzungen:  ,.helmbuschschüttelndL>  und  ,,eristatus". 

31)  Man  vergl.  den  Hügel  fTHtö  Morijah  mit  dem  Salomonischen 
Tempel,  wenn  auch  nur  zu  mnemotechnischem  Zwecke. 


554      Sitzung  der  pJälos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

wie  den  Raub  der  Jo  durch  die  Phöniker  (Punt-Poeni, 
Punier) ,  die  Entführung  der  Europe  durch  Hellenen, 
(Kreter?)  —  vergl.  oben  Kadmus  und  Europa  —  den  Zug 
der  Argonauten  nach  Kolchis  unter  Jason,  um  das  goldene 
Vliess  und  die  Mr^ösia  zu  holen ;  auch  in  der  Sage  über 
(pQil-og  und  "Eklrj  scheint  eine  alte  Beziehung  zwischen  Phry- 
giern  und  Hellenen  angedeutet  zu  sein.  Der  pragmatisirende 
Thycydides  I  1— 12  hebt  das  Seeräuberwesen  des  alten 
Hellas  gebührend  hervor  und  erklärt  ziemlich  nüchtern  die 
lange  Anwesenheit  der  Griechen  auf  trojanischem  Boden 
(c.  11)  unter  andern  auch  daraus,  dass  sie  sich  nqog  yecog- 
yiav  xr^g  XeQQorrföov  XQccTtößsvoi  xal  hjGxsiav  nicht  mit 
aller  Gewalt  auf  die  Troer  warfen,  wesshalb  diese  ihnen  zehn 
Jahre  Widerstand  leisten  gekonnt.  Vergleicht  man  hiemit 
Verse  wie  II.  T  72,  93,  255  etc. 

Rcrjiictff   sXuh*  sv  Tcävxa,  yvvaixd  xs  oTxad'  dysG&M  — 
so  fühlt  man  sich  versucht,    die  'EXs'vrj  selbst  als  eine  Per- 
sonifikation des  Raubes  {eXslv)  aufzufassen  und  den  Namen 
Jldqig  von    -flS    „der  Trenner"32)  zu  erklären,  wie  Hero- 
dot.  I  1    die  Phöniker  nach  persischer  Quelle  als  xfjg   dia- 
yoqfjg  alxiovg  darstellt.  Daher  ruft  Hector  r  86,  87 
xe'xkvxe  fisv,    Tqcosg  xal  ivxvrj^uSsg  Uftaifot, 
ixv&ov  'AfegdvdQOlo,  xov  sl'vsxa  veixog  oqcaqsv. 
und  Menelaos   spricht    V    100:   'AXsgdvdqov    Hvsx'    axrjg, 
wie  auch  Helena  Z  356.  Näher  scheint  mir  auf  die  Etymo- 
logie des  Namens  angespielt  zu  sein  in  den  Versen  -T  321  sqq: 


32)  Aus  dem  Semitischen  würde  sich  auch  Keßgiöv^g ,  der  vo&og 
vlog  des  llgiapog  II  738  erklären;  denn  gebur  (ll2D)  bedeutet  Held 
und  wird  das  Wort  im  Texte  Ramses  III  Kepur  geschrieben  (vergl. 
Apriu  =i  'Eßgatoi).  Demnach  scheint  Homer  H  751  in  KsßQioi'y 
rj()(üi  Namen  und  Bedeutung  nebeneinander  zu  geben. 


Lanth:  Die  Achiver  in  Aegypte».  555 

dnndrsQoq  rdds  i'qyct  f.ier'  df.i(fotäQoiüiv  £\h)xsvy 

rov    6dg  dno<fx)-i(X€Vov  dvrca  döfxov  "Aidog  stüto  — 
womit   nur  Paris    gemeint    sein   kann,    um    so    bemerkens- 
werter, als  diese  Ansicht  den   Achäern  und  Troern  ge- 
meinschaftlichbeigelegt wird,  wie  auch  T455  hov  yÜQ  o<piv 
TiäOiv  dn^xd-sro  xijqX  fieXaivrj, 

Paris  ist  eigentlich  nur  eine  menschliche  Nachbildung 
der  "Eyig,  wie  sie  besonders  A  73  sqq.  erscheint  (Vergl. 
<I>  359,  360);  r  100:  il'vfx  £/t*~c  sgidog  xai  'JXegdvdyov 
Hvex  äv^g.  Wenn  wir  nun  gegenwärtig  in  der  oben  behan- 
delten Inschrift  des  Meneptah  ähnliche  Verhältnisse  berichtet 
finden :  einen  Raubzug  ausgeführt  von  einer  (Jonföderation 
verschiedenen  ■achiger  Stämme  (äXXrj  <T  a'XXtov  yXwOöct  no- 
XvOTteqeoiV  äv&QoSntov  II.  B  804)  mit  eigenthümlicher  Phy- 
siognomie. Haltung,  zum  Theil  pittoresker  Kleidung,  Be- 
waffnung; wenn  gesagt  wird,  dass  sie,  wie  zu  bleibender 
Niederlassung  ihre  Frauen  und  Kinder  mitbrachten  (II.  K 
420  heisst  es  von  Bundesgenossen  der  Trojaner,  offenbar 
im   Sinne  einer  Ausnahme: 

ov  yctg  0(fiv  netto  sg  ö/frfoV  al'arai.  oi>6i  yvvatxeg  — ) 
wenti.  wie  natürlich  zu  erwarten,  die  Besiegten,  soweit  sie 
nicht  getödtet  waren,  sammt  ihren  Weibern  und  Kindern 
gefangen  genommen  und  als  Sclaven  behandelt  oder  ver- 
kauft wurden  —  wenn  der  ägyptische  Pharao  bei  Nennung 
seiner  Feinde  niemals  vergisst,  beschimpfende  Beiwörter  zu 
gebrauchen,  die  aus.  analogen  Vergleichen  hergenommen 
sind,  wie  die  Schimpfreden  der  homerischen  Helden:  so 
bildet  dieses  Gemälde,  in  welchem  ebenfalls  Schiffe  fjgu- 
riren,  einen  Hintergrund  für  die  trojischen  Ge- 
schichten, wie  er  zu  der  Erklärung  Homers  nicht  besser 
herbei  gewünscht  werden  kann.  Ich  habe  mich  schon  in 
meinem  Programme:  „Homer  und  Aegypten"  p.  (i  gegen 
die  Sucht,  die  homerischen  Völkernamen  als  mythische 
hinzustellen,  offen  ausgesprochen.     Die  dort    angeführte  Be- 


556  Sitzung  der  phüos.-philol.  Ciasse  vom  7.  Dezember  1867. 

merkung  von  Ameis  zu  v  383:  ,,2ixeXovg,  mythischer  Name 
einer  Völkerschaft,  die  einen  berüchtigten  Sclavenhandel 
trieb"  —  veranlasst  mich,  an  den  Sikelern  noch  etwas  aus- 
führlicher zu  zeigen,  dass  Homer  acht  geschichtliche  Völker- 
namen  überliefert. 

Dass  die  Siculer  vor  der  nach  ihnen  benannten  Insel 
einen  ziemlichen  Theil  des  hesperischen  Festlandes  bewohn- 
ten, wissen  wir  aus  Thucydides,  welcher  meldet,  dass  sie 
vor  ihrem  Ueberschreiten  der  Meerenge  (300  Jahre  vor  der 
Ankunft  griechischer  Colonien  auf  Sicilien)  und  noch  zu 
seiner  Zeit,  Italien  bewohnten,  wo  sie  Spuren  der  ursprüng- 
lichen Anwesenkeit  ihres  Stammes  gelassen  hätten.  Der 
Betrieb  des  Sclavenhandels,  welcher  ihnen  nach  Homer33) 
nicht  abgesprochen  werden  kann ,  setzt  eine  Seemacht  vor- 
aus. Wirklich  erscheinen  sie  im  Texte  des  Meneptah  mit 
den  Schardana  und  Aqaiwascha  als  Völker,  ,,die  gekommen 
von  den  Ländern  des  Meeres" ,  womit  augenscheinlich 
Küstenstriche  gemeint  sind.  Waren  sie  diesmal  gegen 
Meneptah  in  ihrem  Unternehmen  unglücklich  —  222  abge- 
schnittene Phallus  und  250  ditto  Hände  bezeichnen  ihren 
Verlust  an  Todten;  —  die  Zahl  der  aus  ihren  in  Gefangen- 
schaft und  Sklaverei  gerathenen  steckt  in  der  Gesammt- 
summe  9376,  sowie  ihre  Waffen  auch  gemeinschaftlich  mit 
der  übrigen  Beute  aufgeführt  wird  —  so  konnten  sie  ein 
ander  Mal  Erfolg  haben  und  selbst  Schlaven  und  Schätze 
erbeuten.  Wir  treffen  sie  wirklich  wieder  unter  RamsesIII. 
unter  der  angreifenden  Coalition,  leider  wieder  ohne  Zahl, 
doch  mit  Abbildung.  Was  nun  den  Namen  betrifft,  so  ist  Scha- 
kal seh  a  mit  2ixsXdg  leicht  zu  vereinigen  ,  wenn  man  das 
Vage  des  ägyj (tischen  a  —  es  ist  =  s  im  Namen  der 
KlsondxQct  —  und  die  von  mir  frühzeitig  entdeckte  Gelt- 
ung des  altgriechischen  Oav   =  seh  überlegt.     Dieser  breite 

33)  Cf.  Ottlr.  Müller  Etrusker  p.  10. 


Lauth:  Die  Achiver  in  Aegypten.  557 

Zischlaut,  den  die  alterthümlichen  Dorier  am  längsten  bei- 
behielten und  der  noch  heute  bei  den  Palikaren  von  Aeolien 
gehört  wird,  ist,  wie  ich  nachgewiesen,  auch  palaeographisch 
aus  dem  ägyptischen  seh  ei  entstanden,  wie  nicht  minder 
das  semitische  Vf.  Dieser  breiten  Sibilante  schlägt  im 
Aegyptischen  gewöhnlich  ein  a  nach,  das,  nach  Mascha- 
wascha  =  Mdgvsg,  zu  schliessen,  nicht  nothwendig  lautirt 
werden  muss.  Es  könnte  aber  auch,  wie  so  häufig,  nur 
eine  graphische  Metathesis  für  Schakelasch  sein,  womit 
man  dem  2ixsX6g  (man  bemerke  den  Accent!)  bedeutend 
näher  kommt.  Dabei  bemerke  man,  dass  der  Schakalasch 
(Brugsch  Geogr.  II.  p.  85)  ganz  dieselbe  Federkrone  tragt, 
wie  der  Pulista,  Tekuri,  und  Daanauna,  deren  semiti- 
sches Gepräge  augenfällig  ist  (Cf.  Daneon  portus  maris 
rubri  bei  Plinius  VI  c.  29).  Für  den  semitischen  Ursprung 
der  Sikeler  spricht  auch  Sicania  (vgl.  Sicca  Venerea  = 
Succoth  benoth)  nach  den  Höhlen  m'3p,  welche  jetzt  noch 
bei  Syraeus  zu  sehen  sind  (Seume  Spaziergang  p.  232.). 

Welcher  Sprache  dieser  Name  angehört,  ist  demnach 
ziemlich  leicht  zu  beantworten.  Beachtet  man  den  gleichen 
Uebergang  der  Vokale,  wie  er  in  Oi'yXog  GixXog  siclus  im 
Vergleiche  zu  2ixsX6g,  Siculus,  vorliegt,  so  ist  man  fast  ge- 
nöthigt,  Schakalscha  mit  dem  semit.  bj)W  Schekel  zusammen- 
zustellen. Dieser  Name  eines  Gewichtes  von  V2  Loth  oder 
eines  Werthes  von  dem  retQccSQaxiiog,  stammt  von  der 
Wurzel  schakal  ,, wägen"  was  für  ein  handeltreibendes 
Volk  eben  keine  unpassende  Benennung   abgeben  würde. 

Da  uns  unser  ägyptischer  Text  auch  das  Prototyp  von 
Tursce  an  die  Hand  gegeben  hat,  so  wird  es  nicht  über- 
flüssig sein,  etwas  bei  diesem  Namen  zu  verweilen.  Die 
Tuirscha34)  verloren  in  der  Schlacht  von  Paari  742  Phallus, 


34)  Das    sc  ha   anlaugend,    vergleiche    men    das     Rexuscha  = 
Rexus  bei  Mommsen:  Unteritalisch.  Diall.  p.  6. 

[1867.  II.  4]  37 


558        Sitzung  der  philos.-philol.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

790  Hände  und  eine  entsprechende  Anzahl  Gefangene.  Es 
heisst  von  ihnen,  dass  sie  von  den  Ländern  des  Meeres  ge- 
kommen ,  dass  sie  den  ganzen  Krieg  begonnen  und  ihre 
Weiber  und  Kinder  mitgebracht  hatten.  Auf  dem  Schlacht- 
gemälde von  Ramses  III.  hat  der  Tuirscha  eine  feine, 
geradestehende  Nase,  langen  Spitzbart;  sein  Helm  gleicht 
den  etruskischen  Casketen,  nur  ist  er  etwas  höher  und  spitz- 
zulaufend. 

Schon  hieraus  dürfte  erhellen,  dass  die  Tuirscha  den 
tyrrhenischen  Pelasgern  entsprechen,  wie  von  Ottf. 
Müller  und  Lepsius  schon  längst  behauptet  worden  ist.  Da- 
mit wird  zugleich  die  alte  Etymologie  etwas  bestätigt, 
welche  diesen  Volksnamen  mit  turris  xvoOiq  Thurm  zu- 
sammenbrachte, weil  die  Tursker  frühzeitig  mit  Mauern 
und  Thürmen  befestigte  Städte  gründeten  und  bewohnten. 
Diese  Gleichstellung  verhilft  uns  vielleicht  zu  der  früher 35) 
schon  von  mir  ausgesprochenen  Ueberzeugung ,  dass  die 
Tursker  Indogermanen ,  also  die  etruskischen  Inschriften 
demgemäss  zu  erklären  sind.  Indess,  wenn  auch  solche 
sprachliche  Vergleichungen  noch  zu  wünschen  übrig  lassen, 
so  werden  uns  doch  Texte  der  ägyptischen  Denkmäler,  wie 
der  des  Meneptah,  zu  einer  ungleich  besseren  Kenntniss  des 
Realen  im  Alterthume  und  bei  den  Klassikern  verhelfen, 
als  sie  mit  den  bisherigen  Mitteln  zu  erreichen  war.  Möge 
Vorstehendes  zu  weiteren  Forschungen  auf  diesem  grossen 
Gebiete  anregen. 


35)  „Die    Geburt    der  Minerva    auf   der    Cospianischen   Schale" 
Programm  des  Wilhelms-Gymnasiums  in  München  1852. 


v.  Martins:  Beitrüge  zur  Ethnographie  etc.  Amerika' 's.       559 


Mathematisch -physikalische  Classe. 

Sitzung  vom  7.  Dezember  1867. 


Der  Classensecretär  Herr  Geheinirath  v.  Martius  legt 
der  Classe  seine : 

„Beiträge    zur    Ethnographie  t  und    Sprachen- 
kunde Anierika's,  zumal  Brasiliens" 
vor,  und  bemerkt  nach  Anderm  Folgendes: 

Bei  mir  war  durch  die  Erfahrung  von  der  ausser- 
ordentlichen Zersetzung  und  Vermischung  der  amerikanischen 
Bevölkerung  die  Annahme  gewaltiger  Katastrophen  vorbereitet 
worden,  welche  gegenwärtig  ihre  Bestätigung  in  den  merk- 
würdigen antiquarischen  Entdeckungen  in  Guatemala,  Hon- 
duras und  Mexico  findet.  Die  neuerlich  gewonnenen  Thatsachen 
scheinen  die  Hypothese  zu  rechtfertigen  :  dass  die  Amerikaner, 
als  ein  grosses  Ganze  aufgefasst,  sich  dermalen  bereits  nicht 
blos  in  einem  secundären  sondern  vielmehr  in  einem  tertiären 
Zustande  befinden. 

Da  anthropologische  Resultate,  dergleichen  vorzugsweise 
in  den  Bereich  der  mathematisch-physikalischen  Classe  fallen, 
bei  meiner  ethnographischen  Darstellung  nothwendig  in  den 
Hintergrund  treten  müssen  ,  so  wage  ich  nicht  ausführlicher 
über  meine  Arbeit  zu  referiren. 

Nur  das  Einzige  sei  mir  erlaubt  hier  noch  auszuführen, 
dass  mir  die  Tupi-Sprache ,  welche  gegenwärtig,  mehrfältig 
abgewandelt,  zu  einer  Lingua  franca  geworden  ist,  ein  Mittel 
an  die  Hand  gegeben  hat ,  viele  sogenannte  Völkerschaften 
(Nacoes)  als  das  zu  erkennen ,  was  sie  in  der  That  sind, 
nämlich  einzelne  Familien    oder    kleine  Gemeinschaften ,    die 

37* 


560       Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867, 

ohne  eine  abgeschlossene,  ihnen  eigenthümliche  Sprache,  in 
beständiger  Vermischung  mit  Andern  und  in  einem  fort- 
währenden Umguss  der  Leiber  begriffen,  in  ihren  Sitten  und 
Gebräuchen  aber  zu  einer  gewissen  Gleichförmigkeit  mit  vielen 
andern  nivellirt  sind. 

In  vielen  Flussgebieteu  ,  deren  jedes  seine  Natureigen- 
thümlichkeiten  hat  und  dadurch  das  Leben  der  Indianer 
beeinfiusst,  haben  sich  die  Nachbarn  zu  einer  gewissen  Ge- 
meinschaft zusammengelebt,  und  werden  desshalb  auch  oft 
als  ein  grösserer  und  mächtiger  Stamm  mit  einem  Namen 
bezeichnet,  so  z.  B.  die  Pamauris  oder  Purupurus  am  Puruz, 
die  Arinos  und  Guaupes  an  den  Flüssen  gleichen  Namens. 
Sie  sprechen  aber  nichts  destoweniger  in  jedem  Gau ,  im 
Gebiete  eines  jeden  Nebenflusses  einen  mehr  oder  weniger 
verschiedenen  Dialekt  (oder  richtiger  ein  Kauderwälsch,  Geri- 
gonza ,  Giria) ,  worein  Worte  der  Tupi-Sprache  in  verschie- 
denem Verhältniss  eingemischt  sind.  So  schwinden  die  Hunderte 
von  Nationen ,  die  man  nennen  hört ,  in  wenige  grössere 
Gruppen  zusammen;  aber  auch  diese  darf  man  nicht  als 
Völker  in  historischem  Sinne  betrachten.  Während  des  „todten" 
Schraubenganges,  in  welchem  die  Geschicke  der  amerikan- 
ischen Menschheit  seit  Jahrtausenden  begriffen  sind,  hat 
keiner  der  gegenwärtig  angenommenen  Stämme  ein  hohes 
Alter.  Es  ist  an  diesen  regellos  umherschweifenden  oder  die 
Sitze  wechselnden  Menschen  nichts  so  alt  als  ihre  sich  stets 
erneuernde  Vermischung.  Daher  kommt  es  auch,  dass  ein 
und  derselbe  Volks-  oder  Stamm-Name  an  Menschengruppen 
ertheilt  wird ,  die  weit  von  einander  entlegen  sind  und  in 
keinem  näheren  Verhältniss  der  Abstammung  zu  einander 
stehen.  So  ist  z.  B.  der  Name  Gi-uära,  d.  i.  obere  Männer 
oder  Leute  die  (weiter)  oben  wohnen,  eine  am  hohen  Ama- 
zonas und  seinen  südlichen  Beitiüssen  (dem  Guallaga,  Ucay- 
ale  u.  s.  w.)  weitverbreitete  Bezeichnung  für  eine  sehr  gemischte 
Bevölkerung,    und  das  Wort,    in  Jivaros,    Jeveros,    Jeberos 


v.  Martius:  Beiträge  zur  Ethnographie  etc.  Jmerika's.       561 

umgewandelt,  bezeichnet  oft  auch  keine  reine  Indianer-Ge- 
meinschaft ,  sondern  Mischlinge  von  Negern  und  Cafusos 
(aus  Indianer  und  Neger).  Die  Guaypunavis  der  Spanier  am 
Orinoco  und  die  Maquiritares,  welche  Alex.  v.  Humboldt 
als  eine  von  den  vier  weissesten  Nationen  am  obern  Orinoco 
nennt,  lassen  sich  auch  auf  keine  selbstständige  Nationalität 
zurückführen.  Der  erstere  Name  bedeutet  die  Sperber-Männer 
(guibo,  Sperber;  aba  zusammengezogen  aus  apiaba  Männer), 
eine  Bezeichnung,  die  vielen  nomadisirenden  Indianer  gegeben 
und  in  der  französischen  Colonie  in  Emerillons  übersetzt 
wird.  Die  Maquiritares  sind  die  Hangmatten-Diebe,  die  Ta- 
rianas  die  Diebe  überhaupt,  die  Miranhas  die  herumstreifenden 
(nhanhe)  Leute  (Myra) ,  die  Giporocas ,  jene ,  welche  ihre 
Häuser  (oca)  oben  haben.  Unter  Birapugapara,  die  in  Matto 
Grosso  und  am  Tapajoz  augegeben  werden,  ist  keine  Nation 
zu  verstehen :  es  sind  Vogelsteller  nnd  ebenso  die  Parapitatäs 
solche,  die  Nachts  mit  Feuer  in  den  Kähnen  zu  fischen 
pflegen. 

Der  Tupi-Sprache  angehörende  Namen  von  Indianer- 
Gemeinschaften  kommen  weit  jenseits  der  Grenzen  Brasiliens 
in  der  Guyana  und  in  Venezuela  vor,  wie  z.  B.  Giräo-uara, 
Pfahlbauten-Männer  (Warraus). 

Ausser  den  hie  und  da  in  Brasilien  auftauchenden  Tra- 
ditionen von  den  Wanderungen  nach  Norden  und  dem  sieg- 
reichen Eindringen  der  kriegerisch  wohlorgauisirten  Tupis 
zwischen  die  dort  wohnenden  Stämme,  lassen  viele  Ortsnamen 
und  Worte  in  der  Sprache  der  Caraiben  auf  den  an  tillischen 
Inseln  unter  dein  Winde  kaum  einen  Zweifel  darüber,  dass 
man  diese  Tupis  in  nächste  Beziehung  mit  dem  sogenannten 
Volke  der  Caraiben  bringen  muss.  Ja,  noch  mehr,  ich  halte 
mich  zu  der  Annahme  berechtigt,  dass  es  ein  einheitliches 
Volk  der  Caraiben  nicht  gegeben  habe,  sondern  dass  die 
Tupis  zwischen  die  dort  hausenden  Horden  eindringend  und 
sie    unterwerfend     oder     zu    Theilnehinern     ihrer    Raubzüge 


562  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

machend  Veranlassung  gegeben  haben,  zu  jener  Unterscheidung 
zwischen  einer  friedfertigen  Bevölkerung  und  grausamen 
Anthropophagen  (Caraiben,  d.  i.  Cariaiba,  böse  Männer), 
welche  schon  Columbus  antraf.  Sie  setzten  den  überwundenen 
Horden  Häuptlinge  (Porocotö ,  von  Pora  Volk  und  cotuc 
ordnen) ,  und  die  Bezeichnung  von  Cumanacotes ,  Pariacotes 
für  die  Bewohner  von  Cumana  und  Paria ,  u.  s.  w.  ist  ein 
Rest  jener  Hegemonie .  während  die  Verbindung  der  sieg- 
reichen Eindringlinge  mit  andern  Stämmen  den  Verlust 
ihrer  Sprache  und  eine  tiefgreifende  Vermischung  der  leib- 
lichen Typen  zur  Folge  gehabt  hat.  Auch  in  der  Sprache 
der  Insel  -  Caraiben  finden  sich  Beweise  für  diese  Annahme, 
indem  sie  viele  Tupi- Worte  verdorben  enthält.  So  ist  z.  B. 
der  Amazonenstein,  ein  Amulet  oder  „Zauberstein"  Jta  curao 
zu  Tacaoua  oder  Taculoua  geworden.  Auf  Trinidad  und 
mehreren  der  kleinen  Antillen  stiessen  diese  kriegerischen, 
sich  zu  Wasser  und  zu  Land  ausbreitenden  Tupis  unter  an- 
dern Stämmen  auch  auf  die  milderen  Arawaken  (Aruac), 
welche  fleissig  Mandioccamehl  (Aru)  bereiteten,  und  desshalb 
die  „Mehlmänner"  genannt  wurden.  Bis  in  das  Mosquitos- 
Land  drangen  diese  Tupis  vor,  und  zahlreiche  Ortsnamen 
bezeugen,  dass  sie  hier,  an  der  Küste,  zur  Zeit  vorherrschten. 


v.  KobeU:  Typ.  und  empir.  Formeln  in  der  Mineralogie.         563 


Herr  v.  Kobell  liest 

„Ueber  die    typischen    und    empirischen  For- 
meln in  der  Mineralogie". 

Die  Typentheorie  wählt  bekanntlich  gewisse  chemische 
Verbindungen  als  Typen  für  andere ,  welche  mit  Austausch 
ihrer  Elemente  nach  Atomen  oder  auch  Atomgruppen  jenen 
gleichgebildet  erscheinen.  Die  wichtigste  Rolle  spielt  nam  ent- 
heb für  die  Oxyde  und  Oxydverbindungen  der  Typus  des 
Wassers,  indem  dessen  Wasserstoff  durch  die  Elemente 
solcher  Verbindungen,  welche  nicht  Sauerstoff  sind,  in  der 
Art  ersetzt  wird ,  dass  von  diesen  entweder  1  Atom  auch 
1  Atom  Wasserstoff  ersetzt,  oder  dass  1  Atom  2  Atome 
Wasserstoff  ersetzt  oder  3,  4,  6  etc.  Diese  Ersetzungs- 
fähigkeit  verschiedener  Elemente  hat  man  deren  Atomig- 
keit  genannt.  So  sind  Chlor  und  Fluor  einatomig,  weil 
1  Atom  derselben  1  Atom  Wasserstoff  ersetzt,  ebenso 
Kalium,  Natrium  u.  a. ;  dagegen  sind  Sauerstoff,  Schwefel, 
Calcium,  Magnesium  etc.  zweiatomig  und  ersetzt  1  Atom 
derselben  2  Atome  Wasserstoff;  Silicium  ist  vieratomig, 
Aluminium  sechsatomig  u.  s.  w. 

Die  neuere  Chemie  hat  die  Atoraigkeit  der  verschie- 
denen Elemente  oder  auch  gewisser  Gruppen  derselbe  (Ra- 
dikale) ausgemittelt  und  danach  chemische  Formeln  ent- 
worfen und  sind  die  in  der  Natur  vorkommenden  Silicate 
von  ihr  dem  Typus  des  Wassers  zugetheilt  oder  auf  analog 
gebildete  Kieselsäuren  (Kieselsäurehydrate)    bezogen  werden. 

Es  entsteht  nun  die  Frage,  ob  es  für  die  Mineralogie 
zweckmässig  sei ,  ihre  bisherigen  chemischen  Formeln  auf- 
zugeben und  die  neuen  der  Typentheorie  einzuführen.  Eine 
Betrachtung  der  Silicate  in  dieser  Beziehung  dürfte  zur  Be- 
antwortung dienen. 


564       Sitzung  d^r  math.-phys.  Ciasse  vom  7.  Dezember  1867. 

Was  zunächst  das  Hypothetische  an  den  älteren  und 
neueren  Formeln  betrifft,  so  haben  beide  daran  gleichen 
Antheil,  denn  in  welchem  Zustande  die  Elemente  in  einer 
chemischen  Verbindung  wirklich  vorhanden,  wissen  wir  nicht, 
und  die  Begriffe  der  Atomigkeit  und  die  Aufstellung  der 
Radikale  haben  das  Gebiet  der  Hypothesen  eher  erweitert 
als  verringert1). 

Es  handelt  sich  daher  bei  den  Formeln  wesentlich 
darum,  mit  Hilfe  von  Hypothesen  solche  zu  geben ,  welche 
der  Art  und  dem  Verhalten  der  betreffenden  Verbindung 
möglichst  entsprechen  und  geeignet  sind,  eine  Vergleichung 
mit  andern  in  einfacher  Weise  zu  vermitteln,  auch  Anhalts- 
punkte zur  Beurtheilung  der  Analysen  zu  geben  und  un- 
wahrscheinliche Verhältnisse  als  solche  zu  kennzeichnen. 
Dabei  offenbaren  sich  gewisse  Gesetze,  welche  an  den  ein- 
facheren Verbindungen  zunächst  erkannt,  in  den  complicir- 
teren  wiedergefunden  werden  und  die  Combinationen  regeln 
und  *  beschränken. 

Wenn  die  Mathematik  angiebt,  wie  aus  einer  bestimm- 
ten Krystallform  alle  übrigen,  die  man  kennt  oder  die  man 
haben  will,  abgeleitet  werden  können,  so  offenbart  sie  da- 
mit kein  Naturgesetz,  und  wenn  jedes  Silicat,  auch  ein  ganz 
willkührlich  erdachtes ,  auf  eine  "Siliciumsäure  bezogen  und 
dem  Typus  des  Wassers  zugetheilt  werden  kann,  so  ist  da- 
mit ebensowenig  ein  Naturgesetz  angezeigt.  Das  ist  aber 
nach  den  neueren  Anschauungen  bei  den  Silicaten  der  Fall. 

Weltzien2),  welcher  den  grössten  Theil  der  bekannten 
Silicate  berechnet  und  nach  der  Anzahl  der  Siliciumatome 
classificirt    hat,    fuhrt    über  100  Siliciumsäuren  (Kieselerde- 


1)  Vergl.    Wittstein.  „Widerlegung   der   chemischen  Typenlehre. 
München  1862." 

2)  Systematische  Uebersicht  der  Silicate.     Gieseen  1864. 


v.  Kobell:  Typ.  und  empir.  Formeln  in  der  Mintralötjie.         565 

hydrate)  an  und  darunter  Reihen  von  gleichem  Silicium- 
gehalt,  deren  gesain  tute  Sauerstoffatome  sich  in  fortlaufen- 
den Zahlen  von  15  bis  28  und  von  19  bis  36  steigern; 
diese  Säuren  sind,  ein  Paar  ausgenommen,  sämmtlich  hypo- 
thetisch und  da  keine  Schranke  besteht,  dergleichen  noch 
mehr  anzunehmen,  so  erscheint  jedes  Silicat  als  gesetzmässig 
gebildet,  wenn  es  auch  ganz  beliebig  construirt  ist.  Da 
nämlich  die  Atomigkeit  der  in  den  Silicaten  vorkommenden 
Elemente  doppelt  so  gross  genommen  ist,  als  die  Zahl  der 
Sauerstoffatome,  welche  sich  mit  ihnen  im  Silicat  verbinden, 
so  muss  immer  eine  Mischung  vom  Typus  des  Wassers  ent- 

VI 

stehen.     So    ist    AI    -f-   30   =  6H  -f    30; 

Ca  +  0  =  2H-f  0;  K2  +  0  =  2H  -f  0  u.  s.  w. 

Die  Kieselerde  wird  Si  gesetzt  und  ihre  Atomigkeit  als 
IV  angenommen,  es  verbinden  sich  also  n  At.  Silicium  mit 
2n  At.  Sauerstoff  und  da  n  At.  Si  =  4nAt.  H,  so  stellt 
sich  der  Wassertypus  her,  da  4  At.  H  -f-  2  At.  0   =  H  = 

Wasser.  Es  ist  noch  streitig,  ob  die  Kieselerde  Si  oder  Si, 
wenn  letzteres  angenommen  wird ,  so  müsste  die  Atomigkeit 
der  Kieselerde  auf  VI  erhöht  werden,  dann  wäre  es  wieder 
das  Nämliche.  Ich  habe  mehrmals  daran  erinnert,  dass 
wenn  man  sich  für  Si  auf  den  Isomorphismus  gewisser 
Fluoride  mit  Zinn  und  Silicium  beruft,  doch  die  zunächst 
liegende  und  überall  zu  beobachtende  Thatsache,  dass  der 
Quarz  und  der  Zinnstein  nicht  entfernt  isomorph  sind,  auch 
in  Betracht  zu  ziehen  sein  dürfte  und  dass  dieses  Verhält- 
niss  mehr  für  eine  verschiedene  als  für  eine  analoge  Zu- 
sammensetzung der  betreffenden  Oxyde  spreche.  —  Um  ein 
Beispiel  zu  dem  oben  Gesagten  anzuführen .  so  ist  die 
typische  Formel   des  Leucit 


566         Sitzung  der  math.-pkys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 


AI 
K2  J 

entsprechend:  Kieselerde  54,9 
Thonerde  23,6 
Kali  21,5 


012*) 


100 

Wenn    man    diese  Mischung   um  ein  Kleines  verändert, 
z.  B.  setzt:     Kieselerde  56,4 
Thonerde    22,8 
Kali  20,8 

100 

so  giebt  die  Typentheorie  ohne  Schwierigkeit  die  Formel 

Si17 

Bei  einer  Reihung  der  Silicate  nach  der  Zahl  der 
Silicium-Atome  kämen  diese  Mischungen  weit  auseinander, 
obwohl  sie  sich  so  nahe  stehen,  dass  die  Differenz  als  un- 
wesentlich betrachtet  werden  muss.  Dieses  Nahestehen  tritt 
aber  beim  Anblick  der  Formel  nicht  sogleich  hervor.  Sucht 
man  dagegen,  nach  der  bisher  üblichen  Weise  eine  Formel 
für  das  letztere  Silicat,  wie  es  vorliegt,  so  gelangt  man  zu 
keiner  annehmbaren  und  hat  keinen  Grund  eine  solche  Ver- 
bindung als  eigentümliche  Species  anzuerkennen.  Es  ist 
gewiss ,  dass  das  Vertheilen  der  Kieselerde  unter  die  Basen 
nach  den  üblichen  Formeln  sehr  verschiedene  Ansichten  zu- 
lässt  und  schwer  zu  erweisen,  ob  diese  oder  jene  berech- 
tigter sei,    das  Umgehen    solcher  Schwierigkeit,    indem  man 


*)  Si  =  28,  Al  =  55,  K  =  39,  0  =  16. 


p.  KobeU :  Typ.  und  empir.  Formeln  in  der  Mineralogie.        567 

nur  die  Zahl  der  Atome  der  constituirendeu  Elemente  an- 
giebt,  entspricht  aber  noch  weniger,  denn  bei  jener  Ver- 
keilung wird  man  wenigstens  auf  gewisse  Unwahrscheinlich- 
keiten  der  Auffassung  aufmerksam  gemacht,  bei  der  blossen 
Angabe  der  Zahl  der  Atome  und  des  höchst  elastischen 
Typus  aber  nicht. 

Was  die  Reactionen  und  die  Vorgänge  bei  chemischen 
Zersetzungen  betrifft,  so  lassen  sich  diese  mit  den  typischen 
Formeln  in  vielen  Fällen  einfacher  erklären  als  mit  den 
nichttypischen  und  bieten  auch  jene  mannigfaches  Material 
zu  interessanten  Speculationen ,  gleichwohl  stehen  sie  in 
anderen  Beziehungen  den  letzteren  nach.  Die  nichttypischen 
Formeln  zeigen  die  näheren  Verbindungen  der  Elemente, 
wie  sie  durch  die  Analyse  zur  Charakteristik  der  Verbind- 
ung in  Betracht  kommen,  während  man  sie  aus  den  typi- 
schen meistens  erst  herstellen  muss  und  wie  dieses  zu  ge- 
schehen habe,  muss  man  anderswoher  wissen  und  giebt  das 
Zeichen  darüber  keinen  Aufschluss.  Wer  den  Leucit  als  ein 
Silicat  erkennen   will,    muss    aus   ihm    Kieselerde   darstellen 

und  die  Formel  KaSi  -f  ÄlSi3  oder  Ka3Si2  -f  3AlSi2 
zeigt  diese  Kieselerde  unmittelbar  an;  nach  der  typischen 
Formel  muss  er  wissen,  dass  dem  Silicium,  welches  sie  an- 
giebt,  so  viel  von  dem  Collectiv-Sauerstoff  der  ganzen  Ver- 
bindung angehört,  dass  es  zur  Kieselerde  wird  und  während 
die  gewöhnlichen  Formeln  ohne  weitere  Betrachtungen  und 
Erwägungen  sagen  ob  in  der  Kieselerde  2  oder  3  Atome 
Sauerstoff  angenommen  seien,  ist  dieses  bei  den  typischen 
Formeln  nicht  der  Fall  und  muss  erst  mit  Berücksichtigung 
der  anderen  Oxyde  ersehen  werden.  Ebenso  ist  es  bei  den 
sog.  empirischen  Formeln,  welche  wie  die  typischen,  nur 
ohne  Rücksicht  auf  das  Gesetz  eines  Typus,  das  relative 
Verhältuiss  der  Zahl  der  Atome  verbundener  Elemente  an- 
geben; ein  Verhältniss,    welches  sich  auch  aus  den  gewöhn- 


568         Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

liehen  Formeln  leicht  herausfinden  lässt,  indem  man  die 
Zahl  der  gleichartigen  Atome  addirt.  So  ist  die  ältere 
rationelle  Formel  des  Plagionit  Pb4S-b3  und  man  erhält  die 
empirische  leicht  =  Pb4&b3S13;  die  letztere  Formel  zeigt 
aber  nicht  wie  die  erstere  an,  dass  das  Mineral  einer  Ver- 
bindung von  4  At.  Galenit  und  3  At.  Antimonit  gleich- 
komme und  dass,  wie  es  der  Fall,  das  Sb  des  letzteren 
durch  Kalilauge  extrahirt  und  an  dem  durch  Ansäuren  ent- 
stehenden charakteristischen  Präcipitat  leicht  als  solches  er- 
kannt werden  kann. 

Aus  den  bisher  angeführten  Beispielen  ersieht  man 
auch,  dass  weder  die  typischen  noch  die  empirischen  For- 
meln in  Beziehung  auf  Kürze  einen  besonderen  Vorzug  vor 
den  gewöhnlichen  haben    und    wenn  auch  Rammelsberg's 

Formel  für  den  Nosean  =  NaCl  +   3(NaSi  +  AlSi) 

-h   10(NaS  +  3(NaSi  +  AlSi) 
lang  genug  ist,  so  ist  die  typische 

Si66 
(SO2) 10 


VI 


AI  33 

Na88 


Q284 
Cl2 


auch  nicht  viel  kürzer  oder  einfacher  zu  nennen. 

Streng4)  hat  in  einer  sorgfältig  gearbeiteten  Ab- 
handlung die  angenommene  Atomigkeit  der  Elemente  für 
das  Verhältniss  der  Isomorphie  mehrerer  Silicate  bespro- 
chen und  ist,  indem  er  auch  die  Atom-Volume  berücksich- 
tigte, zu  dem  Schlüsse  gekommen,  dass  in  gleichgestalteten 
Verbindungen  sich  die  Bestandtheile  nicht  nur  nach  einzelnen 
Atomen  vertreten   und   ersetzen,    sondern   an  die  Stelle  von 


4)  Neues   Jahrbuch  für  Mineralogie    von   G.    Leonhard   und  H. 
B.  Geinitz  1865  p.  411. 


v.  Kobett:  Typ.  und  empir.  Formeln  in  der  Mineralogie.         569 

a  Atomen  des  einen  Körpers  können  b  Atome  eines  anderen 
treten  ohne  Aenderung  der  Form,  wenn  die  sich  ersetzenden 
Mengen  chemisch  gleichwertig  oder  äquivalent  sind. 

II       IV 

So  ist  nach  ihm  R3Si309    isomorph    oder    isomorpher 

II      VI         ,,  IV  VI 

Vertreter  von  R3i\l209  und  werden  3Si  durch  2A1  ersetzt, 
indem  beide   12    chemische  Einheiten    repräsentiren ,    ebenso 

„  VI  VI  II         II  VI 

ist  3R  isomorph  mit  Fe;   3  Fe  isomorph  mit  9R;   RAl  isom. 

IV  II       VI  IV 

mit     Si2;    R2A1*   =   7  Si  etc. 

Die  Formeln  für  den  Anorthit  und  Albit  schreibt 
Streng,  um  eine  allgemeine  Uebereinstimmung  derselben 
zu  erzielen,   wie  folgt : 


II   VI 

Anurthit  ==   nlVI 
RAl 


Albit 


II    VI 

RAl 

IV 

Si2 


Si4  016 


IV  II 

Si4  016 


und    leitet   die   zwischenliegenden  Feldspathe    aus    der  Ver- 

I£  VI  IV 

tretung  von  RAl   und  Si2  in  verschiedenen  Verhältnissen  ab. 
Für  den  Mejonit,  Sarkolith  und  Humboldtilith ,    welche 
isomorph,  schreibt   Streng: 

»r     •          .,  R  6      I      VI  IV  II 

Mejonit  ==    VI     \  Al2  Si9  036 
AI  2 


Sarkolith   = 


Humboldtilith   = 


R6 

R3 

VI 

AI 

VI 

AI  2 

IV 

Si9 

036 

11      1 

VI 

'  AI  2 

rv 

Si9 

ii 
0  36 

570         Sitzung  der  math.-phys.  Gasse  vom  7.  Dezember  1867, 

Dem  Epidot  und  Orthit,  welche  mit  dem  Mejonit  von 
analoger  Zusammensetzung  aber  von  sehr  verschiedener 
Krystallisation,  giebt  er  nachstehende  Formeln,  obwohl  sie 
unter  die  vorhergehenden   eingereiht  werden  können: 

Epidoth  :  :    vT  [  ^13   gi9    036 


Orthit    =    nv    \  AI 3  Si9   036 
R3 

Es  sind  dieses  Anwendungen  bekannter  in  der  Typen- 
lehre aufgestellter  Vertretungen,  welche  sich  aber  einfacher 
so  bezeichnen  lassen,  dass  man  sagt,  Oxyde  und  Oxyd- 
verbindungen vertreten  sich  isomorph,  wenn  die  Zahl  ihrer 
Sauerstoffatome  gleich  ist,  wie  das  schon  von  Laurent  und 

Dana5)  ausgesprochen  wurde;    2  Al  =    3  Si;  3  R  =   Fe; 

3  Fe  =  9  R;    RAl  =  2   Si;    R2Al4  =   7  Si  etc.     So  hat 
Dana    aufmerksam    gemacht,    dass    man    die    Formel   des 

Granats  R3Si  +  ÄlSi  auch  schreiben  kann   (f/»R3  +  a/2Al)Si 
und  hat  in  dieser  Weise  den  Isomorphismus  von  Augit  und 

Spodumen  erklärt.  Augit  =  R3Si2,  Spodumen  =  (R3,Ä)Si2, 

genauer  (1/6R,+,il/65)Si*J 

Die  Räthsel  des  Isomorphismus  scheinen  sich  gleichwohl 
mit  den  Versuchen  ihrer  Lösung  nur  zu  mehren  und  die 
Verhältnisse  des  Pseudodimorphismus  von  Descloizeaux6), 
wonach  kalkhaltiger  Pyroxen  klinorhombisch,  kalkfreier 
rhombisch  und  der  manganhaltige  Rhodonit  klinorhomboi- 
disch  krystallisiren ,    wonach    das  schwefelsaure  Kali  rhom- 


5)  James  D.  Dana  „A  System  of  Mineralogy  1854".  p.  208. 

6)  Mem.    sur    le  Pseudodimorphisme  etc.    Ann.  de  Chimie  et  de 
Physique.  4.  ser    t.  I. 


■c.  KobeU:  Typ.  und  empir.  Formeln  in  der  Mineralogie.        571 

bisch,  mit  theilweiser  Vertretung  durch  Natron  aber  hexa- 
gonal;  diese  Verhältnisse  werden  zu  einem  neuen  Hinder- 
niss  der  Erkenntuiss  ,  denn  danach  können  Misch ungstheile 
unter  Umständen  vollkommen  isomorph  und  doch  auch 
wieder,  und  sogar  in  dreierlei  Krystallsystemen  heteromorph 
sich  zeigen,  wie  denn  ihrerseits  die  Typentheorie  in  manchen 
Fällen  dasselbe  Atom  zwei-  vier-  und  sechswerthig  auftreten 
lässt  oder  das  einfache  Atom  zweiwerthig,  das  doppelte  aber 
sechswerthig,  die  Radikale  CIO,  CIO2  und  CIO3  gleich- 
werthig  u.  s.  w. 

Aus  dem  Gesagten  aber  dürfte  genügend  hervorgehen, 
dass  es  zur  Zeit  kein  Bedürfniss  sei,  die  typischen  oder  auch 
die  empirischen  Formeln  statt  der  bisherigen  in  die  Minera- 
logie einzuführen. 


572        Sitzung  der  math.-phys.  Clause  vom  7.  Dezember  1867. 

Herr  v.  Pettenkofer  trägt  vor: 

„lieber  den  Stoffverbrauch  eines  Zuckerharn- 
ruhr-Kranken von  ihm  und  Herrn  Prof.  Dr. 
Carl  Voit." 

Schon  in  der  Sitzung  am  10.  November  1865  haben 
wir  über  das  Piesultat  eines  Versuches  berichtet,  den  wir 
mit  einem  Zuckerharnruhrkranken  angestellt.  Die  weitere 
Untersuchung  führte  uns  auf  die  Notwendigkeit  von  Stoff- 
wechselversuchen  mit  dem  normalen  Menschen,  worüber  wir 
in  den  Sitzungen  vom  10.  November  1866  und  9.  Februar 
1867  der  Classe  Bericht  erstattet  haben.  Wir  theilen  nun 
einiges  von  den  weitern  Ergebnissen  unserer  Untersuchungen 
mit  dem  Diabetiker  zum  Vergleich  mit  dem  normalen 
Menschen  mit. 

Vom  August  1865  bis  August  1866  haben  wir  an  dem- 
selben diabetischen  Individuum  sieben  24stündige  Beobacht- 
ungen im  Respiratiousapparate  unter  Berücksichtigung  aller 
Einnahmen  und  Ausgaben  des  Körpers  angestellt  und  haben 
zwei  davon  in  12stündige  Abschnitte  getheilt.  Ausserdem 
hat  einer  von  uns,  (Voit)  noch  eine  Anzahl  von  einzelnen 
Bestimmungen  nur  der  Ausscheidungen  durch  Darm  und 
Nieren  im  Zusammenhalte  mit  dem  Genuss  verschiedener 
Kost  gemacht,  die  in  der  Zeitschrift  für  Biologie  mitgetheilt 
werden  sollen ,  in  der  überhaupt  eine  ausführlichere  Dar- 
stellung unserer  Untersuchungen  demnächst  erscheinen  wird. 

Die  folgende  Tabelle  enthält  die  Zahlen  über  die  in  der 
Respiration  ausgeschiedenen  Menge  (Gramme)  Kohlensäure, 
Wasser.  Wasserstoff-  und  Grubengas  und  über  die  aus  der 
Luft  aufgenommene  Menge  Sauerstoff;  dann  die  sogenannte 
Verhältnisszahl,  nämlich  den  Quotienten,  wie  viel  Procente 
des  aufgenommenen  Sauerstoffes  in  der  Form  von  Kohlen- 
säure wieder  ausgetreten  sind,  ferner  über  die  im  Harn 
ausgeschiedenen  Mengen  Harnstoff  und  Zucker;  endlich  das 
Körpergewicht  des  Kranken  zu  Anfang  und  am  Ende  jeden 
Versuches  in  Kilogrammen. 


v    Pettenkofer:  Stoffverbrauch  bei  Zuckerharnruhr. 


573 


Gemisclito 

Kost  in  2 

Tageshälften 

VII. 

14.  August 

1866. 

OiOiO 
CO  CO  CO 

OS  CO  i-H 
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CO  CO  CO 

CO  CN  CO  1 

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i—l  OS 

Gemischte 
Kost 

VI. 

10.  August 
1866. 

SOJO 
CO   CO  CO 

Ol  Ol  CO 

— i  o  o 

CD  CO  CO 

t-  b»  OS 

lO  CN  CN 

CO   ©   i-H 

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■^  CN  CN 

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OS  ■'d*  ^ 
MCTH 

o  o 

CO  CO 

co  os 

pH  Ö 
iO  iC3 

Reine 
Fleisch- 
kost. 

V. 

19Januar. 

1866. 

C5 

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1 

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35 

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Mittlere 
Kost. 

III. 

27  Dezbr. 
1865. 

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1.  Februar 
1866. 

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Kohlensäure       24  Stunden 
Tag 
Nacht 

Wasser               24  Stunden 
Tag 
Nacht 

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Sauerstoff          24  Stunden 
Tag 

Nacht 

Verhältnisszahl       24  Stunden 
Tag 
Nacht 

Harnstoff           24  Stunden 
Tag 
Nacht 

Zucker               24  Stunden 
Tag 
Nacht. 

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[1867.II.4.[ 


38 


574         Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1887. 

Die  Versuche  wurden  ebenso  wie  beim  Gesunden  bei 
verschiedener  Ernährung,  ja  einer  selbst  bei  Hunger  ange- 
stellt, wozu  sich  der  Kranke,  der  noch  lebt,  bestimmen 
Hess,  obschon  ein  fast  unersättliches  Verlangen  nach  Speise 
zu  den  constanten  Symptomen  seiner  Krankheit  gehört.  Um 
ihm  den  Hunger  erträglicher  zumachen,  reichten  wir  ihm  in 
seinem  Getränk,  das  nur  aus  Wasser  bestand,  in  24  Stunden 
eine  geringe  Menge  Fleisch extrakt ,  was  wir  auch  bei  den 
Hungerversuchen  mit  dem  normalen  Menschen  gethan  hatten. 

Ueberblickt  man  die  Zahlen  der  einzelnen  Versuche  und 
vergleicht  man  sie  mit  denen  des  normalen  Menschen,  so 
treten  gewisse  Untei schiede  mit  aller  Bestimmtheit  hervor. 
Betrachten  wir  vor  Allem  die  Grösse  der  Stickstoffausscheid- 
ung im  Harne,  so  finden  wir  mit  Ausschluss  der  beiden 
Versuche  bei  Hunger  und  bei  eiweiss-  (stickstoff-)  freier 
Kost  im  Mittel  65  Grmm.  Harnstoff  in  24  Stunden,  während 
unsre  Tabelle  vom  normalen  Menschen  nur  ein  Mittel  von 
44  Grmm.  ergiebt.  Man  sieht,  dass  die  Eiweisszersetzung 
im  Körper  des  Diabetikers  eine  viel  grössere  als  beim  Ge- 
sunden ist,  was  auch  schon  Houghton1)  und  Andere  beobachtet 
haben.  Die  mittlere  Kost,  welche  den  normalen  Menschen  im 
Stickstoffgleichgewicht  erhielt,  und  wobei  er  etwa  28  Grmm. 
Harnstoff  ausschied,  reichte  dem  Diabetiker  (Versuch  III), 
nicht   aus,    welcher   dabei   48    Grmm.  Harnstoff  entleerte. 

Er  scheint  eine  reichliche  Zufuhr  von  Eiweiss  auch 
viel  schneller  und  leichter  zu  zerstören,  als  der  Gesunde, 
und  damit  sein  Vorrathseiweiss  nur  sehr  wenig  oder  nur 
auf  sehr  kurze  Zeit,  sein  Organeiweiss  gar  nicht  vermehren 
zu  können;  denn  seine  Harnstoffausscheidung  steigt  und  fällt 
mit  der  Eiweisszufuhr  viel  rascher,  als  beim  Gesunden.  Die 
eiweissreiche  Kost  des  Gesunden  (Versuch  X)  enthielt  43  Grmm. 
Stickstoff,  die  Fleischkost  des  Diabetikers  (Versuch  V)  46. 
Davon  schied    der  Gesunde    am    ersten  Tage   nur  67 ,    der 

1)  On  Diabetes  mellitus.  Dublin  1861. 


/■.  Pettenkof'er :  Staffverbrauch  bei  Zuckerharnruhr.  575 

Diabetiker  schon  74  Procent  wieder  aus.  Ebenso  verhält 
sich  auch  das  Fallen  bei  mangelnder  Zufuhr.  Wenn  man 
bei  den  Hungerversuchen  den  Harnstoff,  welcher  dem  Stick- 
stoffgehalt des  gereichten  Fleischextraktes  entspricht,  in  Ab- 
rechnung bringt,  so  schied  der  normale  Mensch  am  ersten 
Hungertage  (Versuch  I)  noch  24.3,  der  Diabetiker  nur  mehr 
20.5  Harnstoff  aus,  obwohl  dieser  unmittelbar  vor  dem 
Hunger  eine  viel  grössere  Harnstoffzahl  hatte  als  der  Ge- 
sunde. Hiemit  stimmt  auch  ganz  das  Resultat  überein, 
welches  die  Versuche  mit  eiweissfreier  Kost  ergeben  haben. 
Der  Gesunde,  dessen  Harnstoffzahl  40  selten  überschreitet, 
schied  bei  diesem  Stickstoffhunger  (Versuch  XII)  noch  27.7 
Harnstoff  aus,  der  Diabetiker,  der  für  gewöhnlich  viel  mehr 
Harnstoff  ausscheidet,  nur  mehr  19.4. 

Diese  Thatsachen  lassen  also  von  zwei  entgegengesetzten 
Richtuugen  her  nur  zu  deutlich  das  gleiche  Resultat  er- 
kennen ,  dass  nämlich  der  Diabetiker  das  in  der  Nahrung 
enthaltene  Eiweiss  nicht  wie  der  Gesunde  zur  Vermehrung 
seines  Vorrathes  im  Körper  und  seiner  Organe,  sondern 
nur  zur  raschen  Zerstörung  und  Ausscheidung  zu  verwenden 
vermag.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich ,  dass  damit  theil- 
weise  auch  das  unaufhörliche  Gefühl  der  Erschöpfung  und 
der  Ermüdung  und  des  Hungers  zusammen  hängt,  wor- 
über diese  Kranken  beständig  klagen. 

Beim  Gesunden  steigt  mit  der  Zufuhr  und  dem  Um- 
sätze von  Eiweiss  auch  die  Menge  Sauerstoff,  welcher  aus 
der  Luft  aufgenommen  wird,  (Banting-Cur)  —  beim  Dia- 
betiker ist  die  Sauerstoffaufnahme  bei  gleichem  Eiweiss- 
umsatze  wesentlich  geringer,  wie  beiin  Gesunden.  Das  geht 
übereinstimmend  aus  allen  Versuchen  hervor.  Es  finden 
sich  unter  den  am  normalen  Menschen  angestellten  einige, 
welche  nahezu  den  gleichen  Stickstoffumsatz  nachweisen, 
wie  in  entsprechenden  Fällen  beim  Diabetiker,  z.  B.  das 
Mittel    der    beiden    Versuche  X  und  XI    mit    eiweissreicher 

38* 


576       Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Kost  beim  Gesunden  und  der  Versuch  V  mit  reiner 'Fleisch- 
kost beim  Diabetiker.  Das  Mittel  der  Versuche  X  und  XI 
ergiebt  in  24  Stunden  61  Grmm.  Harnstoff,  der  Versuch 
mit  dem  Diabetiker  62.  Unter  diesen  Umständen  zeigt  der 
Gesunde  eine  Sauerstoffaufnahme  von  863,  der  Diabetiker 
nur  Yon  613.  Ebenso  lehrreich  sind  die  Versuche  mit  mitt- 
lerer Kost,  bei  denen  der  Gesunde  durchschnittlich  830 
Grmm.  Sauerstoff,  der  Diabetiker,  nur  680  aufnahm,  ob- 
schon  er  einen  noch  höhern  Eiweissumsatz  hatte,  als  der 
Gesunde.  Nicht  minder  beweisend  sind  die  Versuche  mit 
eivveissfreier  Kost,  bei  welcher  der  Gesunde  850,  der  Dia- 
betiker nur  610  Grmm.  Sauerstoffaulhahme  zeigt. 

Am  schlagendsten  aber  ist  der  Hungerversuch.  Der  Ge- 
sunde schied  im  Mittel  nach  Abzug  des  auf  das  Fleisch- 
extrakt treffenden  Harnstoffs  23  Grmm.  Harnstoff  aus,  der 
Diabetiker  nach  Vornahme  derselben  Correktion  nahezu  21. 
Der  Gesunde  nahm  dabei  760,  der  Diabetiker  nur  344  Grmm. 
Sauerstoff  auf,  mithin  weniger  als  die  Hälfte. 

Wir  haben  in  unsrer  ersten  Mittheilung  schon  die  An- 
sicht ausgesprochen,  dass  die  verringerte  Sauerstoffaufnahme 
zu  den  wesentlichsten  Momenten  der  Zuckerharnruhr  gehöre. 
Kühne  meint  in  seinem  jüngst  erschienenen  vortrefflichen 
Lehrbuch  der  physiologischen  Chemie,  diese  Ansicht  könnte 
ein  Zirkelschluss  sein,  die  Sache  verstehe  sich  aus  der  ge- 
steigerten Zuckerbildung  überhaupt  von  selbst.  Wir  glauben 
aber,  dass  den  nun  vorliegenden  Thatsachen  gegenüber  jeder 
Zweifel  schwinden  muss.  Man  weiss  ausserdem  mit  aller 
Bestimmtheit,  dass  nur  die  Eiweisskörper  (wesentlich  die 
Blutkörperchen)  das  Geschäft  der  Condensation  des  in  der 
Atmosphäre  enthaltenen  Sauerstoffes  und  dessen  Einführung 
in  den  Kreis  des  Stoffwechsels  besorgen:  wenn  man  nun 
thatsächlich  wahrnimmt,  dass  der  Diabetiker  bei  einem 
gleichen ,  ja  selbst  bei  einem  grösseren  Eiweissstoftwechsel 
viel  weniger  Sauerstoff  aufnimmt,    als    der  Gesunde,    dafür 


v.  Pettenkofer :  Stoffverbrauch  bei  Zuckerharnruhr.  577 

aber  Produkte  des  Stoffwechsels,  wie  den  Zucker,  den  der 
Gesunde  nur  zu  Kohlensäure  und  Wasser  verbrannt  aus- 
scheidet, unverändert  von  sich  giebt,  so  wird  man  wohl 
nicht  leicht  anders  schliessen  können,  als  wir  gethan  haben. 

Es  wäre  nur  denkbar,  dass  nicht  die  verringerte  Sauer- 
stoffaufnahme,  sondern  nur  eine  vermehrte  Zuckerbildung 
die  nächste  Ursache  der  Zuckerausscheidung  sei,  wenn  man 
annehmen  dürfte,  dass  unser  Organismus  bestimmte  Vorricht- 
ungen besässe,  welche  von  dem  aufgenommenen  Sauerstoff 
nur  einen  bestimmten  Theil  zur  Zuckerverbrennung ,  den 
übrigen  zu  andern  Verbrennungen  in  Bereitschaft  setzten. 
Dieser  Ansicht  steht  aber  die  Thatsache  entgegen,  dass  der 
Gesunde  die  verschiedensten  und  wechselndsten  Mengen 
Zucker,  Fett  u.  s.  w.  zu  verbrennen  im  Stande  ist,  wie  aus 
unsern  Versuchen  an  dem  normalen  Menschen  hinreichend 
hervorgeht.  Mit  andern  Worten,  wenn  wir  einem  Gesunden 
verhältnissmässig  dieselbe  Menge  Zucker  reichen ,  die  ein 
Diabetiker  erzeugt  und  unverbrannt  im  Harn  entleert,  so 
wird  der  Gesunde  bei  dem  entsprechenden  Eiweissumsatze 
diesen  Zucker  doch  verbrennen,  — mit  noch  andern  Worten: 
selbst  der  reichlichste  Zuckergeuuss  ist  nicht  im  Stande, 
Diabetes  mellitus  zu  verursachen,  denn  es  treten  nur  Spuren 
von  Zucker  in  den  Harn  über,  wenn  auch  sehr  grosse 
Mengen  auf  einmal  genossen  weiden,  und  somit  ist  auch  nicht 
denkbar,  dass  eine  blosse  Steigerung  der  normalen  Zucker- 
bildung einem  Menschen  Zuckerharnruhr  verursachen  könnte, 
wenn  diese  Steigerung  nicht  zugleich  mit  einer  verhältniss- 
mässigen  Verringerung  der  Sauerstoffaufnahme  zusammenfällt. 

Wie  das  nun  zugehe,  dass  beim  Diabetiker  der  Zucker, 
sowohl  der  von  Aussen  eingeführte,  als  der  im'Organismuss 
erzeugte,  den  Sauerstoff  zu  seiner  Verbrennung  nicht  findet, 
sondern  im  Harn  austritt,  darüber  wagen  wir  vorläufig  keine 
bestimmte  Meinung  zu  äussern:  aber  wir  glauben  durch 
unsere  Ansicht   auf  keinen   Irrweg   zu    leiten    und   glauben, 


578         Sitzung  der  math  -phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

dass  in  der  von  uns  eingeschlagenen  Richtung  die  Antwort 
auf  die  Frage  zu  finden  sein  müsste. 

Der  Stoffwechsel  des  Diabetikers  im  Hungerzustande 
ist  so  lehrreich  und  wichtig,  dass  wir  noch  näher  darauf 
eingehen  müssen.  Wir  wissen  durch  unsere  Untersuchungen, 
dass  der  normale  Mensch  im  Hungerzustande  ausschliesslich 
von  Fleisch  (Eiweiss)  und  Fett  seines  Körpers  und  vom 
Sauerstoff  der  Luft  lebt.  Wir  vermögen  nun  auch  für  den 
hungernden  Diabetiker  eine  Stoffwechselgleichung  aufzu- 
stellen, aus  der  sich  auf  den  ersten  Anblick  zu  ergeben 
scheint,  dass  er  ebenso  von  vorräthigem  Eiweiss  und 
Traubenzucker  lebt,  wie  der  hungernde  Gesunde  von 
seinem  Eiweiss-  und  Fett-Vorrath.  Aus  der  Stickstoffaus- 
scheidung beim  Hungerversuche  ergiebt  sich,  dass  der 
Kranke  so  viel  Eiweiss  zersetzt  haben  musste,  als317Grmm. 
Fleisch  entspricht.  In  der  Kohlensäure  der  Respiration 
wurden  137  Grmm.  Kohlenstoff  entfernt,  wovon  35  dem 
Eiweiss  entstammen  konnten,  nachdem  sich  die  Elemente 
des  Harnstoffs  abgetrennt  hatten.  Denkt  man  sich  die 
übrigen  102  Kohlenstoff  als  Zucker,  so  waren  zur  Verbrenn- 
ung der  beiden  Gruppen  114  -f-  272  Sauerstoff  nöthig. 
Vergleicht  man  die  auf  diese  Art  berechnete  (386)  mit  der 
durch  den  Versuch  gefundenen  Menge  (344)  Sauerstoff,  so 
reicht  der  aufgenommene  Sauerstoff  nicht  einmal  ganz  zur 
Bildung  der  Kohlensäure  aus.  die  theilweise  auf  Kosten  des 
Sauerstoffs  im  Wasser,  durch  eine  Art  Gährung,  bei  welcher 
H  oderCH2  auftritt,  entstanden  gedacht  werden  könnte.  Die 
fehlenden  42  Grmm.  Sauerstoff  erforderten  das  Auftreten 
von  etwa  5  Grmm.  Wasserstoff,  einer  Menge,  die  in  den 
Versuchen,  wo  sie  wirklich  bestimmt  worden  ist,  viel  mehr 
als  erreicht  wurde. 

Wir  können  aber  auch  annehmen,  dass  der  Kohlenstoff 
der  Kohlensäure  in  der  Respiration  nicht  von  Fleisch  und 
Zucker,  sondern  wie  beim  hungernden  Gesunden  von  Fleisch 


v.  Pettenkofer :  Stoffverbrauch  bei  Zuckerharnruhr.  579 

und  Fett  geliefert  worden  sei,  und  dann  sehen,  wie  bei 
dieser  Annahme  Rechnung  und  Versuch  zusammenstimmen. 
In  diesem  Falle  wäre  zur  Bildung  der  Kohlensäure  486  Grmm. 
Sauertoff  nöthig  gewesen,  was  also  die  wirklich  beobachtete 
Menge  um  mehr  als   140  Grmm.  hinter  sich  lässt. 

Dieses  Verhältniss  tritt  auch  noch  bei  einer  andern 
Rechnungsart  des  Hungerversuches  hervor,  zu  welcher  wir 
die  Daten  in  der  Zeitschrift  für  Biologie  mittheilen  werden. 
Stellt  man  sämmtliche  Einnahmen  und  Ausgaben  einander 
gegenüber,  so  findet  man,  dass  der  Körper  in  24  Stunden 
161,8  Kohlenstoff  *        .  , 

10,8  Stickstoff     }  VeH0ren  md  Um 

63,7  Wasserstoff  1  zugenommen  hat  (wesentlich    vom  ge- 
479,4  Sauerstoff    /  trunkenen  Wasser). 

Rechnet  man  nun  aus  der  Stickstoffausgabe  den  Ei- 
weiss-  (Fleisch-)  Umsatz,  so  ergeben  sich  72  Grmm.  trocknes 
Fleisch  mit  39,6  Kohlenstoff, 

5,4  Wasserstoff. 
10,8  Stickstoff  und 
16,2  Sauerstoff. 
Setzt  man  die  Elemente  des  Fleisches  in  Einnahme,  so 
bleibt  noch  eine  Abnahme  von  122,2  Kohlenstoff  und 
eine  Zunahme  von     58,3  Wasserstoff  und 
463,2  Sauerstoff. 
Diese  122,2  Kohlenstoff  lassen  sich  nun  in  einem  Falle 
als  Zucker,    im  andern  als  Fett  in  die  Rechnung  einführen. 
Stickstoff   und    Kohlenstoff    der    Einnahmen    und    Ausgaben 
heben  sich  hiebei  auf,  es  bleibt  ein  Ueberschuss  von  Wasser- 
stoff und  Sauerstoff,    die   sich    naturgemäss    zu  Wasser    er- 
gänzen sollten.     Je  näher  dieser  Rest  oder  Ueberschuss  der 
beiden    Elemente    mit    der    Zusammensetzung   des    Wassers 
stimmt,    desto    grösser    ist    die   Wahrscheinlichkeit   für   die 
Richtigkeit  der  hypothetischen  Annahme.  Ich  lasse  die  Rech- 
nung mit  den  beiden  Annahmen  folgen  i 


580       Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 
Erster  Fall  mit  Zucker. 


Einnahmen. 

C. 

H. 

N. 

0. 

Wasser ,     Fleischextrakt    und 

Sauerstoff  aus  der  Luft 

7,0 

290,4 

3,4 

2662,4 

Eiweiss  vom  Körper 

39,6 

32,1 

10,8 

230,1 

Zucker       ,',         ,, 

122,2 

20,3 

— 

162,5 

168,8     342,8     14,2     3055,0 
Ausgaben. 
Harn,  Koth  und  Respiration      168,8     226,7       14,2       2183 
Differenz     ^~        116,1        ^~       872 
116  Wasserstoff  erfordern   928  Sauerstoff   zur  Wasser- 
bildung, also  56  mehr  als  die  Hypothese  mit  Zucker  ergiebt. 

Zweiter  Fall  mit  Fett. 


Einnahmen. 

C. 

H. 

N. 

O. 

Wasser ,     Fleischextrakt    und 

Sauerstoff  aus  der  Luft 

7,0 

290,4 

3,4 

2662,4 

Eiweiss  vom  Körper 

39,6 

32,1 

10,8 

230,1 

Fette         „ 

122,2 

17,0 

— 

15,5 

168,8  339,5  14,2     2908,8 
Ausgaben. 

Harn,  Koth  und  Respiration      168,8  226,7  14,2       2182 

Differenz        —  112,8  ^~       725 

112,8  Wasserstoff  erfordern  902  Sauerstoff,  um  Wasser 
zu  bilden. 

Man  sieht,  wie  viel  mehr  die  Rechnung  stimmt,  welche 
auf  die  Hypothese  gegründet  ist,  dass  die  122  Grmm.  Kohlen- 
stoff in  der  Form  von  Zucker,  als  in  der  Form  von  Fett 
beim  Stoffwechsel  betheiligt  waren.  Im  ersten  Falle  differirt 
Rechnung  und  Hypothese  nur  um  56,  im  zweiten  Falle  um 
177  Sauerstoff,  so  dass  der  Unterschied  mehr  als  ein  drei- 
facher ist. 

Dass  in  jedem  Falle  Wasserstoff  im  Ueberschuss  er- 
scheint, könnte  auffallen,    erklärt  sich  aber  sehr  einfach  aus 


v.  Pettenkofer :  Stoff'verbraueh  bei  Zucke  rhu  rn  rühr.  581 

dem  Umstände,  dass  die  Bestimmung  des  gasförmig  aus- 
tretenden Wasserstoffs  bei  diesem  Respirationsversuche  nicht 
gemacht  wurde  und  zwar  aus  dem  Grunde ,  weil  wir  zur 
Sicherheit  die  Kohlensäure-  und  Wasserbestimmung  doppelt 
machen  mussten,  wozu  wir  aller  4  Untersuchungspumpen 
des  Apparates  benöthigt  waren,  von  denen  sonst  2  zur  Be- 
stimmung von  H  und  CH2  dienten.  Für  den  Fall  nämlich, 
dass  die  einfache  C02  oder  HO-Bestimmung  durch  einen 
Zufall  verunglückt  wäre,  hätten  wir  den  ganzen  Versuch 
wiederholen  müssen ,  und  wir  hatten  Ursache  zu  zweifeln, 
erstens  ob  der  Kranke  sich  nochmal  dazu  entschliessen 
würde  und  zweitens,  ob  wir  den  Hungerversuch  mit  ihm 
überhaupt  nochmal  wagen  dürften ,  da  er  der  Natur  seiner 
Krankheit  so  sehr  widerstrebt.  Es  gieng  übrigens  besser 
als  wir  vermutheten,  er  befand  sich  während  und  nach  dem 
Versuche  nicht  schlechter  wie  sonst.  Wenn  man  nun  an- 
nimmt, dass  während  der  24  Stunden  7  Grmm.  Wasser- 
stoff ausgeschieden  worden  sind,  eine  Annahme,  die  nach 
den  sonstigen  Bestimmungen  gar  nichts  unwahrscheinliches 
an  sich  hat,  so  stimmen  Rechnung  und  Hypothese  im  ersten 
Falle  vollkommen  überein,  im  zweiten  aber  fehlt  es  noch 
um  121  Grmm.  Sauerstoff.  Man  könnte  somit  mit  aller 
Zuversicht  annehmen ,  dass  der  Diabetiker  im  Hunger  von 
einem  Vorrathe  an  Eiweiss  und  Zucker  in  seinem  Körper 
zehrt. 

So  sehr  alle  Zahlen  mit  der  Annahme  stimmen  ,  dass 
der  Diabetiker  im  Hunger  nicht  wie  der  Gesunde  vorräthiges 
Fett,  sondern  einen  Zuckervorrath  verbrennt ,  so  unwahr- 
scheinlich wird  diese  Annahme,  wenn  man  bedenkt,  wo 
diese  Zuckermenge  (im  gegebenen  Falle  305  Grmm.)  im 
Körper  irgend  aufgespeichert  sein  sollte.  Man  weiss,  dass 
der  gebildete  Zucker,  soweit  er  nicht  zu  Kohlensäure  und 
Wasser  verbrennt,  beständig  und  rasch  durch  den  Harn  ent- 
fernt wird,   gerade    so    wie  der  Harnstoff,    und  es  ist  nicht 


582  Sitzung  der  math.-phys.  Clause  vom  7.  Dezember  1867 . 

zu  glauben ,  dass  sämintliche  Organe  eines  Diabetikers  zu- 
sammen, wenn  sie  auch  alle  als  etwas  zuckerhaltig  ange- 
nommen werden,  je  einen  Vorrath  von  300  Grmm.  enthalten 
könnten.  Wir  müssen  desshalb  uns  auch  noch  nach  einer 
andern  Erklärung  umsehen.  Die  Annahme,  dass  ein  Vorrath 
von  Zucker  verbrannt  sei,  beruht  theils  auf  einer  Beobacht- 
ung, theils  auf  einer  Voraussetzung;  auf  der  Beobachtung  der 
in  24  Stunden  aufgenommenen  Menge  Sauerstoff,  und  auf 
der  Voraussetzung,  dass  wahrend  dieser  Zeit  kein  anderer 
Sauerstoff  in  den  Stoffwechsel  eingriff.  Nun  haben  wir  in 
unsern  Versuchen  am  normalen  Menschen  mehrfach  gesehen, 
wie  sehr  in  gleichen  Zeiträumen  die  Aufnahme  und  Abgabe 
von  Sauerstoff  divergiren  können,  und  es  könnte  sehr  wohl 
sein,  dass  der  Diabetiker  im  Hunger  ebenso  von  dem  Ei- 
weiss  und  Fett  seines  Körpers  zehrt,  wie  der  Gesunde,  dass 
er  aber  nicht  genug  Sauerstoff  aus  der  Luft  aufnehmen 
kann,  dafür  aber  von  dem  vorhandenen  Sauerstoffvorrath  in 
seinem  Körper  verbraucht.  Im  vorliegenden  Falle  hätte 
diese  Menge  gerade  so  viel  betragen,  als  das  Fett  zu  seiner 
Umwandlung  in  Zucker  bedarf,  etwa  100  Grammen. 

Je  mehr  man  alle  Umstände  erwägt,  um  so  wahr- 
scheinlicher wird  diese  zweite  Annahme.  Der  Vorgang  ist 
durchaus  nicht  ohne  Beispiel  beim  Gesunden.  Vergleichen 
wir  die  Hungerversuche  mit  dem  normalen  Menschen  bei 
Ruhe  und  Arbeit,  so  zeigt  sich,  dass  derselbe  zwar  in  der 
Ruhe  sogar  etwas  mehr  Sauerstoff  aufnahm,  als  zur  Ver- 
brennung des  umgesetzten  Eiweisses  und  Fettes  nöthig  war, 
dass  er  hingegen  bei  der  Arbeit  beträchtlich  Sauerstoff  von  seinem 
Körper  hergegeben  haben  musste.  Diess  spricht  sich  am  ein- 
fachsten in  der  Verhältnisszahl  aus,  welche  in  der  Ruhe  68 
und  69,  bei  der  Arbeit  aber  80  beträgt.  Selbst  bei  den  Ver- 
suchen mit  mittlerer  Kost  zeigt  sich  an  den  Arbeitstagen 
noch  eine  Erhöhung  der  Verhältnisszahl,  wenn  auch  in  viel 
geringerem  Maasse ,    bei   den  Versuchen   im  August   von  94 


r.  Pettenliofer :  Stoff  verbrauch  bei  ZueVerharnruhr.  583 

auf  98,  bei  denen  im  Dezember  1866  von  74  und  78  auf 
82.  Der  Diabetiker  würde  sich  daher  im  Hunger  uud  bei 
Ruhe  ähnlich  verhalten ,  wie  der  Gesunde  im  Hunger  uud 
bei  anstrengender  Arbeit,  es  wäre  nur  die  Differenz  noch 
grösser,  indem  die  Verhältnisszahl  im  Mittel  aller  Versuche, 
bei  denen  der  Diabetiker  Nahrung  erhielt,  zwischen  75  und 
106  im  Hunger  schwankt. 

Nimmt  man  beim  hungernden  Diabetiker  die  Sauerstoff- 
abgabe vom  Körpervorrathe  und  damit  die  Verbrennung 
von  Fett  an,  so  hätte  er  im  Ganzen  etwa  100  Grmm.  Sauer- 
stoff zusetzen  müssen.  Diese  Zahl  erscheint  nicht  gross, 
wenn  man  bedenkt,  dass  der  hungernde  Gesunde  beim  Ar- 
beitsversuch eine  noch  grössere  Menge  verloren  hat.  Wir 
haben  mit  dem  Diabetiker  allerdings  nur  einen  Versuch  bei 
Hunger  gemacht,  aber  wir  halten  das  Resultat  nichts  desto 
weniger  für  sicher,  weil  wir  die  Kohlensäure-  und  Wasser- 
bestimmung der  Perspiration  doppelt  machten,  und  beide 
Bestimmungen  sehr  genau  zusammengehen. 

Unsere  zweite  Erklärung  ist  daher  nicht  nur  möglich, 
sondern  viel  wahrscheinlicher  als  die  erste;  sie  stimmt  auch 
sehr  gut  mit  der  Thatsache,  die  sich  bei  allen  übrigen  Ver- 
suchen in  den  Vordergrund  drängt,  nämlich  dass  der  dia- 
betische Organismus  in  der  Fähigkeit,  Sauerstoff  aus  der 
Atmosphäre  zu  ziehen,  irgend  eine  wesentliche  Beschränkung 
erleide. 

Was  die  Zuckerausscheidung  anlangt,  so  richtet  sich 
die  Menge  hauptsächlich  nach  der  Grösse  und  Beschaffenheit 
der  Nahrung.  Bei  reiner  Fleischkost  sowohl  als  bei  Hunger 
scheidet  der  Diabetiker  bekanntlich  immer  noch  Zucker  ausi 
obschon  beträchtlich  weniger,  als  bei  einer  Kost,  welche 
aus  Fleisch  (Eiweiss)  Fett  und  Kohlehydraten  gemischt  ist. 
Bei    reiner  Fleischnahrung    haben  wir    nahezu    das    gleiche 


584         Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Verhältniss  zwischen  Fleischeinnahme  und  Zuckerausscheidung, 
wie  Gri  es  ing  er2)  beobachtet.  Die  Kohlehydrate  der  Nahrung 
scheinen  im  Leibe  des  Diabetikers  einfach  in  Traubenzucker  ver- 
wandelt und  als  solcher  ausgeschieden  zu  werden,  vorausgesetzt, 
dass  daneben  so  viel  Eiweiss  und  Fett  zur  Disposition  ist,  um 
die  Menge  Sauerstoff  zu  belegen,  welche  sein  Körper  über- 
haupt aufzunehmen  vermag.  Es  ergiebt  sich  aber  in  solchen 
Fällen,  dass  bei  einer  Kost,  wenn  sie  auch  an  Kohlehydra- 
ten bereits  sehr  reich  ist,  immer  auch  noch  Zucker  aus  Ei- 
weiss oder  Fett  gebildet  wird.  Beim  Versuch  II  am  5.  August 
1865 ,  in  welchem  die  grösste  Zuckerausscheidung  zu  be- 
obachten ist,  genoss  der  Kranke,  soviel  er  nur  mochte.  In 
seiner  Tageskost  waren  so  viel  Kohlehydrate  enthalten,  dass 
daraus  529  Grmm.  Zucker  gebildet  werden  konnten,  er 
schied  aber  644  aus,  also  115  Grmm.  noch  mehr. 

Fehlt  es  aber  in  der  Nahrung  an  Eiweiss  und  Fett,  so 
wird  auch  von  dem  aus  den  Kohlehydraten  gebildeten  Zucker 
verbrannt,  wie  das  neben  dem  Hungeversuche  auch  noch  der 
Versuch  mit  eiweissfreier  Kost  gelehrt  hat.  Im  letztern 
war  die  Nahrung  so  zusammengesetzt,  dass  die  Einnahme 
an  Kohlenstoff  354  Grmm.  betrug.  Aus  den  Kohlehydraten 
konnten  etwa  670  Grmm.  Zucker  gebildet  werden;  ausser- 
dem genoss  er  noch  105  Grmm.  Fett  und  l1/«  Liter  Bier. 
Er  schied  nur  429  Zucker  im  Harn  aus.  Die  Stoffwechsel- 
bilanz zeigt  ferner,  dass  der  Kranke  an  diesem  Tage  über- 
diess  noch  72  Grmm.  Kohlenstoff  in  irgend  einer  Form  von 
seinem  Körper  zugesetzt  hatte,  während  der  normale  Mensch 
der  in  seiner  eiweissfreien  Kost  (XII)  im  Ganzen  nur  229 
Grmm.  Kohlenstoff  zugeführt  erhielt,  nur  18  Grmm.  C  von 
seinem  Körper  hergab.     Man  sieht,    um    wie  viel  mehr  der 


2)  "W.  Grieeinger,  Studien  über  Diabetes     Archiv   für  pbysiolog. 
Heilkunde  1859.  S.  1. 


r.  l'rttenkofcr:  Stoff'rerbrauch  bei  Zuckerharnruhr.  585 

Organismus  im  einen  und  im  andern  Falle  verbraucht,  und 
wie  wenig  dem  grössern  Stoffaufwand  des  Diabetikers  auch 
nach  dieser  Richtung  hin  ein  grösserer  Nutzeffekt  entspricht. 

In  den  sieben  Versuchen  mit  dem  Diabetiker  haben 
wir  viermal  auf  die  Ausscheidung  von  Grubengas  und 
Wasserstoffgas  untersucht.  Leim  Versuch  III  erreichten 
beide  Gase  ihr  Maximum.  Bei  dem  Versuch  V  mit  reiner 
Fleischkost  ergab  sich  nur  H,  kein  CH2.  Wir  sind  nicht 
im  Stande,  bestimmte  Ansichten  über  die  Ursachen  der 
vorgekommenen  Schwankungen  aufzustellen,  aber  das  Auf- 
treten dieser  Gase  überhaupt  in  so  grosser  Menge 
(15  Grmm.  Wasserstoff  nehmen  den  Raum  von  166  Litern 
ein)  scheint  uns  von  Bedeutung  für  den  Prozess  des  Stoff- 
wechsels bei  dieser  Krankheit  zu  sein.  Neben  der  unvoll- 
kommenen Oxydation  gehen  beträchtliche  Gährungserschein- 
ungen  im  Darm,  vielleicht  auch  in  andern  Organen  einher. 
Bei  unserm  Kranken  machte  sich  die  auffallend  starke  Gas- 
entwicklung auch  noch  durch  eine  Nebenwirkung,  durch 
Verbreitung  sehr  übler  Gerüche  bemerkbar.  Er  hatte  seine 
Verpflegung  für  gewöhnlich  in  dem  Krankenzimmer  des 
Reisingerianum's,  -welches  er  meistens  mit  noch  2  andern 
Kranken  theilte,  die  sich  nicht  selten  über  die  Ausdünst- 
ung des  Diabetikers   ernstlich  beklagten. 

Was  endlich  die  Verhältnisszahlen,  die  Quotienten  aus 
dem  der  Luft  entzogenen  und  in  der  ausgeschiedenen  Kohlen- 
säure wieder  enthaltenen  Sauerstoff  anlangt,  so  überraschen 
sie  in  der  Mehrzahl  der  Versuche  durch  ihre  niedrigen 
Ziffern,  als  ob  die  Nahrung  nur  ans  Flusch  und  Fett  be- 
stände. Wann  Fett  allein,  aber  vollständig  verbrennt,  sollte 
die  Verhältnisszahl  73,  bei  Fleisch  allein  82  ,  bei  Zucker 
(Kohlehydraten)  allein  100  sein.  Mit  Ausnahme  des  Hunger- 
versuches bewegt  sich  die  Verhältnisszahl  sogar  etwas  unter 
der  Grösse,  die  sie  bei  gleicher  Nahrung  beim  normalen 
Menschey    erreicht.     Das    ist    eine    nothwendige   Folge    der 


586         Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Zuckerbildung  aus  Eiweiss  und  Fett,  wozu  Sauerstoff  aus 
der  Luft  nöthig  ist  und  dann  des  Nichtverbrennens  des  ge- 
bildeten Zuckers,  d.  h.  eine  Folge  des  Austretens  eines 
Theiles  des  aus  der  Luft  aufgenommenen  Sauerstoffs  nicht 
in  der  Form  von  Kohlensäure  durch  die  Lungen,  sondern 
in  Form  von  Zucker  durch  den  Harn.  Die  höchste  Zahl 
(106)  zeigt  sich  beim  Hungerversuche.  Aehnliche  Zahlen 
haben  Regnault  und  Reiset  *bei  ihren  Versuchen  mit  Gras- 
fressern und  wir  bei  Fütterung  des  Hundes  mit  Fleisch  und 
Zucker  gefunden,  und  man  kann,  wie  ich  oben  auseinander 
gesetzt,  die  niedrige  Zahl  beim  hungernden  Diabetikers  so 
auffassen,  dass  er  entweder  wie  die  Grasfresser  von  Eiweiss 
und  überwiegend  von  einem  Kohlehydrat,  von  Zucker  lebt, 
oder  dass  er  Sauerstoff  von  seinem  Körper  verliert. 

Die  Wasserverdunstung  durch  Haut  und  Lungen  ist  im 
Ganzen  geringer  als  beim  Gesunden  und  gleichmässiger,  was 
wahrscheinlich  nur  eine  Folge  der  trockenen  Hautbeschaffen- 
heit und  der  geringen  Wärmeentwicklung  des  Kranken  ist. 
Wie  sehr  eine  gesteigerte  Verbrennung,  eine  dadurch  vermehrte 
Kohlensäurebildung  sonst  die  Wasserverdunstung  steigere, 
geht  aus  unsern  Versuchen  am  normalen  Menschen  hervor, 
wenn  man  Ruhe-  und  Arbeitstag  vergleicht.  An  den  Arbeits- 
tagen wurde  durchschnittlich  eine  doppelt  grössere  Menge 
Wasser  verdunstet,  als  an  den  Ruhetagen.  Einen  Arbeits- 
versuch mit  dem  Diabetiker  zu  machen,  war  natürlich  wegen 
seiner  völligen  Kraftlosigkeit  eine  Sache  der  Unmöglichkeit, 
da  er  sich  in  der  Ruhe  schon  viel  müder  fühlt,  als  der  Ge- 
sunde nach  dem  anstrengendsten  Tagwerk. 

Auch  die  Theilung  der  24stündigen  Stoffwechselversuche 
in  zwei  Hälften,  in  Tag  und  Nacht  lässt  einige  weitere  in- 
teressante Gesichtspunkte  erkennen.  Diese  Theilung  wurde 
bei  den  Versuchen  VI  und  VII  vorgenommen.  Diese  sind 
zunächst  vergleichbar  mit  den  Versuchen  V,  VI,  VII  und 
XIV  am  normalen  Menschen.    Es  wurde  dafür  gesorgt,  dass 


v.  Pettenkofer:  Stoft'verb  rauch  bei  Zuckerharnruhr.  587 

bei  diesen  Versuchen  der  Kranke  am  Tage  sich  nicht  der 
Ruhe  im  Bette  hingeben  konnte;  er  sass  den  Tag  über  auf 
dem  Stuhle,  strickte,  las  und  sprach  oft  laut,  gieng  auch 
in  der  Kammer  zeitweise  auf  und  ab.  Am  10.  August  (VI) 
nahm  er  seine  Kost  zu  gewöhnlichen  Zeiten,  wesentlich  am 
Tage;  am  14.  August  (VII)  erhielt  er  sie  in  zwei  gleichen 
Hälften.  Morgens  zu  Anfang  des  Versuches  die  erste ,  und 
12  Stunden  darnach  die  zweite.  Man  ersieht,  dass  der 
Unterschied  in  der  Kohlensäureausscheidung  zwischen  Tag 
und  Nacht  nie  so  gross  ist,  wie  beim  normalen  Menschen. 
Es  ist  auch  kein  wesentlicher  Unterschied,  üb  mau  dem 
Diabetiker  die  Kost  in  einer  Abtheilung  oder  auf  zwei  gleiche 
Zeithälften  vertheilt  gab. 

In  der  Sauerstofl'aufnahme  zeigt  sieh  ,  dass  auch  der 
Diabetiker  in  der  Nacht  mehr  als  am  Tage  aufnimmt.  Auch 
beim  Diabetiker  wird  der  Unterschied  durch  Vertheilung  der 
Kost  auf  zwei  gleiche  Tageshälften  grösser,  ebenso  wie  beim 
Gesunden  (XIV). 

Noch  auf  einen  andern,  wie  uns  scheint,  nicht  unwich- 
tigen Umstand  wurden  wir  durch  die  in  zwei  Abschnitte 
getheilten  Versuche  aufmerksam,  nämlich  auf  die  in  gleichen 
Zeitabschnitten  und  bei  einer  analog  zusammengesetzten 
Nahrung  ausgeschiedenen  Mengen  Harnstoff  und  Zucker,  mit 
andern  Worten  auf  den  gleichzeitigen  Gang  der  Eiweisszersetz- 
ung  und  der  Zuckerbildung  im  Körper.  Sie  gehen,  was  die 
Zeit  anlangt,  auffallend  parallel.  Wir  wollen  dem  Ergebniss 
der  Versuche  VI  und  VII  vom  10.  und  14.  August,  die  in  der 
Tabelle  aufgeführt  sind,  noch  das  eines  andern  am  11.  August 
angestellten  hinzufügen,  wo  die  Nahrung  ähnlich  wie  am  10. 
war,  aber  die  Produkte  der  Respiration  unberücksichtigt 
blieben.     Es  wurde  an  diesen  3  Tagen  ausgeschieden 


588        Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  ?.  Dezember  1867. 

a.  b.  c. 

Harnstoff  bei  Tag  29,7       20,7       35,4 

„    Nacht       20,1       22,4       30,5 
Zucker       bei  Tag        246,4     167,6     275,4 
„    Nacht     148,1     188,2     259,9 
Ein    gewisser  Parallelismus    ist    unverkennbar ,    und   es 
lässt  sich  bei  diesen  drei  analogen  Versuchen  aus  dem  Harn- 
stoff nicht   nur  die  Zuckermenge    im  Ganzen,    sondern  auch 
für  die  einzelnen  Zeithälften    ziemlich  annähernd  berechnen. 
In    diesen    3   Tagen    wurden     157,8    Harnstoff    und    1285,6 
Zucker  entleert,  was  im  Mittel  auf  100  Harnstoff  814  Zucker 
entspricht. 

Es  ergiebt  nun 

für  -24  Stunden 
a.         b.        c. 
die  Rechnung  405     350     536  Zucker 
der  Versuch     394     356     535 

ferner  für  den  Tag 
die  Rechnung   242     168     288      „ 
der  Versuch     246     167     275 

für  die  Nacht 
die  Rechnung   163     182     248      „ 
der  Versuch      148     188     259 

Diese  Uebereinstimmung  zwischen  Rechnung  und  Ver- 
such ist  gewiss  kein  Zufall  und  deutet  auf  eine  innige  Be- 
ziehung zwischen  Eiweisszersetzung  und  Zuckerbildung  bei 
analoger  Nahrung  hin. 

Vergleichen  wir  zum  Schluss  noch  einen  Augenblick 
den  Diabetiker  mit  dem  Manne  Nr.  II  in  unsern  Normal- 
Versuchen,  mit  dem  wir  nur  einen  einzigen  Versuch  (XV) 
angestellt  haben.  Wir  hatten  den  Mann  Nr.  II  ausgewählt, 
weil  derselbe  für  gewöhnlich  sehr  schlecht  und  kümmerlich 
sich  nährte,  klein  und  mager,  aber  sonst  gesund  war.     Wir 


v.  Pettenkofer:  Stoff  verbrauch  bei  Zuckerharnruhr.  589 

wollten  nur  sehen,  wie  ein  solcher  Körper  mit  der  mittleren 
Kost,  die  den  kräftigen  und  wohlgenährten  Mann  Nr.  I  ganz 
auf  seinem  Bestände  erhielt,  haushalten  würde.  Es  war 
vorauszusehen,  dass  er  seine  Nahrung  nicht  sofort  in  24 
Stunden  umsetzen,  nicht  so  viel  Sauerstoff  aufnehmen  und 
nicht  so  viel  Kohlensäure  erzeugen  würde,  wie  Nr.  I,  weil 
alle  seine  Organe  kleiner  und  mangelhafter  ernährt  sein 
mussten;  wir  wollten  nur  sehen,  wie  viel  Ansatz  und  in 
welcher  Form  er  zunächst  erfolge.  Die  in  der  Zeitschrift 
für  Biologie  bereits  mitgetheilte  Stoffwechselgleichung2)  zeigt 
deutlich,  dass  Nr.  II.  wohl  in's  Stickstoffgleichgewicht  mit 
seiner  Nahrung  gekommen  war ,  aber  90  Grmm.  Kohlen- 
stoff nicht  ausschied,  die  er  nach  dem  Ergebniss  der  Gleich- 
ung als  Fett  (114  Grmm.)  zurückbehalten  hat. 

Bei  derselben  mittleren  Kost  zeigte  der  Diabetiker  nicht 
nur  kein  Stickstoffgleichgewicht,  sondern  gab  noch  24  Pro- 
cent darüber  von  seinem  Körper  her.  Er  setzte  auch  keinen 
Kohlenstoff  an,  wie  der  Mann  Nr.  II,  sondern  verlor  bei 
dieser  Kost  noch  67  Grmm.  von  seinem  Körperkohlenstoff- 
vorrath  dazu.  Merkwürdiger  Weise  schied  der  kleine  Mann 
Nr.  II  bei  einer  Aufnahme  von  nur  594  Grmm.  Sauerstoff 
mehr  Kohlensäure  aus,  als  der  Diabetiker  der  680  Grmm. 
0  aufnahm  und  setzte  noch  114  Grmm.  Fett  an;  er  würde 
sich  mit  derselben  Kost  also,  mit  der  der  Diabetiker  seine 
Ausgaben  nicht  entfernt  bestreiten  konnte,  in  kurzer  Zeit 
gemästet  haben. 

Hätte  man  nur  den  Versuch  XV  am  normalen  Menschen 
und  den  Versuch  III  am  Diabetiker  zum  Vergleiche,  so 
könnte  man  der  Ansicht  Raum  geben,  dass  der  wesentliche 
Unterschied  darin  bestehe,  dass  der  Gesunde  das  Eiweiss 
in  Harnstoff  und  Fett  umsetze  und  letzteres,  wenn  es  keine 


2)  Zeitschrift  für  Biologie.     Bd.  II.  S.  514. 
[1867.  II.  4.]  39 


590         Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Gelegenheit  zu  verbrennen  findet,  im  Körper  aufspeichere, 
der  Diabetiker  aber  es  in  Harnstoff  und  Zucker  verwandle, 
und  grossentheils  im  Harn  ausscheide.  Diese  Anschauung 
wäre  im  Sinne  der  Schi  ff  sehen  Hypothese,  dass  die  nächste 
Ursache  des  Diabetes  mellitus  nur  eine  gesteigerte  Zucker- 
bildung sei,  eine  Anschauung,  der  auch  Kühne  huldiget,  der 
wir  uns  aber  aus  den  oben  angeführten  thatsächlichen  Grün- 
den nicht  anschliessen  können. 

Wir  halten  durch  unsere  Untersuchungen,  in  welchen 
wir  die  ersten  vollständigen,  von  allen  hypothetischen  Zahlen 
freien  Stoffwechselgleichungen  für  eiuen  kranken  Menschen 
geliefert  haben ,  für  constatirt ,  dass  beim  Diabetiker  ein 
grösserer  und  schnellerer  Eiweissumsatz  stattfindet,  feiner 
dass  der  Kranke  bei  gleichem  Eiweissumsatz  weniger 
Sauerstoff  aufnimmt,  als  ein  Gesunder;  dann  dass  er 
im  Hungerzustande  entweder  von  einem  Vorrath  an 
Eiweiss  und  Zucker  in  seinem  Körper  lebt,  oder,  was 
wahrscheinlicher  ist,  eine  beträchtliche  Menge  Sauerstoff 
von  seinem  Körper  verliert,  und  endlich,  dass  die  Bildung 
und  Ausscheidung  von  Harnstoff  und  Zucker  einen  gewissen 
Zusammenhang  sowohl  nach  Zeit  als  nach  Menge  verrathen. 
Diese  vier  Thatsachen  scheinen  uns  feste  Grundlagen  für 
weitere  Forschungen  über  diese  Krankheit  abzugeben. 


Büchner:  Vergiftung  mit  Blausäure.  591 


Herr  B  u  c li  n  e  r  sprach  : 

„Ueber    die    Beschaffenheit    des   Blutes    nach 
einer  Vergiftung  mit  Blausäure". 

Beobachtungen  über  die  Beschaffenheit  des  Blutes  von 
Thieren,  welche  mit  Blausäure  getödtet  worden  waren,  sind 
in  neuester  Zeit  mehrere  gemacht  worden.  In  München 
haben  hierüber  die  Herren  Collegen  Voit  und  Heinrich 
Ranke  genaue  Versuche  angestellt  und  in  Bonn  hat  Hr. 
Dr.  W.  Preyer  die  Blausäure  zum  Gegenstand  einer  aus- 
führlichen physiologischen  Untersuchung  gemacht,  deren  bis- 
herigen Ergebnisse  er  in  seiner  vor  wenigen  Tagen  er- 
schienen Schrift:  „Die  Blausäure  physiologisch  unter- 
sucht.    Erster  Theil.  Bonn   1868"  bekannt  gemacht  hat. 

Der  am  21.  November  dieses  Jahres  in  München 
geschehene  Mord  an  der  Frau  Gräfin  Chorinsky  Ledske, 
welcher,  wie  schon  die  Section  vermuthen  Hess  und  wie  die 
darauf  von  mir  vorgenommene  chemische  Untersuchung 
ausser  Zweifel  stellte,  mittelst  Blausäure  verübt  worden  war, 
hat  mir  Gelegenheit  verschafft,  die  Beschaffenheit  von  mensch- 
lichem Blute  nach  einer  solchen  Vergiftung  näher  kennen  zu 
lernen,  denn  unter  den  mir  zur  chemischen  Untersuchung 
übergebenen  Objecten  befand  sich  auch  das  bei  der  Section 
der  Leiche  der  genannten  Gräfin  gesammelte  Blut,  dessen 
Menge  285  Gramme,    mithin    etwas    über   x\%  Pfund  betrug. 

Meines  Wissens  ist  man  über  die  Art  und  Weise,  wie 
der  genannten  Gräfin  das  Gift  beigebracht  wurde,  noch  voll- 
kommen unaufgeklärt.  Der  Rest  des  Thee's ,  den  die  Un- 
glückliche unmittelbar  vor  ihrem  Tode  in  Gesellschaft  ihrer 
angeblichen  Mörderin  getrunken',  so  wie  die  übrigen  auf 
dem     Tische     vorgefundenen    Flüssigkeiten,    nämlich    Milch, 

39* 


592       Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Rum  und  Trinkwasser,  dann  der  Inhalt  des  Nachttopfes  ent- 
hielten weder  Blausäure  noch  Cyankalium ;  auch  die  anderen 
zur  Untersuchung  gebrachten  Gegenstände  aus  der  Wohn- 
ung der  Gräfin  waren  mit  Ausnahme  eines  Gläschens  mit 
Kirschlorbeerwasser ,  welches  aber  noch  ganz  voll  war  und 
dessen  Inhalt  der  Aufschrift  zufolge  als  ein  Mittel  gegen 
Leibschneiden  benutzt  werden  sollte,  vollkommen  frei  von 
diesen  Giften. 

Die  aufgeworfene  Frage,  ob  Gräfin  Gh.  mit  freier  Blau- 
säure oder  mit  Cyankalium  vergiftet  worden  sei,  konnte 
durch  die  chemische  Untersuchung  nicht  bestimmt  beantwortet 
werden,  wohl  aber  kann  ich  mit  Gewissheit  behaupten,  dass 
vier  Tage  nach  dem  Tode  das  Cyan  im  Mageninhalt  und 
auch  im  Blute  nur  als  freie  Blausäure  und  nicht  als  Cyan- 
kalium vorhanden  war  und  dass  folglich,  wenn  auch  Gräfin 
Ch.  Cyankalium  bekommen  hätte,  dieses  durch  chemische 
Zersetzung  vollkommen  in  Cyanwasserstoff  (Blausäure)  ver- 
wandelt worden  wäre. 

Der  dickbreiige  Mageninhalt,  welcher  hauptsächlich  aus 
zerkleinertem  Schinken  und  Kartoffelresten  bestand,  roch 
etwas  faulig,  aber  ausserdem  so  auffallend  nach  Blausäure, 
dass  man  schon  dadurch  auf  die  Vermuthung  einer  Blau- 
säure-Vergiftung geführt  wurde.  Dieser  mit  Wasser  gehörig 
verdünnte  Magenbrei  röthete  Lackmuspapier  ziemlich  stark; 
als  ein  Theil  davon  destillirt  wurde,  gieng  gleich  AnfaDgs 
so  viel  Blausäure  über,  dass  das  Destillat  nicht  nur  den 
charakteristischen  Blausäure-Geruch  im  hohen  Grade  besass, 
sondern  auch  die  bekannten  chemischen  Reactionen  der  Blau- 
säure in  unverkennbarer  Weise  zeigte. 

Dass  der  Mageninhalt  ausser  Blausäure  nicht  auch 
Cyankalium  oder  eine  derartige  Cyanverbindung  enthalte, 
konnte  schon  aus  der  sauren  Reaction  desselben  geschlossen 
werden,  indessen  wurde,  um  den  Beweis  davon  vollständig 
zu  liefern,    die  Destillation   des  Magenbreies    mit  Wasser  so 


Buchner:  Vergiftung  mit  Blausäure.  593 

lange  fortgesetzt,  bis  keine  Blausäure  mehr  überging,  worauf 
man  den  Destillationsrückstand  mit  Phosphorsäure  vermischte 
und  abermals  destillirte.  Aber  diessmal  konnte  im  De- 
stillat keine  Spur  von  Blausäure  mehr  entdeckt  werden. 

Ich  habe,  um  die  Menge  der  im  Mageninhalt  am 
9.  Tage  nach  dem  Tode  der  Gräfin  Ch.  noch  vorhandenen 
Blausäure  beiläufig  zu  bestimmen,  die  Quantität  dieser  Säure 
in  jenem  Destillat,  welches  aus  ungefähr  einem  Drittel  des 
Magenbreies  erhalten  worden  war ,  ausgeraittelt.  Es  ergab 
sich  hiebei  eine  Menge,  welche  auf  den  ganzen  Mageninhalt 
berechnet  nahezu  0,075  Grmm.  oder  1,2  Gran  wasser- 
freier Blausäure  entspricht.  Eine  solche  Menge  ist  in  einem 
Quentchen  der  officinellen  Blausäure  und  in  ungefähr  zwei 
Unzen  Bittermandel-  oder  Kirschlorbeerwassers  enthalten. 
Gräfin  Ch.  musste  aber  eine  grössere  Menge  Blausäure  er- 
halten haben,  weil  ein  Theil  des  Giftes,  abgesehen  von  der 
Verdunstung,  in  das  Blut  und  in  andere  Organe  überging 
und  desshalb  nicht  mehr  im  Magen  gefunden  werden  konnte. 

Nebenbei  will  ich  bemerken,  dass  das  wässerige  De- 
stillat aus  dem  Speisebrei  Lackmuspapier  nicht  röthete  und 
dass  demnach  dieser  Chymus  ausser  Blausäure  keine  andere 
flüchtige  freie  Säure  und  namentlich  keine  freie  Salzsäure 
enthielt.  Die  das  Lackmuspapier  röthende  Substanz  blieb 
im  Destillationsrückstand  und  ist  demnach  fixer  Natur; 
dieser  saure  Rückstand  lieferte  nach  dem  Filtriren  und  durch 
Eindampfen  auf  ein  kleines  Volumen  eine  gelbliche  Flüssig- 
keit, welche  bei  der  Dialyse  an  das  vorgeschlagene  Wasser 
hauptsächlich  die  Säure  und  einige  Salze  abgab.  Diese 
Flüssigkeit  wurde  bis  zur  Syrupsconsistenz  eingedampft  und 
dann  ein  paarmal  mit  warmem  Weingeist  behandelt,  wobei 
sich  ein  Theil  auflöste.  Der  Verdampfungsrückstand  der 
weingeistigen  Flüssigkeit  röthete  Lackmus  sehr  stark,  zeigte 
sich  aber  frei  von  Phosphorsäure;  die  darin  vorhandene 
fixe  Säure  war  vielmehr  organischer  Natur  und  verhielt  sich 


594         Sitzung  der  math.-phys.  Glasne  vom  7.  Dezember  1867. 

wie  Milchsäure;  die  Asche,  welche  beim  Verbrennen  zurück« 
blieb,  reagirte  nicht  mehr  sauer ,  sondern  im  Gegentheil 
schwach  alkalisch;  Kali  war  darin  in  nur  sehr  geringer 
Menge  und,  wie  es  scheint,  als  Chlorkalium  vorhanden;  der 
Hauptsache  nach  bestand  diese  Asche  aus  Chlornatrium. 

Der  in  Weingeist  unlösliche  Theil  des  Dialysirten  rea- 
girte schwach  sauer  und  war  reich  an  Phosphorsäure  und 
an  Kali;  ausser  phosphorsaurem  Kaü  konnte  darin  nichts 
Beinerkenswerth.es  gefunden  werden. 

Das  ganze  Verhalten  der  in  Wasser  löslichen  Stoffe 
aus  dem  Destillationsrückstande  des  Mageninhaltes  stimmt 
also  mit  demjenigen  des  Fleischsaftes  überein;  dasselbe 
unterstützt  keineswegs  die  Annahme,  dass  Gräfin  Ch.  durch 
Cvankalium  vergiftet  worden  sei. 

Was  nun  die  Beschaffenheit  des  Blutes  aus  der  Leiche 
der  Gräfin  Ch.  betrifft,  so  bot  dasselbe  einige  auffallende 
Verschiedenheiten  von  gewöhnlichem  menschlichen  Leichen- 
blute  dar.  Es  fiel  zunächst  auf,  dass  dieses  Blut  eine  helle 
kirschrothe  Farbe  hatte  und  diese  Farbe  mehrere  Tage  lang 
behielt,  so  wie  dass  dasselbe  am  fünften  Tage  und  auch 
noch  längere  Zeit  nach  dem  Tode  nicht  geronnen,  sondern 
vollkommen  flüssig  war.  Erst  nach  einigen  Wochen  fand 
mau  denjenigen  Theil  des  Blutes,  welchen  man  in  einem 
lose  bedeckten  Gefässe  bei  ziemlich  niedriger  Temperatur 
der  Luft  ausgesetzt  hatte,  in  eine  dünne  Gallerte  verwandelt. 
Der  hohe  Grad  der  -Unveränderlichkeit  dieses  Blutes  gab 
sich  feiner  durch  seine  lange  Unfähigkeit  zu  faulen  zu  er- 
kennen. Am  fünften  Tage  nach  dem  Tode  roch  es,  obwohl 
vor  dem  Zutritt  der  Luft  nicht  geschützt,  wie  ganz  frisches 
Blut;  später  nahm  es  einen  etwas  ranzigen  Geruch,  dem- 
jenigen alter  Butter  nicht  unähnlich,  an;  ein  Theil  des 
Blutes,  welcher  in  einem  verschlossenen  Glase  aufbewahrt 
wurde,  zeigte  erst  nach  mehreren  Wochen  schwachen 
Fäulnissgeruch.    Auch  konnte  an  dem  der  Luft  ausgesetzten 


Büchner:    Vergiftung  mit  Blausäure.  595 

Blute  lange  keine  Schimmelbildung  beobachtet  werden;  erst 
als  das  Blut  etwas  geronnen  war,  waren  auf  seiner  Ober- 
fläche einzelne  Sehimmelpartien  zu  bemerken.  Ich  habe 
diesem  noch  hinzuzufügen,  dass  bei  einer  wenige  Tage  nach 
der  Section  vorgenommenen  mikroskopischen  Beobachtung 
des  Blutes  die  meisten  rothen  Blutskörperchen  darin  zer- 
stört waren. 

Um  zu  sehen,  ob  sich  in  diesem  Blute,  welches,  wie 
vorhin  erwähnt,  wie  ganz  frisches  Blut  aber  durchaus  nicht 
nach  Blausäure  roch,  diese  Säure  am  fünften  Tage  nach 
dem  Tode  chemisch  nachweisen  lasse,  wurde  ein  Theil  des- 
selben gehörig  mit  Wasser  verdünnt  und  der  Destillation 
unterworfen.  Die  erste  Portion  des  Destillats,  welche  be- 
sonders aufgefangen  wurde,  besass  den  Geruch  nach  Blau- 
säure ganz  unverkennbar.  Silberlösung  brachte  darin  so- 
gleich eine  weisse  Trübung  hervor,  die  sich  beim  Schütteln 
zu  einem  flockigen,  sich  wie  Cyansilber  verhaltenden  Nieder- 
schlag zusammen  begab.  Das  mit  Kalilauge  und  hierauf 
mit  ein  Paar  Tropfen  Eisenoxyduloxyd-Lösung  vermischte 
Destillat  wurde  beim  Ansäuern  mit  Salzsäure  intensiv  blau 
und  bildete  nach  einiger  Zeit  einen  Niederschlag  von  Ber- 
linerblau. Mit  einigen  Tropfen  Schwefelammonium  ver- 
mischt und  auf  ein  kleines  Volumen  eingedampft,  gab  es 
mit  Eisenchlorid  eine  intensiv  blutrothe  Färbung,  die  bewies, 
dass  sich  hier  llhodanammonium  gebildet  hatte,  welches  nur 
aus  der  im  Destillat  vorhandenen  Blausäure  entstanden  sein 
konnte. 

Durch  diese  Versuche  ist  also  der  Beweis  auf  das  Be- 
stimmteste geliefert,  dass  sich  noch  am  fünften  Tage  nach 
dem  Tode  Blausäure  in  dem  Blute  damit  Vergifteter  sicher 
erkennen  lässt.  Es  ist  mir  diess  selbst  ein  paar  Wochen 
später  noch  gelungen ,  ja  sogar  in  dem  fast  vertrockneten 
Blute,  welches  sich  aus  der  Mundhöhle  der  Leiche  über  den 
oberen  Theil  der  Kleidung    und  auf  die  Stelle  des  Zimmer- 


596       Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

bodens,  auf  welcher  Gräfin  Ch.  am  zweiten  Tage  nach 
ihrer  Ermordung  liegend  gefunden  wurde ,  ergossen  hatte, 
konnte  ich  auf  die  vorhin  beschriebene  Weise  Spuren 
von  Blausäure  deutlich  nachweisen,  ebenso  in  den  mir  zur 
Untersuchung  überschickten  Eingeweiden  und  namentlich  in 
der  Leber  und  Milz. 

Als  die  empfindlichste  Methode,  um  geringe  Spuren 
von  Blausäure  zu  entdecken,  hat  sich  hiebei  die  von  Hrn. 
v.  Liebig  ausgemittelte  *)  gezeigt,  welche  auf  der  leichten 
Umwandlung  der  Blausäure  in  Rhodanammonium  durch 
Schwefelammonium  und  der  Reaction  des  Eisenchlorides  auf 
das  Rhodanammonium  beruht.  Dieser  Methode  am  nächsten 
steht  hinsichtlich  der  Empfindlichkeit  die  Umwandlung  der 
Blausäure  in  Berlinerblau.  Aber  man  muss,  um  bei  sehr 
geringen  Spuren  von  Blausäure  die  blaue  Färaung  sichtbar 
zu  machen,  das  mit  Kalilauge  versetzte  Destillat  zuvor  auf 
ein  kleines  Volumen  eindampfen,  ehe  man  sie  mit  einem 
oder  zwei  Tropfen  Eisenoxyd-Oxydullösung  vermischt  und 
mit  Salzsäure  ansäuert.  Auch  kommt  der  Niederschlag  von 
Berlinerblau  in  Form  blauer  Flöckchen  oft  erst  zum  Vorschein, 
wenn  man  die  Flüssigkeit  in  einer  Probirröhre  ein  Paar  Tage 
lang  massiger  Wärme  ausgesetzt  hat.  Spuren  von  Blausäure 
weiden  auch  durch  Silberlösung  angezeigt,  allein  da  das 
Cyansilber  keine  charakteristische  Farbe  hat  und  Spuren 
desselben  von  Chlorsilberspuren  nicht  wohl  unterschieden 
werden  können,  so  würde  natürlich  diese  Reaction  allein 
nicht  hinreichen,  um  eine  sehr  geringe  Menge  Blausäure 
sicher  zu  erkennen.  Ich  habe  mich  übrigens  jüngst  bei  der 
Untersuchung  des  mir  von  Hrn.  Collegen  Voit  zur  Verfüg- 
ung gestellten  Blutes  von  einem  Hunde,  der  mit  einer  Mini- 


1)  Annalen  der  Chemie  und  Pharmacie  1847    LXJ,  127. 


Buchner:    Vergiftung  mit  Blausäure.  597 

maldosis  voti  Cyankalium  getödtet  worden  war,  überzeugt, 
dass  in  dem  Destillat  eines  solchen  mit  Phosphorsäure  an- 
gesäuerten Blutes  weder  durch  Silber-  noch  durch  Eisen- 
lösung, sondern  nur  durch  dieRhodanreaction  an  der  Gränze 
chemischer  Wahrnehmung  stehende  Blausäurespuren  wahr- 
genommen werden  konnten. 

In  neuester  Zeit  hat  Hr.  Schönbein  in  Basel  ein  sehr 
interessantes  Verhalten  der  Blausäure  zu  den  Blutkörperchen 
beobachtet  und  in  der  Zeitschrift  für  Biologie 2)  beschrieben, 
welches,  wie  auch  ich  mich  überzeugt  habe,  als  das  em- 
pfindlichste Reagens  auf  Blausäure  und  namentlich  zur 
Nachweisung  derselben  im  Blute  bezeichnet  werden  muss. 
Dieser  Chemiker  hat  schon  vor  einigen  Jahren  gefunden, 
dass  die  Blutkörperchen  in  einem  ausgezeichneten  Grade  die 
Fähigkeit  besitzen,  nach  Art  des  Platins  das  Wasserstoff- 
hyperoxyd in  Wasser  und  gewöhnlichen  Sauerstoff  umzu- 
setzen. Diese  Fähigkeit,  welche  offenbar  von  dem  wesent- 
lichen Bestandtheil  der  Blutkörperchen,  dem  sauei  stoff- 
saugenden Häinaglobin  herrührt,  hat  auch  das  mit  Wasser 
verdünnte  entfaserte  Blut,  worin  die  Blutkörperchen  aufgelöst 
sind,  denn  auch  dieses  katalysirt  das  Wasserstoffhyperoxyd 
mit  stürmischer  Lebhaftigkeit.  Fügt  man  aber  nach  Schön- 
bein eine  nur  sehr  geringe  Menge  wässeriger  Blausäure  zu 
solchem  mit  zwei  Raumtheileu  reinen  Wassers  verdünnten 
Blute,  so  wird  die  kataiytische  Wirkung  der  Blutkörperchen 
oder  vielmehr  des  Hämaglobins  so  sehr  geschwächt,  dass 
bei  der  darauf  folgenden  Vermischung  mit  Wasserstorlhyper- 
oxyd  eine  kaum  noch  merkliche  Entbindung  von  Sauerstoff- 
gas bewirkt  wird. 

Sehr  bemerkenswerth  ist  die  weitere  von  Schönbein 
festgestellte  Thatsache,    dass  das  verdünnte  blausäurehaltige 


2)  Jabrgang  1867.  III.  3.  Heft. 


598         Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Blut  durch  Wasserstoffhyperoxyd  bis  zur  Undurchdringlich- 
keit gebräunt  wird,  was  auf  eine  tief  gehende  Veränderung 
hindeutet,  welche  das  Hämaglobin  unter  diesen  Uniständen 
erleidet. 

Dass  die  Blausäure  für  sich  allein  auf  das  Hämaglobin 
weder  chemisch  noch  anderweitig  einwirkt,  ergiebt  sich  schon 
aus  dem  Umstände,  dass  die  Färbung  der  Blutflüssigkeit 
nach  Zusatz  von  Blausäure  unverändert  bleibt  (bei  mehr 
Blausäure  sich  höher  röthet)  und  dass  blausäurehaltiges,  mit 
Wasser  gehörig  verdünntes  Blut  im  Spectrum  die  zwei  so 
charakteristischen  Absorptionsstreifen  des  sauerstoffhaltigen 
Hämaglobins  (Oxyhämaglobins)  zeigt.  Schönbein  hat  ge- 
funden, dass  'solches  Blut  seine  frühere  katalytische  Wirk- 
samkeit wieder  äussert ,  nachdem  man  aus  ihm  die  Blau- 
säure hat  verdampfen  lassen.  Die  blausäurehaltige  Blut- 
flüssigkeit, welche  man  mehrere  Stunden  lang  in  einem 
flachen  Gefässe  und  an  einem  massig  erwärmten  Ort  offen 
an  der  Luft  hatte  stehen  lassen,  vermochte  das  Wasserstoff- 
superoxyd wieder  lebhaft  zu  zerlegen,  ohne  durch  Letzteres 
im  Mindesten  gebräunt  zu  werden ,  während  die  gleiche  in 
einer  luftdicht  verschlossenen  Flasche' Tage  lang  gehaltene 
Flüssigkeit  Wasserstoffhyperoxyd  immer  nur  schwach  kata- 
lysirte  und  durch  dieses  stark   gebräunt  wurde. 

Die  Eigenschaft  blausäurehaltigen  Blutes,  durch  Wasser- 
stoffhyperoxyd tief  gebräunt  zu  werden,  macht  es  möglich, 
in  jener  Flüssigkeit  noch  eine  verschwindend  kleine  Menge 
von  Cyauwasserstoffsäure  nachzuweisen.  Um  dieses  zu  be- 
weisen, hat  Schönbein  50  Gramme  entfaserten  Ochsen- 
blutes mit  450  Grammen  Wassers  und  5  Milligrammen 
Blausäure  (auf  die  wasserfreie  bezogen)  versetzt.  Dieses 
Gemisch  wurde  durch  Wasserstoffhyperoxyd  noch  tief  ge- 
bräunt, obgleich  darin  nur  ein  hunderttausendtel  Blausäure 
enthalten  war.  Ja  es  konnte  die  Mischung  noch  mit  der 
siebenfachen  Menge  Wassers  verdünnt  werden,    so    dass    es 


Büchner:    Vergiftung  mit  Blausäure.  599 

nur  noch  V800000  Blausäure  enthielt,  um  beim  Zufügen  von 
Wasserstoffhyperoxyd  noch  immer  auf  das  Deutlichste  ge- 
bräunt zu  werden. 

Schönbein  konnte  bei  Anwendung  dieses  Verfahrens 
in  gewöhnlichem  Kirschwasser  noch  augenfälligst  Blausäure 
nachweisen,  die  darin  durch  kein  anderes  Reagens  mehr  zu 
erkennen  war;  er  bezeichnet  desshalb  die  Blutkörperchen  in 
Verbindung  mit  Wasserstoffsuperoxyd  als  das  empfindlichste 
Reagens  auf  Blausäure.  Uebrigens  ist  es,  um  die  beschrie- 
bene Reaction  zu  erhalten,  keineswegs  gleichgiltig,  in  welcher 
Aufeinanderfolge  man  Blausäure  und  Wasserstoffsuperoxyd 
zu  der  Blutflüssigkeit  fügt;  denn  wird  das  Superoxyd  in 
einiger  Menge  zuerst  beigemischt,  so  verursacht  die  Blau- 
säure nicht  die  geringste  Bräunung  und  wird  das  Wasser- 
stoffsuperoxyd ebenso  lebhaft  katalysirt,  als  wenn  keine 
Blausäure  in  dem  Blute  vorhanden  wäre. 

Ueber  das  Absorptiousspectrum  des  durch  Wasserstoff- 
hyperoxyd gebräunten  blausäurehaltigen  Blutes  hat  Hr.  Prof. 
Hagenbach  in  Basel  Versuche  angestellt.  Er  hat  gefunden, 
dass  in  eben  dem  Masse ,  als  die  rothe  Farbe  der  Blut- 
flüssigkeit in  die  braune  übergeht,  die  beiden  charakteristi- 
schen, zwischen  E  und  D  liegenden  Absorptionsstreifen  des 
Oxyhämaglubins  im  Spectrum  verschwinden,  ohne  dass  dafür 
ein  neuer  Streifen  aufträte.  Es  erstreckt  sich  dann  die  Ab- 
sorption ziemlich  gleichmässig  über  das  Spectralfeld ,  das 
Roth  ausgenommen,  welches  bei  einiger  Concentiation  der 
Blutflüssigkeit  allein  noch  durch  dieselbe  dringt.  Dadurch 
kann  man  das  blausäurehaltige  durch  Wasserstoffhyperoxyd 
gebräunte  Blut  von  demjenigen,  dessen  Bräunung  durch 
Schwelelsäure  bewirkt  ist,  und  welches  jenem  bis  zum  Ver- 
wechseln gleicht,  unterscheiden,  denn  die  schwefelsäure- 
haltige Blutflüssigkeit  zeigt  einen  deutlichen  Absorptions- 
streifen im  Roth ,  welcher  dem  durch  Wasserstoffsyperoxyd 
gebräunten  blausäurehaltigen  Blute  vollkommen  fehlt. 


600         Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Der  an  Gräfin  Chorinsky  begangene  Giftmord  bot 
mir  eine  ganz  passende  Gelegenheit  dar,  die  Tauglichkeit 
des  Schön b ein' sehen  Verfahrens  zur  Nachweisung  der 
Blausäure  im  Blute  eines  mit  Blausäure  vergifteten  Menschen 
zu  erproben.  Ich  brauche  kaum  zu  sagen ,  dass  ich  hiebei 
die  Angaben  Schönbein's  vollkommen  bestätiget  gefunden 
habe.  Das  Blut  aus  der  Leiche  der  Gräfin  Ch.  hat  sich 
auch  bei  dieser  Prüfung  als  ein  verhältnissmässig  stark 
blausäurehaltiges  erwiesen.  Ich  habe  seitdem  schon  öfter 
dieses  Verfahren  an  blausäure-  sowie  an  cyankaliumhaltigen 
Blute  geprüft  und  mich  dabei  von  dem  hohen  Grade  seiner 
Empfindlichkeit  überzeugt.  Das  Blut  von  dem  Hunde,  welchen 
Hr.  Collega  Voit  mit  einer  sehr  geringen  Menge  Cyan- 
kaliums  vergiftet  hatte,  wurde  beim  Vermischen  mit  Wasser- 
stoffhyperoxyd auf  das  Deutlichste  gebräunt,  obwohl  sich 
aus  der  Flüssigkeit  ziemlich  viele  Sauerstoffbläschen  ent- 
wickelten, während  in  demselben  Blute,  wie  oben  erwähnt 
wurde,  bloss  noch  durch  die  Rhodanreaction  an  der  Gränze 
chemischer  Wahrnehmung  stehende  Blausäurespuren  entdeckt 
werden  konnten.  Das  durch  Wasserstoffsuperoxyd  erfolgende 
Dunklerwerden  eines  Blutes,  welches  nur  Spuren  von  Blau- 
säure enthält,  nimmt  man  am  besten  durch  einen  verglei- 
chenden Versuch  wahr ,  indem  man  von  gleichen  Hälften 
des  zu  prüfenden  Blutes  die  eine  mit  Wasserstoffhyperoxyd 
und  die  andere  mit  demselben  Volumen  reinen  Wassers 
vermischt  und  dann  die  Farbe  der  beiden  Flüssigkeiten  be- 
trachtet ;  wenige  Tropfen  Blutes  genügen  zu  diesem  Versuche. 

Ich  halte  das  Schönbein'sche  Verfahren  für  das  be- 
quemste und  empfindlichste  zur  Nachweisung  der  Blausäure 
im  Blute.  Aber  damit  man  die  Erscheinung  des  Dunkler- 
werdens durch  Wasserstoffhyperoxyd  wahrnehmen  könne, 
darf  das  Blut  nicht  schon  so  alt  sein,  dass  es  durch  frei- 
willige Zersetzung  dunkler  geworden  ist,  denn  ein  solches 
blausäurehaltiges  Blut    wird    durch  Wasserstoffhyperoxyd  in 


Vogel:  Gerding's  Geschichte  der  Chepiie.  601 

seiner  Farbe  nicht  mehr  verändert.  Im  Blute  aus  der  Leiche 
der  Gräfin  Ch.  habe  ich  noch  lange,  nachdem  Wasserstoff- 
hyperoxyd keine  Farbenveränderung  mehr  darin  bewirkte, 
mittelst  der  anderen  Reagentien  Blausäure  nachweisen 
können. 


Herr  Vogel  legt 

„Gerding's  Geschichte  der  Chemie".  (Leipzig 
1867)  im  Auftrage  des  Verfassers  der  Classe  vor 
und  berichtet  darüber  Folgendes: 

Gerding's  Geschichte  der  Chemie  umfasst  die  historische 
Entwicklung  der  gesammten  chemischen  Wissenschaft  in  zwei 
Theilen ;  der  erste  Theil  behandelt  die  allgemeine  Geschichte 
der  Chemie  in  vier  Hauptperioden,  chemische  Kenntnisse 
des  Alterthums,  Zeitalter  der  Alchemie  und  medicinischen 
Chemie,  das  phlogistische  Zeitalter  und  das  quantitative  Zeit- 
alter, mit  Rücksicht  auf  die  hervorragendsten  Chemiker  und 
deren  Leistungen.  Der  zweite  Theil  begreift  die  specielle 
Geschichte  der  Chemie  oder  die  Geschichte  der  wichtigsten 
Lehren,  Theorien  und  einzelnen  Stoffe. 

Kopp's  Geschichte  der  Chemie  —  dieses  anerkannt 
classische  Werk  —  hat  dem  Verfasser  als  leitendes  Muster 
gedient  und  es  möchte  vorliegendes  Coinpendium  neben  jener 
unübertrefflichen  Geschichte  der  Chemie  beinahe  als  ein  ge- 
wagtes Unternehmen  erscheinen.  Dieses  Bedenken  ver- 
schwindet indess  bei  der  Erwägung,  dass  jenes  vier  Bände 
umfassende  Werk  während  der  Jahre  1843  bis  1847  er- 
schienen ist  und  seitdem  eine  ausserordentliche  Menge  neuer 
Thatsachen.    welche    ihre  Verzeichnung   in  den  Annalen  der 


602        Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Geschichte  wohl  verdienen,  zu  Tage  gefördert  wurde.  Ausser- 
dem bietet  Kopp's  Geschichte  der  Chemie  ein  so  umfang- 
reiches ausführlich  behandeltes  Material,  dass  neben  der- 
selben eine  gedrängtere  Bearbeitung  des  reichhaltigen 
Gegenstandes  als  eine  nicht  unwillkommene  Erscheinung 
betrachtet  werden  dürfte.  Die  au  historischen  Quellen  so 
glänzend  ausgestattete  Bibliothek  der  Georgia  Augusta  ist 
dem  classisch  gebildeten  mit  gründlichen  philologischen 
Kenntnissen  ausgerüsteten  Verfasser  bei  seinen  mühsamen 
und  tief  eingehenden  Vorstudien  wohl  zu  Statten  gekommen; 
es  ist  ihm  gelungen,  aus  den  ältesten  historischen  Werken 
die  schönsten  Citate  und  Belege  zu  einem  entsprechenden 
Ganzen  zu  vereinigen.  Der  durch  zahlreiche  literarische 
Leistungen  schon  rühmlichst  bekannte  Verfasser  hat  sich 
mit  seiner  vorliegenden  Arbeit,  welche  die  Forschungen  der 
neuesten  Zeit  selbstverständlich  nur  aphoristisch  behandeln 
konnte,  vollen  Anspruch  auf  Anerkennung  erworben. 


Gütnbel:  Die  geognost.   Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      603 


Herr  G  um  bei  trägt  vor: 

,.Ueber  die  geognostischen  Verhältnisse  des 
Mont-Blanc  und  seiner  Nachbarschaft  nach 
der  Darstellung  von  Prof.  Alph.  Favre  und 
ihre  Beziehungen  zu  den  benachbarten  üst- 
alpen." 

Wenn  es  richtig  ist,  dass  mit  der  Arbeit  unsere  Kraft 
wächst,  so  muss  man  es  ebenso  natürlich  als  erklärlich  finden, 
dass  in  der  Schweiz,  dem  Lande  der  Hochgebirge  und  der 
mannichfaltigsten  Felsmassen,  welche  diese  zusammensetzen, 
der  menschliche  Geist  sich  schon  frühzeitig  mit  allem  Kraft- 
aufwand an  der  Lösung  der  grossen  Probleme  versuchte, 
welche  die  gewaltige  Alpennatur  hier  in  so  reicher  Fülle  uns 
unmittelbar  vor  die  Augen  gestellt  hat. 

Hier  war  es  daher  auch,  wo  ein  Saussure,  gegen  das 
Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  unter  wenigen  Gebirgsforschern 
einer  der  Ersten ,  welcher  mit  der  bis  dahin  vorherrschend 
speculativen  Richtung  brach,  und,  mit  einer  Unermüdlichkeit, 
Unbefangenheit  und  Treue,  die  uns  in  Staunen  versetzt,  und 
mit  einer  Beobachtungsgabe  und  mit  einem  Scharfblick,  die 
den  ächten  Naturforscher  kennzeichnen,  sich  der  directen 
Naturbeobachtung  zuwandte  und  den  fruchtbaren  und  sicheren 
Weg  exakter  Forschung  mit  kühnen  Schlitten  betrat.  Eine 
lange  Reihe  glänzender  Namen  seiner  Landsleute  hat  die 
Wissenschaft  zu  verzeichnen,  welche  die  von  Saussure  ein- 
geschlagene Richtung  in  den  heiniathlichen  Bergen  weiter 
verfolgten  und  geleitet  von  dem  Lichte  der  unaufhaltsam 
fortschreitenden  Wissenschaft  mit  steigerndem  Erfolge  das 
Räthsel  des  Gebirgsbaues  der  Alpen  zu  lösen  strebten.  Wenn 
hierbei    ein    grosser    Unterschied    zwischen    den    Ergebnissen 


604       Sitzung  der  math.-phys.  (Jlasse  vom  7.  Dezember  1867. 

der  Forschungen  früherer  Zeit  und  der  Gegenwart  sich  be- 
merkbar macht,  so  entspricht  dieses  eben  dem  Standpunkte 
der  Wissenschaft  von  damals  und  heute  und  es  ist  von 
hohem  Interesse,  diesen  Unterschied  zu  erkennen  und  uns 
des  grossartigen  Fortschritts  zu  freuen. 

Saussure  hatte  ganz  besonders  die  Umgegend  von 
Genf  und  den  Stock  des  Mont-Blanc-Gebirges  zum  Gegen- 
stand seiuer  bewunderungswürdigen  Forschungen  gewählt  und 
eine  Fülle  von  Thatsachen  festgestellt,  welche  uns  eine  un- 
veränderliche Errungenschaft  für  die  Wissenschaft  bleiben 
werden.  Die  allgemeine  Aufmerksamkeit  der  Gebirgsforscher 
war  seit  dieser  Zeit  auf  diesen  Theil  der  Alpen  gelenkt 
worden  und  fast  alle  bedeutenden  Geologen  der  neueren 
Zeit  haben  sich  an  der  Fortführung  der  Gebirgsuntersuchung 
im  Gebiete  des  Mont-Blanc's  betheiligt.  Der  jüngsten  Zeit 
aber  war  es  vorbehalten,  ein  umfassendes  Werk  über  die 
geognostischen  Verhältnisse  jenes  riesigen  Alpenstocks  und 
seiner  Umgebung  an's  Licht  treten  zu  sehen,  welches  ganz 
im  Sinn  und  Geist  eines  Saussure  gehalten,  sich  den  Vor- 
zug zu  eigen  gemacht  hat,  auf  der  Höhe  der  fortgeschrittenen 
Wissenschaft  unserer  Zeit  zu  stehen.  Es  sind  diess  die 
„Recherches  geologiques  dans  les  parties  de  la  Savoie, 
du  Piemont  et  de  la  Suisse  voisines  du  Mont-Blanc"  von 
Alphonse  Favre,  Professor  der  Geologie  an  der  Akademie 
zu  Genf,  1867  in  3  Bänden  mit  einem  Atlas  von  32  Blättern. 
Mit  grosser  Freude  begrüssen  wir  ein  Werk,  in  welchem 
der  berühmte  Verfasser  die  Ergebnisse  seiner  vieljährigen 
mit  Saussure'schem  Fleiss.  Unermüdlichkeit  und  Gründlich- 
keit angestellten  und  bis  ins  kleinste  Detail  ausgeführten 
Untersuchungen,  welche  immer  die  Feststellung  von  That- 
sachen mit  grösster  Unbefangenheit  und  unbekümmert  um 
jede  theoretische  Erklärung  als  höchste  Aufgabe  sich  gestellt 
hatten  und  mit  einer  der  grossen  Aufgabe  vollständig  gewach- 


Gümbel:  Die  geognost.   Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      605 

senen  scharfen  Beobachtungsgabe  angestellt  wurden ,  uns  so 
eben  vorgelegt  hat. 

Die  Fülle  der  Detailbeobachtung,  die  Richtigkeit  in  der 
Beurtheilung  der  Gebirgsverhältnisse  und  die  Klarheit  der 
Darstellung  muss  uns  mit  Bewunderung  erfüllen,  wenn 
man  die  Schwierigkeiten  erwägt,  welche  den  Alpenforschungen 
nach  allen  Seiten  sich  in  den  Weg  stellen,  und  wenn  man 
die  verwickelten  Verhältnisse  berücksichtigt,  welchen  wir  in 
den  Alpen  fast  Schritt  für  Schritt  begegnen.  Der  kühne 
Alpengeologe  hat  seine  schwierige  Aufgabe  glücklich  und 
meisterhaft  gelöst.  Wenn  derselbe  sich  aber  nicht  blos 
darauf  beschränkt,  uns  mit  den  Thatsachen  bekannt  zu 
machen,  welche  er  durch  Beobachtung  feststellte,  sondern 
auch  aus  diesem  Detail  mit  seiner  fast  verwirrenden  und 
den  Ueberblick  erschwerenden  Ausführlichkeit  heraus  sich 
auf  den  höheren  Standpunkt  des  Zusammenfassens  und  der 
Folgerungen  erhebt,  soweit  sie  sich  aus  der  grossen  Menge 
von  Einzelheiten  mit  Sicherheit  und  nach  den  Erfahrungen 
der  Wissenschaft  unserer  Tage  vorurteilsfrei  gewinnen  lassen, 
so  können  wir  dem  Verfasser  nur  Dank  wissen  für  die  vielen 
und  höchstwichtigen  Schlüsse  über  die  Entstehung  der  Ge- 
steine und  die  Bildungsweise  jener  Gebietsteile  der  Alpen, 
welche  er  zum  Gegenstand  seiner  Studien  gewählt  hat. 

So  sehen  wir  durch  diese  Meisterarbeit,  welche  durch 
die  Beigabe  einer  äusserst  zahlreichen  Menge  von  sehr  klar 
dargestellten  Profilen,  Gebirgsansichten  und  Abbildungen  von 
eingeschlossenen  organischen  Ueberresten  sehr  an  Verständ- 
lichkeit gewinnt,  und  einer  schon  früher  publicirten  sehr 
gelungenen  geognostischen  Karte  der  betreffenden  Gegend 
(Carte  geologique  des  parties  de  la  Savoie,  du  Piemont  et 
de  la  Suisse  voisenes  du  Mont-Blanc,  Winterthur  1862)  sich 
anschliesst,  eine  fühlbare  Lücke  in  der  Reihe  der  in  neuerer 
Zeit  erschienenen  monographischen  Schilderungen  der  geogno- 
stischen Verhältnisse  einzelner  Alpengebirgsglieder  in  West 
[1867.  II.  4.]  40 


606      Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1S67. 

und  Ost  auf  die  würdigste  Weise  ausgefüllt  und  eine  passende 
Gelegenheit  gegeben,  aus  dem  reichen  Inhalt  dieser  Schrift 
einiges  Wenige  hervorzuheben,  welches  durch  Vergleichung 
mit  den  geognostischen  Verhältnissen  unseres  bayerischen 
Antheils  an  der  grossen  Alpenkette  erhöhtes  Interesse  ge- 
winnen dürfte. 

Es  scheint  diess  um  so  mehr  gerechtfertigt,  als  der 
Verfasser,  der  mit  einer  äussersten  Gewissenhaftigkeit  die 
gesammte  französische ,  englische  und  italienische  Literatur 
zu  Rathe  zieht,  vergleichsweise  seltener  Veranlassung  nimmt, 
auf  deutsche  Arbeiten  sich  zu  beziehen. 

Prof.  Favre  führt  uns  zuerst  in  die  Ebene  des  Genfer 
See's  und  macht  uns  hier  mit  einer  Menge  von  geogno- 
stischen Erscheinungen  in  einer  Ausführlichkeit  bekannt, 
welche  diese  Untersuchung  über  die  jüngeren  Ablagerungen 
vollständig  zu  erschöpfen  scheint.  Besonders  ausführlich 
werden  die  Verhältnisse  der  Gletscher  und  der  Glacial- 
gebilde  im  Allgemeinen  besprochen.  Er  glaubt  keine  feste 
Grenze  zwischen  den  Gebilden  der  gegenwärtigen  Zeitperiode, 
der  sogenannten  historischen  Zeit  und  den  zunächst  voraus- 
gehenden Ablagerungen  der  sonst  wohl  auschliesslich  als  quatär 
oder  diluvial  bezeichneten  Periode  ziehen  zu  dürfen.  Er  fasst 
beide  als  Quatärschichten  der  Ebene  (terrains  quaternaires) 
auf  und  unterscheidet  vom  jüngeren  zum  älteren  fortschreitend: 

1)  Modernes  Alluvium, 

2)  Terrassen  Alluvium  (nachglaciale  Bildung), 

3)  Glacial-Gebilde, 

4)  Alte  Alluvionen  mit  Mergel  und  Lignit. 

Das  Interesse,  welches  sich  an  diese  gründlichen  Unter- 
suchungen Favre's  über  den  Boden  der  Ebene  zwischen 
dem  Alpenzug  und  der  Jurakette  für  uns  insbesondere  knüpft, 
bezieht  sich  auf  die  geognostische  Beschaffenheit  der  soweit 
ausgedehnten  Hochebene,  welche  sich  bei  uns  vor  dem  Hoch- 
gebirge nordwärts  ausbreitet  und  es  entsteht  die  Frage,   ob 


Gümbel:  Die  geognost.    Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.       607 

wir  auch  bei  uns  gleiche  Erscheinungen  als  das  Resultat 
gleicher  Ursachen ,  wie  in  jener  äussersten  SW.  -  Ecke  der 
grossen  nordalpinen  Verebnung  wahrnehmen.  Ich  habe  in 
meiner  Beschreibung  des  bayerischen  Alpengebirges  und  seines 
Vorlandes1)  eine  Bildung  der  Quatärzeit  beschrieben,  welches 
ich  Terrassen-Diluvium  nenne  (S.  800),  und  ich  glaube, 
dass  dieses  Gebilde  dem  Favre 'sehen  Terrassen  Alluvium 
entspricht.  In  den  bayerischen  Alpen  findet  sich  dasselbe 
ziemlich  hoch  über  dem  jetzigen  Wasserstand  60 — 75  Fuss 
über  den  Thalsohlen  und  liefert,  wie  bei  Genf,  den  Beweis 
eines  früheren  höheren  Laufs  der  Gewässer,  die  nun  nach  und 
nach  ihr  Bett  sich  eingetieft  haben.  Da  solche  Gebilde  in 
unsern  Alpenthälern  vorkommen,  darf  man  mit  Grund  schliessen, 
dass  zur  Zeit  ihrer  Bildung  das  Alpengebirge  bereits  die 
Hauptform  angenommen  hatte ,  die  es  jetzt  besitzt  und  die 
Thalungen  bereits ,  wenn  auch  weniger  tief  als-  jetzt ,  ihre 
Furchen  zu  ziehen  begonnen  hatten.  Indem  solche  Terrassen 
staffeiförmig  an  den  Thalgehängen  bis  zur  jetzigen  Sohle 
sich  herabziehen,  verbinden  sie  die  Erzeugnisse  einer  älteren 
Periode  durch  allmählige  Uebergänge  mit  den  Alluvionen 
der  Jetztzeit.  Bei  uns  fehlen  darin  organische  Einschlüsse, 
welche  bei  Genf  vorkommen.  Wenn  hier  neben  Elephas  pri- 
migenius  und  Cervus  tarandus  Ueberreste  von  Mastadon 
gänzlich  fehlen ,  so  scheint  diess  ein  neuer  Beweis  dafür 
zu  sein,  dass  letztere  Art  in  Europa  früher  ausstarb,  als  in 
Nordamerika. 

Von  ganz  besonderer  Wichtigkeit  auch  für  uns  sind  die 
Erzeugnisse  der  sogenannten  Glacialzeit,  welche  Favre 
mit  besonderer  Vorliebe  und  Gründlichkeit  beschreibt.  Er 
giebt  zugleich   in   grosser  Vollständigkeit  eine  geschichtliche 


1)  Geogii.  Beschr.  d.  bayer.  Alpengebirges  und  seines  Vorlandes 
von  C.  W.  Gümbel  1861. 

40* 


608        Sitzung  der  math.-phys   vom  Classe  7.  Dezember  1867. 

Entwicklung  der  sogenannten  Eisz  eittheorie,  um  sie  dann  ein- 
zeln kritisch  zu  beleuchten  und  um  endlich  für  die  Annahme 
die  schlagendsten  Gründe  aus  dem  reichen  Schatze  seiner 
Erfahrungen  aufzuhäufen,  dass  die  ungeheure  Ausdehnung 
der  Gletscher,  selbst  bis  über  den  Genfersee  hinaus  einfach 
aus  dem  Zusammentreffen  einer  Reihe  nasser  Jahre  mit 
reichem  Schneefall,  wie  sie  bisweilen  jetzt  noch  eintreten, 
(1816 — 1818),  wie  sie  früher  einmal  vielleicht  im  verstärkten 
Maasse  und  länger  andauernd  sich  gezeigt  haben  können  in 
Verbindung  mit  der  grösseren  Höhe,  welche  das  Alpengebirge 
bei  Beginn  der  Quatärzeit  ohne  Zweifel  eingenommen  haben 
inuss,  als  alle  Gesteinsmassen,  welche  jetzt  die  weitausge- 
dehnten Ebenen  vor  den  Alpen  als  Geröll  und  Schutt  erfüllen, 
noch  nicht  aus  demselben  fortgeführt  worden  war,  zu  er- 
klären sei.  Auch  mag  die  gesteigerte  Verdunstung  der  bei 
der  Alpenerhebung  aus  der  Wasserbedeckung  aufgetauchten 
ausgedehnten  Ländermassen  viel  zur  Depression  der  Tem- 
peratur beigetragen  haben.  Wir  finden  kaum  irgendwo  eine 
lichtvollere ,  ruhigere  und  vollständigere  Darstellung  aller 
hierher  gehörigen  Erscheinungen  und  deren  Erklärungsweisen 
als  in  dem  diesem  Gegenstand  gewidmeten  10ten  Capitel,  nachdem 
der  Verfasser  in  den  vorausgehenden  Abschnitten  vorerst  die 
Thatsachen  genau  beschrieben  hatte,  welche  im  Gebiet  seiner 
Darstellung  zu  beobachten  sind.  Es  sind  hier  eine  Menge  der 
interessantesten  Beobachtungen  zusammengehäuft,  auf  Grund 
derer  er  sich  gegen  die  Annahme  mehrerer  Eiszeit- 
perioden ausspricht  und  das  Vorkommen  von  geschichteten 
Lagen  oder  von  Lignitflötzen  zwischen  zwei  Glacialschutt- 
massen,  wie  bei  den  Lignitflötzen  von  Dürnten  und  Utznach, 
nur  als  Folgen  einer  Episode  eines  Gletscherrückzuges  und 
erneuten  Vordringens  zu  erklären  versucht.  Wenn  nun  die 
allgemeine  Vergletscherung  unseres  Alpengebirgs  während 
der  Diluvialzeit  schon  längst  keine  blosse  Theorie  mehr  ist, 
sondern   zu   einer   wissseuschaftlich   festgestellten    Thatsache 


Gümbel:  Die  geognost.    Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      609 

sich  erhoben  hat,  so  sind  doch  mit  derselben  an  verschiedenen 
Stellen  des  Hochgebirges  und  seiner  Vorländer  so  vielfach 
verschiedene  Erscheinungen  verknüpft ,  dass  es  gewagt  er- 
scheint, den  Verhältnissen  eines  Theils  derselben  zum  all- 
gemein gültigen  Muster  für  die  Glacialerscheinungen  aller 
übrigen  Theile  aufstellen  zu  wollen.  In  der  Gegend  des  Genfer 
See's  und  im  benachbarten  Alpenstock  lassen  sich  die  Glacial- 
erscheinungen au  jetztnoch  bestehenden  Gletschern  bis  in  die 
Ebene  herabverfolgen :  Gletscherschliffe,  Moränen,  erratische 
Blöcke,  Glacialschutt  und  es  scheint  mit  Recht  hier  angenom- 
men werden  zu  dürfen ,  dass  einst  der  Rhonegletscher  oder 
wie  diese  Quatärgletscher  sonst  heissen  mögen,  bis  zu  einer 
Seefläche  herabgereicht ,  diesen  selbst  bedeckt  und  dadurch 
möglich  gemacht  habe,  nicht  nur,  dass  erratische  Blöcke, 
welche  unzweideutig  aus  dem  Mont-Blanc  -  Ui  gebirgsstock 
stammen,  über  die  Seefläche  hinüber  bis  zum  Jura  transportirt 
wurden ,  sondern  dass  auch  die  Vertiefung  des  Seebeckens, 
weil  mit  Eis  bedeckt,  nicht  mit  Schutt  ausgefüllt  worden  sei, 
sondern  sich  als  Seevertiefung  nach  dem  Wegscbmelzen  des 
Eises  bis  in  die  Neuzeit  erhalten  habe.  Die  Persistenz 
vieler  Voralpenseen  ist  unzweifelhaft  durch  diese  Vergletscher- 
ung bedingt;  ohne  sie  würden  dieselben  mit  Gebirgschutt 
eingeebnet  worden  sein,  wie  der  übrige  Theil  der  alpinen 
Hochebenen.  Auch  von  dem  Bodensee  glaubt  man  das  Er- 
fülltsein mit  Gletschereis  als  Grund  annehmen  zu  müssen, 
dass  er  sich  bis  in  die  Gegenwart  erhielt,  obwohl  ringsum 
so  grossartige  Geröllmassen  angelagert  wurden,  die  ihn  aus- 
zufüllen vollständig  ausgereicht  hätten.  Der  höchst  merk- 
würdige Fund  von  Steinwaffeu  und  Rennthierknochen  bei 
Schussenried  am  Rande  einer  Moräne,  oder  doch  einer 
Glacialschuttmasse,  welche  von  Fr  aas  eingehend  geschildert 
wurde,  spricht  sehr  zu  Gunsten  dieser  Annahme.  Auch  liegen 
erratische  Blöcke  weit  verbreitet  in  dem  Hügelland  nördlich 
vom  Bodensee.     Besonders    schwierig  wird  es ,    die  Giacial- 


610       Sitzung  der  math.-phys.  Olasse  vom  7.  Dezember  1867. 

erschein ungen  weiter  östlich  vom  Bodensee  in  jenem  bergigen 
Vorlande  zu  verfolgen,  in  welchem  die  weichen  Molasse-Sand- 
steine, Conglomerate  und  Mergel  so  sehr  vorherrschen.  Fehlt 
es  auch  hier  nicht  an  einzelnen  sicher  erkennbaren  Moränen, 
wie  z.  B.  bei  Immenstadt  von  der  Hier  seitwärts  vor  der 
breiten  Mündung  des  Thals,  wo  dasselbe  aus  dem  Hoch- 
gebirge heraustritt,  so  scheinen  doch  weder  die  Kalkgebirgs- 
schichten  noch  die  Molasse  fest  genug  oder  gegen  die  Ober- 
flächen Verwitterung  zureichend  widerstandsfähig  ,  um  die 
Streifeneindrücke ,  wenn  Gletscher  über  sie  hinweg  fort- 
schreitend ihre  Furchen  gezogen  haben,  bis  jetzt  sichtbar  zu 
erhalten.  Ueberhaupt  ist  es  sehr  bemerkenswerth,  wie  selten 
man  in  diesen  allerdings  fast  blos  aus  kalkigen  Gesteinsarten 
aufgebauten  Alpengebirgstheilen  auf  glatte  oder  gestreifte 
Flächen  stösst,  die  sich  mit  einiger  Sicherheit  als  Gletscher- 
schliffe deuten  Hessen. 

Die  zweite  Reihe  der  Glacialerscheinungen,  die 
confuse  Gemenge  von  meist  scharfkantigen  und  gestreiften 
Gesteinsbrocken  mit  Lehm,  welche  als  Ueberbleibsel  der 
Moränen  beim  Rückzuge  der  Gletscher  zu  betrachten  sind, 
erlangen  in  unseren  Alpen  ebenfalls  nicht  den  so  scharf 
ausgeprägten  Charakter,  wie  in  den  westlichen  Alpen.  Wir 
begegneten  auf  unseren  geognostischen  Wanderungen  sehr 
zahlreichen  Ablagerungen  wirr  durch  einander  gelagerter 
Brockengesteine  in  den  verschiedensten  Gegenden.  In  den  mit 
Molassegebilden  erfüllten  Ebenen,  in  welchen  neben  Sandstein 
und  Mergel  die  aus  Urgebirgs-  und  Kalk-Rollsteinen  gemischt 
zusammengesetzte  Nagelfluhe  ungemein  häufig  ein  mächtiges 
Glied  der  Tertiärformation  ausmacht,  unterliegt  es  ganz  be- 
sonderen Schwierigkeiten,  bei  solchen  Geröllschuttmassen  zu 
unterscheiden  zwischen  ächten  Glacialgebilden  und  den  durch 
Auflockerung  der  benachbarten  Nagel  fluhschichten  und  durch 
Vermengung  mit  verwittertem  Mergel  der  nächsten  Nähe 
entstandenen  Schutt-  und  Trümmermassen,  weil  denselben  die 


GHitnbd:  Die  geognost.  Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      611 

zwei  charakteristischen  Kennzeichen  des  ächten  Gletscher- 
schuttes, „scharfkantige  und  gestreifte  Gesteinsbrocken"  fehlen, 
vielmehr  deren  Rollstücke  vollständig  abgerundet  und  glatt 
erscheinen.  So  begegnet  man  in  den  Allgäuer  Vorbergen 
zwischen  Bodensee,  Immenstadt  und  Kempten  ziemlich  häufig 
solchen  Schuttmassen  mit  abgerundeten  Rollstücken  von 
zweifelhaftem  Charakter.  Die  Schwierigkeit  der  Unterscheid- 
ung wird  hier  noch  durch  den  Umstand  vermehrt,  dass  die 
zunächst  diesem  Distrikt  angeschlossenen  Hochalpen  aus  Mo- 
lasse mit  zahlreichen  Nagelfluhbänken,  (Riedalphorn  5618') 
bestehen,  und  dass  man  in  deren  Vorland  einheimische,  von 
weiter  aus  den  Molasse-Alpen  hergebrachte  Gesteine  nicht 
unterscheiden  kann.  Auch  im  Kempter  -  Walde  dehnen  sich 
zwischen  mächtigen  Versumpfungen  Lagen  von  Lehm  mit  Ge- 
rollen z.  B.  bei  Bodelsberg  aus,  die  für  Glacialgebilde  gehalten 
werden  können,  während  am  Südgehäuge  des  Peissenbergs  eine 
sehr  mächtige  Schuttmasse  von  wirr  durcheinander  gemengter 
Rollstücke  und  von  Lehm  mit  grösserer  Wahrscheinlichkeit  als 
ein  Zersetzungsprodukt  der  dort  unter  steilen  Winkeln  auf- 
gerichteten Molasse  und  Nagelfluh  des  Untergrundes  zu  be- 
trachten sein  dürfte. 

Eine  andere  Erscheinung  in  unseren  Alpen,  die  ich  unter 
der  Bezeichnung  Hochgebirgsschotter  (S.  802  meines 
Werkes)  zusammengefasst  habe,  nimmt  unsere  Aufmerksam- 
keit in  gesteigertem  Maasse  in  Anspruch.  An  zahlreichen 
sehr  hochgelegenen  Orten  unseres  Kalkalpengebirgs  breiten 
sich  meist  confuse  Schuttmassen  mit  stark  abgerollten 
Urgebirgs-  und  Kalkbrocken  aus,  die  nach  ihrer  hohen 
Lage  (bis  5000'  ü.  M.)  und  ihrer  Unabhängigkeit  von  dem 
Bestände  der  jetzigen  Thalungen  unbedenklich  als  Gletscher- 
gebilde angesehen  werden  müssten,  wenn  sie  nicht  nur  abgerollte 
Gesteinsfragmente  in  sich  schlössen.  Besonders  ausgedehnt 
sind  diese  Schuttmassen  S.  vom  Zugspitzgebirge  an  der  Leut- 
asch  gegen  das  Innthal  und  in  jener  Gerölllage  auf  dem  Sattel 


612      Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

der  Hochalpe  im  Wilden-Kaisergebirge  (4200')  mit  völlig  ab- 
gerundeten Urgebirgsfragmenten.  Mag  auch  noch  manche 
dieser  Ablagerungen  bei  genaueren  Untersuchungen  als 
Glacialgebilde  gedeutet  werden  können,  immerhin  bleibt  der 
Charakter  in  den  Ostalpen  gegen  jenen  in  den  Westalpen 
auffallend  verschieden.  Gleichwohl  begegnen  wir  auf  der 
andern  Seite  wieder  ganz  übereinstimmenden  Verhältnissen, 
z.  B.  in  den  Lignitlagen  der  Illerthalgehänge  bei  Sonthofen, 
der  Terrassen  bei  Gross  Weil  und  Ohlstadt,  in  denen  wir 
die  Analogie  mit  Dürnten  und  Utznach  nicht  verkennen 
können  (S.  804  m.  W.).  Leider  fehlen  bei  uns  Thierreste 
in  denselben,  das  Holz  der  Lignite  dagegen  besteht  aus 
Arten,  welche  auch  jetzt  noch  hier  vegetiren:  Pinus  sylve- 
stris, P.  Pumilio  (Pinus  uliginosa?)  Betula  und  das  Ganze 
der  kohligen  Bildung  weist  auf  torfartige  Versumpfungen  hin. 
Die  erratischen  Blöcke  erfreuen  sich  hauptsächlich 
auf  Veranlassung  Favre' s  jetzt  einer  besonderen  Aufmerk- 
samkeit, weil  man  bei  der  Gefahr,  dieser  so  wichtigen  geo- 
gnostischen  Dokumente  durch  den  Verbrauch  derselben  zu 
Bauzwecken,  als  Strassenmaterial  etc.  vollständig  beraubt  zu 
werden,  es  für  nöthig  hielt,  genaue  Karten  über  ihr  Vor- 
kommen herzustellen  und  einzelne  der  wichtigsten  als  National- 
eigenthum  für  unantastbar  zu  erklären.2)  Auch  ich  habe 
1861  in  meinem  Alpenwerke  (S.  800  Anm.)  auf  die  Dring- 
lichkeit genauer  Verzeichnisse  der  erratischen  Blöcke  hin- 
gewiesen. Solche  genaue  Aufzeichnungen  werden  jetzt  in 
einem  grossartigen  Maassstabe  mit  Unterstützung  der  Regie- 
rung sowohl  in  den  französischen  Alpendepartementen  als 
auch  in  der  Schweiz  durch  die  geologische  Commission  her- 


2)  Appel  aux  Suisses  pour  les  en  gager,  ä  conserver  les  blocs-erra- 
tiques  par  la  commissiou  geol.  suisse,  suivi  d'un  project  ä  une  carte 
de  la  dietribution  des  blocs  erratiques  en  Suisse  1867,  und  Rapport 
sur  lea  travaux   de  la  soc.  de  pbysique  de  Geneve  par  Favre.  1867. 


Gümbel:  Die  geognost.    Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      613 

gestellt  und  sind  nach  den  neuesten  Mittheilungen  Favre's 
zum  Theil  schon  vollendet.  Es  scheint  sehr  angezeigt,  dass 
auch  wir  in  Bayern  uns  diesem  wissenschaftlichen  Unter- 
nehmen unserer  westlichen  Nachbarn  in  entsprechender  Weise 
anzuschliessen  haben.  Es  sind  zwar  auf  meiner  Alpenkarte 
die  hervorragendsten  erratischen  Blöcke  vom  Bodensee  bis 
zur  Salzach  eingezeichnet,  allein  diese  Einzeichnungen  können 
und  wollen  nicht  als  vollständige  gelten. 

Viele  dieser  erratischen  Blöcke  der  bayerischen  Hochebene, 
von  denen  mehrere  eine  auffallende  Abrundung  an  den  Kanten 
und  Ecken  zeigen,  sind  in  Bezug  auf  ihre  Verbreitungsliuie  zu- 
weilen reihenweise  geordnet  und  meist  auf  den  die  benachbarten 
Thalungen  begleitenden  S.-N.  verlaufenden  Höhenzügen  abge- 
setzt, wie  längs  des  Starnberger-Sees,  des  Inn's  u.  s.  w.  Man 
nimmt  gewöhnlich  an,  und  Favre  theilt  diese  Ansicht  für  die 
Westalpen,  dass  die  erratischen  Blöcke  unmittelbar  in  Form 
von  Gletschertischen  auf  die  Stelle  geschoben  worden  seien,  wo 
sie  jetzt  noch  liegen.  Trotz  des  Widerspruchs  dieses  erfahrungs- 
reichen und  vorurtheilsfieien  Forschens  glaube  ich  gleichwohl 
für  die  Verbreitung  wenigstens  einer  Reihe  der  erratischen 
Blöcke  des  mittleren  und  östlichen  bayerischen  Alpenvorlandes 
die  Beihilfe  von  schwimmenden  Eisblöcken ,  welche  die  auf 
ihnen  liegende  erratischen  Blöcke  auf  einer  damaligen  Seefiäche 
nordwärts  transportirten,  anrufen  zu  müssen.  Es  bestimmen 
mich  zu  dieser  Annahme  sowohl  eines  Eisschollentransportes, 
als  des  Vorhandenseins  einer  Seefläche  vor  den  Alpen  noch 
andere  geognostische  Erscheinungen,  die  ich  später  anführen 
werde. 

Favre  macht  uns  in  dem  Abschnitt  seines  umfassenden 
Werkes  über  die  Quatärgebilde  noch  mit  einer  vierten  vor- 
glacialen  Ablagerung  der  Genfer  Ebene  bekannt,  die  er 
„alluvion  ancienne"  nennt.  Diese  bestehen  aus  geschich- 
teten Lagen  ovaler,  abgerollter  und  abgeplatteter  Rollsteine 
ohne  Lehmzwischenmittel,  ohne  Beimengung  gestreifter  Brock- 


614      Sitzung  der  math.-phys.  dasse  vom  7.  Dezember  1867. 

gesteine  und  ohne  erratische  Blöcke ,  dagegen  mit  Sand- 
zwischenlagen lose  aufgehäuft  oder  mit  Kalksinter  fest  ver- 
bunden. 

Es  ist  wohl  nicht  zweifelhaft,  dass  dieses  alte  Allu- 
vium vollständig  identisch  ist  mit  dem  Diluvial-Schotter, 
mit  dem.  was  wir  bei  uns  Diluvial-Nagelfluh  (sieheS.  794 
m.  W.)  nennen.  Die  Entstehung  dieses  für  unsere  Hochfläche 
mächtigsten  Gliedes  der  Diluvialzeit  denkt  sich  Favre  unter 
der  Vermittlung  von  Wasserströmen  gebildet,  welche  das  von 
den  Gletschern  bei  ihren  beginnenden  Vorrücken  gelieferte 
Glacialmaterial  mit  sich  fortführten,  dabei  abrollten  und  end- 
lich absetzten.  Dass  hierbei  die  schon  vorher  bestandenen 
Vertiefungen  der  See'n  z.  B.  des  Genfersee's,  nicht  mit  diesem 
Rollmaterial  ausgefüllt  wurde,  erklärt  sich  daher,  dass  dieses 
Material  in  Form  von  Gletscherschutt  oder  erratischen  Blöcken 
über  die  Seen  geführt,  zur  Zeit  als  letztere  noch  von  Eis  erfüllt 
waren  und  erst  abgerollt  wurde,  als  es  jenseits  der  Seevertief- 
ung am  Fusse  der  Gletscher  in  die  Strömung  der  Giessbäche 
gelangte.  Diese  geistreiche  Theorie,  welche  die  Möglichkeit 
der  Persistenz  der  alpinen  Seen  so  vollständig  erklärt, 
dürfte  wohl  für  eine  grosse  Anzahl  von  Gebirgsseen  ihre 
Richtigkeit  haben.  Dagegen  leuchtet  die  Schwierigkeit  dieser 
Erklärung  von  selbst  da  ein,  wo  Seen  weit  von  dem  Alpen- 
rande entfernt  ringsum  gleichsam  mitten  in  dieses  alte  Allu- 
vium eingekesselt  vorkommen. 

Wenn  die  Seeflächen  vom  Eis  ausgefüllt  waren ,  so 
können  doch  die  Gletscher  nicht  stromaufwärts  das  Material 
geliefert  haben,  das  schon  stundenweit  oberhalb  der  Seen  als 
altes  Alluvium  abgesetzt  sich  findet.  Wir  wollen  nur  dieses 
einzige  Bedenken,  dass  übrigens  bloss  auf  unsere  Verhältnisse 
sich  bezieht,  nicht  für  die  Westalpinen  -  Ebene  gelten  soll, 
berühren.  Ein  Blick  auf  die  südbayerische  Hochebene,  die 
4  —  5  mal  so  breit  als  jene  am  Genfersee  und  3  mal  so 
breit  als  durchschnittlich  das  Vorland  der  Schweiz  ist,  wird 


Gümbel:  Die  geognost.    Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      615 

genügen,  um  zu  bemerken,  dass  hier  ganz  andere  Verhält- 
nisse geherrscht  haben  müssen,  abweichend  von  jenen  in  der 
Westschweiz.  Hier  stand  den  Alpen  die  hohe  Jurakette  ganz 
nahe  gegenüber,  bei  den  mittleren  Alpen  erheben  sich  da- 
gegen erst  weit  nördlich  ganz  niedere  Gegengebirge.  Diese 
weite  Ebene  in  Bayern  ist  über  der  Molasse,  welche  die 
Unterlage  bildet,  hoch  erfüllt  mit  jenem  wohlgeschichteten 
Diluvialgeröll  mit  auf  weite  Strecken  regelmässig  fortstreich- 
enden Lagen ,  wie  sie  unmöglich  durch  Ströme  abgesetzt 
werden  können.  Wir  glauben  hierfür  eine  allgemeine  Süss- 
wasseranstauung  seeartig  aus  der  Bodenseegegend  bis  nach 
Niederösterreich  reichend  annehmen  zu  müssen ,  welche  die 
Ausbreitung  der  ihr  allerdings  von  strömenden  Wassern  zu- 
geführten Rollsteine  besorgte.  Man  setzt  dieser  Annahme 
gewöhnlich  das  Bedenken  entgegen ,  dass  der  Damm 
dieses  Süsswassersee's  fehle.  Dagegen  können  wir  mit 
Zuverlässigkeit  auf  die  Thalenge  zwischen  Eisenwurz 
und  Greinerwald  bei  Linz  hinweisen ,  wo  Alpen-  und  Urge- 
gebirge  sich  auf  eine  Meile  genähert  haben,  und  einen  ganz 
natürlichen  Damm  bilden,  der  einen  obern  Donausee  abzu- 
schliessen  die  zureichende  Höhe  besitzt.  Unter  dieser  Annahme, 
dass  die  obere  Donauhochfläche  in  der  Quatärzeit  theilweise 
noch  mit  Süsswasser  erfüllt  war,  erklärt  sich  dann  auf  be- 
friedigende Weise  die  reihenweise  Vertheilung  der  errat- 
ischen Blöcke  mit  Hilfe  schwimmender  Eisblöcke  und  auch 
die  Persistenz  vieler  Seen  in  Mitte  der  Hochebene.  Es  ist 
wohl  kaum  zu  zweifeln,  dass  auch  diese  alle  den  sogenannten 
orographischen  Seen  angehören ,  d.  h.  dass  sie  nicht  Ero- 
sionen ihren  Ursprung  verdanken,  sondern  gleich  den  Gebirgs- 
seen in  Folge  der  Gestaltung  des  Hochgebirgs  durch  Schichten- 
falten oder  Querspalten  ihre  ersten  Gestaltungslinien  aus- 
geprägt erhielten  und  zwar  bereits  in  der  vorquatären 
Zeit.  Die  Zahl  solcher  Eintiefungen  in  der  Molasse,  deren 
Schichten  damals  noch  die  unbedeckte  Oberfläche  der  Hoch- 


616      Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

ebene  ausmachte  und  in  den  Buchtungen  zwischen  den  zu- 
sammengefalteten Schichtenpartieen  den  Grund  zu  Wasser- 
anstauungen legte,  ist  in  der  siidbayerischen  Hochebene  eine 
erstaunlich  grosse,  wenn,  wie  es  vollständig  gerechtfertigt  ist, 
alle  jene  Vertiefungen  mitgezählt  werden,  die  jetzt  zwar  nicht 
mehr  in  Form  von  Seen  existiren,  sondern  mit  Torf  und 
Alluvionen  ausgefüllt  und  ausgetrocknet  erscheinen,  aber 
unzweideutig  noch  während  der  Quatärzeit  oft  sehr  grosse 
Seebecken  darstellten  wie  z.  B.  das  Murnauer-Eschenloher 
Moor,  die  Uosenhehner  h  ilze  u.  s.   w. 

Der  Umstand,  dass  während  der  Neuzeit  (Novärperiode) 
ein  Theil  dieser  alten  Seevertiefungen  eingeebnet,  ein  Theil 
trotz  den  Alluvionen  bis  jetzt  wenigstens  noch  nicht  aus- 
gefüllt worden  sind,  deutet  auf  ähnliche  Fälle  in  der  Quatär- 
zeit hin ,  dem  viele  Seen  der  bayerischen  Hochebene  ihre 
Persistenz  verdanken,  obgleich  die  Alpen  der  Ebene  un- 
ermesslichen  Gesteinsschutt  zugeschickt  haben.  Viele  unserer 
Seen  sind  nichts  anderes,  als  die  Ueberreste  unausgefüllt 
gebliebener  Seetiefen,  neben  welchen  hundert  andere  dem 
Andrang  der  Schuttbedeckung  weichen  mussten ,  wie  es 
jetzt  noch  in  den  Seen  verschiedene  Stellen  giebt ,  die  den 
Absatz  der  Sedimente  gestatten  oder  verhindern.  Es  scheint 
für  die  Persistenz  dieser  Seen  die  Annahme  einer  Ueber- 
gletscherung  als  absolut  nothwendig  nicht  vorausgesetzt  werden 
zu  müssen. 

An  die  Ebene  schliessen  sich  bei  Genf  nun  zunächst 
die  Molassehügeln.  Indess  verbietet  hier  schon  der  beschränkte 
Raum  zwischen  dem  Hochgebirge  und  dein  Jura  eine  beson- 
ders n  iche  Entwicklung    dieser  Molassegebilde  zu  erwarten. 

Desto  reichlicher  und  interressanter  sind  die  älteren 
Tertiärgebilde,  welche  Favre  in  die  2  grossen  Gruppen  der 
eigentlichen  Nummulitenschichten  und  in  jene  des  al- 
pinen Macigno  und  des  Sandsteins  von  Taviglianaz,  welche 
wir  gewöhnlich  unter  der  Bezeichnung  F 1  y  s  c  h  zusam  menfassen, 


Gümbel:  Die  geognost.  Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      617 

theilt.  Der  Nachweis,  dass  Nuinmulitenschichten  im  Innern 
des  Chablais ,  am  Mont  Saleve  und  im  ganzen  Juragebiet 
fehlen,  während  sie  in  den  innern  Alpen  sehr  verbreitet  vor- 
kommen ,  ist  von  grossem  Interesse ,  weil  er  zum  Beweis 
dient ,  dass  vor  ihrer  Ablagerung  bereits  die  genannten 
Gebietstheile  aus  dem  Meere  hervorragten,  also  relativ  höher 
waren,  als  die  inneren  Alpen  in  umgekehrten  Verhältniss  zu 
ihrer  jetzigen  Höhe.  Aehnliches  bemerken  wir  auch  in  den 
bayerischen  Alpen,  wo  die  Nummulitenschichten  vom  Kressen- 
berg und  Grünten  grosse  Berühmtheit  erlangt  haben.  Diese 
halten  sich  immer  an  den  äussersten  Hochgebirgsrand,  scheinen 
aber  alter  als  alle  die  angeführten  Nummulitenschichten  der 
Westalpen  ,  welche  wahrscheinlich  verschiedenen  Stufen  und 
vorherrschend  den  jüngeren  Eocänschichten  angehören.  Jene 
älteren  Nummulitenschichten  dringen  im  bayerischen  Gebirge 
nie  ins  Innere  vor,  wohl  aber  finden  wir,  dass  jüngere 
Nummulitengebilde  in  einzelnen  Buchten  etwas  tiefer  ins 
Innere  reichen,  wie  jene  bei  Reut  im  Winkel  (S.  602 
m.  W.),  welche  ich  im  Alter  den  Nummulitenschichten  des 
Ralligstock's  in  der  Schweiz  und  dem  Sande  von  Beauchamp 
gleichstelle.  Ihr  Vordringen  in  Buchten  beweist,  dass  schon 
damals  wenigstens  einige  thalähnliche  Einschnitte  im  Massiv 
des  Kalkgebirgs  bestanden.  Eine  dritte  jüngste  Nummuliten- 
führende  Schicht  in  den  Ostalpen  und  endlich  die  Schichten 
von  Häring  (S.  608),  deren  Alter  nach  meinen  Untersuch- 
ungen der  Thierreste  nur  zwischen  den  oberen  Lagen  der 
ligurischen  Stufe  und  den  tiefsten  Schichten  der  tongrischen 
Stufe  gestellt  werden  kann,  steht  jedenfalls  den  Bildungen 
von  Diablerets  gleich.  In  diese  Reihe  scheinen  nun  die 
meisten  der  von  Favre  aus  den  Westalpen  so  trefflich  ge- 
schilderten Nummulitenschichten  stellenweise  mit  Lignitflötzen, 
wie  bei  Häring,  zugehören,  z.B.  jene  von  Montmin,  Entre- 
vernes,  Petit,  Bornand  und  Faudon.  Damit  stimmt  freilich 
nicht,  dass  Favre  die  alpinen  Macigno  stets  über  den  Nummu- 


618       Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

liten schichten  —  wenn  in  normaler  Lagerung  vorhanden  — 
fand.  Vielleicht  ist  in  den  Westalpen  die  Umstürzung  zur 
Regel  geworden. 

Da  in  den  Ostalpen  diese  jüngste  Nummuliten stufe 
auf  einen  einzelnen  grossen  Thaleinschnitt  —  den  des  Inn's  — 
sich  beschränkt,  während  sie  in  den  Westalpen  so  weit 
verbreitet  selbst  mit  ächten  Steinkohlenschichten  zusammen- 
gefaltet vorkommt,  so  leuchtet  der  bedeutende  Unterschied 
hervor,  der  während  der  älteren  Tertiärzeit  zwischen  beiden 
Alpengliedern  bestanden  haben  muss. 

Bezüglich  des  Flyschs  (Macigno-alpin)  hat  Favre  die 
höchst  interessante  Thatsache  festgestellt,  dass  derselbe  in  2  Fa- 
cies auftritt  ähnlich  den  beiden  Neocomenfacies  im  Jura  und  in 
den  Alpen,  bezüglich  des  Flysches  jedoch  zeigt  sich  die  Ver- 
schiedenheit, je  nachdem  er  auf  Jurakalk,  wie  im  Chablais,  oder 
auf  Nummulitenschichten  aufruht.  Wir  kennen  eine  solche  Scheid- 
ung in  den  bayerischen  Alpen  nicht,  wohl  aber  die  wenigstens 
analoge  Bildung  des  sogenannten  Taviglianaz-Sandsteins, 
von  dem  Favre  nachweist,  dass  an  seiner  Zusammensetzung 
vulkanische  Asche  sich  betheiligte.  Ich  habe  die  analoge 
Bildung  als  Reiselsberger  Sandstein  (S.  621)  beschrieben 
und  obwohl  an  ihm  die  Betheiligung  vulkanischen  Tuffs 
weniger  deutlich,  als  an  den  Schweizer  Sandstein  kennbar 
ist,  bin  ich  nunmehr  auch  der  Ansicht,  dass  die  Feldspath- 
Glimmer-  und  grünen  Mineraltheilchen ,  in  welch  letzteren 
ich  ein  Umwandlungsprodukt  von  Augit  zu  erkennen  glaube, 
von  vulkanischen  Gesteinsmassen  herstammen.  In  unserm 
Gebirge  liegen  diese  Sandsteine  meist  in  den  tiefsten ,  älte- 
sten Schichtenreihen  und  treten  mit  jenen  Riesenconglome- 
raten  in  nähere  Beziehung,  die  ich  (S.  621)  vom  Böigen 
beschrieben  habe,  und  deren  kolossale  Urgebirgsblöcke 
möglicher  Weise  tertiär-erratischen  Ursprungs  sind. 

Auf  dem  ersten  Berg,  mit  dessen  höchst  interessanten 
geognostischen  Verhältnissen  uns  Prof.  Favre  zunächst  bekannt 


Gümbel:   Die  geognost.   Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.       619 

macht,  dem  Mont-Saleve,  treffen  wir  bereits  eine  mannich- 
fache  Schichtenreihe  jüngerer  und  besonders  jurassischer 
Gebilde  neben  Neocomlagen ,  welch  letztere  merkwürdiger 
Weise  nach  ihrem  paläontologischen  Charakter  mehr  zur  al- 
pinen als  jurassischen  Facies  hinneigen.  Wir  sehen  daraus, 
dass  die  Gestaltung  und  Gliederung  der  festen  Erdrinde 
früher  eine  vielfach  andere  war,  als  zur  Jetztzeit.  Von  hier 
führt  uns  der  unermüdliche  Gebirgsforscher  durch  die  ver- 
schiedenen Gebirgsketten  und  Massen  bis  hinüber  zum  Mont 
Jovet  und  den  beiden  Bernhard-Stöcken,  um  uns  in  allen  mit 
gleicher  Ausführlichkeit,  Genauigkeit  und  Klarheit  die  vor- 
kommenden Gebirgsglieder  kennen  zu  lehren  und  ihre  Struktur- 
verhältnisse deutlich  zu  machen.  Zur  besseren  Uebersicht 
folgen  wir  unserem  unermüdlichen  Führer  zuerst  in  der 
Schilderung  der  cretazischen  Bildungen,  welche  durch  die 
reiche  Entwicklung  der  Neocom-  (Valanginien,  Neocomien  et 
Urgonien),  der  Orbitoliten-  und  der  Galt-Schichten  in  diesen 
Gebirgsgegenden  ganz  besonders  glänzen ,  durch  alle  die 
nacheinander  geographisch  geordneten  einzelnen  Stöcke  hin- 
durch. Die  Uebereinstimmung  zwischen  diesen  Gebilden  der 
WestaTpen  sowohl  nach  Gliederung ,  Gesteinsbeschaffenheit, 
als  Petrefaktenführung  mit  jenen ,  welche  wir  in  den  All- 
gäuer  Alpen  und  in  Voralberg  kennen  gelernt  und  beschrie- 
ben haben  (S.  517 — 579),  ist  so  gross,  dass  wir  bei  den 
so  prächtigen  Beschreibungen  Favre's  uns  öfters  nach  Vor- 
arlberg oder  in  die  kuppenförmigen  Gewölbe  westlich  von 
der  Hier  versetzt  glaubten.  Diese  Darstellung  gewinnt  noch 
dadurch  ganz  besonders  an  Werth,  dass  eine  grosse  Anzahl 
von  organischen  Einschlüssen  dieser  Schichten  von  dem  als 
sorgfältigen  Paläontologen  geschätzten  H.  de  Loriol  sehr  vor- 
trefflich beschrieben  und  deren  Erkennen  durch  gelungene 
Abbildungen  erleichtert  ist  —  eine  würdige  Beilage  zu  dem 
Atlas  der  Profile. 

Diese    Uebereinstimmung     zwischen    dem    Genfer    und 


620       Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Algäuer  Gebirge  an  den  Westgrenzen  Bayerns  erstreckt  sich 
aber  noch  weiter  auf  die  ober  dem  Galt  folgenden  jüngeren 
Glieder  der  Kreide-  oder,  wie  ich  vorgeschlagen  habe,  Pro- 
cän-Formation.  Denn  mit  allem  Recht  hält  Favre  den  auf 
dem  Galt  zunächst  liegenden  Kalk  für  ein  Aequivalent  des 
sog.  Sewen-Kalks,  mit  dem  jene  Kalkschicht  die  Spär- 
lichkeit und  den  schlechten  Erhaltungszustand  der  organischen 
Einschlüsse  —  besonders  Inoceramen  —  theilt.  Ich  glaube 
aber  noch  weiter  aufs  bestimmteste  in  den  Gebilden  von  dem 
Gebirge  der  Bauges  SW.  von  dem  Annecy-See  das  Aequi- 
valent der  sog.  Sewen-Mergel  (S.  534)  mit  Belemnites? 
Micraster  cor  anguinum  der  Ostalpen  wieder  zu  erkennen, 
wodurch  die  Zugehörigkeit  dieser  östlich  so  entfernter  Alpen- 
theile  zu  einem  gemeinsamen  engverbundenen  Entwicklungs- 
gebiet mehr  als  wahrscheinlich  gemacht  wird.  Denn  gleich 
ostwärts  von  den  Algäuer  Alpen  beherrschen  vollständig  ab- 
weichende Verhältnisse  die  Schichtenreihe  der  Kreideformation 
und  ihre  organischen  Einschlüsse  (siehe  S.  578)  und  hiermit 
beginnt  ein  neues  Verbreitungsgebiet,  das  ostwärts  zu  den 
Gosaufacies  hinführt. 

Bezüglich  der  Schrattenbildung,  der  sog.  Platterte 
des  bayerischen  Gebirgs,  kann  ich  mich  auf  meine  Erklärung 
(S.  541)  beziehen,  welche  mit  denen  Favre's  in  Einklang 
stehen.  Diesen  Ausnagungen  der  Atmosphärilien,  die  sich  an 
den  Gesteinsklüften  zunächst  wirksam  zeigen,  unterliegen  alle 
mehr  oder  weniger  horizontal  liegende  und  nackte  Kalk- 
platten des  Hochgebirgs,  der  Dachsteinkalk  (steinernes  Meer), 
die  Plattenkalke  wie  die  Schrattenkalke. 

Mit  den  jurassischen  Ablagerungen  treten  wir  in  ein 
Gebiet,  welches  die  brennendste  Frage  der  Gegenwart  in  sich 
schliesst,  die  Frage  nämlich  über  die  naturgemässe  Abgrenzung 
der  Jura-  und  Neocomschichten,  mit  deren  Lösung  unser  un- 
vergesslicher  Freund  Oppel  sich  eben  zu  beschäftigen  begann, 
als   ein  vorzeitiger  Tod   es   verhinderte,    das   so  erfolgreich 


Oümbd:  Die  geognost.  Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      621 

Begonnene  zu  vollenden.  Inzwischen  ist  die  Frage  von  anderen 
Meisterhänden  in  Angriff  genommen  worden ;  wir  dürfen  ihre 
definitive  Beantwortung  baldigst  voraussehen.  Favre  hat  durch 
seineStudien  nicht  wenig  zu  ihrer  Förderung  beigetragen.  Was 
aber  den  Schilderungen  der  jurassischen  Schichten  in  der 
Umgebung  vom  Mont-Blanc  noch  erhöhte  Wichtigkeit  verleiht, 
ist  der  Umstand,  dass  gerade  in  diesem  Gebirgstheile  zwei 
der  merkwürdigsten  Entwicklungsformen,  die  alpine  und  die 
des  Juragebirgs  sich  berühren,  gleichsam  verschmelzen,  wess- 
halb  gehofft  werden  kann ,  dass  der  Grund  dieser  verschiedenen 
Facies,  welche  hier  so  nahe  neben  einander  auftreten,  am 
leichtesten  hier  erkannt  werden  könne. 

Mout  Saleve  und  die  Berge  der  Voirons  schliessen  sich  als 
Vorposten  geographisch  an  die  Alpen  an.  Im  ersten  treten  un- 
mittelbar unter  den  tiefsten  Lagen  der  Valehginienstufe  (mit 
Natica  Leviaihan)  Coralloolithe  und  Korallenkalke  auf, 
welche  im  Allgemeinen  den  sog.  Nerineen  und  Diceras-Kalken 
der  ausseralpinen  Jurafacies  entsprechen.  Ihre  Fauüe  uinfaast 
merkwürdiger  Weise  aber  bereits  einige  charakteristische  Arten 
der  alpinen  Entwicklung,  wodurch  ein  all  mäh  liger  Uebergang, 
keine  scharfe  Trennung  beider  Entwicklungsreihen  angezeigt 
zu  werden  scheint.  In  den  Voirons  fehlen  diese  Korallenkalke 
und  es  erscheint  hier  eine  Kalksteinbildung  (z.  B.  bei  Ho- 
minal),  die  der  Verfasser  früher  für  ein  Glied  der  Oxford- 
ßtufe  hielt,  jetzt  aber  geneigt  ist,  als  gleichzeitige  Faciesbildung 
mit  den  Korallenschichten  des  Mont-Saleve  der  Oppel 'sehen 
Titonstufe  zuzutheilen.  Die  Mehrzahl  der  aufgeführten  or- 
ganischen Einschlüsse  namentlich :  Ammonites  plicatüis, 
Erato,  der  typische  A.  armatus ,  Belemnites  hastatus  und 
Sauvanansus  lassen  jedoch  darüber  keinen  Zweifel,  dass 
wenigstens  die  diese  Arten  umschliessende  Bänke  der  Oxford- 
etufe .  und  zwar  den  tieferen  Lagen  den  sog.  Ammonites 
transversarius-Schichten,  wie  die  Kalke  von  Chätel  St.  Denis, 
angehören.      Wenn    aber   damit    auch    Terebratula   janitor, 

[1867.  n.  4.1  41 


622      Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

(nicht  diphya,  wie  nach  späteren  Mittheilungen  Favre' 8  sich 
herausgestellt  hat,)  zugleich  sich  einstellt,  so  ist  es  wohl 
erlaubt,  zu  vermuthen ,  dass  hier,  ähnlich  wie  an  der  Port 
de  France  nach  Pictet's3)  neuesten  entscheidenden  Ausein- 
andersetzungen die  strittigen  Grenzschichten  mit  Terebratula 
janitor  über  den  tieferen  Juragliedern  getrennt  vorhanden 
seien. 

Was  nun  die  Streitfrage  über  die  naturgemässe  Ab- 
grenzung zwischen  Jura-  und  Neocomschichten  anbelangt, 
deren  Lösung  durch  die  unzweifelhafte,  bei  Porte  de  France 
ermittelte  Auflagerung  einer  Korallen-Breccie  (Nr.  4  Pictet's) 
mit  einer  zwischen  entschiedenen  Neocomarten  (JBelemnites 
latus,  Minaret  und  Orbignyanus ,  Ammonites  privasensis, 
Calisto,  Terebratula  Euthymi  aus  den  Berriasschichte,  und 
Veitastes  spec.)  und  unzweideutigen  Juraspecies  (Terebra- 
tulina  substriata,  Megerlea  pectunculoides  und  eine  Reihe 
von  Echinodermen ,  die  fast  ausschliesslich  jurassisch  sind) 
getheilten  Faune  über  den  Lagen  mit  Terebratula  janitor 
und  einer  Reihe  von  Ammonites-Arten  mit  Neocomcharakter 
(Nr.  2  und  3  Pictet's)  auf  neue  Schwierigkeiten  zu  stossen 
scheint,  so  dürfte  diese  Vermengung  einer  älteren  und  jüngeren 
Faune  in  den  Grenzschichten  gewisser  Gegenden  kaum 
befremden,  wenn  man  die  natürliche  Entwicklung  der  Faunen 
in  den  aufeinander  folgenden  Perioden  im  Auge  behält  und 
nicht  der  Ansicht  huldigt,  dass  die  Fauna  eine  ältere  Schichten- 
reihe plötzlich  vertilgt  und  eine  neue  Fauna  für  die  jüngere 
Schichtenreihe  geschaffen  worden  sei.  Solche  strenge  Scheid- 
ungen existiren  allerdings  da  oder  dort,  aber  sie  sind  von 
nur  örtlicher  Bedeutung.  Die  Bildung  von  Sedimenten  ist 
auf   der  Erde   stetig  fortgegangen,   wie  die  Entwicklung  im 


3)  Notice  sor  les  calcaires  de  la  porte  de  France  in  d   Archives 
d.  sc   de  la  bibliotheque  un.-de  Geneve,  Oct.  1867, 


Gümbel:  Die  geognost.    Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      623 

Thier-  und  Pflanzenreich.  Wo  dieser  Bildungsprocess  unge- 
stört und  ohne  gewaltsame  Unterbrechungen  an  dem  Orte 
der  Ablagerungen  oder  in  der  Nähe  fortschreiten  konnte, 
werden  weder  discordante  Uebereinanderlagerungen  zu  sehen, 
noch  eine  plötzliche  Aenderung  in  den  Arten  der  organ- 
ischen Einschlüsse,  als  Repräsentanten  der  jeweiligen  Fauna, 
zu  bemerken  sein.  Die  Fauna  ändert  sich  allmählig  mit  der 
allmähligen  Vermehrung  der  Schichtenlage.  Wo  wir  strenge 
und  plötzliche  Forrnationsgrenzen  beobachten,  ist  diess  ein 
Zeichen  von  Störungen  und  Aenderungen  in  Vertheilung  von 
Land  und  Meer,  welche  in  der  Nähe  eingetreten  sind.  Strenge 
Formationsgrenzen  sind  doch  nur  localer  Natur,  auch  wenn 
sie  über  ganze  Continente  hindurchreichen  sollten.  Auf  der 
Erde  als  Ganzes  reihen  sich  hier  oder  dort  die  Gebirgs- 
glieder  unmittelbar  mittelst  allmähliger  Uebergänge  an  ein- 
ander an;  für  die  Erde  als  Ganzes  giebt  es  keine  strengen 
und  plötzlichen  Formationsgrenzen.  Aber  gleichwohl  verlieren 
diese,  wo  sie  existiren  und  innerhalb  gewisser  Territorien 
nichts  an  ihrem  hohen  wissenschaftlichen  Werthe,  welchen 
wir  ihnen  mit  Recht  beimessen. 

Wie  aber  ist  es  möglich,  dass  selbst  innerhalb  Schichten- 
reihen, welche  keine  Diskordanz  zeigen,  sondern  das  Zeichen 
des  ruhigsten  stufenmsässigen  Entwicklungsganges  an  sich 
tragen,  denn  doch  plötzlich  neue  Arten,  wie  nicht  zu  läugnen 
ist,  auftauchen?  Wir  wollen  hier  ganz  absehen  von  der 
möglichen  Umgestaltung  der  vorher  vorhandenen  Arten.  Die 
Vertheilung  der  einzelnen  Formationen  oder  einzelner  Glieder 
von  Formationen  über  verschiedene  Theile  der  Erde,  die 
Störungen  in  der  Lagerung,  die  sie  erlitten  haben,  setzen 
es  ausser  Zweifel,  dass  fortwährend  auf  der  Erde  Disloka- 
tionen der  festen  Rinde,  Senkungen  und  Hebungen  statt- 
fanden, bald  von  geringerer,  bald  von  grösserer  Ausdehnung 
und  Erstreckuug.  Damit  erlitten  die  Meere,  die  Hauptträger- 
inneu  der  Sedimeutärgebilde,   in  ihrem  Umiang  und  in  ihren 

41* 


624      Kitzimg  der  matiiyphys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Verbindungen  vielfache  Aenderungen;  früher  verbundene 
Meere  wurden  in  einzelne  Becken  getrennt,  früher  getrennte 
Becken  in  Verbindung  gesetzt  und  vereinigt.  Durch  solche 
Aenderungen  ,  welche  selbst  auf  sehr  grosse  Entfernungen  hin 
ihre  Wirkungen  fühlbar  machten,  erhielten  gewisse  Meeres- 
theile  neuen  Zuwachs  an  den  ihnen  vorher  fremden  Arten, 
sie  verloren  unter  Uniständen  einige  der  früheren  Beding- 
ungen ,  unter  welche  diese  oder  jene  Art  in  ihnen  leben 
konnte,  ihre  Niederschläge  dokumentiren  innerhalb  der  Grenz- 
gebiete dieser  Aenderungen  in  der  Vermengung  alte  typischer 
und  neuer  fremdartiger  Formen  solche  Vorgänge  der  ver- 
änderten Oberflächengestaltung,  welche  an  andern  Stellen 
der  Eide  nicht  oder  in  anderer  Weise  eingetreten  sind.  Auf 
diese  Weise  scheint  uns  die  Thatsache  eine  Vermengung  von 
typischen  Arten  verschiedener  Formationen  in  Grenzschichten 
an  gewissen  Stellen  der  Erde  nicht  nur  nicht  auffällig, 
sondern  vielmehr  nothwendig. 

Aehnliche  Betrachtungen  gestatten  vielleicht  auch  die 
eigenthümlichen  Verhältnisse  bei  den  Grenzgebilden  der  Jura- 
und  Neocomschichten  der  westlichen  Alpen,  die  wir  so  eben 
berührt  haben,  zu  erläutern. 

Wie  schwierig  und  verwickelt  diese  Untersuchungen  über 
die  jurassischen  Gebilde  des  alpinen  Gebirgssystems  sind, 
das  deuten  schon  die  petrographischen  und  paläontologischen 
Differenzen  an,  welche  bisher  in  den  gleichen  oder  doch 
nahe  entsprechenden  Schichtenreihen  an  den  verschiedensten 
Stellen  der  Alpen  beobachtet  wurden.  Selbst  in  den  fernsten 
Karpathen  taucht  auf  einmal  wieder  ein  Facies  iu  den  sog. 
Straniberger-Schichten  auf,  welche  die  merkwürdigsten 
Analogien  mit  den  Kalklagen  der  Westalpen  besitzen. 

Die  Spuren  dieser  Bildungen  an  der  oberen  Grenze 
der  Juraformation  führen  uns  durch  die  ganze  östliche 
Schweiz,  durch  Voralberg,  wo  bei  Au  und  an  der  Canisfiuh 
ein  leider  trostlos  armer  schwarzer  Kalk,    nach  Oppel  mit 


Gümbel:  Die  geognost.  Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      625 

einem  Ammonites  Cafo'sfo- ähnlichen  Cephalopoden  die  un- 
mittelbare Unterlage  der  Neocomschichten  ausmacht  (an  der 
Wurzeralp  in  [trächtiger  Entblössung)  und  sich  mit  den  für 
die  bayerischen  Alpen  so  charakteristischen  Aptychen-reichen 
Ammergauer- VVetzsteinschichten  in  Verbindung  tritt,  dass 
weiter  zum  rothen  Ruhpoldinger  Kalk  bei  Traunstein ,  in 
welchem  das  glückliche  Auge  Oppels  eine  Reihe  seiner 
titonischen  Ammoniten*)  neben  einer  Terebratula  aus  der 
Gruppe  der  diphya  entdeckte,  gleichfalls  mit  den  Aptychen- 
bchichten  als  Hangendes  verbunden  bis  zur  Salzach,  wo  graue, 
den  Aptychenschichten  ähnliche,  hornsteinreiche  Gebilde,  die 
sog.  Oberalmer-Schichten,  oft  mit  äusserst  dichten,  dem 
lithographischen  Kalk  ähnlichen  Lagen  und  Cementmergel 
unmittelbar  unter  den  sog.  Uossfeldschichten  (Neocombildung) 
durch  zweifui  chige  JBelemniten ,  Aptychen  mit  knieförmig 
gebogenen  Rippen ,  und  Ammonites  subfimlriatus  neben  ju- 
rassischen Formen  unzweifelhaft  dieselben  Uebergangsglieder 
repräsentiren,  welche  in  unsern  Alpen  hier  am  ehesten  weitere 
Aufschlüsse  über  diese  Grenzschichten  zu  geben  versprechen. 
Es  ist  höchs  auffallend,  dass  in  dem  ganzen  Alpenzug 
die  ältereren  jurassischen  Stufen  unter  dein  sog.  Oxford- 
kalk nur  dürftig  entwickelt  sind.  Eine  Ausnahme  macht  der 
Kalk  mit  den  ckarakteristischen  Kelloway- Versteinerungen, 
dem  unser  sog.  Vilserkalk ,  und  die  Kalkschicht  mit  der  so 
bezeichnenden  Posidonomya  alpina.  Favre  war  so  glück- 
lich, diese  Bildungen  an  zahlreichen  Orten  zu  entdecken,  in 
jenen  von  Chanaz ,  bei  Seyssel  mit  einer  glänzenden  Reihe 
von  Amruoniten.  Von  noch  grösserer  Wichtigkeit  ist  das 
Auffinden  noch  älterer  Schichten  (ßath-  und  Unter-Oolith) 
mit  dem  in  den  Alpen  so  seltenen  Ammonites  Parkinsoni, 
Murchisonae,  Humphresianus  u.  A.  Alle  diese  Stufen  bilden 


4)  Geogn.  palaeont.  Mittbeil,  von  Beoecke  I.  S.  252. 


626      Sitzung  der  math.-phys.  Classevom  7.  Dezember  1867. 

ein  fast  untrennbares  System  von  schwärzlichem  Schieferthon, 
von  grauen  und  schwärzlichen  Kalken  oder  Mengeis  chiefer 
und  dunkelfarbigen  Sandsteinlagen,  in  welchen  man  weitere 
Schichtensysteme  nicht  zu  unterscheiden  im  Stande  ist. 
Dieser  Nachweis  ist  eine  namhafte  Errungenschaft  für  die 
Alpengeognosie. 

Dieser  tiefere  Dogger  verbindet  sich  stellenweise  mit 
noch  tieferen  Lagen  von  ähnlicher  petrographischer  Be- 
schaffenheit, die  jedoch  durch  organische  Einschlüsse  sich  als 
liasisch  kennzeichnen.  Die  dunkelfarbigen  Mergelschiefer 
der  oberen  Liasstufe  stimmen  aufs  genaueste  mit  den  Schiefer- 
bildungen, welche  ich  Algäuschichten  nenne  (S.435  m.  W.). 
Ich  habe  bei  denselben  bemerkt,  dass,  da  in  den  bayerischen 
Alpen  bisher  keine  Spuren  von  .älterem  Dogger  beobachtet 
werden  konnten ,  in  der  Reihe  dieser  ein  scheinbar  untheil- 
bares  Ganzes  ausmachenden  Algäuschiefer  wahrscheinlich  die 
Aequivalente  der  Doggerformation  mit  eingeschlossen 
sind.  Diese  genauen  Schilderungen  der  oberen  Liasschichten 
in  den  Westalpen  (mit  Ammonites  Aalensis  und  Inoceramus 
Falgeri)  macht  mir  diese  Ansicht  nur  um  so  wahrscheinlicher. 
Ueberhaupt  scheint  der  Lias  des  Genfergebirgs  viele  Ueber- 
einstimmung  mit  der  Lias  in  unseren  Alpen  zu  haben,  ob- 
wohl die  Fauna  ganz  ausseralpinen  Typus  an  sich  trägt  und 
nur  Ammonites  Roberti5)  Hauer  (nicht  Ooster)  als  ausschliess- 
lich alpine  Art  beherbergt. 

Auch  die  rhätischen  Stufe,  für  welche  Favre  sich 
der  Stoppani'schen  Bezeichnungsweise  Infra-Lias  bedient, 
(obwohl  wir  uns  sonst  in  Vielem  in  höchst  erfreulicher  Weise 
mit  unsern  Ansichten  in  Uebereinstimmung  befinden,)  ist  in 
ihrer  grossartigen  Verbreitung  innerhalb  der  Westalpen  dem 
scharfen  Blicke  Favre' 9  nicht  entgangen.  Seine  Mittheilungen 


5)  Ammonites  discohelix  Stol.  ist  mir  nicht  bekannt. 


Giimbel:  Die  geognost.  Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      627 

hierüber  sind  sehr  umfassend  und  belehrend.  Bezüglich  der 
organischen  Einschlüsse  hält  sich  der  Verfasser  ganz  an  die 
Bestimmungen  Stoppani's.  Wir  wollen  desshalb,  obgleich 
sie  nicht  in  Ueberstinimung  stehen  mit  unserer  Auffassung, 
nichts  weiter  bemerken.  Wenn  aber  der  Verfasser,  die  An- 
sichten Stoppani's  und  die  der  meisten  französischen  Geo- 
logen theilend,  als  mit  bestimmenden  Grund  der  Zutheilung 
der  rhätischen  Schichten  zur  Liasformation  das  Vorkommen 
von  einer  Belemniten-  und  einer  Metoporhinus  -  Species  an- 
führt, so  sei  mir  erlaubt,  obgleich  diese  Frage  schon  so  vielfach 
discutirt  worden  ist,  hier  noch  einmal  mit  wenigen  Worten 
darauf  zurück  zu  kommen.  Zum  Voraus  sei  bemerkt,  dass 
das  Auffinden  eines  so  schlecht  erhaltenen  Steinkern's,  über 
dessen  Natur  man  überhaupt  noch  in  Zweifel  sein  muss,  wie 
jener  eines  unsymetrischen  Echinodermen  —  Metoporhinus — 
bei  der  Entscheidung  der  beregten  Frage  wohl  in  Ernst 
nicht  in  die  Wagschale  gelegt  werden  darf.  Auch  das  erst- 
malige Erscheinen  eines  Belemniten  kann  nicht  befremden, 
so  wenig  wie  das  Vorkommen  von  Orthoceratiten  im  Lias 
von  Adneth.  Wenn  man  bisher  die  Gründe  angeführt  hat, 
welche  zu  Gunsten  einer  Zutheilung  der  rhätischen  Schich- 
ten zur  Liasformation  nach  der  Vergleichung  der  beiden 
gemeinschaftlichen  oder  analogen  Species  zu  sprechen  scheinen, 
hat  man  immer  vergessen,  mit  gleichem  Maass  zu  mes- 
sen. Man  zählt  auf  der  einen  Seite  die  gleichen  oder  ver- 
wandten Arten  in  zwei  Schichtenreihen,  die  unmittelbar 
aufeinanderliegen,  welche  mithin  in  der  Zeit  ihrer  Entstehung 
unmittelbar  und  in  demselben  Meere  entstanden  aufeinander 
folgten,  während  man  auf  der  anderen  Seite  zu  einer  Ver- 
gleichung mit  älteren  triasischen  Faunen  wenigstens  bis  in  die 
Lettenkohle  oder  gar  bis  in  den  Muschelkalk  hinabsteigen 
muss,  in  Faunengebiete,  die,  vergleichsweise  zu  sprechen,  viele 
hunderttausend  Jahre  früher  existirten  und  den  rhätischen 
vorausgiengen.     Die    basische  Fauna    dagegen   reicht   dieser 


628      Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

unmittelbar  die  Hand.  Ist  eine  solche  Vergleich  ungleich- 
werthigen  Verhältnisse  wissenschaftlich  exakt  und  zulässig? 
Ich  glaube  nicht.  Es  fallen  damit  zugleich  auch  alle  die 
Gründe  der  Zutheilungder  rhätischen  Stufe  zur  Liasformation. 

Wenn  man  richtige  Zahlen  gewinnen  will,  so  muss  man 
Vergleichungen  der  Fauna  ziehen,  die  nahezu  gleich  weit  in 
der  Zeit  ihrer  Bildung  von  dem  Vergleichscentrum  abstehen, 
und  diess  wäre  nur  möglich,  wenn  wir  eine  Fauna  benützen, 
könnten,  die  so  tief  —  ich  gebrauche  diesen  Ausdruck  nur  figür- 
lich—unter dem  rhätischen  Schichtencomplex  läge,  wie  die  der 
unteren  Liaschichten  darüber,  also  etwa  die  Fauna  des  rothen 
Belodon-Keuper's.  Aber  würde  man  sich  nur  die  Mühe  nehmen, 
die  rhätische  Fauna  der  tieferen  Keuperschichten  in  den  Alpen 
mit  jener  der  sog.  Raibler  Schichten  oder  des  Kalks  vom 
Esino  in  Vergleich  zu  setzen,  ohne  dabei  zu  vergessen,  dass 
zwischen  beiden  die  ungeheure  Masse  des  Hauptdolomits, 
der  einer  unermesslich  langen  Bildungszeit  entspricht,  liegt, 
so  würde  man  den  triasischen  Charakter  der  rhätischen 
Fauna,  im  Sinne  meiner  Erläuterungen  über  die  Grenz- 
schichten der  Jura-  und  Neocombildungen  gewiss  nicht  ver- 
kennen können.  Wer  die  ausseralpinen  Verhältnisse,  welche 
zwischen  dem  Bone-bed  und  den  tiefen  Keuperlagen  so  un- 
zweideutig bestehen,  kennt  und  würdigt,  wird  ausserdem 
nicht  im  Zweifel  sein,  dass  dieses  ganze  Schichtensystem  ein 
zusammengehöriges  .Ganzes  ausmache  und  am  naturgemässe- 
sten  als  eine  besondere  Stufe  der  triasischen  Formation 
anzureihen  sei. 

Die  Entdeckung  und  der  Nachweis  von  oberen  Trias- 
schichten, welche  dem  Keuper  an  Alter  zu  vergleichen 
sind,  in  den  westlichen  Alpen  verdankt  die  Wissenschaft 
gleichfalls  den  Untersuchungen  Favre' s.  Derselbe  hatte 
diese  Schichten  schon  vor  mehreren  Jahren  kennen  gelehrt. 
Jetzt  liegt  uns  hierüber  eine  vollständige  und  ausführliche 
Beschreibung  in  allen  Einzelheiten  des  Vorkommens  vor,  die 


Gümbel:  Die  geognost.    Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.       629 

uns  eine  sehr  klare  Einsicht  gestattet.  Wir  finden  nament- 
lich darin  als  wesentliches  Glied  Gyps  mit  Rauchwalke  an- 
geführt; neben  Arkose,  Quarzit,  rothen  und  grünen  eisen- 
haltigen, thonigen  Schiefern,  die,  weil  ohne  Versteinerungen, 
nicht  mit  Sicherheit  den  alpinen  Buntsandstein  oder 
Werfen  er  Schiefern  der  Ostalpen  gleichgestellt  werden 
können.  Ebenso  fehlt  es  an  deutlichen  Spuren  der  Muschel- 
kalkbildung. Die  auftretenden  Dolomiten  entsprechen  eine 
der  mächtigen  Dolomitenreihen  in  den  Üstalpen,  welche  hier 
zwischen  dem  unteren  Trias  und  der  rhätischen  Stufe 
eingelagert  vorkommen.  Auch  die  Vergesellschaft  von  Gyps 
und  Rauhwacke  lässt  eine  nähere  Vergleichung  mit  den  Ver- 
hältnissen in  unserem  Hochgebirge  nicht  zu,  da  wir  hier 
drei  wesentlich  verschiedene  Gyps-führende  Horizonte  im 
obersten  Buntsandstein  (Roth),  zwischen  Raibler  Schichten 
und  Hauptdolomit  und  endlich  in  den  rhätischen  Schichten 
selbst  haben.  Am  meisten  Wahrscheinlichkeit  hat  es  für 
sich,  die  Gypsbildung  der  Westalpen  dem  mittleren  Horizont 
anzugleichen,  welcher  ziemlich  mit  den  Gypsablagerungen  iu 
den  tiefsten  Stufen  des  bunten  Keupers  ausserhalb  der 
Alpen  (Gaugyps- Stufe)  über  oder  mit  den  dortigen  Stell- 
vertretern der  Raibler-Fauna  das  gleiche  Alter  theilt. 

Wir  gelangen  so  abwärts  in  der  Schichtenreihe  steigend 
an  jene  sogenannte  Anthracitbildung  der  Westalpen, 
welche  seit  ihrer  ersten  wissenschaftlichen  Entdeckung  durch 
H.  Elie  de  Beaumont  (1828)  das  Interesse  aller  Geog- 
nosten  dadurch  auf  das  Lebhafteste  für  sich  in  Anspruch 
nahm,  weil  daselbst  ächte  Steinkohlenpflanzen  mit 
ächten  Lias-  sogar  mit  tertiären  Ueberresten  zusammen- 
gelagert vorkommen  sollen.  Man  hat,  um  diese  Anomalie 
gegen  alle  sonstige  Beobachtungen  in  den  Schichten,  welche 
unter  der  Bezeichnung  Anthrazitbildung  der  Taren- 
taise  bekannt  sind,  zu  erklären,  viele  Theorien  aufgestellt 
und  zu  den  wirklich  abenteuerlichsten  Auskunftsmitteln  seine 


630  Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

Zuflucht  genommen.  Selbst  die  Barrande'schen  Kolonien 
hatten  kaum  das  Licht  der  Welt  erblickt,  als  sie  zur  Er- 
läuterung der  Anomalie  in  der  Tarentaise  herbeigezogen 
wurden.  Favre  behandelt  diesen  Stoff  sachlich  und  ge- 
schichtlich mit  einer  Gründlichkeit,  die  diesem  Forscher  zur 
höchsten  Ehre  gereicht.  War  er  es  ja,  welcher  zuerst  (1858) 
nicht  bloss  behauptete,  sondern  deutlich  nachwies,  dass  die 
unzweifelhaft  ächten  Steinkohlenpf  lanzenreste-enthal- 
tende  Lagen  getrennt  sind  von  den  Liasversteinerungen- 
führenden  Schichten  und  dass  beide  Systeme  nur  durch 
Schichtenstörungen,  Zusammenfaltelungen  und  Ueberkippungen 
in  scheinbare  Wechsellagerung  versetzt  und  stellenweise  so 
übereinander  gelagert  vorkommen,  dass  die  ächten  Carbon- 
schichten oben  und  die  Liasschichten  unten  liegen. 

Der  verdienstvolle  Alpenforscher  hatte  die  Genugthuung, 
dass  die  Versammlung  von  Geognosten,  welche  1861  zur 
Prüfung  dieses  so  wichtigen,  wie  schwierigen  geognostischen 
Problems  unter  Studer's  Leitung  in  einer  ausserordent- 
lichen Sitzung  der  geologischen  Gesellschaft  zu  St.  Jean 
Maurienne  zusammengetreten  war,  nach  sorgfältiger  Prüfung 
an  Ort  und  Stelle  sich  ganz  den  Resultaten  Favre' s  an- 
schloss  und  Studer  die  Streitfrage  für  definitiv  erledigt 
erklären  konnte.  Wenn  aber  irgend  noch  eine  Spur  von 
Bedenken  übrig  geblieben  sein  könnte,  so  würde  diese  durch 
die  neue,  klare  und  erschöpfende  Darstellung  Favre' s,  die 
von  zahlreichen  deutlichen  Profilzeichnungen  erläutert  wird, 
vollständig  verscheucht  sein.  Dieser  Abschnitt  ist  ein  wahres 
Muster  für  die  Behandlung  geognostischer  Fragen. 

Die  Kohlengebirgsschichten  lagern  zum  Theil 
wenigstens  auf  noch  älteren,  den  krystallinischen  Schiefern 
oft  ähnlichen  Schiefergebilden,  die  in  den  inneren  Theilen 
des  Hochgebirgs  mächtige  Verbreitung  gewinnen.  Da  sichere 
Andeutungen  der  präcarbonischen  Reihen  des  Bergkalks  der 
Devon-  und  Silurformationen  bisher  hier  noch  nicht  erkannt 


Giimbel:  Die  geognost.  Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.       631 

worden  sind,  so  könnte  man  solche  alpine  Thonschiefer 
für  Aequivalente  solcher  älterer  Gebirgsglieder  halten;  in- 
dess  fehlt  jede  Spur  organischer  Einschlüsse,  die  eine  solche 
Annahme  rechtfertigen  würde. 

Die  grosse  Reihe  dieser  thonigen  Schiefer  von 
von  mehr  oder  weniger  krystallinischer  Textur,  die  man  als 
Mont  Cenis-  oder  Casenna-  oder  graue  und  grüne  Schiefer 
bezeichnen  kann ,  wie  zwischen  Fluuiat  und  dem  Thal  der 
Isere  und  um  Megene,  verlaufen  in  kalkige,  chloritische 
Glimmer-führende  Schiefer  und  in  wahren  Glimmer- 
schiefer, die  ihrerseits  wieder  aufs  innigste  dem  Gneis s 
sich  anschliessen.  Alle  diese  krystallinischen  Schiefer 
bilden  ein  Ganzes,  in  welchem  einzelne  Graphit-reiche 
Lagen,  dann  häufig  körniger  Kalk  stets  nur  in  deutlichen 
Zwischenlagen,  wie  der  Serpentin,  eingeschaltet  sich  finden. 
Favre  war  auch  so  glücklich  in  dem  serpentinhaltigen  Kalk 
im  Mattenbach  bei  Lauterbrunn  in  der  Juugfraukette  zwischen 
Gneisslagen  Eozoon  aufzufinden.  Wir  erkennen  aus  diesen 
Schilderungen  das  Abbild  der  Verhältnisse,  welche  sich  auch 
in  den  Urgebirgstheilen  des  bayerischen  Gebirgs  N.  der 
Donau  beobachten  lassen.  Selbst  Eklogit- Einschlüsse  hat 
Favre  in  der  Nähe  des  grossen  Gletschers  von  Trient  be- 
obachtet. 

Der  Gneiss,  namentlich  die  Gneissabänderungen  mit 
grünem  Glimmer,  die  sogenannten  Protogingneisse  ver- 
binden sich  so  innig  mit  gewissen  granitischen  Gesteinen, 
dass  man  beide  blos  für  Formen  derselben  Gebirgsart  halten 
muss.  So  erscheint  der  Granit,  den  man  wegen  seiner 
charakterischen  Gemengtheile  Protogin  nennt,  mehr  gegen 
das  Centrum  des  Mont-Blanc  Stock's,  die  geschichtete  Ab- 
änderung mehr  gegen  Aussen.  Dieser  Protogin  selbst  in 
seiner  Granitform  ist  stets  in  dicken  Bänken  gesondert  und 
gehört  mithin  denjenigen  krystallinischen  Bildungen  an,  die 
ich    als    Lagergranite     bezeichne.     Meine    Untersuchungs- 


632       Sitzung  der  math.-phys.  Ciasse  vom  7.  Dezember  1867. 

resultato  stehen  in  dieser  Beziehung  in  voller  Uebereinstim- 
mung  mit  den  Ansichten  Favre' s,  wenn  er  die  herrschende 
Parallelstruktur  der  krystallinischen  Schiefer  für  ächte 
Schichtung,  und  nicht  für  Folge  einer  Schieferung  hält, 
deren  wahre  Ursache  und  Wirkung  der  Verfasser  sehr  wohl 
kennt  und  an  den  Schichten  zwischen  Tete  noire  und  dem 
grossen  Tunnel  trefflich  beschreibt.  Die  steile  Aufrichtung 
dieser  Schichten  und  Lager  verursacht  das  Wildzackige  dieses 
Gebirgs  und  das  häufige  Vorkommen  von  Spitzen  und 
Nadeln,  während  andere  Granitgebirge  sich  durch  abge- 
rundete Formen  auszeichnen.  Auch  unsere  nord bayerischen 
Gebirge  beherbergt  einen  Protog in- artigen  Granit,  bei  dem 
jedoch  die  weiche  talkähnliche  Beimengung  nicht  aus  Talk 
besteht,  sondern  dem  Onkosin  und  dem  Steinmark  entspricht. 
Bei  den  allerdings  wenigen  Mustern  von  Protogin  aus 
dem  Mont-Blanc  Stock ,  die  mir  zur  Verfügung  stehen, 
zeigt  es  sich  äusserst  schwierig ,  die  grünliche  für  Talk- 
anzusprechende Substanz  ganz  tein  von  Feldspath  oder 
Glimmerschüppchen  zu  befreien.  Die  erhaltenen  Reaktionen 
sind  daher  nicht  zuverlässig  genug,  um  über  die  Natur 
dieser  Beimengung  vollständig  ins  Klare  zu  kommen.  Ich 
fand  indess,  dass  möglichst  reine  Splitterchen  vor  dem 
Löthrohr  nicht  völlig  unschmelzbar  sind,  dunkler  werden 
und  mit  Kobaltlösung  Spuren  von  blauer  Färbung  annehmen. 
Es  möchte  daher  diese  Substanz  ebenfalls  zu  den  Steinmark- 
ähnlichen  Beimengungen  zu  rechnen  sein. 

Wir  folgen  dem  Verfasser  aus  dem  Bereich  zahlloser 
einzelner  Beobachtungen,  die  er  in  der  Natur  augestellt  und 
bezüglich  der  Richtigkeit  seiner  Auffassung  durch  hundert 
ähnliche  Profile  controllirt  hat,  endlich  auf  das  Gebiet  der 
Schlussfolgerungen,  welche  er  auf  höchst  geistreiche  Weise  als 
das  Resultat  aus  seinen  Einzelforschungen  ziehen  zu  dürfen 
geglaubt  hat.  Es  ißt  von  hohem  Interesse  hier  die  An- 
sichten   eines  Mannes    zu   hören,     welcher   durch    die  Ruhe 


Gümbel:  Die  geognost.    Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.       633 

und  Klarheit  der  Anschauungen  bei  seinen  tausend  und 
tausend  Beobachtungen  in  der  Natur  Bürgschaft  dafür  leistet, 
dass  auch  seine  Schlüsse  sich  nicht  vom  Wege  exakter 
Forschung  durch  kühne  Phantasien  werden  fortreissen  lassen, 
kurz  die  durch  unsägliche  Mühe  während  vieljährlichen 
Forschungen  erworbenen  Erfahrungen  eines  Feldgeologen  zu 
vernehmen.  Nach  sorgsamer  Prüfung  aller  Verhältnisse 
kommt  Favre  zu  dem   Schlüsse,    dass: 

1)  nur  unter  dem  Einflüsse  von  Feuchtigkeit,  Druck 
und  Wärme  die  Granit-artigen  Gesteine  des  Mont-Blanc's  ent- 
standen sein  können, 

2)  dass  sie  geschichtet  sind, 

3)  dass  sie  in  festem  Zustande  auf  die  Oberfläche  der 
Erde  gelangt  sind  und 

4)  dass  sie  nicht  dem  Metamorphismus  unterworfen 
waren.  „ 

Um  die  Verhältnisse  deutlicher  begreiflicher  zu  machen, 
unter  welchen  bei  dieser  Voraussetzung  etwa  die  Ent- 
stehung solcher  Granitmassen  gedacht  werden  kann,  ver- 
weist der  Verfasser  auf  jene  ältesten  Perioden  der  Erd- 
bildung zurück,  wo  das  Wasser  noch  in  Dampfform  in  der 
Atmosphäre  verbreitet  war  und  sich  zu  condensiren  begann. 
Der  dadurch  und  durch  das  Vorhandensein  anderer  Gas- 
arten in  der  damaligen  Atmosphäre  verursachte  enorme 
Druck  zwang  die  Dämpfe  trotz  der  hohen  Temperatur,  die 
damals  herrschte,  in  flüssigen  Zustand  überzugehen  und  auf 
vorhandenes  Material,  welches  sich  der  Verfasser  in  Form 
Lava-ähnlicher  Masse  die  Oberfläche  der  Erdfeste  bedeckend 
denkt,  auflösend  einzuwirken.  Dieser  aufgenommene  Stoff 
krystallisirte  wieder  aus  und  lieferte  das  Material  zu  dem 
granitischen  Gestein.  Mit  Abnahme  der  Wärme  verringerte 
sich  diese  Einwirkung  und  die  Krystallisationskraft  und  so 
entstanden  die    krystallinischen  Schiefer.     Die  Gesteinsgänge 


634       Sitzung  der  math.-phys.  Ciasse  vom  7.  Dezember  1867. 

dagegen ,  die  von  dem  Verfasser  auch  vielfach  constatirt 
wurden  ,  wie  z.  B.  die  Gänge  porphyrartigen  Granits  von 
Valorsine,  leitet  er  von  grossem  Druck  her,  welcher  das 
Magma  des  Granites  in  die  Risse  benachbarter  Gesteine 
eingeführt  habe. 

Wenn  wir  an  die  Stelle  bereits  aus  der  Wasserlösung 
fertig  ausgebildeter  Krystalle  die  Bildung  eines  amorphen 
Niederschlages  setzen,  aus  dem  sich  erst  nach  und  nach  die 
einzelnen  Mineralien  am  Boden  selbst  entwickelten,  so  dürfte 
diese  Darstellung  ungefähr  der  Vorstellung  gerecht  werden, 
welche  wir  uns  nach  dem  jetzigen  Standpunkt  der  Erfahr- 
ungen naturgemäss  von  der  Entstehung  der  granitischen 
Gesteine  machen  können. 

Besonders  scharf  fertigt  Favre  den  Metamorphismus 
in  Bezug  auf  die  Entstehung  der  krystallinischen  Schiefer 
ab.  Der  Glaube  an  den  so  mysteriösen  Metamorphismus 
stamme  hauptsächlich  von  der  Angabe  der  französischen 
Karte  eines  „terrain  jurassique  modifie"  her.  Seitdem 
jedoch  dieses  terrain  modifie  theils  als  carbonisch,  theils  als 
acht  jurassisch  sich  erwiesen  hat,  ist  der  Metamorphismus 
unnöthig  geworden.  In  dem  Kalk  vonMagaz  dicht  am  Protogin 
finden  sich  die  best  erhaltenen  Versteinerungen  ohne  irgend  eine 
Aenderung.  In  Bezug  auf  das  Vorkommen  von  Equisetum 
Sismondae,  im  Gneiss  von  Veltlin,  das  man  für  einen  un- 
umstösslichen  Beweiss  zu  Gunsten  der  Bildung  des  Gneisses 
durch  Metamorphose  angeführt  habe,  glaubt  Favre, 
dass  bei  einer  Umänderung  der  Schiefer  in  krystallinisches 
Gestein  die  feinen  Theilchen  der  zarten  Pflanze  sich  unmög- 
lich hätten  erhalten  können.  Metamorphismus  ist  dem  Ver- 
fasser eine  verborgene,  unbekannte  Kraft,  der  man  die  Erfolge 
zuschreibt,  von  denen  man  sich  keine  Rechenschaft  geben  könne, 
von  der  man  jedoch  wünschen  müsse,  dass  ihr  Name  bald 
aus   dem   Wörterbuch    der    Wissenschaft   gestrichen    werde. 


Gümbel:  Die  geognost.  Verhältnisse  des  Mont-Blanc  etc.      635 

Man  muss  wenigstens  bezüglich  der  krystallinischen  Schiefer 
dieser  Ansicht  unbedingt  beistimmen  oder  überhaupt  alle 
Gesteine,  welche  nach  ihrer  Sedimentation  oder  Erstarrung 
irgend  eine  Aenderung  erlitten  haben,  —  und.  das  sind  alle, 
selbst  Sedimentgesteine,  ausnahmslos  —  als  metamorphische 
erklären.  Selbst  der  gewöhnlichste  Kalkstein  hat  seit  seinem 
ersten  Körner-  oder  Staub-artigen  Absatz  bis  zum  Zustande 
einer  festen  Felsmasse  grosse  Metamorphosen  durchgemacht. 
Wir  stimmen  insofern  der  oben  ausgesprochenen  Ansicht 
bei,  als  jeder  Metamorphismus  zu  verwerfen  ist,  bei  dem 
man  sich  über  die  verändernden  Vorgänge  nicht  Rechenschaft 
geben  kann.  Indessen  bleiben  immerhin  eine  Reihe  von  Er- 
scheinungen übrig,  die  sich  durch  eine  materielle  Umänder- 
ung früher  vorhandener  Felsarten  vollständig  exakt  erklären 
lassen.  Ich  erwähne  nur  die  Verwandlung  von  Enstatit-  oder 
von  Olivinfels  in  Serpentin.  Doch  beschränken  sich  derartige 
Metamorphosen  auf  Infiltrationserscheinungen  und  Umänderung 
nach  Art  der  Pseudomorphosen.  Es  dürfte  daher  geeignet 
sein ,  statt  des  allerdings  vielfach  missbrauchten  Wortes 
Metamorphose  den  Begriff  Pseudomorphose  auch  auf 
ganze  Felsmassen  anzuwenden. 

Es  erübrigt  noch  die  Erklärung  zu  erwähnen,  welche 
der  Verfasser  nach  dem  Vorgange  Lory's  im  XXIII.  Kapitel 
seines  Werkes  über  die  Fächerstruktur  des  Mont-Blanc 
Massiv's,  welche  mit  gewisser  Modifikation  auf  den  ganzen 
Gebirgsbau  der  Alpen  Anwendung  finden  kann ,  giebt.  Sie 
stützt  sich  auf  die  Annahme  einer  wahren  Schichtung  der 
krystallinischen  Schiefer  und  einer  lagenweisen  Ausbildung 
des  Protogin's.  Man  muss  annehmen,  dass  die  krystallinischen 
Schiefer  beim  Beginn  des  letzten  Hauptgestaltungsaktes  der 
Alpen  von  einer  sehr  energischen  Pression  ergriffen ,  eine 
sehr  vorspringende  Falte  bildeten  und  durch  das  Uebermaass 
der  Krümmung   auseinander    brachen ,     so   dass   der   zuerst 


636       Sitzung  der  math.-phys.  Classe  vom  7.  Dezember  1867. 

unter  den  Schiefern  in  der  Tiefe  lagernde  Protogin  im  Mittel- 
punkt der  Berstung  zum  Vorschein  kam.  Die  oberen  Partieen 
der  so  gehobenen  Kette  erlitten  eine  nur  schwache  Seiten- 
pressung, während  die  tieferen  mit  grosser  Gewalt  durch 
die  Wirkung  der  benachbarten,  weniger  hervorragenden  Falten 
zusammengedrückt  wurden  und  eine  Lage  annehmen  mussten 
nach  Analogie  der  Halmen  in  einer  Garbe.  Auf  ähnlichen  Vor- 
gängen beruht  auch  die  Struktur  der  angeschlossenen  jüngeren 
Sedimentärschichten  in  ihren  halbfächei  förmigen,  gewölb- 
artigen oder  selbst  überstürzten  Lagerungen. 

Wenn  der  Verfasser  annimmt,  dass  der  Ursprung  der 
Gebirge  nicht  einer  Erhebung  (soulevement)  im  vertikalen 
Sinne  zugeschrieben  werden  könne,  weil  dann  die  Schichten 
einfach  antiklinal  aufgerichtet  und  zersprengt  worden  wären, 
so  ist  doch  nicht  abzusehen,  wenn  ich  recht  verstehe,  wie 
die  erste  Wirkung  der  Pression  in  der  Centralkette  entstanden 
sei.  Mir  scheint  in  der  That  eine  Emporhebung  gewisser 
fester  Gebirgstheile  in  der  Centralkette  angenommen  werden 
zu  müssen,  welche,  indem  durch  dieses  Emporpressen  fester 
Massen  zwischen  die  früher  auflagernden  Schiefer  ein  Raum 
geschaffen  werden  musste,  welcher  die  eingeschobenen  Massen 
einnehmen  konnte,  ein  Auseinanderdrängen  der  seitlich  ge- 
lagerten Schichten  verursachte  und  auf  diese  nur  in  Form 
eines  Seitendrucks  wirken  konnte,  wie  ich  bereits  ausführlich 
(S.  855  m.  W.)  ausgesprochen  habe.  Im  grossen  Ganzen 
glaube  ich  jedoch  die  Ueberstimmung  unserer  Ansichten  über 
den  Gebirgsbau  der  Alpen  in  zwei  so  entfernt  liegenden 
Theilen  derselben  constatiren  zu  dürfen. 

So  sehen  wir  durch  dieses  Meisterwerk  der  descriptiven 
Geologie  eine  jener  grossen  Lücken  auf  die  würdigste  Weise 
ausgefüllt,  welche  die  bisher  erschienenen  Monographien  über 
einzelne  Theile  der  Alpenkette  noch  gelassen  hatten  und 
wir    begrüssen    mit    grosser   Freude    die   Uebereinstimmung 


Sitzung  der  Jiistov.  Gasse  vom  7.  Dezember  1867.  637 

der  Resultate  der  Forschungen  im  Osten  und  Westen  der 
Alpen,  die  der  Hoffnung  Raum  geben,  dass  das  so  schwierige 
Gebiet  der  Alpen  bald  in  allen  Theilen  gleichmässig  geogno- 
stisch  untersucht  und  in  seinem  verwickelten  Gebirgsbau  klar 
aufgeschlossen  vor  Augen  gestellt  sein  werde. 


Historische  Classe. 

Sitzung-  vom  7.  Dezember  1867. 


Herr  Rockinger  machte  Mittheilungen: 

„Zur  äussern  Geschichte  der  Entwicklung 
der  bayerischen  Landesgesetzgebung  von 
Kaiser  Ludwig's  oberbayerischen  Land- 
rechten bis  in  den  Beginn  des  16.  Jahr- 
hunderts'. 


[1867.11. 4]  42 


Sach-  Register. 


Achäer  528. 
Aegypten  84    528. 

Alpen,  die  West-  und  Ostalpen  606. 
Altfranzösiscbe  Lieder  486. 
Atomigkeit  563. 

Auctoritates  (in  der  Philosophie)  173. 
Drucke  174. 


Bach  Sebastian  336. 

Bayern,  Ortsnamen  450. 

Landesgesetzgebung  637. 

Bergkrystallgewichte  235. 

Berner  Bibliothek  486. 

Berthold  von  Regensburg  374. 

Blitzschläge  247. 

Influenzfilhigkeit     der    Bodenschichten    —    mechanische     Wirk- 
ungen 263. 

Blausäure-Vergiftung  591. 
Wirkung  aufs  Blut  594. 

Brasilien  559. 

Buchstaben,  ihr  ägyptischer  Ursprung  84. 
ein  Alphabet?  100.  103. 


China  19. 

42* 


640  £  ach- Register. 

Danait  278. 


Eiterkörper  in  Gefässepithelien  139. 
Erlanger  Bibliothek  385. 


Favre  Alphons,  recherches  geologiques  etc.  604. 
Fettbildung  im  Körper  462. 

Formeln,  typische  und  empirische   in  der  Mineralogie  563. 
Fütterungsarten  404. 


Galtgrünsandstein  155. 

Geologie  407.  603. 

Gerding's  Geschichte  der  Chemie  601. 

Geschichte,  ägyptische  528. 

chinesische  19. 
Gewitterereignisse  249.  265. 
Glaukodot  von  Hakansbö  247. 
Griechisches  auf  ägyptischen  Denkmälern  534. 
Gudrun  205.  357. 


Harnsäuresedimente  279. 
Heilsbronner  Bibliothek  385. 
Heinrich  von  Veldeken  Eneide  4" 


Island  1. 


Knochenbildungen  (primäre)  in  der  Lunge  144. 
Krause  Unsterblichkeitslehre  394. 


Leiden  Christi-Leodegar  (altromauisch)  199. 
Leucothea  der  Glyptothek  339. 


Sach-Register.  641 


Litteratur 

mitteldeutsche  1.  205.  357.  384.  461.  471. 
romanische  199.  486. 


Mathematik  407. 

Menschenspuren   in  den  neogenen  Tertiärschichten  Frankreichs  407, 

Meteorologie  247.  t 

Milchkuh,  eine  gute  406. 

Mineralogie  276.  563. 

Mineralwasser  zu  Neumarkt  (Oberpfalz)  125 

Montblanc,  dessen  geognostische  Verhältnisse  603. 

Mukhbir,  türk.  Journal  394. 

Münchner  Staatsbibliothek   2.  297.  384.  425.  471. 


Xachtsegen  (mitteldeutsch)  1.  159.  461. 


"Qyxcc  550. 

Optische  Constructionen  284. 


Pateclus  392.  459. 

Pelasger  546. 

Philosophie  des  Mittelalters  173. 

Phosphorsäure  in  Schichtgesteinen  Bayerns  147. 

Photographie  284. 

Piatons  Timäus  543. 

Polnische  Sprache  160. 

Roger  Bacon  374. 

Rüdiger  von  Manesse  in  Zürich  429. 


Salimbene's  Chronica  375.  390. 
Schmeller's  Realkatalog  384. 
Scholastik  173. 

ihre  Nachwirkung  im  16.  Jahrhundert  189. 


642  Sach-Register. 

Schwabenspiegel  297. 

dessen  Abfassungszeit  408,  eine  höhere  442. 

eine  Handschrift  desselben    im  Besitze  des  Herrn  Föringer  408. 

eine  Pergamenthandschrift  Heinrich  des  Preckendorfer  413.  416. 

Schwefelarsenik-Bildung    in    den  Leichen    mit   arseniger  Säure  Ver- 
gifteter 395. 

Sprachgränze,    die  deutsche  im  Süden  383. 

Stoffverbrauch  —  Stoffwechsel  572. 
-beim  Gesunden  und  Kranken  575. 


Verschwörung  in  Bayonne  (1565)  158. 


Wage  —  erreichbare  Genauigkeit  231. 
Walther  von  Lille'  (Waltharius)  394. 
Wehrverfassung  keltische-germanische  158. 
Wittenberger  Theologen  33G. 
Wurmsegen  (mitteldeutsch)  16. 


Ziffern,  ägyptisch  116. 
Zuckerharnruhr  572. 


Namen -Eegister. 


Brunn  339. 

Büchner  125.  395.  591. 
Büdinger  (Wahl)  339. 
Buhl  139.  144. 


Cappino    Marchese  (Wahl)  338. 
Carvalhao  (Wahl)  338. 


Gümbel  147.  G03. 


Benzen  (Wahl)  33S. 

C.  Hofmann  I.  159.  199.  205.  336.  357.  374.  4(31.  480 

Frz.  Hofmann  279. 

v.  Hundt,  Graf  450. 


v.  Kaueler  (Wahl)   337. 
Keinz  1. 

Kluckhohn  158.  336. 
v.  Kobell  276.  563. 
Kuhn  247. 


Lauth  84.  528. 

de  Leva  (Wahl)  339. 

v.  Leuchtenberg,  Nicolaus  Herzog  Ehrenmitglied  (Wahl)  337. 

v.  Liebig  337. 

Lorenz  (Wahl)  339 

de  Lima  (Wahl)  338. 


644  Namen-Begister. 

v.  Martina  559. 
Matteucci  (Wahl)  338. 
Maurer  1. 
Mignet  (Wahl)  338. 
Miquel  (Wahl)  338. 
Müller  M.  J.  394. 


Newton  (Wahl)  338. 

Pariatore  (Wahl)  338. 
v.  Pettenkofer  572. 
Plath  19.  394. 
Prantl  173. 

Riehl  336. 

Rockinger  297.  408.  637. 
Röscher  (Wahl)  338. 
de  Rossi  (Wahl)  338. 
Roth  158. 


Scacchi  (Wahlj  338. 
Secchi  (Wahl)  338. 
Seidel  231.  284.  407. 
Senarmont  (Wahl)  338. 
A.  Steinheil  284. 


Vogel  601. 

Voigt  (Wahl)  339. 

Voit  279.  402.  572. 


Wagner  Mor.  407. 

Zingerle  (in  Innsbruck)  461.  471. 


AS 

182 

M8212 

1867 
Bd. 2 


Akademie  der  Wissenschaften, 
Munich 

Sitzungsberichte 


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