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Full text of "Verhandlungen des Naturwissenschaftlichen Vereins in Karlsruhe 16.1902-03 extr"

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VERHANDLUNGEN 

DES 

NATURWISSENSCHAFTLICHEN 

VEREINS 

IN 

KARLSRUHE. 

SECHZEHNTER BAND. 

1902 — 1903 . 


KARLSRUHE. 

DRUCK DER G. BRAUN’SCHEN HOFBUCHDRUCKEREI. 

1903. 

Prlnted ln Germany 





VERHANDLUNGEN 

DES 

NATURWISSENSCHAFTLICHEN 

VEREINS 

IN 

KARLSRUHE. 

SECHZEHNTER BAND. 

1902 — 1903 . 


KARLSRUHE. 

DRÜCK DER G. BRAUN’SCHEN HOFBUCHDRUCKEREI. 

1903 . 





INHALT. 


Seite 

Jahresbericht. V 

Besuch der Sitzungen. V 

Rechnungsführung.. V 

Büchersamm 1 ung . .. VI 

Drucksachen-Tauschverkehr. VII 

Vorstand .. . . XII 

Bewegung unter den Mitgliedern. XIII 

Mitgliederverzeichnis. XIV 

1 

Sitzungsberichte. 

: 581. Sitzung am 6. Juni 1902. Seit» 

Fortsetzung der Mitglieder-Hauptrersammlung vom 16. Mai 1902 1* 

Treutlein: Kassenbericht.1* 

Bupp : Über diätetische Nahrungsmittel.1* 

582. Sitzung am 20. Juni 1902. 

Vorsitzender: Nachruf auf Hofrat Dr. Schröder.4* 

Mayi Charles Lamarck.. 4* 

' 583. Sitzung am'4. Juli 1902. 

Kneucker: Bericht über seine botanische Studienreise durch die 
Sinaihalbinsel . . . .. 5* 

584. Sittung am 18. Juli 1902. 

Engler: Darstellung künstlicher Diamanten . ... . . *. 5* 

Kressmann: Die deutsche Nationalschule in Wertheim 6* 

585. Sitzung am 24. Oktober 1902. 

Vorsitzender: Nachruf auf Professor von Trautscbold ... 6* 

Brode: Die Jonentheorie.8* 

586. Sitzung am 7. November 1902. 


U. Müller: Beschädigungen des Waldes durch Rauchgase . . 9* 

587 . Sitzung am 21. November 1902. 

Nüsslin: Biologie der Chermesarten', insbesondere über die 
Tannenrindenlaus (Chermes piceae).10* 

588 . Sitzung am 5. Dezember 1902. 

Engler: Über chemische Gerätschaften aus Bergkrystall . . . 10* 
Heinsheimer: Das Problem der Gescblechtsbestimmung . . . 10* 

1 * 



















IV 


589. Sitzung am 19. Dezember 1902. s<it 

Bunte: Neues vom Gaslicht .... .11 

590. Sitzung am 16. Januar 1903. 

Haber: Bericht über seine Studienreise in den Vereinigten 
Staaten von Nordamerika. 13 ' 

591. Sitzung am 30. Januar 1903. 

WiUer: Die Rasse des schwedischen Volkes. 13 ' 

592. Sitzung am 13. Februar 1903. 

i Solch: Nachruf auf Staatsminister Dr. Nokk ..14' 


Klein: Zeichen und Inschriften in lebenden Bäumen; seltene 


Formen der Fichte und Tanne im Schwarzwald .... 14' 

593. Sitzung am 6. März 1903. 

Auerbach: Der Winterschlaf unserer heimischen Säugetiere . 16' 

594. Sitzung am 27. März 1903. 

Vorsitzender: Begrüssung Ihrer Königlichen Hoheiten des Gross¬ 
herzogs und der Grossherzogin . . ..1? 

Schwarzmann: Vorläufiger Bericht Ober das Erdbeben vcm 
22. März 1903 in der Umgegend von Karlsruhe.IT' 

595. Sitzung am 24. April 1903. 

Mutli: Der Kreislauf des Stickstoffs.20* 

596. Sitzung vom 15. Mai 1903. 

Mitglieder-Hauptversammluug.20' 

Meidinger: Jahresbericht. . . . 20’ 

Kassenhei icht; Neuwahl des Vorstand-..20' 

Wähler: Selbststrahlende Materie. 21' 


Abhandlungen. 

Nüsslin, Dr. O.: Zur Biologie der Gattung Chermea Htg., insbesondere 


filier die Tanneurindeulaus Chermes piceae Ratz. 1 

Reichmann M.: Die Erdbeben in Badeu im Jahr 1901.21 

Wilser, Dr. L .: Die Rasse des schwedischen Volkes.36 

Muth, Dr. Fr.: Die Tätigkeit der Bakterien im Boden. 69 

May, Dr. W.: Jean Lamarck . ..123 
















Jahresbericht. 


Im Berichtsjahre 1902/03 haben 16 Sitzungen stattgefunden; 
sie sind, wenn man von zweien absieht, bei welcher so zahlreich 
Gäste anwesend waren, dass eine Zählung nicht möglich war, 
von 561 Mitgliedern, im Mittel also 40, besucht worden. Dabei 
sind 18 Vorträge gehalten worden, von denen sieben auf allge¬ 
meine und angewandte Chemie, je zwei auf Botanik, Zoologie 
und Anthropologie, je einer auf Bakteriologie, Geschichte, Forst¬ 
wissenschaft, Geologie und Schulwesen entfallen. Das Versamm¬ 
lungslokal war das gleiche, wie seit langen Jahren, in der kälteren 
Jahreszeit der „kleine Saal“, in der wärmeren der Wirtschafts- 
saal des Gartengebäudes der Gesellschaft Museum. Vier Vorträge 
sind in Hörsälen der Technischen Hochschule gehalten worden. 


Bechnungsführung. 

A. Kassenstand im Berichtsjahre 1902 — 1903. 

Einnahmen. 


1. Kassenrest vom Vorjahre . . . M. 2 577,22 

2. Beiträge von 202 Mitgliedern zu 

je 5 M.„ 1 010,00 

3. Rückständige Beiträge vom Vor¬ 

jahre .„ 10,00 

4. Zinsen aus Wertpapieren ... „ 1 136,35 

5. Konto-Korrentzinsen .... „ 21,30 

6. Verkauf von Drucksachen . . . „ 15,00 


M. 4 769,87 





VI 


Übertrag: Einnahme. M. 4 769.87 

Ausgaben. 

1. Bureaukosten, Dienerschaft, Porto . M. 394,76 

2. Steuern.. 26,74 

3. Lokalmiete.. 114,00 

4. Drucksachen.„ 1 080,44 

5. Gekaufte Wertpapiere.„1 510,90 

- „ 3126,84 

--- 

Kassenrest am 15. Mai 1903 .M. 1 643.03 


B. Vermögensstand. 

Wertpapiere.M. 33 742,86 

Kassenrest. „ 1 643,03 

M. 35 382,99 

Vermögensstand im Vorjahre.. 34 820,08 

somit Vermehrung.M. 565,81 


Büohersammlnng. 

Der Verein steht zurzeit mit 170 Akademien, Behörden und 
wissenschaftlichen Vereinen im Austausch; nicht mitgezählt sind 
dabei diejenigen, welche seit einigen Jahren keine Veröffent¬ 
lichung mehr eingesendet haben. Im Berichtsjahr hat der Verein 
acht neue Tauschverbindungen eingegangen, nämlich mit: 

Lloyd Library in Cincinatti. 

State University in Columbus (Ohio). 

Kais. Gouvernement in Dar-es-Saläm. 

Ornithologisch-oologischer Verein in Hamburg. 

University in Laurence (Kansas). 

Instituto Geolögico in Mexico. 

University of Montana in Missoula. 

Facultä des Sciences de l’Universit6 Rennes. 

Dem Verein sind während des Berichtsjahres die nachstehen¬ 
den Druckschriften zugegangen: 











VII 


A. Von Behörden, Instituten und Vereinen. 

Basel. Naturforschende Gesellschaft. Verhandlungen. 15. Band, 
1. Heft; 16 Band. Basel 1902. 

Bergen. Museum. An account of crustacea of Norway. Vol. 4; 
Parts 7—14. — Aarbog 1902. 1. u. 2. Heft. 

Berlin. Botanischer Verein f. d. Provinz Brandenburg. Ver¬ 
handlungen 43. Jahrgang 1901. Berlin 1903; 44. Jahrgang 
1902. Berlin 1903. 

— Deutsche geologische Gesellschaft. Kohen. Die deutsche 
geologische Gesellschaft in den Jahren 1848—1898 mit einem 
Lebensabriss von Ernst Beyrieh. Berlin 1901. — Zeitschrift. 
53. Band, 4. Heft; 54. Band 1. u. 2. Heft. 

Bern. Naturforschende Gesellschaft. Mitteilungen aus den Jahren 
1901. Nr. 1500-1518. Bern 1902. 

Bonn. Naturhistorischer Verein. Verhandlungen. 58. Jahrgang, 
1. u. 2. Hälfte. 59. Jahrgang 1902, 1. Hälfte. 

— Niederrheinische Gesellschaft für Natur- und Heilkunde. 
Sitzungsberichte 1901, 1. u. 2. Heft. 1902, 1. Hälfte. 

Boston. American Academy of Arts and Sciences. Proeeedings. 
Vol. 37, Nr. 15—23. 

Bremen. Naturwissenschaftlicher Verein. Verhandlungen. 17. 
Baud, 1. Heft. Bremen 1903. 

Breslau. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Kultur. 29. 
Band 1901. Breslau 1902. 

Brünn. Naturforschender Verein. Verhandlungen. 40. Band 
1901. Brünn 1902. — 20. Bericht der meteorologischen 
Kommission im Jahre 1900. Brünn 1902. 

Bruxelles. Academie royale des Sciences, des lettres et des 
beaux-arts. Bulletin de la classe Sciences 1901; 1902 Nr. 1 
bis 4, 6—11, 12; 1903 Nr. 1—4. — Annuaire. 1902, 68 e 
annee Bruxelles 1902; 1903, 69 e annee. Br. 1903. 

— Sociöte Entomologique de Belgique. Annales Tome 46 ; Me- 
moires IX. Bruxelles 1902. 

Chapel Hill. ElisbaMitchell Society. Journal. Vol. 8, Parts 1 u. 2. 

Cherbourg. Societe nationale des Sciences naturelles et mathe- 
matiques. Meraoires. Tome 32. Paris 1900—1902. 

Chur. Naturforschende Gesellschaft. Jahresbericht. 45. Band 
1901/02. Chur 1902. 



VIII 


Cordoba. Academia nacional de ciencias. Boletin. Tomo YII, 
entrega 1*. Buenos Aires 1902. 

Dar-es-Saläm. Kais. Gouvernement. Berichte über Forst- und 
Landwirtschaft in Deutsch-Ostafrika. 1. Band, 1.—5. Heft. 
Heidelberg 1902 u. 1903. 

Davenport. Academy of natural Sciences. Proceedings. Vol. 8, 

1899— 1900. 

Danzig. Naturforschende Gesellschaft. Schriften. 10. Band. 
4. Heft. Danzig 1902. 

Dresden. Naturwissenschaftliche Gesellschaft Isis. Sitzungs¬ 
berichte und Abhandlungen. Jahrg. 1901, Juli—Dezember. 
Jahrg. 1902, Jan.—Dez. 

— Genossenschaft Flora. Sitzungsberichte und Abhandlungen. 

1900— 1901. Dresden 1902. 

Dürkheim. Pollichia. Mitteilungen. Nr. 15—17. Dürkheim 1902. 
Elberfeld. Naturwissenschaftlicher Verein. Jahresbericht. 
10. Heft. Elberfeld 1903. 

Emden. Naturforschende Gesellschaft. 46. Jahresbericht für 
das Jahr 1900/01. Emden 1902. 

Erlangen. Physiologisch-medizinische Societät. Sitzungsberichte. 

33. Heft, 1901. Erlangen 1902. 

Frankfurt a. M. Physikalischer Verein. Jahresbericht für das 
Rechnungsjahr 1900—1901. Frankfurt &. M. 1902. 

— Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft. Bericht 1902. 
Frankfurt a. 0. Naturw. Verein. Helios. 19. Band. Berlin 1902- 
Giessen. Oberhessische Gesellschaft für Natur- und Heilkunde. 

33. Bericht. Giessen 1899—1902. 

Graz. Naturwissenschaftlicher Verein für Steiermark. Mittei¬ 
lungen. Jahrg. 1901. Graz 1902. 

Halifax. Nova Scotian Institute of Natural Science. Procee¬ 
dings and Transactions. Vol. 10. Part. 3. 

Halle. Verein für Erdkunde. Mitteilungen 1902. Halle 1902. 

— Kais. Leop.-Karol. Deutsche Akademie der Naturforscher. 
Leopoldina. Heft 38. Nr. 4, 6, 7. Heft 39. Nr. 1. 

Hamburg. Ornithologisch-oologischer Verein. 1. Bericht, 
1897—1901. 

— Naturwissenschaftlicher Verein. Abhandlungen aus dem Ge¬ 
biete der Naturwissenschaften. 17. Band. Hamburg 1902. 

Hamilton. Association. Journal and Proceedings. 1901 -02. Nr.8. 



IX 


Heidelberg. Naturhistorisch - medicinischer Verein. Verhand¬ 
lungen. 7. Band. 1. u. 2. Heft. Heidelberg 1902. 
Heidelberg-Königstuhl. Gr. Astrophysikalisches Observa¬ 
torium. Publicationen. 1. Band. Karlsruhe 1902. 
Lausanne. Sociötö Vaudoise des Sciences Naturelles. Bulletin 
des söances. Vol. 37. Nr. 142, 143; Vol. 38. Nr. 144, 
145. — Observations faites a la Station meteorologique du 
Cbamp-de-rair. 15* annde. 1901. Lausanne 1902. 

Leipa. Nordböhmischer Excursionsclub. Mitteilungen. 24. Jahrg., 
2.—4. Heft; 25. Jahrg. 1.—4. Heft; 26. Jahrg. 1. Heft. 
Leipzig. Naturforschende Gesellschaft. Sitzungsberichte. 1. Jahr¬ 
gang 1874; 17. u. 18. Jahrg. 1891,92; 19.—21. Jahrg. 
1892/94; 22. u. 23. Jahrg. 1895/96; 24. u. 25. Jahrg. 
1897/98. 

Magdeburg. Naturwissenschaftlicher Verein. Jahresbericht und 
Abhandlungen. 1900—1902. Magdeburg 1902. 

Marburg. Gesellschaft zur Förderung der gesamten Naturwissen¬ 
schaften. Sitzungsberichte. Jahrgang 1901. Marburg 1902. 
Marseille. Facultd des Sciences. Annales. Tome XII. Paris 
1902. 

Mexico. Instituto Geologico. Boletin. Nr. 14. 16. 

— Observatorio Magnetico- Astronömico. Informe sobre los 

trabajos del establecimento desde Julio de 1899 hasta 
Diciembre de 1901. Mexico 1902. 

— Oservatorio Astronömico de Taeubava. Anuario 1903. 
Mexico 1902. 

Milwaukee. Public Museum. 19. and 20. Annual Reports 
September Ist. 1900, to Aug. 31 st. 1902. 

— Wisconsin Natural History Society. Bulletin. Vol. 2, Nr. 2—4. 
Missoula. University of Montana. Bull. Nr. 3: Silloway. Sum- 

merbirds of Flathead Lake. 1901. 

Montevideo. Museo Nacional. Anales. Torno IV, primera 
parte. Montevideo 1902. 

München. K. Akademie der Wissenschaften. Mathem. u. pliys. 
Klasse. Sitzungsberichte. 1902. Heft 1—3. 

— Ornithologischer Verein. 2. Jahresbericht für 1899 u. 1900. 
München 1901. 

Nancy. Sociötd des Sciences. Bulletin. Tome I, Fase. 6; Tome II, 
Fase. 1 —3; Tome III, Fase. 1 . 



X 


New-York. American Museum of Natural History. Bulletin 
Vol. XI, Part IV; Vol. XV, Part I; Vol. XVII, Part i 
(The HuntiDgton California Expedition ßasketry designs oi 
the Indians of Northern California); Vol. XVII, Part II 
(The Huntington Calif. Exped. II Maidu Myths,); Vol. XVIII 
Part 1. (The Mrs. Morris K. Jesup Expedition. Thi 
Arapaho.) 

Nürnberg. Naturhistorische Gesellschaft. . Jahresbericht fiii 

1900. Nürnberg 1901. Abhandlungen 14. Band, mit Jahresh 

1901. Nürnberg 1902. 

Ottawa. Geological Survey of Canada. Geological Map o 
Canada. Western sheet. Nr. 783. 

Philadelphia. Academy of Natural Sciences. Proceedings 
Vol. 53, Part III; Vol. 54, Part I, II. 

Pisa. Societä Toscana di Scienze Naturali. Atti. Memorie Vol. 18 
Pisa 1902. — Atti. Vol. XIII. Adunanza del 4. maggio 
6. luglio, 21. diciembre 1902, 18. gennaio, 8. marzo 1903 
Prag. Deutscher naturwissenschaftlich-mediziuischer Verein Lotoi 
Sitzungsberichte. Jahrg. 1901. 21. Band. Prag 1901. 

— K. böhm. Gesellschaft der Wissenschaften. Mathem.-naturw 
Klasse. Sitzungsberichte 1902. Prag 1903. — Jahresberichl 
f. d. Jahr 1902. Prag 1903. — Doppler. Über das farbig« 
Licht der Doppelsterne und einiger anderer Gestirne des 
Himmels. Zur Feier seines 100. Geburtstages neu heraus- 
gegeben von Studniöka. Prag 1903. 

Rio de Janeiro. Museu Nacional. Archivos. Vol. 10. Rio dt 
Janeiro 1899; Vol. 11. R. d. J. 1901. 

Roma. R. Accademia dei Lincei. Classe di Science fisiche, niate- 
matiche e naturali. Atti. Vol. II, Fase. 8—12 1. semestre: 
Vol. II, Fase. 1—12. 2. sem.; Vol. 12, Fase. 1—5, 7 u. £• 
1. sem. — Rendiconto dell’ adunanza solenne del 1 giugno 

1902. 

— R. Comitato Geologico d’ltalia. Bollettino. Anno 1901, 
Nr. 4; Anno 1902. Nr. 1—3. 

St. Gallen. Naturwissenschaftliche Gesellschaft. Bericht über 
die Tätigkeit während der Jahre 18S8/89, 1889/90, 1890/91. 
1891 92, 1892/93, 1893/94, 1897/98, 1899/1900, 1900/01. 
Sion. Societe Murithienne. Bulletin, Fase. 31. Annde 1902. 
Sion 1902. 



XI 


Stockholm. Entomologiska Föreningen. Entomologiska Tid- 
skrift 1902. 1—4. Stockholm 1902. 

Stuttgart. Verein für vaterländische Naturkunde. Jahreshefte. 

50. Jahrgang. Stuttgart 1894; 58. Jahrg. St. 1902; — 
Beilage zum 58. Jahrg.: Verzeichnis der mineralogischen, 
geologischen, urgeschichtlichen und hydrologischen Literatur 
von Württemberg, Hohenzollem und den angrenzenden Gebie¬ 
ten. I. Die Literatur von 1901 nebst Nachträgen und Zu¬ 
sätzen zu Ecks Literaturverzeichnis. Stuttgart 1902. 

— Württ. Kommission für Landesgeschichte. Württ. Viertel¬ 
jahrshefte für Landesgeschichte. 11. Jahrg. 1902. Heft 1—4. 
Stuttgart 1902. 

Sydney. Australian Museum. Records. Vol. 4, Nr. 6—7. 
Sydney 1902. — Report of Trustees for the year 1901. 

— R. Society of New South Wales. Journal and Proceedings 
for 1901. Vol. 35. Sydney 1901. 

Tiflis. Physikal. Observatorium. Meteorol. Beobachtungen im 
Jahre 1898. Tiflis 1901. 

Tokio. Zoological Society. Annotationes zoologicae japonenses. 

Vol. IV, Part III u. IV. Tokio 1902. 

Upsala. Geological Institution of University. Bulletin. Vol. V, 
Part. 2, 1901. Nr. 10. 

Washington. American Academy of Sciences. Memoirs. 
Vol. VIII. 

— Smithsonian Institution. Annual Report for the year ending 

June 30. 1901. Washington 1902. 

— U.S. Department of Agriculture, Division of Biological 
Survey. Yearbook 1901. Wash. 1902. — North American 
Fauna. Nr. 22. 

Wien. Akademie der Wissenschaften. Anzeiger. 1902, Nr. 10 
bis 27; 1903, Nr. 1—9. 

— K. K. Geologische Reichsanstalt. Verhandlungen: 1902 Nr. 5 
bis 18; 1903 Nr. 1—4. — Jahrbuch: Jahrgang 1901, 

51. Band, 3. u. 4. Heft. Wien 1902; Jahrgang 1902. 

52. Band. 1. Heft. Wien 1902. 

— K. K. Naturhistorisches Hofmuseum. Annalen Band 16, 
Nr. 3—4. Wien 1901; Band 17. Nr. 1—4. Wien 1902. 

Wiesbaden. Nassauischer Verein für Naturkunde. Jahrbücher. 
Jahrgang 55. Wiesbaden 1902. 



XII 


Zürich. Naturforschende Gesellschaft. Vierteljahrsschrift. 47J 
Jahrgang 1902. 1. u. 2. Heft. Zürich 1902. ! 

Zvickau. Verein für Naturkunde. Jahresbericht 1900 u. 1901. 
Zwickau 1902. 

B. Vom Verfasser, 1 

Janet, M. Charles. Notes sur les travaux seientifiques presen-? 
täs ä l'Acaddmie des Sciences au concours de 1896 pour le 
prix Thore. Lille. 

— Etüde sur les fourmis, les gußpes et les abeilles. (15* note). 
Paris 1897. 

— L’estltätique dans les Sciences de la nature. Paris 1890. 

— Les habitations ä bon marcltä dans les villes de moyenne 
importance. Bruxelles 1897. 

— Sur l’emploie de Desinences, caractäristiques dans les d^nomi- 
nations de groupes etablis pour les classifications zoologiques. 
Beauvais 1898. 

— Recherches sur l’anatomie de la fourmi et essai sur la 
Constitution morphologique de la täte de la insecte. Pari» 
1900. 

— Notes sur les fourmis et les guSpes. 

Vorstand. 

Der Vorstand hat im Berichtsjahre aus den Herren 
1. Geheimerat Prof. Dr. Engler, als Vorsitzenden, 

2 Geh. Hofrat Prof. Dr. Lehmann, als Stellvertreter des 
Vorsitzenden, 

3. Prof. Dr. Futter er, als Schriftführer, 

4. 0. Bartning, als Kassier, 

5. Geheimerat Dr. Battlehner, 

G. Geheimerat Oberbaudirektor Honsell, 

7. Direktor P. Treutlein 
bestanden. 

Die Geschäfte des Schriftführers hat Herr Geh. Hofrat 
Meidinger anstelle des wegen Krankheit beurlaubten Herrn 
Prof. Futterer, jene des Redakteurs der Vereiusverhandlungen 
und des Bibliothekars hat Prof. Dr. Schultheiss besorgt 

ln der Mitgliederhauptversammlung vom 15. Mai 1903 ist 
der gesamte Vorstand wieder gewählt worden. 



XIII 


Bewegung unter den Mitgliedern. 

Neu eingetreten sind die Herren: Augenarzt Dr. Alberti, 
Apotheker Albicker, Assistent Dr. Arnold, Assistent Auer¬ 
bach, Oberkriegsgerichtsrat G. Becker, Assistent Buri, Han- 
ilelslehrer Fink, prakt. Arzt Dr. Genter, Prof. Dr. Haussner, 
Assistent Dr. Jahn, Chemiker Dr. Just, Reallehrer Knauer, 
Wirk. Geh. Kriegsrat Kund, Ökonomierat Magenau, Zinko- 
graph Mayer, Dr. K. Paravicini, Oberschulrat Rebmann, 
Yerbandssekretär Riehm, Geh. Hofrat Dr. Schenck, Forst¬ 
praktikant Ötoi 1, Generalmajor z. D. v. Wallenburg. 

Der Verein hat den Tod dreier Mitglieder zu beklagen. Am 
23. Oktober 1902 starb das Ehrenmitglied Herr Staatsrat Prof, 
br. von Trautschold, der in früheren Jahren, als ihn noch 
nicht ein tückisches Leiden ans Zimmer fesselte , ein regel¬ 
mässiger Besucher der Sitzungen war; am 16. Juni 1902 starb 
Herr Hofrat Prof. Dr. Schröder, der dem Verein seit dem 
Jahre 1876 angebörte und der mit seinem vielseitigen reichen 
Wissen häufig Anlass zur Anregung und zu Meinungsaustausch 
gegeben hat. Am 15. Juni 1902 verstarb der Assistent an der 
Technischen Hochschule Herr Weil an dt. 

Ausgetreten sind, meist infolge von Wegzug, die Herren: 
Professor Cramer, Assistent Dr. Eichhorn, Chemiker Dr. 
Glaser, Lehramtspraktikant Horn, Chemiker Jakubowski, 
Oberamtmann Kamm, Kaufmann Martin, Lehramtspraktikant 
Reichmann, Lehrer Schröder, Prof. Seith, Apotheker Wit- 
kowski. 

Der Verein hat am Schlüsse des Vereinsjahres 211 Mitglie¬ 
der gezählt und hat damit eine Stärke erreicht, die er seit seiner 
Gründung noch niemals besessen hat. 



Mitglieder-V erzeiohnis. 

a. Ehrenmitglieder. 

Die Herren: 

Meidinger, Professor Dr., Geb. Hofrat in Karlsruhe (1901). 
Moritz, Dr. A, Staatsrat in Dorpat (1864). 

Struve, 0. von, Russ. Wirk]. Geheimerat in Karlsruhe, ExCellens 
(1899). 

6. Korrespondierendes Mitglied. 

Herr R. Temple, Schriftsteller in Buda-Pest. 

c. Mitglieder.* 

Alberti, Dr., Augenarzt (1902). 

Albicker, Karl, Apotheker (1902). 

Allers, H., Zahntechniker (1899). 

Ammon, Otto, Schriftsteller (1883). 

Arnold, Dr. Em., Assistent für Chemie an der Technischei 
Hochschule (1903). 

Arnold, Eng., Hofrat, Professor der• Elektrotechnik an dei 
Technischen Hochschule (1895). 

Auerbach, Dr., Assistent für Zoologie am Grossh. Naturalien 
kabinet (1903). 

Babo, Freiherr von, Baurat (1902). 

Bartning, 0., Rentner (1882). 

Battlehner, Dr. F., Geheimerat (1866). 

Battlehner, Dr. Th., Oberarzt am städt. Krankenhaus (1898). 
Bauer, Dr. Ludwig, Professor am Realgymnasium (1902). 
Becker, Gustav, Oberkriegsgerichtsrat (1902). 

Beeg, H., Fabrikdirektor in Durlach (1902). 

Behra, 0., Mechaniker (18S9). 

Behrens, Prof. Dr. J., Vorstand der landw. Versuchsanstalt in 
Augustenberg bei Grötzingen (1902). 

Benckiser, Dr. A., Hofrat, prakt. Arzt (1890). 

Benckiser, Dr. W., Oberamtsrichter (1899). 

Benoit, G., Professor des Maschinenbaues an der Technischen 
Hochschule (1902). 

Berberich, Dr. A., prakt. Arzt (1897). 

Blankenhorn, Prof. Dr. A. (1869). 


* Die Iwigefogten Zahlen bedeuten das Jahr der Aufnahme. 



XV 


I Böhm, Dr. F., Ministerialrat (1899). 

Bongartz, Dr. A., prakt. Arzt (1896). 

Brauer, E., Hofrat, Professor der theoretischen Maschinenlehre 
an der Technischen Hochschule (1893). 

Brian, Dr. E., Medizinalrat (1895). 

Brode, Dr. J., Assistent an der Technischen Hochschule (1901). 
Buch. II., Ministerialrat (1899). 

Bürgin, J., Obergeometer an der Technischen Hochschule (1894). 
Buri, Theod., Assistent am mineralog. Institut der Technischen 
Hochschule (1903). 

Buhl, Dr. H., Fabrikant in Ettlingen (1899). 

Bunte, Dr. H., Geh. Hofrat, Professor der chemischen Techno¬ 
logie an der Technischen Hochschule (1888). 

Carl, Dr., Schlachthaustierarzt (1901). 

! Cathiau, Dr. Th., Rektor der Gewerbeschule (1876). 

Clauss, Dr. H. W., prakt. Arzt (1898). 

Delisle, R., Oberingenieur a. D. (1886). 

Dieckhoff, Dr. E., a. o.. Professor der Chemie an der Tech¬ 
nischen Hochschule (1880). 

Dittrich, Dr. Th., Privatier (1897). 

Doederlein, G., Dr. Ing., Oberingenieur (1899). 

Doll, G., Medizinal-Assessor (1875). 

Dörr, J., Professor an der Realschule (1895). 

Doll, Dr. K., prakt. Arzt (1890). 

Dolletschek, Ed., Kaufmann (1877). 

Drach, A., Oberbaurat und Professor an der Technischen 
Hochschule (1881). 

Darier, J., Professor am Gymnasium (1899). 

Edelsheim, : W., Freiherr von, Obersthofmeister, Exzellenz 

(1867). . 

Eitel, Dr. K. H., Apotheker (1897). 

Eitner, Dr. P., Laboratoriumsvorstand an der chemisch-techni¬ 
schen Prüfungs- und Versuchsanstalt (1901). 

Engler, Dr. K., Geheiraerat, Professor der Chemie an der 
Technischen Hochschule (1876). 

Eppenich, E., Civilingenieur (1902). 

Fink, Händelslehrer (1903). 

Fischbach, Dr. E., prakt. Arzt (1895). 

Fischer, Otto, Hoflieferant (1900). 



XVI 


Föhlisch, Dr. E., Fabrikinspektor (1900). 

Frankenstein, Dr. W., Assistent an der Technischen Hoch¬ 
schule (1901). 

Futterer, Dr. K., Professor der Mineralogie und Geologie an 
der Technischen Hochschule (1895). 

Gelpke, Dr. Th., Augenarzt (1892). 

Genter, Dr., prakt. Arzt (1902). 

Gern et, K., General-Oberarzt a. D. (1875). 

Glöckner, B., Geheimerat, Direktor der Steuerdirektion (1878). 
Goedecker, E., Ingenieur (1899). 

Goffin, L., Direktor der Maschinenbaugesellschaft (1879). 
Gräbener, L., Hofgartendirektor (1880). 

Gräfenhan, Dr. P., Professor am Kadettenkorps (1897). 
Grashof, R., Professor am Gymnasium (1895). 

Gutmann, Dr. K., prakt. Arzt (1894). 

Gutsch, Dr. L., Medizinalrat, Spezialarzt filr Chirurgie (1895). 
Haass, R., Prof., Laboratoriumsvorstand an der chemisch-tech¬ 
nischen Versuchsanstalt (1875). 

Haber, Dr. F., a. o. Professor der Chemie an der Technischen 
Hochschule (1896). 

Hafner, Fr., Regierungsrat (1886). 

Haid, Dr. M., Geh. Hofrat, Professor der Geodäsie an der Tech¬ 
nischen Hochschule (1882). 

Hart, J., Geheimerat, Professor des Maschinenbaues an der 
Technischen Hochschule (1870). 

Hassenkamp, K., Rentner (1875). 

Hauser, Dr. W., Obermedizinalrat (1898). 

Haussner, Dr. Rob., Professor der Mathematik und Oberbiblio- 
thekar an der Technischen Hochschule (1902). 

Hausrath, Dr. H., a. o. Professor der Forstwissenschaft an der 
Technischen Hochschule (1897). 

Heinsheimer, Dr. F., prakt. Arzt (1902). 

Heintze, Dr., Ministerialrat (1900). 

Helbing, Dr. P., prakt. Arzt (1896). 

Hemberger, J., Hofbaudirektor a. D. (1880). 

Henning, Th., Kommerzienrat (1896). 

Hess, Geh. Oberpostrat und Oberpostdirektor a. D. (1901). 
Hildebrandt, M., Geb. Oberfinanzrat (1881). 

Hilger, Dr. K., (1892). 



XVII 


Hoffmann, Dr. H., prakt. Arzt (1881). 

Hoffmann, K., Major a. D. (1897). 

Holzmann, A., Professor an der Oberrealschule (1893). 
Homburger, Dr. Th., prakt. Arzt (1898). 

Honsell, M., Geheimerat, Direktor des Wasser- und Strassenbaues, 
Professor des Wasserbaues an der Techn. Hochschule (1894). 
Hiibler, A., Professor am Realgymnasium (1895). 

Jacob, H., Oberamtmann in Triberg (1901). 

Jahn, Dr., Assistent für Bodenkunde an der Technischen Hoch¬ 
schule (1903). 

Jahraus, W., Buchhändler (1899). 

Jourdan, Dr. J., prakt. Arzt (1894). 

Jschler, 0., Professor an der Realschule (1900). 

Just, Dr., Chemiker (1903). 

Kaiser, Dr. F., Medizinalrat (1889). 

Karle, M., Professor am Gymnasium (1897). 

Käst, Dr. H., a. o. Professor der Chemie an der Technischen 
Hochschule (1883). 

Kaufmann, Dr. A., Chemiker (1902). 

Keller, K., Geh. Hofrat, Professor des Maschinenbaues an der 
Technischen Hochschule (1869). 

Klein, Dr. L., Professor der Botanik an der Technischen 
Hochschule (1895). 

Klein, L., Assistent an der chemisch-technischen Prüfungs- und 
Versuchsanstalt (1897). 

Knauer, Leonh., Reallehrer (1902). 

Kneucker, A., Hauptlehrer (1902). 

Knittel, Dr. A., Buchdruckereibesitzer (1902). 

Knittel, Dr. R., Buchhändler (1895). 

Kohlhepp, Fr., Bezirkstierarzt (1886)» 

Külmel, Prof. Dr., in Baden. 

Kors, A. van der, Bankdirektor (1890). 

Kressmann, A. Th., Major a. D. (1875). 

Kronstein, Dr. A., Assistent am chemischen Laboratorium der 
Technischen Hochschule (1896). 

Krumm, Dr. F., Spezialarzt für Chirurgie (1897). 

Kund, Tb., Wirkl. Geh. Kriegsrat (1903). 

Kunkel, K., Reallehrer in Ettlingen (1902). 

Küster, E., Generalleutnant z. D., Exzellenz (1895). 

II 



XVIII 


Kux, Dr. H., Chemiker (1899). 

Lang, Dr. A., Professor am Realgymnasium (1897) 

Le Blanc, Dr. M., Professor der physikalischen Chemie und 
Elektrochemie an der Technischen Hochschule (1901). 

Lehmann, Dr. 0., Geh. Hofrat, Professor der Physik an der 
Technischen Hochschule (1890). 

Lembke, Dr. E., prakt. Arzt (1894). 

Leutz, F., Hofrat, Seminardirektor (1872). 

Leutz, H., Professor am Realgymnasium (1895). 

Levinger, Dr. F., prakt. Arzt (1895). 

Lorenz, W., Kommerzienrat (1879). 

Lüders, P., Ingenieur in Berlin (1895). 

Magen au, Ökonomierat in Augustenberg bei Grötzingen (1903). 

Maier, E., Geh. Hofrat, Augenarzt (1871). 

Marschalck, K. von, Major a. D. (1896). 

Massinger, R., Professor an der Oberrealschule (1894). 

May, Dr. W., Privatdozent für Zoologie uud Assistent an der 
Technischen Hochschule (1899). 

Mayer, Rud., Zinkograph (1893). 

Meess, Ad., Stadtrat (1899). 

Meidinger, Dr. H., Geh. Hofrat, Vorstand der Grossh. Landes¬ 
gewerbehalle und Professor der technischen Physik an 
der Technischen Hochschule (1865). (Ehrenmitglied 
1901.) 

Migula, Dr. VV., a. o. Professor der Botanik und natur¬ 
wissenschaftlichen Hygiene an der Technischen Hochschule 
(1891). 

Millas, K. de, Ingenieur (1893). 

Molitor, Dr. E., prakt. Arzt (1894). 

Müller, Dr. Eberh., Chemiker (1900). 

Müller, Dr. L., Medizinalrat (1896). 

Müller, Dr. U., a. o. Professor der Forstwissenschaft an der 
Technischen Hochschule (1893). 

Muth, Dr., Privatdozent der Botanik an der Technischen Hoch¬ 
schule; Augustenberg bei Grötzingen (1902). 

Näher, R., Baurat (1893). 

Neu mann, Dr. M., prakt. Arzt (1901). 

Netz, F., prakt. Arzt (1893). 

Nüsslein, Dr. J., Assistenzarzt (1900). 



XIX 


Msslin, Dr. 0., Hofrat, Professor der Zoologie an der Tech¬ 
nischen Hochschule (1878). 

Oechelhäuser, Dr. A. von, Hofrat, Professor der Kunst¬ 
geschichte an der Technischen Hochschule (1898). 

Pauli, Dr. H., prakt. Arzt (1898). 

Paravicini, Dr. R., Hilfsarbeiter im Ministerium des Innern 
(1903). 

Pfeil, Dr., Assistent am chemisch-technischen Institut der Tech¬ 
nischen Hochschule (1901). 

Platz, H., Fabrikdirektor (1902). 

Reck, K. von, Freiherr, Geheimerat und Kammerherr (1869). 

Rebmann, E., Oberschulrat (1902). 

Rehbock, Th., Professor des Wasserbaues an der Technischen 
Hochschule (1900). 

Reichard, Fr., Stadtbaurat, Direktor der städtischen Gas- und 
Wasserwerke (1892). 

Resch, Dr. A., prakt. Arzt (1888). 

Riehm, Verbandssekretär (1903). 

Riffel, Dr. A., prakt. Arzt, a. o. Professor für Hygiene an 
der Technischen Hochschule (1876). 

Risse, Dr. H., prakt. Arzt (1899). 

Röder von Diersburg, Oberst z. D. und Kammerherr 
(1901). 

Rosenberg, Dr. M., prakt Arzt (1898). 

Roth, Dr. K., prakt. Arzt (1897). 

Kupp, G., Professor, Laboratoriumsvorstand an der Grossh. 
Lebensmittelprüfungsstation (1899). 

Sachs, W., Geh. Oberfinanzrat (1885). 

Schaaff, E., Privatier (1899). 

Schellenberg, R., Finanzrat (1899) 

Schenck, Jul., Geh. Hofrat (1902). 

Scheurer, K., Hofmechaniker und Optiker (1877). 

Schleiermacher, Dr. A., Professor der theoretischen Physik 
an der Technischen Hochschule (1881). 

Schmidt, Fr., Professor der wissenschaftlichen Photographie an 
der Technischen Hochschule (1892). 

Scholl, Dr. Rol., a. o. Professor der Chemie an der Tech¬ 
nischen Hochschule (1896). 

Schultheiss, Professor Dr., Grossh. Meteorologe (1886). 

n* 



XX 


Schur, Dr. F., Professor der Geometrie an der Technischen 
Hochschule (1901). 

Schwarzmann, Dr. M., Privatdozent für Mineralogie an der 
Technischen Hochschule und Assistent am Naturalien- 
kabinet (1901). 

Schweickert, M., Oberlehrer a. D. (1873). 

Seneca, F., Fabrikant (1863). 

Siefert, X., Oberforstrat, Professor der Forstwissenschaft an 
der Technischen Hochschule (1895). 

Sieveking, Dr. H., Assistent an der Technischen Hochschule 
(1902). 

Sievert, E., Major a. D. (1884). 

Sprenger, A. E., Geh. Oberregierungsrat (1878). 

Spuler, Dr. A., a. o. Professor der Anatomie in Erlangen 
(1897). 

Stark, F., Professor an der Oberrealschule (1895). 

Stein, H., Apotheker in Durlach (1896). 

Steiner, Dr. A., prakt. Arzt (1896). 

Sternberg, Dr. H., prakt. Arzt (1897). 

Steude, Dr. M., Sekretär (1896). 

Stoll, Heim., Forstpraktikant, Assistent an der Technischen 
Hochschule (1902). 

Struve, 0. von, Russ. Wirkl. Geheimerat, Exzellenz (1895). 
(Ehrenmitglied 1899.) 

Suck, 0-, Hofphotograph (1897). 

Teichmüller, Dr. J., a. o. Professor der Elektrotechnik an 
der Technischen Hochschule (1899). 

Tein, Dr. M. von, k. bayer. Bauamtmann (1888). 

Treutlein, P., Direktor des Realgymnasiums (1875). 

Tross, Dr. O., prakt. Arzt (1893). 

Volz, H., Professor an der Akademie der bildenden Künste 
(1892). 

Wacker, M., Professor am Realgymnasium (1897). 

Wagner, Dr. E., Geheimerat, Konservator der Altertümer (1864). 

Wagner, G., Privatier in Achern (1876). 

Wagner, Leop., Prokurist in Ettlingen (1899). 

Wallenberg, A. von, Generalmajor z. D. (1903). 

Wedekind, Dr. L., Hofrat, Professor der Mathematik an der 
Technischen Hochschule (1876). 




Für die Redaktion verantwortlich: 
Prof. Dr. Schultheiss. 




Sitzungsberichte. 


581. Sitzung am 6. Juni 1902. 

Fortsetzung der Mitglieder-Hauptversammlung vom 16. Mai 1902. 

Vorsitzender Herr Geheimertt Dr. Eogler. Anwesend 27 Mitglieder. 

Herr Direktor Treutlein gab für den Kassier, der am Er¬ 
scheinen verhindert war, den üblichen Kassenbericht mit dem 
Bemerken, dass er die Rechnungen geprüft und richtig gefunden 
habe. Der Kassier wurde darnach entlastet. 

Herr Professor Rupp hielt hierauf einen Vortrag „Über 
diätetische Nahrungsmittel“. Einleitend besprach der Vor¬ 
tragende die Zusammensetzung unserer Nahrungsmittel aus den 
einzelnen Nährstoffen des Tier- und Pflanzenreiches, wie 
Wasser, Eiweisstoffe, Fett, Kohlehydrate und Mineral¬ 
stoffe, sowie die Bedeutung derselben für die Ernährung. 

Die wichtigste Rolle unter diesen fünf Gruppen spielen 
zweifellos die Eiweiss- oder Proteinstoffe und nach dem Gehalt 
eines Nahrungsmittels an Eiweisstoffen wird in der Regel der 
Nährwert desselben bemessen. 

Durch die Umsetzung der Eiweisstoffe im menschlichen Or¬ 
ganismus ist die Lebenstätigkeit bedingt und wird Wärme erzeugt, 
indem dieselben zu Kohlensäure, Sauerstoff und Wasser verbrannt 
werden. Die Hauptenergiequelle für den Organismus bildet somit 
das Eiweiss, es steigert die körperliche Leistungsfähigkeit und ver¬ 
mehrt die Muskelkraft. Die Eiweisstoffe sind auch die wichtigsten 
Bestandteile des tierischen und pflanzlichen Organismus. Das 
Blut, sowie alle tierischen Gewebe und Organe, Muskel, Herz, 
Leber, Lunge u. s. w., sind vorwiegend aus diesen Eiweiss¬ 
verbindungen zusammengesetzt. 


l 



2 * 


Ihrer Elementarzusammensetzung nach bestehen die Eiweiss¬ 
stoffe aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff, 
mehrere enthalten ausserdem noch Schwefel, einige Phosphor. 

In bezug auf ihre chemischen Eigenschaften teilt man die 
Eiweisstoffe ein in: 

I. Wasserlösliche Albumine: 

1. Eigentliche Eier-, Blut-, Milch- und Pflanzenalbumine: 
Albumin. 

2. Caseine: Milch-, Pflanzencasein. 

3. Fibrine: Blut-, Muskel- und Pflanzenfibrin. 

II. Globuline, die in Wasser unlöslich, in verdünnter Koch¬ 
salzlösung aber löslich sind. 

III. Proteide: Schleimstoffe, Verbindungen von Kohlehydraten 
mit Eiweisstoffen. 

Es wurden nun die Eigenschaften der Eiweisstoffe in bezug 
auf ihre Löslichkeit in Säuren und Alkalien, das Koagulieren des 
Eiweisses beim Erwärmen u. s. w. besprochen. 

Im zweiten Teil des Vortrages wurde die Entnahme des Ei¬ 
weissbedarfs bei der richtigen Ernährung aus dem Tier- und 
Pflanzenreich besprochen, der für den gesunden Menschen 119 
bis 150 Gramm pro Tag beträgt. 

Wir entnehmen die Eiweisstoffe teils aus dem Fleisch unserer 
Schlachttiere, des Wildes und des Geflügels mit 15 bis 23 Prozent 
Eiweisstoffen; der Fische, die zu den eiweissreichsten Nahrungs¬ 
mitteln gehören, und bis zu 82 Prozent Eiweiss enthalten (Stock¬ 
fische), ferner aus Milch und Käse, letzterer mit 26 bis 34 Prozent 
Eiweisstoffen. Aus dem Pflanzenreich sind es in erster Linie die 
Hülsenfrüchte, Bohnen, Erbsen und Linsen, mit 23 bis 27 Prozent 
und die Mehlarten mit 8 bis 11 Prozent Eiweisstoffen. 

Seit längerer Zeit ist man bestrebt, für die bessere Ernährung 
des Menschen neue billige Eiweissquellen zu erschliessen, doch ist 
die Industrie von der Lösung dieses Problems noch weit entfernt. 
Der springende Punkt ist hier, wie bei allen Nahrungsmitteln, 
die Verdaulichkeit und die Verwertung und Ausnutzung 
des Verdauten im Organismus und nicht minder der Kostenpunkt. 

Redner erläutert durch eine tabellarische Gegenüberstellung 
des Nähr- und Geldwerts des in letzter Zeit unter grosser Re¬ 
klame im Handel befindlichen Tropons und verschiedener Fleisch¬ 
arten, der Fische, der Hülsenfrüchte, Käse u. s. w., dass man in 



3 * 


den alten Nahrungsmitteln das Eiweiss ebenso billig und zum 
Teil noch billiger erhalten kann als im Tropon und derartigen 
Nährpräparaten. 

Nun will man aber mit den Nährpräparaten die Nahrungs¬ 
mittel nicht ersetzen, man geht vielmehr darauf aus, Nährmittel 
herzustellen, die einen möglichst hohen Gehalt an verdaulichem 
Eiweiss enthalten, um namentlich bei krankhaften Zuständen des 
Organismus und bei Rekonvaleszenten durch Darreichung geringer 
Mengen von Nahrung eine bessere Ernährung durch erhöhte Eiweiss¬ 
zufuhr zu ermöglichen. In dieser Richtung ist es der Nahrungs¬ 
mittelindustrie in letzter Zeit gelungen, eine Reihe von guten 
Nährpräparaten in konzentrierter Form zu schaffen, was für 
Kranke, die wenig zu sich nehmen können, von grösster Wichtig¬ 
keit ist. So z. B. das Aleuronatbrod (mit 35 Proz. Eiweisstoff) 
für Diabetiker, welche Kohlenhydrate in ihrem Körper nicht zu 
zersetzen vermögen, sondern sie als Glukose im Harn abscheiden. 

Die Herstellung dieser diätetischen Nahrungsmittel ge¬ 
schieht im allgemeinen in der Weise, dass man Fleisch, Fischen, 
Eiern, Milch und eiweisshaltigen Pflanzenstoffen (Weizenmehl, 
Reis u. s. w.) durch Behandlung mit verdünnten Ätzalkalien die 
Eiweisstoffe entzieht, die erhaltenen Lösungen durch Ausschütteln 
mit Äther von Fett befreit und aus diesen wässerigen alkalischen 
Lösungen mittels verdünnter Säuren die Eiweisstoffe abscheidet. 
Durch Auswaschen, Trocknen und Pulverisieren der Abscheidungen 
erhält man reines animalisches oder vegetabilisches Eiweiss. 

Der Vortragende schilderte nun die Eigenschaften und die 
Zusammensetzung einer grossen Reihe von Nährpräparaten, wie 
sie jetzt im Verkehr sind, in eingehender Weise. So die Nähr¬ 
präparate, die 1. aus Fleisch, Blut und Hühnereiweiss her¬ 
gestellt werden, als Samatose, Soson, Roborin, Sicco, Hämatogen, 
Fleischsaft (Beaf tea), Puro, Albumose-Fleischextrakt und Fleisch¬ 
peptone; 2. aus Milcheiweiss (Casein) bestehende Nährmittel 
als Plasmon, Eulactol, Nutrose, Sanatogen, Sanose, Nährstoff 
Heyden; 3. Pflanzeneiw r eisspräparate: Aletironat, Roborat, 
Energin, Mutase, Tropon (Mischung von Fleisch- und Pflanzen- 
eiweiss), sowie die präparierten Mehle, Haferkakao. 

Schliesslich wurden noch die sogenannten „Anregungsmittel“, 
wie die verschiedenen Fleischextrakte, Bowril, Toril. die Maggi- 
schen Suppenwürzen, sowie die in neuerer Zeit aus Hefe her- 

l* 



4 * 


gestellten fleiscliextraktähnlichen Präparate, „Ovos und Siris 1 
besprochen. 

Daran anschliessend beantwortete der Vortragende noch di< 
aus der Versammlung gestellten Anfragen bezüglich des neuei 
Reichsgesetzes, das Verbot der Verwendung von „Konservierung* 
mittein“ betreffend, wie Borsäure, schwefligsaure Salze u. s. w 
und betonte, dass die Benützung dieser Chemikalien bei der Her 
Stellung von Nahrungs - und Genussmitteln im Interesse de 
menschlichen Gesundheit mit vollem Recht verboten worden sei 
insbesondere da Mittel und Wege vorhanden sind, unsere Nahrung* 
mittel ohne gesundheitsschädliche Chemikalien zu konservieren 
Daran knüpfte sich noch eine kurze Besprechung über die vorzüg 
liehe Wirkung des Genusses von Rohr- oder Rübenzucker auf dä 
Leistungsfähigkeit des Organismus bei körperlichen Anstrengungen 
An den Vortrag knüpfte sich eine lebhafte Besprechung, ai 
der sich die Herren Ammon, Bauer, Carl, Engler, Rehbock 
Schröder und Wöhler beteiligten. 

Herr Direktor Treutlein machte zum Schluss auf drei merk 
würdige Menschenbildungen aufmerksam, die zurzeit in Karlsruht 
zu sehen seien —- ein im ganzen Gesicht vollständig behaartei 
Erwachsener, und ein kaum tischhohes Paar von sonst ganz nor 
maler Bildung. 


582. Sitzung vom 20. Juni 1902. 

Vorsitzender: Herr Gebeimerat Dr. Engler. Anwesend 20 Mitglieder. 

Der Vorsitzende widmete dem kurz vorher verstorbenen 
langjährigen Mitglied Hofrat Schröder einen warm empfundener 
Nachruf, wobei er dessen Verdienste um die Wissenschaft und 
um den Verein, dem seine vielseitigen Kenntnisse viele dankens¬ 
werte Anregungen gegeben haben, hervorhob. 

Herr Major a. D. Kressmann erbat die Mithilfe der Vereins¬ 
mitglieder bei der Ausfindigmachung einer geeigneten Lehrkraft 
für die beschreibenden Naturwissenschaften, welche für die von 
ihm mitbegründete deutsche Nationalschule benötigt sei. 

Herr Privatdozent Dr. May hielt hierauf einen Vortrag 
über Jean Lamarck, der unter den Abhandlungen zum Abdruck 
gebracht ist. 

An der sich hieran knüpfenden Besprechung beteiligten sich 
ausser dem Vortragenden die Herren Beeg, Engler und Kressmann. 



683. Sitzung vom 4. iuli 1902. 

Vorsitzender: Herr Geheimerat Dr. Engl er. Anwesend 35 Mitglieder. 
Xenangemeldete Mitglieder die Herren: Apotheker Albicker, prakt. Arzt 
Dr. Genter, Reallehrer Knauer. 

Herr Hauptlehrer Kneucker berichtete über eine botanische 
Studienreise, die er im Frühjahr mit Herrn Dr. Genter durch 
die Sinaihalbinsel ausgeführt hatte, ln anziehender Weise schilderte 
der Vortragende seine Reise zuerst zu Schiff durch das Rote Meer 
nach Tor, von da in Begleitung von Beduinen in mehrtägigem 
Marsch auf Kameelen durch die Wüste an das Sinaigebirge und 
durch dessen felsige Schluchten bis zum Sinaikloster Sb Katharine, 
in dessen Nähe für einige Tage Halt gemacht wurde, um den 
bjebel Musa, die Katharinenspitze (2602 m hoch) und andere 
Höhen zu ersteigen. Nach einer im Verhältnis zu der spärlichen 
Vegetation reichen botanischen Ausbeute ging es alsdann durch 
Felsenberge und wüstenartige Hochtäler zum Djebel Serbal, welches 
der eigentliche heilige Berg des alten Testaments sein soll, von 
da in wiederum mehrtägigem Karawanenmarsch an den alten 
ägyptischen Türkisengruben, woselbst ein Engländer neuerdings 
nach diesen Edelsteinen gräbt, vorbei nach Suez. Nach einem Ab¬ 
stecher nach Kairo und seine Umgebung, Gizeh, Sakarha u. s. w., 
wurde der Heimweg über Marseille angetreten. Der Vortt ag war 
durch wohlgelungene, selbstaufgenommeno Photographien ergänzt, 
insbesondere auch durch zahlreiche Pflanzen der Wüstenflora, über 
welche Herr Kneucker in einer wissenschaftlichen Arbeit noch 
eingehender berichten wird. An den mit grossem Beifall angenom¬ 
menen Vortrag schloss sich eine lebhafte Unterhaltung, auch 
begriisste der Vorsitzende, Herr Gelieimerat Dr. En gl er, den auf 
Besuch hier weilenden und in der Sitzung anwesenden Herrn Dr. 
Kaiser aus Kairo als den bewährten Freund und Ratgeber aller 
Deutschen und besonders Badener, welche zu wissenschaftlichen 
Zwecken Ägypten und die benachbarten Gegenden bereisen. 

584. Sitzung am 18. Juli 1902. 

Vorsitzender: Heir Gebeitnerat Dr. Engler. Anwesend: 43 Mitglieder. 
Neu angemeldete Mitglieder: Herr Dr. Auerbach, Assistent an der zoologi¬ 
schen Abteilung des Grossh. Naturalienkabineta, Herr Prof. Dr. Haussner, 
Professor der Mathematik und Oberbibliotbekar an der Technischen Hochschule. 

Herr Geheimerat Dr. Engler besprach die Frage der Dar¬ 
stellung künstlicher Diamanten. Da die natürlichen Dia- 



6 * 

manten sich durchweg in angeschwemmtem Erdreich, also nicht 
mehr im ursprünglichen Gestein vorfinden, wurde man erst durch 
das Auffinden ganz kleiner Diamanten in einem 1886 im süd¬ 
östlichen Russland niedergefallenen Meteoriten (ein gleichzeitig 
gefallener Meteorit wurde leider von einem abergläubischen Bauern 
verzehrt) auf die Idee gebracht, dass diese Edelsteine aus flüssigem 
Eisen ausgeschiedener Kohlenstoff sein können. In der Tät hat 
dann bald darauf Moissau durch Auflösen von Holzkohle in 
sehr hocherhitztem, im elektrischen Ofen geschmolzenen Eisen 
nach Wiederabkühlung und Lösen des Eisens und der Beimischungen 
in Säure nachgewiesen, dass sich auf diesem Wege Kohle in gauz 
kleine, das Eisen durchsetzende Diamanten venvandeln lasse. 
Neuerdings haben Hoyermann sowie Guido Goldschraidt 
etwas grössere und namentlich auch durchsichtig und stark¬ 
glänzende, immer aber doch nur sehr kleine Diamanten (0,05 mm 
Durchmesser) dadurch erhalten, dass sie Thermit, eine Mischung 
von Eisenoxyd mit Aluminium, unter Zusatz von gepulverter 
Kohle verschmolzen. Eine Versuchsschmelze dieser Art wurde 
ausgeführt. Ist man sonach auch noch weit entfernt von der 
Lösung der Frage der Darstellung brauchbarer grösserer Dia¬ 
manten, so ist dieselbe durch die geschilderten Versuche doch 
wissenschaftlich gelöst und erscheint es nicht ausgeschlossen, das> 
auch noch die Darstellung grösserer Exemplare des viel begehrten 
Edelsteins gelingen wird. 

Sodann berichtete Herr Major Kressmann über die Errich¬ 
tung der deutschen Nationalschule in Wertheim a. M. Der Redner 
konnte zu Beginn seines Vortrages die erfreuliche Mitteilung 
machen, dass das Finanzministerium versprochen habe, der Schule 
eine jährliche Unterstützung zu gewähren, sobald der Betrieb 
begonnen habe. Er gab sodann einen kurzen, geschichtlichen 
Überblick über die Verluste, welche das deutsche Volk dadurch 
erlitten hat, dass sowohl ganze Stämme, als einzelne Familien 
und Individuen, die in die Fremde gezogen waren, dort in wenigen 
Generationen ihr Deutschtum verloren haben, in dem fremden 
Volke aufgegangen sind. Demgegenüber bezeichnet er es als 
unsere Pflicht, unseren unter fremden Nationen wohnenden Lands¬ 
leuten beizustehen, ihnen es zu erleichtern, deutsch zu bleiben 
Als wichtiges Mittel sieht er die Versorgung der deutschen Nieder¬ 
lassungen mit geeigneten Lehrkräften an. Diese zu liefern, seien 



7 * 


aber unsere dermaligen Schulanstalten nicht im stände, sie legten 
zu viel Gewicht auf das Wissen, die Theorie, viel zu wenig auf 
das Können, auf die Entfaltung des Sinnes für die Wirklichkeit, 
für praktische Betätigung und rasche Erfassung des in jeder Lage 
zweckmässigsten Vorgehens. Darauf seien auch die vielen Miss¬ 
erfolge zurückzuführen, welche deutsche Lehrer in fremden Län¬ 
dern hatten, und diesem Übelstande abzuhelfen, sei die National¬ 
sehule in Wertheim gegründet worden. Sie soll aber auch deutschen 
Eltern im Auslande die Gelegenheit bieten, ihre Kinder in Deutsch¬ 
land erziehen zu lassen, weshalb mit ihr ein Internat für die 
älteren Schüler verbunden sein wird, während die jüngeren in 
Familien untergebracht werden sollen. Der Unterricht wird die 
modernen Sprachen zu gründe legen, ein grosser Teil der Zeit 
soll der praktischen Ausbildung in Landwirtschaft und Handwerk, 
and der Einführung in das wirtschaftliche Leben, der Entwicklung 
der körperlichen Fähigkeiten gewidmet sein. Es steht der Schule 
zu diesem Zwecke ein grosser Versuchsgarten zur Verfügung, 
Werkstätten werden eingerichtet, Beamte der verschiedenen Zweige 
der Staatsverwaltung haben ihre Unterstützung zugesagt. Grosse 
Erfolge verspricht sich der Redner von einem intensiven, dem 
übrigen Unterricht angepassten und mit ihm in Wechselwirkung 
gebrachten Zeichenunterrichte. Durch individuelle Behandlung 
sollen die Schüler zu Persönlichkeiten erzogen, durch Belehrung 
und Gewöhnung ihr Nationalbewusstsein entwickelt und gefestigt 
werden. Die Leitung der Anstalt hat ein württembergischer 
Schulmann, Dr. Kapf, übernommen, als Lehrer sind eine Reihe 
tüchtiger, von der Wichtigkeit und Güte des Unternehmens durch¬ 
drungener Männer gewonnen. So zweifelt der Redner nicht an 
dem guten Erfolge der neuen Schule und bittet um kräftige 
Unterstützung. 

Der mit der wohltuenden Wärme eines von seiner Sache 
begeisterten Vorkämpfers gehaltene Vortrag rief lebhaften Beifall 
hervor. An der darauf folgenden Diskussion beteiligten sich die 
Herren: Direktor Treutlein, Direktor Müller, ein deutsch- 
amerikanischer Schulmann, Geheimerat Wagner und Geheimerat 
Dr. Engler. 



8 * 


585. Sitzung am 24. Oktober 1902. 

Vorritxender: Herr Gebeimerat Dr. En der. Anwesend 62 Mitglieder. 

Neu angemeldetes Mitglied: Herr Oberschnlr&t Rebmann- 
Lokal: der kleine Hörsaal im neuen ehern. Institut der Techn. Hocbscbuh 
Der Vorsitzende widmete dem am 23. Oktober hierselbä 
verstorbenen Ehrenmitgliede, Kaiser!, russ. Staatsrat Professo 
von Trautschold, einen Nachruf. Trautsckold hat sich naci 
Aufgabe seines Lehrstuhls in Moskau Ende der 80er Jahre i 
Karlsruhe niedergelassen, nahm an den Sitzungen des Verein 
regen Anteil und wurde von diesem in Anerkennung seiner hohe 
wissenschaftlichen Verdienste um die Mineralogie, Geologie un 
Paläontologie zu seinem Ehrenmitgliede ernannt. Zum ehrende 
Andenken an den Heimgegangenen erhoben sich die Anwesende 
von ihren Sitzen. Darauf hielt Herr Dr. Brode von der Tecl 
niseben Hochschule einen Vortrag über die Jonentheorie, di 
uns lehrt, dass in der Chemie jetzt neben den Atomen noch 1« 
sondere positiv und negativ elektrisch geladene kleinste Teilche« 
die Jonen, angenommen werden. Alle elektrischen Leiter zweit« 
Ordnung (erster Ordnung sind die Metalle, die sich beim Durch 
gang der Elektrizität nur erwärmen, nicht zersetzen), die soe« 
nannten Elektrolyte, zu denen besonders die Salze, Säuren um 
Basen gehören, zerfallen in wässriger Lösung von selbst in jeni 
Jonen, die aus einzelnen elektrisch geladenen Atomen oder Atom 
gruppen bestehen. Dieselben wandern beim Durchgang ein« 
Stromes durch die Lösung an die entgegengesetzten Pole, entladen 
sich hier und werden in gewöhnlicher Form ausgeschieden. Nacll 
dieser neuen, hauptsächlich von van ’t-Hoff und Arrhenius 
begründeten, von Ostwald und Nernst vertretenen Theorie, lösen 
sich also die Salze, Säuren u. s. w. nicht als solche in Wasser 
sondern zerfallen dabei in ihre Jonen, das Kochsalz z. B. in di« 
Jonen Chlor und Natrium, Salpeter in Kalium und Salpetersäure¬ 
radikal, Salzsäure in Wasserstoff und Chlor. Stärke von Säuren 
und Basen, sowie andere physikalische und chemische Eigen¬ 
schaften sind durch den Grad des Zerfalls in Jonen bedingt- — 
Durch eine Reihe von Experimenten demonstrierte der Vortragende 
die Wanderung und andere Eigenschaften der Jonen. An den 
mit grossem Beifall aufgenommenen Vortrag schoss sich eine Dis¬ 
kussion, an der sich die Herren Engler, Glaser und Hübler 
beteiligten. 


9 * 


586. Sitzung am 7. November 1902. 

Vorsitzender: Herr Geheimerat Dr. Engler. Anwesend 41 Mitglieder. 

Neu augemeldetea Mitglied: Herr Forstpraktikant Stoll, Assistent für Forst¬ 
wesen an der Technischen Hochschule. 

Herr Professor Dr. Udo Müller hielt einen Vortrag über die 
Beschädigung des Waldes durch Rauchgase. Nach kurzen ein¬ 
leitenden Bemerkungen über das mit der Entwicklung der In¬ 
dustrie parallel gehende Auftreten derartiger Schäden, führte er 
an der Hand von geeigneten Abbildungen und von Demon¬ 
strationen verschiedener rauchkranker Pflanzen zunächst die äussere 
Erscheinung rauchkranker Wälder vor, die sich von der völligen 
Unterdrückung der Vegetation auf sogenannten Rauchblössen, zu 
akuten rasch eintretenden Erkrankungen und schliesslich zu weniger 
deutlich sichtbarem chronischem Schaden mit allmählichem Über¬ 
gang in den gesunden Wald abstuft. Diese Schäden charakteri¬ 
sieren sich teils als direkte Ätzwirkungen scharfer Mineralsäuren, 
teils als Störungen der Lebensfunktionen durch gasförmig an¬ 
genommene stark verdünnte Säuren, vorzugsweise der schwefligen 
Säure, die bei länger dauernden Einwirkungen stets durch die 
chemische Analyse nachgewiesen werden können. 

Als Ursache wurden erkannt nicht der Russ oder Staub, auch 
nicht die festen unlöslichen Bestandteile des Hüttenrauches, eben¬ 
sowenig wie die festen, aber löslichen Bestandteile desselben, wenn 
sie in den Boden gelangen, sondern vorzugsweise nur die gas¬ 
förmigen Gemengteile der Luft, vor allem schweflige Säure, Chlor 
und Fluor. 

Als verbreitetster Schädiger aber tritt die schweflige Säure 
auf, die sich in den Abgasen vieler Fabriken, im Hüttenrauche 
und in jedem Steinkohlenrauche findet. Ihren Einwirkungen sind 
besonders die immergrünen Pflanzen, vorzugsweise Fichte und 
Tanne, ausgesetzt, während sich -Laubhölzer viel widerstands¬ 
fähiger erweisen. Die Einwirkung erfolgt fast ausschliesslich nur 
während der Vegetationsperiode, nur bei Tag im Licht und be¬ 
sonders an den jüngsten Organen. Unter ihrem Einflüsse tritt 
eine merkliche Herabsetzung der Verdunstung und der Assimi¬ 
lation ein, hauptsächlich wohl henrorgerufen durch Entstehung von 
Schwefelsäure aus der aufgenommenen schwefligen Säure und von 
aascentein Sauerstoff. 

Die Forstwirtschaft steht diesem Schaden fast machtlos 



10 * 


gegenüber. Der Hauptkampf gegen den Rauchschaden muss von 
den raucherzeugenden Anlagen geführt werden und muss sich in 
zwei Richtungen bewegen, Kondensation und technische Ver¬ 
wertung der schädlichen Rauchbestandteile und starke Verdünnung 
des durch die Kamine entweichenden Restes derselben durch reich¬ 
lich zugeführt Luft. 

An der Diskussion beteiligten sich die Herren Döll, En gier. 
Föhlisch, Jakubowsky, Klein, Meidinger, E. Müller. 

587. Sitzung am 21. November 1902. 

Vorsitzender: Herr Geheimerat Engler. Anwesend 21 Mitglieder. 

Im zoologlischen Hörsaal des Aulabaues der Technischen Hoch¬ 
schule hielt Herr Hofrat Professor Dr. Nüsslin einen Vortrag 
über die Biologie der Chermesarten, insbesondere über die Tannen- 
rindenlaus (Chermes piceae), der unter den Abhandlungen zum 
Abdruck gebracht ist. 

An der Diskussion beteiligten sich die Herren Ammon und 
Hausrath. 


586. Sitzung am 5. Dezember 1902. 

Vorsitzender: Herr Geheimerat Dr. Engler. Anwesend 42 Mitglieder. 

Der Vorsitzende berichtete, dass es gelungen sei, kleine 
Tiegel und Kölbchen aus Bergkrystall, wiewohl dieser erst bei 
ca. 1700 Grad schmilzt, herzustellen; ihr Vorteil besteht darin, dass 
sie wie Platingefässe sehr stark erhitzt werden können, ohne zu 
schmelzen, dass sie aber erheblich billiger als diese sind. Ihre 
Widerstandsfähigkeit gegen starke Temperaturschwankungen wurde 
dadurch gezeigt, dass ein nahezu glühend gemachter Tiegel in 
kaltes Wasser geworfen, nicht zersprang. 

Hierauf sprach Herr Dr. med. Heinsheimer über „Das 
Problem der Geschlechtsbestimmung“. In der Einleitung wies der 
Redner auf die sogenannte Konstanz der Sexualproportion hin, auf 
jene seit Jahrhunderten feststehende Tatsache, dass überall auf der 
Erde mehr Knaben als Mädchen geboren werden, und zwar in 
dem durchschnittlichen Zahlenverhältnis von 106 Knaben auf 100 
Mädchen. Die Statistiker haben sich mit grösstem Fleisse bemüht, 
«alle diejenigen Faktoren ausfindig zu machen, die jene Verhält- 



11 * 


niszahl zu beeinflussen im stände sind, und je nach dem Ergeb¬ 
nisse ihrer Forschungen allerlei Theorien über die Ursachen der 
Geschlechtsbestimmung aufgestellt. Die Statistik ist jedoch nicht 
im stände, die Frage definitiv zu lösen, vielmehr bedarf es hierzu 
der Untersuchungsmethoden der Biologie, die sich auf das Tier- 
und Pflanzenreich erstrecken und der wir bereits wichtige Fest¬ 
stellungen verdanken. Mit grösster Wahrscheinlichkeit ist das 
Geschlecht bereits im befruchteten Ei präformiert, mithin die Ge¬ 
schlechtsbestimmung ein Vorrecht, des mütterlichen Organismus. 
Eine willkürliche Einflussnahme auf die Geschlechtsbestimmung, 
wie sie bei einzelnen niederen Tieren durch verschiedenartige Er¬ 
nährung des Muttertieres zweifellos möglich ist, erscheint bei 
Säugetieren und beim Menschen aussichtslos. Der Redner ging 
im Laufe seines Vortrages auf zahlreiche biologische Einzelheiten 
und auf eine Reihe von älteren und neueren Hypothesen in kri¬ 
tischer Form ein. Bei der Eigenart des Gegenstandes ist eine 
eingehende Würdigung von Details an dieser Stelle nicht tunlich. 
Wir begnügen uns daher mit diesem flüchtigen Hinweis auf die 
Grundgedanken des hochinteressanten Vortrages, an den sich eine 
angeregte Diskussion anschloss, an welcher sich die Herren 
Ammon, Carl, Dittrich, Hausrath, Grävenhan und Scliu- 
berg beteiligten. 


589. Sitzung am 19. Dezember 1902. 

Vorsitzender: Herr Gebeimerat Dr. En gl er. Anwesend 73 Mitglieder. 

Neu angemeldete Mitglieder: Die Herren Augenarzt Dr. Alberti, Ober- 
kriegsgerichtsrat Becker, Geb. Hofrat Sehenck. 

Herr Geh. Hofrat Dr. Bunte sprach im neuen grossen 
chemischen Hörsaal der Technischen Hochschule über das Thema 
-Neues vom Gaslicht“. Der Vortragende erläuterte durch eine 
Reihe von Experimenten das Wesen der Flamme und zeigte, dass 
jede Flammenbeleuchtung durch Kerzen oder Lampen eine Art 
Gasbeleuchtung sei. Da die Leuchtkraft der Flamme durch 
glühenden Kohlenstoff (Russ) bedingt ist, so kann dieselbe erhöht 
werden durch Vermehrung der Kohleabscheidung mittels Benzo- 
lierung oder Karburierung des Gases oder durch Steigerung der 
Temperatur (Siemens Regenerativbrenner, Acetylen). Die Flamme 
wird entleuchtet durch Zumischung von Kohlensäure oder Luft 



12 * 


zum Gas. Das letztere geschieht indem Bunsenbrenner. Bunsen 
erfand denselben 1852 und verwendete ihn bei der Einrichtung 
des neuen chemischen Laboratoriums in Heidelberg; seitdem ist 
der Bunsenbrenner mit unwesentlichen Abänderungen, nicht nur 
bei allen Gasheiz- und Kochgeräten, sondern auch bei der Gas¬ 
glühlichtbeleuchtung in Anwendung. Die Vorgänge in der Bunsen 
flamme wurden sodann zergliedert; es wurde gezeigt, dass zu 
wenig Luftbeimischung ein Riechen, zu viel Luftbeimischung ein 
Zurückschlagen der Flamme erzeugt und dass die richtige Luft¬ 
zufuhr für die Heizung wie für die Beleuchtung sehr wesentlich 
sei. Sodann wurde die Entwicklungsgeschichte des Gasglühlichtes 
geschildert und die Herstellung eines Glühkörpers gezeigt, durch 
Imprägnieren von Tüll mit den Salzen der Edelerden, Trocknen. 
Abbrennen und Härten, bis zum gebrauchsfähigen Zustande. 
Nachdem das Wesen der gebräuchlichsten Gasselbstzünder und 
die Bedingungen für deren Wirksamkeit durch Experimente er¬ 
läutert, wurde eine Anzahl verschiedener Selbstzünder und Gas¬ 
glühlichtlampen verschiedener Konstruktion vorgeführt, darunter 
auch eine Lucaslampe, die in Berlin zur Beleuchtung verschiedener 
Strassen Verwendung findet, und mit den elektrischen Bogen¬ 
lampen an Helligkeit wetteifert Redner ging dann auf die chemi¬ 
schen und physikalischen Bedingungen für die Lichterzeugung 
näher ein und knüpfte an die jüngsten Untersuchungen von 
Lummer und Pringsheim in der Physikalisch-Technischen Reichs¬ 
anstalt Betrachtungen über die Verteilung der Energie im Spek¬ 
trum und über den Nutzeffekt der Flammenbeleuchtung. Derselbe 
betrage selbst bei den besten Auerlampen noch nicht 2%, d. h. 
nur ein kleiner Teil der Energie werde in Wellen ausgestrahlt. 
welche im sichtbaren Teil des Spektrums liegen, während die 
weitaus grösste Energiemenge in den unsichtbaren Teil des Wärme¬ 
spektrums falle. Manche Substanzen, Gase und feste Körper, 
darunter die Auermischung für Gasglühlicht mit 99 °/o Thor und 
1 # /o Cer, besitzen eine selektive Strahlung, d. h. sie senden unter 
sonst gleichen Umständen mehr Lichtstrahlen aus, als ein glühender 
sogenannter absolut schwarzer Körper oder wie der Russ in den 
gewöhnlichen Leuchtflammen. 

Durch Erhöhung der Temperatur des leuchtenden Körpers 
erfolge eine Verschiebung des Maximums der Strahlung nach dem 
sichtbaren Teil des Spektrums und die Ausnützung werde ausser- 



ordentlich vergrössert. Eine solche Steigerung der Temperatur 
und dadurch die Leucht- und Glübkraft der Flamme könne durch 
Anwendung von Acetylen statt Leuchtgas oder von Lindeluft oder 
Sauerstoff an Stelle von atmosphärischer Luft herbeigeführt werden. 
Es sei die Aufgabe der Beleuchtungstechnik, der von der Wissen¬ 
schaft gezeigten Richtung zu folgen und sie werde auf diesem 
Wege sicher noch weitere Erfolge erringen. 

Im Anschluss an die Erörterungen über die Strahlungsgesetze 
wurde die Methode der optischen Pyrometrie zur Messung hoher 
Temperaturen erläutert und die Einrichtung des Pyrometers von 
Wanner gezeigt. 

Von einer Diskussion wurde der vorgerückten Stunde wegen 
Abstand genommen. 


1 590. Sitzung am 16. Januar 1903. 

Yorsitsender: Herr Geheimerat Dr. Engler. Anwesend etwa 800 Zuhörer. 

| 

Der Vorsitzende begrüsste zuerst die auf Einladung er¬ 
schienenen Mitglieder des oberrheinischen Bezirksvereins deutscher 
Chemiker, des Karlsruher Bezirksvereins deutscher Ingenieure, 
des Elektrotechnischen Vereins und des Karlsruher chemischen 
Vereins. 

Herr Prof. Dr. Haber sprach sodann über seine Studien¬ 
reise in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. 


591. Sitzung am 30. Januar 1903. 

Vorsitzender: Herr Hofrat Dr. Meidinger. Anwesend 26 Mitglieder. 

Ken angemeldete Mitglieder: die Herren: Assistent am mineralogischen In¬ 
stitut der Technischen Hochschule Bari, Geh. Kriegsrat Kund, Zinkograph 
Bad. Mayer, TechnischerHilfsarbeiter im Grossh. Ministerium des Innern 
Dr. Paravicini, Generalmajor s. D. v. Wallenberg. 

Herr Dr. Wils er aus Heidelberg berichtete über die in den 
letzten Jahren durchgeführte, 45 000 Mann umfassende schwedische 
Volksuntersuchung, die Anthropologia suecica. Der Vortrag ist 
unter den Abhandlungen zum Abdruck gebracht. 

An der Diskussion beteiligten sich die Herren Ammon und 
Mutb. 



14 * 


592. Sitzung am 13. Februar 1903. 

Vorsitzender: Herr Gebeimerat Dr. Engl er. Anwesend 45 Mitglieder. 

Der Vorsitzende, Herr Geheimerat Dr. En gier, gedachte 
zuerst in warmen Worten der Verdienste des verstorbenen Staats¬ 
ministers Dr. Nokk, dessen Mitwirkung es in erster Reihe zu 
danken sei, dass unter Grossherzog Friedrich Wissenschaften und 
Künste zu so hoher Entwicklung gelangten. Derselbe habe, trotz¬ 
dem sein eigenes Denken und Streben mehr auf die schöne, vor 
allem klassische Literatur und auf Kunst gerichtet gewesen sei. 
doch auch die Bedeutung der Naturwissenschaften für unser« 
Kulturentwicklung klar erkannt und dieselben an unseren drei 
Hochschulen durch die Begründung von vortrefflich eingerichteter 
Instituten, die zu den besten Deutschlands gehörten, aufs wirk¬ 
samste unterstützt. Auch in naturwissenschaftlichen Kreisen sei 
ihm deshalb ein dauerndes ehrenvolles Andenken gesichert. 

Herr Professor Dr. Klein hielt sodann einen Vortras 
über Zeichen und Inschriften in lebenden Bäumen 
An zwei geringelten, etwa 10 cm dicken Stangenhölzern, an 
welchen im Frühjahr ein breiter Rindenstreifen ringsum bi: 
auf das Holz abgeschält worden war und die 2 '/* Jahre nach 
dieser Verletzung abgestanden waren, wurde der aufsteigende und 
absteigende Saftstrom demonstriert. Am oberen Wundrande halt« 
sich infolge der Stauung der ausschliesslich in der Rinde abwärts 
wandernden organischen Baustoffe ein breiter Überwallungswulst 
gebildet und das obere Ende des Stammes war weiter in die Dicke 
gewachsen, weil der unverletzt gebliebene Holzkörper auch nach 
der Verwundung Wasser und Aschenbestandteile von den Wurzeln 
zur Krone empor geleitet hatte. Unterhalb der Ringelungsstelk 
war jegliches Dickenwachstum unterblieben und der Baum stand 
ab, als die verhungernden Wurzeln den Transpirationsverlibt 
nicht mehr zu decken vermochten. Beim Einschneiden von Buch¬ 
staben und sonstigen Zeichen in die Rinde läuft das Leben des 
Baumes keine Gefahr, dagegen wird durch derartige Inschriften, 
wenn sie bis auf oder bis ins Holz gehen, der Nutzholzwert der 
Stämme vermindert. Von den Wundrändern aus überwallen solche 
Inschriften in wenigen Jahren, die bekannten Bilder auf der Rinde 
liefernd, die in dem Masse, in welchem der Baum sich verdickt, 
mehr und mehr in die Breite gedehnt werden. Zugleich bewahrt 
aber auch, was dem Laien zumeist unbekannt bleibt, der Baum 



15 * 


| das ehemalige Zeichen völlig unverändert in seinem Holzkörper 
wie in einem Archive auf. Die Überwallungswulst kann mit dem 
Mossgelegten Holzkörper, dessen lebende Elemente rasch ver¬ 
trocknen , nicht verwachsen. Die innerste Schicht des Über- 
wallungswulstes wird in inniger Berührung mit dem toten 
Holze gleichfalls getötet und schwarz gefärbt, so dass später, 
wenn von den Überwallungswülsten jahrzehnte lang nach innen 
zu Holz gebildet worden ist, die ehemaligen Zeichen tief in 
den Baumstamm geraten. Bei zufälligem oder absichtlichem Auf- 
kalten trennen sich die beiden Berührungsflächen und wir er¬ 
halten ausser dem ehemaligen Zeichen von braungrauer Farbe 
noch einen spiegelbildartigen Abdruck auf dem äusseren Spalt- 
•tück, der wie mit einem glühenden Eisen in das Holz einge- 
i urannt erscheint. Bleiben beim Einschneiden solcher Zeichen 
j isolierte Rindenstücke stehen oder werden hierbei Teile des Holz- 
: körpers selbst herausgeschnitten, so erhalten wir das erste Mal 
auf der inneren, das zweite Mal auf der äusseren Spaltfläche die 
Zeichen reliefartig erhaben. Alle diese Dinge wurden durch eine 
Anzahl Sammlungsobjekte illustriert. 

Sodann sprach Herr Professor Klein über seltene Formen 
der Fichte und Tanne im Schwarzwald, davon aus¬ 
gehend, dass er schon seit Jahren an dem Material für ein 
iorstbotanisches Merkbuch für das Grossherzogtum 
Baden sammle, in welchem über alle merkwürdigen Bäume 
unseres Heimatlandes berichtet werden soll, teils um dieselben 
einem weiteren Kreise von Naturfreunden bekannt zu machen, 
vor allem aber auch, um deren möglichst lange Erhaltung, wenig¬ 
stens soweit es sich um „Naturdenkmäler“ handelt, dadurch zu 
erleichtern. An der Hand einer grossen Anzahl selbst aufgenom¬ 
mener Photographien wurden besprochen: eine Verwachsung 
von Fichte und Buche beim Wiedenereck, gewaltige vielgipfelige 
Wettertannen und Fichten von den Weidfeldern des hohen 
Schwarzwalds (Breitnauer Weidfeld, Giesiboden, Ungendwieden, 
Hörnle beim Notschrei, Feldberg, Obermulten), die Schlangen¬ 
tannen von Weisenbach, die Kugelfichte von Hundsbach, 
die Säulenfichten von St. Blasien, Notschrei und Forbach, 
die durch thujaartig hängende Äste ausgezeichnete sogenannte 
Auerhahntanne bei Schönmünzach, gewaltige und bizarre 
Stelzenfichten vom Schauinsland und von Forbach, vom 



16 * 


Sturme geworfene grosse Fichten und Tannen, von denen sich 
nachher einige Äste zu normalen Bäumen aufgerichtet und sogar 
vollständig bewurzelt hatten, vom Schauinsland, von Sulzburg und 
vom Hochkelch, Zwergformen der Fichte von Wieden und 
von Sulzburg, eine Zizenfichte von Oberried und die pracht¬ 
volle Warze nt an ne von St. Ulrich. Alle diese, zum Teil höchst 
auffallenden und merkwürdigen Bildungen, die zum grössten Teil 
auf Samen- oder Knospenvariation zurückzuführen sind, wurden, 
soweit dies möglich, ihrer Entstehungsweise nach erklärt. Redner 
knüpfte daran die Bitte, die hiermit auch an weitere 
Kreise gerichtet werden soll, ihn auf interessante 
Bäume jeglicher Art unserer Heimat aufmerksamzu 
machen. 


593. Sitzung am 6. März 1903. 

Vorsitzender: Herr Geheimer&t Dr. En gier. Anwesend 33 Mitglieder. 

Herr Dr. Auerbach hielt einen Vortrag über den Winter¬ 
schlaf unserer heimischen Säugetiere. In der ganzen 
Klasse der Wirbeltiere ist der Winterschlaf eine weit verbreitete 
Erscheinung. Einzelne Fische, alle heimischen Amphibien und 
Reptilien verfallen im Herbst in einen lethargischen Zustand, der 
bis zum Frühjahr währt. Nach den neuesten Untersuchungen 
scheinen sogar einzelne Vögel einen Winterschlaf abzuhalten. 
Unter den Säugetieren sind auch Winterschläfer viele unserer 
Nager, z. B. Murmeltier, Hamster, Siebenschläfer u. s. w.. dann 
Insektivoren, z. B. die Igel und alle bei uns lebenden Fleder¬ 
mäuse. Bär und Dachs dürfen nicht zu den echten Winter¬ 
schläfern gerechnet werden. Die Haupterscheinungen während des 
Schlafes sind: 1. eine starke Herabsetzung der Sensibilität. 
2. Verminderung des gesamten Stoffwechsels auf das möglichst 
kleinste Hass und als Folge hiervon 3. Verminderung der Körper - 
temperatur, der Herz- und Atemtätigkeit. 4 Besonders bemerken>- 
wert ist es, dass beim Erwachen eine plötzliche, rapide Steigerung 
der Eigenwärme der Tiere auf die normale Temperatur stattfindet, 
ohne dass man bis jetzt im stände ist, anzugeben, woher eine 
solche enorme Verbrennungswärme, die hierzu notwendig ist. vom 
Tiere genommen wird. In bezug auf Nahrungsaufnahme verhalten 
sieh die verschiedenen Schläfer sehr verschieden; es geht aber 



17 * 


aus den Untersuchungen hervor, dass z. B. Murmeltier und Igel 
während der ganzen Dauer des Schlafes keine Nahrung aufzu¬ 
nehmen brauchen. Versuche, Merkmale zu finden, die nur den 
Winterschläfern eigentümlich sind, haben bis jetzt keinen Erfolg 
gehabt. Die schon vor langer Zeit entdeckte Winterschlafdrüse 
bat sich auch bei Nichtwinterschläfern gefunden; nach den neuesten 
Untersuchungen bildet sie nur eine Art des Fettgewebes. Man 
ist bis jetzt noch nicht im stände, genau den Grund des Ver¬ 
falles in den Winterschlaf anzugeben. Jedenfalls darf nicht die 
Kälte allein dafür verantwortlich gemacht werden, sondern es 
kommen noch andere Umstände hinzu, wie z. B. Nahrungsmangel 
im Winter, Einfluss der Jahreszeiten u. s. w. Das Experiment, 
künstlich den Winterschlaf zu erzeugen, ist bis jetzt erst einem 
Forscher gelungen, und zwar F. G. Suber am Ende des 18. Jahr¬ 
hunderts. Er war im stände bei Hamstern beliebig das Ein¬ 
schlafen zu bewirken. Ein Vergleich des Winterschlafes mit dem 
gewöhnlichen, ruhigen Schlafe zeigt, dass beide weit von einander 
verschiedene Erscheinungen im Leben der Tiere sind und dass 
ersterer eine weise Einrichtung der Natur ist, durch die sie in 
Zeiten ungünstiger äusserer Lebensbedingungen ihre Geschöpfe 
vor dem drohenden Untergang bewahrt. 

An der sich an den Vortrag knüpfenden Besprechung be¬ 
teiligten sich ausser dem Vortragenden die Herren Ammon, 
Döderlein, Engler, Gräfenhan, Meidinger, Stoll, Tross und Volz. 

594. Sitzung am 27. März 1903. 

Im grossen chemischen HOmal der Technischen Hochschule. 
Vorsitzender: Herr Geheimerat Dr. Engler. Anweseod I. K. Hoheiten der 
Grossberzog nnd die Grossherzogin, BOwie zahlreiche Gäste. 

Der Vorsitzende, Herr Geheimerat Dr. Engler, eröffnete die 
Sitzung, wobei er Ihren Königlichen Hoheiten dem Grossherzog 
und der Grossherzogin den ehrerbietigsten und wärmsten Dank 
des Vereins für den regen Anteil, den sie jederzeit seinen Be¬ 
strebungen entgegengebracht hätten, ausdrückte; sodann gab Herr 
Privatdozent Dr. Schwarz mann einen vorläufigen Bericht über 
die Erdbeben vom 22. März in der Nähe von Karlsruhe. 

Der Redner leitete seinen Vortrag ein durch einen kurzen 
Überblick über die geologischen Verhältnisse der oberrheinischen 
Tiefebene und des Schwarzwaldes, sowie über die verschiedenen 



18 * 


Gruppen der hier beobachteten Beben und gab hierauf die wesent¬ 
lichen Punkte an, auf welche man bei Wahrnehmung eines Bebens 
zu achten hat. 

Das Beben vom 22. März 1903 gehört zu denjenigen Disloka¬ 
tionsbeben, welche auf eine Bewegung der unter den mächtigen 
Schottermassen des Rheindiluviums befindlichen, durch Ver¬ 
werfungen zerstückelten Gesteinsmassen, zurückzuführen sind. 
Das Hauptbeben vom 22. März, 6 Uhr 4 Minuten morgens, 
äusserte sich in Kandel am stärksten (Kamine abgestürzt. Risse 
am Verputz der Mauern). Eine kartenmässige Darstellung dieses 
Bebens, durch Einträgen der positiven und negativen Nachrichten, 
zeigte eine Verbreitung der gemeldeten Erschütterungen nördlich 
bis Philippsburg, Germersheim, Edenkoben, westlich bis Rinntal 
und Niederschlettenbach, südlich bis zur Lauter und bis Dur¬ 
mersheim. Auf der Ostseite wurde eine Grenze festgelegt durch 
die positiven Berichte von Ettlingen, Karlsruhe bis zum Schlacht¬ 
hof und Eggenstein einerseits und anderseits durch die negativen 
Meldungen von Wolfartsweier, Durlach, Hagsfeld, Friedrichsthal. 
Die Orte Grötzingen, Berghausen, Söllingen im Pfinztal, sowie 
Palmbach und Grünwettersbach haben das Beben gleichfalls nicht 
verspürt; dagegen ist in Breiten das Beben wahrgenommen worden. 
Es ist dies aus der Tatsache zu erklären, dass Kiese und Sande 
des Rheintals bei ihrer grossen Mächtigkeit als Polster dämpfend 
auf die Erschütterung wirken, während festes Gestein dieselben 
besser leitet, sowie aus dem modifizierenden Einfluss der Ver¬ 
werfungsspalten. 

Das schwächere Nachbeben, 1 Uhr 5G Minuten, schien sein 
Zentrum unter Pforz zu haben. An diesem Ort wurden Schorn¬ 
steine umgeworfen und daselbst, ebenso wie in Knielingen und 
Teutschneureuth wurde, dieses Beben stärker als das Haupt¬ 
beben verspürt. 

Vorbeben fanden statt schon Anfang des Jahres, insbesondere 
27. bis 30. Januar, am Samstag den 21. März, 8 Uhr vormittags, 
am Sonntag den 22. März, etwa 3 Uhr (4 Uhr) und */«6 Uhr 
früh. Dann kam das Hauptbeben um G Uhr 4 Minuten. Die 
Zeitangaben differieren jeweils um einige Minuten. Dem Nach¬ 
beben um 1 Uhr 56 Minuten nachmittags folgten weitere: uni 
4 Uhr nachmittags (Hollen verspürt in Langenberg), 6 Uhr abends, 
am Donnerstag den 26. März 2 Uhr nachts und 10 Uhr 10 Mi* 






19 * 


nuten morgens (IO 8 /* Uhr), Freitag den 27. März */ 2 3 Uhr (3 Uhr) 
nachts. 

Das Hauptbeben hatte im allgemeinen eine Dauer von vier 
Sekunden, das Nachbeben um 1 Uhr 56 Minuten nachmittags 
von 2 Sekunden (Teutschneureuth 8 Sekunden). Bei jenem 
wurden meist zwei oder drei Stösse, bei diesem ein Stoss oder 
ein Rütteln gemeldet. Bei beiden wurden Schallerscheinungen, 
insbesondere von solchen Orten, welche nicht weit vom Herd des 
Bebens entfernt waren, gemeldet. Darunter wird häufig unter¬ 
irdisches Geräusch und dreimal ausdrücklich vorhergehendes 
donnerartiges Geräusch mit nachfolgendem Stoss gemeldet. Das 
Registrierbarometer des meteorologischen Zentralbureaus zeigte 
beim Nachmittagsbeben um 1 Uhr 54 Minuten einen kleinen 
Ausschlag. Bei den stärker erschütterten Orten wurden auch 
Furchterscheinungen der Tiere beobachtet. 

Am 24. Januar 1880 hat ein Erdbeben stattgefunden, das 
gleichfalls seinen Hauptherd in der Gegend von Kandel gehabt 
hat und im allgemeinen dieselben Ortschaften, wie die jetzige 
Erschütterung berührt hat, jedoch damals noch anderweitige Ge¬ 
biete betraf. Es ist vielleicht möglich, dass eine genaue Unter¬ 
suchung Aufschlüsse über den tektonischen Bau unter der Dilu¬ 
vialdecke des Rheintals liefert. 

Zum Schluss erwähnte der Vortragende die Erdbeben, welche 
etwa gleichzeitig mit dem unsrigen in Piemont, Südfrankreich 
und Südengland aufgetreten sind, sowie die erneute Tätigkeit der 
Soufriere, gab Beispiele von früheren derartigen Simultanbeben 
und machte auf die verschiedenen Möglichkeiten der Erklärungs¬ 
versuche solcher Siinultanbeben aufmerksam. 

Im Anschluss daran machte Herr Geh. Hofrat Dr. Haid die 
Mitteilung, dass die Beobachtungen, die er an der feinen Libelle 
auf der Axe des Passageninstrumentes in der Nacht vom 21. auf 
22. und am Nachmittag des 22. machte, keine Änderungen in 
dem vertikalen Stande des isolierten Mauerpfeilers im geodätischen 
Observatorium konstatieren lassen. Ob eine gleichmässige Senkung 
stattgefunden habe, muss jedoch dahin gestellt bleiben. Änderungen 
in der Höhenlage durch Erdbeben sind im allgemeinen sehr wahr¬ 
scheinlich; dieselben sind aber zunächst nicht so leicht nach¬ 
weisbar, bis sie durch wiederholte Beben nach Verlauf eines 
längeren Zeitraums einen für die Messung merklichen ■ Betrag 



20 * 


erreicht haben. Die kurz vor und nach dem Erdbeben vom 
24. Januar 1880 ausgeführten Nivellements auf der Strecke Strass* 
bürg—Appenweier lassen solche Höhenänderungen vermuten, und 
die Widersprüche, die neuerdings zwischen den genauen nivelliti- 
sehen Höhenbestimmungen vom Jahre 1881 und den neueren 
schweizerischen Präzisionsnivellements längs der Strecke Basel- 
Konstanz sich ergeben, dürfen auch auf Änderungen in der Höhen¬ 
lage zurückgeführt werden. 


595. Sitzung am 24. April 1903. 

Vorsitzender: Herr Geheimerat Dr. Engler. Anwesend 51 Mitglieder. 
Neu angemeldete Mitglieder, die Herren: Assistent am chemischen Institat 
der Technischen Hochschule Dr. Arnold, Handelslehrer Fink, Assistent für 
Bodenkunde an der Technischen Hochschule Dr. Jahn, Chemiker Dr. Just 

Herr Privatdozent Dr. Muth hielt über den Kreislauf des 
Stickstoffs einen Vortrag, der in erweiterter Form unter den Ab¬ 
handlungen des vorliegenden Bandes zum Abdruck gebracht ist. 

An der sich hieran knüpfenden Besprechung beteiligten sich 
ausser dem Vortragenden die Herren Engler, Le Blanc, 
Siefert und Wöhler. 

596. Sitzung am 15. Mai 1903. 

Mitglieder-Hauptversammlung. 

Vorsitzender: Herr Gebeimerat Dr. Engler. Anwesend 42 Mitglieder. 
Neuangemeldete Mitglieder: die Herren ökonomierat Magenau in Augusten* 
berg; VerbantUsekretir Riehm. 

Herr Geh. Hofrat Dr. Meidinger gab in Vertretung des 
erkrankten Schriftführers zunächst den Bericht über die Tätigkeit 
des Vereins im verflossenen Geschäftsjahre; es geht daraus hervor, 
dass der Verein zurzeit 211 Mitglieder zählt und damit eine 
Stärke erreicht hat, die er seit seiner Gründung noch nicht 
besessen hat. 

Herr Direktor Treutlein gab hierauf für den am Erscheinen 
verhinderten Kassier den Kassenbericht, der im Vorwort zum 
Abdruck gebracht ist. Nachdem dem Kassier Entlastung erteilt 
worden war, wurde der bisherige Vorstand durch Zuruf wieder 
gewählt. 



21 * 


Der Vorsitzende, Herr Geheimerat Dr. En gl er, wies sodann 
anlässlich des 100. Geburtstages von Justus v. Liebig auf dessen 
Bedeutung für die Entwicklung der Chemie hin; Herr Geh. 
Hofrat Dr. Meidinger machte im Anschluss daran noch einige 
interessante Mitteilungen über seine Beziehungen zu Liebig 
während seiner Studienzeit in Giessen. 

Herr Privatdozent Dr. Wühler hielt darnach einen Vortrag 
über „selbststrahlende Materie“. Nach seinen Ausführungen fand 
1896 Becquerel im Verfolg der eben entdeckten X-Strahlen, dass 
Uran und Uransalze, wie auch Uranmineralien sehr aktive Strahlen 
aussenden, welche die Luft jonisieren, d. h. sie leitend machen, 
auf die photographische Platte wirken, wie Lichtstrahlen und 
Fluoreszenz in manchen Körpern, wie Flusspath, Zinkblende u. a., 
hervorrufen. Auch blaue Färbungen werden in diesen Sub¬ 
stanzen erzeugt; sie sind auf eine chemische Einwirkung zurück¬ 
zuführen, da es dem Vortragenden gelang, die gleiche blaue Farbe 
im farblosen Flusspath durch metallisches Calcium zu erzeugen. 
Selbststrahlend oder radioaktiv heissen die „Becquerelstrahlen“, 
weil sie ohne äussere Zufuhr freier Energie in der Wärme und in 
der Kälte verflüssigter Luft, auf der Erdoberfläche und in dem 
852 Meter tiefen Clausthaler Schacht in gleicher Weise wirken. 

Ein Schweizer Ehepaar, Herr und Frau Curie, vermochten 
1898 aus den Rückständen der Joachimstaler Uranpecherz-Ver¬ 
arbeitung eine besonders aktive Substanz dieser Art, das Radium 
zu isolieren, das sich als neues Element vom Atomgewicht 225, 
mit einem charakteristischen Spektrum erweist. Nur wenige 
milliontel Prozent sind in dem Erz vorhanden, so dass aus 
Tonnen Erz nur Milligramme Radium zu gewinnen sind und die 
Darstellung von 1 Gramm auf etwa 8000 M. zu stehen kommt. 
Die Strahlen rufen schmerzhafte und schwerheilende, eiternde 
Wunden durch Glas und Kleider hindurch hervor, bräunen Papier 
und vernichten den Haarwuchs. Andere Stoffe mit ähnlichen Eigen¬ 
schaften und unter dem Namen Polonium, Aktinium, Radioblei und 
Radiotellur sind ebenfalls in dem Uranpecherz aufgefunden worden, 
doch ist ihre Existenz als neue Elemente noch zweifelhaft. 

Wie Moschus und andere Riechstoffe senden die radioaktiven 
Substanzen eine stoffliche Emanation aus, durch welche anderen 
Körpern im eingeschlossenen Raum die gleichen selbststrahlenden 
Eigenschaften, also durch Induktion, vorübergehend erteilt werden. 



22 * 


Aus der Ablenkung eines Teils der Becquerelstrahlen im 
magnetischen Felde und ihrer Ähnlichkeit mit Kathodenstrahlen 
geht hervor, dass sie zum Teil, wie diese, aus kleinsten Partikel¬ 
chen mit negativer Ladung (Elektronen) bestehen von einer Grösse, 
die höchstens den 2000sten Teil derjenigen eines Wasserstoffatoms 
erreicht, und besitzen eine Geschwindigkeit, die halb so gross 
wie die des Lichtes ist. 

Die Quelle der dauernden Energieausstrahlung ist vielleicht 
in einer Umlagerung der noch in einem instabilen (metastabilen» 
Zustande befindlichen schwersten Atome Uran und Thor zu suchen, 
welche überschüssige Elektronen bis zur Stabilität ausschleudeni, 
womit ein gleichzeitiger Verlust an Masse verbunden sein kann, 
der durch die Wage nicht feststellbar ist, aber nicht notwendig 
verbunden sein muss, da die Trägheit der magnetisch ablenk¬ 
baren, abgeschleuderten Massenteilchen elektromagnetisch gedeutet 
also nur vorgetäuscht worden sein kann. 



Abhandlungen. 




Zur Biologie der Gattung Chermes Htg., 

insbesondere 

über die Tannenrindenlaus Chermes piceae Ratz. 

Von Prof. Pr. 0. Nlisslln* 

Bei der Auswahl des Themas meines Vortrags kamen mir 
wiederholt Bedenken verschiedener Art. Sollte es möglich sein, 
so fragte ich mich, den Gegenstand meiner Wahl in einem ver¬ 
ständlichen einigermassen abgerundeten Bilde in der kurzen Zeit 
einer Stunde Ihnen vorzuführenV Ist doch die Gattung Chermes 
die allerverwickeltste aller Pfianzenläuse. die wir kennen. Ich 
kann deshalb nur einzelne Bruchstücke unseres Wissens darbieJen. 
Ich will dabei Ihr Auge insbesondere auf Erscheinungen lenken, 
die zu Fragen von allgemeinerem wissenschaftlichem Interesse 
hinführen und andererseits darf ich mir hier wohl erlauben, in 
meiner Auswahl Ihre Aufmerksamkeit insbesondere iür Gebiete 
in Anspruch zu nehmen, die in den letzten Jahren der Gegen¬ 
stand meiner eigenen Forschung geworden sind. 

Die Gattung Chermes Htg. bildet mit der Gattung 
Phylloxera Fonsc. die Familie der Phylloxeriden Dreyf. oder 
Afterblattläuse, welche selbst wieder mit den Psylliden oder 
Blatt flöhen, Aphiden oder Blattläusen und Cocciden oder 
Schildläusen die Unterordnung der Phytophthircs oder 
Pfianzenläuse in der Ordnung der Rhynchoten oder Schnabel- 
kerfe zusammensetzen. 

Alle Afterblattläuse kennzeichnen sich durch ihre 
kleine gedrungene Gestalt, durch kurze Fühler und 
Beine, durch ungeflügelte Geschlechtstiere, durch 
vorwiegend parthenogenetisehe Fortpflanzung, alle 
sind ausschliesslich ovipar. 

Von der Laubholzgattung Phylloxera ist unsere Gattung 
Chermes scharf unterschieden: sie ist auf Nadelholz beschränkt, 

* Siebe auch: 0. jS’üsslin „Zur Biologie von Chernies piceae Ratz.“, 
Naturw. Ztsehr. för Land-und Forstwirtschaft, I. Jabrg. 1903, 1. und 2. lieft. 

1 * 



4 


ihre parthenogenetischen Weibchen sind durch harte Haut¬ 
chitinplatten und durch Wachsausscheidungen gekenn¬ 
zeichnet, ihre Geschlechtstiere haben stets ausgebildete 
Mundteile und Darm, und die Geflügelten legen ihre Flügel 
stets dachförmig zusammen. 

Während alle Phylloxera - Stadien nur 3gliedrige Fühler 
besitzen, haben die Chermes- Läuse 3-, 4- oder ögliedrige 
Fühler. Während Phylloxera sichmitdreierlei Generationen 
begnügt, die sämtlich auf einer Wirtspflanze verbleiben, hat 
Chermes normal fünf Generationen, von denen einzelne auf 
andere Nadelhölzer auswandern. 

Ursprünglich waren die Chermes- Arten auf der Fichte 
(Picea excelsa, orientalis, alba, sitchensis etc.) zu Hause ge¬ 
wesen und erzeugten hier Knospengallen, die an ananasartige 
Früchte erinnern und in denen sich eine zweite Generation 
entwickelt. Das ist der biologische Grundcharakter der 
Gattung. 

Alle anderen Vorkommnisse von Chermes- Läusen an der 
Rinde, den Nadeln und Knospen von Lärchen, Kiefern und 
Tannen sind sekundär und durch Auswanderungen von der 
Fichte entstanden, nie sind dieselben mit Gallenbildungen an 
diesen Pflanzen verbunden, auch kehren die meisten dieser Aus¬ 
wanderer zur Fichte wieder zurück, um hier ihren Lebens¬ 
zyklus zu beschliessen. 

Der normale Lebenszyklus einer Chermes- Art setzt sich heute 
aus fünf Generationen zusammen und verläuft auf zwei 
Nadelholzarten. Der Zyklus beginnt mit der aus dem be¬ 
fruchteten Ei im Spätsommer entstandenen Generation, welche 
deshalb als I. oder Fundatrix-Generation zu bezeichnen ist. 
Die Fundatrix ist zugleich die eigentliche Gallenerzeugerin, 
indem durch ihr Saugen die Umbildung der normalen Fichten¬ 
knospe zur Knospengalle eingeleitet wird. Die Fundatrix über¬ 
wintert als Larve an der Knospe oder in der Nähe, stets un- 
gehäutet. Erst im Frühjahr, wenn die Baumsäfte in Bewegung 
geraten, erwacht auch ihre Lebensenergie. In rascher Folge 
wächst sie jetzt, häutet sich dreimal, verändert dabei auch ihre 
Haut Struktur und legt einen Haufen zahlreicher Eier, die in 
weisse Wachswolle eingebettet werden. Die Fundatrix nimmt 
erwachsen eine plumpe bimförmige Gestalt an, bleibt stets flügellos, 



5 


ihre Eier entwickeln sich unbefruchtet, sie selbst ist ein par- 
thenogenetisches Weibchen. 

Zur Zeit ihrer Eiablage hat sich auch die Fichtenknospe zu 
entwickeln begonnen. Aber die zarten Nadeln sind unter der 
Knospenhülle schon deformiert, indem ihre Basis verdickt und 
verbreitert erscheint. Die jetzt nach und nach aus den Eiern der 
Fundatrix ausschlüpfenden Jungen steigen zur Knospe und ver¬ 
kriechen sich in die Achseln der jungen Nadeln, um daselbst zu 
saugen. Unter der Wirkung dieses Saugens vervollständigt sich 
die Deformierung der Knospennadeln. Statt zu schmalen Nadeln 
werden dieselben zu Schuppengebilden, ähnlich den Zapfenschuppen 
der Koniferenfrüchte. Nur an der Spitze erkennt man mehr oder 
weniger Gestalt und Färbung der Nadel. Die Schuppen selbst 
bleiben weisslichgrün und verfärben sich später an den Rändern 
in gelblichen oder rötlichen Tönen. Durch das Wachsen der 
Nadelbasen in die Breite schliessen sich die Schuppengebildd 
seitlich fest aneinander an und bilden so das geschlossene Ganze 
der Knospengalle. Die Läuse werden durch das Wachstum der 
Knospengalle käfigartig eingeschlossen, je ein Tier oder mehrere 
zusammen in eine Kammer im Innern der Knospennadelnachseln. 
Die reiche Nahrung der rasch wachsenden Knospengalle beschleu¬ 
nigt auch das Wachstum der Insassen. Nach dreimaliger Häutung 
sind sie zu „Nymphen“ geworden, das heisst mit Flügelstummeln 
versehen. Jetzt klaffen infolge zunehmender Austrocknung der 
Galle die Ränder zwischen den Knospenschuppen in Form von 
Spalten und gestatten den Nymphen den Austritt ins Freie. Oben 
auf der Knospengalle umherkriechend, verfärben sich die blassen 
Nymphen unter dem Einfluss des Lichtes, häuten sich zum vierten 
Mal und werden jetzt zu Geflügelten. 

Das ist die II. Generation oder die Migrans alata- 
Generation. Denn diese Geflügelten verbleiben nicht auf der 
Fichte. Zum Fluge erstarkt verlassen sie die Mutterpflanze, um 
sich auf einer anderen Konifere, je nach der Chermes- Art auf 
einer Lärche, Kiefer oder Tanne niederzulassen. Hier erst legen 
die Geflügelten ihre zahlreichen Eier ab. Auch diese bleiben un¬ 
befruchtet, denn auch die Migrans alata ist ein parthenogenetisches 
Weibchen. Die Geflügelten haben fünfgliedrige Fühler im Gegen¬ 
satz zu den dreigliedrigen Fühlern der Fundatrix. Die Ueber- 
wanderung zur „Zwischenkonifere“ findet bald früher, bald später 



6 


im Jahre statt, je nach der Zeit der Reifung der Gallen. Der 
früheste Termin ist wohl die erste Hälfte des Juni, so bei Ch. 
cocdneus Chol., strobilobius Kalt., orientaüs Dreyf.; bei Ch. viridis 
Ratz, beginnt dagegen der Ausflug erst im halben Juli. 

Die Auswanderer legen ihre Eier stets auf den Nadeln der 
Lärchen, Kiefern und Tannen ab, woselbst sie auch saugen. 
Dabei scheiden sie meist reichliche Wolle* ab, sodass die zahl¬ 
reichen Eier unter den dachförmig angelegten Flügeln und der 
ausgeschiedenen Wolle geborgen sind. Etwa 14 Tage nach dem 
Ueberflug entschlüpfen den Eiern junge Larven, die alsbald von 
der Mutter wegkriechen, frühestens Ende Juni bis Ende Juli, 
während die geflügelten Mütter nach der Eiablage absterben und 
allmählig durch Regen und Wind von den Nadeln entfernt werden. 
Aus diesen Jungen entsteht eine III. Generation, ungeflügelt wie 
die erste und wiederum rein parthenogenetisch. Sie verbleibt 
ihr ganzes Leben auf der Zwischenkonifere und heisst des¬ 
halb Emigrans. ln ihrer körperlichen Beschaffenheit, insbesondere 
in der durch die Chitinplatten bedingten Hautstruktur ähnelt die 
junge Emigrans der Fundatrix, weshalb sie auch Fundatrix 
sp uria genannt worden ist zur Unterscheidung von der Fundatrix 
vera. Auch bebarrt sie bei den meisten Arten, Ch. viridis Ratz., 
strobilobius Kalt, und cocdneus Chol, den ganzen Rest der Saison 
im ersten Larvenzustand, um erst im nächsten Frühjahr gleich 
der Fundatrix zu neuem Leben zu erwachen. Bei Ch. sibiricus 
Chol, und Ch. oricntalis Dreyf. scheint die Emigrans dagegen 
rasch zu wachsen, sich noch vor Winter dreimal zu häuten und 
fortzupflanzen, dabei wieder ihresgleichen zu erzeugen. 

Im nächsten Frühjahr entwickelt sich die überwinterte Emi¬ 
grans-Larve nach dreimaliger Häutung zur Eierlegerin. 

Aus den Eiern der Emigrans gehen nun Larven hervor, 
die, zarthäutig bleibend, auf junge Nadeln des beginnenden Mai¬ 
triebs wandern, sich auf deren Unterseite ansaugen und rasch 
unter viermaliger Häutung zu Geflügelten entwickeln. Diese Ge¬ 
flügelten, ebenfalls parthenogenetische Weibchen, wiederholen in 
ihrer körperlichen Erscheinung in jeder Beziehung ihre Vorgänger 
von der zweiten Generation der Migrans alata, nur sind sie 
kleiner und vermögen kaum die Hälfte der Eier jener Vorgänger 


* Ch. strobilobius Kalt, nicht. 



7 


zu produzieren. Da aus diesen Eiern die Geschlechtstiere hervor¬ 
gehen, hat man diese IV. Generation die „Sexupara“-Generation 
genannt. Man könnte sie ebenso charakteristisch die Re mi¬ 
grans-Generation nennen, weil diese Geflügelten niemals auf der 
Zvvischenkonifere verbleiben, sondern zur Fichte zurückkehren. 
Da diese Sexupara-Geflügelten viel kleiner als die Migrantes 
alatae sind, sich daher rascher entwickeln als diese, sind sie 
stets die ersten CA«nw«s-Geflügelten, die in der Saison erscheinen, 
Mai, Juni. Auch sie setzen sich an die Nadeln, saugen hier und 
erzeugen gelbliche Flecken. Unter ihren dachförmigen Flügeln 
and öfters in Wolle eingebettet, verbergen sie schützend ihre 
wenig zahlreichen Eier (bis ca. 20). Aus diesen Eiern gehen nun 
die Geschlechtstiere, Männchen und Weibchen hervor, die V. 
Generation oder die Generation der Sexuales, die einzige 
gamogenetische Generation des Entwicklungszyklus. Sie ver¬ 
bleiben zunächst an den Nadeln, häuten sich unter den Flügeln 
der toten Mutter dreimal; Männchen und Weibchen sind unge- 
fliigelt, etwas zwerghaft, das Männchen mit auffallend längeren 
Gliedmassen versehen. Sie bekommen im Gegensatz zu den 
anderen ungeflügelten Generationen viergliedrige Fühler. Nach 
der Begattung legt das Weibchen sein einziges, aber befruch¬ 
tetes Ei ab, aus welchem noch in der Saison die Fundatrix- 
larve hervorkommt. Damit ist der Entwicklungszyklus geschlossen. 
Er ist zweijährig und enthält fünf Generationen: vier partheno- 
genetische und eine gamogenetische, drei sind ungeflügelt, zwei 
geflügelt. Die Generationen I und V leben nur auf der Fichte, 

II und IV auf der Fichte und auf der Zwischenkonifere, Generation 

III nur auf der Zwischenkonifere. 

Nur eine Chermes- Spezies, Ch. viridis Ratz., zeigt nach unseren 
jetzigen Kenntnissen den soeben geschilderten Entwicklungszyklus 
in voller Strenge. 

Die meisten Arten weichen dadurch ab, dass die 111. 
Generation der Emigrans auf der Zwischenkonifere in bezug 
auf ihre Nachkommen sich spaltet. Gleichsam unschlüssig ge¬ 
worden, bleibt ein Teil der Nachkommen auf der Zwischenkonifere 
zurück, während der andere der Tradition treu gebliebene Teil 
zu den zur Fichte heimkehrenden Sexuparen sich entwickelt. 
Der im Exil auf der Zwischenkonifere verbleibende Teil, dem es 
hier offenbar besser zusagt, erzeugt eine Generation nach der 



8 


andern, alle mehr oder weniger ursprünglich sich gleichbleibend. 
Das sind die Generationen der Exules oder Exulantes, die 
sich als eine Parallelgeneration lila neben die Sexupare ein¬ 
schalten lassen. 

Solche Exulantes sind es auch, welche uns bei Ch. piceae 
Ratz, fast ausschliesslich begegnen. 

Unsere Beobachtungen lehren in dieser Beziehung, dass kein 
Teil der Tanne über der Erde von Angehörigen solcher Exu¬ 
lantes verschont bleibt. Die Bilder, welche uns diese Schmarotzer 
darbieten, sind äusserst verschiedenartig, besonders in der Saison. 
Im Winter verharren sie mehr oder weniger erstarrt, jedoch in 
verschiedenen Altersstadien, auch als Eier, an Knospen und 
Trieben und an der Rinde des Hauptstammes. 

Im Frühjahr treffen wir sie vor allem auffällig an den Mai- 
trieben. Schon in die schwellende Knospe dringen die den Eiern 
entschlüpften äusserst beweglich umherwandernden jungen Exules. 
saugen hier sich festsetzend an Trieb und Nadeln. Der Maitrieb 
wird dadurch um so empfindlicher im Wachstum gehemmt, je zarter 
der Zustand ist, in dem er befallen wurde. Da leidet nun ganz 
besonders die neuerdings so beliebte aus dem Osten stammende 
Nordmannstanne. Da sie später austreibt, als unsere im Westen 
heimische Tanne wird sie besonders massenhaft befallen. Denn um 
diese Zeit konnten sich die auf unserer frühtreibenden Edeltanne 
angesiedelten Läuse schon erheblich vermehren. Die überwinterten 
legreifen Exul ans-Individuen, insbesondere an den Triebteilen 
der vor- und vorvorjährigen Zweige, erwachen mit dem Saftsteigen 
zu ungeheurer Fruchtbarkeit, wie die Eierhaufen auf unseren 
Präparaten und Zeichnungen kundgeben. Die Maitriebe der 
Weisstanne wachsen aber gleichfalls sehr früh, erstarken bald 
und leiden deshalb in der Regel wenig durch das Saugen der 
jungen Läuse. Allein die Triebe der Nordmannstanne spriessen 
erst erheblich später, und dadurch trifft sie das Heer der unter¬ 
dessen ausgekommenen Jungläuse in dem allergünstigsten Zustande 
für seine Saugtätigkeit, im allerungünstigsten Stadium für die 
Pflanze. Dicht gedrängt beginnen sie ihr Sauggeschäft, wenn 
die Trieb- und Nadelteile der auswachsenden Knospe noch 
gelblich und zart sind. Der Saftentzug macht den Trieb zwerg* 
haft, der zarte Gewebezustand ermöglicht zugleich die Defor¬ 
mierung. Das Endresultat ist ein kurzer Trieb mit kurzen uin- 



9 


gekräuselten Nadeln. Die Präparate und Bilder sprechen diese 
Missbildung aufs deutlichste aus. An derselben sind fast aus¬ 
schliesslich die jungen ungehäuteten Läuse schuld, welche den 
Eiern der überwinterten Mutterläuse entstammen. 

Dieser energischen Saugtätigkeit der Jungläuse folgt bald 
für die meisten ein Zustand der Lethargie. Mit der Erhärtung 
der Gewebe und der Verminderung der Saftintensität erschlafft 
die Lebensenergie der Jungläuse, ihr Wachstum hört auf, sie 
verharren ungehäutet und sich gleichbleibend an der Triebachse 
festsitzend. Wir werden später auf dieses Vorkommnis zurück¬ 
kommen. 

Ein Teil der Jungläuse jedoch, an den Nadeln des Maitriebs, 
erfährt Wachstum und Weiterentwicklung, und zwar in zweifach 
verschiedener Weise. 

Die einen, keine Wolle ausscheidend, werden nach drei¬ 
maliger Häutung zu Nymphen, nach einer vierten Häutung zu 
den geflügelten Sexuparen und verlassen wegfliegend die Pflanze. 

Die anderen, mehr und mehr Wolle ausscheidend, werden 
nach dreimaliger rasch vollzogener Häutung zu Eierlegerinnen. 
Sowohl die Mutterläuse, als die wenig zahlreichen Eier sind in den 
schneeweissen kugeligen Wollhäufchen versteckt, die jetzt oft zahl¬ 
reich auf der Unterseite der Tannennadeln zu finden sind. Ähn¬ 
liche Wollklümpchen sind schon früher von Dreyfuss auf der 
Unterseite der Nadeln der kanadischen Tanne gesehen worden, 
die Urheberin wurde von diesem Autor Ch. funitectus genannt. 

Ein weiteres oft sehr in die Augen fallendes Vorkommnis 
der Exulantes finden wir an der Rinde der Weisstannenstämme. 
An solchen Stämmen, jüngeren wie älteren, kann die Rinde gleich- 
mässig dicht, wie mit Schimmel überzogen erscheinen. Dieser 
Schimmel erweist sich als Wachswolle, ausgeschieden von den 
Mutterläusen, die in dicht gesäten Kolonien die Rinde bewohnen, 
in allen Alters- und Häutungsstadien, fast Laus an Laus neben¬ 
einander sitzend. 

Aber auch an der Rinde der Äste und Zweige finden wir 
Exulanten, ganz besonders an den vor- und vorvorjährigen 
Trieben, die, weniger Wolle ausscheidend, die grösste Fruchtbar¬ 
keit zu haben scheinen und aus deren Eiern alljährlich die Mai¬ 
triebe besiedelt werden, wie diese Mutterläuse selbst aus den 
Triebläusen des Maitriebs nach Überwinterung hervorgehen. 



10 


Auch an den Knospen, in den Nadelachsen der Triebe und 
in der Knospenschuppenhülle des jungen Triebes können eier¬ 
legende Exulanten angetroffen werden. 

Alle diese Exulans-Mütter entwickeln sich aus gleichen 
Larven, und das Experiment hat gezeigt, dass die verschiedenen 
Formen der Stammrinden-, Zweigrinden-, Nadel- und Knospen- 
Mutterläuse und ebenso die sexuparen Geflügelten aus den Eiern 
sich entwickeln, die im ersten Frühjahr von den Läusen am vor¬ 
jährigen Triebe erzeugt worden sind. Aber ebenso können aus 
den Eiern der Nadelwolläuse Knospen- und Rinden-Mutterläuse 
hervorgehen. 

Die einzelnen Formen der erwachsenen Mutterläuse sind aber 
keineswegs morphologisch identisch. In der Grösse und Gestalt 
und insbesondere in der Art und Ausdehnung der Chitinisieruug 
und in dem Wachsdrüsenreichtum ihrer Haut zeigen sich erheb¬ 
liche Unterschiede. Die an den Knospen sitzende Mutterlaus 
scheidet nur wenig Wolle aus, die Wachsdrüsenfelder ihrer Haut 
können fast vollständig verloren gehen, dafür entwickeln sich die 
Chitinplatten um so kräftiger und verdicken sich in der Mitte zu 
buckeligen Erhebungen, an denen noch die Skulptur der ehe¬ 
maligen Drüsenfelder erkennbar ist. 

In entgegengesetzter Richtung entwickeln sich einzelne der 
an alter Stammrinde lebenden Mutterläuse. Die Chitinisierung 
kann hier fast ganz verloren gehen, nur am Kopf und Prothorax 
bleiben verdickte Teile zurück, dafür verbleiben die Drrtsenfelder. 
und die Wacbsausscheidung nimmt eine besonders gesteigerte In¬ 
tensität an 

Es liegt nahe, daran zu denken, dass in dem dichten Woll- 
flaum der alten Stammrinde solche nahezu chitinlosen Formen 
gedeihen konnten, während an der Knospe eine kräftig chitinsierte 
Form besseren Schutz fand. Die Nadelinutterlaus steht zwischen 
beiden Extremen, ist kräftig chitinisiert, behält aber reiche Driisen- 
felder und scheidet reichlich Wolle und besonders derbe Fäden 
ab, weshalb sie Dreyfuss funitectus genannt hat. 

Obwohl die Extreme in hohem Grade verschieden sind, lassen 
sich doch Übergänge nachweisen, auch ist der gemeinsame Ur¬ 
sprung durch das Experiment der Zucht leicht festzustellen, so 
dass wir weder von verschiedenen Arten, noch von Abarten 
sprechen können. Es handelt sich lediglich um eine gewaltige Ver- 



11 


änderlichkeit der Form unter dem jeweiligen direkten Einfluss 
der Ernährungs- und Platzbedingungen, welche der Schmarotzer 
an der Wirtspflanze findet und denen sich die Larve im 
Laufe ihrer Häutungen anpasst. Dass aus den Eiern derselben 
Mutter bald die buckelige Knospenform, bald die drüsenreiche 
Rindenform hervorgehen kann, darf uns nicht mehr überraschen, 
als die Tatsache, dass ebenso bald geflügelte Sexuparen, bald 
tlügellose Exulans-Mütter den Eiern derselben Mutter entpriessen 
können. In letzterem Fall ist die morphologische Differenz noch 
eine ungleich grössere. 

Unter den mannigfaltigen Vorkommnissen, welche die Ex ul an s- 
Generation der Chermes piceae Ratz, darbieten, scheint mir eines 
von besonderem Interesse: ich meine die Beharrung der am Stamm¬ 
teil des Maitriebs angesiedelten Jungläuse im ersten Stadium 
durch die ganze Saison hindurch. Diese Beobachtungstatsache 
konnte eigentlich erst durch das Experiment der Zucht sicher 
festgestellt werden, da an der Zuchtpflanze allein jeder Zuzug 
abgeschlossen werden konnte. Solche Versuchspflanzen, die im 
Frühjahr mit einigen eierlegenden Stammüttern versehen wurden, 
zeigten nach wenigen Tagen ihre Triebe, und zwar besonders die 
heurigen und die vorjährigen zum Teil von Jungläusen besetzt, 
welche sich festsaugten und im Zustande des ersten Larven¬ 
stadiums die ganze Saison hindurch verblieben. 

Wir werden am Schlüsse nochmals auf dieses Vorkommnis 
zurückkommen. 

Aus der Exulaus-Generation entwickelt Ch. piceae auch, 
scheints alljährlich, die Sexupara-Generation. Auch diese Tat¬ 
sache lässt sich durch das Jahre hindurch fortgesetzte Experiment 
erhärten. Niemals fand ein Zuflug von Migrantes alatae statt, 
der Emigrans-Individuen geliefert hätte. 

Auch Eckstein * hatte schon an der Unterseite der Nadeln 
Nymphen und Geflügelte gefunden, die nach seiner Dar¬ 
stellung nur Sexuparae gewesen sein können. Mir ist es nun 
gelungen, die Rückkehr der sexuparen Geflügelten auf die Fichte 
sowohl im Freien ** zu konstatieren, als auch deren Übersiedelung 


* Zeitechr. f. Forst- u. Jagdw. XXII. 1890. 

** In einem Hansgflrtcben, in welchem ich zwischen den stark von 
Läusen besetzten Tannen einige Fichten gepflanzt hatte. 



12 


experimentell zu stände zu bringen. Wie bei allen Chermes- Arten 
setzen sich die Sexuparen an die Nadeln, saugen sich fest, legen 
alsbald die wenig zahlreichen Eier unter ihren dachförmig zu¬ 
sammengelegten Flügeln ab und gehen dann zu gründe. Die 
Wollabscheidung ist bei piceae nur eine spärliche. 

Auch die aus den Eiern erwachsende Generation der Sexua¬ 
les konnte ich sowohl künstlich erziehen als im Freien fest¬ 
stellen. Männchen und Weibchen konzentrierten sich gern an 
der Spitze des Triebs, häuteten sich auch zum Teil dreimal bis 
zum letzten Stadium der viergliedrigen Fühler. Nur einmal fand 
sich jedoch ein "Weibchen mit nahezu ausgereiftem grossem Ei. 
Niemals jedoch konnte ich eine Begattung beobachten, niemals 
fand ich ein abgelegtes Ei, niemals eine entschlüpfte Fundatrix. 
Die Generationen der Fundatrix, der Migrantes alatae und 
damit auch der Emigrans, sind auch mir unbekannt geblieben, 
ebenso das Erzeugnis der Fundatrix, die piceae- Galle an der 
Fichte. 

Bei der ungemeinen Häufigkeit der Exulans-Formen dieser 
Species, insbesondere in einzelnen Jahren und in Anbetracht der 
leichten Feststellung der Gallen und bei der auf eine solche Fest¬ 
stellung verwendeten Mühewaltung von seiten verschiedener 
Chermes-Forscher kann wohl ausgesprochen werden, dass die piceae- 
Galle in Mitteldeutschland aller Wahrscheinlichkeit nach 
fehlt, wie ja auch in diesem Gebiet die Galle der gleichfalls auf 
die Tanne emigrierenden Ch. Coccineus Chol, trotz alles Suchens 
nicht gefunden werden konnte, während sie im Nordosten Europas 
nach Cholodkovsky vorkommt. 

Wie werden auf das Fehlen der oben genannten drei Gene¬ 
rationen in dem Entwicklungscyklus von Chermes piceae noch 
später zurückkommen. 

Chermes piceae Ratz, ist durchaus nicht auf die Weisstanne 
beschränkt. Wie schon oben erwähnt wurde, gedeiht sie ganz be¬ 
sonders gut auf der Nordmannstanne und erreicht hier auch 
grössere Dimensionen des Körpers. Eckstein * hat das Vor¬ 
kommen einer Chermes auf der Nordmannstanne beschrieben 
und eine neue Species Ch. nordmannianae aufgestellt, ohne dia¬ 
gnostische Charaktere für seine neue Species anzuführen. Eine 

• l. c. 



13 


solche Species ist hinfällig, da sich mit Leichtigkeit Ch. piceae 
Ratz, auf die Nordmannstanne ansiedeln lässt und beide mor¬ 
phologisch völlig gleichartig sind. Infektionen mit Eiern, herüber 
und hinüber, führen stets zu legreifen Mutterläusen und weiterer 
Fortpflanzung. Auch auf Ab. pichta geht Ch. piceae über. 

Über ihre Bedeutung darf wohl konstatiert werden, dass 
sie von allen Chermes-Arten die schädlichste ist. Die starke 
Besiedelung der Maitriebe hat bei der Nordmannstanne schon 
wiederholt nach jahrelangem Siechtum zum Absterben geführt. 
Wenn auch diese Tatsache zunächst nur für Garten- und Park¬ 
anlagen eine Bedeutung hat, so darf doch auch, wenigstens für 
die Zukunft, eine forstliche Bedeutung nicht ausser acht gelassen 
werden. Für die an älterer Weisstannenrinde schmarotzende Form 
der Ch. piceae Ratz., die einst (1843) Ratzeburg das Objekt 
für seine Namengebung geliefert hat, ist die forstliche Bedeutung 
nicht gering, wie einzelne in der forstlichen Literatur verzeichnete 
Fälle zeigen. 

Die befallenen Stämme kränkeln und fallen dann Borken¬ 
käfern zum Opfer. Eine etwa 40jährige, von Ch. piceae befallene 
Tanne im hiesigen Schlossgarten habe ich jahrelang beobachtet. 
Sie hatte Cherm. piceae am Stamme, an den Zweigen und Knospen, 
sie kränkelte von Jahr zu Jahr mehr und ist dann vor etwa vier 
Jahren abgestorben. 

Fragen wir uns nun: welche Stellung nimmt die von uns 
festgestellte Biologie der Ch. piceae Batz. im Vergleich zu dem 
normalen fünfteiligen Cyklus ein? Wir konstatierten das Vor¬ 
kommen der Generationen lila, IV und V, denn wir konnten 
den Nachweis erbringen, dass ausser der zahlreich variierenden 
parthenogenetischen Generation III a und der geschlechtsgebärenden 
Generation IV auch die gamogenetische Generation V vor¬ 
kommt. Allein diese Generation scheint impotent geworden zu sein, 
Begattung und befruchtete Eier scheinen zu fehlen. Wenn diese 
durch die Beobachtungsdata bis zu hoher Wahrscheinlichkeit ge¬ 
stutzte Annahme richtig ist, so wird uns auch verständlich, wes¬ 
halb die Generation I, II und III und die piceae-GdWzn fehlen. 
Der Schluss der Kette im normalen Entwicklungscyklus ist durch 
das Ausfallen des befruchteten Ei’s unterbrochen worden, und 
damit sind die primären Fichtengenerationen der Species, 
die eigentlich typischen Generationen der Gattung 



14 


Cherraes, die Fundatrix und die Gallengeneration der Ge¬ 
flügelten für Ch. piceae verloren gegangen. 

Eine Erklärung dieser Erscheinungen im Sinne des Werdens 
erscheint nicht unmöglich. 

Chermes piceae hat auf der Tanne ein überaus zusagendes 
Exil gefunden. Eine solche Annahme stützt sich besonders auf 
zwei Beobachtungsdaten: 

Erstens ist die Fruchtbarkeit der Haupt-Exulans-Form 
an der Rinde der jungen Triebe eine ungeheure. Ich habe pro 
Weibchen 134 Eier gefunden, Eckstein* 110 bis 120. Diese 
Fruchtbarkeit steht derjenigen der wahren Fundatrix kaum nach. 
Es scheint darnach die aus der Zahl der Eiröhren bei den ver¬ 
schiedenen Chermes-Generationen abgeleitete Schlussfolgerung 
Cholodkovskys, * dass diese Zahl „bei den auf ZwischenpHanzen 
lebenden Generationen (Fundatrices spuriae, Sexuparae, 
Exules) im allgemeinen viel kleiner ist als bei den auf der Fichte 
saugenden Generationen“ für Ch. piceae nicht zuzutreffen, wie auch 
sein weiterer Satz, dass „die auf Zwischenpflanzen lebenden Gene¬ 
rationen überhaupt aus kleinen Individuen bestehen“, auf Ch. piceae 
kaum angewendet werden kann. Freilich fehlen hier die auf der 
Fichte lebenden Generationen I und II zu einem Vergleich. Aber 
die absoluten Zahlen der Körpergrösse und Eierzahl lassen die 
Frühjahrszweigmutterlaus der pcrae-Exulans einer wahren 
Fundatrix anderer Species kaum nachstehen. 

Ein zweites Moment liegt in dem Formenreichtum der 
p/m/e-Exulanten. Keine andere CAemes-Exulans, deren Cyklus 
ein geschlossener zur Fichte zurückkehrender ist, weder an 
Tanne, noch an Lärche und Kiefer, zeigt auch nur annähernd 
eine solche Mannigfaltigkeit verschieden gestalteter und an ver¬ 
schiedenen Teilen der Wirtspflanze lebender Exulans-Formen. 
Nur Ch. pini Koch (und strohi lltg.), deren Cyklen noch unerforscht 
sind, zeigen ähnliche Mannigfaltigkeit Nun unterliegt es aber 
kaum einem Zweifel, dass Arten, die unter sehr günstigen und 
mannigfaltigen Lebensbedingungen leben, auch besonders zur 
Variation neigen, in ihrer Formgestaltung gleichsam erfinderisch, 
schöpferisch und ausgiebig werden. So sehen wir an der Tanne 

• Über den Lebenscyklus der Chermes- Arten. Biol. Zentralbl. Bd. XX. 
J. 1900, p. 276 u. 277. 



15 


die Rinden-, Nadel- und Knospenformen der p'ceae-Exulans durch 
die Gunst der Verhältnisse, welche diese Wirtspflanze 
ihrem Schmarotzer darbietet, entstehen. 

Zugleich lässt eine solche Mannigfaltigkeit in der Formgestal¬ 
tung einer Art auf den Prozess des Werdens schliessen, Ch. piceae 
ist eine auf der Tanne üppig gedeihende werdende Art. Wir 
müssen nun zugeben, dass dieser Werdeprozess unter neuen 
Lebensbedingungen nicht ohne Folgen für die Konstitution der 
Parasiten vor sich gegangen sein konnte. Eine Anpassung an 
neue Lebensbedingungen hat mehr und mehr eine Verminderung 
der Tauglichkeit für die früheren zur Folge. Aber die Macht der 
Vererbung erhält noch lange Zeit das gesetzmässig gewordene 
Herkommen des früheren Lebens fest. So sehen wir noch heute, 
vielleicht alljährlich, vielleicht in einzelnen Jahren nicht mehr, im 
Frühjahr sexupare Individuen aus Exulanten entstehen, welche 
der Rückkehr zur Fichte und der Entstehung von Geschlechts¬ 
tieren dienen. 

Aber unter normalen Verhältnissen werden die Sexuparen 
von Emigranten geboren, das heisst von direkten Nachkommen 
der frisch von der Fichte zur Tanne herübergekommenen Mi- 
grantes alatae. Bei Ch. piceae aber entstehen die Sexuparen 
von Exules, welche Generationen hindurch auf der Tanne gelebt 
und konstitutionell mehr und mehr verändert worden sind. Darf 
es uns da wundern, wenn .auch die Sexuparen nicht mehr die 
Reichen geblieben sind und ebenso die von ihnen gezeugten 
Sexuales? Das frische Blut der Migrantes alatae, welches 
gleichsam die Tradition von der Fichte bringt und konserviert, 
ist für Ch. piceae nach und nach verloren gegangen, in dem 
Masse, als die Geschlechtsgeneration durch Veränderungen der 
Sexuparen in ihrer Funktion, befruchtete Eier zu erzeugen, ge¬ 
schwächt worden war. Dieser Ausfall musste die Umbildung der 
Ch. piceae zu einer specifischen Tannenspecies beschleunigen 
und vollenden. Dass noch heute die Sexuparae und Sexuales 
gezeugt werden, ist durch die konservative Macht der Vererbungs¬ 
kraft zu erklären, in ähnlicher Weise, wie bei rudimentären 
Organen. 

In der Tat dürfen wir sagen, dass bei Ch. piceae durch 
Zurückbildung jener beiden Generationen die Sexualität rudi¬ 
mentär und impotent geworden und die Species zur rein 



16 


parthenogenetischen Fortpflanzung übergegangen zu sein 
scheint. 

Eine rein parthenogenetisch sich fortpflanzende Species 
ist immer noch für unsere überbrachte Schulmeinung ein wahres 
Monstrum. Ich muss gestehen, dass ich mich selbst gegen eine 
solche Annahme lange gesträubt habe. Ich habe selbst bei 
drei verschiedenen Pflanzenlausfamilien für je eine Gattung, 
beziehungsweise Species, für die Gattungen Mindarus, Holz¬ 
neri a und gerade für Chermes piceae die Geschlechtsgenerationen 
nachgewiesen, welche vordem unbekannt waren, und es lag mir 
daher der Gedanke nahe, dass bei Ch. piceae die gamogenetische 
Generation vielleicht nur örtllich unwirksam geworden sei. Ich 
war für die Chermes- Arten immer geneigt, die rein parthenogene¬ 
tischen Cvklen für örtlich beschränkte zu halten, in dem Sinne, 
wie bei Psyche helix Sieb., welche sich bei uns rein partheno¬ 
genetisch, südlich der Alpen aber gamogenetisch fortpflanzt. 
Eine solche Auffassung habe ich auch 1897 in einem Referat der 
Arbeiten Cholodkovskys vertreten, in dem Sinne, dass die im 
höheren Norden lebenden Chermes-Arten zu lokaler reiner Par¬ 
thenogenese hinneigen. Allein die Beobachtungen unserer im süd¬ 
westlichen Deutschland in einem für die Weisstanne besonders 
günstigen Gebiet lebenden Ch. piceae lassen sich mit einer solchen 
Auffassung umso weniger vereinbaren, als die unserem Ch. piceae 
nächst verwandte Ch. cocäneus Chol, in den russisch-sibirischen 
Wäldern gamogenetisch lebt. Ich muss mich deshalb jetzt zu 
der Annahme entschliessen, dass Ch. piceae aller Wahrscheinlich¬ 
keit nach eine rein parthenogenetisch sich fortpflanzende 
Species geworden ist, obgleich ich die gamogenetische Generation 
dieser Species nach weisen konnte. Dieses Vorkommnis ge¬ 
winnt ein besonderes Interesse dadurch, dass die Ent¬ 
stehung einer reinen Parthenogenese durch Rückbildung 
der zur Sexualität führenden Generationen wahrschein¬ 
lich gemacht werden konnte. Cholodkovsky hat in einer 
neueren Publikation * zahlreiche Fälle aus zoologischem und 
botanischem Gebiete aufgeführt, in welchen aller Wahrscheinlich¬ 
keit nach rein parthenogenetische 'Fortpflanzung für die Species 
besteht. Dieser Autor hat auch mit Recht hervorgehoben, dass 


* Biol. Zentralbl. Bd. XX. J. 1900, p. 274 u. f. 



17 


wir nur durch die Macht der Gewohnheit die reine Partheno¬ 
genese für unverständlich zu halten geneigt sind und dass uns 
die gamogenetische Fortpflanzung nur deshalb verständlich er¬ 
scheine, weil sie die gewöhnliche Fortpflanzungsart ist. We i s m a D.n * 
hat sich besonders gegen die herrschende Vorstellung ausgesprochen, 
dass die geschlechtliche Befruchtung ein Leben-erweckender oder 
Leben-erneuernder Vorgang sei. Weis mann hebt hervor, dass 
es Arten gibt, die sich heute nur noch parthenogenetisch 
fortpflanzen. Er selbst hat den Süsswasserkrebs Cypris rep- 
tms während 16 Jahren in etwa 80 Generationen hindurch ge¬ 
züchtet, ohne je Männchen gefunden oder in der Samentasche der 
Weibchen Zoospermien gesehen zu haben. 

Cholodkovskv hat für eiue Reihe von Chennes-Artm gezeigt, 
dass neben dem normalen fünfteiligen Cyklus auch vereinfachte 
Cyklen mit nur parthenogenetischen Generationen bestehen. So 
ltestehen neben Ch. strobilobius Kalt, die sehr nahestehenden Ch. 
praecox Chol, und Ch. tardus Dreyf., neben Ch. viridis Ratz, die 
ebenfalls nahestehenden Ch. abietis Kalt, und Ch. viridanus Chol. 
Die Ch. praecox , tardus und abietis Kalt, zeigen nur noch die 
Generationen I und II, indem aus der Migrans alata direkt wieder 
die Fundatrix entsteht und der Cyklus dadurch in einem Jahre 
unter reiner Parthenogenese vollendet wird; Ch. viridanus hat 
sogar nur eine einzige parthenogenetische Generation. Die Ch. 
praecox, tardus und abietis Kalt, stehen morphologisch ihren Zu¬ 
gehörigen von dem fünfteiligen Cyklus so nahe, das sie früher 
mir als Parallelgenerationen einer und derselben Species aufgefasst 
wurden. Es ist das Verdienst Cholodkovskys, nachgewiesen zu 
haben, dass für die Formen der vereinfachten Cvklen auch mor- 
phologische Unterschiede bestehen und dass ihre Cyklen vollständig 
selbständig geworden sind, so dass sie als besondere rein partheno¬ 
genetische Arten oder Varietäten aufgefasst werden müssen, welche 
aber im Gegensatz zu Ch. piceae auf der Fichte geblieben sind. 
Nur Ch. viridanus Chol, ist eine rein parthenogenetische Form 
der Zwischenpflanze geworden, und zwar der Lärche. 

Ich möchte nun Ihre Aufmerksamkeit zum Schlüsse nochmals 
auf eine schon mehrfach berührte Beobachtung zurücklenken, 
nämlich auf das Vorkommnis der die ganze Saison hindurch 


* Vortrftge zur Descendenztheorie. 1902. I., p. 358 u. 59. 

2 



18 


im ersten Larvenstadium beharrenden, an den Achsen der Mai- 
triebe und zum Teil auch der vorjährigen Triebe festgesaugten 
Jungläuse. Dieses Beharren im gleichen Häutungsstadium 
von Mai bis April ist ein höchst merkwürdiges Vor¬ 
kommnis, wenn wir an die in zwei bis drei Wochen mit drei 
oder gar vier Häutungen vollendete Entwicklung der Nadel-Woll- 
läuse und Sexuparen denken. Wenn uns auch durch Verände¬ 
rungen der Saftzustände im allmählich verholzenden Triebe eine 
Erklärung für das Aufhören des Wachstums und der Häutungen 
nahegelegt wird, so verbleibt uns doch noeh die Frage nach der 
Bedeutung einer solchen „larvalen Beharrungsform* anf 
dem ersten Stadium der Exulans. 

Es liegt nabe, hierbei an die rein parthenogenetische 
Fortpflanzungsweise unserer Chermes -Art zu denken und sich die 
Frage zu stellen, ob in dem Vorkommnis einer larvalen Be¬ 
harrungsform vielleicht ein Ersatz für die Vorteile, die aus der 
Geschlechtsvermischung bei der amphigonen Fortpflanzung resul¬ 
tieren, gefunden werden kann. Zugleich muss uns die starke 
Tendenz der Ex ul ans-Generation von Ch. piceae nach mannig¬ 
faltiger Variation in der Formgestaltung in Erinnerung kommen. 

Die Bedeutung einer zweigeschlechtlichen Fortpflanzung 
liegt vor allem in dem Ausgleich der verschiedenen Charaktere 
der Gatten im Sinne der Herstellung eines mittleren Durch¬ 
schnitts bei den Nachkommen, in der Erhaltung eines mittleren 
Typs der Art, in dem konservativ wirkenden Gegengewicht 
gegenüber der Variation. Auch Weismann,* der m der Am- 
phimixis in erster Linie ein Mittel zur Erhöhung der Anpassungs¬ 
fähigkeit der Organismen an die Lebensbedingungen erblickt, 
anerkennt doch auch die Bedeutung derselben, durch die stete 
Kreuzung der Individuen eine allmählich sich steigernde Konstanz 
der Arten herbeizuführen. Kann nun eine solche Rolle auch der 
larvalen Beharrungsform zugewiesen werden? Wenn wir be¬ 
denken, dass eine solche Larve ein volles Jahr sich gleich bleibt, 
dabei ihre Charaktere erhält und festigt, um solche, im folgenden 
Frühjahre geschlechtsreif geworden, auf ihre Nachkommen unver¬ 
ändert zu übertragen, auf Nachkommen, die zum Teil wiederum 
wie die Mutter in der Beharrungsform verbleiben, so scheint die 

• Vorträge znr Descendenztheorie. 1902. II., p. 228 u. 229. 



19 


Auffassung sehr berechtigt, dass einer solchen, von Generation 
zu Generation fortlaufenden larvälen Beharrungsform, 
welche ihr Keimplasma unbeeinflusst bewahrt, sehr wohl 
die Bedeutung eines konservativ wirkenden Faktors, gleichsam 
eines morphologischen Ruhepunktes inmitten der wilden Variation 
und der rasch auf einander folgenden rein parthenogeneti sehen 
Propagationscyklen zugesprochen werden kann. 

Aber noch eine andere Bedeutung liegt für eine solche lar- 
vale Beharrungsform nahe. Es ist wiederholt beobachtet worden, 
dass ruhelos fortgesetzte parthenogenetische Fortpflanzung mit 
einer allmählichen Schwächung und Erschöpfung der Fortpflan¬ 
zungskraft verbunden ist Insbesondere hat Bai bi an i * eine pro¬ 
gressive Verminderung der Eiröhrenzahl in den Nachsommer- und 
Herbstgenerationen der Reblaus beschrieben und daraus sogar den 
Schluss auf eine „sterilitö finale“ der ausschliesslich parthrno- 
genetiseh sich fortpflanzendeu Generationen gezogen. Auch Cho- 
lodkovskv ** hat gezeigt, dass bei den ausschliesslich partheno- 
genetisch sich fortpflanzenden Exulans-Generationen seiner CA. 
Sibiriens , die späteren Generationen immer kleiner werden, infolge 
dessen sie auch weniger Eier legen. Auch ich *** habe für die 
Wurzellaus der Tanne nachgewiesen, dass deren Fruchtbarkeit im 
Herbst stark abgenommen hat. 

Nun haben wir aber oben gesehen, dass tatsächlich aus der 
ein Jahr lang im ersten Larvenstadium verharrenden Junglaus 
der heurigen Triebe im folgenden Frühjahr eine mit ausserordent¬ 
licher Fruchtbarkeit gesegnete Mutterlaus hervorgeht. Wenn nun 
auch in den Saftverhältnissen der Pflanzenteile im Frühjahr ein 
wichtiger kausaler Faktor für die Steigerung der Fruchtbarkeit 
erblickt werden muss, so darf doch auf der anderen Seite auch 
der langen Ruhepause während der Verharrung im ersten Larven¬ 
stadium eine günstige Wirkung im Sinne der Erhaltung, ja sogar 
der Steigerung der Fruchtbarkeit zugesprochen werden. 

Die Biologie der Chermes piceae Ratz, hat uns, wie wir 
im Laufe unserer Darstellung gesehen haben, Veranlassung ge- 

* Le phylloxera etc. Institut de France, Akademie des Sciences. Obser¬ 
vation s sur le phylloxera. IV. 1884. 

** Beiträge zu einer Monographie der Conifereiilituse. I. Teil. Chermes- 
arten. 1. Heft. 1895. 

*** Allgem. Forst- u. Jagdzeitung. 75. Jahrg. 1899, p. 406. 

2 * 



20 


boten, eine Reihe allgemeiner Betrachtungen anzustellen und Er¬ 
klärung für die aufgeworfenen Fragen zu versuchen. 

Wir haben den Ausfall der wichtigsten Fichten¬ 
generationen bei dieser Species aus der Schwächung 
und Rückbildung der zum befruchteten Ei führenden 
Generationen und diese Schwächung wieder aus dem 
auffälligen Gedeihen der exules auf der Tanne und 
der daraus resultierenden konstitutionellen Verände¬ 
rung derselben wahrscheinlich zu machen gesucht Wir 
sind durch diese Betrachtungen zur Annahme einer aus¬ 
schliesslich parthenogenetischen Fortpflanzung der Ch. 
piceae gelangt und haben zuletzt in dem Auftreten einer lar- 
val en Beharrungsform einen Ersatz für Vorteile amphi- 
goner Fortpflanzung im Sinne der Bewahrung des Typs 
der Species und der Erhaltung ihrer Fruchtbarkeit zu 
finden gesucht. 

Ob diese Schlussfolgerungen und Erklärungsversuche in allen 
Punkten das Richtige treffen, kann erst die erweiterte Forschung 
und Kritik der Zukunft lehren. 



Die Erdbeben in Baden im Jahre 1901. 

Von M. Relohmann, 

Lehraratipnktlk&nt in Knrlinih«. 

Im Jahre 1901 sind zwei grössere Erdbeben in Baden wahr¬ 
genommen worden; das eine fand statt am 24. März, das andere 
am 22. Mai. Beide betrafen Oberbaden nebst Teilen der an¬ 
grenzenden Nordschweiz. 

Erdbeben am 24. März. 

Werden die Beobachtungen einer Erderschütterung einer ein¬ 
gehenden Erörterung unterzogen, so müssen hauptsächlich die 
Erdbebenelemente, d. h. die Feststellung der Eintrittszeit und 
Dauer der Erschütterung, ihrer Intensität, Richtung und Wirkung 
ins Auge gefasst werden. 

Eintrittszeit. Was zunächst die Ermittelung des genauen 
Zeitpunktes des Eintretens der Erschütterung betrifft, so stösst 
man hier auf nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten. Es macht 
sich eben der Mangel an empfindlichen Instrumenten, Seismo¬ 
metern, geltend. Die Beobachtungen sind rein subjektiver Natur 
und müssen deswegen mit grosser Vorsicht aufgenommen, gegen¬ 
seitig verglichen und auf ihre Richtigkeit und Genauigkeit jeweils 
geprüft werden, um ein möglichst genaues Bild von der Erbeben¬ 
erscheinung zu erhalten. Dabei muss sich der Bearbeiter eines 
Bebens selbst auch der grössten Objektivität befleissigen und sich 
vor allem davor hüten, mit einer vorgefassten Meinung bezüglich 
des Ortes der Entstehung und Ursache des Erdbebens an die 
Durcharbeitung des eingegangenen Materials heranzugehen. In 
der grössten Anzahl der eingelaufenen Berichte sind nun Angaben 
über die Eintrittszeit gemacht worden; aber sehr viele müssen 
als nur „ungefähr“ bezeichnet und deshalb wertlos ausser Acht 
gelassen werden, andere wieder, wie der Bericht von Inzlingen 
4 h 10', Norsingen-Waldshut, können, da sie so beträchtlich von 
der mittleren Zeitangabe abweichen, unmöglich richtig sein, und 



22 


nur wenige, ganz genau fixierte Angaben können einer weiteren 
Diskussion unterworfen werden. Wie widersprechend und für 
eine Ermittelung der genauen Zeit des Eintretens der Erschütterung 
die Angaben oft sind, möge folgendes beweisen. Aus Lörrach 
sind im ganzen sechs Berichte eingegangen; von ihnen geben drei 
die. Zeit 4 h 15', einer zwischen 4 h 15' bis 4 h 30', einer 4 h 25' 30', 
der letzte 4 b 26'. Selbst die Berichte, welche Anspruch auf Ge¬ 
nauigkeit erheben, sei es AUS, dass direkt vor oder nach der Er¬ 
scheinung auf die Uhr, die richtig gehe, geschaut wurde, oder 
dass die Uhr infolge des Stosses wie in Muttens stehen blieb, 
weichen noch um 6' Minuten von einander ab. Die Berichte 
letzterer Art seien kurz angeführt: 


Albbruck 

Steinen 

Zell 

Atzenbach 
Sulzburg 
Staufen 
St. Peter 


4 h 25' 
4 h 20' 

Basel u. Muttens 4 h 22'. 


4 h 23' (nach dem Stoss) 
(nach Postzeit) 
(nach Postzeit) 
(nach Postzeit) 

4 h 23' 22" (nach Postzeit) 
(nach Bahnzeit) 
(nach Postzeit) 


4 26' 
4 h 21' 
4 h 20' 


Zwischen den einander sehr nahe liegenden Orten Steinen 
und Zell eine Differenz von 5', zwischen den entfernteren St. 
Peter und Zell keine Differenz! Aus alledem folgt, dass eine 
wissenschaftlich genaue Zeitangabe sich nicht machen lässt. Als 
Basis für weitere Untersuchungen über die Geschwindigkeit der 
Fortpflanzung der Erdbeben wellen oder zur Ermittelung des Herdes 
erweisen sich die Zeitangaben als unbrauchbar. Man kann 
höchstens den Schluss ziehen, dass die Eintrittszeit zwischen 
4 h 20' und 4 h 26' a. ra. liegen muss. 

Dauer der Erschütterung. Ueber die Dauer des Bebeus 
liegt gleichfalls eine Reihe von Beobachtungen vor; aber auch 
hier gilt das oben Gesagte; sie schwanken ausserordentlich, da 
auch sie nur auf Schätzung beruhen. Eine Anzahl von Berichten 
wie Fröhnd 3', Gersbach 1' kommen nicht in Betracht; auch 
Angaben von 1' oder 30"' sind wohl viel zu hoch geschätzt. 
Werden die ungenauen und unmöglich richtig sein könnenden, 
wozu ich alle zähle, welche eine Dauer von 30" und darüber 
angeben, beiseite gelassen, so bleiben für eine weitere Besprechung 



23 


Doch 83 Beobachtungen übrig. Davon geben 5 eine Dauer unter 
2' an. Es sind die Berichte aus: 

Alfcert-Hauenstein ... 1" 

Rändern.1—1,5" 

Lörrach.1" 

Maulburg.1" 

Wiechs.1,5". 

9 eine Dauer über 10" und zwar: 

Albbrack.15" 

Badenweiler.20" 

Langenau.11—13" 

Müllheim.25" 

Niederhof.15—20" 

Oberweiler.22" 

Thiengen.10—15" resp. 10—12" 

Marnbach.11". 

Die Angaben unter 2" stehen zum Teil im Widerspruch mit 
Berichten aus dem gleichen Ort wie in Lörrach mit zwei Berichten 
von 2", ebenso der Bericht von Maulburg mit einem von 8-10". 
Die Berichte von Albert-Hauenstein und Albbruck können auch 
nicht richtig sein; denn es ist nicht denkbar, dass bei der geringen 
Entfernung der Orte in der Dauer eine Aenderung von 14" hätte 
statttinden können. Die weit überwiegende Mehrzahl der Beob¬ 
achter gibt die Dauer zwischen 2—10" an, davon wieder die meisten 
2—3". Wenn man nun bedenkt, dass die Angaben nur auf 
Schätzung beruhen, und wie leicht man sich bei so kurzen Zeit¬ 
räumen überschätzt, so dürfte man mit der Annahme, das Beben 
habe 2—3" gedauert, der Wahrheit ziemlich nahe kommen. Die 
Annahme findet noch eine Stütze darin, dass sie ziemlich gleich- 
massig über das ganze Gebiet verteilt ist. 

Auch über die Dauer der einzelnen Stösse sind mehrere 
Berichte gemacht worden; in weit überwiegender Mehrzahl wird 
eine Sekunde als Dauer des Stosses gemeldet. 

Verbreitungsgebiet. Das zusammenhängendeSchütter- 
gebiet umfasst so ziemlich den südlichen Schwarzwald nebst Teilen 
der nordwestlichen Schweiz. Die Westgrenze fällt annähernd mit 
der Yerwerfungsspalte, welche die diluvialen Schottermassen des 
Hlieintales von der mesozoischen und tertiären Vorbergszone des 
Schwarz waldmassives trennt, zusammen und verläuft über Auggen- 















24 


Eschbach-Freiburg. Positive Nachrichten aus Orten der Rheintal¬ 
ebene liegen nicht vor. Ganz isoliert vom eigentlichen Erschüt¬ 
terungsgebiet ist Mülhausen i. E., wo nach Bericht der Badischen 
Presse morgens gegen 4 Uhr ein Erdbeben verspürt wurde. 

Nach Norden ist das Schüttergebiet durch das Glottertal 
abgegrenzt; gegen Osten sind die äusserst gelegenen Orte, die 
betroffen wurden, Vöhrenbach, Neustadt-Kappel-Thiengen. Der 
südlichste Ort dürfte Flumenthal bei Solothurn sein, wo im Schul¬ 
hause ein Blumentopf, der von der Decke des Zimmers an einem 
dreiteiligen Faden herabhing, in Schwingung gesetzt und ein Faden 
abgerissen wurde. Ob das Beben bis an die Gestade des Genfer- 
sees, wie man aus Lausanne meldet, sich fortpflanzte, ist höchst 
unwahrscheinlich. Ueberblickt man das gesamte Erschütterungs¬ 
gebiet, so erkennt man, dass es ungefähr die Gestalt einer Ellipse 
hat, deren längerer Durchmesser NO-SW läuft, deren kürzerer 
NW-SO, wie aus beigelegter Karte zu ersehen ist. 

Art der Bewegung. Die Art der Erschütterung wird sehr 
verschiedenartig angegeben. Bald als ein Stoss, ein Ruck, bald 
als ein oder mehrere Stösse, verbunden mit wellenförmiger Be¬ 
wegung des Bodens, bald nur als einfach schwankende Bewegung, 
als ein Zittern des Untergrundes. Dabei sind die Angaben ziemlich 
regellos über das ganze Gebiet zerstreut; sehr oft widersprechen 
sich die Angaben aus dem gleichen Ort Dagegen liegen aus 
Lörrach übereinstimmende und bestimmt lautende Angaben vor. 
Sämtliche fünf Berichterstatter aus Lörrach sprechen von einem 
Stosse mit Erschütterung, ^ als ob ein schwerer Gegenstand auf 
den Fussboden gefallen wäre begleitet von einem windstossartigen 
Geräusch. Nach dem Berichte des Herrn Dr. Grether erfolgte 
der Stoss in vertikaler Richtung von unten. Auch von dem 
Beobachter aus Inzlingen, das nahe bei Lörrach liegt, wird die 
Erschütterung geschildert als „ein Stoss ähnlich dem Fallen eines 
schweren Gegenstandes mit Getöse“. Die Leute in Rändern ver¬ 
spürten einen einzigen Stoss ohne wellenförmige Bewegung. Im 
ganzen wurden aus 22 Ortschaften Berichte eingeschickt, in denen 
die Erschütterung als ein kurzer Stoss oder Ruck bezeichnet ist. 
Aus 28 Orten liegen Berichte vor, in denen die Beobachter die 
Bewegung eine wellenförmige nennen verbunden mit einem oder 
mehreren, meist zwei Stössen. Eine genau detaillierte Beschrei¬ 
bung dieser Art der Bewegung hat in dankenswerter Weise Herr 



25 


Professor A. Hauser aus Staufen gegeben. Er schreibt: „Ich lag 
wachend im Bett im zweiten Stock. Im Zimmer unter mir (ver¬ 
schlossen und unbewohnt) erfolgten im Abstand von 3 / 4 Sekunden 
zwei starke Stösse, als ob zwei schwere Säcke auf den Boden 
geworfen würden.“ Wo zwei Stösse beobachtet wurden, ist zum 
Teil auch Aufschluss darüber gegeben, welcher von den beiden 
der stärkere war. So meldet man aus Müllheim, dass der zweite 
Stoss weit heftiger war wie der erste, ebenso aus Todtnauberg, 
Waldshut, Kleinthal und Wiechs; in Oberweiler soll der erste 
stark, der zweite schwach gewesen sein. In Marnbach, Fröhnd, 
Furtwangen wurde nur ein Stoss mit Wellenbewegung verspürt; 
dabei ging in Häg, Fröhnd, Furtwangen, Untermünsterthal der 
Stoss dem Zittern des Bodens voraus; in Klein-Herrischwand lag 
der Stoss in der Mitte, ebenso in Wisleth; von da schreibt man 
von leisem Zittern, dein ein Stoss folgte und mit rollenartigem 
Geräusch endigte. Es war, als ob die Wohnung auf Rollen fort¬ 
bewegt würde und plötzlich über einen Stein ging. In Schopf¬ 
heim, Sulzburg wird die Bewegung übereinstimmend als wellen¬ 
förmiges Rollen bezeichnet, dem ein heftiger Stoss folgte. Aus 
23 Orten liegen Beobachtungen vor, in welchen die Erschütterung 
als Wellenbewegung oder Zittern des Bodens verzeichnet ist. Es 
lautet der Bericht aus Aichen: Wellenförmige Bewegung des 
Bodens. Der Boden zitterte bemerklich. Herr Hauptlehrer Hep- 
ting aus Eschbach spricht von „Auf- und abwärtsgchendem Rüt¬ 
teln mit nachfolgendem donnerähnlichem Geräusch“. Die Bericht¬ 
erstatter in Fischbach und Kappel hatten den Eindruck einer 
rollenartigen Erschütterung, wie wenn eine grosse Masse Schnee 
vom Dache fällt. Sehr oft wird die Erschütterung verglichen mit 
der, welche das Vorbeifahren eines schwerbeladenen Fuhrwerkes 
auf gefrorenem Boden, oder einer Schnellzugslokomotive, der Gang 
einer schweren Maschine, oder das heftige Zuschlägen einer Tür 
in einem leicht gebauten Hause verursacht. 

Richtung der Bewegung. Bei dem Versuche einer ge¬ 
nauen Bestimmung der Richtung der Stösse und der Fortpflanzungs¬ 
richtung der Erdbebenwelle und dem Versuche aus diesen Daten 
den Erdbebenherd zu ermitteln, stehen nicht minder wie bei der 
Ermittelung der Eintrittszeit Schwierigkeiten entgegen. Da Erd¬ 
bebenapparate im betroffenen Gebiet nicht vorhanden sind, die 
Angaben nur auf subjektivem Empfinden beruhen, weil ein Ver- 



26 


schieben von Gegenständen, wonach die Fortpflanzungsrichtung 
hätte bestimmt werden können, nur selten stattfand, so müssen 
die trotzdem gezogenen Schlüsse mit grosser Vorsicht aufgenommen 
werden. Wirft man einen Blick auf beigefügtes Kärtchen, in 
welchem die Fortpflanzungsrichtungen eingezeichnet sind, so 
scheinen letztere ziemlich regellos im ganzen Gebiet orientiert zu 
sein; bei längerem Betrachten der Richtungen jedoch lassen sich 
aus dem Wirrwar gewisse Richtungen herausfinden, welche vor- 
herrschen und nach den Richtungen der Windrose um einen Punkt 
im unteren Wiesental sich anordnen. 

Oestlich vom Wiesental herrscht die Richtung West-Ost 
vor; ich nenne Adelhausen, Dossenbach, Gersbach, Herrischried, 
Alpfen, Aichen, Thiengen, Waldshut; gegen Süden längs des 
Rheines hat man vorherrschend die Richtung S—N, Grenzach— 
Riehen, Minsein, Rheinfelden, Brennet—Albbruck; Muttens—Basel 
zeigen die Richtung SW—NO. Westlich vom Wiesental scheinen 
die Vorwerfungsspalten nicht ohne Einfluss auf die Fortpflanzungs¬ 
richtung gewesen zu sein; denn längs der Uheintalspalte findet 
man die Richtung N—ß Rändern - Baden weiter—Staufen - Esch- 
bach; nach Nordwesten geht die Richtung über in NW-SO 
Müllheim - Sulzburg Münsterthal; nach Nord die Richtung N—S 
Wiesleth—Schönau, Todtmoos, gegen NO die Richtung SW—NO 
Todtnau—Bernau—St. Blasien. Im Wiesental selbst liegen die 
Richtungen äusserst verschieden. Wie man sieht, ergibt sich eine 
konvergent strahlige Anordnung um das untere Wiesental. Auf 
folgenden Kreis möge noch hingewiesen werden: Basel—Grenzach— 
Rheinfelden, Dossenbach, Steinen; nach aussen schliesst sich darau 
ein zweiter Kreis, nämlich Muttens, Rheinfelden, Waldshut— 
Thiengen, Aichen, St. Blasien, Menzenschwand, Todtnau—Schönau, 
Sulzburg. Die oben hervorgehobene Anordnung der Fortpflanzungs¬ 
richtungen der Erdbebenwelle stimmen nun genau mit den An¬ 
gaben über die Art der Bewegung überein, insofern das Beben iu 
Lörrach— Inzlingen als succussorischer Stoss sich äusserte. Dem¬ 
nach muss in der Gegend von Lörrach das Epicentrum des Bebens 
gelegen sein, von wo es sich allseitig ausbreitete. 

Wirkungen der Bodenbewegung. Die Wirkungen der 
Erschütterung waren im allgemeinen geringe. Nach der von 
Futterer* abgeänderten Forelschen Erdbebenskala lassen sich die 

• Erdbeben vom 22. Jan. 18. Bd. d. Verhandl. de* Naturw. Ver. S. 10 



27 


vom Erdbeben betroffenen Orte in drei Gruppen einteilen, ln den 
Orten stärkster Erschütterung, Gruppe eins, erreichte das Beben 
den Intensität sgrad 3, d. h. mittelstarke Erschütterung, fähig, 
leicht bewegliche Gegenstände zu verschieben. Zu dieser Gruppe 
gehören hauptsächlich die Orte im Wiesental, längs der Rheintal¬ 
spalte und im Münstertal. Die Badische Landpost schreibt unter 
.Wiesental“ „die Fenster klirrten, Möbel wankten, Kinder er¬ 
wachten und weinten“. Der Polizeiwachtmeister in Lörrach be¬ 
richtet, dass Hausgeräte, wie Betten, Tische schwankten, der 
Lampenschirm einer Stehlampe auf die Beite geschoben, zuge- 
machte Stubentüren aufgerissen wurden. Oberbauinspektor Baum 
aus Lörrach gibt an, dass die Gläser klirrend aneinander stiessen. 
Gleiches wird aus Inzlingen gemeldet. In Degerfelden, Dossen- 
bach, Eichsei, Minsein erzitterten die Häuser und Gegenstände 
rüttelten; in Herthen geriet ein eiserner Ofen ins Wanken, im 
Gasthaus zum Adler in Adelhausen fielen die Kleider vom Sessel 
und ein Apparat begann zu läuten. Den gleichen Intensitätsgrad 
hatte das Beben in Maulburg, Schopfheim, wo der Wecker des 
Herrn Ratz drei Minuten in einem fort rasselte, in Fahrnau, 
Hausen, Zell, Marnbach. In Schopfheim wurde Holz, das auf 
dem Speicher eines massiv gebauten Hauses aufgestapelt war, 
zum Teil umgeworfen. Aeltere Personen behaupteten, dass dieses 
Erdbeben das stärkste war, das sie je erlebt haben. Auch in 
Kandern war die Erschütterung eine verhältnismässig heftige. 
Es knarrten die Türen; der Krug auf dem Waschtisch klirrte, 
die Menschen erwachten aus dem Schlafe, einzelne riefen um 
Hilfe. Etwas gemildert war das Toben im Badenweilertal; in 
Baden weder klirrten die Fenster, in Oberweiler schlugen die Gläser 
aneinander, in Müllheim wurden zwei Cigarren von eiuem Fenster¬ 
sims heruntergeworfen. In Hügelheim. Britzingen, Zurzingen, 
Vögisheim und Auggen aber war das Beben sehr geschwächt. 
Beinahe ebenso stark wie im Wiesental waten nach den Berichten 
die Wirkungen im Münstertal. Es krachten die Holzhäuser, 
Lampen, Bettstätten schwankten. Das Vieh im Stalle wurde un¬ 
ruhig; die Leute, die mit dem Füttern des Viehs beschäftigt waren, 
liefen zum Teil vor Schreck auf die Strasse. Im Schulhaus zu 
Grunern, nahe der Hauptverwerfungsspalte des Rheintales, fiel 
Gyps von den Wänden; in Staufen wurde eine ein Pfund schwere 
Gvpsfigur, die auf einem Holzgestell stand, herumgedrebt und ein 



28 


Säulenofen schwankte. Aus Sulzburg wird berichtet, dass di< 
Möbel in ein unheimliches Hin- und Herschwanken gerieten. 

Wenn man versucht, das pleistoseiste Gebiet etwas näher zu 
umgrenzen, so sind zwei Gebiete näher in das Auge zu fassen: 
das Wiesental und das Münstertal. Sehr stark wurden sodann 
noch die Orte längs der Rheintalspalte getroffen, die wir jedoch 
aus später zu besprechenden Gründen vorläufig ausschalten. Es 
ist klar, dass in dem pleistoseisten Gebiet der Erregungsort des 
Erdbebens zu suchen ist; und nun fragt sich, liegt dieser im 
Münstertal oder im Wiesental? Aufschluss über die Frage können 
uns geben 1. die Art der Bewegung, 2. die Richtung der Bewegung 
Die Art der Bewegung ist in der Nähe des Erdbebenherdes suk 
kussorisch. Je weiter man sich vom Erregungsort entfernt, um 
so mehr muss die Stossbewegung in eine Wellenbewegung über 
gehen. Letztere ist wohl stets dann anzunehmen, wenn zwei 
Stösse gemeldet werden, welche dann der grössten Schwingungs¬ 
amplitude entsprechen dürfen. Vom Ursprungsort pflanzt sich 
das Beben wellenförmig nach allen Richtungen fort. Die Anord¬ 
nung der Richtung muss darnach auf den Erregungsherd führen 
Für vorliegendes Erdbeben werden nun aus Staufen* zwei Stösse 
gemeldet, aus dem Münstertal liegen gleichfalls Berichte vor, 
welche von zwei Stössen mit wellenförmigen Bewegungen sprechen. 
Dagegen verspürten sämtliche Beobachter in Lörrach und Inz- 
lingen nur einen Stoss (nach Dr. Grether vertikal). Dahin konver¬ 
gieren, wie oben gesehen, die Richtungen. Man dürfte also nicht 
fehl gehen, wenn man schliesst, der Erregungsherd liegt im unteren 
Wiesental. Dann ist aber auch hier das pleistoseiste Gebiet, 
Und in der Tat waren auch hier die verhältnismässig stärksten 
Erschütterungen, und da liegen die meisten Orte der Gruppe 1 
mit Intensitätsgrad drei. Das pleistoseiste Gebiet ist auf dem 
Kärtchen durch eine rote Linie eingezeichnet. 

An die Gruppe 1 schliesst sich Gruppe 2 mit Stärkegrad 
zwei der Futtererschen Erdbebenskala nach allen Seiten hin an, 
Nach Westen und Nordwesten sind es die Orte Krozingen, Kirch¬ 
hofen. Freiburg, nach Norden Hinterzarten, St. Peter—St. Margen, 
von Osten Gersbach, Görwihl, Oberwiehl, Todtmoos, Aichen, St. 
Blasien, nach Süden Albbruck, Waldshut und Orte der Schweiz. 
Die Erschütterung war in genannten Orten derartig, dass sie den 
Menschen aus dem Schlafe weckte (Albbruck, Krozingen), die 



2fr 


Fenster zum Klirren (Aichen, St. Blasien u. a.), Bettstellen 
und Gegenstände leicht zum Erzittern brachte (Gersbach, St. 
Peter u. a.). 

Der letzten, dritten Gruppe mit Stärkegrad 1, gehören alle 
anderen Orte an, in welchen das Beben verspürt wurde. Ich 
rechne dazu die Orte, in welchen das Beben sich nur durch Ge¬ 
räusch, donnerartiges Rollen oder leichtes Zittern des Bodens 
bemerkbar machte. Die Orte liegen zum Teil zerstreut zwischen 
Orten von Stärkegrad zwei, zum Teil schliessen sie sich gegen 
die Grenze des Erschütterungsgebietes an diese an. Es gehören 
hierher Furtwangen, Glotterthal, Eschbach, Norsingen, Kappel, 
Höchenschwand u. a. Als besondere Wirkung sei noch angeführt, 
dass in Maulburg laut Konstanzer Zeitung in der Gretherschen 
Gypsgrube an der Wanne durch das Erdbeben ein kleiner Erd¬ 
sturz veranlasst wurde, insofern Wiesengelände von 40 qm Um¬ 
fang ca. 10 m tief versank. 

Schallerscheinungen. Das Erdbeben war im ganzen 
Erschütterungsgebiet von Schallerscheinungen begleitet; an manchen 
Orten wie Neuhof, Niederhof, Wagensteig u. a. war das Beben 
überhaupt nur als Schallphänomen zur Kenntnis gekommen. In 
fünf Fällen wird berichtet, dass das Geräusch der Erschütterung 
voranging, in 7, dass es folgte, in 23, dass es die Erschütterung 
einleitete, begleitete und damit endigte; in andern Fällen ist eine 
Zeitangabe, ob prae oder post der Erschütterung, nicht gemacht 
worden. 

Die Art des Geräusches wird von den verschiedenen Beob¬ 
achtern sehr verschieden bezeichnet. Einige vergleichen das Ge¬ 
räusch mit dem Schall, den das Herabgleiten grosser Schnee¬ 
massen vom Dache des Hauses verursacht (Atzenbach, Fischbach), 
andere mit dem eines schnellfahrenden Eisenbahnzuges oder mit 
dem Rollen eines Lastwagens, der über gefrorenen Boden hinfährt; 
wieder andere glaubten nach dem Ton annehmen zu müssen, dass 
iin oberen Stockwerk ein schwerer Gegenstand umgestürzt sei; 
manche vergleichen es mit dem Brausen eines Sturmwindes, mit 
dem Rauschen eines starktliessenden Baches, mit dem Sausen, 
welches ein Schwarm vorbeifliegender Vögel hervorbringt. Vielfach 
wird das Erdbebengeräusch als unterirdisches Rollen, als rum¬ 
pelndes Getöse, als ferner Donner, als scharfer Knall wie bei 
einem Böllerschuss oder einer Explosion bezeichnet. 



30 


Die Beobachter in Fahmau und Waldshut geben an, dass 
das Geräusch aus dem Boden kam, die in Müllheim aus der Luft, 
alle andern lassen es die Frage dahingestellt; jedenfalls kommt 
der Schall aber aus der Luft, wohin er von dem erschütterten 
Boden verpflanzt wird. 

Ursache des Erdbebens und geognostische Ueber- 
sicht über das Schüttergebiet. Um die Ursache des Beben» 
kennen zu lernen, ist es vor allem nötig, einen tieferen Einblick 
von den geognostischen Verhältnissen des erschütterten Gebietes 
zu nehmen. Letztere sind aus der geognostischen Uebersichts- 
karte des Schwarzwaldes von Heinrich Eck ersichtlich. Ein Blick 
auf die Karte lehrt, dass das Schüttergebiet zwei geologisch 
wesentlich von einander verschiedene Gebiete umfasst; das eine 
gehört dem Grundgebirge des südlichen Schwarzwaldes an, das 
andere schliesst in sich die marinsedimentäre Vorbergszone, welche 
in Brüchen rings vom Horste des Schwarzwaldmassives abgesunken 
ist. Das Grundgebirge des Schwarzwaldes besteht bekanntlich 
vorwiegend aus krystallinen Schiefern, in welchen vier grosse 
Granitmassive aufsetzen, von denen zwei in unserem Gebiet liegen. 
1. Das Blauenmassiv, welches am Westabfall des Gebirges zwischen 
Blauen und Rändern anhebt und sich ostwärts nach Herren- 
schwand und Wehr erstreckt, 2. das Schluchseemassiv, welche» 
von Blössling und Oberwihl in nordöstlicher Richtung über 
Schluchsee nach Neustadt im Norden, Uihlingen im Süden und 
über Hammereisenbach nach Unterkirnach hinzieht. An ihrer 
nördlichen Grenze stossen die beiden Granitmassive zumeist an 
eine 4 km breite Zone von Grauwacken, Schiefern und Kon¬ 
glomeraten des Kulm; die Kulmzone verläuft in einem stark dis¬ 
lozierten Zuge von Badenweiler über Schönau bis Lenzkirch. Das 
Streichen der Kulmschichten richtet sich im allgemeinen in Ost 
und OstNO; ihr Einfallen ist ein steiles (70—80°) und gleich¬ 
förmiges. Auf die Kulm schichten folgt nordwärts das ausgedehnte 
zusammenhängende Gneissgebiet des mittleren Schwarzwaldes. 
Ueber die Lagerung der Gneisse sind bis jetzt nur sehr unvoll¬ 
kommene Angaben bekannt. Doch gelangte man nach Steinmann* 
durch Kombination aller bekannten Beobachtungen zu der Ansicht, 
dass das Gneissgebiet ein System eng zusammengeschobener. 

* Steinmann und Grftff: Geolog. Führer der Umgegend von Freiburg. 



31 


ziemlich steil stehender Falten sein müsse, deren Axen ungefähr 
SW—NO streichen und deren Schenkel meist nördlich fallen. 
Unterbrochen wird das kontinuierliche Gneissgebiet im Münstertal 
durch mächtige Decken und Gänge von Qnarzporphyr, die auch 
im Granit, in den Kulmgranwacken oberhalb vom Schluchsee, bei 
Lenzkirch und in den südlichen Gneissgebieten in der Umgebung 
der Alb und Wehratäler sich finden. Im Süden liegen zwischen 
den beiden Granitmassiven mehrere kleinere Gneissgebiete, so zu 
beiden Seiten des oberen Wehratales bei Todtmoos und Hornberg, 
im Vorwald bei Laufenburg und Hauenstein und im oberen Albtal 
unterhalb St. Blasien. 

Durch ein System von Bruchlinien, das über Sexau, Frei¬ 
burg—Staufen—Badenweiler, Rändern, Lörrach verläuft, ist das 
kry stall ine Grundgebirge im Osten von der marin sedimentären 
Vorbergszone im Westen getrennt. Es sind dies vorwiegend 
marine Sedimente der Trias, Jura und Tertiärformation in der 
Form von Konglomeraten, Sandsteinen, Mergeln und Tonen. Die 
Schichten sinken an Verwerfungsspalten, welche SSW—NNO ver¬ 
laufen, treppenartig der Rheinebene zu. Die zerbrochenen Sedi- 
mentschollen fallen wenig gegen Westen ein; die am weitest ab¬ 
gesunkenen Schichten liegen beute tief unter dem Niveau der 
Rheinebene. Der Maximalbetrag der Verschiebung beträgt gegen 
1800 m. Am Südrande des Schwarzwakles füllen niedergesunkene 
Sedimenttafeln den ganzen Raum zwischen dem Granitstock des 
Blauen bei Badenweiler und dem Gneissgebiet des Vorwaldes bei 
Säckingen aus. Mitten durch das Gebiet fliesst die Wiese. Die 
Schichten sind nahezu horizontal gelagert. Durch eine Bruch¬ 
linie, welche von Rändern über Wisleth, Raith, Wehr, Brennet 
verläuft, sind sie vom Grundgebirge getrennt. Noch andere 
Bruchlinien durchziehen das Gebiet, deren eine von Rheinfelden 
nördlich an Degerfelden vorbei nach Lörrach, deren zweite südlich 
von Schopfheini streicht. Südlich des Rheines hei Basel, Rhein¬ 
felden, Lanfenburg verschwinden die Sedimenttafeln unter der 
Juradecke. Im Osten trennen gleichfalls allerdings sehr minimale 
Verwerfnngslinien die Sedimentärreihe von dem Grundgebirge. 
Rings um den Schwarzwald vollzieht sieb demnach die Abtrennung 
der mesozoischen Tafeln vom alten Gebirge in mehr oder minder 
dem Gebirgsrande parallelen Brüchen, die häufig von Querbrüchen 
rechtwinklig gekreuzt werden. 



32 


Zusammenhang zwischen dem tektonischen Aufbau 
uud der Erdbebenerscheinung. Geht man auf den Zusammen¬ 
hang, der zwischen dem geologischen Untergrund uud der Erd- 
bebenerscheinurig besteht, ein, so zeigt sich, dass der tektonische 
Aufbau von grossem Einfluss auf die Verbreitung, Art und Stärke 
der Erschütterung ist. Vor allem auffallend ist die Einwirkung 
der Verwerfungsspalten auf die Verbreitung des Bebens. Im 
Westen hat die Bruchlinie, welche die Vorbergszone des Schwarz¬ 
waldes von den diluvialen Schottermassen des Rheintales trennt, 
der Erdbebenwelle Halt geboten, ebenso die Grenzlinie zwischen 
Sedimentärformation und krystallinem Gebirge im Osten; nur im 
Südosten bei Alpfen pflanzte das Beben sich in die Sedimentschichten 
hinein fort, was sich aber dadurch erklärt, dass die Orte dem 
Erregungsherd ziemlich nahe liegen, die Intensität des Bebens 
mithin eine relativ starke gewesen sein muss, fähig, den Wider¬ 
stand, den die Spalte entgegensetzte, zu überwinden. In seiner 
Bearbeitung des rheinisch-schwäbischen Erdbebens von 1886 hat 
Eck darauf hingewiesen, dass die Gneisse die Erdbeben welle längs 
ihrer Streichrichtung besser leiten als senkrecht dazu. Das lässt 
sich auch für vorliegenden Fall konstatieren. Das gute Leitungs¬ 
vermögen der Welle von seiten des Granites uud Gneisses, beson¬ 
ders in der Streichrichtung bewirkte, dass das Erdbeben weiter 
nach NO sich ausbreitete als nach Westen und Osten. Bei dem 
Versuche, aus der Richtung der Erdbeben welle das Epicentrum 
zu bestimmen, trat uns nicht wenig die Richtung N—S längs der 
Verwerfungslinie zwischen Grundgebirge und Vorbergszone ent¬ 
gegen; ebenso frappant war aber auch die grosse Intensität längs 
der Spalte. Beides erklärt sich nun gerade durch den Verlauf 
der Spalte. Bei der Annahme, das Erdbeben sei durch eine Ver¬ 
schiebung von Sedimentschollen im Wiesental entstanden, traf die 
Erdbeben welle in nordwestlicher Richtung auf die Rheintalspalte: 
hier erfuhr sie einerseits eine Ablenkung von der theoretischen 
NW-Richtung nach N, andererseits erwies sich die Spalte durch 
Hervorrufung weiterer Störungen als Schütterlinie, wie es auch 
beim Beben von 1896 der Fall war, und verursachte den hohen 
Intensitätsgrad in Kandern, Sulzburg, Grünem. Gegen Westen 
zu wurde zum Teil durch die Spalte das Beben geschwächt. Ob 
die starke Wirkung des Bebens im Münstertal mit den alten 
paläozoischen Eruptionen in Verbindung gebracht werden kann. 



33 


wage ich nicht zu behaupten. Ganz unwahrscheinlich ist es nicht. 
Glaubte doch auch Futterer bei dem Beben von 1896 auf einen 
Zusammenhang hierselbst hinweisen zu müssen. 

Ursache des Bebens. Stellt man sich die Frage, wo der 
Erregungsort und die Ursache des Bebens zu suchen ist, so ist von 
vornherein klar, dass das eine wie das andere in das Gebiet stärkster 
Erschütterung zu verlegen ist. Denn alle Orte nahe dem Erregungs¬ 
herd müssen stärker betroffen werden als die entfernteren. Nun 
haben wir oben als epizentrales Gebiet das untere Wiesental be¬ 
zeichnet. Nach der Ursache des Erdbebens unterscheidet die Geologie 
vulkanische, tektonische und Einsturzbeben. Die vulkanischen Beben 
haben ihre Ursache in der Reaktion des glutigen Erdinnern gegen 
ihre Oberfläche, die tektonischen in gebirgsbildenden Prozessen, 
die Einsturzbeben in Auswaschungserscheinungen. Es ist evident, 
dass ein vulkanisches Beben nicht vorliegen kann, da ein vul¬ 
kanischer Herd im epizentralen Gebiet nicht vorhanden ist. Gegen 
die Annahme eines Einsturzbebens aber spricht der Umstand, 
dass diese nur lokale Phänomene sind und dass, wenn sie auf- 
treten, sie sich in längerer Zeitdauer wiederholen. Beides trifft 
aber hier nicht zu. Als dritte Möglichkeit bleibt das tektonische 
Beben. Dafür sprechen auch mehrere Gründe. Erstens spricht 
dafür, dass die Erdbeben in der oberrheinischen Tiefebene die 
Aeusserungen des fortdauernden Einsinkens und Zusammenbruchs 
der gewaltigen Grabenversenkung zwischen Schwarzwald und 
Vogesen sind, mithin unser Erdbeben als solches nicht allein da¬ 
steht und mit gebirgsbildenden Prozessen im Zusammenhang ist; 
zweitens spricht für ein tektonisches Beben die verhältnismässig 
grosse Zahl von Verwerfungslinien, welche das epizentrale Gebiet 
durchkreuzen und drittens das im Verhältnis zu seiner Wirkung 
grosse Erschütterungsgebiet, was auch ein Hinweis darauf ist, dass 
der Erregungsort in relativ grosser Tiefe liegt. Wir stellen also 
fest, dass das Beben ein tektonisches ist, dass man es mit einer 
Vorschiebung von Gebirgsschollen zu tun hat. Nachdem wir die 
Ursache kennen gelernt haben, so wollen wir jetzt den Erregungs¬ 
ort näher bestimmen, hauptsächlich die Frage prüfen, ob die Ver¬ 
schiebung längs der Rheintalspalte oder in einer dazu senkrechten 
Spalte stattfand. Um das Problem zu lösen, ist es nötig, das 
Erdbeben mit denjenigen zu vergleichen, welche das betroffene 
Gebiet gleichfalls heimsuchten. Es sind das die Beben vom 

3 



34 


7. Dezember 1875, 24. Januar 1883 und 21. April 1885. Von 
diesen wurde das vom 24. Januar 1883 von Kloos bearbeitet, 
zudem ist es dasjenige, welches die grösste Aehnlichkeit mit dem 
vom 24. März 1901 hat. Das Beben vom 24. Januar 1S S 3 
erschütterte den südlichen Schwarzwald, die Vorbergszone und 
pflanzte sich bis in die Vogesen hinein fort. Südlich der Ver¬ 
werfungsspalte, welche Uber Kandern, Wiesleth—Schönau läuft, 
zeigt es keine Erschütterungspunkte; nur Lörrach, weil es an 
der Hauptverwerfungsspalte liegt, ist getroffen worden. Die Dinkel¬ 
bergverwerfung trat hier der Verbreitung entgegen. Kloos ver¬ 
legte die Ursache des Bebens in eine Senkung der sedimentären 
Gebirgsschollen längs der Rheintalsp&lte von Kandern im Süden 
bis Keppenbach im Norden. Bei dem Beben vom Jahre 1901 
scheint mir die Verschiebung jedoch nicht längs der Rheintal¬ 
spalte stattgefunden zu haben, obwohl hier Orte stärkster Er¬ 
schütterung liegen. Denn hätte die Verschiebung längs der Spalte 
stattgefunden, so ist nicht einzusehen, warum nicht westlich der 
Spalte auch Orte stärkster Erschütterung liegen — (ein laterale? 
Beben liegt wohl kaum vor) —, warum die Erschütterung sich nicht 
auch bis in die Vogesen fortpflanzte; es erklärt sich aus der 
Annahme nicht die Lage des epizentralen Gebietes, das ja dns 
untere Wiesental umfasst; dann spricht sehr dagegen, dass westlich 
von Lörrach und Kandern das Beben so wenig verspürt wurde. 
All dies aber erklärt sich durch die Annahme, dass die Verschiebuni: 
von Sedimentschollen im Wiesental stattfand an einer Verwerfungs¬ 
linie senkrecht zur Rheintalspalte wahrscheinlich der Verwerfungs¬ 
linie. die von Lörrach nach Rheinfelden zieht. Denn hier ver¬ 
spürte man sukkussorische Stösse und dahin konvergieren die 
Richtungen. 

Schluss. Fasst man kurz noch einmal die erhaltenen Re¬ 
sultate zusammen, so darf man wohl sagen: Das Erdbeben vom 
24. März 1901 entstand durch eine Verschiebung von Sediment¬ 
schollen im unteren Wiesental. Es war ein tektonisches Beben. 
Von hier pflanzte das Beben sich weiter nach NO und SW fort 
als nach anderen Richtungen. Im 0 und W ist das Schütter¬ 
gebiet durch Verwerfungslinien abgegrenzt. Die Rheintalspalte 
erwies sich als ausgezeichnete Schütterlinie. 



35 


Erdbeben am 22. Mai 1901. 

Am 22. Mai morgens 8 Uhr wurde in Efringen, Leopclds- 
höhe, Lörrach, Grenzach und Säckingen ein Erdbeben verspürt. 

Die Angaben über die Eintrittszeit schwanken zwischen 4 h 
3' in Säckingen und 7 h 57' in Efringen und Grenzach. ln Lörrach 
soll nach einem Bericht das Beben 8 h 30", nach einem andern 
7 h 58' eingetreten sein, in Leopoldshöhe 8 h 1' und in Stetten bei 
Lörrach 7 h 58'30". Es differieren mithin die Angaben um 6', 
und zwar fallen die Endwerte auf die von einander entferntesten 
Orte. Eine genaue Zeitangabe betreffs der Eintrittszeit des Bebens 
kann nicht angegeben werden. Die Angaben über die Dauer des 
Bebens variieren zwischen 2* in Grenzach und 4" in Leopoldshöhe. 
Jedenfalls ist die Dauer der Erschütterung sehr gering gewesen. 

Das Beben äusserte sich teils als Stoss allein, wie in Leopolds¬ 
höhe, wo er mit dem Anprall einer Lokomotive an ein Haus ver¬ 
glichen wird, teils als Stoss verbunden mit Zittern wie in 
Säckingen, Efringen und Stetten, wo die Erschütterung mit dein 
Herabfallen eines schweren Gegenstandes verglichen wird; aus 
Lörrach werden zwei Stösse gemeldet 

Ueber die Richtung der Stösse sind gleichfalls einige Berichte 
eingegangen. Unter denen gestattet die Beobachtung aus Grenzach 
einen Schluss auf die Richtung zu ziehen. Es schwankte dort 
an der NO-Wand ein Sekretär von hinten nach vom. Daraus 
ergibt sich als Stossrielitung NO—SW. Im allgemeinen kon¬ 
vergieren die Richtungen nach dem Dinkelberg hin. Die Intensität 
des Bebens war entsprechend seiner Art eine geringe; sie erreichte 
den zweiten Grad der Futtererschen Erdbebenskala. Nähere An¬ 
gaben liegen nur aus Säckingen und Grenzach vor. ln Säckingen 
schwankten leichtere Gegenstände, in Grenzach fielen in einem 
Kamin kleine Steine und Mörtel herab. 

Ueberall war das Beben von Geräusch begleitet, das teils 
mit fernem Donner, teils mit dem, welches ein vorbeifahrendes 
Lastfuhrwerk verursacht, verglichen wird 

Aussergewöhnliche Erscheinungen sind sonst nicht beobachtet 
worden. 

Als Ursache dürfte auch in diesem Falle eine Verschiebung 
längs einer Verwerfungsspalte anzunehmen sein. 


3 * 



Die Rasse des schwedischen Volkes. 

Von Dr. Ludwig Wilser. 

Der Gegenstand, für den ich heute Abend Ihre Aufmerksam¬ 
keit erbitte, berührt uns näher, als vielleicht mancher von Ihnen 
beim Lesen der Ankündigung denken mochte. Denn einmal be¬ 
wohnen die Schweden noch heute das Land, aus dem nach Sage 
und Geschichte 1 die germanischen Völkerschaften, teils schwäbischen, 
teils fränkischen Stammes, die unsere engere badische Heimat 
erobert und besiedelt haben, vor mehr als zwei Jahrtausenden 
ausgezogen sind, 

unde genus Francis adfore fcma refert, 
wo es auch, wie die süddeutschen Schwaben noch im zwölften 
Jahrhundert zu erzählen wussten, ein nordisches, meerumschlungenes 
„Schwabenland“ gab (In plaga septentrionali quaedam provincia 
adiacet mari, quam Sueviam aiunt nuncupari), die alte Stammes¬ 
heimat, noch lange unvergessen, besonders bei den Alemannen, 
die sich nach einer „althergebrachten“, von einem Geschlecht zum 
andern fortgeerbten Sage von jeher berühmten, „von den alten 
Schwediern abkomen seyn“. Dann aber hat der „Naturwissen¬ 
schaftliche Verein“ unsere eigenen auf Ermittelung der Rasse 
oder, wie wir hier sagen müssen, Rassenmischung der badischen 
Bevölkerung gerichteten Bestrebungen von Anfang an mit wohl¬ 
wollender Teilnahme verfolgt, wiederholt Vorträge und Berichte 
über deren Fortgang und Ergebnisse angehört und, vor allem, 
durch dauernde Zuschüsse die Vollendung und Veröffentlichung 
ermöglicht. Ich erachte es daher als Pflicht, Ihnen Bericht zu er¬ 
statten über ein Unternehmen, das durch unser Vorgehen angeregt 
und durch die „Anthropologie der Badener“ 2 entschieden beein¬ 
flusst, unsere Voraussetzungen in glänzendster Weise bestätigt hat. 

Als w ir nämlich vor nunmehr 17 Jahren an den Mannschaften 
einzelner Truppenteile, mehrerer Kompagnien des Leibgrenadier- 
regiments und des Infanterieregiments 111, sowie der reitenden 



37 


Batterie des Artillerieregiments 14, unsere ersten Versuche und 
Vorübungen machten, waren wir überzeugt, dass die Untersuchung 
schwedischer Soldaten wesentlich andere Ergebnisse haben müsse. 
Solche mit unsern eigenen zu vergleichen, musste sehr lehrreich 
sein, und wir, Herr Ammon und ich, hatten daher die Ab¬ 
sicht, auf einer Nordlandsfahrt in Stockholm bei einigen dortigen 
Heeresabteilungen ähnliche Erhebungen zu machen. Da äussere 
Umstände die Ausführung dieses schönen Planes vereitelt haben, 
freuen wir uns umsomehr, dass durch das grossartige Unter¬ 
nehmen, über das ich zu berichten im Begriffe bin, alles, was 
wir damals hätten erreichen können, weit überboten ist. Dagegen 
ist die Hoffnung, unser Beispiel werde im In- und Auslande Nach¬ 
ahmung finden, nur teilweise in Erfüllung gegangen. In Deutsch¬ 
land wenigstens ist, obwohl die grosse Schulkinderuntersuchung* 
nur als einleitende Vorarbeit gelten kann, von einzelnen örtlich 
beschränkten Versuchen 4 abgesehen, seitdem so gut wie nichts 
mehr geschehen. Glücklicherweise ist in dieser Hinsicht das 
Ausland eifriger und tatkräftiger gewesen, so dass aus den meisten 
europäischen Ländern, wie Norwegen (Arbo), England (Beddoe 
undHaddon), Belgien (Houzö), Frankreich (Co 11 ignon), Spanien 
(Oloriz und Aranzadi), Italien (Livi und Nicolucci), Schweiz 
(Chalumeau), Österreich (Weisbach und Holl), Russland 
(Zograf und Bogdanow), Finnland (Westerlund), wissenschaft¬ 
lich wertvolle Berichte über mehr oder weniger umfassende Er¬ 
hebungen vorliegen. Nun hat die grosse schwedische Volksunter¬ 
suchung, deren Ergebnisse in diesem prachtvoll ausgestatteten, 
mit sehr anschaulichen Karten und Farbenkreisen versehenen 
Werke* zusammengefasst sind, den Ring geschlossen und eine 
umso störender empfundene Lücke ausgefüllt, als unter allen 
Völkern unseres Weltteils gerade die Schweden eine Sonder¬ 
stellung einnehmen. 

Der geistige Urheber, zugleich auch der unermüdliche Förderer 
und werktätige Unterstützer dieses wissenschaftlich hochbedeu¬ 
tenden Unternehmens ist Gustaf Retzius, Professor der Ana¬ 
tomie in Stockholm, der es als Ehrenpflicht ansah, das von seinem 
schon 1860 gestorbenen Vater Anders Retzius, dem Begründer 
der Schädelmessung, begonnene Werk zu Ende zu führen. Von 
verschiedenen Seiten aufgefordert und ermächtigt, hatte er schon 
in den Jahren 1862/3 eine umfassende Ermittlung der Rassen- 



38 


merkmale des schwedischen Volkes ins Auge gefasst und teilweise 
begonnen; da aber der Freiherr v. Düben, seines Vaters Nach¬ 
folger, sein Vorgänger auf dem Lehrstuhl der Anatomie, sich 
auch mit solchen Dingen beschäftigte, trat Retzius rücksichts¬ 
voll zurück und wandte sich hauptsächlich den Aufgaben seiner 
Fachwissenschaft zu, ohne jedoch der gewissennassen ererbten 
Vorliebe für anthropologische Arbeiten ganz untreu zu werden; 
davon legt die in den Jahren 1872—78 durchgeführte und ver¬ 
öffentlichte* Untersuchung der Finnen ein schönes Zeugnis ab. 
Nachdem v. Düben 1892 gestorben war, ohne etwas Abschliessendes 
erreicht, besonders auch ohne etwas Zusammenhängendes ver¬ 
öffentlicht zu haben, schien es geboten, in Schweden, „der eigent¬ 
lichen Wiege“ der Anthropologie, aufs neue ans Werk zu gehen, 
obwohl in einem Lande, wo der „wissenschaftlichen Arbeiter auf 
jedem Gebiete nur wenige sind, die bedeutende Ausdehnung des 
Landes aber derartig statistischen Erhebungen recht grosse 
Schwierigkeiten bereitet, man es sich mehr als einmal bedenkt, 
ehe man eine solche Arbeit in Gang setzt“. Ausser Retzius 
trug sich auch Professor Fürst in Lund mit solchen Plänen, 
beide Gelehrten aber wurden immer wieder durch andere fach¬ 
wissenschaftliche und Berufsarbeiten an der Ausführung verhindert. 
Endlich im Jahre 1896 wurde im Vorstand der Schwedischen 
Gesellschaft für Anthropologie und Geographie, wo schon 1888 
durch Reichsantiquar Hildebrand auf die Wichtigkeit solcher 
Untersuchungen hingewiesen worden war, die Angelegenheit von 
Hultkrantz, der kurz vorher eine statistische Arbeit über die 
Körpergrösse der Schweden abgeschlossen hatte, wiederum zur 
Sprache gebracht. Da aber weder von der Gesellschaft noch von 
der Regierung die nötigen Geldmittel zu erhalten waren, musste 
die Sache einstweilen noch verschoben werden. Aber aufgeschoben 
ist nicht aufgehoben. Noch im Oktober des gleichen Jahres, in 
der feierlichen Sitzung am hundertsten Geburtstage seines Vaters, 
hob Retzius in der Festrede über „die Geschichte der physischen 
Anthropologie“ nochmals mit Nachdruck die Bedeutung um¬ 
fassender Untersuchungen hervor und stellte zugleich in hoch¬ 
herziger Weise 3000 Kronen für die sofortige Inangriffnahme zur 
Verfügung. Nun kam die Sache in Fluss, und es konnte mit den 
nötigen Vorarbeiten, Aufstellung eines Feldzugsplans, Entwurf 
der Fragebogen, Anschaffung von Werkzeugen u. dgl., begonnen 



39 


werden. Nachdem die Genehmigung der Behörden eingeholt und 
ein Stab von Ärzten, Professoren, Doktoren und Kandidaten, für 
die Untersuchung gewonnen war, wurden im Sommer 1897 an 
den verschiedenen Übungsorten nicht weniger als 22708 Wehr¬ 
pflichtige und Soldaten 7 untersucht und gemessen, sämtlich 21 
Jahre alt und mindestens 157 cm gross, denn ältere oder jüngere 
wurden übergangen und die Mindermässigen waren mit den Un¬ 
tauglichen nach der dortigen Heeresordnung schon vorher aus¬ 
gemustert. Im Frühling und Sommer des folgenden Jahres 1898 
wurden in gleicher Weise die Erhebungen fortgesetzt und weitere 
22 980 Mann, zusammen also 45 688 aus allen Teilen des König¬ 
reichs aufgenommen. Nachträglich mussten aus verschiedenen 
Gründen etwa 700 wieder ausgeschieden werden, so dass für die 
Berechnung 44 900 Mann übrig blieben, d. h. 1,81% der männ¬ 
lichen und 0,88 °/ 0 der Gesamtbevölkerung (rund 5100000) von 
Schweden. Vergleichen wir damit unsere badischen Zahlen, so 
haben wir in den Jahren 1886—1895 untersucht 30676 Wehr¬ 
pflichtige und 2201 Schüler, zusammen 32 877, das sind nahezu 
zwei vom Hundert der damaligen Bevölkerung des Grossherzogtums. 
Wenn die Schweden, denen hauptsächlich „die vorzüglichen Ar¬ 
beiten von Livi und Ammon als Muster“ gedient haben, bei 
aller Anerkennung unserer Leistungen doch das „bedeutend 
grössere Material“ hervorheben, das ihren Untersuchungen einen 
„höheren Wert“ verleihe, so rührt dies daher, dass Herr Ammon, 
um einen möglichst gleichwertigen Grundstoff zu haben, nur 6800 
von ihm selbst gemessene Wehrpflichtige von rein ländlicher Ab¬ 
stammung seinen Berechnungen zu gründe gelegt hat. Diese 
peinliche Genauigkeit mag ihre Vorzüge haben, ich glaube aber 
doch, dass mein verehrter Mitarbeiter Ammon etwas zu viel von 
ihr erwartet hat, denn der Hauptwert solcher Volksuntersuchungen 
liegt in der gegenseitigen Vergleichung und in den grossen, jede 
Zufälligkeit ausschliessenden Zahlen. Allzu feine Arbeit wird 
nicht bezahlt und ist auch in diesem Falle durchaus nicht überall 
anerkannt 8 worden; jedenfalls ist damit, da mit solcher Strenge 
anderwärts kaum je verfahren worden ist oder verfahren werden 
wird, für die Vergleichbarkeit nichts gewonnen worden. Hätten 
wir, wie ich wiederholt beantragt habe, neben der ins einzelne 
gehenden, unsern Stoff verkleinernden und zersplitternden Behand¬ 
lung der 6800 Mann, die noch nicht den vierten Teil aller Unter- 



40 


suchten ausmachen, kurz und übersichtlich auch die Gesamt¬ 
ergebnisse veröffentlicht, so würden unsere Zahlen gegen die anderer 
Forscher und Länder bedeutend schwerer ins Gewicht falleu. 
Während bei uns in Baden, von einigen gelegentlichen Unter¬ 
stützungen abgesehen, nur zwei Untersucher, deren einer den 
Löwenanteil auf sich genommen, tätig waren, verteilt sich in 
Schweden die Arbeit auf 15 Herren, von denen Professor Fürst, 
auf dessen Namen die meisten (6330) Einzeluntersuchungen fallen, 
etwas mehr Mannschaften als ich (6057) gemessen hat. Man hat 
also in Schweden auf die Fehlerquelle, die zweifellos darin liegt, 
dass verschiedene Beobachter niemals ganz gleichmässig schätzen 
und messen, kein grosses Gewicht gelegt, und wohl mit Recht, 
da auch derselbe Untersucher zu verschiedenen Zeiten, bei wech¬ 
selnder Beleuchtung u. dgl. sich nicht völlig gleichkommt und 
die geringen unvermeidlichen Abweichungen bei grossen Zahlen 
sich gegenseitig ausgleichen. Bei der Um- und Ausrechnung 
haben in Schweden, bezeichnend für die nordischen Verhältnisse, 
nicht weniger als fünf Damen mitgewirkt, während bei uns diese 
mühsame, zeitraubende und aufreibende Arbeit allein auf den 
Schultern unseres Schriftführers Ammon und seines Hilfsarbeiters 
Stolz lag. 

Die beträchtlichen Kosten des schwedischen Unternehmens, 
einschliesslich der in jeder Hinsicht mustergiltigen Veröffentlichung 
15 500 Kronen, das sind rund 17 440 Mark, musste, da sie sonst 
nicht aufzubringen waren, Retzius ganz allein tragen. Obwohl 
die meisten Kulturstaaten für wissenschaftliche Zwecke, darunter 
oft recht fernliegende Dinge von zweifelhaftem Wert, grosse Auf¬ 
wendungen machen, scheint man Ermittlungen der Rasse des 
Volkes, auf dessen Wehrfähigkeit und Steuerkraft doch die ganze 
Macht des Staates beruht, noch nicht gebührend zu würdigen. 
Wir erkennen es dankbar an, dass uns die grossherzogliche Re¬ 
gierung nicht nur durch Befürwortung und Genehmigung unserer 
Untersuchungen, sondern auch durch Gewährung ausgiebiger Geld¬ 
mittel unterstützt hat. In den zwölf Arbeitsjahren haben wir 
rund 12 000 Mark verbraucht und der Verlagshandlung noch 
1560 Mark zu den nicht unerheblichen Druckkosten beigesteuert. 

Während die Zusammenstellung und Berechnung des bei der 
Untersuchung der Landwehrleute gesammelten Stoffes in vollem 
Gange war, fand Retzius Zeit, sein prachtvolles, durch Natur- 



41 


treue der Abbildungen und Genauigkeit der Beschreibung aus¬ 
gezeichnetes Schädelwerk, Crania suecica antiqua®, das er seit 
vielen Jahren vorbereitet hatte, herauszugeben. Beide Werke, 
die ich Ihnen hier zur Einsicht und Vergleichung vorlege, ge¬ 
hören zu den wertvollsten Erscheinungen der anthropologischen 
Literatur und machen ihrem Herausgeber wie seinem Vaterlande 
alle Ehre; sie ergänzen sich, gegenseitig und geben uns ein lücken¬ 
loses Bild der Rassenentwicklung von der ersten Besiedlung des 
Landes in der Steinzeit bis zum heutigen Tage. Mit berechtigtem 
Stolze konnte Retzius in einer Rede 10 über „den germanischen 
Kassentypus“, in der er die Hauptergebnisse der Volksuntersuchung 
mitteilte, von Schweden rühmen, dass es, was die Leibesbeschaffen¬ 
heit seiner Bewohner in Vergangenheit und Gegenwart anlangt, 
nun zu „den best untersuchten und bestgekannten Ländern gehört“. 
Das ist um so wertvoller für die Völkerkunde, als das schwedische 
Volk „merkwürdig einheitlich“ ist und die Rasse der alten Ger¬ 
manen am besten bewahrt hat. 

Wenn wir nach diesen einleitenden Bemerkungen nun mit 
Hilfe des vorliegenden Werkes auf die Ergebnisse der schwedischen 
Volksuntersuchung etwas näher eingehen, wird sich Gelegenheit 
genug bieten, unsere heimischen Verhältnisse zum Vergleich heran¬ 
zuziehen und Fragen von allgemein wissenschaftlicher Bedeutung 
zu berühren. 

Die schwedischen Fragebogen, am Kopf mit dem Namen des 
Truppenteils und des Untersuchers wie dem Tag der Untersuchung 
bezeichnet, geben über Folgendes Auskunft: Laufende Zahl 
(Namen), Geburtsort des Untersuchten und seiner beiden Eltern, 
Grösse, stehend und sitzend, Armbreite, Kopf, Länge und Breite, 
Gesicht, länglich oder breit, Augen, blau, grau, gemischt (melerade), 
braun, Haare, gelb, aschblond (cendrö), braun, schwarz, rot, Be¬ 
merkungen. Da bei der schwedischen Landbevölkerung immer 
die gleichen Namen, wie Andersson, Petterson, Johansson, Hansson 
Erikson u. a. 11 sich wiederholen, wurden diese meist weggelassen. 
Nach dem Geburtsort wurden die Wehrpflichtigen so auf die ein¬ 
zelnen Landschaften verteilt, dass, wenn Sohn und mindestens 
ein Elternteil in der gleichen Landschaft geboren waren, sie dieser 
zugerechnet wurden; waren beide Eltern in der gleichen, der Sohn 
aber in einer andern Landschaft geboren, so wurde er als zur 
ersteren gehörig betrachtet, waren alle drei verschieden, so war 



42 


der Geburtsort dos Vaters entscheidend- Die Grösse wurde ganz 
ähnlich wie bei uns, im Stehen und Sitzen, mit einem an der 
Wand befestigten Bandmass und einem hölzernen Winkel ermittelt; 
ebenso die von uns ausser acht gelassene Armbreite. Zur Messung 
des Kopfes dagegen diente ein Stangenzirkel Auch wir haben 
zuerst einen solchen gebraucht, uns aber später im Hinblick auf 
die „Frankfurter Verständigung 1 ' und in der Hoffnung auf nach* 
folgende Untersuchungen in Deutschland, bestimmen lassen, die 
Köpfe nicht in ihrer grössten Länge, sondern in der Horizontal¬ 
ebene zu messen. Zu diesem Zwecke Hessen wir bei Nestler in 
Lahr ein hölzernes Schiebermass anfertigen, das besonders bei 
grösseren Untersuchungen sehr leicht und handlich, jedoch wegen 
des Federns der Arme nicht ganz so zuverlässig ist wie der 
Zirkel. Da wir, wie gesagt, in Deutschland keine Nachahmung 
fanden und das Ausland beim Zirkel blieb, haben wir durch die 
„Frankfurter Horizontale“ die Vergleichbarkeit unserer Unter 
suchungsergebnisse nicht erhöht. Herr Ammon hat sich bemüht, 
den Fehler gut zu machen, und den aus beiden Messungsarten 
sich ergebenden Unterschied des Index 19 auf durchschnittlich 0,47, 
rund 0,5, um welche Zahl der unsrige zu hoch ist, berechnet. 

Das Gesicht wurde, wie auch bei uns, nur in den wenigsten 
Landesteilen gemessen, sonst bloss geschätzt Von deu Augen 
entsprechen „die gemischten“ unsern „grünen“, deren „Iris nicht 
grau und nicht braun, sondern aus graublauen und bräunlichen 
Sektoren bezw. Radien zusammengesetzt erschien, und die aus 
der Entfernung von 1 m, in der die Beobachtung gemacht wurde, 
den Gesamteindruck von grün 1 * hervorriefen“. Da in Schweden 
blaue und graue Augen als „helle“ zusammengezählt wurden und 
auch nach unserer Auffassung erst bei den „grünen“ die „dunkle 
Farbe der Augen zu überwiegen“ beginnt, so kommen sich die 
Bezeichnungen und Abteilungen sehr nahe, mit andern Worten, 
es gibt helle, gemischte und dunkle 14 Augen. Auch die gelben 
und aschblonden (cendrö) Haare wurden später zusammengerechnet, 
so dass sich auch hier drei grosse Gruppen ergeben, lichte, mittel- 
farbige und schwarze Haare, wozu aber noch die eine besondere 
Stellung einnehmenden roten kommen. Die Abgrenzung der asch¬ 
blonden gegen die braunen Haare erwies sich als schwierig und 
schwankend, besonders da die meisten Landwehrleute die Haare 
während der sommerlichen Übungszeit ganz kurz geschnitten 



43 


tragen; die von uns als zweckmässig befundene Musterlocke hat 
man in Schweden nicht benützt. 

Bei der endgiltigen Ausarbeitung verteilten die beiden Heraus¬ 
geber den umfangreichen Stoff so, dass Retzius die Masse, 
Fürst die Farben übernahm, doch in stetem Einverständnis und 
Zusammenwirken. 

Dem Ganzen dient als Einleitung ein „Blick auf die Vor¬ 
geschichte und Geschichte Schwedens“ aus Retzius* Feder, mit 
besonderer Rücksicht auf die erste Besiedelung, Einwanderungen 
und jetzige Bevölkerung, sowie auf frühere Ansichten und Unter¬ 
suchungen über die Rassenverhältnisse des Landes. Nur nach 
Norden und Westen hängt dieses mit andern Ländern, Finnland 
und Norwegen zusammen, und zwar durch gebirgige und waldige, 
meist öde und wüste oder doch nur ganz schwach bevölkerte 
Grenzgebiete; sonst ist es vom Meer umflossen. Die Küsten sind 
meist felsig und durch vorgelegte Schären wie mit einem Schutz¬ 
wall umgeben. Da in alten Zeiten „die Schiffahrt sehr gefährlich 
und wenig entwickelt war“ (immensus ultra utque sic dixerim 
adversus oceanus raris ab orbe nostro navibus aditur, sagt noch 
Tacitus, Germ. 2), war das Land wie wenig andere von der 
Aussenwelt abgeschlossen und gegen grössere Einwanderungen 
und feindliche Einfälle geschützt Nach dem Abschmelzen des 
Inlandeises hatte auch der Mensch, „von Süden her“ vordringend, 
von dein Lande Besitz ergriffen. „Alles weist darauf hin, dass die 
älteste Bevölkerung von den dänischen Inseln“ gekommen ist und 
sich allmälig im Lande ausgebreitet hat. Sie stand noch auf der 
von Toreil 15 „mesolithisch“ genannten Entwicklungsstufe und hat 
erst in Schonen die verhältnismässig hohe Gesittung der neueren 
Steinzeit erreicht. Damals waren Schonen, Blekinge, Ilalland, 
Westgotland, und Bohuslän die „hauptsächlichsten „Bevölkerungs- 
centra“. Während der Bronze- und Eisenzeit „drangen die An¬ 
siedler immer mehr nach den östlichen und nördlichen Gegenden 
des Landes vor, und die Verbindungen mit den umgebenden Län¬ 
dern über das Meer wurden allmälig zahlreicher“. Die Wikinger- 
flotten, die später nicht nur die Nord- und Ostsee, sondern sogar 
das Mittelmeer befuhren, brachten oft Gefangene beim, und der 
sich entwickelnde Handel wie auch das Christentum führten allerlei 
fremdes Volk ins Land. Von Nordosten her breiteten sich die 
Lappen aus, ohne jedoch weit nach Süden vorzudringen und die 



44 


Zusammensetzung der Bevölkerung erheblich zu beeinflussen. Die 
Verbindungen mit Finnland führten zuerst mehr Auswanderer 
hinüber als Einwanderer herüber, aber im 16. und 17. Jahrhun¬ 
dert wurden von mehreren schwedischen Königen zahlreiche Finnen 
zur Urbarmachung unbewohnter Waldländereien in Schweden-an- 
gesiedelt. Diese sind trotz anfänglicher Feindseligkeit fast ganz 
in den Schweden aufgegangen, so dass jetzt nur noch wenige 
alte Leute finnisch verstehen. Ganz im Norden, in Västerbotten 
an der russischen Grenze, wohnt dagegen noch im wilden Wald¬ 
land eine geschlossene finnische Bevölkerung von 20000 Seelen. 
Zum Betrieb der Bergwerke sind im 17. Jahrhundert auch viele 
Wallonen ins Land gekommen, deren Nachkommen jetzt auf un¬ 
gefähr 5000 Seelen geschätzt werden; von ihrer Sprache ist mit 
Ausnahme einiger Fachausdrücke nichts übrig geblieben, doch 
machen sich, gerade wie bei uns die Waldenser- und Hugenotten¬ 
gemeinden, die Wallonen noch teilweise durch ihre Namen und 
dunkleren Farben bemerklich. Nicht ohne Einfluss konnten 
selbstverständlich die grossen Kriege unter Gustav Adolf und 
Karl XII. bleiben; viele schwedische Offiziere und Soldaten, die 
lange im Ausland gedient hatten, brachten fremde Fraueu mit 
nach Hause, und zahlreiche Ausländer nahmen Kriegsdienste in 
den schwedischen Heeren und folgten ihren siegreichen Fahnen. 
Daher kommt es, dass der schwedische Adel grösstenteils fremden 
Ursprungs ist. Der sich mehr und mehr entwickelnde Handel 
und Seeverkehr führte viele ausländische Handelsleute, darunter 
auch Juden, in die Hafenstädte, die sich dort aus Geschäfts¬ 
rücksichten zumteil dauernd niederliessen und entweder Weib 
und Kind mitbrachten oder Töchter des Landes heirateten. Daher 
finden sich gerade im Bürgerstand der Städte auffallend viele 
Familien „mit fremden, gewöhnlich deutschen oder holländischen, 
seltener englischen, französischen oder italienischen Namen“. Es 
wäre daher durchaus nicht zu verwundern, wenn genauere Unter¬ 
suchungen auch der städtischen Bevölkerung ergäben, dass diese 
rundköpfiger 16 ist als die ländliche. 

Dass das schwedische Volk ein germanisches ist und als 
solches zu dem grossen indogermanischen oder arischen Sprach¬ 
stamm gehört, ist unbestritten, dass es in „seinen Grundbestand¬ 
teilen“ von der Rasse abstammt, die seit der Steinzeit das Land 
bewohnt, haben die anthropologischen Untersuchungen, um die 



45 


sich besonders Retzius Vater und Sohn und v. Düben verdient 
gemacht, unzweifelhaft dargetan; dass die Rasse der Vorzeit nicht 
nur die Schädelgestalt, sondern auch die übrigen Merkmale, helle 
Farben und hohen Wuchs, mit der heutigen Bevölkerung gemein 
batte, „ist in hohem Grade wahrscheinlich“. Es sei hier gestattet 
beizufügen, dass naturwissenschaftliche Forschung die Wahr¬ 
scheinlichkeit zur Gewissheit erhoben hat. Vor ungefähr zwölf 
Jahren hat im chemischen Laboratorium in Kopenhagen Bille 
Gram die Menschenhaare aus sechs Baumsärgen der Bronzezeit 
einer genauen Prüfung unterworfen 17 und gefunden, dass die durch 
Feuchtigkeit und Gerbsäure dunkel gefärbten Haare nach chemischer 
Reinigung eine ganz helle Farbe bekamen. Mit hellen Haaren 
sind aber, wenn es sich nicht um Mischlinge handelt, nach dem 
Naturgesetz auch blaue Augen und weisse Haut verbunden. 

Haben wir nun die Berechtigung, diese Rasse „gemanisch“ zu 
nennen? Retzius ist der Ansicht, dass „sich die Forscher in 
dieser Hinsicht im allgemeinen dahin geeinigt haben, als in 
anthropologischem Sinne germanisch die Teile der arischen Rasse 
zu bezeichnen, welche, wenigstens soweit die Geschichte reicht, 
im nördlichen Europa gewohnt haben, dolichocephal (resp. meso- 
cephal) und orthognath sind und eine hohe Statur, helles Auge, 
belle Haut und blondes Haar besitzen“. Beide Ausdrücke aber, 
„germanisch“ wie „arisch“, sind von geschichtlichen Völkernamen 
abgeleitet, und ich habe wiederholt, besonders in einem Vortrag 18 
über „Rassen und Völker“ auf dem 7. Internationalen Geographen¬ 
kongress, Berlin 1899, darauf hingewiesen, welche Verwirrung 
durch die Bezeichnung rein naturwissenschaftlicher Begriffe mit 
geschichtlichen Namen entsteht. Die einzige Ausnahme, die ich 
gelten lasse und selbst mache, ist „germanische Rasse“, weil 
unsere Vorfahren beim Eintritt in die Geschichte von völlig reiner 
Rasse 19 waren und weil, wie gerade das vorliegende Werk un¬ 
widerleglich beweist, diese Rasse bei dem nicht ausgewanderten 
Teil der Germanen sich bis auf den heutigen Tag trotz dem ins 
Ungeheuere gesteigerten Weltverkehr nahezu unvermischt erhalten 
hat. Die Ansichten von der „Wiege“ und dem „Urheim“ der 
Germanen in Skandinavien entbehren nach Retzius’ Meinung 
„noch einer wissenschaftlich sicheren Begründung“. Er hält es 
für „erlaubt“, überall in Europa (von Asien spricht er nicht 
mehr) nach demselben zu suchen, findet es aber „erklärlich 



46 


und natürlich“, dabei auch an die Gegenden zu denken, wo 
„die Germanen sich am reinsten erhalten“ haben. Ebenso 
vorsichtig, mit der Zurückhaltung des wahren Naturforschers, 
äusscrt er sich auch in den Crania suecica antiqua; in dem 
Bericht, über die schwedische Ausgabe 20 habe ich mir jedoch 
erlaubt, dazu folgendes zu bemerken: „Wenn ich am Schlüsse 
der Besprechung dieses schönen und wertvollen Werkes meine 
eigene Ansicht äussern darf, so geht sie dahin, dass man bei 
strengster Wissenschaftlichkeit doch etwas weiter gehen darf als 
der Verfasser, dem die Lehre vom Verbreitungszentrum der lang¬ 
köpfigen, hellfarbigen und hochgewachsenen Rasse (Homo euro- 
paeus Linnd) in Skandinavien noch nicht genügend begründet 
scheint. Haben in dem, soweit unsere Kenntnis reicht, von Ariern 
bewohnten Schweden seit der ersten Besiedelung des Landes nach 
der Eiszeit keine Einwanderungen 21 mehr stattgefunden, so ist 
die Blutsverwandtschaft, sowie die sprachliche und kulturelle 
Übereinstimmung der skandinavischen mit den übrigen arischen 
oder indogermanischen Völkern nur durch Auswanderungen zu 
erklären“. Übrigens hat mir Retzius brieflich sein Bedauern 
ausgesprochen, meine Arbeiten über die Herkunft der Arier** 
damals noch nicht gekannt zu haben, und in sehr liebenswürdiger 
Weise die Aufnahme eines kürzlich in der Zeitschrift Ymer 
erschienenen Aufsatzes von mir über die Einwanderungsfrage 
vermittelt. 

Das Königreich Schweden ist bei einer Länge von 1600, einer 
Breite von 400 km (442126 qkm) nur wenig kleiner als das 
Deutsche Reich, enthält aber viele schwach bevölkerte Teile, so 
dass die Zahl der Einwohner nur 5140000, darunter 2486500 
männliche und 2611000 weibliche, beträgt. Wie gross die Ver¬ 
mehrungsfähigkeit der Bevölkerung ist, geht daraus hervor, dass 
sie Ende des 16. Jahrhunderts noch keine Million ausmachte 
und sich im letzten Jahrhundert trotz starker Auswanderung 
verdoppelt hat. Es gibt zwar 95 Städte, darunter aber viele 
kleine und nur zwei grosse, Stockholm mit 300000 und Goten¬ 
burg mit 140000 Einwohnern. Das Land ist reich an Wasser 
und, besonders in seinen südlichen Teilen, sehr fruchtbar. Un¬ 
gefähr vier Fünftel der Bevölkerung wohnen auf dem Lande und 
mehr als die Hälfte nährt sich, obgleich auch hier Handel und 
Industrie sich mächtig entwickelt haben, noch von Ackerbau und 



47 


Fischerei. Unter den Arbeitern befinden sich mehr als 60000 
Wald- und Holzarbeiter, deren Lebensweise sich nicht Niel von 
der bäuerlichen unterscheiden wird. 

Das Königreich zerfällt von Süden nach Norden in drei 
Hauptteile, Götaland, Svealand und Norrland, tnit 10, 6 und 8. 
zusammen 24 Landschaften (landskap); es ist eingeteilt in 25 
Verwaltungsbezirke oder Hauptmannschaften (län) und zahlreiche 
Gerichtssprengel (härader) und Kirchspiele (socknar). 

Gehen wir nun zu den Einzelheiten über, so haben wir zu¬ 
nächst die von Retzius bearbeitete Körpergrösse der Schweden 
zu beachten. Frühere Beobachter, z. B. Baxter, 3 * die sich aber 
nur auf eine beschränkte Zahl von Messungen stützen konnten, 
gaben die Dorchschnittsgrösse auf etwa 1,70 m an. Im Jahre 
1875 hatte der norwegische Militärarzt Arbo eine statistische 
Arbeit* 4 herausgegeben, die für uns besondere Bedeutung hat, 
weil sie, wie die ganz ähnliche 33 aus Ammons Feder, eine Zu¬ 
nahme (0,075 Zoll, schwedisch oder norwegisch?, d. h. ungefähr 
2 cm in 30 Jahren, gegen 1cm bei uns in 24 Jahren) der Länge 
bei den schwedischen Wehrpflichtigen feststellt; die Vergleich¬ 
barkeit beider Untersuchungen ist um so grösser, eis sie die 
selbeZeit, 1840—1870 und 1840—1864, behandeln. Beide Forscher, 
der nordische wie der badische, stimmen darin überein, dass sie 
als Ursache dieser Zunahme die Verbesserung der Lebensverhält- 
nisse ansehen; Ammon macht dazu die ohne Zweifel berechtigte 
Bemerkung, dass es sich hierbei wohl weniger um ein „Grösser¬ 
werden der Rasse“ als um eine Beschleunigung der Entwicklung 
handelt. Die erste eingehendere Untersuchung Uber nie Körper¬ 
grösse der Schweden wurde vor einigen Jahren von Hultkrantz 33 
angestellt auf Grund der amtlichen Berichte, die seit den Jahren 
1887—1894 an das Landwehrkommando eingeschickt worden 
waren und 232367 Mann, d. h. ungefähr den zehnten (im Text 
steht irrtümlich „fünften“) Teil der männlichen Bevölkerung 
Schwedens, umfassen. Er hat die mittlere Grösse der schwedischen 
Männer im Alter von 21 Jahren auf 1,695 m berechnet. Da die 
nordische Rasse in diesem Lebensalter noch nicht ausgewachsen 
ist, sondern nach Gould im dritten Jahrzehnt noch um etwa 
1 cm zunimmt, ergibt sich auch aus dieser auf grossen Zahlen 
beruhenden Berechnung eine Durchschnittsgrösse der vollständig 
erwachsenen Männer von 1,70 m. Bemerkenswert ist, dass auch 



48 


Hultkrantz eine Zunahme von 0,5 cm in 7 Jahren gefunden 
hat, aber doch, wie schon Ecker* 7 , die Abstammung als das 
den Wuchs hauptsächlich bestimmende ansieht. Er knüpft an 
seine Ergebnisse noch allerlei Fragen, deren Lösung er von einer 
umfassenden Volksuntersuchung erwartet 

Bezüglich des Wachstums der schwedischen Jugend hatte 
schon vorher Key* 8 sehr bemerkenswerte Messungen an Schülern 
im Alter von 9 bis zu 21 Jahren ausgefiihrt Darnach waren die 
Jünglinge höherer Stände mit 19 Jahren durchschnittlich 1,70. 
mit 20 1,71 und mit 21 1,72 m gross. Dass dieser Unterschied 
nicht bloss auf schnellerem Wachsen, sondern auch auf höherem 
Wuchs der wohlhabenden städtischen Bevölkerung beruht, geht 
aus den Mitteilungen hervor, die Forssberg 1891 in der Ge¬ 
sellschaft der Ärzte in Stockholm gemacht hat: 514 junge Leute 
unter 25 Jahren und den ärmeren Volksschichten angehörend, 
waren durchschnittlich 1,70, 58 der oberen dagegen 1,78 in gross. 
Die gleiche Erscheinung trat auch beim weiblichen Geschlecht 
hervor. 

Die grosse Untersuchung der Jahre 1897/8 ist der Hult¬ 
krantz sehen insofern nicht ganz gleichwertig, als die Minder- 
mässigen, unter 1,57 m, schon vorher ausgeschieden waren, was 
selbstverständlich die Durchschnittszahl etwas erhöht. Es findeu 
sich in den Listen unter rund 45000 Mann aber doch 107 unter 
1,57 m, die durch ein Versehen eingestellt und mitgemessen 
wurden und einigermassen den Fehler wieder ausgleichen. Aber 
auch die Grösse von 1,57 m ist nur durch 120 Mann vertreten, 
woraus hervorgeht, dass ein so niederer Wuchs in Schweden über¬ 
haupt selten ist. Im ganzen hat sich ein noch grösseres Durch- 
schnittsmass* 9 ergeben als das von Arbo (1860—70) auf 1,696, 
von Hultkrantz (1887—94) auf 1,695 berechnete, nämlich 
1,709 m; die Grossen, über 1,70 m, machen jetzt ungefähr 60% 
der Bevölkerung aus, gegen 50°/ 0 nach Hultkrantz. Die 
grössten Mannschaften, über 1,72 m, haben die Landschaften 
Härjedalen, Hälsingland, Bohuslän und die Insel Gotland gestellt, 
die kleinsten, mit 1,69 m, Lappland, die einzige Landschaft, die 
wegen Beimengung lappischen Blutes unter 1,70 m bleibt. 

Die gebirgige oder ebene Beschaffenheit, hohe oder tiefe Lage 
der einzelnen schwedischen Landschaften scheint den Wuchs ihrer 
Bewohner ebensowenig zu beeinflussen wie die Wohlhabenheit; < 



49 


das arme Ilälsingland und Härjedalen bringt grössere Menschen 
hervor als das reiche Ostgotland und Schonen. 

Leider hat man früher die in alten Gräbern gefundenen 
langen Knochen wenig beachtet; doch scheint aus den vor. Guld- 
berj; 30 in Norwegen gemachten Erfahrungen hervorzugehen, 
dass der Wuchs der vorzeitlichen skandinavischen Bevölkerung 
von dem der lebenden kaum verschieden war. 

Es ist hier vielleicht am Platze, einige Worte über den 
Wert zweigipfeliger Kurven, aus denen man früher weitgehende 
Schlüsse auf Mischung verschiedener Rassen gezogen hatte, einzu¬ 
schalten. Retzius erkennt mit Livi und Ammon' 1 an, 
dass hierbei meist der Zufall sein Spiel treibt, und „hält es für 
einen Gewinn, die Wahrheit auch in solchen Fällen, wo sie unsere 
Kartenhäuser zerschlägt, zu ermitteln“. In der Tat gibt sich 
eine Rassenmischung viel mehr durch Streckung und Verflachung 
als durch Spaltung der Kurve zu erkennen. 

Ziehen wir unsere badischen Ergebnisse zum Vergleich heran, 
so stehen wir mit einer Durchschnittsgrösse von 1,652 m und 
nur 23,5 °/o Grossen, allerdings bei einer um ein Jahr jüngeren 
Mannschaft, recht tief unter Schweden. Ein Überblick über die 
anderen europäischen Länder lehrt, dass im allgemeinen, von 
einigen Inseln hochgewachsener Bevölkerung wie Oberbayern und 
Bosnien abgesehen, der Wuchs abnimmt, je weiter wir uns von 
Schweden entfernen: Norweger 1,697, Engländer 1,696 (etwas 
zu hoch, weil es dort keine „Wehrpflichtigen“ gibt), Dänen und 
Schleswiger 1,692, schwedische Finnländer 1,684, Finnen 1,669, 
Elsass-Lothringer 1,666, Franzosen 1,654, Badener 1,652, Würt- 
temberger 1,651, Russen 1,642, Spanier 1,640, Schweizer 1,636, 
Italiener 1,624, Portugiesen 1,622 m. Schweden ist demnach 
der Ausstrahlungsmittelpunkt der Grossen in Europa. 

In ähnlicher Weise wie bei uns wurde auch die Sitzgrösse 
und ausserdem die Armbreite gemessen. Aus diesen Massen geht 
hervor, dass die Schweden ziemlich langgliederig sind und dass 
die grössten Leute auch die längsten Arme und Beine haben. 
Die Armbreite ist immer etwas grösser als die Leibeslänge, im 
Mittel 1,764 m, Index 104. 

Ehe ich nun zu den ungleich wichtigeren, von Retzius 
bearbeiteten Kopfmassen übergehe, möchte ich vorausschicken, 
dass gerade die grosse Volksuntersuchung in Schweden, dem Ge- 

4 



V * 


$0 

burtslande der Schädelmessung, für Jeden, der sehen will, die 
grosse Bedeutung des Längenbreitenverhältnisses als Rassenmerk- 
raal“ unwiderleglich dargetan hat. Welch ein Unterschied zwischen 
nnseren nordischen StammVerwändteh und den Süddeutschen, 
beispielsweise uns Badenern, die wir uns doch auch germanischer 
Abkunft berühmen! Das kann unmöglich auf Zufall beruhen. 

Vor 60 Jahren schon“ hat Anders Retzius, allerdings 
nur an wenigen ausgewählten Schädeln der anatomischen Samm¬ 
lung, festgestellt, dass die Gestalt des Schweden schädels eine 
längliche ist, indem die Breite zur Länge sich wie 773:1000 
verhält (Index 77,3). Sein Nachfolger v. Düben gibt für die 
neuzeitliche Bevölkerung durchschnittlich 77,1, für die vorzeitliche 
73,1 als Schädelindex an. Clason, der ohne genügenden wissen¬ 
schaftlichen Grund zwei Arten von Schädeln (ovale und elliptische) 
unterscheidet, hat für Schädel aus Begräbnisstätten in der Nähe 
von Upsala“ folgende Durchschnittszahlen gefunden: steinzeitlicbe 
72,4, mittelalterliche 74,5, neuzeitliche 76,3. Er zieht daraus 
den nicht unberechtigten Schluss, dass die Schädelgestalt in 
seinem Vaterlande von der ältesten bis zur neuesten Zeit all- 
mälig ein wenig rundlicher geworden ist. In den andern Län¬ 
dern, besonders in Süddeutschland, finden wir ein wesentlich 
anderes Verhalten; während die Steinzeit ganz der schwedischen 
gleicht, gibt sich in den folgenden Zeitaltern ein wiederholte? 
An- und Abschwellen der Länge des Schädels zu erkennen, je 
nachdem Einwanderungen stattgefunden haben. Die germanische 
Völkerwanderung bringt dann wieder Schädel von ausgesprochenem 
Langbau, der sich, wie wir an den Schädelfunden aus Reihen¬ 
gräbern, Grüften, Beinhäusern und Friedhöfen feststellen können, 
von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr und mehr verliert und in 
die rundliche Gestalt übergeht. Schon daraus lässt sich schlicssen. 
dass bei uns infolge von Einwanderungen eine wiederholte Zufuhr 
reiner Rasse stattgefunden hat, die immer wieder in einer Misch¬ 
lingsbevölkerung aufgegangen ist, während in Schweden die Rasse 
stets die gleiche war und man höchstens von einem spärlichen 
Einsickern fremden Blutes reden kann. 

Sehen wir, was die neuesten Erhebungen bezüglich der Kopf¬ 
form der lebenden Bevölkerung ergeben haben. Als wichtigste 
und während des Lebens unveränderliche Masse müssen Länge 
und Breite gelten, deren Verhältnis sich in dem sog. ,,Index" 



51 


ausdrückt und der Einteilung der gesamten Menschheit in Lang¬ 
köpfe (Dolichocephale, Index unter 80) und Rundköpfe (Rrachy- 
cephale, Index 80 und dattiber) zu gründe liegt. Da das Ver¬ 
hältnis der beiden Durchmesser am lebenden Kopf selbstverständlich 
ein anderes ist als am Schädel, bespricht Retzius auch die Art 
der Umrechnung des Kopf- in den Schädelindex. Obgleich ihm 
nach seinen eigenen Berechnungen der Abzug von zwei Ein¬ 
heiten „etwas zu gross“ und „ungefähr 1 # / 4 “ das Richtigste 
scheint, obwohl er zugibt, dass derselbe bei länglichen oder runden 
Köpfen verschieden sein muss, bleibt er doch, da die „entstehenden 
Fehler im ganzen unbeträchtlich sind“, bei der von Broca ange¬ 
gebenen Durchschnittszahl. Fürst hat sich der Mühe unter¬ 
zogen, die Dicke der Kopfschwarte mittels einer geölten Nadel 
an 14 Leichen zu messen, und daraus den Unterschied zwischen 
Kopf- und Schädelindex auf 1,83 berechnet. In der abgedruckten 
Zusammenstellung sind jedoch einige Fehler enthalten, besonders 
ist der Unterschied von 3,63, welche Zahl mir sogleieh aulfiel, 
beim vierten Kopf zu gross; nach Berichtigung dieser Versehen 
ermässigt sich der durchschnittliche Unterschied auf 1,70. Ich 
kann in dieser für den messenden Anthropologen immerhin nicht 
unwichtigen Frage nur wiederholen, was ich in dem schon an¬ 
geführten Vortrag über „Schädelmessung“ gesagt habe: „Durch 
Untersuchungen an 19 Leichen hatte er (Broca, der zuerst sein 
Augenmerk auf diese Frage 8 * gerichtet hat) festgestellt, dass an 
dem mit Hüllen umgebenen Kopf der Längsdurchmesser durch¬ 
schnittlich um 0,6 cm, der Querdurchmesser um 0,8 cm, der Index 
um 1,68 grösser ist als am Schädel, glaubt aber, bei Vergleichungen 
mindestens zwei Einheiten vom Kopfindex abziehen zu müssen, 
während andere Anthropologen wie Topinard, Virchow, 
Stieda,Livi teils damit übereinstimmen, teils überhaupt keinen 
nennenswerten Unterschied zugeben. Die Wahrheit liegt buch¬ 
stäblich in der Mitte, und es ist nur zu verwundern, dass eine 
so einfache Sache nicht schon früher endgiltig entschieden 
worden ist. Wie 1889 zuerst Ammon auf der hiesigen (Heidel¬ 
berger) Naturforscherversammlung, dann in seinem Buch Die 
natürliche Auslese beim Menschen 88 auseinandergesetzt, 
kann das Verhältnis gar kein gleichmässiges sein, sondern hängt 
ganz vom Index ab, da ein Bruch seinen Wert ändert, wenn 
Zähler und Nenner um den gleichen Betrag vergrössert werden. 

4* 



52 


Während bei einem vollkommen runden Schädel eine gleichmässig 
dicke Weichteilhülle den Index 100 gar nicht beeinflusst, muss 
sie bei einem sehr schmalen, beispielsweise von Index 60, diesen 
erheblich vergrössern. Streng genommen muss man also, um 
Schädel und Kopf vergleichen zu können, die Durchmesser des 
ersteren um die Dicke der Weichteile verlängern und dann erst 
den Index berechnen. Da beim Querdurchmesser des Kopfes 
auf beiden Seiten die behaarte Haut und die Ausstrahlung des 
Kaumuskels in Betracht kommt, da ferner nach Welckers 87 
Untersuchungen auch die Durchtränkung der lebenden Knochen 
diesen Durchmesser etwas verbreitert, müsste eigentlich für ihn 
etwas mehr angesetzt werden. Aus Gründen der Zweckmässigkeit 
habe ich aber schon Vorjahren* 8 vorgeschlagen, in beiden Fällen 
1,0 cm zu nehmen, was für den Längsdurchmesser wohl etwas 
zu viel ist, aber gerade dadurch •• den Fehler ausgleicht. Nach 
dieser Berechnung entspricht einem Schädelindex von 80 ein 
Kopfindex von 81, und da schon v. Baer 40 diesen Index als den 
mittleren des gesamten Menschengeschlechts be¬ 
zeichnet hat, so wird man in den meisten Fällen und besonders 
bei grossen Zahlen der Wahrheit am nächsten kommen, wenn 
man vom Kopfindex, um ihn mit dem des Schädels vergleichen 
zu können, eine Einheit 41 (nicht wie bisher meist zw r ei) abzieht; 
wer noch genauer sein will, kann bei Indices, die um 70 liegen, 
1,5, bei solchen um 90 dagegen 0,5 abziehen, bezw. zuzählen. 

In den Tabellen der „Anthropologin suecica“ ist nicht der 
Kopfindex, sondern nach Abzug von zwei Einheiten der Schädel¬ 
index angegeben; die Bruchteile sind weggelassen. 

Das sehr bemerkenswerte Gesamtergebnis, unter 45000 Land¬ 
wehrleuten 87°/ 0 Langköpfe (Index unter 80, darunter 30 4 „ 
ethte Dolichocephale mit Index unter 75) und nur 13 °/ 0 Rund¬ 
köpfe (Index 80 und darüber), weicht erheblich von unsenu 
badischen ab, 11 °/ 0 Langköpfe (darunter nur 0,4 % echte 

Dolichocephale) gegen 89 % Rundköpfe. Das Verhältnis ist also 
gerade umgekehrt. Dabei ist aber zu bemerken, dass auch bei 
uns, wenn wir die nördlichen Lar.desteile in die Berechnung ein- 
liezogen hätten, eine etwas grössere Zahl von Langköpfen heraus¬ 
gekommen wäre. Auch in Schweden verhalten sich die einzelnen 
Gegenden nicht gleichmässig: acht Landschaften, die ziemlich die 
Mitte des Landes einnehmen, haben unter 10 °/ 0 Rundköpfe und 



53 


über 30°/ 0 echte Dolichocephale; darunter ragt Dalsland hervor 
mit nur 5 °/ 0 Rundköpfen und 45% echten Dolichocephalen. In 
Lappland macht sich mit 24% Rundköpfen die Nachbarschaft 
der fremdrassigen oder mischblütigen Lappen und Finnen be¬ 
merkbar. „Quer durch das mittlere Schweden läuft ein breites 
Band“ ausgesprochener Langköpfigkeit. während nach Norden 
wie nach Süden zu die Rundköpfe zunehmen. Fünf farbige 
Karten machen das Verhältnis sehr anschaulich. 

Der durchschnittliche Kopfindex in Schweden ist 77,85, in 
Baden 84,14 oder nach Ausgleichung der verschiedenen Messungs¬ 
arten 83,67, ein Unterschied von nahezu sechs Einheiten, der 
allerdings aus den erwähnten Gründen wohl etwas zu gross 4 * sein 
dürfte. Der rassenhafte Langbau des Schädels prägt sich beson¬ 
ders im Längsdurchmesser aus, der in Schweden sehr beträchtlich 
ist, in allen Landschaften über 19 cm, im Durchschnitt 19,29 cm, 
gegen 18,28, bezw. 18,38 cm in Baden, d. h. um nahezu 
1 cm grösser. Für 63 von Ecker und mir 4 * gemessene männ¬ 
liche Schädel aus südwestdeutschen Reihengräbern habe ich eine 
mittlere Länge von 18,8 cm berechnet; führen wir durch Abzug 
der durch die Versuche dreier Anatomen ermittelten Durchschnitts¬ 
zahl von 0,77 cm die schwedische und die badische Kopflänge 
auf die des Schädels zurück, so erhalten wir 18,52 und 17,61 cm; 
die ersterc ist also seit der altgermanischen Zeit ziemlich die 
gleiche geblieben, die letztere um mehr als 1 cm zurückgegangen. 
All das lässt sich nur durch eine bei uns sehr bedeutende, in 
Schweden dagegen kaum merkliche Rassenmischung erklären. 

Da die Breite der schwedischen Köpfe nur wenig hinter der 
der badischen, 15,10 und 15,38, zurückbleibt, so ist das Runder¬ 
werden des Schädels in Süddeutschland hauptsächlich auf eine 
Verkürzung desselben, die den Hohlraum nicht vergrössert haben 
kann, zurückzuführen. 

Seit der Steinzeit hat sich die Schädelgestalt der Bevölkerung 
von Schweden kaum geändert. Für die drei Vorzeitalter berechne 
ich aus 117 in „Crania suecica antiqua“ beschriebenen Schädeln 
einen mittleren Index von 75,2, und ziehen wir von dem Kopf¬ 
index von 77,8, um ihn in dqn Schädelindex zu verwandeln, 1,25 
ab, was für diese Kopfform der Wahrheit ziemlich nahe kommen 
wird, so erhalten wir 76,6; der Index hat also seit Jahrtausenden 
um wenig mehr als eine Einheit sich erhöht. Welch ein Unter- 



54 


schied gegen Süddeutschland! Nach Ausgleichung der ver¬ 
schiedenen Messungsarten ergibt sich für 70 von Ecker und mir 
untersuchte Schädel* 1 ein mittlerer Index von 73,8, das ist um 
ungefähr neun Einheiten weniger als der Schädelindex 82,7 (nach 
Abzug von 1,0, was für diese Form annähernd das Richtige) der 
jetzt lebenden badisehen Bevölkerung; da die deutschen Alpenr 
länder noch höhere Indices aufweisen, beträgt hier der Unterschied 
zehn und mehr Einheiten. In Böhmen, das allerdings jetzt grössten¬ 
teils von Slaven bewohnt wird, hat sich der Index seit der Marko¬ 
mannenzeit von 74 auf 8C, also um zwölf Einheiten, erhöht. 

Ein vergleichender Überblick über die andern europäischen 
Länder lehrt wieder, dass von Schweden aus die Langköpfigkeit 
nach allen Seiten hin abnirnmt, besonders nach Osten und bis zu 
den Alpen; im Süden und Westen unseres Weltteils liegen die 
Verhältnisse etwas anders, denn hier kommen wir in das Ver¬ 
breitungsgebiet (ein Mittelpunkt lässt sich nicht finden) der eben¬ 
falls langköpfigen Mittelmeerrasse (Homo mediteraneus). Der 
Kopfindex beträgt in England 77,8, schwedisch Finnland 77,9, 
Spanien 78,2, den Ostseeprovinzen 78,5, Westfinnland (Tawastr 
land) 78,9, Norwegen ungefähr 79, Ostfinnland 15 (Karelien) 80,8, 
Österreich 82,5, Belgien 83,1, Luxemburg 87,4, Frankreich 83,5, 
Kleinrussland 84,0, Polen 84,4, Tirol 84,8, Grossrussland 85,4, 
Bosnien 85,7, Rumänien 86,2, Böhmen 86,3 und in Pamir, auf 
dem „Dache der Welt“, wo manche Leute noch heute den Ur¬ 
sprung der Arier suchen, 87. 

Eine Erscheinung, die bei uns in Baden, wenn auch nicht 
sehr ausgesprochen und nicht in allen Landesteilen, sich bemerkbar 
gemacht hat, ist in Schweden noch deutlicher hervorgetreten, 
nämlich die Neigung des Langbaus des Schädels, sich mit hohem 
Wuchs zu verbinden, was Ammon „das Gesetz der Langköpfig^ 
keit der Grossen“ genannt hat. Unter der grossen (1,70 in und 
darüber) schwedischen Mannschaft befinden sich 62,8 °/ Q echte 
Dolichocephale (Index unter 75), unter der kleinen nur 31,2*v 
Ganz ähnliche Beobachtungen hat auch Zograf 16 in Russland 
gemacht. Er sagt: „Die sehr seltenen Fälle reiner Dolichocephalie 
(4 unter 191 Mann des Gouvernements Wladimir) wurde nur bei 
Grossen angetroffen, und im Gouvernement Kostroma zeigte sich 
die merkwürdige Tatsache, dass unter dea Grossen 15 °/ 0 Dolichoide, 
12° 0 Meso- und 73 °,' 0 Brachycephale waren, während umgekehrt 



55 


bei den Kleinen gar keine Dolicholoiden, nur 2% Meso-, dagegen 
98°, 0 Brachycepbale eich fanden.“ Qollignons Ergebnisse 47 
waren entsprechend, wenn auch nicht so augenfällig, und Weis* 
bach kam bei seinen Untersuchungen der Salzburger 4 * zu dem 
Schlüsse: „Die Männer dolichoider Kopfgestalt sin<J immer höheren 
Wuchses als die Brachycephalen.“ Ammon ist''dadurch auf den 
zweifellos richtigen Gedanken gekommen, „dass die Grösse und 
Langköpfigkeit des nordeuropäischen Typus einerseits und die 
Kleinheit und Rundköpfigkeit des alpinen Typus anderseits noch 
jetzt mit einer gewissen Bevorzugung zusammen vererbt werden, 
trotz der vielfachen Kreuzungen“, Weitergehende Schlüsse darf 
man aber nicht ziehen, ein anderer ursächlicher Zusammen* 
hang fehlt, und ein Gesetz, wie es Welcker 49 aus deu zufälligen 
Befunden an der kleinen Zahl von 15 Schädeln glaubte ableiten 
zu dürfen, dass nämlich nach der Grösse geordnete Skelette 
„zugleich geordnet sind nach den Graden ihrer Brachy- und 
Dolichocephalie“, gibt es nicht. Gerade die grössten Menschen, 
Patagonier und Bosnier (letztere durchschnittlich 1,72 cm gross 
hei Index 85,7), sind ausgesprochene Rundköpfe; obgleich die 
vorgeschichtlichen Bewohner von Bosnien langköpfig 80 waren und 
auch die später einwandernden Slaven ursprünglich der nord¬ 
europäischen Rasse 81 angehörten, haben hier doch besondere 
Mischungsverhältnisse und Lebensbedingungen zusammengewirkt, 
die Langköpfigkeit zu verdrängen, den hohen Wuchs dagegen zu 
erhalten, bezw. zu begünstigen. Dass das Verhältnis in Italien 
sich umkehrt, darf uns nicht wundern, denn hier gehört die Mehr¬ 
heit der Bevölkerung der Mittelmeerrasse (Homo mediterraneus) 
an, die zwar langköpfig, aber klein ist. 

Das Gesicht ist, wie schon erwähnt, nur in den beiden Land¬ 
schaften Dalarne und Västmanland von Retzius gemessen (Joch¬ 
bogenbreite und Höhe vom Kinn bis zur Nasenwurzel), in den 
übrigen von den andern Beobachtern nur geschätzt (länglich oder 
rund) worden. Darnach hätten die geschätzten Landschaften */ 5 , 
die gemessenen dagegen nur */* längliche Gesichter aufzuweiseu, 
Ergebnisse, die schwer zu vereinigen sind und vorläufig noch 
keine sicheren Schlüsse zulassen. Wie schon der ältere Retzius 
lege auch ich auf die Gesichtsbildung als Rassenmerkmal weniger 
Wert. Pie Rasse von Cro-Magnon (Homo priscus), von der 
die nordeuropäische (Homo europaeps Linnö) abstammt, hat wegen 



56 


der stark ausgebildeten Kiefer ein zwar breites, aber durchaus 
nicht kurzes 5 * Gesicht mit ziemlich schmaler Nase- Bei der mit 
der zunehmenden Gesittung Hand in Hand gehenden Rückbildung 
der Kiefer verschmälerte sich auch das Gesicht, blieb aber hei 
gewissen bäuerlichen, schwer arbeitenden und in mancher Hinsicht 
dem Urzustände noch näherstehenden Bevölkerungen etwas breiter. 
Eine besondere langköpfige und breitgesichtige Rasse anzunehmen, 
wie sie z. B. von KoIImann 58 vorausgesetzt wird, ist nicht geboten. 

Auch die von Fürst behandelten Farbenmerkmale bieten 
des Beachtenswerten genug. Die Schweden gehören zu den hell¬ 
farbigsten Völkern: „eigentlich braune Haut kommt in unserm 
Lande gar nicht vor“. Die feineren Schattierungen gleichmässig 
zu beurteilen und scharf zu unterscheiden, wäre einer grösseren 
Zahl von Beobachtern gar nicht möglich gewesen; daher ist die 
Haut in die Fragebogen nicht aufgenommen. In eingehender 
Weise wird die Frage des Nachdunkeins behandelt, da Pfitzner* 4 
behauptet hatte, um zwei Bevölkerungen mit einander vergleichen 
zu können, müsse man Leute von 40—50 Jahren untersuchen, 
denn erst in diesem Lebensalter hätten die Haare ihre endgiltige 
Färbung erreicht. Es ist nun zweifellos richtig und durch die 
Untersuchungen des Strassburger Anthropologen bestätigt, dass 
die hellen Haare mit den Jahren immer dunkler werden; ebenso 
sicher ist es aber auch, dass die dunkeln Haare schon im Jüng¬ 
lingsalter ihre dauernde Farbe erlangt haben und im reiferen 
Mannesalter zu ergrauen, bezw. zu bleichen beginnen. Dieses 
Alter eignet sich also ebensowenig wie das kindliche, in dem die 
Farbstoffablagerung noch nicht beendet ist, zu anthropologischen 
Untersuchungen. Auch sind schon aus äusseren Gründen reife 
und selbständige Männer für solche Zwecke nicht zu haben, 
während der Heeresdienst die jungen Leute zusammenführt und 
einem höheren Willen unterwirft. Wehrpflichtige und Soldaten 
werden daher immer den geeignetsten und zugänglichsten Stoff 
für grössere Untersuchungen abgeben. Das späte und langsame 
Nachdunkeln ist ja gerade ein Merkmal der nordischen Rasse; 
viele Schweden behalten bis ins hohe Alter gelbe Haare, die dann 
unmittelbar die weisse Greisenfarbe annehmen. Dass die Regen¬ 
bogenhaut, wie Pfitzn er meint, während des Lebens unverändert 
bleibe, ist nicht richtig; auch sie dunkelt, wie Jeder an seinen 
eigenen Kindern beobachten kann, nach. Sogar die Negerkinder 



57 


kommen mit rötlicher Haut und hellen Augen zur Welt, nehmen 
aber sehr rasch — das ist eben auch eine Rasseneigentümlichkeit 
— die dunkle Färbung an. 

Da sich das blaue Auge vom grauen weniger durch die Farb- 
stoffnienge — beide sind arm an Farbstoff — als durch Brechungs¬ 
verhältnisse und grössere oder geringere Durchsichtigkeit der 
Regenbogenhaut unterscheidet, haben die schwedischen Forscher 
recht daran getan, beide Farbenstufen unter der Bezeichnung 
„helle Augen“ zusammenzufassen. Das empfiehlt sich auch schon 
aus Zweckmässigkeitsgründen; denn die Farben „blau, stahlblau, 
wasserblau, blaugrau, graublau, grau“ sind selbst von einem ein¬ 
zelnen Beobachter bei gleicher Beleuchtung schwer auseinander¬ 
zuhalten. Die „grünen“ oder „gemischten“ Augen mit ihren dunklen 
Einsprengungen auf hellem Grunde lassen sich dagegen leicht von 
den durchaus hellen wie von den gleichmässig dunkeln unterschei¬ 
den. In Schweden wie bei uns ist das „gemischte“ Auge wohl in den 
meisten Fällen auch ein Mischlingsauge; es ist aber anzunehmen, 
dass auch ohne Blutmischung, allein durch Veränderung der äus¬ 
seren Verhältnisse, Aufhellung oder Verdunkelung der Regen¬ 
bogenhaut in ähnlicher Weise vor sich gehen würde, indem einzelne 
Stellen derselben zuerst den Farbstoff verlieren oder aufnehmen. 

Helle Augen hatten von den schwedischen Wehrpflichtigen 
rund 30000 Mann, d. i. 66,7%, darunter rein blaue 47,4 °/ 0 und 
graue 19,3 °; 0 . Rein braune Augen kamen nur bei 1970 Mann, 
d. h. 4,5% vor; die übrigen 28,8°/ 0 fallen auf die gemischten. 
Unsere badischen Zahlen weichen hiervon nicht erheblich ab 
(64,5% helle, darunter 41,3 °/ 0 blaue, und 12,6 °/ 0 braune Augen), 
doch haben die Schweden mehr rein blaue, wir dagegen dreimal 
so viel braune Augen. Blond (gelbe und aschfarbene Haare ver¬ 
einigt) waren 75,3%, drei Viertel der schwedischen Mannschaft, 
braun 21,6 %, rot 2,3% und schwarz nur 0,8%; bei den Haaren 
macht sich also ein grösserer Unterschied bemerklich, da wir nur 
41,6% blonde und 1,7% rote, dagegen 37,7% braune und 
18,0% schwarze haben. Die Roten sind nach Fürsts Meinung 
zu den Blonden zu rechnen, und es ist möglich, dass in Schweden 
mehr als im Süden eine goldene, ins Rötliche spielende Haar¬ 
farbe vorkommt. Bei uns, und gewiss zumteil auch im Norden, 
ist das rote Haar entschieden ein Mischlingsmerkmal, das beson¬ 
ders dann beobachtet wird, wenn ein Elternteil schwarz, der 



58 


andere hell ist. „Die von manchen Anthropologen beliebte Ver-r 
einiguug mit den blonden“, sagt auch Ammon, „halten wir für 
unzulässig, denn die blonden Haare stellen im ganzen eine viel 
weniger gemischte Klasse dar als die roten.“ Meistens sind die 
roten Haare mit weisser Haut, die sich aber leicht fleckig bräunt 
(Sommersprossen), und blauen Augen verbunden, glücklicherweise, 
denn die seltene Verbindung brauner Augen mit roten Haaren 
wirkt entschieden unschön. Sicher ist, dass diese Haarfarbe 
grosse Neigung hat. sich zu vererben, so dass man in Schweden 
ganze „Geschlechter“ von Rotköpfen und sogar „rote Gegenden“ 
beobachten kann. Mehr als die Hälfte, 54,4%, der Bevölkerung 
hat dort zugleich helle Augen und lichte Haare, bei uns nur 
33%. Umgekehrt ist das Verhältnis in Italien: 10,3% helle 
und 69,1 °/ 0 braune Augen, 8,2 °/ 0 lichte und 31,1% schwarze 
Haare. Baden nimmt, was auf drei Farbenkreisen sehr anschaulich 
dargestellt ist, eine vermittelnde Stellung ein. Das Verhältnis 
der gemischten Augen ist ein von Norden nach Süden fallendes, 
28,8, 22,9 und 20,6°/ 0 , was wohl so zu erklären ist, dass in 
Schweden ein dunkeläugiger Grundstock gar nicht vorhanden ist 
und vereinzelte Einwanderer mit braunen Augen meist sofort 
durch Blutmischung in der helläugigen Urbevölkerung sich ver¬ 
lieren. Zu den hellsten Landschaften, mit 60°/ 0 , gehöien Dais¬ 
land und Westgotlaud, die dunkelste, mit 37 % wegen der Nach¬ 
barschaft der fremdrassigen Lappen, ist Lappland. 

Sehr zu beachten ist, was Fürst über die Wirkung der Ein- 
uncl Auswanderung sagt: „Weil unser Land wahrscheinlich relativ 
mehr hell als jedes andere Land hat, so ist anzunehmen, dass 
wir bei der Auswanderung überwiegend helle Elemente verlieren 
und bei der Einwanderung dunkle erwerben. Also wird unser 
heller Stamm ganz gewiss beiderseits bedroht, d. h. für unser 
Volk steht eine, wenn auch langsame, Farbenverdunkelung in 
Aussicht.“ Daran ist nicht zu zweifeln; dass aber trotzdem 
Schweden heute immer noch das hellste Land® 5 ist, das beweist 
eben, dass es ein anderes Verbreitungszentrum für hellfarbige 
Menschen nicht gibt und dass seit der Urzeit die Auswanderung 
immer viel stärker war als die Einwanderung. 

Die Verbindungen und Wechselbeziehungen der Merkmale 
sind von beiden Herausgebern gemeinsam bearbeitet worden. So 
deutlich ein Zusammenhang zwischen hohem Wuchs und Lang- 



59 


köpfigkeit hervortrjtt, so wenig ist ein solchjer bei den Farben 
und dem Knochengerüste ?u bemerken: die verschiedenen Farben 
und ihre Verbindungen sind, wie auch bej uns, ziemlich gleich- 
massig auf alle Grössenstufen und Kopfformen verteilt. 

Von ganz besonderer Bedeutung in dieser Hinsicht ist die 
Verbindung derjenigen Merkmale, deren Vereinigung als Kenn¬ 
zeichen der „germanischen Basse“ (besser, wie schon auseinander^ 
gesetzt, rein naturwissenschaftlich als „nordeuropäische“, Homo 
europaeus Linnd, bezeichnet) betrachtet wird, der echten Dolioho- 
cephalie (Index unter 75), der Hellfarbigkeit (helle Augen und 
lichte Haare) und des hohen Wuchses (1,70 m und darüber). 
Solcher völlig rassenreiner Germanen finden sich in ganz Schweden 
mehr als zehn vom Hundert, 10,7°/ 0 , am meisten in den Landschaften 
Dalsland 18,3%, Södermanland 16,2%* Härjedalen 16,0% und 
Dalarne 14,7%, am wenigsten wieder in Västerbotten und Lappland, 
4,9 und 5,1 %. Die Farben der Karte XIII zeigen deutlich, dass 
die reine Basse in der Mitte und im Innern des Landes, „nach 
der norwegischen Grenze zu, im Gegensatz zu dem Küstenlande“, 
am besten gegen das Eindringen fremden Blutes geschützt war. 

Damit kann sich kein anderes Land unseres Weltteils ver¬ 
gleichen. Obwohl die Germanen, wie aus den Berichten der 
Augenzeugeu und aus den Grabfunden hervorgeht, zurzeit der 
Römerkriege und der Völkerwanderung noch von reiner, oder 
doch nahezu reiner Basse waren, konnten sie trotz aller Ab¬ 
neigung gegen Blutmischung in den eroberten Ländern auf die 
Dauer die Beinheit ihres edlen Blutes nicht bewahren. Auch wo 
ihre Sprache die Oberherrschaft behalten hat, ist die von den 
Alten angestaunte Einheitlichkeit der äusseren Erscheinung (ha- 
bitus quoque corporum, quamquam in tanto hominum numero, 
idem, Tac. Germ. 4) dahin. 

Das Vorkommen des äussersten „Gegensatzes“, d. h. die 
Vereinigung der Merkmale der rundköpfigen Basse (Homo brachyr 
cephalus, den man in Mitteleuropa auch Homo alpinus nennen 
kann), rundlicher Schädclbau, dunkle Farben, untersetzte Gestalt, 
ist in Schweden sehr selten, nur 0.14%, obwohl im nördlichen 
Teil des Landes etwa 7000 Lappen wohnen. 

In Baden haben wir unter 6800 Mann nur 57 gefunden, die 
„blauäugig, blond, weisshäutig, langköpfig und mindestens 1,70 m 
gross sind“; von unserem Volke gehören also nur 0,88 oder nach 



60 


Ammons Umrechnung, da „wir die Grenze der Langköpfe zu 
weit ausgedehnt haben“, sogar nurO,56°/ 0 der nordeuropäischen, 
der Rasse der germanischen Eroberer an. Diese Zahlen sind 
zwar mit den schwedischen nicht ohne weiteres zu vergleichen, 
weil die 6800 Mann aus den angeführten Gründen kein genaues 
Bild der ganzen Bevölkerung geben, weil wir nur die blauen, 
nicht alle hellen Augen zu gründe gelegt, dagegen als „Lang* 
köpfe“ nicht nur die echten Dolichocephalen (mit Index unter 75) 
soildern auch die Mesocephalen (mit Index unter 80) angesehen 
haben, weil endlich in Schweden der Schädelindex, bei uns aber 
der Kopfindex berechnet ist. Diese verschiedenen Abweichungen 
werden sich aber wohl gegenseitig nahezu ausgleichen, so dass 
wir schliesslich doch wieder auf die Zahlen 0,5 (bei 0,4 °/ 0 echten 
Dolichocephalen) gegen 10,7°/ 0 zurückkommen; während also von 
hundert Schweden zehn von rein germanischer oder nordeuropäischer 
Rasse sind, entspricht bei uns von 200Menschen kaum einer 
der gleichen Anforderung. Die reine rundköpfige Rasse ist bei uns 
auch nicht viel stärker vertreten als in Schweden, 0,39 gegen 0,14° 0 
dagegen besteht unsere Bevölkerung fast durchweg aus Mischlingen. 

Ammon und Fürst sprechen beide von einein „Block“ 
reiner nordeuropäischer Rasse, der allmälig durch Blutmischung 
zersplittert würde: in Baden habe dieser Block ursprünglich aus 
zwei Dritteln, in Schweden aus 85°/ 0 der Bevölkerung bestanden. 
Dass er bei uns infolge einer seit anderthalb Jahrtausenden wirk¬ 
samen Rassenkreuzung mit einer fremdrassigen, übrigens durch¬ 
aus nicht mehr einheitlichen, sondern aus Mischlingen bestehenden 
Urbevölkerung bis auf die dürftigen Trümmer von 1 / 2 % zu¬ 
sammengeschmolzen ist, lässt sich begreifen; es ist sogar anzu¬ 
nehmen, dass auch diese nicht von reinrassigen Vorfahren abstammen, 
sondern nur zufällig durch Erbschaft und Rückschlag die aus¬ 
einander gesprengten Merkmale der Stammrasse wieder vereinigt 
haben. In Schweden dagegen könnte, wenn seit Jahrtausenden 
in ähnlicher Weise eine wahllose Mischung stattgefunden hätte, 
von dem germanischen Block nicht ein völlig unangegriffener 
Kern von einem Zehntel der Bevölkerung übrig geblieben sein. 
Hier muss, wie auch Fürst anzunehmen geneigt ist, der Vor¬ 
gang sich etwas anders gestaltet haben. Die stetig, aber nur in 
geringer Menge, gewissermassen tropfenweise eindringenden 
fremden Bestandteile 59 wurden zuerst vollständig aufgesaugt und 



61 


gleichartig gemacht; erst als mit dem zunehmenden Weltverkehr 
die Einwanderung stärker und stärker wurde, konnte die Rasse 
der Ureinwohner nicht mehr mit ihr fertig werden, und es begann 
sich eine Mischlingsbevölkerung zu bilden. Gehen die Dinge so 
wie bisher weiter, so besteht, da die Einwanderer wohl meist 
dunkler sein werden als die Einwohner und Auswanderer, die 
Gefahr, dass der rassenreine Kern immer kleiner wird und ein 
allgemeines Dunklerwerden der Bevölkerung eintritt. Wenn 
auch in den Nachkommen aus der Verbindung eines Weissen mit 
einer Schwarzen noch nach mehreren Geschlechterfolgen das 
Negerblut sich bemerklich macht, so wird es sich doch allmälig, 
wenn kein neues dazu kommt, verlieren. So überwindet auch 
die mächtige Vererbungskraft einer rein gezüchteten, lebens¬ 
kräftigen Rasse geringe fremde Bestandteile, die sich vollkommen 
einfügen und nicht, wie Ammon vorauszusetzen 57 scheint, ein 
Pfahl im Fleisch bleiben und immer wieder durchschlagen. 

Das durch eine deutsche Übersetzung der Vergessenheit ent¬ 
rissene und weitverbreitete Buch Gobineaus über „Die Ungleich¬ 
heit der Menschenrassen“ hat zunächst, da die grosse Mehrzahl 
der Leser die darin enthaltenen Irrtümer 58 von der Wahrheit 
nicht zu scheiden vermochte, mehr Unheil gestiftet als Gutes 
gewirkt: wie Pilze nach dem Regen sind zahlreiche andere Rassen¬ 
bücher entstanden, deren Verfasser meist nicht einmal über den 
Grundbegriff „Rasse“ im klaren waren und daher unter ihrem, 
zum Teil sehr ausgedehnten und begeisterten Leserkreis, statt 
Aufklärung nur Verwirrung verbreitet haben. Um so freudiger 
dürfen wir daher das schöne, wahrhaft wissenschaftliche Rassen* 
werk begrüssen, dessen hochbedeutender Inhalt weiteren Kreisen 
allerdings erst mundgerecht gemacht werden muss. Es hat nicht 
nur aufs neue allen Zweifeln gegenüber die Wichtigkeit der durch 
zwei Handgriffe leicht festzustellenden Schädelgestalt dargetan, 
es hat auch über die Verbreitung der Rassen in unserem Weltteil 
sehr bemerkenswerte, wir dürfen sagen entscheidende, Aufschlüsse 
gegeben. Wohl wäre es sehr wünschenswert, wenn auch in den 
Nachbarländern, Norwegen, Dänemark und besonders Norddeutsch¬ 
land, derartig umfassende, freilich auch mühsame, zeitraubende 
und kostspielige Volksuntersuchungen angestellt würden, viel 
Neues könnten sie aber, ausser einer genaueren Abstufung der 
Mischungsverhältnisse, nicht mehr bringen. Das Verbreitungs- 



62 


Zentrum der nordeuropäischen Rasse, die wir auch „germanisch“ 
nennen dürfen, ist durch das grossartige, nun glücklich zu Ende 
geführte schwedische Unternehmen unzweifelhaft festgestellt. 
Dass die geschichtliche Überlieferung mit diesem auf rein natur¬ 
wissenschaftlichem Wege erreichten Endergebnis vollständig 
übereinstimmt, dient beiden zur Bekräftigung. Die Auswanderung 
aller Germanen aus der skandinavischen Halbinsel — ich stehe nicht 
an, dies immer aufs neue zu wiederholen — ist eine geschichtliche 
Tatsache” und bildet den wertvollsten, leidet aber aus Vorurteil oft 
noch übersehenen oder absichtlich verschwiegenen Inhalt der mit 
so grossen Mühen und Kosten gesammelten und herausgegebenen 
Monumenta Germaniae. Nur auf dieser, ihrer natürlichen Grund¬ 
lage wird die deutsche Geschichte verständlich, kann das über 
unsern Anfängen ruhende Dunkel erhellt, die lange vermisste 
Brücke zur Vorgeschichte geschlagen werden. Damit ist die 
Voraussagung Eckers, dass die Anthropologie die „vornehmste 
Hilfswissenschaft der Geschichte“ werden müsse, in Erfüllung 
gegangen, und ich freue mich, bei dieser Gelegenheit unserem 
Lamlsmanne und meinem verehrten Lehrer, einem der scharf¬ 
sinnigsten Anthropologen, einige Worte der Dankbarkeit und der 
Anerkennung widmen zu dürfen. Vor bald 40 Jahren schon, als 
mit Ausnahme von zwei oder drei Predigern in der Wüste alle 
Welt noch an unsere Herkunft aus Asien glaubte, war er auf 
grund seiner Vergleichung unserer Reihengräberschädel mit 
schwedischen der Wahrheit sehr nahe gekommen. „Die Franken*, 
sagt er,« 0 „sind ein Bestandteil des grossen von Norden kom¬ 
menden Völkerstammes, der mit gewaltigem Stoss das mächtige 
römische Reich zertrümmerte .... und damit stimmt auch 
überein, dass die alten Wohnsitze der Alemannen ebenfalls au 
der Nord- und Ostsee lagen und dass sie sich erst im Laufeder 
Zeit gegen Süden und Westen bewegten . . . dass ihre Schädel- 
form, die noch heute im skandinavischen Zweig des deutschen 
Stammes (der „in seinen alten Wohnsitzen“ und daher „unver- 
mischt“ geblieben) erhaltene dolichocephale ist.“ Da die andern 
sprach- und stammverwandten Völker mit den Germanen auch 
durch ihre leiblichen Merkmale im innigsten Zusammenhang* 1 
stehen, so muss ihre Urheimat mit der unsrigen zusammenfallen, 
und damit ist die berühmteste Streitfrage 68 der alten Geschichte 
und Völkerkunde endgiltig entschieden. 



63 


Anmerkungen. 

1 Vergl u. a meine Abhandlungen „Stammbaum und Ausbreitung der 
Germanen“, Bonn, P. Hanstein, 1895, und „Wanderungen der Schwaben“, 
Beilage zum Staatsanzeiger für Württemberg Nr 1 —10, 1902. — Die ange¬ 
führten Stellen finden sich bei Ermoldus Nigellus (carm. in hon. Hludovici, 
TV 13), Goldastus (Herum suevicarum scriptores aliquot veteres, Frankfurt 
1605) und Stumpff (Chronik IV 9, Zürich 1648). — Die Einheit der Namen 
„Schweden“ und „Schwaben“ (aschw. Sväetbiüd, an. Svithiod = Sueothiuda, 
Schwabenvolk) habe ich zuerst im Jahr 1890, Ausland No. 46 und 47, nach¬ 
gewiesen. 

2 Zur Anthropologie der Badener. Im Aufträge der Kommission bear¬ 
beitet von Otto Ammon. Mit 24 in den Text gedruckten Figuren und 15 
Tafeln in Farbendruck. Jena, G. Fischer, 1899. 

8 Gesamtbericht im Archiv für Anthropologie XVI, 1886. 

< So die Untersuchungen von Meisner über die Körpergrösse der 
Wehrpflichtigen in Mecklenburg und den Elbherzogtümern (Archiv f. Anthr. 
1891) und von Schliz an Schulkindern im Oberamt Heilbronn (in einigen 
Dörfern war auch ich beteiligt; Bericht auf der Anthropologenversammlung 
in Lindau, 1899). 

5 Anthropologia suecica. Beiträge zur Anthropologie der Schweden, 
ausgearbeitet und zusammengestellt von Gustaf Retzius und Karl M. 
Fürst. Mit 130 Tabellen, 14 Karten und 7 Proportionstafeln in Farben¬ 
druck, vielen Kurven und anderen Illustrationen. Deutsche Ausgabe. Stock¬ 
holm 1902. 

6 Finska Kranier etc., skildrade af Gustaf Retzius, Stockholm 1873. 
— Vergl. auch die Beiträge Sur l’ötude craniologiques des races humaines 
und Caractöres ethniques des races finnoises im Compte rehdu des 7. internat. 
Anthropologenkongresses von 1874, Stockholm 1876. 

i Nach der schwedischen Wehrverfassung besteht däs Heer aus einem 
kleinen Stamm angeworbener (värfvade) oder eingeteilter (indelta) Mannschaft 
und der Landwehr (beväring), die im Sommer zu einer 90tägigen Übung 
einberufen wird. 

8 Vergl. z. B. das absprechende, aber etwas zu weitgehende Urteil von 
Gumplo vicz in dem Aufsatz „Anthropologie und natürliche Auslese“, Polit.- 
anthrop. Revue I, 2. 

9 Crania suecica antiqua. Beschreibung schwedischer Vorzeitschädel 
(117) aus der Steinzeit, dem Bronze- und Eisenalter u. s. w. von Gustaf 
Retzius. Mit 100 Tafeln in Lichtdruck. Stockholm, schwedische Ausgabe 
1899, deutsche 1900. 

10 Om den germaniska ras-typen. Rede bei der Niederlegung des Vor¬ 
sitzes in deC k. Akademie der Wissenschaften gehalten von Gustaf Retzius. 
Stockholm 1901. — Von mir in der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift 
N. F. I, 29 besprochen. 



64 


11 Das kommt davon her, dass in Schweden, wie auch in den Elbherzog¬ 
tümern erst im vorigen Jahrhundert Familiennamen eingeführt wurden und 
das Christentum mit wenigen Heiligennamen die unerschöpfliche Fülle de r 
heidnischen verdrängte. 

18 Centralhlatt für Anthropologie II, 1 und L’Anthropologie VII, 6. 
Der Längsdurchmesser verkürzt sich in der Horizontalen durchschnittlich 
um 1,0 mm, was selbstverständlich bei runden Köpfen den Index etwas mehr 
beeinflusst Ob, wie Ammon glaubt annehmen zu dürfen, der Längenunter¬ 
schied bei mittleren Köpfen geringer ist als bei länglichen und runden, scheint 
mir nicht ganz sicher. 

13 Anthropologie der Badener, S 125/6. „Das grüne Auge verrät durch 
seine Farbenzusammensetzung seinen Charakter als Mischlingsauge, denn es 
ist fast nie einfarbig grün, sondern meist aus braunen, sternförmigen Strahlen, 
die vom Pupillenrand ausgehen, und aus blauen oder grauen Sektoren, die 
vom Ciliarrand hineinreichen, zusammengesetzt." 

14 Manche Anthropologen, z. B. Livi, unterscheiden nach dem gewöhn¬ 
lichen Sprachgebrauch auch schwarze (neri) Augen, doch ist, auch bei den 
farbstoffreichsten Rassen, die Regenbogenhaut nie rein schwarz. 

15 Congrös Internat, d’anthrop. ä Stockholm 1874, Compte rendu. 

16 Nyström, Archiv f. Anthropologie XXVII, hat dies auf Grund von 
angeblich 500 Untersuchungen behauptet. Da aber der übrige Inhalt der 
Abhandlung „Über die Formveränderungen des menschlichen Schädels und 
deren Ursachen“ entschieden verfehlt ist, der Verfasser in seiner Heimat auch 
nicht im Rufe eines zuverlässigen Forschers steht, müssen weitere einwand¬ 
freie Untersuchungen abgewartet werden. — Wie viele Deutsche am Ende 
des dreissigjährigen Krieges in den schwedischen Heeren gedient haben, geht 
u. a aus einer Taufkanne der Kirche von Altenheim a. Rh. hervor, die laut 
Inschrift im Jahre 1649 von vier „schwedischen Dragonern, M. Bohn, Fendrich, 
G. Kratz, Korporal, H. Ohrdorff, R. Schuhmann“ (lauter deutsche Namen) 
zu „immerwährendem Gedächtnus“ gestiftet worden ist. 

17 Undersögelser af archaeologisk materiale etc., Aarböger f. nord. old- 
kyndighed 1891. — Die Untersuchungen sind auch sonst sehr lehrreich. 

18 Verhandlungen des 7. Internat. Geographenkongresses. Berlin, London, 
Paris 1901. 

i# Vergl. u. a. meinen Aufsatz „Germanische Rasse“ in der Deutschen 
Zeitschrift, IP6, 1900. 

2» Naturwissenschaft!. Wochenschrift, N. F. I 10, 1901. 

21 In bezug auf Einwanderungen sagt der schwedische Forscher: «Aus 
der Untersuchung der zugänglichen Vorzeitschädel geht hervor, dass in den 
genannten Zeitaltern Einwanderungen neuer Rassenbestandteile in irgend 
erheblichem Masse nicht stattgefunden, dass vielmehr die nämlichen Rassen 
Schweden in der ganzen uns bisher bekannten Vorzeit bewohnt haben; dem 
kann man das Urteil beifügen, dass die heutige Bevölkerung in ihren Grund¬ 
bestandteilen unmittelbar von dem Vorzeitvolke abstammt, wenn auch im 
Laufe der Zeiten das Eindringen fremden Blutes nicht ganz zu vermeiden war.“ 



65 


22 So besonders )r Herkunft und Urgeschichte der Arier“, Heidelberg, 
Hörniog, 1899. — Yergl. anch meine auf M. Muchs „Heimat der Indo, 
germanen“ sich beziehende Auseinandersetzung in den Mitteilungen der 
Wiener Anthr. Gesellschaft, XXXII 5/6, „GehSrt Dänemark mit zur Ur¬ 
heimat der Arier?“ 

28 Statistics, medical and anthropological. compiled ander direction of 
the secretary of war. New-York 1876. 

24 Sessions-undersögelsernes og recruterings-statistikens betydningen for 
videnskaben og staten. Kristiania 1875. 

25 Die Körpergrösse der Wehrpflichtigen im Grossherzogtum Baden in 
den Jahren 1840—1864, Karlsruhe 1894. 

28 Om svenskarnes kroppslängd, Ymer 1896. — Antropologiska under- 
sökningar ä värnpligtige, Tidskrift för militfir hälsovärd XXII, 1897. — Über 
die Körperlänge der schwedischen Wehrpflichtigen, Centralblatt für Anthro¬ 
pologie, I 4, 1896. 

27 Archiv für Anthropologie IX, 1876. 

28 Bedogörelse för den hygieniska undereökningen, Stockholm 1885. 

28 Wenn wir annehmen, dare die 21jährige Mannschaft noch nicht aus¬ 
gewachsen ist und die höheren Stände noch grösser sind, ergibt sich für die 
Schweden das sehr beträchtliche Durchschnittsmass von 1,72 m. 

30 Anatomisk - antropologiske undereögelser af de lange extremitet — 
knokler fra Xorges befolkning i oldtid og middelalder. Yidenskabsselskabets 
skrifter I. Kristiania 1901. 

81 Antropometria militare, Roma 1896. — Antropometria, Milano 1900. 
— Zur Anthropologie der Badener, Jena 1899. 

92 Im berechtigten Widerspruch gegen die Auswüchse und Übertreibungen 
der Schädelmessung sind einige Anthropologen zu weit gegangen und haben 
das Kind mit dem bade ausgeschüttet. Vergl. meinen Yortrag „Geschichte 
and Bedeutung der Schädelmessung“, Yrhdl. d. naturhist.-med. Vereins zu 
Heidelberg, N. F. VI 5. 

88 Om formen af Nordboernes Cranier, Stockholm 1842. 

84 Om ett fynd af mennisko-skeletter etc. Läkttreförenings förband- 
’ingar, N. F. II, Upsala 1896/7. 

85 Bulletins de la Soc d’Anthr. de Paris, 2 s III, 1868. — Auf den 
Unterschied zwischen länglichen und runden Köpfen hat Broca nicht 
geachtet. 

86 Jena, G. Fischer, 1898. 

87 Wachstum nnd Bau des menschlichen Schädels. Leipzig 1862. 

88 Badische Schädel, Archiv für Anthropologie XXI. 

89 Insofern als ein Abrundungsfehler beim Querdurchmesser viel mehr 
ins Gewicht fällt. Setzen wir nach den Leichenvereuchen von Welcker 
(10), Broca (6), Fürst (7,3) die durchschnittliche Dicke der Weichteile im 
Längsdurchmesser gleich 7,7 mm, im Querdurchmesser (9,5, 8, 9) gleich 

5 



66 


8,8 mm. so würde beispielsweise ein 20 cm langer und 16 cm breiter Kopf 
mit Index 80 einen Schädelindex von 78.6 haben, mit meiner Abrnndnng da¬ 
gegen von 78.9, ein sehr geringfügiger Unterschied. 

40 Crania selecta, Petersburg 1859. 

41 In einer Anmerkung auf S. 94 der „Anthropologie der Badener" tritt 
auch Ammon dieser Anschauung bei: „Es ist leicht einzusehen, da*s die 
Brocasche Angabe von zwei Einheiten schon bei dolichocepbalen Köpfen so 
gross ist und dass der Unterschied um so kleiner wird, je mehr die Köpfe 
sich der runden Form nähern. Nach Welcker schwankt die Dicke der 
Kopfschwarte in der Längsrichtung von 5 bis 15 mm, in der Breite von 
6 bis 13 mm, im Mittel beträgt sie also 10 mm, wie auch Wilser angibt. 
Der Abzug von 1,0 cm ändert das Verhältnis der Durchmesser einer Ellipse, 
bei einem Kreis aber tritt keine Änderung ein ..." 

42 Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass der aus der durchschnittlichen 
Länge und Breite sich ergebende Index 78,27 um 0,42 höher ist als der aus 
den Indices der einzelnen Landschaften berechnete von 77,85; es rührt dies 
von den weggelassenen Dezimalen her. — Grosse Erleichterung des müh¬ 
samen Rechengeschäfts bringen dem Anthropologen die kürzlich von Fürst 
herausgegebenen, sehr handlichen und zweckmässigen „Indextabellen“, Jena. 
G. Fischer, 1902. 

49 Crania Germaniae meridionalis Occidental». Freiburg 1875. — Badische 
Schädel, Archiv für Anthropologie XXI. 

44 Die von Ammon zu Grunde gelegte Kollmannsche Zusammen¬ 
stellung (Korrespondenzblatt für Anthropologie 1882) gibt kein richtiges Bild, 
da sie zu viele Schädel aus späterer Zeit und von offenbar fremder Rasse 
(über 30 °/ 0 Rundköpfe) enthält; aber auch sie zeigt einen mittleren Index 
von nur 77. 

49 Nach früheren, allerdings nicht sehr zahlreichen Untersuchungen von 
v. Haart man (Försök at bestämma den genuina racen af de i Finland 
boende folk, 1845) und Retzius (Finska Kranierl schien es, als seien die 
Karelier weniger rundköpfig. Diese von vornherein wenig wahrscheinliche 
Annahme ist nun durch Westerlunds umfassende Erhebungen berichtigt 
(Studier i Finlands antropologi, Helsingfors 1900). 

46 Yergl. meinen Auszug im Globus (LX1I 22) aus seinem russischen 
Werke: Antbropometrische Untersuchungen der männlichen grossrussischen 
Bevölkerung etc., mit 34 Lichtdrucktäfeln, 16 Karlen und 3 Holzschnitten. 
Moskau 1892. 

47 Etüde anthropomctrique 414mentaire des principales races de la 
France. Paris 1883. 

48 Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien. N. F. 
XV, 1895. 

4# a. 0. 

M Unter den Schädeln von Glasinae sind 66 °/o länglich (Index unter 80) 
und 34°/„ rundlich. Weisbach, Altbosnische Schädel, Mitteilungen der 
Anthr. Ges. in Wien, N. F. XVII, 1897. 



5 * Viele Skelette und Schädel aus sterischen Grftbern sind von ger¬ 
manischen nicht zu unterscheiden, gehören also der reinen nordeuropäischen 
Hasse (Homo europaeus Linnö) an. 

52 La face en r£alitg n’est point courte, sagt Broca (a. a. 0.). 

43 Die Formen des Ober- und Unterkiefers bei den Europäern. Vortrag, 
Sonderabdruck aus der Schweiz. Vier tetyihrsschrift ftlr Zahnheilkunde. Zürich 
1892. Von mir im Globus (LXII 20) besprochen — In einem Aufsatz über 
„Menschenrassen“ (Archiv f. Anthr. XXVII, Globus LXXXII 24) spricht 
Kol 1 mann nur noch von der „temporären Persistenz“ derselben. Eine 
völlige Unverfinderliehkeit annehmen. heiBSt ja auch die Entwicklungslehre 
leugnen. Jede Hasse ist, obwohl der Mensch das Endglied einer langen 
Entwicklungskette bildet, selbstverständlich veränderlich, kann aber, wenn 
änssere Anstösse fehlen und Blutmischung ausgeschlossen ist, durch Jahr¬ 
tausende sich ziemlich gleich bleiben. Wenn K. sagt, jede neue Rasse müsse 
in einer „Periode der Mutation“ auftreten und die Rassen zwar für „variabel“, 
aber nicht für „mutabel“ erklärt, so ist dies ein Widerspruch. Mutationen 
nach de Vries gibt es wahrscheinlich nur bei Pflanzen. 

54 Der Einfluss des Lebensalters auf die anthropologischen Charaktere. 
Sozial-anthropologische Studien 1. Zeitschrift für Morphologie und Anthro¬ 
pologie I, 1899. 

55 Nach den allerdings nicht sehr zahlreichen und zumteil an Kindern 
ausgeführten Untersuchungen von Arbo, Faye, Hansen (veröffentlicht 
durch Topinard, Revue d’Anthropologie, 3. s. IV 1889) und Westergaard 
(Skoleboernes har- og oejenfarve. Nationaloekonomisk Tidskrift, Kjoebenhavn 
1893) sind Norwegen und Dänemark Länder mit ziemlich hellfarbiger Be¬ 
völkerung; die hellen Farben nehmen aber von der schwedischen Grenze 
nach Westen ab, so dass Dänemark entschieden dunkler ist als Schweden. 
Westerlund (Fennia XVIII 2, Kuopio 1900) hat an 4650 Mann festgestellt, 
das9 in Finnland die Schweden die hellsten sind, die Finnen von Westen 
nach Osten dunkler werden. Aus der deutschen Schulkinderuntersuchung 
geht trotz ihren, zumteil unvermeidlichen, Mängeln doch hervor, dass die 
hellen Farben von Norden nach Süden abnehmen. England ist nach Beddoe 
(9080 Erwachsene) ziemlich hell (60% helle Augen und 67% lichte, blonde 
und hellbraune Haare), die dunkeln Farben nehmen aber von Osten nach 
Westen merklich zu. In Russland sind die Anwohner der Ostsee die hellsten, 
die Bewohner des Binnenlandes die dunkelsten. Für Frankreich ist durch 
Topinard festgestellt, dass die nördlichen Teile am Ärmelkanal die hellsten, 
die südlichen am Mittelmeer die dunkelsten sind. Von den Italienern haben 
nach Livi nur drei vom Hundert blaue Augen mit hellen Haaren, 25 dagegen 
braune Augen mit schwarzen Haaren, ln Spanien kommen (nach Hoyos 
Sainz undAranzadi) auf 16% helle, 20% dunkelbraune Augen. Retzius 
kann daher in seinem Rückblick mit vollem Recht als Endergebnis anführen, 
dass die skandinavische Halbinsel „ein helläugiges blondhaariges Zentrum“ 
bildet und dass von diesem aus die hellen Farben „radialwärts nach ver¬ 
schiedenen Richtungen hin“ abnehmen. 



68 


H. Grössere Einwanderungen, von denen Altertumskunde und Geschichte 
nichts wissen, können auch aus naturwissenschaftlichen Gründen, wie dies 
Arbo (Ymer 1900, Heft 1, Globus LXXVIII6 und Intern. Centralblatt für 
Anthropologie Y1I 4, 1902) versucht bat, nicht gefolgert werden. Vgl. meinen 
Aufsatz „Hafva folkinvandringar flgt rum i Skandinavien?“, Ymer 1902, 
Heft 4. 

67 Zur Theorie der reinen Rassentypen. Zeitschrift für Morphologie 
und Anthropologie II 9. — Man darf diese Dinge nicht rein mathematisch 
behandeln. 

58 Vgl. meinen Aufsatz „Gobineau und seine Rassenlehre“, Politisch¬ 
anthropologische Revue I 8, 1902. 

69 Schon in meiner „Herkunft der Deutschen“, 1885, habe ich das im 
allgemeinen, sp&ter in zahlreichen Vorträgen und Abhandlungen im einzelnen 
nachgewiesen, so z. B. den „Wanderungen der Schwaben“, Beilage des Staats¬ 
anzeigers für Württemberg 1902, No. 7—10, in „Worms und die Burgunden' 
Zeitschrift „Vom Rhein“ 1 1902, und den „Wanderungen der Wandalen“, 
Deutsche Erde 1903. 

60 a. 0. 

41 Kimbern, Teutonen, Ambronen haben gleiches Anrecht auf den 
Namen „Germanen“ wie auf „Kelten“. Vgl. meinen Aufsatz „Kelten und 
Germanen“, Deutsche Zeitschrift II 11, 1900. 

42 Diese Ansicht wurde zum erstenmal öffentlich ausgesprochen in 
meinem Vortrag über die „Keltenfrage“ im Karlsruher Altertumsvereiu am 
29. Dezember 1881. 



Die Tätigkeit der Bakterien im Boden. 

Von Dr. Franz Mutti, ' 

Assistent an der Grossh. badischen landwirtschaftlichen Yersucheanstalt Angastenberg und 

Priratdosent für Botanik an der Grossh. Technischen HOchschnle in Karlsruhe. 

Zu den bedeutungsvollsten Gebieten der naturwissenschaft¬ 
lichen Forschung, welche ihre Entwicklung den letzten Dezennien 
des durch weittragende, wissenschaftliche Errungenschaften so 
bemerkenswerten vergangenen Jahrhunderts verdanken, gehört 
ohne Zweifel die Bakteriologie. Spielen doch die Bakterien, diese 
kleinen Lebewesen eine so wichtige Rolle iin grossen Haushalt der 
Natur, als ständige Mitarbeiter und Regulatoren bei deren ewigem 
Kreislauf, als Vermittler organischen Werdens und Vergehens, 
Lebens und Sterbens. Von grösster Wichtigkeit sind hierbei die 
biologischen Vorgänge im Boden oder wie der Dichter sagt, 4er 
Mutter Erde, an welcher in erster Linie wiederum Bakterien betei¬ 
ligt sind. Wenn unsere Kenntnisse über diese Vorgänge und über 
die Bakterien im Boden zurzeit auch noch in den ersten Stadien 
ihrer Entwicklung begriffen sind, so genügen sie doch, die grosse 
Bedeutung der Bodenbakteriologie in nationalökonomischer, hygie¬ 
nischer und wissenschaftlicher Beziehung uns vor Augen zu führen. 

Die bakteriologischen Verhältnisse und Vorgänge im Boden 
haben deshalb auch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich 
gelenkt und dürfte es manchem erwünscht sein, einen Einblick 
in das Bakterienleben des Bodens zu gewinnen. Diesem Zweck 
möchten unsere Ausführungen dienen, die einen kurzen und in 
keiner Weise erschöpfenden, sondern nur das Wichtigste berück¬ 
sichtigenden Überblick über den jetzigen Stand unserer Kennt¬ 
nisse der Bodenbakterien und ihrer Tätigkeit bieten möchten. 

Auf die geschichtliche Entwicklung der Bakteriologie, sowie 
anf die vielseitige, täglich gewaltig wachsende Literatur über die 
Bodenbakterien wollen wir nicht näher eingehen, da dies nicht 
im Rahmen eines kurzen Referates über den Stand einer Frage 
liegt. Die wichtigste Literatur findet man im bakteriologischen 
Zentralblatt, besonders in dessen zweiter Abteilung und im Jahres- 



70 


bericht für Gärungsorganismen von A. Koch, ferner in dem 
ersten Bande der technischen Mycologie von Franz Lafar und 
dem System der Bakterien von Walther Migula. Besonders er¬ 
wähnt sei ferner Wollnys bekanntes Werk über die Zersetzung 
der organischen Stoffe und die Humusbildungen, sowie die Vor¬ 
lesungen über Bakterien von Alfred Fischer. Einen unser Thema 
speziell in landwirtschaftlicher Beziehung in der Hauptsache er¬ 
schöpfenden Überblick hat J. Behrens in einem bemerkenswerten 
Vortrag über die Arbeit der Bakterien im Boden und im Dünger 
gegeben, der in den Arbeiten der Deutschen Landwirtschafb- 
gesellschaft 1901, Heft 64, pag. 108—144 veröffentlicht ist. 

Es seien nun zunächst einige kurze, allgemeine Bemerkungen 
über die Bakterien vorausgeschickt. Dieselben sind ausserordent¬ 
lich kleine, mitunter an der Grenze des mittelst unserer heutigen 
optischen Hilfsmittel noch Sichtbaren stehende, einzellige, zu den 
Spaltpflanzen (Schizophyta) gehörende chlorophyllose Organismen- 
Sie vermehren sich durch Zweiteilung, „Spaltung in der Mitte 6 , 
weshalb man sie mit den in dieser Beziehung ähnlich sich ver¬ 
haltenden, vielfach, aber nicht mit Recht als ihre Stammeseltern 
angesehenen Spaltalgen (Schizophyceae) zu der bereits erwähnten 
Abteilung der Spaltpflanzen vereinigt hat. Manche der höher 
organisierten, zu den sogenannten Scheidenbakterien gehörende 
Arten besitzen ausserdem die Fähigkeit, sich durch teils unbeweg¬ 
lich, teils bewegliche Gonidien zu vermehren. (Vergl. die Fig. 
19 u. 20 S. 120 u. 121). Es sind dies aus dem gemeinschaftlichen 
Verbände in der Scheide entweder direkt oder nach besonderen, 
nur bei der Gonidienbildung zu beobachtenden Teilungsvorgängen 
heraustretende, sich nach dem Verlassen der Scheide zu jeuen 
Kolonien entwickelnde Zellen. 

Viele, aber nicht alle.Arten vermögen sog. Dauerzellen »der 
Endosporen zu bilden, die sich durch eine bedeutend festere rod 
dickere Membran, sowie durch ihre Widerstandsfähigkeit gegen 
Hitze, chemische Mittel und andere Einwirkungen der vegetativ 
Zelle gegenüber auszeichnen. Während nach den Untersuchung«! 
von Brefeld die letzteren z. B. bei dem allerwärts verbreiteten 
Heubazillus (Bacillus subtilis Fig. 1) nach 20 Minuten dauerndem 
Aufenthalt in siedendem Wasser sicher vernichtet sind, bedarf es 
bei den Sporen dieses Organismus eines dreistündigen Kochen^, 
um sie zu töten. 



71 


Manche Bakterien vermögen sich zu bewegen. Dies geschieht 
fast ausschliesslich durch feine, an einem oder den beiden Polen 
der Bakterienzelle befindliche oder über deren ganze Oberfläche 
zerstreute Plasmafäden, den sog. Geissein. (Vergl. die Fig. 1 a, 
9, 10, 11, 12, 13, 18 b.) Die Bakterien leben entweder einzeln 
oder sie sind infolge einer vielen Arten eigenen Gallerthülle zu 
verschieden gestalteten Kolonien vereinigt. Durch weitgehende 
Gallertbildung entstandene Kolonien, die dabei von fester Konsi¬ 
stenz sind, bezeichnet man mit dem Namen Zoogloea. (Vergl. 
die Fig. 12 und 13.) 

Die Bakterien wachsen teils nur bei Luftzutritt, also bei 
Gegenwart von freiem Sauerstoff (sog. Aerobionten), teils sowohl 
bei Luftzutritt, als auch bei 
Luftabschluss (fakultative 
Anaerobionten), während 
wieder andere Arten sich 
nur bei vollständigem Luft¬ 
abschluss zu entwickeln ver¬ 
mögen. Es sind dies die 
obligatorischen Anaerobion¬ 
ten. Die meisten Bakterien 
kann man auf künstlichen 
Nährböden züchten, die sich 
in ihrer Zusammensetzung 
möglichst den natürlichen Ernährungsverhältnissen des zu züch¬ 
tenden Organismus nähern müssen. Man unterscheidet flüs¬ 
sige und feste Nährböden. Mit der Einführung der letzteren 
und der Plattenkultur durch Robert Koch war eine brauchbare 
Methode zur Reinkultur geschaffen und der Grundstein zur erfolg¬ 
reichen , wissenschaftlichen bakteriologischen Forschung gelegt. 
Diejenige Temperatur, bei der ein Organismus am besten gedeiht, 
ist sein Wachstumsoptimum, diejenige niederste oder höchste 
Temperatur, bei welcher er gerade noch wächst, sein Minimum 
resp. Maximum. Bei einigen Arten treten in der künstlichen 
Kultur unter besonderen Umständen abweichende Gestalten auf, 
die wir als Degenerations- oder Involutionsformen bezeichnen. 
(Vergl. die Fig. 7 v. x. y.) 

Von hohem wissenschaftlichem Interesse und grosser prakti¬ 
scher Bedeutung sind die Bakterien in physiologischer Beziehung. 



< \ 

S Ar V*- 

«t 


Fig. 1. 

Bacillus subtilis Ehrenberg. (Heubazillus). 

a. Schwärmende Stäbchen mit Geisai-ln, 

b. Sporen bildende Fäden. 

500 fache Vergr. Nach Migula. 



72 


Einige vermögen sich vollständig autonom zu ernähren, sich aus¬ 
schliesslich mit anorganischen Nährsubstanzen begnügend; die 
meisten aber sind auf organische Verbindungen angewiesen, ver¬ 
schiedenartige und oft weitgehende, als Gärungen bezeichnete 
Zersetzungen ihres Nährsubstrates hervorrufend« Unter Gärungen 
verstehen wir hier in des Wortes weitester Bedeutung alle unter 
Mitwirkung von Mikroorganismen verlaufenden chemischen Vor¬ 
gänge. Wir unterscheiden hauptsächlich Oxydations-, Reduktions-. 
hydrolytische und synthetische Gärungen. Eine vollständige bis 
zur Mineralisierung, d. h. bis zur Bildung von Kohlensäure, -Wasser 
und Ammoniak gehende Oxydationsgärung organischer Substanzen 
nennen wir Verwesung, während wir als Fäulnis solche biologische 
Prozesse bezeichnen, die bei Luftabschluss oder bei ungenügen¬ 
dem Luftzutritt unter Bildung von übelriechenden Gasen ver¬ 
laufen. Neuerdings versteht man unter Fäulnis auch speziell die 
komplizierten Gärungserscheinungen der Eiweisskörper. Ver¬ 
moderung nennt man eine noch nicht genügend aufgeklärte, im 
Boden besonders bei Gegenwart von pflanzlichen, stickstoffarmen, 
cellulosehaltigen Stoffen auftretende, durch die Bildung von Hu- 
minsubstanzen charakterisierte Zersetzung. Die meisten dieser 
chemischen Prozesse werden, wie man annimmt, durch von den 
Bakterien erzeugte Enzyme ausgelöst. Über die chemische Kon¬ 
stitution und dien Wirkungsmechanismus dieser in den Organis¬ 
men weitverbreiteten, in der Regel ausserordentlich leicht zersetz- 
lichen Enzyme wissen wir zurzeit noch nichts Sicheres. Ihre 
Wichtigkeit für die lebende Bakterienzelle besteht in erster Linie 
in der Umbildung der Nährmedien in für dieselbe assimilierbare 
Verbindungen und in der Energieerzeugung durch Oxydationspro¬ 
zesse oder durch Wärme erzeugende exothermische Spaltungs¬ 
vorgänge. Die Bakterien sind, wie wir wissen, mit einigen wenigen 
Ausnahmen bei ihrer Ernährung auf organische Verbindungen 
angewiesen. Viele derselben leben von toten Körpern, andere 
dagegen auf resp. in lebenden Organismen. Die ersteren begnügen 
sich gleichsam damit, sich in Häusern, die von ihren Bewohnern 
verlassen wurden, anzusiedeln, dieselben einzureissen, dabei das 
für sie Brauchbare verwendend, und der Natur Bausteine für 
neue Bauten zu liefern. Wir nennen solche Arten Saprophyten. 
Andere aber dringen, um bei dem Bilde zu bleiben, auch in 
bewohnte Häuser ein, wo sich dann ihr Verhältnis za deren 



Bewohnern bald freundlich, bald feindlich gestaltet. Im ersteren 
Falle sprechen wir von Symbiose. Ein schönes Beispiel dafür 
werden wir später bei den Knöllchenbakterien der Leguminosen 
kennen lernen. Wirt und Gast vertragen sich hier sehr gut und 
sind sich in ihrem Fortkommen durch gegenseitige Leistungen 
behilflich. Aber nicht immer gestalten sich die Dinge so fried¬ 
lich; oft fällt der Eindringling über seinen Wirt in räuberischer 
Absicht her, ihn aussaugend und schliesslich tötend. Wir sprechen 
dann von Parasitismus. Zwischen diesen beiden Extremen gibt 
es viele Zwischenstufen, wo sich das Verhältnis zwischen Wirt 
und Gast mehr oder weniger günstig für den ersteren gestaltet. 

Interessant ist die Erscheinung, dass manche Arten sowohl 
als Saprophyten, wie auch als Parasiten auftreten können. Wir 
bezeichnen solche Arten als fakultative Saprophyten resp. Para¬ 
siten, während wir die Bakterien, die nur als Saprophyten oder 
als Parasiten zu leben im stände sind, obligatorische Saprophyten 
resp. Parasiten nennen. Von besonderer Wichtigkeit ist die Frage, 
auf welche wir später noch einmal zurückkommen werden, welche 
Saprophyten vermögen parasitäre Eigenschaften anzunehmen und 
unter welchen Umständen tun sie dies? Sehr verschieden und 
mannigfaltig sind die Stoffwechselprodukte der Bakterien. Nach 
der Art derselben hat man die Schizomyceten auch in zymogene, 
chromogene und pathogene eingeteilt, eine Einteilung, die mehr 
auf empirischen Beobachtungen, als auf wissenschaftlichen Grund¬ 
lagen beruht. Die zymogenen, die Erreger der gewöhnlichen 
Gärungen, erzeugen hauptsächlich Kohlensäure, Alkohole, fette 
Säuren etc., die chromogenen bilden Farbstoffe, die pathogenen 
Ptomaine, Toxine und Toxalbumine. Unter Ptomainen verstehen 
wir ungiftige, unter Toxinen giftige Stoffwechselprodukte der 
Bakterien von ähnlicher chemischer Konstitution, wie die Alka¬ 
loide. Von ganz anderer chemischer Zusammensetzung und von 
hervorragender Giftigkeit sind die Toxalbumine, die eine ähnliche 
molekulare Konstitution, wie die Eiweisstoffe haben, denen sie 
ausserordentlich nahe stehen und von denen sie wahrscheinlich 
abstammen. 

Die Bakterien, über deren Abgrenzung die Ansichten zum 
Teil noch auseinandergehen, hat man in verschiedener Weise ein¬ 
geteilt. Am meisten Verbreitung und Anerkennung haben in 
den letzten Jahren das System von Alfred Fischer und dasjenige 




74 


von Walther Migula gefunden. Die Hauptgruppen des letzteren 
seien hier mitgeteilt: 

1. Ordnung: Eubacteria. 

1. Familie Coccaceae (Kugelbakterien) (Fig. 8). 

2. „ Bacteriaceae (Stiibchenbakterien) (Fig. 1, 2, 3, 9, 

10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18 b). 

3. „ Spirillaceae (Schraubenbakterien) (Fig. 18 a). 

4. „ Chlamydobacteriaceae (Scheidenbakterien) (Fig. 

19 und 20). 

2. Ordnung: Thiobacteria (Schwefelbakterien). 

1. Familie Beggiatoaceae (Farblose Schwefelbakterien) (Fig. 

18 c). 

2. „ Rhodobakteriaceae (Rote oder violette Schwefel¬ 

bakterien (Fig. 18 a und b). 

Bei den Chlamydobakteriaceen sind die cylindrischen Zellen 
zu Fäden angeordnet, die von einer mehr, oder weniger deutlich 
sichtbaren scheidenartigen Membran umgeben sind. Die Schwefel¬ 
bakterien unterscheiden sich von ihren Kollegen in erster Linie In 
physiologischer Beziehung; es scheint, dass bei denselben der 
Schwefelwasserstoff bei der Atmung dieselbe Rolle spielt, wie bei 
den übrigen Organismen die Kohlenstoffverbindungen. Die zweite 
Familie ist durch einen Bakteriopurpurin genannten Farbstoff, 
über dessen Funktion noch keine zuverlässigen Untersuchungen 
vorliegen, ausgezeichnet. 

Betrachten wir zunächst jetzt den Boden als Träger von Bak¬ 
terien. Ausser diesen finden wir im Boden noch mancherlei andere 
Mikroorganismen, die für die biologischen Prozesse in demselben 
von Bedeutung sind. Die wichtigsten Vertreter dieser kleinen 
Lebewesen gehören zu den Schimmelpilzen und zu den Hefearten; 
auch tierische Organismen sind von Bedeutung; ferner verdienen 
die den Bakterien nahe verwandten Spaltalgen hier besondere 
Erwähnung. 

Schon in der Mitte des 8. Dezenniums des vergangenen Jahr¬ 
hunderts haben Birch-Hirschfeld und von Fodor, allerdings mit 
ungenügenden Hilfsmitteln den Boden auf seinen Bakteriengehalt 
untersucht. Sie fanden, dass schon in wenigen Milligrammen der 
oberflächlichen Bodenschichten Bakterien enthalten sind, während 
die in einer Tiefe von vier Metern entnommenen Proben meist 



75 


steril waren. Sie beobachteten auch schon, dass die im Boden 
vorkommenden Spaltpilze meistens zu den Stäbchenbakterien 
gehören, ln die Tiefe gelangen die Bakterien unter normalen 
Umständen, wie bereits von Fodor durch Versuche nachgewiesen 
hat, sehr schwer. Um Bodenproben vollständig rein aus beliebiger 
Tiefe zur bakteriologischen Untersuchung, die zur Erzielung sorg¬ 
fältiger Resultate sofort nach Entnahme ausgeführt werden muss, 
holen zu können, sind verschiedene Instrumente konstruiert wor¬ 
den. Das bekannteste ist wohl das von E. Fränkel angegebene. 
Dieser sogenannte Röhrenbohrer hat unten einen circa 12 cm 
langen, 2 cm tiefen mit einer Hülse verschliessbaren, löffelförmi¬ 
gen Ausschnitt zur Aufnahme der Erdprobe. Die Hülse ist so 
konstruiert, dass sie sich bei Linksdrehung schliesst, bei Rechts¬ 
drehung öffnet. 

Um die Zahl der in einer Bodenprobe vorhandenen Bak¬ 
terienkeime zu bestimmen, geht man in der Regel in der Weise 
vor, dass man eine abgemessene, kleine Quantität (V 50 ccm) 
des Materials in ein Reagenzröhrchen mit geschmolzener 
Nährgelatine einfüllt, die Probe dann gründlich in der Gelatine 
verteilt und die letztere durch Drehung des Röhrchens in ge¬ 
eigneter Lage an dessen Wandungen nach der Esmarch’schen 
Methode ausrollt. Bei sehr keimreichen Erdproben empfiehlt es 
sich, eine grössere Menge in einer bestimmten Quantität Wasser 
durch Schütteln zu verteilen und davon erst einen Bruchteil in 
die Gelatine zu bringen. Diese letztere wird nach der vielfach 
variierten Vorschrift von Robert Koch in folgender Weise dar¬ 
gestellt. ln Fleischwasser, das man durch 24stündiges Macerie- 
ren von feingehacktem, möglichst fettfreiem Rindfleisch mit seinem 
doppelten Gewicht Wasser und vorsichtiges Auspressen gewonnen 
hat, löst man 10°/ c Gelatine, 1% Pepton und V 2 °/o Kochsalz. 
Neuerdings verwendet man auch mit Bodeninfus hergestellte 
Nährböden. Aber sowohl diese wie die gewöhnliche Nährgelatine 
haben den Nachteil, dass viele Bodenbakterien auf denselben 
nicht wachsen. Wir werden in den sog. Nitrifikationsorganismen 
z. B. Bakterien kennen lernen, die auf Nährböden mit löslichen 
organischen Verbindungen überhaupt nicht zu gedeihen vermögen. 
Wenn auf diese Weise die quantitative bakteriologische Boden- 
untersuchung auf Schwierigkeiten stösst, so ist dies bei der 
qualitativen noch mehr der Fall, da es bei sehr vielen Kolonien 



76 


oft ausserordentlich schwierig ist,' eine sichere Diagnose zu 
stellen. Neuerdings hat Gottheil in Allerdings richtiger Erkennt- 
his, dass die Systematik der Bodenbakterien noch sehr mangel¬ 
haft ist, in dankenswerter Weise versucht, etwas mehr Sicher¬ 
heit und Klarheit in die Verhältnisse zu bringen. In wie weit 
ihm dies gelungen ist, wird die Zukunft zeigen. 

Wie bereits erwähnt, nimmt die Zahl der Bakterien nach 
der Tiefe rasch ab, und zwar ist diese Abnahme zuerst eine all¬ 
mähliche bis etwa 1 */ 4 m. Dort wird dieselbe plötzlich eine sehr 
rapide, so dass schon wenige Decimeter tiefer der Boden fast 
vollständig keimfrei angetroffen wird. Die Schichte des Grund - 
wassers ist gewöhnlich keimfrei. Im allgemeinen finden sich an 
der Oberfläche mehr aerobe, der Tiefe zu mehr anaerobe Arten. 
Folgende im Jahre 1886/87 von E. Fränkel mit Boden aus der 
Umgebung von Potsdam erhaltenen Zahlen mögen hier mit¬ 
geteilt sein. 












77 


Die Zahlen, die natürlich keinerlei Anspruch auf absolute 
Zuverlässigkeit haben, zeigen uns ferner, dass der Bakterien- 
gehalt des Bodens zu verschiedenen Jahreszeiten bedeutend 
wechselt, dass also das Klima einen nicht zu verkennenden Ein¬ 
fluss auf die Entwicklung der Bodenmikroorganismen hat. Ausserdem 
sind für den Gehalt an Art- und Individuenzahl noch andere 
Umstände von Bedeutung. Schon die Art, die Beschaffenheit und 
die Beaktion des Bodens spielen hierbei eine grosse Rolle; in 
sauren und nassen Moorböden z. B. treten die Bakterien über¬ 
haupt den Schimmelpilzen gegenüber zurück. Eine interessante 
Studie über das Vorkommen von Bakterien in verschiedenen 
Böden hat Fülles in der Nähe von Freiburg i. B. ausgeführt; 
er suchte neben der Zahl der vorhandenen Keime auch die Art 
derselben nach Möglichkeit festzustellen. Dabei zeigte es sich, 
dass die verschiedenen untersuchten Wiesen- und Walderden das 
bunteste Gemenge vonBakterieu enthielten, regelmässiger waren 
die Verhältnisse bei Weinberg- und bei Ackererde. In ver¬ 
schiedenen Tiefen fand Fülles einen deutlichen Unterschied der 
Arten. Eine auffallende Regelmässigkeit und Einfachheit zeigte 
die Bakterienflora auf grösseren Höhen des Schwarzwalds. Fülles 
beobachtete bei Bodenproben von dem Gipfel des Rosskopfs und 
des Schauinsland fast stets nur ein Gemenge des Heubazillus 
(Bacillus subtilis) (Fig. 1) und des Wurzelbazillus (Bacillus mycoides). 
Im allgemeinen zeigte sich der Waldboden am ärmsten an Bak¬ 
terien; es folgte dann die Weinbergerde, hierauf der Wiesengrund 
und schliesslich der Ackerboden. In stark verschmutzten Böden 
in der Nähe von Wohnungen sind die Bakterien in der Regel 
überaus zahlreich vorhanden. So fand A. Maggiora in einem 
Gramm einer Bodenprobe, die er einem Turiner Strassendamm 
entnommen hatte, 78 Millionen Bakterien. Im allgemeinen dürfte 
der Bakteriengehalt des Bodens proportional seinem Gehalt an 
organischer Substanz sein. 

Besondere Erwähnung verdient die in ihren Ursachen nicht 
genügend aufgeklärte Tatsache, dass gewisse Arten plötzlich in 
grosser Menge auftreten und ebenso rasch wieder verschwinden, 
um entweder dem gewöhnlichen Bakteriengemisch zu weichen oder 
aber durch eine andere stark verbreitete Art ersetzt zu 
werden. Diese Erscheinung ist besonders in epidemiologischer 
Beziehung von grossem Interesse. 



78 


Über den Einfluss des Pfianzenbestandes auf die Bakterien¬ 
flora des Bodens unter sonst gleichen Bedingungen sind die An¬ 
sichten geteilt. Während Caron auf Grund von Untersuchungen 
auf seinem Gut Ellenbach angibt, dass der Bakteriengehalt am 
grössten ist nach der Schwarzbrache, der die Hackfrüchte und 
dann der Klee folgen und die Halmfrüchte mit dem geringsten 
Bakteriengehalte am Schluss stehen, behauptet Remy gestützt auf 
diesbezügliche Versuche, dass sich nirgend ein bestimmter Einfluss 
der angebauten Pflanzen auf die Bakterienflora des Bodens nach- 
weisen lasse. Neuerdings hat man auch versucht, aus dem Bak¬ 
teriengehalte des Bodens auf dessen Fruchtbarkeit Schlüsse zu 
ziehen. Remy, der diese Frage näher verfolgt hat, ist zur An¬ 
sicht gelangt, dass aus dem Bakteriengehalt ein einigermassen 
sicheres Urteil Über den Zustand eines Bodens nicht gewonnen 
werden könne- Ein' zahlreicher Bakterienstand, meint Remy, sei 
wohl als ein erwünschtes Symptom zu betrachten, welches im 
Gefolge, bezw. als Begleiterscheinung sorgsamer Bodenkultur auf¬ 
zutreten pflege; doch die Frage, inwieweit der grossen Bakterien¬ 
zahl Bedeutung als Ursache der Bodenfruchtbarkeit zukomme, 
lasse sich an der Hand von Zählungen natürlich nicht entscheiden. 

Wie gelangen nun die Bakterien in den Boden? 

Von aussen her durch die Luft, durch das Wasser, durch 
die Dungstoffe, durch Tiere und Pflanzen, bei letzteren haupt¬ 
sächlich mit den Samen. Auch in sogenannten jungfräulichen 
Boden gelangen Bakterien und andere Mikroorganismen auf diese 
Weise. Bei der Bildung der Böden durch Verwitterung und der 
Umwandlung von nacktem Sand in Heide spielt die Übertragung 
von Bakterien eine wichtige Rolle. Es wurde bereits einmal 
darauf hingewiesen, dass Luft, Wasser und Boden in bakterieller 
Beziehung in steter Wechselwirkung mit einander stehen. Der 
Haupt- und Stammsitz der meisten Bakterien ist aber stets der 
Boden; von ihm aus werden sie durch das Wasser und besonders 
durch die Luft überall hin verbreitet. Im praktischen Leben 
finden wir deshalb die Bakterien bald bei erwünschter, bald bei 
unerwünschter Tätigkeit. Bei der Bereitung von Brot, Butter. 
Käse, Getränken, Essig, in unsern Nahrungsmittelkonserven, bei 
der Fermentation des Tabaks, bei der Selbsterhitzung und der 
eventuellen Selbstentzündung von aufgehäuften Pflanzenstoffen, 
wie Heu, Baumwolle, Hopfen, in der Gerberei, bei der Zucker- 



79 


fabrikation, Überall finden wir die Bakterien bald als angenehme 
oder unentbehrliche Helfer, bald als sehr unangenehme und schäd¬ 
liche Gäste. Auf die schlimmsten der letzteren, auf die patho¬ 
genen Bakterien, soweit sie im Boden vorzukommen pflegen, 
werden wir später noch besonders einzugehen haben/ Hier wollen 
wir zunächst die Tätigkeit der Bakterien im Boden selbst ver¬ 
folgen, die wir in eine physikalische, die Bodenstruktur beein¬ 
flussende und in eine chemische einteilen können. In ersterer 
Richtung hat Suringar interessante Beobachtungen gemacht, die 
sich allerdings auch auf andere Bodenmikroorganismen erstrecken. 
Er nimmt auf Grund seiner Versuche an, dass die sogenannte 
Krümelstruktur des Bodens in erster Linie das Produkt bio¬ 
logischer Vorgänge ist. Bereits vor Suringar hatte J. Behrens 
au die Wahrnehmung, dass Schimmelpilze in trockenem Tabak¬ 
pulver eine krümelartige Struktur, wie sie der Ackerkrume 
eigen ist, erzeugten, die Vermutung geknüpft, dass die Gare des 
Bodens wenigstens zum Teil das Werk von Schimmelpilzen und 
Bakterien ist, welche die kleinsten Bodenteilchen untereinander 
zu grösseren Krümeln verbinden. Auch die Untersuchungen von 
Gräbner über die Entstehung der norddeutschen Heide, welche 
in der von Engler und Drude herausgegebenen Sammlung pflanzen¬ 
geographischer Monographien veröffentlicht sind, haben in dieser 
Beziehung beachtenswerte Resultate ergeben. Gräbner geht nämlich 
bei Erörterung der Probleme der Heideforschung auch auf die 
Bedeutung der Mikroorganismen bei der Bildung der Heide aus 
nacktem Sand ein. Es kommt hierbei nach seinen Ausführungen 
ausschliesslich die Tätigkeit niederer Organismen in Frage, 
namentlich die von blaugrünen Algen (Schizophyceen), welche als 
Pioniere der Vegetation die losen Sandkörner fest verbinden, 
dadurch allmählich eine Bodendecke schaffend, die auch andere 
Pflanzen aufzunehmen vermag. 

Von Bedeutung für die physikalische Beschaffenheit des 
Bodens sind die Mikroorganismen auch durch ihren Gasaustausch 
und die günstige Wirkung des Stalldüngers auf die Beschaffen¬ 
heit des Bodens, dürfte nicht in letzter Linie auf dieser Ursache 
beruhen; unter Umständen dürften sie ferner bis zu einem ge¬ 
wissen Grad Einfluss auf die Bodentemperatur haben. 

Wenden wir uns nun zur chemischen Tätigkeit der Bakterien 
im Boden; sie erstreckt sich sowohl auf dessen anorganische, 



80 


wie auf dessen organische Bestandteile, vorwiegend aber auf die 
letzteren. Bei dem organischen Kreislauf der Natur sehen wir 
die Bakterien überall als Helfer und Vermittler und. der Kreis¬ 
lauf des Stickstoffs ist, wie wir nach den bisherigen Untersuchungen 
wenigstens annehmen müssen, ausschliesslich ihr Werk. Dass das 
Absorptionsvermögen des Bodens für organische Stoffe und seine 
Bindekraft durch einen hohen Bakteriengehalt erhöht wird, ist 
bekannt. Die Einwirkung der Bakterien auf die anorganischen 
Bodenbestandteile erstreckt sich hauptsächlich auf die Karbonate, 
Phosphate, Sulfate des Calciums und des Magnesiums sowie auf 
die Silicate der Alkalimetalle. Diese Fähigkeit der Bakterien 
macht dieselben, es sei dies hier nebenbei bemerkt, auch zu 
Mitarbeitern bei manchen geologischen Vorgängen unserer Erde. 

Weitgehend und tief eingreifend ist ihre Einwirkung auf die 
organischen Bestandteile des Bodens. Fällt ihnen doch vor allein 
die Aufräumung und Mineralisierung der tierischen und pflanz¬ 
lichen Leichen zu, ohne welche der organische Kreislauf alsbald 
ins Stocken geraten müsste. Wir werden die hier in Betracht 
kommenden organischen Verbindungen in stickstoffhaltige und in 
stickstofffreie einteilen und die einzelnen Körperklassen mit den 
entsprechenden Bakteriengruppen nach Möglichkeit einzeln ver¬ 
folgen. 

Zuerst wollen wir die Bodenbakterien in ihrer gewaltigen 
und wichtigen Arbeit beim Kreislauf des Stickstoffs näher be¬ 
trachten. Dabei können wir fünf Bakteriengruppen unterscheiden, 
von welchen die Angehörigen der ersten Gruppe insofern die 
grösste Bedeutung haben, weil fast sämtlicher gebundener Stick¬ 
stoff unseres Planeten durch sie festgelegt wird und die bei den 
übrigen vier Gruppen in Betracht kommenden Stickstoffverbin¬ 
dungen den Vertretern der ersten ihre Entstehung verdanken. 

Erste Gruppe: Die Stickstoff bindenden Bakterien; sie ver¬ 
mögen den freien Stickstoff der Atmosphäre zu assimilieren und 
den Kulturpflanzen nutzbar zu machen. 

Zweite Gruppe: Die Ammoniakbildner; sie liefern bei ihrem 
Lebensprozess aus stickstoffhaltigen organischen Substanzen 
Ammoniak. 

Dritte Gruppe: Die Nitrosobakterien; sie oxydieren das 
Ammoniak zu salpetriger Säure; man nennt sie zusammen mit der 
nächstfolgenden Gruppe Nitrifikationsorganismen. 



81 


Vierte Gruppe: Die Nitrobakterien; sie oxydieren die sal¬ 
petrige Säure zu Salpetersäure. 

Fünfte Gruppe: Die Denitrifikationsbakterien; sie reduzieren 
Salpeter und salpetrige Säure unter Ausscheidung von Stickstoff. 

Wenden wir uns nun zu den Vertretern unserer ersten 
Gruppe, die den sonst so schwer zugänglichen und so passiv sich 
verhaltenden elementaren Stickstoff der Atmosphäre, dieser uner¬ 
schöpflichen Stickstoffquelle bei ihrem Stoffwechsel festzulegen im 
stände sind. Wir kennen bisher nur einen rein anorganischen 
Vorgang in der Natur, bei welchem freier Stickstoff in nennens¬ 
werter Menge in gebundenem Zustand übergeführt wird, nämlich 
beim Durchschlagen des elektrischen Funkens durch ein Gemisch 
von Stickstoff, Sauerstoff und Wassergas wie dies bei Gewittern der 
Fall ist und wobei salpetrigsaures und salpetersaures Ammonium 
gebildet wird, das mit den atmosphärischen Niederschlägen auf 
den Boden fällt. Die auf diese Weise in den Boden gelangenden 
Stickstoffverbindungen sind indes so gering, dass sie in keiner 
Weise genügen würden, den Stickstoff bedarf unserer Kultur¬ 
pflanzen zu decken. Auch das natürlich vorkommende Kalium-, 
Natrium- und Calciumnitrat ist auf biologischem Wege entstanden. 
Neuerdings hat sich die Technik mit dem Problem, den Luft¬ 
stickstoff auf elektrischem Wege in gebundenem. Zustand zu ge¬ 
winnen, beschäftigt. Inwieweit dieser Weg zu dem heiss ersehnten 
Ziele führen und inwieweit die Elektrizität den Bodenbakterien 
Konkurrenz zu machen im stände ist, darüber lässt sich bei den 
noch im Versuchsstadium befindlichen Bemühungen zur Zeit noch 
nichts sagen. Erwähnt sei indes noch, dass sich in Amerika in 
der Atmosphäric Products Company eine Gesellschaft gegründet 
hat, welche einen Teil der Kräfte des Niagara zur Oxydation des 
Luftstickstoffs auf elektrischem Wege auszunützen sucht. Zu 
diesem Zwecke wird die atmosphärische Luft durch einen zylinder¬ 
förmigen Apparat getrieben, der 414000 elektrische Funken in 
der Minute erzeugt. Ein Teil des Stickstoffs wird oxydiert und 
durch Auffangen in Soda- oder Pottaschelösung als Nitrit oder 
Nitrat gewonnen. Neuerdings wird das Reaktionsprodukt in 
Schwefelsäure aufgefangen und in Form von Nitroschwefelsäure 
gewonnen. Nach den in letzter Zeit veröffentlichten Versuchen 
über die Oxydation des Stickstoffs in der elektrischen Flamme 
von W. Muthinann und H. Hofer ist die Menge des oxydierten 

6 



82 


Stickstoffs ungefähr proportional der Geschwindigkeit des Luft¬ 
stroms und dem Druck, unter welchem dieser Luftstrom steht, 
umgekehrt proportional der Entfernung der Elektroden infolge 
der höheren Temperatur der elektrischen Flamme und dem 
rascheren Wechsel des Stromes.* 

Bei den stickstoffbindenden Bakterien haben wir frei im 
Boden lebende und in Gemeinschaft (Symbiose) mit andern höheren 
Pflanzen lebende (Knöllchenbakterien) zu unterscheiden. Betrachten 
wir zunächst die ersteren. 

Der Nachweis, dass in unbebautem Boden eine Bindung und 
Festlegung des Stickstoffs der Luft und zwar durch Mikroben 
stattfindet, ist das Verdienst to* Berthelot, der im Jahre 1885 die 
ersten diesbezüglichen Beobachtungen machte. Der Beweis, dass 
es sich hierbei um biologische Vorgänge handelt, lieferte die rin« 
fache Operation der Sterilisation, nach welcher eine Stickstoff* 
Zunahme im Boden ausblieb. Sehr interessant war sodann rin 
Versuch von Dehörain, welcher zeigte, dass in einem kräftig nitri- 
fisierenden Boden, dessen Stickstoffgehalt in sieben Monaten von 
1,72 g auf 2,29 g pro 1 kg bei richtiger Versuchsanstellung stieg. 
Dass in der Ackererde von den Bodenmikroorganismen nur die 
Bakterien die Fähigkeit, den Luftstickstoff zu binden, besitzen, 
haben zuerst Berthelot und Kossowitz nachgewiesen. Ersterer 

* In letzter Zeit hat sich in Berlin eine Gesellschaft unter der Leitung 
der Firma Siemens und Halske zur technischen Gewinnung von Stickstoff* 
Verbindungen aus der Luft gebildet. Durch Pressen von Luft, die durch 
Leiten Ober metallisches Kupfer um grössten Teil von ihrem Sauerstoffgehait 
befreit ist, in geschmolzenes Calciumcarbid bildet sich Calciumcyanaiaid 
(CN.N.Ca). Die gleiche Verbindung, der man den Namen Kalkstickstoff 
gegeben bat, entsteht, wenn man in die mittelst des elektrischen Stromes 
geschmolzene Mischung von Kohle und kohlensaurem Kalk, das Ausgangs- 
materiat des C&rhids, Stickstoff leitet. Der Kalkstickstoff, der nach den 
Versuchen von M. Gerlach und P. Wagner bereits selbst einen hoben Wert 
als Stickstoffdünger für unsere Kulturpflanzen hat, liefert bei der Behandlung 
mit überhitztem Wasserdampf Ammoniak, so dass nach der Ansicht der 
beiden Forscher auf diese Weise die Gewinnung von Ammoniakvcrbioduogeo 
in unbegrenzter Menge ermöglicht ist. Es sei hier auch noch an die Nitride 
erinnert, die bei der Zersetzung ebenfalls Ammonisk liefern und die vielleicht 
einmal Bedeutung für dessen technische Darstellung gewinnen können. Beson¬ 
ders das Stickstoffmagnesium Mg a N,, das sich leicht durch Leiten von Stick¬ 
stoff Uber Magnesiumfeile bei Rotglut als grüulichgelbes Pulver darstellen 
lässt und das mit Wasser in Ammoniak und Magnesiumoxydhydrat zerfallt, 
hat bereits die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. 



83 


war es auch, der zuerst die Arten z» ermitteln suchte, welche 
diese merkwürdige Eigenschaft besitzen. Während er aber diese 
Fälligkeit verschiedenen Bodenbakterien zusebreibt, kam später 
Winogradsky, welchem genialen Forscher wir die bedeutendsten 
Untersuchungen auf dem Gebiete der Bodenbakteriologie verdanken, 
auf Grund seiner Untersuchungen zu dem Schlüsse^ datss nur das 
von ihm isolierte und als Clostridium Pasteurianum bezeichnete 
Bakterium dies zu tun vermag. Doch scheint es nach den neuesten 
Untersuchungen von Beyerinck, von Geflseh und Vogel und von 
Winogradsky selbst, dass Clostridium Pasteurianum nicht der 
einzige Organismus im Boden ist, der zur Stickstoffassimilation 
befähigt ist Die wichtigsten Arbeiten Winogradskys über diesen 
Mikroorganismus sind in den Jahren 1895 bis 1900 erschienen. 
Seine schwierige Reinkultur gelang dem Forscher mit Hilfe der 
von ihm geschaffenen elektiven Kultur. Das Prinzip derselben 
besteht nach der Definition seines Schülers Omeliansky darin, 
dass man zunächst Bedingungen ausfindig macht, bei welchen der 
gewünschte Prozess am sichersten hervorgerufen und durch eine 
Reihe von Generationen mit den Eigenschaften und Intensität zu 
erhalten ist. Sind die Bedingungen richtig getroffen, so bewirkt 
die Kultur eine Auslese oder Selektion in dem Ausgangs¬ 
material in dem Sinne, dass die gesuchte Art bald die Ober¬ 
hand gewinnt und die übrigen, denen das Substrat schlecht 
bekommt, bald verdrängt. Die Kulturen werden dann an der 
spezifischen Art so reich, «hiss es kaum Schwierigkeiten bietet, 
dieselben aufzudecken und ihre Eigenschaften zu studieren. 
Erst dann sucht man sie weiter zu reinigen und schliesslich zu 
isolieren. 

Das Clostridium Pasteurianum ist ein streng anaerober, 
sporenbildender, mit geringer Bewegungsfähigkeit ausgestalteter, 
zu den Buttersäurefermenten gehörender Organismus. Er vermag 
in stickstoffreien Nährmedien zu leben unter Assimilation des 
atmosphärischen Stickstoffs, indem er Zucker in einem gewissen 
Verhältnis zur Stickstoffassimilation vergärt. Dabei dient ihm 
als Kraftquelle zur Assimilation des Stickstoffs die bei der Gärung 
des Zuckers frei werdende Energie. 

Bemerkenswert ist, dass das, wie bereits erwähnt, streng 
anaerobe Clostridium Pasteurianum auch aerob gezüchtet werden 
kann, doch nur bei Gegenwart von andern aöroben, den Sauer- 

6 * 



84 


Stoff absorbierenden Mikroorganismen, ein Verhältnis, das wohl 
den natürlichen Bedingungen im Boden entspricht 

Im verflossenen Jahre hat Winogradsky eine genaue Dar¬ 
stellung der Morphologie der Clostridium Pasteurianum und seiner 
Eigenschaften als Buttersäureferment gegeben. Als beste Nähr¬ 
lösung verwendet Winogradsky eine solche von folgender Zu- 
sammensetzung: 

Kaliumphosphat 1,0, 

Magnesiumsulfat 0,2, 

Chlornatrium, Eisensulfat, Mangansulfat sehr geringe Spuren. 

Dextrose 20,0, 

Destilliertes, ammoniakfreies Wasser 1 1. 

Dieser Lösung wird frisch gewaschene Kreide im Überschuss 
zur Neutralisation der bei der Gärung entstehenden Säuren zu- 


p 4$ ^ 0 0 @ ^ 

1 2 5 4 5 6 7 

Fig. 2. 

Clostridium Pasteurianum Winogradsky. 

Schematische Fignreo. Nach Winogradsky. Erklärung im Text. 



8 


gegeben. In einer solchen Nährlösung werden für 1 g vergorenen 
Zuckers 2 l l 2 —3 Milligramm Stickstoff gebunden. 

Die Wichtigkeit und das grosse Interesse, welches das 
Clostridium Pasteurianum für Theorie und Praxis hat, recht¬ 
fertigt es wohl, dass wir dasselbe etwas näher betrachten, umso¬ 
mehr, als dieser Bazillus nach Winogradskys Angaben einen der 
höchst differenzierten bakteriellen Organismen darstellt. 

Winogradsky unterscheidet acht Stadien seines Entwicklungs¬ 
zyklus, die durch die beistehenden schematischen Figuren 1—8 
illustriert werden; er beschreibt dieselben folgendermassen: 

„Stadium 1. Junge Bazillen meistens 1,2—1,3 ft (1 u = 
1 looo mm) dick, 1,5—2 ft lang; bleiben bei günstigen Bedingungen 
gewöhnlich kurz infolge der wiederholten lebhafteu Teilungen; sie 
sind meistens gerade, zylindrisch, mit abgestutzten Enden; färben 
sich rasch und intensiv mit gewöhnlichen basischen Anilinfarben. 
Jod lässt sie gelb. Das ist das Stadium der Vermehrung des 
Mikrobiums, das eigentliche Propagationsstadium. Dies dauert. 



85 


durch immerwährende Zweiteilungen neu entstehend, bis die Ver¬ 
mehrung und auch die Gärung ihren Höhepunkt erreicht hat. 
Mit dem Aufhören der Teilungen wird das nächste Stadium ein¬ 
geleitet. 

Stadium 2. Die verlängerten Stäbchen, statt sich zu teilen, 
haben sich zur Spindelform aufgebläht (daher die Bezeichnung 
Clostridium vom griechischen xJoxmfc, Spindel), in dem gleich¬ 
zeitig ihr Plasma das charakteristische körnige Aussehen bekommt. 
Anilinfarben färben jetzt schwächer, durchsichtiger, dagegen ruft 
Jod die intensive violettbraune Färbung hervor. 

Stadium 3. Es tritt an einem Pole der Spindel ein sporo- 
genes Korn (in Einzahl) auf, das gleich bei seinem Auftreten die 
ovale Form der fertigen Sporen besitzt, doch kleiner ist; Me¬ 
thylenblau färbt es fast schwarz, die übrigen Teile der Zelle da¬ 
gegen hellblau. Umgekehrt wird durch Jod der durch Methylen¬ 
blau hell gefärbte Teil ganz dunkel violettbraun, das sporogene 
Korn fast farblos. 

Stadium 4. Das sporogene Korn wird grösser und wendet 
sich ab; es färbt sich jetzt nur schwer mit gewöhnlichen Anilin¬ 
farben, behält aber schon etwas die Ziehlsche Färbung. Die 
Mutterzelle färbt sich noch mit Jod, aber schwächer. 

Stadium 5. Die Spore bekommt ihre endgültige Grösse und 
liegt meistens nicht mehr polar, sondern mehr in der Mitte der 
Mutterzelle und ist mit einem hellen Hof umgeben. Jod gibt 
nur noch in der Peripherie einen schwachen violetten Saum oder 
gibt der Zelle ein eigentümliches marmoriertes oder gesprenkeltes 
Aussehen. 

Stadium 6 beginnt mit dem Verschwinden der charakteristischen 
Jodfärbung. Die Spore ist reif und trotzdem zeigt die dieselbe 
umschliessende Mutterzelle keine Zeichen der Verquellung oder 
Zerstörung, wie man das so allgemein bei der endogenen Sporen- 
bildong der Bazillen beobachtet; sie ist nunmehr mit einer hya¬ 
linen Substanz (um die Spore herum) gefüllt, immer aber scharf 
konturiert; die hyaline Substanz dagegen kaum. Nun wird, 
höchst wahrscheinlich durch die aufquellende „hyaline Substanz" 
die Membran der Mutterzelle an einem Pole gesprengt und weit 
geöffnet. 

Stadium 7. Die reife Spore, 1,6 fi lang, 1,3 p breit, liegt 
jetzt in einem abgerundet dreieckigen Gallertpolsterchen, der 



66 


„Sporeakäpsel* eingebettet, das an zwei Seiten scharfe und an 
der dritten — der Öffnung — verwachsene Konteren zeigt. Am 
schärfsten treten die Verhältnisse hervor, wenn man die reifen 
Sporen nicht in Flüssigkeit, sondern in feuchter Luft untersucht, 
indem man also das Wasser von unten unter dem Deckglase weg¬ 
saugt oder fast austrocknea lässt. Es kann selbstverständlich 
kein Zweifel aufkommen, dass diese Sporenkapsel ein Produkt 
der Metamorphose der Mutterzelle ist. Sobald man frisch gereifte, 
sowie mehrere Jahre alte Sporen in frische, zuckerhaltige Nähr¬ 
lösung unter anaeroben Bedingungen briogt, beginnt sofort die 
Keimung, welche in ganz charakteristischer Weise erfolgt. Die 
Spore schwillt bedeutend an und wird al6 erstes Zeichen der be¬ 
ginnenden Keimung, durch wässriges Methylenblau oder Gentiana 
färbbar. Dann wird die Sporenwand an dem gegen die Kapsel- 
öffnung gerichteten Pole der Spore durchlöchert und das junge 
Stäbchen tritt, die Sporenwand zurücklassend, aus dieser und der 
Sporenkapsel heraus. 

Stadium 8. Es ist bemerkenswert, dass die polare Keimung 
immer in der Richtung gegen die Kapselöffnung erfolgt, woraus 
zu erhellen scheint, dass diese Richtung von dem Bau der Sporen¬ 
kapsel bestimmt wird. Manchmal beginnt das noch in der Kapsel 
teilweise steckende Stäbchen sich sofort zu teilen und auf diese 
Weise entstehen Bazillenpaare, sowie kurze Ketten, auf deren 
einem Ende die Sporenkapsel wie ein Fingerhut noch aufsitzt“ 

Wie diese Beschreibung zeigt, steht das Clostridium P&steuria- 
num den Amylobacter- und den Granulobacter-Arten morpholo¬ 
gisch sehr nahe, nur in der Bildung und der Keimung der Sporen 
unterscheidet er sich von diesen so nahverwaudten Formen. Das 
Clostridium Pasteurianum besitzt nach den Angaben Winograds- 
kys zweifellos eine allerdings sehr begrenzte Schwärmfähigkeit 
Wird der Organismus auf Kartoffeln oder Mohrrüben im Vacuum 
oder im sauerstoffreien Raume gezüchtet, so treten Involutkms- 
formen, vermutlich infolge der gebildeten Fettsäuren auf. Setzt 
man die Kultur auf den bezeichnten Nährböden fort so wachsen 
die Stäbchen immer mehr zu Fäden heran, während die Ciostri- 
dium-Biklung und mit ihr die Sporenbildung zurücktritt. Endlich 
wird das Mikrobium gänzlich asporogen und es gelingt nicht 
wieder, die Fähigkeit Sporen zu erzeugen zu restituieren, es ent¬ 
steht gleichsam eine asporogene Varietät. Nicht weniger interessant 



87 


ist, wie Winogradskvs Untersuchungen zeigen, der Organismus 
in physiologischer Beziehung. Wie wir bereits erörtert, ist es 
ein obligat anaerobes Ruttersäureferiient mit der uns hier beson¬ 
ders wichtigen Eigenschaft, ohne gebundenen Stickstoff als Nah¬ 
rung zu benötigen, den atmosphärischen Stickstoff assimilieren 
zu können. 

Clostridium Pasteurianum gehört zu den am wenigsten poly- 
pbagen Buttersäurefermenten; es vermag nur Dextrose, Laevulose, 
Rohrzucker, Inulin, G&kctose und Dextrin zu vergären. Dabei 
wird das Kohlehydrat unter fast ausschliesslicher Bildung von 
Buttersäure, Essigsäure, Kohlensäure und Wasserstoff gespalten. 
Auf die Fettsäuren entfallen dabei 42—45 % des Zuckers, wie 
sich Winogradsky ausdrückt, der Rest wird vergast. Als unbe¬ 
ständige Nebenprodukte treten geringe Mengen von verschiedenen 
Alkoholen and Spuren von Milchsäure auf. Eigentümlich ist, 
dass Clostridium Pasteurianum unter den gewöhnlichen Bedin¬ 
gungen eines asaeroben Gärversuchs gegen die Qualität der Stick¬ 
stoffnahrung sehr empfindlieb ist. in Gegenwart von Ammon als 
einziger Stickstoffquelle werden nur Dextrose, Rohrzucker und 
Inulin angegriffen. 

Von den verschiedenen von Winogradsky ausgeführten Gär- 
versucben sei der folgende hier erwähnt: 

40,0 Dextrose in 1000 ccm der oben angegebenen Salz¬ 
lösung gelöst eigaben im Stickstoffstroiue innerhalb 20 Tagen: 

53,6 mg Gewinn an Stickstoff, davon entfallen auf den ab¬ 
filtrierten Bodensatz 42,3 mg, auf das Filtrat selbst 11,3 mg. 
An fluchtigen Säuren, die nach Duclaux bestimmt wurden, waren 
3,714 g Essigsäure und 14,164 g Buttersäure, insgesamt also 17,878 g 
erzeugt worden. Das Verhältnis der bei der Gärung auftretenden 
Gase, der Kohlensäure und des Wasserstoffs wechselt während deren 
Verlauf. So bestand das Gasgemisch bei eisern Versuch am An¬ 
fang der Gärung aus 11,00% Kohlensäure und 89,00% Wasser¬ 
stoff, während der Mitte aus 4042 % Kohlensäure «ad 59,8 % 
Wasserstoff und am Schlüsse aus 54,9 % Kohlensäure und 45,10% 
Wasserstoff. Die Gärprodukte siBd indes nicht konstant in den 
gegenseitigen Verhältnissen, sondern auch bei genau der gleichen 
VersuchsansteUung nach der Ausdrueksweiee Winogradskys aus 
inneren Gründen verschieden. Auch über die Verbreitung des 
Clostridium Pasteurianum im Beden sind im Winogradskyschen 



88 


Institut Untersuchungen angestellt worden. Nach diesen findet 
man dasselbe nicht in jedem Boden. So konnte der Organismus 
in 18 aus verschiedenen Teilen Russlands stammenden Boden¬ 
proben nicht konstatiert werden. An seiner Stelle aber trat in 
diesen ein ähnliches, stickstoffassimilierendes Buttersäureferment 
auf, das Winogradsky ebenfalls als eine Clostridium-Art bezeichnet. 
Dieselbe konnte bisher nur unvollständig untersucht werden, da 
sie noch auf keinem festen Näbrsubstrat gewachsen und deshalb 
ihre Reinkultur bis jetzt noch nicht gelungen ist. 

Winogradsky ist der Ansicht, dass die beiden von ihm be¬ 
obachteten Clostridium-Arten die einzigen Bodenbakterien sind, 
welche die Fähigkeit der Stickstoifassimilation besitzen. Im 
Gegensatz zu ihm schreibt Beyerinck diese Eigenschaft noch 
andern Missorganismen zu, diese als oligonitrophyle bezeichnend. 
Darunter versteht Beyerinck solche Mikroben, welche in freier 
Konkurrenz mit der übrigen Mikrobenwelt sich in Nährmedien 
entwickeln ohne absichtlich zugefügte Stickstoffverbindungen, aber 
auch ohne Entfernung der letzten Spuren derselben. Sie haben 
nach Beyerinck das Vermögen, den freien atmosphärischen Stick¬ 
stoff binden und zu ihrer Ernährung verwenden zu können; es 
werden als solche Organismen nicht nur Bakterien, sondern auch 
niedere Algen bezeichnet. Beyerinck hat aus Gartenerde zwei 
oligonitrophyle Bakterien isoliert; den einen Organismus hat er 
als Azotobacter chroococcum, eine nach seinen späteren Ausfüh¬ 
rungen sehr variable Art, den andern als Azotobacter agilis 
bezeichnet. 

Gerlach und Vogel haben aus verschiedenen Böden grosse 
Bazillen isoliert, welche die Eigenschaft der Stickstoffassimilation 
besitzen und die sie zur Azotobacter-Gruppe Beyerincks stellen. 
Ob diese eventuell mit den von Winogradsky aufgestellten stick¬ 
stoffassimilierenden beiden Clostridium-Arten, von denen die zweite 
allerdings der näheren Untersuchung noch harrt, identisch sind 
oder ob es sich wirklich um verschiedene Organismen handelt, 
dürften erst eingehende Untersuchungen zeigen. Beyerinck hat 
dem bereits erwähnten Azotobacter chroococcum, den die Figur 3 
in Reinkultur zeigt, zusammen mit A. van Delden eine grössere 
Studie gewidmet. Die beiden Forscher kommen zu dem Ergeb¬ 
nis, dass Azotobacter chroococcum in Reinkultur in einer stick¬ 
stoffarmen Nährlösung nicht zu einer beträchtlichen Stickstoff- 



89 


assimilation befähigt ist und dass dessen Wachstum und Ver¬ 
mehrung darin, trotzdem die Kohlenstoffquelle noch lange nicht 
erschöpft ist, bald aufhört. Sie ziehen daraus den Schluss, dass 
die Vermehrung des Organismus in sogenannten Rohkulturen, d. h. 
zusammen mit andern Bodenmikroorganismen, die mit dem voll¬ 
ständigen Verbrauch der Kohlenstoffnahrung und Stickstoffbindung 
begleitet ist, auf der Symbiose mit anderen Mikroben beruhe. Die 
Symbionten werden in sporenbildende, zur Gattung Granulobacter 
gehörende, und in sporenlose unterschieden, wovon Aerobacter 
aerogenes und Bazillus radiobacter, eine als neu und als formen¬ 
reich bezeichnete Art, in ihrem Verhalten weiter verfolgt werden. 

Alle Granulobacter-Arten, sowohl die aeroben, wie die anae¬ 
roben besitzen nach der Angabe von Beyerinck an und für sich 
schon die Fähigkeit, den freien Stickstoff 
zu binden; doch zeigen sie erst bei der 
Symbiose mit Azotobacter chroococcum 
ihre Fähigkeit in dieser Beziehung in 
Vollendung. Aerobacter aerogenes und 
Bacillus Radiobacter dagegen können in 
Reinkultur keinen Stickstoff binden, er¬ 
langen diese Fähigkeit aber bei der 
Symbiose mit Azotobacter chroococcum. 

Über die Symbiose von Granulobacter- 
Arten und Azotobacter chroococcum be¬ 
merken die Forscher, dass die Anzahl 
der Granulobacter-Bazillen, welche in 
üppigen Wachstum von Azotobacter genügen, so gering sei, 
dass man sie zwischen den Tausenden Azotobacterzellen mikro¬ 
skopisch nur schwierig finden könne. Daraus schliessen sie: 
„Es scheint ausgeschlossen, dass die Bedeutung der Symbiose 
mit Azotobacter chroococcum für die stickstoffbindenden Bakterien 
ausschliesslich in einer Herabsetzung des Sauerstoffdrucks durch 
das intensive Wachstum der letzteren gelegen sein kann, obschon 
es feststeht, dass diese Herabsetzung für die Stickstoffbindung, 
wenigstens für Granulobacter sicher günstig ist.“ 

Man müsste daraus die Folgerung ziehen, dass das erste 
Assimilationsprodukt des freien Stickstoffs eine Stickstoffverbin¬ 
dung ist, welche in der Flüssigkeit ausserhalb der erzeugenden 
Bakterien in freiem Zustand vorkommt und für alle diejenigen 



Fig. 3. 

Azotobacter chroococcum 
Beyerinck. 

Bakterien aus einer jungen Kultur 
nach 24 Stundeu; nach dem Pho¬ 
togramm Beyerinck« gezeichnet. 
1000fache Vergr. 


der Nährlösung zum 



90 


Mikroben oder andere Organismen erreichbar ist, weiche damit 
ihr Stickstoffbedürfnis befriedigen kennen, so dass hier der eine 
Organismus (Bakterie) die Leguminose vertreten würde. Welcher 
Art dieses Stickstoffassimilatiensprodukt ist, kann man sich zur 
Zeit nur in beweislosen Vermutungen ergehen. 

Aus diesen Untersuchungen, deren Richtigkeit vorausgesetzt, 
müssen wir den wichtigen Schluss ziehen, dass die sogenannten 
oligonitrophylen Mikroorganismen das von den Buttersäurebak¬ 
terien, denen Beyerinck ganz allgemein das Stickstoffbindungs¬ 
vermögen zuschreibt, erzeugte Stickstoffassimilätionsprodukt in 
sich entnehmen, während die stickstoffbindenden Organismen dies 
selbst gar nicht oder nur in ganz bescheidenem Masse zu tun ver¬ 
mögen. Nur das Clostridium Pasteurianum soll hierin eine wesent¬ 
liche Ausnahme machen, indem es sein Stickstoffassimilationsprodukt 
selbst aufzunehmen vermag. Diese Eigenschaft soll nun Azoto- 
bacter ehroococcum, das im Boden nach Beyerinck und van Delden 
ganz allgemein vorkommt, in ganz hervorragender Weise besitzen 
und zwar soll der gebundene Stickstoff in Azotobacter ehroococcum 
in der Hauptsache als Protoplasma gegenwärtig sein. Im Boden 
soll nun nach den weiteren Ausführungen von Beyerinck und 
van Delden „dieses Bakterieneiweiss durch andere Bakterien zu 
Ammonsalz abgebrochen werden/ das dann durch die Nitriffkations¬ 
organismen in Nitrat übergeführt würde; auf diese Weise würde 
also in kurzer Zeit der freie atmosphärische Stickstoff in Nitrat 
verwandelt. 

Für die Stickstoffgabe ist aber nach den allerdings sehr 
hypothetisch ersheinenden Ausführungen der Azotobacter chro- 
oeoccum und seine Analogen zu uns unbekannten Gegendiensten 
den Stickstoff bindenden Bakterien gegenüber verpflichtet, so dass 
also nur in dieser Symbiose und in der dazu nötigen Akkomo* 
dation der beiden Organismen die Stickstoffestlegung stattfinden 
kann und damit ein ähnliches Verhältnis existiert wie bei den 
Knöllchenbakterien der Leguminosen. 

Diesen Angaben und Schlussfolgerungen Beyerincks und 
van Delden haben Gerlach und Vogel widersprochen. Sie sind 
auf Grund ihrer Beobachtungen wieder zu dem bereits oben an¬ 
geführten Ergebnis gelangt, dass Azotobacter ehroococcum in 
Reinkultur zur Stickstoffassimilation befähigt ist. Diese soll nach 
der Ansicht der beiden Forscher im Innern des Bakterienleibes 



91 


durch direkte Anlagerung des elementaren Stickstoffs an orga¬ 
nische Kohlenstoffverbindungen erfolgen. Die auf diese Weise 
gebildeten stickstoffhaltigen Stoffe sollen dann in der Zelle in 
Eiveiss übergeführt werden, das erst nach dem Absterben der 
Bakterien in gewöhnlicher Weise abgebaut und in Verbindungen 
Ubergeführt würde, die auch unseren Kulturgewächsen bei ihrer 
Ernährung zugänglich sind. 

Wenden wir uns jetzt zur Stickstoffbindung durch die 
Knöllchenbakterien der Leguminosen. Schon die alten Römer 
wussten, dass Hülsenfrücbte den Boden verbessern und der be¬ 
kannte und verdiente Schultz-Lupitz hat in richtiger Erkenntnis 
der grossen Bedeutung derselben, speziell für die Kultur leichter 
Bödeu die Gründüngung mit Leguminosen in sein Wirtschafts¬ 
system mit bestem Erfolg eingeführt. Es war sodann das grosse 
Verdienst von Hellriegel und Willfahrt, gezeigt zu haben, dass 
die Hülseofrüchte betreffs der Stickstoffernährung sich anders 
verhalten, wie die Halmfrüchte, dass die ersteren im Gegensatz 
zu den letzteren den Stickstoff der Luft zu ihrer Ernährung zu 
verwenden vermögen und dass sie an ihren Wurzeln normal 
kleinere oder grössere Anschwellungen, Knöllchen besitzen (vergl. 
Fig. 4 und 5) von deren Zahl und Ausbildung das Gedeihen der 
ganzen Pflanze abhängt. Die diesbezüglichen klassischen Unter¬ 
suchungen sind in den Jahren 1884—1886 ausgeführt. Woronin 
batte 1866 zuerst erkannt, dass im Innern der Zellen dieser 
Knöllchen massenhaft Bakterien leben, deren erste Reinkultur 
Beyerinck 1888 auf Leguminosenblätterabsud • Gelatine gelang. 
Prazmowski, dem wir wichtige Untersuchungen über das Ein¬ 
dringen der Bakterien in die Wurzel und über die Entwickelung 
der Knöllchen verdanken, erzeugte einige Jahre später mit Rein¬ 
kulturen an Hülsenfrüchten typische Wurzelknöllchen. Dass 
diese, die bereits von Malpighi im Jabre 1687 erwähnt werden, 
in sterilisiertem Boden nicht erscheinen, hat zuerst Frank kon¬ 
statiert. Es ist nicht möglich, hier weiter auf die vielseitige und 
interessante Literatur über die Wurzelknöllehen der Leguminosen 
einzugehen. Eine verdienstliche Zusammenstellung derselben, so¬ 
wie über die Assimilation des freien elementaren Stickstoffs über¬ 
haupt hat £. Jacobitz im VII. Bande (1901) der zweiten Abtei¬ 
lung des Zeotmlbinttes für Bakteriologie, Parasitenkunde und 
Infektionskrankheiten Seite 783 u. f. gegeben. 



92 


Die in den Wurzelknölichen der HüisenfrUchte lebenden 
Bakterien dürften, wie zuerst Beyerinck angenommen hat, wohl 
alle der von diesem als Bacillus radicicola bezeichneten Stammart 
angehören. Vielfach ist diese Frage erörtert und verfolgt worden, 
besonders Nobbe und Hiltner haben sich eingehend damit beschäf¬ 
tigt. In letzter Zeit hat Buhlert diesbezügliche Untersuchungen 
mit folgendem Ergebnis ausgeführt: 




Fig. 4. 

Wurzeln mit BakterienknöllcheD. 


a. Kelmpflame der Futterwicke (Viele satira). 

b. Keimpflaose der Krbae (Pisum sativum). 

c. Robinie (Robioia Peeod-Acaela) 

I. Wurzel mit jungen Knöllchen. 

II. Alte Knöllchen. 

d. Schwarx-Krle (Alnua glutinöse). 

1/2 der natürl. Grösse. Nach der Natur gezeichnet Ton Rudolf Dittmann. 


1. Die Bakterien der Leguminosenknöllchen gehören sämt¬ 
lich einer Art Bacillus radicicola Beyerinck an. 

2. Die aus den Knöllchen einer bestimmten Leguminosenspecies 
stammenden Bakterien sind gerade dieser Art scharf angepasst. 

3. Wegen dieser Anpassung an die Art kann eine gegen¬ 
seitige Vertretung der Bakterien, die von der Arteinheit abgeleitet 
werden müsste, nicht ohne weiteres statthaben. 



93 


Demnach würden wir also die den einzelnen Leguminosen¬ 
spezies angepassten Bakterien als Rassen einer Stammart auf¬ 
fassen müssen. Allerdings fehlt es nicht an Forschern, die auf 
Grund von Untersuchungen dieser Ansicht widersprechen. So 
behauptet Dehörain, dass die Wurzelknöllchen der gelben Lupine 
von nur für diese spezifischen, von denen der blauen und weissen 
Lupine verschiedenen Bakterien erzeugt werden. aus welchem 
Grunde die Einführung der Kultur der gelben Lupine auf Böden, 
die noch nie vorher damit bebaut gewesen, auf grosse Schwie¬ 
rigkeiten stosse. Auch Thiele zieht aus der Beobachtung, dass 
in demselben Boden perennierende Lupinen unter normaler 
Knöllchenbildung sich gut entwickelten, 
während einjährige Lupinen nicht gediehen, 

Jen Schluss, dass die für die letzteren 
spezifischen von denen der mehrjährigen 
Lupine verschiedenen Bakterien nicht vor¬ 
handen waren. Es ist also trotz der vielen, 
über die Knöllchenbakterien ausgeführten 
Arbeiten die Frage noch nicht als gelöst 
anzusehen. < 

Im Boden sind die Organismen, wie 
wir aus dem Gedeihen der Hülsenfrüchte 
in den meisten Böden schliessen müssen, 



f\atr Kork 
Fig. 5. 


jedenfalls sehr weit verbreitet; wo sie nicht Ldn LupmTnknönche J n 3 ngen 
vorhanden sind, gedeihen auch keine Le- m j t Bakteriengewebe (b). 
guminosen. Man kann diesem Übelstand Kar: G«aMbftnd«t, 
durch Übertragung von Erde, der söge- Kork: Korkgeweb«.^^ ^ 

nannten Impferde aus Feldern, auf denen 

Leguminosen gut gedeihen und die man als leguminosensicher 
bezeichnet, oder durch Impfung der betreffenden Äcker mit 
Wurzelknöllchen-Reinkulturen in der Regel abhelfen. 

Verfolgen wir nun diese überaus wichtigen und merkwürdi¬ 
gen Organismen und ihr Verhalten bei künstlicher Kultur und 
im Boden, soweit die Verhältnisse in letzterer Beziehung erforscht 
sind; allerdings harrt hier trotz der vielen Untersuchungen über 
diese Bakterien noch mancher Punkt der Aufklärung. Wie be¬ 
reits erwähnt, gedeihen die Mikroben auf künstlichen Nährböden 
von passender Zusammensetzung; am besten hat sich hier ein 
Absud von Leguminosenblättern mit 7 °/ 0 Gelatine */ 2 # /o Rohr- 



94 


zucker und */ 4 °/ 0 Asparagin bewährt. Die Kolonien sind nach 
Migula ziemlich gross, trübe, weiss, durchscheinend feucht, rund¬ 
lich oder unregelmässig umrandet von wenig charakteristischem 
Aussehen. Unter dem Mikroskop sind sie glatt, fast strukturlos 
erscheinend; die Kolonien verflüssigen Gelatine nicht. Beverinck 
beobachtete in diesen künstlichen Kulturen zweierlei Gebilde. 

kleine, sehr bewegliche, die 



er als Schwärmer bezeich¬ 
net, die jedoch von andern 
Forschern in der Kultur 
nicht gefunden werden 
konnten, und grosse Stäb¬ 
chen. Diese letzteren haben 
nicht immer die regelmäs¬ 
sige Stäbchenform, häufig 
zeigen sie gelappte Formen 
und verschiedenartige, ga- 
belige Verzweigungen, wie 
sie in den Zellen der Wur¬ 
zelknöllchen lebenden Bak¬ 
terien eigen sind. (Vergl. 
Fig. 7 v, x, y.) Man hat sie 
als Bakteroiden bezeichnet 
und als Involutionsformen 


Fig. 6. 


aufgefasst. Ihre Bildung 


Schnitt durch das Bakteroiden-Gewebe soll nach den Beobacli- 


von Lathyrus silvestris. tungen von Hiltner und 

k. Zellkerne mit Kernkörperchen, ntu. Starkekörnor, StUtZ61* dllFCh ZtlSfttZ VOll 
rai. Mikrosomen, v. Vacuole, f. Infektionsfaden, bact. _ 

Bakteroiden. 400fache V«r*r. Nach Beyerlnck. IiegUminOSeilWUrZeleXtraKt 

sowie von organischen 
Säuren und sauren phosphorsauren Salzen begünstigt werden. Im 
Boden sollen nun die bereits erwähnten Schwärmer angelockt durch 
von den Wurzelhaaren ausgeschiedenc Stoffe sich an den letzteren 
ansammeln, sie ihrerseits alsbald durch Ausscheidungen zu eigen¬ 
tümlichen Verkrümmungen und Verzerrungen veranlassend. Die 
Schwärmer gelangen dann durch die so gelockerte Membran der 
Wurzelhaare in dieselben, wo sie sich alsbald vermehren und die 


sogenannten Infektionsfäden (vergl. Fig. 6) erzeugen. Diese 
stellen Stränge von schleimumhüllten Bakterienkolonien dar. die 



95 


durch Verschmelzung der gequollenen äusseren Membranschicht 
der an der Aussenseite dieser fadenförmigen Kolonien befindlichen 
Bakterien gebildet wird. Der Infektionsfaden dringt nach Durch¬ 
wachsung des Wnrzelhaars in die Rindenzeilen der Wurzeln ein, 
unter eigener Vermehrung diese zu lebhafter Vermehrung an¬ 
regend, deren Produkt die bekannten Wurzelknöllchen darsteften. 
In den grossen Zellen des sogenannten Bakteroidengewebes (vergl. 
Fig. 6 und 7) nehmen die Bakterien die uns bereits bekannten 
als Bakteroiden bezeichneten Involutionsformen an. Bei manchen 
Leguminosen erfolgt die Knöllchenbildung ohne Infektionsfaden 
durch einzelne direkt nach dem Eindringen in die Wurzelh&are vor¬ 
wärts dringende Bakterien. 

Wie gestaltet sich nun 
das Verhältnis zwischen Wirt 
and Gast, zwischen der Le- 
gnminose und den Bakterien? 

Die erstere liefert den ihre 
Gastfreundschaft geniessen¬ 
den Spaltpilzen Zocker und 
wahrscheinlich noeh andere 
Nährstoffe zu ihrer Ernäh¬ 
rung, die Bakterien verwen¬ 
den die bei der Zersetzung 
des Zuckers freiwerdende 
Energie zur Fixierung des 
Stickstoffs, von dem die Wirt¬ 
pflanze einen grossen Teil in 
für sie brauchbarer Form als 
Gegengabe empfängt Bei diesem Verhältnis gedeihen beide 
Symbiooten sehr gut und der Boden kann auf diese Weise eine 
schätzenswerte Stickstoffbereicberung erfahren. 

Ausser bei den Leguminosen, von welchen bisher nnr Gle- 
dRschia frei von Wurzelknöllchen gefunden wurde, hat man solche 
Gebilde noch bei der Erle, bei den Ziersträuchern Elaeagnus nid 
Hippophae, sowie bei Podocarpus, einer Konifere gefunden. Neuer¬ 
dings hat dann A. Trotter noch bei der im Orient heimischen 
Datisca cannabina solche Wurzelanschwellangen beschrieben. Die 
Knöllchenpilze dieser Pflanzen sollen von denen der Leguminosen 
verschieden sein. Kurz berührt sei hier die vielfach diskutierte 



Fig. 7. 

Bakterien und Bakteroiden aus einem 
WurzelknOllchen von Yicia sativa. 

700fhch« Tergr. Kadi Beyerfock. 



96 


Frage, ob ausser bei den erwähnten Pflanzen noch bei andern 
der freie atmosphärische Stickstoff durch die Vermittlung von 
Mikroorganismen in irgend einer Form nutzbar gemacht werden 
könne. Man hat vielfach die Anschauung vertreten, dass die 
Stickstoffassimilation mittels Symbiose zwischen Bakterien oder 
Fadenpilzen und höheren Pflanzen in der Natur sehr verbreitet 
sei. Besonders die von Frank zuerst beobachtete, von ihm als 
Mykorrhiza bezeichnete Umhüllung der feinen Wurzeln vieler 
Waldbäume, des Heidekrautes u. s. w. soll eine derartige Sym¬ 
biose sein, bei welcher das Verhältnis zwischen Pilz und höherer 
Pflanze ähnlich sei dem von Knöllchenbakterien und Leguminosen¬ 
pflanzen. Einwandfreie, diese hochinteressante Frage in posi¬ 
tivem oder negativem Sinne sicher entscheidende Untersuchungen 
liegen zur Zeit leider nicht vor. 

Mau hat versucht die stickstoffsammelnden Bakterien in Bein¬ 
kultur zu züchten und den Boden damit zu impfen. Nitragin 
und Alinit stellen solche Bakterienkulturen vermischt mit ihren 
Nährböden dar. Das Nitragin, welches Nobbe und Hiltner seinen 
Namen und seine Anwendung verdankt, ist eine solche Reinkultur 
von Knöllchenbakterien; sie soll die bereits erwähnte Impferde 
ersetzen und den Anbau von Leguminosen in Böden, wo diese sonst 
nicht gedeihen, ermöglichen. Das Alinit sind die Sporen einer 
Reinkultur eines von Caron aus dem Boden seines Gutes Eilen¬ 
bach gezüchteten Stäbchenbakteriums, vermischt natürlich mit 
dem Nährboden, das die Fähigkeit der Stickstoffbindung besitzen 
soll. Die damit gemachten Erfahrungen sind widersprechend. 
Neuerdings hat die chemische Fabrik Bayer & Co. in Elberfeld, 
welche die Darstellung des Impfdüngers betreibt, zur Erhöhung 
der Wirksamkeit des Alinits einen Alinit-Bacillus ß in den Handel 
gebracht, der zugleich mit dem erwähnten, als Alinit-Bacillus a 
bezeichneten stickstoffbindenden Stäbchenbakterium dem Boden 
eingeimpft wird und der eine ähnliche Rolle spielen soll, wie 
nach Beyerincks Auffassung Azotobacter chroococcum gegenüber 
Granulobactcr-Arten und Radiobacter oder auch umgekehrt. Die 
Frage, ob die Alinitbakterien als selbständige Art aufzufassen 
sind oder nicht, hat zahlreiche Untersuchungen veranlasst, die 
vor allem das wenig erfreuliche Resultat hatten, zu zeigen, wie 
überaus schwierig zur Zeit noch die sichere Bestimmung vieler 
Bodenbakterien ist Heinze, der sich in letzter Zeit mit dieser 



97 


Frage beschäftigt hat, gelangt, wie vor ihm Kolkwitz, zur An¬ 
sicht, dass die Alinitbakterien auf Grund ihres morphologischen 
und physiologischen Verhaltens als selbständige Art Bacillus Ellen- 
bachensis « Caron in die Gruppe der Heubacillen einzurechnen 
seien. Es verdient hier noch erwähnt zu werden, dass die Be¬ 
strebungen in der Bodenbakteriologie neuerdings auch darauf 
gerichtet sind, das bei andern Pflanzen mit so gutem Erfolge 
angewandte Züchtungsprinzip auch bei den stickstoffbindenden 
Bakterien in Anwendung zu bringen, um auf diese Weise Rassen 
mit erhöhter Leistungsfähigkeit zu erhalten. 

Der Stickstoff, den die bisher behandelten Bakterien in den 
organischen Kreislauf einführen, ist nach dem Stande unserer 
pflanzenphysiologischen Kenntnisse unseren Kulturpflanzen mit 
Ausnahme der Leguminosen oder der andern Wirtspflanzen von 
Knöllchenbakterien nicht direkt zugänglich. Die ersteren beziehen 
ihre Stickstoffnahrung in erster Linie und fast ausschliesslich in 
Form von Nitraten, deren Bildung aus organischen stickstoff¬ 
haltigen Substanzen die nächsten drei Bakteriengruppen vollziehen. 

ln der Form des Ammoniumsalzes ist zwar der Stickstoff 
ansera Kulturgewächsen zugänglich, jedoch ist diese Form nicht 
die gewöhnliche. Sehr interessante Beobachtungen über die 
Stickstoffernährung des Schimmelpilzes Aspergillus niger, die hier 
aus Rücksicht für das Interesse, das sie für unsere Ausführungen 
über die Eiweisszersetzung haben, teilweise kurz erwähnt sein 
mögen, hat Czapek veröffentlicht, der auf diesem Wege der Eiweiss- 
svnthese der Pflanze näher zu kommen sucht. Ausser den ersten 
Eiweisspaltungsprodukten haben sich vor allem die Aminosäuren, 
sowie die leicht in solche übergehenden Amide und Diamide als 
zum Aufbau des Eiweissmoleküls geeignete Substanzen erwiesen. 
Es folgen dann die Ammoniumsalze der Oxyfettsäuren; weniger 
geeignet sind die Säureamide bis zum Buttersäureamid, welches 
selbst bereits wie seine höheren Homologen unbrauchbar ist. 
Nur sehr wenig geeignet sind die Säurenitrile und die Ammonium¬ 
salze der Fettsäuren. Czapek hat diese Skala nach den Ge¬ 
wichtsverhältnissen des bei Ernährungsversuchen mit den erwähnten 
Substanzen geernteten und getrockneten Pilzes aufgestellt. 

Das Ausgangsprodukt für die Salpeterbildung im Boden ist 
das Ammoniak, das seinerseits das Produkt der sogenannten 
ammoniakbildenden Bakterien ist. 


7 



98 


Bei diesen unterscheiden wir zwei Gruppen: 

1. Bakterien, die amidartige Stickstoffver bin dangen, deren 
wichtigste Vertreter der Harnstoff, die Harnsäure und die Hippur- 
säure sind, unter Bildung ven Ammoniaksalzen zu zersetzen ver¬ 
mögen. (Harnstofivergäfarer.) • 

2. Bakterien, welche die kompliziert zusammengesetzten 
Eiweisskörper and deren Spaltungsprodukte unter Ammoniak* 
bildung abbauen. (Peptonisierende Bakterien.) 

Geringe Amatoniakmengen können auf biologischem Wege 
dann noch bei dem später zu behandelnden Denitrifikationsvorgang 
ans dem Oxydationsprodukt des Ammoniaks, dem Nitrat, zurück- 
gebildet werden, was der Vollständigkeit halber hier erwähnt sei. 
ln der Regel entweicht bei dem erwähnten Prozess der Stickstoff 
in elementarer Form, doch kann die Reduktion auch 
bis zur Bildung von Ammoniak gehen. 

Die ammoniakbildenden Bakterien sind in der 
Natur sehr verbreitet; dem Ackerboden werden sie 
ausserdem bei der Düngung mit tierischen und mensch¬ 
lichen Auswurfstoffen stets in reicher Menge zugeführt. 
Beim Lagern des Düngers können dieselben durch 
ihre Tätigkeit dessen Wert bedeutend schädigen, indem 
das von ihnen gebildete Ammoniumkarbonat sich sehr 
leicht in Ammoniak und Kohlensäure dissoziert. Die 
längst bekannte, als ammoniak&lische Harngärung bezeichnet? 
Zersetzung des Harnstoffs, dieses Endproduktes des menschlichen 
and tierischen Stoffwechsels, wurde als ein chemischer Vorgang 
angesehen, dessen Wesen in der Aufnahme von Wasser und in 
der Umlagerung der Atome zu Ammoniumkarbonat bestehe. Im 
Jahre 1862 erkannte Pasteur, dass die Harnstoffgärung ein biolo¬ 
gischer Prozess ist, als dessen Erreger er einen Micrococcus 
entdeckte. Cohn hat diesen später Micrococcus ureae (vgl. Fig. 8 ) 
genannt. 

Miquel zeigte dann, dass die Fähigkeit der Harnstoffvergärung 
gegen 60 verschiedenen, zum Teil sehr verbreiteten Bakterien¬ 
arten und sogar einigen höheren Pilzen zukomrot. Die Leistungs¬ 
fähigkeit der einzelnen Arten ist sowohl was die Gärschnelligkeit 
als auch was die Masse des vergärten Harnstoffs betrifft, sehr 
verschieden. In beiden Beziehungen steht der allenthalben anzu- 
treffende Urobacillus Pasteurii (Fig. 9) oben an, welcher in einer 



Fig. 8. 
Micrococcus 
ureae Cohn. 

Nach Xlgula. 



99 


zweiprozentigen Harnstoffpeptonbouillon 3 g Harnstoff in der 
Stunde vergärt. Er vermag bis 140 g Harnstoff im Liter in 
Ammoniumkarbonat überzuführen. Der Vorgang wird durch ein 
von den Bakterien ausgeschiedenes, äusserst empfindliches Enzym, 
das Miquel als Urase bezeichnet hat, ausgelöst. Seine Existenz 



Fig. 9. 

Urobacillus Pasteur» Miquel. 


Id der Mitte und obeo rechts sind die Cilien in ihrer wahrscheinlichen Gestalt am 
lebenden Bakterienkörper dargestellt. Alles übrige genau nach dem Leben. Rechts 
unten sechs vereinzelte kugelige Sporen. 2&80fache Vergr. Nach Beyerinck. 


und Wirkung hat zuerst Musculus im Jahre 1874 in dem Harn 
eines an Blasenkatarrh erkrankten Menschen beobachtet. Die 
Überführung des Harnstoffs in kohlensaures Ammonium möge 
folgende Formel veranschaulichen: 


NH, 

0 

NH, 


, H*0 
+ H,0 


/ ONH 4 
x ONH 4 


Auch die Harnsäure und ihre Verwandten sowie die Hippur¬ 
säure liefern bei der Zersetzung durch Bakterien Ammonium¬ 
karbonat. Am schnellsten erfolgt dessen Bildung beim Harnstoff, 

7* 



100 


weniger schnell bei der Harnsäure und am langsamsten bei der 
Hippursäure, die unter Wasseraufnahme zuerst in ihre beiden 
Komponenten Benzoesäure und Glycocoll zerfallen soll. 

Wenden wir uns nun zur zweiten, noch sehr wenig erforschten 
Gruppe unserer Ammoniakbildner, deren Vertreter das grosse 
Eiweissmolekül zu spalten vermögen. Diese Spaltung scheint ein 
überaus komplizierter Prozess zu sein, dessen Produkte von der 
Art des Eiweisskörpers, den spezifischen Eigenschaften der ein¬ 
zelnen Bakterien, der Anwesenheit oder dem Mangel von Sauer¬ 
stoff, der Zusammensetzung des Nährbodens überhaupt, der Tem¬ 
peratur u. s. w. abhängig sind. Schon der grosse Liebig hat das 
Problem der bakteriellen Eiweisspaltung zur Erforschung der 
Konstitution des Eiweissmoleküls zu lösen versucht. Er und sein 
Schüler Popp erhielten auf diese Weise als Zersetzungsprodukte 
des Eiweiss Leucin, freie Fettsäuren, Phenol, Tyrosin, Indol, 
Scatol, Schwefelwasserstoff und Ammoniumsulfhydrat. Viele 
Forscher haben solche Versuche, aber nur wenige mit Reinkul¬ 
turen, angestellt. Ausser den bereits erwähnten Spaltungspro¬ 
dukten seien noch folgende erwähnt: Valeriansäure, Ortho- und 
Parakresol, Scatolessigsäure, Hvdrocumarsäure, Methylmercaptari: 
als letzte gasförmige Produkte treten Kohlensäure, Wasserstoff, 
der bereits erwähnte Schwefelwasserstoff und das uns hier am 
meisten interessierende Ammoniak auf. Auch müssen wir hier 
noch an die Ptomaine, Toxine und Toxalbumine erinnern. Betreffs 
der die Eiweisspaltung auslösenden Bakterienarten liegen bis jetzt 
verhältnissmässig wenig sichere Beobachtungen vor. Auch die 
Frage, ob die einzelnen Arten die Eiweisspaltung bis zur Minerali¬ 
sierung durchführen oder ob mehrere Arten daran beteiligt sind, 
ist noch nicht mit wünschenswerter Sicherheit gelöst. Es scheint, 
dass die Fähigkeit der Eiweisszersetzung, die man auch als 
Fäulnis bezeichnet hat, sehr vielen Bakterienarteu zukommt. 

Früher hat man die sogenannten Fäulnisbakterien unter dem 
die verschiedensten Arten vereinigenden Kollektivnamen Bak¬ 
terium termo zusammengefasst. Zu den bekanntesten eiweiss- 
spaltenden Bakterien gehört der verbreitete Proteus vulgari* 
(Fig. 10), eine noch nicht genügend untersuchte Sammelspezies. 
Tvrothrix, der das Kasein spaltet und der bei dem Reifungs¬ 
prozess des Käses eine wichtige Rolle spielt. Bacterium coli com¬ 
mune (Fig. 11), der bekannte Bazillus der Darmfäulnis. Die 



101 


Spaltung des Eiweissmoleküls, die Nencki als eine Hydratation 
bezeichnet, erfolgt durch die von Bakterien erzeugten sogenannten 
proteolytischen Fermente. 

Sehr wenig bekannt sind bis jetzt die bakteriellen Zersetzungen 
der Glycoside, die als ebenfalls kompliziertere Stickstoffverbin¬ 
dungen hier erwähnt sein mögen; das Indican, das Glycosid der 
Indigopflanzen, 6oll durch Bakterien in Zucker und Indigoweiss 
gespalten werden. 

Durch die Bildung des Ammoniaks aus den stickstoffhaltigen 
organischen Stoffen ist das Ausgangsmaterial für die als Nitri¬ 


er 



Fig. 10. Fig. 11. 

Proteus vulgaris Hauser. Bacterium coli commune Escherich. 

(Bacillus Vulgaris Migula.) 730frch« Vergr. 

Faden und einzelne Zellen. ßOOfache Vergr. Nach Weichselbaum. 

Nach Migula. 

fikation bezeichnete Salpeterbildung im Boden geschaffen, welche 
die beiden nächsten Bakteriengruppen vollziehen. Chemisch be¬ 
trachtet ist die Nitrifikation ein durch Mikroorganismen zur 
Energieerzeugung ausgelöster Oxydationsvorgang, dessen Verlauf 
durch folgende hypothetische Formel angedeutet sei: 

I. 2 NHg —(- 3 Oj = N 2 0 3 -f- 3 H 2 0 

II. n 2 o 9 +o 2 =n 2 o 5 . 

Die längst bekannte Nitrifikation hielt man für einen rein 
chemischen Oxydationsvorgang, bis im Jahre 1873 Alexander 
Müller die Vermutung aussprach, dass dieselbe ein biologischer 
Prozess sei. Seine Ansicht wurde vier Jahre später durch die 
Versuche von Scblössing und Müntz bestätigt, die auch bereits 
zeigten, dass das Minimum der Nitrifikation bei 5 °, das Maximum 
bei 55° und das Optimum bei 37° liegt. Dass die Nitrifikation 
im sterilisierten Boden ausbleibt, hat zuerst Plath festgestellt. 
Allerdings gelang es den drei Forschern, wie manchen andern 



102 


trotz Oller Anstrengungen nicht, die beteiligten Mikroorganismen 
zu züchten. Erst Winogradsky war es nach langem Bemühen 
und nach Schaffung der uns bereits bekannten elektiven Kultur 
vergönnt, die Nitrifikationsorganismen in Reinkultur zu erhalten 
und zu beobachten. Die bedeutenden und epochemachenden Un¬ 
tersuchungen Winogradskys sind in den Jahren 1890—1899 aus- 
geführt. Dabei bediente er sich der bekannten Kocbschen Nähr¬ 
gelatine in ganz besonderer Weise. Die Wahrnehmung, dass in 
der bei den Ztichtungsversuchen angewandten, im folgenden ange¬ 
gebenen mineralischen Nährlösung die Mikroorganismen sich haupt¬ 
sächlich um die Magnesiumkarbonatteilchen entwickelten, veran¬ 
lasst« Winogradsky, die Nährgelatine mit einer solchen Kultur 
zu impfen und auf Platten auszugiessen. Er impfte dann wieder 
gerade von denjenigen Magnesiurakarbonatteilchen, um welche 
sich keine Keime entwickelt hatten, in die erwähnte mineralische 
Nährlösung ab. 

Winogradsky stellte auf Grund seiner Untersuchungen fest, 
dass die Oxydation des Ammoniaks im Boden durch zwei von 
einander verschiedene Bakteriengruppen erfolgt: die Vertreter der 
einen oxydieren das Ammoniak zu salpetriger Säure, während 
die Angehörigen der anderen, durch eine grosse Empfindlichkeit 
gegenüber Ammoniak ausgezeichneten Gruppe die erzeugte sal¬ 
petrige Säure zu Salpetersäure oxydieren. Winogradsky konsta¬ 
tierte dann ferner die hochwichtige Tatsache, dass die Nitri- 
fikationsorganismen die Oxydation des Ammoniaks bei genügendem 
Sauerstoffzutritt am besten in einem nur aus anorganischen Sub¬ 
stanzen zusammengesetzten Nährmedium vollziehen und dass selbst 
Spuren organischer Substanzen von den Bakterien sehr schlecht 
vertragen werden. Diese Beobachtung brachte Winogradsky auf 
den Gedanken, die Kochsche Nährgelatine, deren Anwendung bei 
den vielen Züchtungsversuchen der Nitrifikationsorganismen natür¬ 
lich nicht zum Ziele führen konnte, in der angedeüteten Weise 
zur Erzielung von Reinkulturen anzuwenden. Da die an den 
Magnesiumkarbonatteilchen befindlichen Nitrifikationsorganismeo 
in der Gelatine wegen ihrem Gehalt an löslichen organischen 
Stoffen sich nicht entwickeln konnten, so durfte man die gesuchten 
Bakterien an scheinbar keimfreien Partikeln des Magnesiumsalzes 
ohne Verunreinigung erwarten. Winogradsky bediente sich zur 
Reinkultur der zuerst von W. Kühne angegebenen Kieselsäure- 



103 


gallerte, die er bei den Nitritbildnern, die wir zuerst betrachten 
wollen, mit folgender Nährlösung tränkte: 1,0 Ammoniumsulfat, 
1,0 Dikaliumorthophosphnt, 5,0 Mngnesiumkarbonat, 1 1 Züricher 
Seewasser. Später bat Beyerinck die schwierig darzustellende 
Kieselsäuregallerte durch Agar ersetzt, der durch eine besondere 
Behandlung von allen löslichen organischen Bestandteilen befreit 
ist. Winogradsky hatte Agar bereits vorher zur Reinkultur der 
gegen lösliche organische Stoffe nicht in dem Grade, wie die 
Nitrosobakterien empfindlichen Nitrobakterien in Anwendung ge¬ 


bracht. Später bediente 
sich Omeliansky mit mi¬ 
neralischer Nährlösung 
getränkter Gipsmagne- 
siumphtten mit gutem 
Erfolg. Neuerdings hat 
der gleiche Forscher 
ebenfalls mit einer sol¬ 
chen Lösung angefeuch¬ 
tetes Filtrierpapier, das 
er nach dem Vorgang 
von Beyerinck von lös¬ 
lichen Stoffen befreit, 
mit Erfolg zur Reinkul¬ 
tur des Nitritfermentes 
benutzt. 

Die Nitritbildner 



Fig. 12. 

Nitrosomonas europ&ea Winogradsky 
aus Züricher Erde. 

1. Mikroben in Minermlldenng kultiviert, 3. Mikroben im 
SchwirmxueUnde. 3—6 Zoogloeenforinen. 


oder Nitrosobakterien. 
sind im Boden sehr 


1, 2, 3, 6: 1000lache Yergr,, 4: 126facbe Yergr. 
Nach Winogradsky, 


verbreitet. In Europa fand Winogradsky überall die gleiche Art, 
von ihm Nitrosomonas europaea (Fig. 12) genannt. Der Organis¬ 
mus stellt kurze, dicke, schwärmende oder zu festen Zoogloeen 
vereinigte Stäbchen von 1 ju. Breite und 1,5—2 ft Länge mit einer 
kurzen, polaren Geisel dar. Sporenbildung ist bisher noch nicht 
beobachtet worden. Auf den festen Nährböden bilden die Bak¬ 


terien sehr langsam wachsende kleine weissliche Kolonien. Sehr 
ähnlich, wenn nicht mit Nitrosomonas europaea identisch, sind 
die aus japanischen (Tokio) und nordafrikanischen (Tunis, Algier) 
Böden gezüchteten Nitritbildner. Bedeutend kleiner wie sein 
europäischer Kollege und mehr kugelig ist die aus javanischer 


104 


£rde erhaltene Nitrosomonas javanensis (Fig. 13); die Zellen 
haben einen Durchmesser von 0,5—0,6 p, besitzen dagegen eine 
sehr lange Geissei, die oft die Länge von 30 p erreicht. Die aus 
siidamerikanischen und aus australischen Böden isolierten Nitroso- 
bakterien sind unbegeisselte, keine Zoogloeen bildende Coccen, 
von Winogradsky als Nitrosococcus bezeichnet, von 1,5—2 p 
Durchmesser. Es ist wohl anzunehmen, dass es im Boden ausser 
den angeführten, mehr als biologische, systematisch nicht ein¬ 
heitliche Arten zu betrachten¬ 
den Nitrosobakterien noch an¬ 
dere Ammoniak zu salpetriger 
Säure oxydierende Bakterien 
gibt. 

Die von den Nitrosobak¬ 
terien erzeugte, in freiem Zu¬ 
stande unbeständige und giftige 
salpetrige Säure, die in den 
Kulturen durch das zugesetzte 
Magnesiumkarbonat, im Boden 
hauptsächlich durch Calcium¬ 
karbonat zu Nitriten abgesät¬ 
tigt wird, oxydieren die Nitro- 
bakterien weiter zu Nitraten. 
Diese von Winogradsky als 
Bacterium Nitrobacter zusam- 
meugefassten Organismen fin¬ 
den sich in allen kultivierten 
Böden, und zwar nach der An¬ 
gabe des Forschers stets in der 
gleichen Art. Es sind ausserordentlich kleine, mit den gewöhn¬ 
lichen Farbstoffen sehr schwer färbbare, geissei- und sporen¬ 
lose, unbewegliche, länglich ovale, öfters linsenförmige Bak¬ 
terien von 0,5 p Länge und 0,15—0,25 p Breite, die in einen 
zarten Schleim eingebettet sind. Winogradsky gibt folgende 
Nährlösung an: 2,0 reines Natriumnitrit, 1,0 wasserfreies Natrium¬ 
karbonat, eine Messerspitze Kaliumphosphat, 1000 ccm Fluss¬ 
wasser. In dieser Kulturflüssigkeit bilden die Bakterien dünne, 
schleimige, den Gefässwandungen fest ansitzende Häutchen. 
Auf Kieselsäuregallerte oder auf Nitritagar bilden sie ganz ausser- 



Fig. iS. 

Nitrosomonas javanensis Winogradsky 
aus Erde von Java. 

1. Mikroben «ne einer nltrificierenden FlÜeeigkeft. 

2. Mikroben lun Schwftrmsuetande. 3. Zoogloea 
im Znetmnd des Zerfalle. lOOOfacbe Tergr. 

Nach Winogradeky. 



105 


ordentlich kleine, erst bei stärkerer Vergrösserung sichtbare 
Kolonien. Zur Züchtung der Nitratbildner gebt man nach Wino* 
gradsky am besten in der Weise vor, dass man von einer Erd¬ 
probe mehrere Agarplatten, und zwar mit verschiedenen Boden¬ 
mengen, herstellt und dieselben etwa vier Wochen in der feuchten 
Kammer bei etwa 30° hält. Ist nach dieser Zeit das Nitrit in 
Nitrat verwandelt, was sich leicht nachweisen lässt, so impft man 
von den typischen Kolonien in die angegebene mineralische Nähr¬ 
lösung ab, um dann weiter in der oben beschriebenen Weise 
vorzugehen. 

Die Nitrifikationsbakterien sind ausserordentlich wichtige und 
in wissenschaftlicher Beziehung hochinteressante Organismen. 
Wichtig, weil sie das Ammoniak in die für die Pflanzenernäh¬ 
rung so wichtige Nitratform überführen. Dabei kann keine 
Gruppe die andere vertreten (im Boden sind stets 
beide Gruppen nebeneinander vorhanden), die Nitro- <l *» j 
sobakterien vermögen das Ammoniak nur bis zur 
salpetrigen Säure zu oxydieren, während die Nitrat- * 

bildner gegen Ammoniak sehr empfindlich und nur ,v ' V 
im stände sind, Nitrite in Nitrate überzuführen. Fig. 14. 

Die oxydierende Wirkung der Organismen ist eine Bacterium 
ganz spezifische und erstreckt sich nur auf die an- Nitrobacter 
gegebenen Verbindungen des Stickstoffs. So ver- Winogradsky. 
mögen die Nitratbildner nach den Untersuchungen 
von Omeliansky weder phosphorige noch schweflige 
Säure weiter zu oxydieren. Eine ganz besondere Stellung, die bis 
jetzt vielleicht nur hei den Schwefel- und Eisenbakterien, auf die 
wir später noch zurückkomroen werden, ein Analogon hat, nehmen 
die Nitrifikationsorganismen in ernährungsphysiologischer Bezieh¬ 
ung ein. Wir haben bereits gesehen, dass sie organische Verbin¬ 
dungen, stickstoffhaltige nicht ausgeschlossen, verschmähen und sich 
wie chlorophyllbesitzende Pflanzen vollständig von mineralischen 
Substanzen ernähren. Des Chlorophylls entbehren sie und assi¬ 
milieren die Kohlensäure im Dunkeln ohne die Energie der 
Sonnenstrahlen zu benützen. Die Energie liefert ihnen gerade 
die Oxydation des Stickstoffs, der vermutlich in oxydierter Form 
zugleich ihren eigenen Stickstoffbedarf deckt. Den zum Aufbau 
des Zelleibes nötigen Kohlenstoff entnehmen sie, wie wir durch die 
Untersuchungen von Godlewski wissen, der atmosphärischen Kohlen- 



106 


säure. Diese Kohlensäurenssimilation steht in einem bestimmten 
Verhältnis zur Stickstoffoxydation, der Energiequelle. Nach Wino- 
gradskys Untersuchungen genügt im Mittel die Oxydation von 
35,4 mg Stickstoff zur Assimilation von 1 mg Kohlenstoff. Dabei 
entweicht ein Teil des Stickstoffs in elementarer Form, wobei es 
sich wahrscheinlich um eine chemische Umsetzung der Stickstoff- 
oxydationsprodnkte mit Ammoniak handelt. Über den Mecha¬ 
nismus der bakteriellen Stickstoffoxydation sind wir noch voll¬ 
ständig im Dunkeln. Die Frage, ob die Bakterien vielleicht ein 
oxydierendes Ferment, eine Oxydase ausscbeiden, wurde von 
Omeliansky bei den sich den Nitratbildnern gegenüber durch ihr 
energisches Oxydationsvermögen auszeichnenden Nitritbildnern mit 
negativem Erfolge geprüft Auch die Möglichkeit, dass mehrere 
Oxydationsstufen aufweisende Schwermetalle eine Rolle bei der 
Oxydation spielen, fand Omeliansky bei seinen Versuchen nicht 
bestätigt. Es ist bekannt, dass solche Schwermetalle an der 
Oxydation von komplizierten organischen Verbindungen beteiligt 
sein können, wie man z. B auch dem Eisen im Hämoglobin 
eine derartige Wirkung zuschreibt. Omeliansky ging bei seinen 
Untersuchungen von einer Beobachtung Gabriel Bertrands aus, 
der bei der Lackase einen engen Zusammenhang zwischen dem 
Grade der oxydierenden Wirkung uud ihrem Gehalte an Aschen- 
bestandteilen, besonders an Mangan, das auch Omeliansky in 
seinen Versuchen benützte, erkennen liess. 

Die Nitrifikationsbakterien führen, wie wir gesehen, den Am- 
moniakstickstoff in die zur Aufnahme durch den Organismus der 
grünen Pflanzen geeignetste Nitratform über. Aber nicht immer 
kommt aller im Boden vorhandene Salpeter wirklich den Pflanzen 
zu gut. Die fünfte Gruppe unserer Bakterien, die sogenannten 
Denitrifikationsbakterien, reduzieren das Nitrat unter Bildung von 
freiem Stickstoff und während wir bisher Organismen kennen gelernt 
haben, welche bei ihrem Stoffwechsel entweder den elementaren, 
atmosphärischen Stickstoff festlegen, ihn in den organischen Kreis¬ 
lauf einführend, oder solche, welche bereits gebundenen Stickstoff 
bei ihrer Lebenstätigkeit weiter verwenden und für seine Brauch¬ 
barmachung zur Pflanzenernährung tätig sind, haben wir uns jetzt 
mit solchen Organismen zu beschäftigen, die Nitrate reduzieren oder 
auch den Salpeterstickstoff ganz frei machen, ihn in die Atmosphäre 
zurücksendend und so den Kreislauf des Stickstoffs scbliessend. 



107 


Der Vorgang der Denitrifikation ist bereits längere Zeit be¬ 
kannt, wurde aber ebenso, wie die bereits behandelten, anderen 
biologischen Vorgänge im Boden für einen ohne jede Mithilfe 
von Organismen verlaufenden, rein chemischen Redaktionsprozess 
gehalten. Erst im Jahre 1882 wurden durch Gayon und Dupetit 
bestimmte Bakterien als spezifische Erreger der Denitrifikation 
ermittelt. Durch die Beobachtung von Paul Wagner im Jahr 
1895, dass bei Versuchen mit künstlicher Stickstoffdüngung die 
gleichzeitige Anwendung von Stalldünger den Effekt bedeutend 
verminderte, wurde die Denitrifikation als ein wissenschaftlich hoch 
interessanter, für unsere Landwirtschaft aber schädlicher Vor¬ 
gang vielfach Gegenstand der Untersuchung. Dabei zeigte es 
sich, dass es zahlreiche und darunter gemeine und verbreitete 
Bakterien gibt, die entweder für sich oder gemeinschaftlich mit 
andern Spaltpilzen die Stickstoffentbindung hervorrufen können. 
Aber nicht nur im Boden, auch im Wasser und im Meere hat man 
derartige Organismen tätig gefunden, wie man auch Nitrifikations¬ 
bakterien im Grunde des Meeres beobachtet hat. So hat Erwin 
Bauer bei seinen auf Veranlassung der Kommission zur Unter¬ 
suchung der deutschen Meere ausgeführten Forschungen zwei 
Denitrifikationsbakterien aus der Ostsee isoliert und als neue 
Arten Bacterium Aktinopelte und lobatum beschrieben. Als 
Kulturfiüssigkeit verwandte Bauer Muschelbouillon aus frischen 
Miesmuscheln mit 2 °/ 0 Pepton und 0,25 °/ 0 Calciumnitrit. Bac¬ 
terium Aktinopelte ist nicht im stände, für sich allein in reiner 
Nitritbouillon zu denitrifizieren, sondern nur in Gegenwart von 
andern Bakterien, oder nach deren Abtöten durch Sterilisation 
in Anwesenheit ihrer Stoffwechselprodukte, sowie in Nitritbouillon, 
der bestimmte Kohlehydrate zugesetzt wurden. Der Organismus 
vermag unter diesen Bedingungen sowohl Nitrate wie Nitrite 
unter starkem Aufschäumen und unter Bildung von elementarem, 
gasförmigem Stickstoff zu zerlegen. Kulturen, die längere Zeit 
rein gezüchtet wurden, verloren allmählich die Fähigkeit Nitrat 
zu Nitrit zu reduzieren, konnten aber noch Nitrit zerlegen, wenn 
auch in verschieden hohem Grade. Bacterium lobatum vermag 
überhaupt nur Nitrit zu zersetzen und auch diese Fähigkeit soll 
es in der Reinkultur nach wenigen Wochen fast stets verlieren. 
Das Optimum liegt für beide Organismen zwischen 20—25°. 

Interessante Beobachtungen Über das Vorkommen von deni- 



108 


trifizierenden Bakterien im Meerwasser liegen ferner von Gran 
ans Beyerincks Laboratorium vor. 

Wie bereits betont wurde, finden sich die Denitrifikations¬ 
organismen in grosser Verbreitung;. man fand sie in der Luft, 
im Wasser, im Boden, am Stroh, im Stalldünger, besonders im 
Pferdekot, kurz allenthalben und manchmal kann ihre Gegen¬ 
wart und ihre Tätigkeit recht lästig werden. So hat F. Schön¬ 
feld als Ursache des sogenannten „chlorigen" Geruches des Bieres 
solche nitratreduzierende Bakterien ermittelt, die sich aber natür¬ 
lich nur dann entwickeln können, wenn das Brauwasser Nitrate 
enthält. In der Melassebrennerei sind sie verschiedentlich als 
die Erreger der sogenannten Salpetersäuregährung aufgetreten, 
wobei an der Luft sich zu rotbraunen Dämpfen von N0 2 oxy¬ 
dierendes Stickoxyd entweicht. Die Rübenmelasse enthält be¬ 
kanntlich stets geringere Mengen Nitrate. Im Stalldünger und 
im Boden kann die Entbindung des für die Ernährung unserer 
Kulturpflanzen so wichtigen Nitratstickstoffs unter den De¬ 
nitrifikationsorganismen zusagenden Bedingungen bedeutenden 
Schaden anrichten. Doch kann man wohl sagen, dass die dies¬ 
bezüglichen, auf Grund von Versuchen ausgesprochenen Befürch¬ 
tungen glücklicherweise zu weit gingen, da speziell bei Versuchen 
in Kulturgefässen leicht gerade die Tätigkeit von salpeterredu¬ 
zierenden Bakterien begünstigende Verhältnisse sich vorfinden, 
die denen in einem richtig bearbeiteten Ackerboden nicht ganz 
entsprechen. Die Frage, ob die im Stalldünger und im Boden 
sich vorfindenden Denitrifikationsbakterien identisch sind und ob 
die letzteren auch in ungedüngtem Boden längere Zeit sich zu 
erhalten vermögen, ist öfters mit verschiedenm Resultat ge¬ 
prüft worden. So ist Künnemann der Meinung, dass die denitri- 
fizierenden Bakterien des Bodens verschieden seien von denen 
des Stalldüngers. H. Jensen vertritt die gegenteilige Ansicht, 
dass die Organismen mit dem Stalldünger auf das Feld ge¬ 
bracht werden und dass sie in ungedüngtem Boden nicht 
längere Zeit leben können. Als Beweis dieser Behauptung führt 
Jensen an, dass er nur mit gedüngter Erde Denitrifikation 
erhalten konnte. Karl Höflich, der neuerdings diese Frage 
einer Prüfung unterzogen hat, spricht sich dahin aus, dass 
die im Boden vorhandenen Denitrifikationsbakterien sich auch 
ohne alljährliche Düngung lebensfähig erhalten können und 



109 


dass die Bakterien des Bodens die gleichen sind, wie die des 
Stalldüngers. 

Die Zahl der Bakterienarten, die den Salpeter zu reduzieren 
vermögen, ist sehr gross. Wir haben hier mit Absicht den Aus¬ 
druck reduzieren gebraucht. Wenn wir unter der Erscheinung 
der Denitrifikation eigentlich nur die Vorgänge zu besprechen 
haben, die mit der Entbindung von freiem Stickstoff abschliessen, 
so müssen wir bei dieser Gelegenheit doch auch der Tätigkeit 
derjenigen Bakterien gedenken, die Nitrat nur bis zum Nitrit zu 
reduzieren vermögen. 

Unter diesen salpeterreduzierenden Bakterien gibt es nun 
also solche, die nur Nitrate zu Nitriten desoxydieren können, 
dann solche, die nur Nitrite unter Stickstoftentbindung reduzieren. 
Diese letzteren können also nur in Symbiose mit den ersteren 
oder mit Angehörigen der folgenden Gruppe den Salpeterstick¬ 
stoff in Freiheit setzen. Als dritte Klasse gibt es dann noch 
Bakterien, die den Salpeter vollständig reduzieren können. Die 
Reduktion des Salpeters kann unter Umständen bis zur Ammoniak¬ 
bildung gehen; mitunter entweicht der Stickstoff aber auch in 
Form von Stickoxyd. 

Eine grosse Zahl von Mikroorganismen hat in letzter Zeit 
Albert Maassen auf ihre Fähigkeit, Salpeter zu reduzieren, unter¬ 
sucht. Von 109 zur Prüfung herangezogenen Arten besassen 85 
die Fähigkeit, Nitrat zu Nitrit, 50 das Vermögen, Nitrit zu Stick¬ 
stoff zu reduzieren. Die Leistungsfähigkeit der einzelnen Arten 
ist bei beiden Gruppen sehr verschieden. Unter den salpeter¬ 
reduzierenden Bakterien sind sehr bekannte gemeine und auch 
pathogene Arten: Bacterium coli commune, der vielseitige Darm- 
fäulniserreger (vergl. Fig. 11), der Typhusbacillus, der Cholerabacil¬ 
lus, der Erreger des blauen Eiters (Bac. pyocyaneus), die Erreger 
der Hühnercholera (Bac. cholerae gallinarum), des Rotzes (Bac. 
mallei), der Schweineseuche (Bac. suisepticus), der gelatinver- 
flüssigende, fluoreszierende Bacillus (Bac. fluorescens liquefaciens), 
die gelbe Sarcine (Sarcina flava), der Wurzelbacillus (Bac. myco- 
ides) u. s. w. Wie bereits erwähnt wurde, sind die salpeter¬ 
reduzierenden Bakterien fakultative Anaerobionten; doch vermögen 
die meisten derselben die Desoxydierung des Nitrats bei Gegen¬ 
wart von andern aörobiotischen Bakterien in Symbiose mit den¬ 
selben auch bei Sauerstoffanwesenheit zu vollziehen. Es sei hier 



110 


als Beispiel das Bacterium coli commune genannt Neben ihm 
findet sich in den Pferdefaeces regelmässig ein von Burri und 
Stutzer als Bacillus denitrificans I bezeiclmeter Spaltpilz (Fig. 15). 
Wird nun Bacterium coli commune allein in nitratbaltigen Nähr¬ 
substraten bei Luftabschluss gezüchtet, so vermag es den Salpeter 
nur bis zum Nitrit zu reduzieren. Wird der Organismus aber mit 
dem obligat aeroben Bacillus denitrificans I im gleichen Nähr* 
medium bei Luftzutritt kultiviert, so tritt bei dieser Symbiose 
energische Entbindung von elementarem Stickstoff unter Auf¬ 
schäumen auf. 

Das Optimum der denitrifizierenden Tätigkeit der Bakterien 
ist bei den einzelnen Arten verschieden; bei dem sehr energisch 
wirkenden Bacillus pyocyaneus z. B. liegt es zwi¬ 
schen 35—37 °, bei dem Bacillus fluorescens lique- 
faciens zwischen 26 - 30°, im allgemeinen zwischen 
30—40°. Fördernd auf die Tätigkeit der sal¬ 
peterreduzierenden Bakterien wirken Kohlehydrate, 
mehrwertige Alkohole, die Salze organischer Säuren, 
besonders die der Milchsäure und die Gegenwart 
geringer Mengen von Alkali. Salzmann, der auf 
Veranlassung von A. Stutzer die zwei denitri¬ 
fizierenden Bakterien Bacillus Stutzeri und Hart- 
lebi in dieser Beziehung untersucht hat, fand, 
dass die Organismen in 0,5 °/ 0 Peptonlösung bei Zusatz von 1% 
Milchsäure in Form des Kaliumsalzes 98°/o des gebotenen Salpeters 
unter Stickstoffentbindung reduzierten und A. Maassen beobachtete, 
dass manche Bakterien überhaupt nur bei Gegenwart der er¬ 
wähnten chemischen Verbindungen die Fähigkeit der Salpeter¬ 
reduktion zeigen. Hemmend auf den Denitrifikationsvorgang wirkt 
reichliche Sauerstoffzufuhr. 

Über den Chemismus der Denitrifikation sind die Ansichten 
zurzeit noch geteilt. Zw r ei grundsätzlich verschiedene Theorien 
stehen sich gegenüber, nach der einen sind es Stoffwechselpro¬ 
dukte der Bakterien, welche die Stickstoffreduktion bewirken, 
nach der andern entreissen die Bakterien den Sauerstoff den ihn 
enthaltenden Molekülen, um ihn für sich zu benutzen analog dem 
Vorgang der intramolekularen Atmung. Die erstere Ansicht 
glaubt Curt Wolf dadurch bewiesen zu haben, dass er Analysen 
über den Sauerstoffverbrauch von denitrifizierenden Bakterien aus 


V"* 

/'" '!•/'* ''*'*•' 

1 Z 1 

Fig. 15. 

Bacillus denitri¬ 
ficans I. 

lOÖOfitche Vergr. 
Nach Burri. 



111 


der in den Kulturgefässen zur Verfügung stehenden Luft beim 
Vorhandensein und bei Abwesenheit von Salpeter aus führte. Da¬ 
bei soll in beiden Fällen der Sauerstoffverbrauch derselbe sein, 
während bei Gegenwart vou Nitraten weniger Sauerstoff aus der 
Luft entnommen sein müsste, wenn die Bakterien ihren Sauer¬ 
stoffbedarf aus dem Salpeter decken würden. Man hat besonders 
die Hypothese vertreten, dass der bei vielen Bakterien als Stoff- 
wecbselprodukt auftretende Wasserstoff die Salpeterreodnktion 
bewirke. 

Die Annahme, dass die Reduktion der Nitrate zu freiem 
Stickstoff auf direkte Sauerstoffeutnahme zurückzuführen sei, 
haben bereits Gayon und Dupetit ausgesprochen; H. Jensen, H. 
Weissenberg und andere Forscher sind dieser Auffassung bei¬ 
getreten. Weissenberg sagt: „Die denitrifizierendea Bakterien 
besitzen die Fähigkeit, bei Mangel oder erschwerter Aufnahme 
von atmosphärischem Sauerstoff diesen aus Nitraten des Nähr* 
snbstrates zu entnehmen, so das Nitritmolekül zu spalten, was 
sich unter Entweichen von Stickstoff als Gärung zu-erkennen gibt." 

Wir ersehen aus dem über den chemischen Vorgang der 
Denitrifikation Angeführten, dass dieses Problem trotz der vielen 
über dasselbe ausgeführten Untersuchungen in seinem Wesen 
noch sehr wenig aufgeklärt ist. Es ist nicht als ausgeschlossen 
zu betrachten, dass eine Stickstoffentbindung aus dem Salpeter 
auf verschiedene Weise zu Stande kommen kann. Auch die 
Reaktion des Nährsubstrates ist von grosser Bedeutung für den 
Verlauf der chemischen Prozesse. So hat Curt Wolf bei saurer 
Reaktion mit den verschiedensten Spalt-, Spross- und Schimmel¬ 
pilzen die Zerstörung von Nitraten bei Zuckerzusatz beobachtet. 
Er meint deshalb, dass bei jeder Gärung, gleichviel durch welche 
Organismen dieselbe hervorgerufen werde, das in der Zucker¬ 
lösung vorhandene Nitrat zerstört werde. Indess handelt es sich 
nach den Ausführungen von H. Weissenberg hierbei nur um ganz 
geringe Salpeter mengen, die auf diese Weise unter Stickstoffent- 
bmdung reduziert werden. Ganz anders verhalten sich aber die 
Bakterien, welche wir als denitrifizierende bezeichnet haben. 
Diese vermögen auch bei Gegenwart von Alkali die Salpeter¬ 
reduktion zu bewirken und die Alkalescenz nimmt im Verlauf 
des Vorgangs noch erheblich zu. Ferner bedürfen sie nicht 
absolut eines Zuckerzusatzes zur Auslösung der Stickstoffentbin- 



112 


düng und vermögen, wie wir gesehen haben, ganz bedeutende Ni¬ 
tratmengen zu zerstören. 

Mit der Denitrifikation ist der Kreislauf des Stickstoffs beendet; 
der Stickstoff kehrt in das unerschöpfliche Luftmeer zurück, um von 
neuem seine Wanderung zu beginnen. Das Werk der Bakterien 
aber ist es, dass das Verhältnis von freiem und gebundenem Stick¬ 
stoff auf unserem Planeten in ewigem Gleichgewicht erhalten wird. 

Aber nicht nur bei dem Kreislauf des Stickstoffs sind die 
Bodenbakterien tätig, sondern auch bei der steten Wanderung 
der in den organischen Verbindungen in erster Linie vertretenen 
Elemente des Kohlenstoffs, Sauerstoffs und Wasserstoffs sind sie 
beteiligt; im Boden und im Wasser fällt ihnen auch hierbei der 
Hauptanteil der Arbeit zu. Wir haben bisher bei der Betrach¬ 
tung des Stickstoffkreislaufes die diesbezüglichen Leistungen der 
Spaltspilze nur nebenbei berücksichtigt und wollen wir jetzt des¬ 
halb zur näheren Orientierung die bakteriellen Zersetzungen der 
stickstoffreien * organischen Verbindungen verfolgen. Hier steht 
infolge des massenhaften Auftretens der Cellulose die Gärung der 
Cellulose oben an. 

Im Jahre 1850 beobachtete Mitscherlich, dass beim Weichen 
von Kartoffeln in Wasser die Zellhüllen zerstört werden, wäh¬ 
rend die Stärke sich am Boden des Gefässes ansammelt. Als 
Ursache dieser Erscheinung glaubte er Vibrionen, die massenhaft 
im Substrat vorhanden waren, ansehen zu müssen. Über die 
Bacillenformen bei der Maceration pflanzlicher Gewebe veröffent¬ 
lichte im Jahre 1865 Tröcul eine Untersuchung; die Bakterien 
besassen alle die Eigenschaft, durch Jod blau gefärbt zu werden; 
Trdcul bezeichnete sie deshalb als Amylobacter-Arten. Diesen 
widmete sodann van Tieghem in den letzten Jahren des 8. De¬ 
zenniums des vergangenen Jahrhunderts verschiedene Studien; 
er schrieb ihnen als hervorragendste Eigenschaft die Fähigkeit 
zu, Cellulose zu zersetzen, eine Schlussfolgerung, die sich für die 
van Tieghemschen Bakterien nicht aufrecht erhalten liess, indem 
dieselben gerade nicht im stände sind, auf sogenannte typische 
Fasercellulose einzuwirken. 

* Eine Zusammenstellung der wichtigsten Tatsachen der hier in Be¬ 
tracht kommenden bakteriellen Gärungen hat 0. Emmerling gegeben. (Em¬ 
merling, 0., Die Zersetzung stickstoffreier organischer Substanzen durch 
Bakterien. Braunschweig, F. Vieweg u. Sohn, 1902. 



113 


Vom rein chemischen Standpunkte ohne Rücksicht anf die 
dabei tätigen Bakterienarten wurde sodann die Oellulosegärung 
von Popoff, Tappeiner und Hoppe-Seyler näher verfolgt, die bei 
ihren Untersuchungen zum Teil schwedisches Filtrierpapier, also 
reine Cellulose verwandten. Als wichtigstes Resultat dieser Ar¬ 
beiten ist die Erkenntnis anzusehen, dass bei der Cellulose zwei 
verschiedene Gärungen, eine Wasserstoffgärung und eine Methan¬ 
gärung auf treten. Das Zerfallen von Zellwänden unter der Ein¬ 
wirkung von Mikroben aus Flusschlamm beobachtete im Jahre 
1890 zuerst van Senus direkt unter dem Mikroskop. Seit dem 
Jahre 1895 hat sich Omeliansky, ein Schüler Winogradskys, in 
einer Reihe von Arbeiten mit der Cellulosegärung und ihren 
Erregern eingehend beschäftigt Wir verdanken diesem Forscher 
wichtige Aufschlüsse über die letzteren und die durch dieselben 
ausgelösten Vorgänge. Mit bestem Erfolg bediente sich Omeliansky 
bei seinen Untersuchungen der von Winogradsky geschaffenen, 
uns bereits bekannten elektiven Kultur. Zur Impfung diente 
frischer Pferdekot und Flusschlamm. Die bereits erwähnten 
chemischen Untersuchungen über die Cellulosegärung, insbesondere 
diejenige von Hoppe-Seyler, Hessen keinen Zweifel darüber, dass 
es sich bei der Cellulosegärung um eine typische anaerobe Gärung 
handelt und dass diese letztere jahrelang in einem an löslichen 
organischen Substanzen äusserst armen Medium veranstaltet 
werden kann. Diese Beobachtung diente Omeliansky als Finger¬ 
zeig für die elektive Kultur. Als Cellulosesubstrat benützte er 
Filtrierpapier, als Nährlösung eine solche von folgender Zu¬ 
sammensetzung: 

Kalium phosphoricum 1,0, Magnesium sulfuricum 0,5, Am¬ 
monium sulfuricum oder phosphoricum 1,0, Natrium chloratum 
Spuren, destilliertes Wasser 1000,0 und Kreide im Überschuss, 
um die bei der Gärung entstehenden Fettsäuren zu neutralisieren* 
da sie sonst schliesslich die Bakterien vernichten würden. Die 
Kulturen wurden entsprechend der Tatsache, dass es sich um 
eine anaerobe Gärung handelt, vorsichtig vor Luft geschützt. 
Omeliansky beobachtete nun, dass bei gleicher Aussaat bald Me¬ 
than-, bald Wasserstoffgärung auftrat. Es zeigte sich aber bald, 
dass sich das Einsetzen der einen oder der andern Gärung durch 
äussere Einwirkung bestimmen lässt. Nimmt man die Abimpfungen 
ohne Erwärmung vor, so setzt sich als Regel in der folgenden 

8 



114 


Generation die Methangärung fest. Erhitzt man dagegen bei 
einer der ersten Abimpfungen die Kultur 15 Minuten lang auf 
75° C, so sind hierdurch. Bedingungen zur Entwicklung der 
Wasserstoffgärung geschaffen. Die Inkubationszeit beträgt bei 
der Metliangärung in der Begel eine Woche, bei der Wasser¬ 
stoffgärung dagegen drei bis vier Wochen. Wir wollen non zuerst 
den Erreger der letzteren betrachten. Der Cellulose-Wasscrstoff- 
vergärer (Fig. 16), ein sporenbildender Bazillus, ist ein Beispiel 
eines Mikroorganismus mit streng spezialisierter Funktion, welche 
sich in bemerkenswerter Weise auf die Zersetzung eines unlös¬ 
lichen, in chemischer Beziehung besonders widerstandsfähigen 



C l 




u 



•• 


/ 


Fig. 16. 

Bazillus der Cellulose-Wasserstoffgährung von W. Omeliansky. 

ii. Junge Stäbchen, b. Trommelachlegelforin zur Zeit der Sporenbildung, c. Sporen. 

lOOOfacbe Vergr. 

Die Figuren sind nach den Photogrammen OmeUanskyt gezeichnet. 


Stoffes beschränkt und sich nicht auf die von der grossen Mehr¬ 
zahl der Organismen gesuchten Nährstoffe erstreckt. Der Ba¬ 
zillus färbt sich mit den gebräuchlichen Anilinfarben gut, dagegen 
bringt Jod in keinem Entwickelungsstadium eine Blaufärbung 
hervor; es hat also dieser Spaltpilz nichts mit dem Amylobacter 
van Tiegheins (vergl. Fig. 17) gemein. Über die Produkte der 
Wasserstoffgärung gibt der nachstehende Versuch Omelianskvs 
Aufschluss. 3,3471 g Cellulose lieferten: 

2,2402 g Fettsäuren (Essigsäure, Buttersäure, 

Spuren von Valeriansäure), 

0,9722 g Kohlensäure, 

0,011388 g Wasserstoff. 

Vergleichen wir hiermit die Produkte der zweiten Art der 
bakteriellen Cellulosezersetzung, der Methangärung. Es lieferten 
z. B. 2,00(>5 g Cellulose: 



115 


1,0223 g Fettsäuren (Essigsäure und Buttersäure), 
0,8673 g Kohlensäure, 

0,1372 g Methan. 

Der Erreger dieser Gärung ist dem Bacillus der Wasserstoff¬ 
gärung morphologisch ausserordentlich nahe verwandt und lässt 
sich nur durch seine physiologische Leistung mit Sicherheit von 
seinem Kollegen unterscheiden. Iin allgemeinen ist der Methan- 
vergärer etwas kleiner, ebenso seine Sporen. In der Natur ver¬ 
laufen die beiden Cellulosegärungen wohl in der Regel neben¬ 
einander. 

Wenden wir unsern Blick jetzt auf die übrigen in der Natur 
verbreiteten Kohlehydrate, sowie auf die ihnen chemisch sehr 
nahe stehenden mehratomigen Alkohole. Wenn auch speziell bei 
der Zersetzung dieser Verbindungen Hefe- und Schimmelpilze eine 
bedeutende Rolle im Boden spielen, so ist doch die Tätigkeit der 
Bakterien auch in dieser Beziehung eine sehr wichtige und viel¬ 
seitige. Schon bei der Besprechung des Clostridium Pasteurianum 
wurde erwähnt, dass dieser Organismus Dextrose, Lävulose, 
Rohrzucker, Inulin, Galactose und Dextrin unter Bildung von 
Buttersäure, Essigsäure, Kohlensäure und Wasserstoff zu spalten 
vermag. Die Produkte der bakteriellen Gärung der Kohlehydrate 
und der mehratomigen Alkohole, deren Erreger sich in der Natur 
in ausserordentlicher Verbreitung finden, sind je nach der chemi¬ 
schen Natur dieser Körper, nach der Art der auf sie einwirkenden 
Bakterien, nach der Temperatur, nach dem Zutritt oder dem 
Mangel der Luft, nach der Anwesenheit anderer Substanzen etc. 
verschieden. worauf ebenfalls bereits bei den physiologischen 
Leistungen des Clostridium Pasteurianum hingewiesen wurde. 
Mehratomige Alkohole werden mitunter durch die Bakterien zuerst 
durch Oxydation in die nahverwandten Zuckerarten übergeführt. 
Die wichtigsten Zersetzungsprodukte sind fette Säuren, besonders 
Ameisensäure, Essigsäure, Propionsäure, Milchsäure, Buttersäure, 
Valeriansäure, Bernsteinsäure, ferner Kohlensäure und Wasser¬ 
stoff ; weniger häufig treten einatomige Alkohole, wie der Aethyl- 
nlkohol, Propylalkohol, Butylalkohol, Amylalkohol, ferner Aceton auf. 
Wir bezeichnen eine solche Gärung nach dem in grösster Menge 
dabei auftretendeu Zersetzungsprodukt als Essigsäuregärung, als 
Milchsäuregärung u. s. w. Die häufigsten und wichtigsten der 
bakteriellen Gärungen der Kohlehydrate und der mehratomigen 

8 * 



116 

Alkohole sind die Milchsäure- und die Buttersäuregäruug. Milch* 
säure entsteht durch eine ganze Reihe von Bakterien aus Milch¬ 
zucker, Rohrzucker, Glucose, Lävulose, Galactose, Maltose, Stärke, 
Dextrin, Raffinose, Trehalose, Melecitose, Mannit, Sorbit, Inosit, 
Dulcit und Glycerin. Das oft erwähnte vielseitige ßacterium 
coli (vergl. Fig. 11) z. B., das übrigens nicht zu den sogenannten 
typischen Milchsäurebakterien gehört, spaltet nach A. Harden die 
Glucose im Sinne folgender Gleichung: 

2 C«H, 2 0 # -+• H,0 = 2 CjHflO, -f- C,H 4 0 2 -+- C a H e O -f- CO t 2 H 2 . 



Fig. 17. 

Bacillus amylobacter van Tiegbein (Clostridium butyricatn Prazmowski). 

I. Dftuersporenbilduüg. a. b, c. Stäbchen vor, d. e. während, f. g. b. nach 
der Sporenbildung. 

II. Keimung der Daneraporen. 

1020fache Ycrgr. Nach Prarmoweki. 

Die Buttersäuregärung, die wir bei der Bindung von elemen¬ 
tarem Stickstoff durch Bakterien im Boden schon kennen gelernt 
haben, tritt ebenfalls sehr häufig auf. Ihre bekanntesten und ver¬ 
breitetsten Erreger sind ausser dem Clostridium Pasteurianum 
(Fig. 2) der Bacillus amylobacter van Tieghem (Fig. 17), von 
Prazmowski Clostridium butyricum genannt, Bacillus butylicus 
Migula identisch mit Beyerincks Granulobacter butylicuin und 
Bacillus butyricus Hueppe. Auch pathogene Arten besitzen 
die Fähigkeit der Buttersäureerzeugung, wie z. B. der Erreger 
des malignen Ödems und des blauen Eiters. Die Buttersäure¬ 
bakterien sind meist fakultative Anaerobionten, doch gibt es auch 




117 


solche, die nur bei Sauerstoffanwesenheit zu gedeihen vermögen. 
Bnttersäure wird durch Bakterien erzeugt aus Glucose, Rohr¬ 
zucker, Milchzucker, Stärke, Glycogen, Glycerin, Mannit, Erythrit, 
Quercit, Sorbinose, Arabinose; einige Bakterienarten vermögen 
auch milchsauren und glyceriosauren Kalk in Buttersäure über¬ 
zufahren. Die Spaltung der Glueose z. B. geht bei den meisten 
sie vergärenden Bakterien in der Hauptsache im Sinne folgender 
Gleichung vor sich: 

C 6 H ls O, = C^HgOj + 2 C0 2 + 2 Hj. 

Manche Bakterien erzeugen indes aus bestimmten der hier 
in Betracht kommenden Nährmedien so grosse Mengen von Butyl- 
alkohol oder Isobutylalkohol, dass inan z. B. bei der Maltose¬ 
gärung durch BaciHus butylicus Migula von einer Butylalkohol- 
gärung spricht Dass Beyerinck den typischen Buttersäurebakterien 
im Boden ganz allgemein das Sticksloff-Fixationsvermögen zu¬ 
schreibt, wurde schon früher erwähnt 

Die bei der Spaltung der Kohlehydrate und der mehratomigen 
Alkohole auftretenden fetten Säuren und Alkohole teilen im Boden 
das Schicksal der in Fetten und Ölen vertretenen, in der Regel 
mehratomigen Fettsäuren und mehratomigen Alkohole. Es sind aller¬ 
dings verhältnissmässig wenig Untersuchungen aber die Zerstörung 
von Fetten und Ölen im Boden bis jetzt ausgeführt worden. Zu 
erwähnen sind vor allem die zwölfjährigen grundlegenden Versuche 
Rubners Uber die Spaltung und Zersetzung von Fetten und Fett¬ 
säuren im Boden und in Nährlösungen, wobei allerdings die dabei 
tätigen Arten nicht näher berücksichtigt und. la sterilisiertem 
Boden trat wohl eine geringe Fettspaltung, aber keine Fettgärung 
ein. Unter natürlichen Bedingungen wird das Neutralfett im 
Boden gespalten und dann unter sehr schnellem Verschwinden 
des Glycerins aufgezehrt und zu Kohlensäure und Wasser ver¬ 
brannt. Dabei sind neben Bakterien auch Schimmelpilze in ganz 
hervorragender Weise beteiligt. Beschleunigt wird die Fettzer- 
setzung durch das Vorhandensein passender Bakteriennährstoffe, 
sowie durch Zugabe von Kalk. Von den Bakterien, welche im 
stände sind, Fette und Öle zu spalten, sind nach den Unter¬ 
suchungen von Duclaux, Krüger, Riem&Bn, Reissmann, 0. L&xa, 
Orla Jensen u.a. Bacillus ffuorescens liquefacieas, Bacillus fluores- 
cens uon liquefaciens und Bacillus prodigiosus die verbreitetsten. 



118 


Ausser den Bakterien sind es dann besonders O'idium lactis, Clado- 
sporium butyri, sowie Mucor- und Penicillium* Arten, deren Tätig¬ 
keit hier in Betracht kommt. Neuerdings hat J. König fan Verein 
mit A. Spickermann und W. Brenner anschliessend an die Ar¬ 
beiten von Hebebrand. Welte und Scherpe, Reitmayer, von Rot¬ 
hausen und Baumann die Fettzersetzung und Fettzehrung durch 
Mikroorganismen in Futtermitteln beim Aufbewahren näher ver¬ 
folgt. Die dabei beobachteten Spaltpilze gehören sämtlich zur 
Gruppe der Heu- nnd Kartoffelbazillen. Bei einem Wassergehalt 
unter 14 °/ 0 trat keine Fettzehrung ein, bei einem solchen zwischen 
14°/ 0 und 30°/ 0 entfalteten die Mycelpilze eine rege Tätigkeit, 
während bei einem Wassergehalt von über 30°/ 0 die Bakterien 
die Oberhand bei der Fettzerstörung gewannen. Die der Fett¬ 
zehrung. wie es scheint, stets vorausgehende Spaltung in Glycerin 
und freie Fettsäuren wird durch Enzyme, die sogenannten Lipasen, 
ausgelöst. 

Es erübrigt uns jetzt noch, der Tätigkeit der Bodenbakterien 
bei der Zersetzung der Knochen kurz zu gedenken. In dieser 
Beziehung hat Stoklasa einige Beobachtungen mit Knochenmehl 
angestellt. Er verwandte zu seinen Versuchen Bacillus mega- 
therium, fluorescens liquefaciens, proteus vulgaris, butyricus 
Hueppe, mycoides und mesentericus. Er konstatierte einen be¬ 
deutenden Unterschied bei den einzelnen Arten betreffs ihrer Energie 
bei der Transformation des in den Knochen enthaltenen Stick¬ 
stoffs in die Amidform und bei der Auflösung der Phosphorsäure. 
Am raschesten arbeitete Bacillus megatherium, den Stoklasa irr¬ 
tümlicherweise für identisch mit dem Alinitbazillus hält; sodann 
Bacillus mycoides. Von deutlichem beschleunigendem Einfluss 
auf die knochenzersetzende Tätigkeit der hier in Betracht kom¬ 
menden Bodenbakterien ist nach Stoklasa die Gegenwart von 
Kohlehydraten. 

Bisher haben wir bei der Betrachtung der Bakterientätigkeit 
beim organischen Kreislauf nur die Elemente Stickstoff, Kohlen¬ 
stoff, Sauerstoff und Wasserstoff berücksichtigt. Die Arbeit der 
Bodenbakterien erstreckt sich indes dank der staunenswerten Viel¬ 
seitigkeit der Spaltpilze in ihren physiologischen Leistungen auch 
auf die für das organische Leben wichtigen Elemente des Schwe¬ 
fels und Eisens und wir können auch hier von einem Kreislauf 
dieser Elemente sprechen, der durch die sogenannten Schwefel- 



119 


resp. Eisenbakterien ausgelöst wird« Die hier in Betracht kom¬ 
menden chemischen Verbindungen Schwefelwasserstoff und Ferror 
bicarbonat können natürlich sowohl tellurischen wie organischen 
Ursprungs sein. Die Schwefel- und Eisenbakterien leben zwar 
fast ausnahmslos in Schwefel- resp. eisenhaltigen Wässern, doch 
können sie zum Teil, wie wir später noch sehen werden, unter 
bestimmten Umständen auch in gewissen Böden Vorkommen. 

Die Schwefelbakterien stellen eine aus den verschiedensten 
Arten zusammengesetzte physiologische Gruppe dar, die wir be- 




B 

Fig. 18. 

Verschiedene Schwefelbakterien. 



A. Spirillum aanguibeum (Ehrebb.) Cohn. Eibe Purporachwefelbakterie mit Schwefel- 

körticheD. lOOOfache Vcrgr. Nach Mfgula. 

B. Pfoudononaa Olteoil Cobo. Eine Ptirpurschwafelbaktoria mit 8chwefelkdrneheb. 

660/ache Vergr. Nach War Dring. 

C. Beggiatoa alba (Vaueb.) Trev. a. Lebender Faden mit Schwefelkörncheb, b. Faden 

nach Behandlung mit Schwefelkohlenstoff. SOOfache Vergr. Nach Migula. 


reits bei der Einteilung der Spaltpilze kurz kennen gelernt haben 
(vergl. Fig. 18 A, B und C). Sie besitzen die auffallende Eigen¬ 
schaft, des sonst sehr giftigen Schwefelwasserstoffs als unentbehr¬ 
lichen Nährstoffs zu bedürfen. Dieser findet sieb, abgesehen von 
natürlichen Schwefelwässern, überall da, wo Eiweisstoffe zersetzt 
werden. Die Schwefelbakterien verbrennen, vermutlich zur Energie¬ 
gewinnung, den Schwefelwasserstoff zunächst zu Schwefel, der in 
Form von Körnern oder Tröpfchen in den Zellen äufgespeichert, 
sodann aber weiter zu Schwefelsäure oxydiert wird; diese wird 
ausgeschieden und durch anwesende Karbonate der alkalischen 



120 


Erden zu Sulfaten abgesättigt, die wiederum von den Pflanzen 
bei ihrer Ernährung verwendet werden. 

Die zur Gruppe der Scheidenbakterien gehörenden, den Wasser- 
technikern genügsam bekannten Eisenbakterien oxydieren, wahr¬ 
scheinlich ebenfalls zur Energieerzeugung, Ferrobikarbonat zu 
Ferrihydroxyd, das sich in den Scheiden ablagert Das Ferro¬ 
bikarbonat findet sich ausser in den sogenannten natürlichen 
Eisenwässern, besonders in sumpfigen und stehenden Gewässern, 
wo organische eisenhaltige Stoffe zersetzt werden. 

Gleichfalls zu den Scheidenbakterien, deren Bau die Figuren 
19 und 20 erläutern mögen, gehören einige Organismen, deren 
hier noch gedacht sei: der von Kullmann entdeckte und beschrie¬ 
bene Erreger des Erdgeruches Strepto- 
thrix odorifera und einige der soge¬ 
nannten thermophilen Bakterien. P. 
Salzmann, welcher in letzter Zeit der 
Streptothrix odorifera eine physiolo¬ 
gisch-chemische Studie gewidmet "hat, 
beobachtete, dass dieser eigentümliche 
Geruch nur beim Vorhandensein be¬ 
stimmter chemischer Verbindungen 
auftritt. Während die Salze der Oxal¬ 
säure, der Mono- und Monoxykarbon- 
säuren überhaupt nicht verwendet 
werden, benützt der Organismus zwar 
die Dikarbonsäuren, welche neben den beiden Karboxylgruppen 
noch die CH g oder CH OH-Gruppe enthalten, wie die Bernstein- 
säure, Apfelsäure, Weinsäure, Citronensäure, der charakteristische 
Geruch tritt jedoch nur bei den drei letzten Säuren auf. 

Die sogenannten thermophilen Bakterien, von denen, wie so¬ 
eben erwähnt, ein Teil gleichfalls zu den Scheidenbakterien gehört, 
finden sich sehr verbreitet in den oberflächlichen Bodenschichten. 
Sie besitzen die Eigentümlichkeit, noch bei Temperaturen von 
50—70° zu gedeihen; sie sind nicht pathogen, meist fakultativ 
anaerob und sporenbildend. 

Nachdem wir die Bodenbakterien in ihren Leistungen im 
Boden selbst kennen gelernt haben, wollen wir zum Schluss noch 
die hygienische Bedeutung der Bodenbakterien streifen. 

Bekanntlich schreibt man dem Boden vielfach eine bedeu- 



Fig. 19. 

Scheidenbakterien. 


B. Festaitseode Fädtn tod Strepto- 
thrix epiphytica Mlgnla. 

F. ConldienbUdender Faden von Strep¬ 
tothrix flnitans Mignla. 

ÖOOfeche Ver*r. Nach lUgula. 



121 


tende Rolle für das Zustandekommen und die Verbreitung von 
Epidemien zu. Aber so vielfach diese Frage auch studiert wor¬ 
den ist und wie viele Theorien über die Beziehung des Bodens 
zu den Infektionskrankheiten aufgestellt worden sind, das überaus 
wichtige Problem harrt noch einer befriedigenden Lösung. 

Die bemerkenswerte Tatsache, dass manche Bakterien unter 
ungenügend bekannten Umständen, im Boden plötzlich in grosser 
Menge auftreten, um ebenso rasch wieder zu verschwinden, wurde 
bereits früher erwähnt. Für die pathogenen Bakterien scheint 
der Boden indes im allgemeinen mehr als Konservierungs- 
wie als Vermehrungsstätte in Be¬ 
tracht zu kommen. In grosser Ver¬ 
breitung finden sich in gedüngter 
Erde die Erreger des malignen 
Ödems und des Tetanus, während 
andere pathogene Bakterien, denen 
man im Boden einmal ausnahms¬ 
weise begegnet, bei Versuchen nach 
kürzerer oder längerer Zeit im Boden 
schliesslich zu Grunde gingen. Eine 
Ausnahme machen hier, wie wir 
aus verschiedenen Tatsachen schlies- 
sen müssen, bis jetzt nur der Typhus 
—, Rauschbrand — und Milzbrand- 
bazilius und wahrscheinlich auch der 
Choleravibrio. So hat man z. B. 
schon öfters die Wahrnehmung ge¬ 
macht, dass unter Arbeitern, die mit 
Erdarbeiten in als verseucht zu be¬ 
trachtenden Böden beschäftigt waren, Abdominaltyphus aus¬ 
gebrochen ist. Ferner wissen wir von dem Milzbrandbazillus, dass 
er als fakultativer Parasit auch ausserhalb seines lebenden Wirtes 
unter gewissen Umständen auf saprophytische Weise von toten 
Stoffen sich ernähren und eventuell sogar vermehren kann. Sporen 
bildet er überhaupt nur bei der letzteren Lebensweise. So kommt 
es. dass bestimmte Weiden z. B. immer wieder Milzbrand erzeugen 
können, da die Tiere mit dem Futter die Milzbrandbazillen, oder 
Milzbrandsporen in sich aufnehmen. Ähnlich liegen die Verhält¬ 
nisse bei dem Rauschbrandbazillus. In letzter Zeit hat man 



Fig. 20. 

A. Cladothrix dichotoma Cohn. 

Spitze eines gonidienbildenden Fadens (a), 
g. die aufgelockerte Scheide, c. die Goni- 
dien mit Qeisseln. 

lOOOfache Vorgr. Nach Alfred Fischer. 

B. Crenothrix polyspora Cohn. 

Gonidienbildung. 

BOOfache Vergr. Nach Migula. 



122 


beobachtet, dass auch niedere Tiere im Beden von Infektions¬ 
krankheiten betroffen werden. So beschreibt Cavara ein Bak¬ 
terium, das die Larven der Saateule Agrotis segetum infiziert, 
bis zur Mumifikation durchwuchert und deformiert. Die getöteten 
Larven werden braun und brüchig. 

Wenden wir uns jetzt noch zu den phytopathogenen Bak¬ 
terien des Bodens. Die Existenz von pflanzeninfizierenden Bak¬ 
terien ist vielfach bestritten worden. Wir kennen jetzt aber mit 
Sicherheit verschiedene bakterielle Pflanzenkrankheiten, die man 
als Bakteriosen bezeichnet, so z. B. die Nassfäule der Kartoffeln, 
der Rotz der Hyazinthen, die Bakteriosis der Kohlrabi, der weissen 
Rüben und der Möhren u. s. w. Auch die dem Boden anver¬ 
trauten Samen und Früchte können durch manche noch nicht ge¬ 
nügend bekannte Bakterien und andere Mikroorganismen unter 
Umständen getötet werden, wie dies Hiltner für Leguminosen- 
samen nachgewiesen hat. 

Neuerdings hat man beobachtet, dass bei solchen Pflanzen- 
krankheiten gemeine, sonst nicht pathogene Arten sich beteiligen 
können. Es führt uns diese Tatsache zu der ganz allgemein 
überaus wichtigen Frage, welche gemeinen saprophytischen Bak¬ 
terien vermögen eventuell parasitäre Eigenschaften anzunehmen 
und unter welchen Umständen tun sie dies? E. Laurent gibt an, 
dass Bacterium coli commune und Bacillus fluorescens putidus 
durch eine Reihe von Passagen auf Kartoffeln und Möhren diesen 
und andern Knollengewächsen gegenüber parasitäre Eigenschaften 
erlangen, die durch künstliche Verminderung der Acidität des 
Zellsaftes sichtlich gefördert werden. Dasselbe hat L. Lepoutre 
für Bacillus fluorescens liquefaciens, B. mycoides und B. mesen- 
tericus behauptet. Er bemerkt noch, dass die mineralische Er¬ 
nährung eine deutliche Einwirkung auf die Widerstandsfähigkeit 
knolliger Gewächse gegenüber der Bakterieninfektion habe. So 
prädisponierte bei seinen Versuchen mit Steckrüben und Karotten 
ein Übermass von Stickstoff öder Kalkdüngung zur bakteriellen 
Fäulnis, während die Phosphate den Widerstand dieser Pflanzen 
gegenüber den virulenten Bakterien erhöhte. 

Über das Verhalten des Heubazillus (Bac. .subtilis) und des 
zur Gruppe der Kartoffelbakterien gehörenden Bacillus vulgatas 
als Pflanzenparasiten hat C. J. J. van Hall eine Studie veröffent- 



123 


liebt. Darnach sollen diese Spaltpilze bei höherer Temperatur 
sehr toxische Eigenschaften für viele Pflanzen annchmen und als 
virulente Fäulnisserreger auftreten. Bei dem Heubazillus soll 
dies bei Temperaturen über 23°, bei der Kartoffelbakterie bei 
solchen über 30° der Fall sein. 

Eine bekannte Erscheinung ist es auch, dass auf manchen 
Böden bei fortwährender oder zu oft wiederholter Kultur der¬ 
selben Pflanzen diese nicht mehr gedeihen; wir sprechen z. B. 
von Leguminosenmüdigkeit, Rebenmüdigkeit, Zuckerrübenmüdig- 
keit des Bodens. Auch hierfür hat man vielfach die bakteriellen 
Verhältnisse der betreffenden Böden verantwortlich gemacht. Auch 
die sogenannten Wurzelfäuleböden, wie sie besonders in den 
Tropen bei den Zuckerrohrfeldern auftreten, sollen durch Bak¬ 
terien bedingt sein. Kamerling hat einen solchen typischen 
Wurzelfäuleboden untersucht und in diesem Eisenbakterien, 
die in gesunden Böden nicht angetroffen werden, in grosser 
Verbreitung gefunden, während Schimmelpilze dabei sehr 
zurücktraten. Die Ursache der untersuchten Wurzelfäule sieht 
Kamerling in durch anaerobe Bakterien ausgelösten Reduktions¬ 
prozessen, die zur Bildung von Eisenoxydul und Schwefelwasser¬ 
stoff führen. 

Auch die Frage, ob für Menschen und Tiere pathogene Bak¬ 
terien als Pflanzenparasiten auftreten können, ist von eminenter 
Wichtigkeit. Denn auf diesem Wege könnten sie dann leicht zu 
Infektionen Veranlassung geben. Die bisherigen diesbezüglichen 
Untersuchungen haben zu widersprechenden Resultaten geführt. 
Doch scheint es, dass die Gefahr in dieser Beziehung glücklicher¬ 
weise nicht sehr gross ist. 

Überblicken wir zum Schlüsse nochmals unsere Ausführungen 
über die mannigfaltige teils nützliche, teils schädliche Tätigkeit 
der Bodenbakterien, so sehen wir, dass es wichtige und bedeu¬ 
tungsvolle Probleme sind, welche die Bodenbakteriologie schon 
gelöst hat und noch zu lösen hat. Aber bunt und verworren ist 
das Leben und Treiben der Mikroorganismen im Boden und wenn 
auch das Auge des Forschers manches in diesem wechselvollen 
Treiben geschaut und beobachtet hat, so gibt es doch noch so 
manche dunkle Ecke in dessen weitem Bereich, deren Aufhellung 
für Wissenschaft und Praxis von grossem Nutzen sein würde. 



124 


Aber gerade dieser Umstand ist es, der das Studium der Boden¬ 
bakteriologie trotz der grossen Schwierigkeiten za einem beson¬ 
ders reizvollen und genussreichen macht. Gibt es doch keine 
höhere Befriedigung für die wissenschaftliche Forschung, als das 
erhabene Bewusstsein, Hand in Hand mit der Praxis für das 
Wohl der Menschheit tätig zu sein. 



Jean Lamarck. 

Von Walther May, 

Privatdozent der Zoologie an der Techniechen Hochecbnle. 

Es ist eine interessante Erscheinung, dass in der zweiten 
Hälfte des achtzehnten und der ersten Hälfte des neunzehnten 
Jahrhunderts in Deutschland, England und Frankreich drei Natur- 
phiiosophenschulen auftraten, die ganz unabhängig von einander 
im wesentlichen dieselben Gedanken über die Entstehung der 
organischen Wesen entwickelten, ln Deutschland waren Oken, 
Treviranus und Goethe, in England Erasmus Darwin, in Frank¬ 
reich Lamarck und Geoffroy Saint Hiiaire die Häupter dieser 
Schulen. Als der bedeutendste von ihnen gilt gewöhnlich Jean 
Lamarck, ja er wird vielfach als der erste wissenschaftliche Be¬ 
gründer der Deszendenztheorie und als der Vater der Lehre von 
der Entstehung der Arten durch Vererbung funktioneller Abände¬ 
rungen gefeiert. Dies ist insofern nicht ganz richtig, als Eras¬ 
mus Darwin, der Grossvater des grossen Reformators der Biologie, 
schon mehrere Jahre früher diese Lehre begründet hat. Jeden¬ 
falls nimmt Lamarck aber eine hervorragende Stellung in der 
Geschichte der Deszendenztheorie ein, und sein Leben und Streben 
im Dienste denkender Naturforschung ist von hohem Interesse. 

Jean Lamarck wurde im Jahre 1744 in einem kleinen Orte 
der Pikardie als elftes Kind eines angesehenen, aber wenig be¬ 
güterten Edelmannes geboren. Sein Vater schickte ihn auf 
die Jesuitenschule, deren geistigem Zwang er sich durch die 
Flucht entzog. Er wurde Soldat, zeichnete sich aus, avancierte 
zum Offizier, musste aber dann wegen einer Halswunde den Ab¬ 
schied nehmen. Er warf sich jetzt auf das Studium der Botanik, 
veröffentlichte eine ausgezeichnete Flore fran^aise und wurde 
infolgedessen Mitglied der Pariser Akademie und Professor am 
Jardio des Plantes. Als solcher hatte er über die Naturgeschichte 
der wirbellosen Tiere zu lesen. Er arbeitete sich gründlich in 
das neue Fach ein und legte die Resultate seiner Studien in einem 



126 


grossen Werk über die wirbellosen Tiere nieder. In späteren 
Jahren geriet er mit seiner zahlreichen Familie in grosse Not 
und starb im Jahre 1829 in äusserst dürftigen Verhältnissen, 
nachdem er viele Jahre vorher gänzlich erblindet war. 

Lamarck verdankte seinen Ruf als Naturforscher zunächst 
nicht seinen naturphilosophischen, sondern den eben erwähnten 
systematischen Schriften. Die naturphilosophischen Arbeiten waren 
eher dazu angetan seinen wissenschaftlichen Ruf zu beeinträch¬ 
tigen. Erst nach Darwins glänzender Neubegründung der Des¬ 
zendenzlehre ist Lamarcks naturphilosophisches Hauptwerk, die 
im Jahre 1809 erschienene Philosophie zoologique, wieder ans 
Liebt gezogen worden und hat auch eine deutsche Übersetzung 
durch Arnold Lang, den verdienten vergleichenden Anatomen, 
erfahren. 

Lamarck war wie Erasmus und Charles Darwin eine univer¬ 
sale Natur: Philosoph, Geolog, Botaniker und Zoolog in einer 
Person. Seine philosophischen Ansichten hat er in der 1830 
erschienenen Schrift: „Systeme analytique des connaissauces posi¬ 
tives de l’homme“ niedergelegt. Darin fragt er zunächst, auf 
welchem Wege wir zu sichern Erkenntnissen gelangen und beant¬ 
wortet diese Frage dahin, dass alle sichern Erkenntnisse aus der 
Beobachtung entspringen. Damit meint er nicht nur die direkte 
Beobachtung, sondern auch das Ziehen richtiger Konsequenzen 
aus ihr. Die direkten Beobachtungen sind vollständig sicher und 
exakt, die daraus gezogenen Konsequenzen nähern sich der Wahr¬ 
heit mehr oder weniger. 

Weiter fragt Lamarck, was der Beobachtung zugänglich, was 
beobachtbar ist. Beobachtbar sind die Stoffe und Körper, die 
Bewegungen, Veränderungen und Eigenschaften dieser Stoffe und 
Körper und die Gesetze, nach denen diese Bewegungen und Ver¬ 
änderungen vor sich gehen. 

Alle Körper sind in steter Veränderung und Bewegung be¬ 
griffen, nirgends herrscht absolute Ruhe. Daraus folgt, dass eine 
allgemeine Macht existiert, die die Ursache aller Veränderungen 
und Bewegungen ist: die Natur. 

Die Natur ist etwas Immaterielles. „Die Materie ist dem. 
was wir unter Natur verstehen, vollständig fremd!“ Die Natur 
wirkt blind, notwendig, mechanisch, ohne Absichten und Zweck- 
Sie ist weder selbstbewusst, noch vernünftig, keine Intelligenz. 



127 


abhängig und beschränkt. Ihr einziger Wirkungsbezirk ist die 
Materie. Sie verändert die Materie beständig und bringt so alle 
Körper und Erscheinungen hervor. Die Summe aller dieser 
Körper ist das Universum. Das Universum ist also das notwendige, 
mechanische und natürliche Produkt der Natur und der Materie. 

Die Materie ist durchaus passiv, träge, ohne eigene Be¬ 
wegung und Tätigkeit, sie hat nur Eigenschaften, keine Fähig¬ 
keiten. Nur durch die Natur kann sie in Bewegung versetzt 
werden. Wir haben hier einen vollendeten Dualismus von Natur 
und Materie, der aber mit Mechanismus verbunden ist 

Alle Erscheinungen werden durch mechanische, natürliche 
Ursachen hervorgebracht und sind durchaus gesetzlich und not¬ 
wendig. Das Zustandekommen der Natur und der Materie selbst 
können wir uns aber nicht mehr aus natürlichen mechanischen 
Ursachen erklären. Für ihre Entstehung nimmt Lamarck eine 
ausser- und übernatürliche Ursache, einen Gott an. Er ist also 
Dualist und Deist, zugleich aber Mechanist. 

Als Mechanist wendet er sich gegen die teleologische Er¬ 
klärung der organischen Erscheinungen: 

„Hauptsächlich bei den Organismen", sagt er, „und ganz 
speziell bei den Tieren glaubte man in den Verrichtungen der 
Natur einen Zweck zu erblicken. Ein solcher Zweck ist indes 
hier, wie anderswo, bloss Schein, nicht Wirklichkeit. Die Wirk¬ 
lichkeit hat bei jeder besonderen Organisation unter diesen Natur¬ 
körpern eine durch natürliche Ursachen und stufenweise zu stände 
gekommene Ordnung der Dinge, durch eine fortschreitende, von 
den Umständen bedingte Entwicklung von Teilen das herbei¬ 
geführt, was nur Zweck erscheint und was in Wirklichkeit reine 
Notwendigkeit ist. Das Klima, die Lage, die Medien, in denen 
die Organismen leben, die Mittel zum Leben und zur Selbst¬ 
erhaltung, kurz, die spezifischen Verhältnisse, in denen jede Art 
lebte, haben die Gewohnheiten dieser Art herbeigeführt, diese 
haben die Organe der Individuen umgemodelt und angepasst. 
Die Folge davon ist, dass die Harmonie, die zwischen der Organi¬ 
sation und den Gewohnheiten der Tiere existiert, uns als vor¬ 
bedachtes Resultat erscheint, während sie bloss ein notwendig 
herbeigeführtes Resultat ist.“ 

An die Erörterung der philosophischen Ansichten Lamarcks 
schliessen wir die seiner geologischen. In seiner 1801 erschienenen 



128 


Hydrogeologie wirft er vier Hauptfragen auf. Die erste bezieht 
sich auf die natürlichen Folgen des Einflusses und der Bewegungen 
des Wassers auf der Erdoberfläche. Lamarck glaubt, dass durch 
die Bewegungen des süssen Wassers die ausserordentliche Mannig¬ 
faltigkeit in der Bodengestalt der Kontinente entstand: Berge, 
Thftler, Hochebenen etc. 

Die zweite Frage lautet: Warum hat das Meer beständig ein 
Becken und bestimmte Grenzen, die es von den immer über es 
hervorragenden trockenen Teilen der Erdoberfläche trennen? 
Darauf antwortet Lamarck, dass die Bewegungen des Meeres, 
Wellen, Meeresströmungen u. a. eine beständige Aushöhlung des 
Meeresbeckens bewirken und so dessen Verflachung durch die 
fortwährend von den Flüssen zugeführten festen Bestandteile ver¬ 
hindern. Diese werden an den Küsten durch das Meer wieder 
ausgeworfen. 

Trotz der Aushöhlung durch die Meeresbewegungen würden 
sich aber die Meeresbecken mit der Zeit anfüllen, wenn sich die 
Lage der Meere nicht veränderte. Dies ist Gegenstand der dritten 
Frage. 

Die Meere müssen zunächst aus allgemeinen physikalischen 
Gründen ihre Lage verändern. Das Wasser der Meere dreht sich 
von Westen nach Osten um die Erdachse. Da das Wasser wegen 
der leichten Verschiebbarkeit seiner Teile der Anziehungskraft 
des Mondes eher gehorchen kann als die trockenen und festen 
Teile der Erdrinde, so muss es etwas langsamer rotieren als diese. 
Daraus ergibt sich mit bezug auf das Festland eine langsame 
Bewegung des Meeres nach Westen. Die Wassermassen des 
Meeres prallen infolgedessen beständig gegen die östlichen Küsten 
der Kontinente und überfluten sie immer mehr, während die west¬ 
lichen Küsten vom Meere verlassen werden. 

Es lassen sich aber auch tatsächliche Gründe dafür anführen, 
dass Teile des jetzigen Festlands wirklich früher vom Meere be¬ 
deckt waren. Solche Gründe bieten die fossilen Tiere und Pflanzen, 
vor allem die Muscheln auf dem Festland und auf hohen Bergen. 
Lamarck bestreitet entschieden, dass sie durch grosse Katastrophen 
dahin gelangt seien. Sie haben vielmehr an denselben Orten 
gelebt, an denen wir sie jetzt finden. Denn die Tatsache, dass 
bei den Muscheln gewöhnlich noch beide Schalen vorhanden sind, 
verträgt sich nicht mit der Annahme allgemeiner Katastrophen. 



129 


Da man nun überall auf dem Festland Meeresfossilien antrifft, 
so muss das Meer in seiner Bewegung von Osten nach Westen 
wenigstens einmal um die ganze Erde herumgewandert sein. 

Lamarcks vierte und letzte geologische Frage bezieht sich 
auf den Einfluss der Organismen auf die Stoffe der Erdkruste 
und die allgemeinen Resultate dieses Einflusses. Er schliesst aus 
den Korallenriffen, Muschelbänken und Steinkohlenlagern, dass 
aller Kalk auf der Erdoberfläche durch tierische, alle Kohle durch 
pflanzliche Tätigkeit entstanden sei. Ja, er. geht noch weiter und 
meint, dass überhaupt sämtliche Mineralien und Felsarten, mit 
Ausnahme des Quarzes, als direkte oder indirekte Produkte or¬ 
ganischer Tätigkeit zu betrachten seien. 

Wir sehen aus diesen geologischen Ansichten Lamarcks, dass 
er zur Erklärung aller geologischen Erscheinungen nur die heute 
noch wirksamen Kräfte annimmt und die Katastrophenlehre ab- 
weist, also das Lyellsche Prinzip des Aktualismus antizipiert. 
Daher konnte er auch die Entstehung der Organismen unter 
diesem Gesichtspunkt betrachten. 

ln bezug auf die Erforschung der organischen Natur betont 
Lamarck wiederholt, dass der Naturforscher nicht nur darauf 
ausgeben solle, neue Arten zu entdecken, genau zu beschreiben, 
abzubilden und in ein System zu bringen, sondern dass er bestrebt 
sein solle, die innere Organisation zu erkennen und die Beziehungen 
der Organismen zu einander und zu andern Naturkörpern. 

„Man weiss“, sagt er, „dass jede Wissenschaft ihre Philo¬ 
sophie haben muss. Nur dann macht sie wahre Fortschritte. 
Vergebens werden sonst die Naturforscher ihre ganze Zeit darauf 
verwenden, neue Arten zu beschreiben, alle Nüancierungen und 
die geringsten Eigentümlichkeiten ihrer Abänderungen aufzufinden, 
um die ungeheure Liste der verzeichneten Arten zu vermehren.“ 
In diesem Sinne untersucht Lamarck vor allem das Verhältnis 
der organischen zur anorganischen Natur. Linn6 hatte Mineralien, 
Pflanzen und Tiere als drei gleichwertige Naturreiche gegenüber¬ 
gestellt: Lapides crescunt, plantae vivunt et crescunt, animalia 
vivant et crescunt et sentiunt. Diese Einteilung wird von La¬ 
marck bestritten. Er unterscheidet nur zwei Hauptreiche: anor¬ 
ganische Körper und Organismen. Erst die letzteren zerfallen 
wieder in zwei grosse Abteilungen: Tiere und Pflanzen. 

Lamarck bestreitet ferner die Ansicht, dass sich alle Natur- 

9 



130 


körper in eine einzige ungeteilte Reihe bringen lassen: Mineralien 
— einfachste Pflanzen bis vollkommenste Pflanzen — einfachste 
Tiere bis vollkommenste Tiere. Er leugnet das Vorhandensein 
von Übergängen zwischen Pflanzen und Mineralien. Die Welt 
der Organismen ist durch eine grosse Kluft von der Welt der 
Anorgane getrennt. Doch behauptet er nicht' eine absolute Ver¬ 
schiedenheit beider Reiche. Der Unterschied ist zwar sehr gross, 
aber nur relativ. Es gibt keinen besondern Lebensstoff und keine 
besondere Lebenskraft. Das Leben ist eine ganz natürliche, den 
allgemeinen Naturgesetzen unterworfene Erscheinung. 

„Die Natur kompliziert ihre Mittel niemals, wenn es nicht 
nötig ist; wenn sie alle Erscheinungen der Organisation mit 
Hilfe der Gesetze und Kräfte, denen alle Körper allgemein unter¬ 
worfen sind, hat hervorbringen können, so bat sie dies ohne 
Zweifel getan und hat nicht, um einen Teil ihrer Erzeugnisse zu 
regieren, Gesetze und Kräfte geschaffen, die denen, die sie an¬ 
wendet, um den andern Teil zu regieren, entgegengesetzt sind.“ 
Um über das Wesen des Lebens ins klare zu kommen, 
müssen wir die einfachsten Organismen untersuchen. 

„Man kann in der Tat erst nach der Untersuchung der ein¬ 
fachsten Organisation wissen, was wirklich für die Existenz des 
Lebens in einem Körper wesentlich ist; denn bei einer kompli¬ 
zierten Organisation ist jedes hauptsächliche innere Organ für 
die Erhaltung des Lebens notwendig, wegeX seiner innigen Ver¬ 
knüpfung mit allen andern Teilen des Orgab^ystems und weil 
dieses System nach einem Plan gebildet ist, der diese Organe 
erfordert. Daraus folgt aber nicht, dass diese Organe für die 
Existenz des Lebens in jedem Organismus notwendig sind.“ 

Auf Grund dieser Untersuchung der einfachsten^ Lebewesen 
kommt Lamarck zu dem Resultat, dass das Leben eitoe Summe 
bestimmter, sehr komplizierter Bewegungen der Bestandteile eines 
Organismus ist, die auf die physikalische und komplizierte 
chemische Beschaffenheit des materiellen Substrats der Organismen 
zurückzuführen sind. \ 

Mit dieser Auffassung steht seine Lehre von der Urzeugung 
im Einklang. Er hält diese für eine erwiesene Tatsache, «a es 
rein unmöglich sei, dass so zarte Organismen wie die Infusorien 
Sporen erzeugen können, die den Winter überdauern. Er Wer- 

I 

wirft aber die Entstehung hoehorganisierter Tiere und Pflaiazen 



131 


durch Urzeugung und hält nur die Bildung der allereinfachsten 
Wesen aus anorganischer Materie für möglich. 

Wie zwischen Organismen und Anorganen so stellt Lamarck 
auch einen Vergleich zwischen Pflanzen und Tieren an. Er 
protestiert gegen die Ansicht, dass sich die Tiere von den Pflanzen 
durch Empfindung und willkürliche Bewegung absolut unterscheiden. 
I>och glaubt er, dass zwischen beiden Reichen ein durchgreifender 
Unterschied besteht und bestreitet, dass das Pflanzenreich irgendwo 
iu das Tierreich übergeht. Denn die Zoophyten oder Pflanzen- 
liere sind durchaus echte Tiere, die mit den Pflanzen nichts ge¬ 
mein haben als die Stockbildung. Wenn die Pflanzen mit den 
Tieren zusammenhingen, so könnte dies nur bei denen der Fall 
sein, deren Organisation am einfachsten ist. Wenn hier ein 
Übergang vorhanden wäre, so müssten Pflanzen und Tiere zwei 
am Grunde wie die beiden Striche eines V verbundene Zweige 
darstellen. Lamarck glaubt jedoch, dass auch hier kein Zusammen¬ 
hang existiert, sondern dass jeder Zweig vom andern am Grunde 
getreont ist. Durch Urzeugung entstehen sowohl einfachste Tiere 
als einfachste Pflanzen. Aus den einfachsten Tieren entsteht das 
Tierreich, aus den einfachsten Pflanzen das Pflanzenreich. Damit 
gelangen wir zur Erörterung der Lamarckschen Deszendenztheorie. 

Die ersten Keime dieser Theorie finden wir bereits 1801 in 
der Hydrogeologie, die erste ausführliche Darstellung 1802 in den 
„Recherches sur l’organisation des corps vivans“. 1809 folgt die 
Hauptdarstellung in der „Philosophie zoologique“, 1815 eine 
Wiederholung in anderer Form, aber dem Inhalt nach unver¬ 
ändert in der Einleitung zur „Histoire naturelle des animaux 
sans vertöbres“. 

Lamarck geht in seiner Deszendenzlehre von dem Gedanken 
aus, dass der Naturforscher innerhalb der Naturwissenschaft das, 
was der Kunst angehört, zu unterscheiden habe von dem, was 
der Natur eigen ist. Gattungen, Familien, Ordnungen und Klassen 
sind künstliche, allerdings unentbehrliche Hilfsmittel des Menschen. 
Die Grenzen dieser Gruppen sind willkürlich und ergeben sich 
aus unserer mangelhaften Kenntnis der Lebensformen, die auf der 
Erde existiert haben und noch existieren. Würde man all diese 
Formen kennen, so würde man überall Übergangsformen finden. 

„Die Natur“, sagt Lamarck, „hat in Wirklichkeit in ihren 
Erzeugnissen weder konstante Klassen, Ordnungen, Familien und 



132 


Gattuogen, »och auch konstante Arten gebildet, sondern nur 
Einzelwesen, die aufeinander nachfolgen und die denen gleichen, 
die sie hervorgebracht haben.“ 

Wenn man sämtliche Organismen nach ihren natürlichen 
Beziehungen aneinander reiht, so finden wir, dass sich in beiden 
Reichen zwischen den niedrigst und höchst organisierten Formen 
stufenweise Übergänge vorfinden, eine stetig zunehmende Kom¬ 
plikation der Organisation. Diese besteht aber nur in bezug auf 
die Hauptgruppen, diese allein bilden eine einfache linienförmige 
Stufenleiter, die Arten, Gattungen und Familien sind dagegen 
seitliche Abzweigungen dieser Hauptlinie. 

Als Kriterium der Vollkommenheit eines Organismus be¬ 
trachtet Lamarck die Organisation des Menschen. Der Mensch ist 
das vollkommenste Tier weil er die komplizierteste Organisation 
und die meisten Fähigkeiten hat. Je mehr daher ein Organismus 
mit dem menschlichen übereinstimmt, desto vollkommener ist er 
und umgekehrt. Da z. B. das Skelett als Hauptbestandteil zum 
Organisationsplan des menschlichen Körpers gehört, so besitzen 
alle mit einem Skelett ausgestatteten Tiere eine ausgebildetere, 
vollkommenere Organisation als die, denen es fehlt. Deshalb sind 
die wirbellosen Tiere unvollkommener als die Wirbeltiere. 

Wenn man immer weiter in der Tierreihe zurückgeht, so 
wird ein Organsystem nach dem andern immer einfacher und ver¬ 
schwindet schliesslich ganz, endlich auch das letzte und allge¬ 
meinste Organ: der Nahrungskanal. Der Körper des einfachsten 
Tieres ist ein Organismus ohne Organe. 

Die Betrachtung der allgemeinen Abstufung der Organisation 
von den unvollkommensten bis zu den vollkommensten Tieren und 
Pflanzen führt Lamarck auf den Gedanken, dass die Tiere unter 
sich und die Pflanzen unter sich in genetischem Zusammenhang 
stehen. So sagt er im Vorwort zur „Philosophie zoologique“: 
„Wie hätte ich auch die eigentümliche Abstufung, die sich in der 
Organisation der Tiere von den vollkommensten bis zu den un¬ 
vollkommensten zeigt, betrachten können, ohne nach der Ursache 
einer so positiven, so wichtigen und durch so viele Beweise ver¬ 
bürgten Tatsache zu fragen? Musste ich nicht annehmen, dass 
die Natur die verschiedenen Organismen nacheinander in der 
Weise hervorgebracht habe, dass sie vom Einfachen zum Kompli¬ 
zierten überging, da sich ja doch die Organisation in der tierischen 



133 


Stufenleiter von den unvollkommensten Tieren an stufenweise auf 
höchst bemerkenswerte Weise kompliziert?“ 

Wenn diese Ansicht richtig ist, so müssen die Tier- und 
Pflanzenarten veränderlich sein. Lamarck untersucht daher zu¬ 
nächst den Artbegriff und bemüht sich die Veränderlichkeit der 
Art zu beweisen. Die Arten müssen veränderlich sein, weil die 
Existenzbedingungen sich ändern. Wollte man die Konstanz der 
Arten dartun, so müsste man beweisen, dass die Existenzbedingungen 
seit Beginn des organischen Lebens dieselben geblieben sind. 
Ferner müsste man annehmen, dass die Individuen einer Art nie¬ 
mals mit den Individuen einer andern Art in geschlechtliche Ver¬ 
bindung treten können. Die Beobachtung zeigt aber das Gegen¬ 
teil. Selbst Linne hat die Wichtigkeit dieses Einwurfs später 
erkannt. 

Für die Veränderlichkeit der Art spricht ferner die Schwierig¬ 
keit, nahe verwandte Arten zu unterscheiden. Viele Arten grosser 
Gattungen gehen so ineinander über, dass man die Grenzen nur 
mit grosser Willkür bestimmen kann. Je weiter die Kenntnis 
der Tier- und Pflanzenwelt fortschreitet, desto grösser wird die 
Zahl der Übergangsformen. 

Auch die Unmöglichkeit, Rassen, Varietäten und Arten 
scharf zu trennen, kommt hier in Betracht. Gewisse Individuen- • 
komplexe werden häufig von dem einen Forscher als Arten, von 
dem andern als Varietäten bezeichnet 

Endlich verweist Lamarck auf die Veränderungen, die durch 
Domestikation hervorgerufen werden. Die Hunderassen sind seiner 
Ansicht nach durch Domestikation aus einer einzigen wilden 
wolfsähnlichen Art hervorgegangen, und mit Rücksicht darauf 
fragt er: „Wo findet man in der Natur die verschiedenen Rassen 
von Hunden, die wir durch die Domestikation hervorgebracht 
haben, die Doggen, Windhunde, Pudel, Wachtelhunde, Bologneser¬ 
hündchen u. s. w., Rassen, die untereinander grössere Verschieden¬ 
heiten darbieten als die sind, die man bei den Tieren einer 
Gattung, die frei in der Natur leben, für spezifisch hält?“ 

Wenn nun die Arten veränderlich sind, so ist es auch durch¬ 
aus berechtigt, anzunehmen, dass sämtliche heute lebenden Tier- 
und Pflanzeuarten durch Umwandlung aus andern Arten, die 
früher gelebt haben, hervorgegangen sind. 

Von diesem Standpunkt aus weist Lamarck die Unnatürlich- 



134 


keit und Unrichtigkeit der Methode nach, die die vollkommensten 
Tiere an den Anfang, die unvollkommensten an das Ende des 
Systems stellt. „Die natürliche Ordnung der Tiere“, sagt er, 
„ist die, in der diese Organismen ursprünglich gebildet worden 
sind.“ 

Lamarck betrachtet die Tiere daher in folgender Reihenfolge: 
1. Unterste Tiere: mit Verdauungsorganen, ohne Nerven und 
Gefässe; 2. niedere Würmer und Strahltiere: ohne Längsnerven- 
mark und Zirkulationssystem; 3. höhere Wirbellose: mit Gehirn, 
Längsnervenstrang, Arterien und Venen; 4. Wirbeltiere. 

Auch über die Ursachen der Artveränderungen dachte La¬ 
marck nach. Er stellte zwei Prinzipien auf, um die Entwicklung 
der Spezies zu erklären. Das Hauptprinzip ist die Wirksamkeit 
organischer Bildungsgesetze. Jedes lebende Wesen hat eine innere 
Kraft, die es notwendig zur Fortentwicklung treibt. Dadurch 
wird die Stufenreihe der Hauptklassen verursacht. Wäre dieses 
Prinzip das einzige, so wäre die Fortentwicklung durchaus regel¬ 
mässig. Es gibt aber noch ein zweites Prinzip, das Störungen 
dieser regelmässigen Reihe bedingt: der Gebrauch und Nicht¬ 
gebrauch der Organe. 

In dem Masse als sich die Tiere auf der Erdoberfläche aus¬ 
breiteten, gelangten sie in neue Verhältnisse, wurden ihre Existenz¬ 
bedingungen andere. Dadurch änderten sich auch die Bedürfnisse. 
Um die neuen Bedürfnisse zu befriedigen, musste das Tier andere 
Tätigkeiten ausführen, andere Gewohnheiten annehmen. Infolge¬ 
dessen wurden Organe, die früher mehr gebraucht wurden, weniger 
gebraucht und umgekehrt. Der häutige und dauernde Gebrauch 
eines Organs entwickelte und vergrösserte es, der konstante Nicht- 
gebrauch liess es schwächer werden. Alles, was die Tiere durch 
Gebrauch oder Nichtgebrauch erwarben oder verloren, wurde auf 
die Nachkommen vererbt. 

Aul diese Weise ist z. B. der lauge Hals der Giraffe ent¬ 
standen. „Es ist bekannt“, sagt Lamarck, „dass dieses von Ge¬ 
stalt höchste aller Säugetiere in Innerafrika wohnt und in Ge¬ 
genden lebt, wo der beinahe immer trockene und kräuterlose Boden 
es zwingt, das Laub der Bäume abzufressen und sich beständig 
anzustrengen, es immer höher hinauf zu erreichen. Aus dieser 
seit langer Zeit angenommenen Gewohnheit hat sich ergeben, 
dass hei den Individuen ihrer Rasse die Vorderbeine länger als 



135 


die Hinterbeine geworden sind und dass ihr Hals sich dermassen 
verlängert hat, dass die Giraffe, ohne sich auf ihren Hinterbeinen 
aufrecht zu erheben, mit aufgerichtetem Kopfe eine Höhe von 
sechs Metern erreicht.“ 

Nach demselben Prinzip erklärt Lamarck die Schwimmhäute 
an den Füssen der Schwimmvögel, die langen Läufe der Wat¬ 
vögel, die lange Zunge der Spechte, die Flügel der Fledermäuse 
und ähnliche Charaktere. 

Auf Nichtgebrauch sind dagegen die sog. rudimentären Or¬ 
gane zurückzuführen: die verkümmerten Augen der Blindmaus 
und des Olms, die zahnlosen Kiefer der Wale, der Mangel der 
Extremitäten bei den Schlangen, die verkümmerten Flügel bei 
gewissen Insekten. 

Für die Pflanzen gelten nicht ganz dieselben Prinzipien, hier 
wird die Umwandlung hauptsächlich durch die direkte Einwirkung 
der Agentien der Aussenwelt, Nahrung, Klima etc. bedingt. 

Auch den Menschen hat Lamarck zum Gegenstand seiner 
Betrachtungen gemacht. Der Mensch ist mit Rücksicht auf die 
Organisation unstreitig ein Tier, und zwar ein Wirbeltier. Unter 
den Wirbeltieren gehört er zu den Säugetieren, unter diesen steht 
er den Affen am nächsten. In bezug auf die Affen schrieb La¬ 
marck schon 1802: „Anstatt alle auf demselben Niveau der Voll¬ 
kommenheit zu stehen, zeigen sie untereinander ebensogrosse und 
sogar noch grössere Verschiedenheiten als die sind, die zwischen 
den vollkommensten von ihnen und dem Menschen existieren“. 

Er hat aber doch nicht ganz den Mut, die Abstammung des 
Menschen vom Affen offen und ohne Rückhalt zu behaupten, son¬ 
dern schlägt einen indirekten Weg ein, um seine Ansichten zu 
verraten. Er zeigt, welche Modifikationen eine der höchst ent¬ 
wickelten Affenarten erleiden muss, wenn sie zu gewissen neuen 
Gewohnheiten gezwungen wird. Durch Aufgeben des Baumlebens 
und Kletterns erfolgt Angewöhnung an den aufrechten Gang, da¬ 
durch Veränderung der Gliedmassen, die Hinterfüsse verlieren die 
Entgegenstellbarkeit der grossen Zehe, die Unterschenkel erhalten 
Waden, die Hände erlangen immer grössere Kunstfertigkeit und 
werden zur Konstruktion von Waffen geschickt. Infolge des Ge¬ 
brauchs künstlicher Waffen wird das Gebiss nicht mehr als Waffe 
benutzt, die Kiefer werden kleiner und treten zurück, die Zähne 
bekommen senkrechte Stellung. Mit Hülfe der Waffen erlangt 



136 


der Affe die Oberherrschaft über alle anderen Tiere und breitet 
sich über die ganze Erde aus. Zur Aufrechterhaltung seiner 
Herrschaft vereinigt er sich zu grösseren Gesellschaften, die Be¬ 
ziehungen der Individuen werden verwickelter, die Sprache ent¬ 
steht, und das Gehirn bildet sich immer vollkommener aus. 

„Dies“, meint Lamarck, „würden die Reflexionen sein, die 
man anstellen könnte, wenn der hier als die fragliche Rasse be¬ 
trachtete Mensch sich von den Tieren nur durch seine Organi¬ 
sationscharaktere unterscheiden würde und wenn sein Ursprung 
nicht von dem ihrigen verschieden wäre.“ 

Irgend welche Anklänge an Darwins Selektionstheorie finden 
wir bei Lamarck nicht. Doch würdigt er die Bedeutung des 
Kampfes ums Dasein in folgenden Sätzen: 

„Die Tiere fressen einander auf, ausgenommen die, die von 
Pflanzen leben. Man weiss, dass die stärkeren und besser be¬ 
waffneten die schwächeren auffressen und dass die grossen Arten 
die kleineren verschlingen. Die Vermehrung der kleinen Tier¬ 
arten ist so bedeutend, dass diese kleinen Arten den anderen 
den Platz auf dem Erdboden versperren würden, wenn die Natur 
nicht ihrer verschwenderischen Vermehrung eine Grenze gesetzt 
hätte. Weil sie aber einer Menge anderer Tiere zur Beute dienen, 
weil ihre Lebensdauer sehr beschränkt ist und das Sinken der 
Temperatur sie zu Grunde richtet, so hält sich ihre Menge immer 
in den richtigen Grössenverhältnissen für die Erhaltung ihrer und 
für die der andern Arten. Was die grossem und stärkern Tiere 
anlangt, so würden sie notwendig vorherrschend werden und der 
Erhaltung vieler andern Arten schaden, wenn ihre Vermehrung 
zu grosse Dimensionen erlangen könnte. Aber ihre Arten ver¬ 
schlingen sich gegenseitig, sie vermehren sich nur langsam, was 
auch in dieser Beziehung das nötige Gleichgewicht aufrecht erhält.“ 

Fragen wir nun zum Schluss nach dem Einfluss der Lamarck- 
schen Lehren auf Darwin, so ist dieser ein rein negativer zu 
nennen. In Briefen an Lyell und Hooker stellt Darwin Lamarcks 
Philosophie zoologique als ein wertloses Buch hin, das ihm nicht 
den geringsten Nutzen brachte. Er sucht Lyell zu überzeugen, 
dass die Entstehung der Arten nicht als blosse Modifikation der 
Lamarckschcn Lehre aufzufassen sei. 

„Ich glaube“, schreibt er an den grossen Geologen, „diese 
Art den Fall darzustellen, ist für die Annahme der Ansicht sehr 



137 


schädlich, da sie meine Ansicht in enge Verbindung mit einem 
Buche bringt, das ich nach zweimaligem überlegten Lesen für 
ein erbärmliches Buch halte und aus dem ich nichts gewonnen 
habe.“ Und an Hooker berichtet er: „Lamarck ist die einzige 
Ausnahme, deren ich mich erinnern kann, eines sorgfältigen Be¬ 
schreibers von Spezies, der nicht an beständige Spezies geglaubt 
hat; er hat aber mit seinem widersinnigen, wenn schon geschickten 
Buche dem Gegenstand geschadet“. 

Wenn Darwin sich so ausspricht, so dürfen wir cs Lamarcks 
Zeitgenossen nicht allzusehr verübeln, wenn sie seine Tat nicht 
zu würdigen wussten und wenn Cuvier in seiner Gedenkrede in 
bezug auf Lamarcks Lehre schreiben konnte: „Ein System, das 
sich auf solche Grundlagen stützt, kann wohl die Einbildungs¬ 
kraft eines Dichters amüsieren, ein Metaphysiker kann daraus 
eine ganze Reihe neuer Systeme ableiten, aber es kann auch 
nicht einen Augenblick die Prüfung jemandes aushalten, der eine 
Hand, ein Eingeweide, ja nur eine Feder zergliedert hat“. 

Darwin und Cuvier, die beiden grössten Biologen des neun¬ 
zehnten Jahrhunders, begegnen sich hier in ihrem Urteil über 
Lamarcks Werk, obwohl sie von entgegengesetzten Gesichts¬ 
punkten ausgingen, sie vermissten beide bei Lamarck das, worauf 
sie ihre Ideen auf bauten: Tatsachen! 





Beilage an Band 16 der VerhandL d. Watunrlaa. Yereina Karlsruhe 




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