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Full text of "Verhandlungen des Naturwissenschaftlichen Vereins in Karlsruhe 26.1912-13 - 27.1920-21 extrahiert"

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Verhandlungen 

des 

Naturwissenschaftlichen 

Vereins 

IN KARLSRUHE 

26. Band. 1912-1916. 

Mit 34 Textfiguren, 1 Bildnis und 1 Karte. 


KARLSRUHE i. B. 

Druck der G. Braunschen Hofbuohdruckerei 
1916. 




Inhaltsverzeichnis. 


Jahresbericht. Seite 

Tätigkeitsbericht. V* 

Fest des 50jährigen Bestehens.VI* 

Tätigkeit der Erdbebenkoni in ission.VI* 

Rechnungsführung ..VII* 

Bewegung unter den Mitgliedern.IX* 

Vorstand. X* 

Mitglieder-Verzeichnis.XI* 


Sitzungsberichte. 

749. Sitzung am 25. Oktober 1912.. 1* 

G, Fuchs: Die wissenschaftlichen Ergebnisse einer Sommerreise ins 
Engadin. 1912. 

750. Sitzung am 8. November 1912. 2* 

Lehmann: Die Sichtbarmachung der Molekularstruklur von Kristallen 
durch Röntgenstrahlen. 

751. Sitzung am 22. November 1912. 6* 


Vorsitzender: 70. Geburtstag von Dr. Ammon. 

Auerbach: Unsere Pelze, ihre Lieferanten und deren Verbreitung. 


752. Sitzung am 6. Dezember 1912. 7* 

Naumann: Das Rettungswesen im Beigbau. 

753. Sitzung am 20. Dezemher 1912. 8+ 

Haid: Gezeiten und physikalische Konstitution des Erdkörpers. 

754. Sitzung am 17. Januar 1913. 8* 

Sieveking: Die elektromagnetische Lichttheorie. 


Schuster • Beziehungen der 18,6jährigen Periode der Mondknoten, 
des sog. Mondzirkels, zu einer Periode der Sonnenflecken und 
einer solchen der Kometenbewegung. 

755. Sitzung am 31. Januar 1913. 12* 

Engter , Ebler (Heidelberg), Skita: Bericht über den 8. internatio¬ 
nalen Kongreß für angewandte Chemie in New-York. 

756. Sitzung am 14. Februar 1913. 12* 

Reis: Die neuere Entwicklung unserer Kenntnis der Flammen. 

Verhandlungen. 26. Band. 


II 



















Inhaltsverzeichnis. 


IV* 

757. Sitzung am 28. Februar 1913. 13* 

Wilser: I. Der kluge Hund von Mannheim. 

„ : 2. Die Steinzeitvölker von Schweden und Dänemark. 

„ .• 3. Der Fund vormenschlicher Gebeine in Piitdown in Sussex. 

758. Sitzung am 25. April 1913. 16" 

Klein: Dendrologischc Merkwürdigkeiten von Karlsruhe und dessen 
nächster Umgebung. 

759. Sitzung am 9. Mai 1913 . .. 16* 

Vogt: Geometrie und Ökonomie der Bienenzelle. 

Hausrath: Über die Schüttekrankheit der Kiefer. 

Lehmann: Künstliche Edelsteine. 

760. Sitzung am 23. Mai 1913. 18* 

Fajans: Das periodische System im Lichte der radioaktiven Um¬ 
wandlungen. 

761. Sitzung am 6. Juni 1913. 19* 

Mitglieder-Hauptversammlung. 

Beil: Zur Geschichte der Karlsruher Gartenanlagen. 

762. Sitzung am 20. Juni 1913. 19* 

Hausrath: Drahtlose Telegraphie. 

763. Sitzung am 18. Juli 1913. 21* 

Engler: Die neue Thermalquelle bei Krozingen. 

, t .* Vorlage von Manganknollen aus der Umgebung von Baden- 
Baden. 

May: Neuere Arbeiten über Goethe als Naturforscher. 

764. Sitzung am 24. Oktober 1913. 23* 

Wilser: Neues vom klugen Hund von Mannheim und von den eng¬ 
lischen Knochenfunden. 

Schachenmeier: Über den direkten Naclnveis von Elektronen und 
Atomen. 

765. Sitzung am 7. November 1913. 28* 

Lehmann: Die Umwandlung elektrischer Energie in mechanische 
Arbeit. 

766. Sitzung am 21. November 1913. 30* 

Lehmann: Alte und neue Luftpumpen und die Tezla'sche Dampf¬ 
turbine. 

767. Sitzung am 5. Dezember 1913. 33* 

Kupp: Weingärung und Weinkrankheiten. 

768. Sitzung am 19. Dezember 1913. 33* 

Auerbach: Bericht über meine Tiefsec-Expedition in den Atlantischen 
Ozean mit dem Motorschiff »Armauer Hansenc. 

769. Sitzung am 6. Februar 1914. 33* 

G. Fuchs: Parasitische und andere Nematoden bei Borkenkäfern und 
bei Hylobius abietis L., sowie einige andere Parasiten und deren 
Einwirkung auf die Biologie dieser Käfer. 
















Inhaltsverzeichnis. 


V* 


770. Sitzung am 20. Februar 1914.. . . 35* 

P. Mayer; Kreiselwirkungen: Kreiselkompaß und Einschienenbahn. 

771. Sitzung am 6. März 1914. 36* 

Festsitzung zur Feier des 50 jährigen Bestehens des Vereins. 

Lehmann: Festvortrag. 

772. Sitzung am 1. Mai 1914. 39* 

Paulcke: Wanderungen in Nordamerika, insbesondere im Yellowstone. 

773. Sitzung am 15. Mai 1914. 39* 

Sieveking: Die wissenschaftlichen Grundlagen des Flugwesens. 

774. Sitzung am 12. Juni 1914.39* 

Lembke: Experimentelles und 

Fajans: Theoretisches über die verschiedenen Atomgewichte des 
radioaktiv entstandenen und des gewöhnlichen Bleies. 

775. Sitzung am 19. Juni 1914. 39* 

Bürgin: Über Stereophotogrammetrie und ihre Anwendung bei topo¬ 
graphischen Aufnahmen. 

776. Sitzung am 3. Juli 1914. 40* 

M itglieder* Hauptversammlung. 

Schwarzmann: Goldwäschen im Rhein. 

777. Sitzung am 25. November 1914.42* 

Lehmann: Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer. 

778. Sitzung am 11. Dezember 1914.45* 

fVilser: Über die neuesten Fossilmenschenfunde in Deutschland. 

„ .* Der Mannheimer kluge Hund und seine Familie. 

Teichmülter: Ein neuer Leitungsdraht. 

Schultheiß: Hörbarkeit des Kanonendonners. 

77 9 - Sitzung am 22. Januar 1915. 48* 

Askenasy: Allgemeines zur Stickstoff frage. 

780. Sitzung am 19. Februar 1915. 49* 

Thieme: Funkentelegraphie. 

781. Sitzung am 5. März 1915. 50* 

Lehmann: Zum 70. Geburtstag von W. C. von Röntgen. 

782. Sitzung am 12. Mai 1915.53* 

Dinessen: Unsere Flotte (Großkampfschiffe, Torpedo- und Untersee¬ 
boote). 

783. Sitzung am 17. Dezember 1915 . 53* 

Lehmann: Neuere Ergebnisse bezüglich der Struktur kristallinischer 
Flüssigkeiten. 

784. Sitzung am 20. Januar 1916.55* 

Schnebel: Die Anwendung von Detektoren und Verstärkungsröhren 
in der drahtlosen Telegraphie. 


II* 


















VI* Inhaltsverzeichnis. 

785. Sitzung am 11. Februar 1916. 55* 

Mitglieder-Hauptversammlung. 

Rehbock: Die Hochwasserkatastrophe vom 14. Januar 1916 in Nord¬ 
holland. 

786. Sitzung am 14. Februar 1916.. . . . 58* 

Lum?ner: Die Verflüssigung der Kohle und die Herstellung der 
Sonnentemperatur. 

Abhandlungen. 

O. Lehmann: Feier des 50jährigen Bestehens des Naturwissenschaftlichen Vereins 
und des 25jährigen Jubiläums der Hertz’schen Entdeckungen. (Mit 

22 Textfiguren und I Bildnis). I 

M. Auerbach: Bericht über die Expedition des ~ Armauer Hansen*. (Mit 10 Text¬ 
figuren und I Karte). 3 

Fr. Gautier: Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe auf Grundlage lang¬ 
jähriger Beobachtungen. (Mit 2 Textfiguren). 55 

O. Lehmann: Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer. 83 

„ », •' Zum 70. Geburtstag von W. C. von Röntgen.105 

,, ,, .• Nullpunktsenergie und Gravitation. 130 











Jahresbericht. 


Infolge des Kriegsausbruches, der auch den neu gewählten 
Schriftleiter der Vereinsverhandlungen zu den Fahnen rief, war 
es nicht möglich, der bisherigen Übung entsprechend, den vor¬ 
liegenden 26. Band, der teilweise schon im Druck war, im Jahr 
1914 erscheinen zu lassen. Um die Drucklegung nicht länger zu 
verzögern, hat im Frühjahr 1916 der Vorstand den bisherigen 
Schriftleiter beauftragt, sie wieder zu besorgen. Der vorliegende 
Band enthält zugleich die Tätigkeitsberichte über die Vereins¬ 
jahre 1912/13, 1913/14 und 1914/16. 

Die in den Sitzungen gehaltenen Vorträge sind aus den 
Sitzungsberichten und aus dem Inhaltsverzeichnis zu ersehen. 
Das bisherige Versammlungslokal mußte aufgegeben werden, da 
das Haus der Gesellschaft Museum, in dem es sich befand, einem 
durchgreifenden Umbau unterzogen wurde. Die Vorträge wurden 
vom Winter 1912/13 an meist in Hörsälen der Technischen Hoch¬ 
schule oder im sog. Konkordienzimmer des Moninger abgehalten. 

Mehrfach wurden die Vereinsmitglieder zu Vorträgen in be¬ 
freundeten Vereinen, vom Karlsruher Bezirksverein Deutscher 
Ingenieure, dem Bad. Architekten- und Ingenieurverein, der Ab¬ 
teilung Karlsruhe der Deutschen Kolonialgesellschaft und dem 
Alpenverein eingeladen. Die Städtebauausstellung, die im De¬ 
zember 1913 im kleinen Festhallensaal stattgefunden hat, ist den 
Vereinsmitgliedern durch Herrn Regierungsbaumeister Langen 
erklärt worden. 

Die Bücherei des Vereins war bisher in einem vom Senat 
der Technischen Hochschule zur Verfügung gestellten Raum 
untergebracht; da ihre Benützung erschwert und da auch ihre 
Verwaltung mit Schwierigkeiten verknüpft war, so mußte vor 
allem, um sie den Vereinsmitgliedern leichter zugänglich zu 
machen, eine andere Aufstellung angestrebt werden. Mit Geneh- 



VIII* 


Jahresbericht. 


migung des Großh. Ministeriums des Kultus und des Unterrichtes 
und des Senates der Technischen Hochschule hat die Bibliothek¬ 
verwaltung der Hochschule im Frühjahr 1914 die Büchersamm¬ 
lung des Vereins übernommen und sich zugleich in dankenswerter 
Weise bereit erklärt, die Registrierung und Einordnung der Ein¬ 
läufe zu besorgen. 

Im März 1914 konnte der Verein das Fest seines 50-jährigen 
Bestehens in der Aula der Technischen Hochschule begehen 
worüber im Bericht über die 771. Sitzung näheres mitgeteilt ist. 
Eine große Anzahl von brieflich und in Telegrammen zum Aus¬ 
druck gebrachten Glückwünschen von Akademien und wissen¬ 
schaftlichen Vereinen des In- und Auslandes gab ein erfreuliches 
Zeugnis der Wertschätzung und Anerkennung der Tätigkeit des 
Vereins. 


Tätigkeit der Erdbebenkommission. 

Nach Vollendung des Erweiterungsbaues und Aufstellung 
eines neuen Registrierapparates im Dezember 1912 war die seis¬ 
mische Station Durlach nahezu ununterbrochen bis zum Ausbruch 
des Krieges in Tätigkeit. Leider entstanden jedoch von Anfang 
August 1914 ab durch die Heranziehung des Bedienungsperso¬ 
nals zum Heeresdienst Unregelmäßigkeiten im Betrieb der Station, 
so daß für Durlach keine lückenlose Registrierungen während des 
Krieges erhalten werden konnten. 

Im Sommer 1914 wurden in Durlach zwei neue Mainka’sche 
bifilare Kegelpendel mit einer stationären Masse von 2000 kg 
aufgestellt. Wie zu erwarten traten nach Aufstellung der beiden 
Instrumente auf die Beobachtungspfeiler große Verlagerungen 
ein. Erst seit dem großen italienischen Beben vom 13. Januar 
1915, welches beide Komponenten gut aufzeichneten, sind die 
Ergebnisse befriedigend. Die zur vollständigen Einrichtung der 
Station notwendige Anschaffung und Aufstellung eines Vertikal¬ 
seismographen ist durch den Aushruch des Krieges auf ungewisse 
Zeit verschoben worden. Eine eingehendere Beschreibung der 
neuen Seismographen und der Einrichtung der Station muß daher 
einem späteren Bericht Vorbehalten bleiben. 

Die seismische Station Freiburg war fast ohne Unterbrechung 
bis August 1915 in Betrieb und lieferte ein vorzügliches Beob- 
achtungsmatcrial. Von genanntem Zeitpunkt ab mußte die Station 



Jahresbericht. 


IX- 


jedoch vollständig stillgelegt werden, da der die Station besorgende 
Institutsdiener an der Freiburger Universität zum Heeresdienst 
herangezogen wurde und ein geeigneter Ersatz nicht zu be¬ 
schaffen war. 

In dem gesamten Zeitdienst traten keine wesentliche Ände¬ 
rungen ein. Die in den Stationen aufgestellten Uhren wurden 
wie bisher allwöchentlich auf telegraphischem Weg mit der 
Normaluhr des Geodätischen Instituts in Karlsruhe verglichen. 

Die Bearbeitung des Beobachtungsmaterials für die Defor¬ 
mationsuntersuchungen wurde auch in den Jahren 1913 und 1914 
fortgesetzt; seit Kriegsbeginn mußte dieselbe unterbleiben. 

Wertvolle Dienste leistete der kleine Mainka’sche Seismograph 
im geodätischen Institut der Technischen Hochschule, welcher be¬ 
ständig im Betriebe war und eine Reihe sehr schöner Seismo- 
gramme lieferte. Bei der Bearbeitung der großen mitteleuropä¬ 
ischen Beben vom 16. November 1911 und 20. Juli 1913 durch 
das Zentralbureau der internationalen seismologischen Assoziation 
konnten die Ergebnisse von Karlsruhe, Durlach und Freiburg 
mehrfach Verwendung finden. 


Rechnungsführung 

1912/13- 

Einnahmen. 


Kassenvorrat.M. 2370.13 

Mitgliederbeiträge.» 1 524.— 

Beitrag des Ministeriums des Kultus 

und des Unterrichts.» 300.— 

Verkaufte Vereinszeitschriften ... » 117.60 

Zinsen aus Wertpapieren . . . . » 1 061.50 

Zinsen aus Konto-Korrent .... » 60.89 

- M. 


5 434- 12 


Ausgaben. 

Lokalmiete, Steuern, Drucksachen, 

Porto.M. 842.20 

Verhandlungen und Sonderdrucke . » 2529.31 

An Arnold-Stiftung.» 100.— 

- M. 3 471 -51 


Kassenrest am 30. Juni 1913 


M. 1962.61 








X* 


Jahresbericht. 


Bestand der Handkasse . . . 

M. 

I 22 .ÖI 



Guthaben bei der Bad. Bank . . 

» 

1 840.— 




M. 

I 962.61 



Das Vermögen hat am 30. Juni 1913 betragen: 



in Wertpapieren. 

M. 

22 600.— 



in bar. 

* 

I 962.61 

M. 

24 562.61 

am 11. Juni 1912. 

• • 

. . . 


24970.13 

mithin Abnahme . . 

M. 

407-52 

1913/14. 





Einnahmen. 




Kassenvorrat. 

M. 

I 962.6l 



Mitgliederbeiträge. 

Regelmäßiger Beitrag d. Ministeriums 

» 

1 524.- - 



des Kultus u. des Unterrichts . . 

» 

300.— 



Verkaufte Schriften. 

y> 

IO.5O 



Zinsen aus Wertpapieren . . . . 

» 

540-50 



Zinsen aus Konto-Korrent . . . . 


35-20 

M. 

4 372.S1 

Ausgaben. 




Steuern, Drucksachen, Porto . . . 

M. 

855 -I 7 



Verhandlungen. 

— 

1 619.73 

M. 

2 474.90 

Kassenrest am 8. Juni 1914 . . . 

. 

. . . 

M. 

1897.91 

Bestand der Handkasse . . . 

M. 

77.01 



Guthaben bei der Beui. Bank . . 

» 

1 820.90 




m 7 

1 897.91 



Das Vermögen hat am 8. Juni 1914 

betragen: 



in Wertpapieren. 

M. 

22 ÖOO. — 



in bar . 

'> 

1897.91 

M. 





24497.91 

am 30. Juni 1913. 

• • 

. . . 

y> 

24 562.6 I 


mithin Abnahme . . M. 


64.70 











Jahresbericht. XI* 


1 9 1 4 / 1 5 - 
Einnahmen. 


Kassenvorrat. 

M. 

O 

r- 

O 

CO 



Mitgliederbeiträge. 

Beitrag des Ministeriums des Kultus 

y> 

I 278.— 



und des Unterrichts für 1914 . . 


600.— 



Ausgeloste Wertpapiere. 

Beitrag des Ministeriums des Kultus 


200.— 



und des Unterrichts für 1915 . . 

» 

ÖOO.— 



Zinsen aus Wertpapieren . . . . 


> 193 — 



Zinsen aus Konto-Korrent . . . . 


* 6,5.05 

M. 





5 933-96 

Ausgaben. 




Steuern, Drucksachen, Porto . . . 

M. 

277.21 

M. 





277.2 1 

Kassenrest am 10. Dezember 1915 . 


. . . 

M. 

5656.75 

Bestand der Handkasse . . . 

M. 

12 i -75 



Guthaben bei der Bad. Bank . . 


5 535 -— 




M. 

5 656.75 



Das Vermögen hat am 10. Dezember 

1915 

betragen: 



in Wertpapieren. 

M. 

'« 345-05 



in bar. 

7 ) 

5 656.75 

M. 

24 001.80 

am 8. Juni 1914. 


. . . 

£ 

24497.91 

mithin Abnahme . . 

M. 

496.1 I 


Bisher war es Übung, die Wertpapiere zu ihrem Nennwert 
aufzunehmen. Bei der Ausrechnung des Vereinsvermögens auf 
den 10. Dezember 1 q 15 sind die Wertpapiere erstmals mit ihrem 
Kurswert eingesetzt worden. 


Bewegung unter den Mitgliedern. 

Durch den Tod hat der Verein im Jahr 1912/13 verloren 
die Herren: Prof. Asal, Oberst Fiebig, prakt. Arzt Netz, Kauf¬ 
mann Renz, Dr. Steude, Forstrat Thilo, Geh. Hofrat Treutlein; 
im Jahr 1913/14 die Herren: Prof. Grashof u. Ingenieur de Millas 








XII 


Jahresbericht. 


und bis zum Schluß des Vereinsjahres 1914/16 die Herren: 
Dr. Ammon, Dr. Berberich, Exzellenz Minister Dr. Böhm, 
Bibliotheksdirektor Brodmann, Geheimerat Hart, Graf von Hennin, 
Geh. Oberpostrat Heß, Prof. Dr. Käst, Maschineninspektor Leis 
(gefallen auf dem Feld der Ehre), Geh. Oberforstrat Mayerhöffer, 
Privatmann Meeß, Oberst Röder v. Diersburg, Apotheker Schoch 
und Prof. Dr. Sieveking. 

Neu eingetreten sind 1912/13 die Herren: Dr. Fajans, 
Dr. Franzen, Prof. Dr. Götz, Dr. König, Assistent Lautenschläger, 
Dipl.-Ing. Müller, Dr. Reis, Prof. Richter, Assistent Dr. Schachen¬ 
meier, Prof. Dr. Schilling, Dipt.-Ing. Schmidt, Prof. Dr. Ubbelohde, 
Dr. Wundt; 1913/14 die Herren: E. Diemer, Direktor Döderlein, 
Dr. Eisenlohr, Hauptmann von Göler, Betriebschemiker Mikuschka, 
Frl. de Millas, Topograph Dr. Müller, Stabsveterinär Dr. Pätz, 
Corpsstabsveterinär Scholtz, Kammersänger Staudigl, Privatdozent 
Dr. Wömle; 1914/16 die Herren: Prof. A. Kistner und Haupt¬ 
lehrer Schnebel in Ziegelhausen. 

Ausgetreten sind, meist infolge von Wegzug, im Vereins¬ 
jahr 1912/13 die Herren: Oberst Bußler, Dr. Frankenstein, 
Apotheker Ganzloser, Bankdirektor van der Kors, Oberveterinär 
Krack, Oberleutnant Pleger, Prof. Dr. Staudinger, Dr. Sternberg 
und Dr. Wolfke; 1913/14 die Herren: Oberamtsrichter Bartning, 
Landgerichtsrat Benckiser, Forstrat Fels, Privatdozent Dr. Hallo, 
Privatdozent Dr. Just, Prof. Karle, Oberreallehrer Knauer, Ingen. 
Mandelbaum, Privatdozent Dr. Mohrmann, Geh. Hofrat Nüßlin, 
Ingenieur Öhmichen, Architekt Peter, Kaufmann Sachs, Dipl.- 
Ing. Schumann, Prof. Dr. Skita, Bergrat Thürach, Privatdozent 
Dr. Vogt; 1914/16 die Herren: Zahnarzt Förderer, Obermaschinen¬ 
inspektor Joos, Fürst von Kotschoubey, Diplomingenieur v. Pahlen. 

Am Schluß des Vereinsjahres 1914/16 haben dem Verein 
226 Mitglieder angehört. 


Vorstand. 

Der Vorstand hat am Schluß des Vereinsjahres 1915/16 
bestanden aus den Herren: 

1. Geh. Hofrat Dr. Lehmann, als Vorsitzender, 

2. Geheimerat Dr. Bunte, als dessen Stellvertreter, 

3. Hofrat Dr. Doll, 



Jahresbericht. 


XIII* 


4. Geh. Hofrat Dr. Klein, 

5. Prof. Dr. Paulcke, als Schriftleiter, 

6. Prof. Dr. Schultheiß, als Schriftführer u. Bibliothekar, 

7. Dr. Spuler, als Rechner. 

In der Mitglieder-Hauptversammlung vom 11. Februar 1916 
wurde noch Herr Bankdirektor Gau hinzugewählt und ihm das 
Amt des Rechners übertragen. 


M itglieder-Verzeichnis 

(nach dem Stand am I. März 1916). 

A. Ehrenvorsitzender: 

Geheimerat Dr. K. En gl er, Exzellenz. 

B. Ehrenmitglied: 

Geheimerat Dr. E. Wagner, Exzellenz. 

C. Korrespondierendes Mitglied: 

R. Temple, Schriftsteller in Budapest. 

D. Mitglieder.* 

Acker, Dr., Chemiker (1910). 

Alberti, Dr., Augenarzt (1902). 

Arnold, Prof. Dr. Em., Laboratoriumsvorstand an der chemisch- 
techn. Prüfungs- und Versuchsanstalt der Techn. Hochschule 

(1903)- 

Askenasy, Prof. Dr. P., Privatdozent für technische Elektro¬ 
chemie an der Techn. Hochschule (1909). 

Auerbach, Prof. Dr., Kustos für Zoologie am Großh. Naturalien¬ 
kabinett und Privatdozent an der Techn. Hochschule (1903). 
Babo, Ferd., Freiherr von, Oberbaurat (1902). 

Babo, Dr. Hugo, Freiherr von, Exzellenz, Vorstand des Großh. 

Geheimen Kabinetts (1910). 

Babo, Dr. Ludw., Freiherr von, prakt. Arzt (1906). 

Bartning, Dr. Hans, Regierungsrat (1908). 

Battlehner, Dr. Th., Bezirksassistenzarzt (1898). 

Baumann, Dr., prakt. Arzt in München (1906). 

Beck, Dr., Prof, von, Direktor des Städt. Krankenhauses (1906). 


Die beigefügten Zahlen bedeuten das Jahr der Aufnahme. 



XIV* 


Jahiesbericht. 


Be hm, O., Mechaniker (1889). 

Benckiser, Dr. A., Geh. Hofrat, prakt. Arzt (1890). 

Benoit, G., Geh. Hofrat, Professor des Maschinenbaues an der 
Technischen Hochschule (1902). 

Beutler, J., Maschineninspektor (1907). 

Bezold, Alb. von, Hauptmann (1908). 

Bittmann, Dr. K., Oberregierungsrat, Vorstand des Gewerbe¬ 
aufsichtsamts (1906). 

Bodman, H„ Freih. von und zu, Exzellenz, Minister des Innern (1907). 
Bongartz, Dr. A., prakt. Arzt (1896). 

Br an, Dr. Fr., Verlagsbuchhändler (1907). 

Brauer, E., Geh. Hofrat, Professor der theoretischen Maschinen¬ 
lehre an der Techn. Hochschule (1893). 

Bredig, Dr. Georg, Professor der physik. Chemie und Elektro¬ 
chemie an der Technischen Hochschule (1911). 

Brian, Dr. E., Medizinalrat (1896). 

Buchmüller, Dr., prakt. Arzt (1905). 

Bunte, Dr. H., Geheimerat, Professor der chemischen Techno¬ 
logie an der Techn. Hochschule (1888). 

Burger, Realschuldi rektor (1911). 

Bürgin, Dr. J., Obergeometer an der Techn. Hochschule (1894). 
Buri, Theod., Professor an der Realschule in Mannheim (1903). 
Carl, Dr. Siegfr., Städt. Obertierarzt (1901). 

Clauß, Dr. H. W., prakt. Arzt (1898). 

Deimling, Fr., Privatmann (1904). 

Di eckhoff, Dr. E., a. o. Professor der Chemie an der Techn. 

Hochschule (1880). 

Diemer, Erw., Privatmann (1913). 

Dinner, Dr. H., Professor am Realgymnasium (1904). 

Doll, Dr. K., Geh. Hofrat, prakt. Arzt (1890). 

Dö d er lei n ,Dr.-Ing., Direktor der Maschinenbau-Gesellschaft(i913). 
Doll, G., Medizinalrat (1875). 

Dolletschek, Ed., Ingenieur (1877). 

Dörr. J„ Professor an der Realschule (189,5). 

Dreßler, Dr., Geh. Ilofrat, prakt. Arzt (1910). 

Dünckel, W., Chemiker (1909). 

Eberle, Dr. G., Medizinalrat, Bezirksarzt (1904). 

Eisendecher, K. von, Exzellenz, K. preuß. Gesandter (1906). 
Eisenlohr, Dr., prakt. Arzt (1914). 



Jahresbericht. 


XV* 


Eitel, Dr. K. H., Privatmann und Stadtrat (1897). 

Eitner, Prof. Dr. P., Vorstand der chemisch-technischen Prüfungs¬ 
und Versuchsanstalt (1901). 

Elsas, M., Kaufmann (1906). 

En gl er, Dr. K., Exzellenz, Professor der Chemie an der Techn. 

Hochschule und Direktor des chemischen Instituts (1876). 
Ens, K., Oberforstrat (1908). 

Eppenich, H., Zivilingenieur (;902). 

Fajans, Dr. Kas., Privatdozent der Chemie an der Techn. Hoch¬ 
schule (1912). 

Fischbach, Dr. E., prakt. Arzt (1895). 

Fischer, Otto, Hoflieferant (1901). 

P'öhlisch, Dr. E., Regierungsrat, Fabrikinspektor (1900). 
Franzen, Dr. Hartw., a. o. Professor der Chemie an der Techn. 

Hochschule (1912). 

Freydorf, Rud. von, Major (1908). 

Fuchs, Dr. Gilbert, Privatdozent für Zoologie an der Techn. 
Hochschule (1910). 

Fuchs, Dr. Rud., Oberbaurat (1904). 

Galette, Arn., Bankdirektor (1904). 

Gau, E., Bankdirektor (1905). 

Genter, Dr. Karl, prakt. Arzt (1902). 

Gierke, Prof. Dr. Edg. von, Vorstand der Prosektur und des 
pathol. - bakteriologischen Instituts des städtischen Kranken¬ 
hauses (1909). 

Glöckner, E., Exzellenz, Präsident der Oberrechnungskammer 
(1878). 

Goedecker, E., Ingenieur in Frankfurt (1899). 

Göler, Eberhard, Freiherr von, Hauptmann (1914). 

Götz, Prof. Dr. Paul (1912). 

Gräbener, L., Hofgartendirektor (1880). 

Gräfenhan, Dr. P., Professor am Kadettenhaus (1897). 
Graßmann, R„ Geh. Hofrat, Professor des Maschinenbaues an 
der Technischen Hochschule (1904). 

Gretsch, Eug., Oberforstrat (1903) 

Grund, Jul., Fabrikant (1904). 

Gutmann, Dr. K., Medizinalrat, prakt. Arzt (1894). 

Gut sch, Dr. L., Medizinalrat, Spezialarzt für Chirurgie (1893). 
Hafner, Dr. Fr., Oberregierungsrat im Ministerium des Innern (1886). 



XVI 


Jahresbericht. 


Haid, Dr. M., Geh. Hofrat, Professor der Geodäsie an der Techn. 
Hochschule (1882). 

Hammer, Dr. Bernh., Oberstabsarzt (igo8). 

Händel, Wilh., Rechtsanwalt (1905). 

Hauser, Dr. W., Obermedizinalrat (1898). 

Hausrath, Dr. H., Professor der Forstwissenschaft an der Techn. 
Hochschule (1897). 

Heintze, Dr. W., Geh. Legationsrat (1901). 

Hel big, Dr. M., a. o. Professor für Bodenkunde an der Techn. 
Hochschule (1903). 

Helbing, Dr. P., prakt. Arzt (1896). 

Hellpach, Prof. Dr. W., Nervenarzt, Privatdozent an der Techn. 
Hochschule (1906). 

Hemberger, H., Oberbauinspektor in Bruchsal (1904). 
Henglein, Dr. Mart., Privatdozent für Mineralogie a. d. Techn. 
Hochschule (1910). 

Henning, Dr.-Ing. Th., Kommerzienrat (1896). 

Hoffmann, Dr. H., Medizinalrat, prakt. Arzt (1881). 
Hoffmann, K., Major a. D. (1897). 

Holderer, Dr.J.,Geh. Regierungsrat, Oberamtmann in Kehl (1905). 
Holz mann, A., Regierungsrat im Ministerium des Kultus und 
Unterrichts (1893). 

Homburger, Dr. Th., prakt. Arzt (1899). 

Höpfner, Friedr. jun., Kaufmann (1907). 

Huber, Dr. Ernst, prakt. Arzt (1910). 

Hutt, J., Zahnarzt (1904). 

Jahraus, W., Buchhändler in Straßburg (1899). 

Ihm, Dr. E., Frauenarzt (1907). 

Jourdan, Dr. J., prakt. Arzt (1894). 

Kaiser, Dr. F., Medizinalrat (1889). 

Katz, Dr., Augenarzt (1905). 

Kistner, A., Professor am Gymnasium (1916). 

Klein, Dr. L., Geh. Hofrat, Professor der Botanik an der Techn. 
Hochschule (1895). 

Klein, L., I. Assistent an der chemisch-technischen Prüfungs¬ 
und Versuchsanstalt (1897). 

Kneucker, A„ Hauptlehrer (1902). 

Knittel, Dr. A., Buclidruckereibcsitzer (1902). 

Knittel, Dr. R., Verlagsbuchhändler (1895). 



Jahresbericht. 


XVII 


Köhler, Eug., Oberbauinspektor (1910). 

Köhler, Alb., Forstmeister in Bruchsal (1903). 

Kohlhepp, Fr., Veterinärrat (1886). 

König, Dr.-Ing. Ad., Privatdozent der Chemie an der Techn. 
Hochschule (1912). 

Krems, Dr. K.. Geheimerat, Direktor des Wasser- und Straßen¬ 
baues (1907). 

Kreßmann, A. Th., Major a. D. (1875). 

Kronstein, Dr. A., Chemiker (1896). 

Krumm, Dr. F., Medizinalrat, Spezialarzt für Chirurgie (1897). 
Kunkel, K., Schulkommissär in Mannheim (1902). 

Kux, Dr. H., Chemiker (1899). 

Lang, Dr. A., Professor am Realgymnasium (1897). 
Lautenschläger, Dr.-Ing., Apotheker, Assistent am Cheni. Institut 
der Techn. Hochschule (1913). 

Lay, Dr. Aug., Oberreallehrer (1903). 

Lehmann, Dr. O., Geh. Hofrat, Professor der Physik an der 
Techn. Hochschule (1890). 

Leutz, H., Professor am Realgymnasium (1896). 

Levinger, Dr. F., prakt. Arzt (1895). 

Loös, H., Rechtsanwalt (1908). 

Lorenz, Dr.-Ing. W., Kommerzienrat (1879). 

Massinger, R., Professor an der Oberrealschule (1894). 

Mayer, Paul, Prof, am Realgymnasium (1904). 

Mayer, Rud., Photograph (1893). 

Merkel, Dr. E., Reallehrer (1911). 

Merton, Gutsbesitzer, Rittnerthaus bei Durlach (1908). 
Mikuschka, Viktor, Betriebschemiker in Durlach (1914). 
Millas-de-Urech, Frau Anna, Locarno (1913). 

Molitor, Dr. E., prakt. Arzt (1894). 

Müller, Dr. Eb., Laboratoriumsvorstand der chem.-techn. Prü- 
fungs- und Versuchsanstalt (1900). 

Müller, Dr. H., Dipl.-Ing. (1913). 

Müller, Dr. L., Medizinalrat, prakt. Arzt (1896). 

Müller, Dr. U., Professor der Forstwissenschaft an der Techn. 

Hochschule (1893). 

Muth, Dr., Oppenheim (1902). 

Näher, R., Oberbaurat (1893). 

Naumann, Er., Bergrat (1904). 



XVIII* 


Jahresbeiicht. 


Nesselhauf, R., Oberbauinspektor in Tiengen (1906). 
Neumann, Dr. M., prakt. Arzt (1901). 

Nied, Professor am Lehrerseminar II (1910). 

Nopper, Herrn., Professor am Mädchengymnasium (1910). 
Oechelhaeuser, Dr. A. von. Geh. Hofrat, Professor der Kunst¬ 
geschichte an der Techn. Hochschule (1898). 

Oppenheimer, Sal., Rechtsanwalt (1907). 

Ordenstein, H., Hofrat, Direktor des Konservatoriums (1903). 
Paravicini, Dr. R., Regierungsrat, Hilfsarbeiter im Ministerium 
des Innern (1903). 

Pätz, Dr., Stabsveterinär (1913). 

Paulcke, W., Professor der Mineralogie und Geologie an der 
Techn. Hochschule (1905). 

Pauli, Dr. H., prakt. Arzt (1898). 

Pertz, Dr. Art., Spezialarzt für Chirurgie (1908). 

Pezoldt, O., Buchhändler (1903). 

Pfützner, H., Geh. Hofrat, Prof, für Heizungs- und Lüftungs¬ 
anlagen an der Techn. Hochschule (1908). 

Racknitz, Freiherr von, Major (1910). 

Rebmann, E., Geh. Hofrat, Direktor des Realgymnasiums (1902). 
Rehbock, Th., Oberbaurat, Professor des Wasserbaues an der 
Techn. Hochschule (1900). 

Reichard, Fr., Stadtbaurat a. D. (1892). 

Reinach, M., Geh. Finanzrat (1907). 

Reinfurth, Th., Schulkommissär (1903). 

R eis, Dr. Alfr., Privatdozent der Chemie an der Techn. Hoch¬ 
schule (1912). 

Resch, Dr. A., prakt. Arzt (1888). 

Richter, Dr. Rud., Professor (1913). 

Richter, Prof. Dr. M., Fabrikdirektor (1903). 

Riehrn. Ph., Verbandsdirektor (1903). 

Riffel, Dr. A., prakt. Arzt, a. o. Professor für Hygiene an der 
Techn. I lochschule (1 870). 

Risse, Dr. II., prakt. Arzt (1899). 

Roller, Prof. Dr., wiss. Hilfsarbeiter am Münzkabinet (1911). 
Rösch, Dr. Friedr., Direktor der Turnlehrerbildungsanstalt (1908). 
Rosen borg, Dr. M., prakt. Arzt (1898). 

Roth, Dr. K., prakt. Arzt (1897). 



Jahresbericht. 


XIX 


Rupp, G., Professor und Regierungsrat, Vorstand der Großh. 
Lebensmittelprüfungsstation (1899). 

Sandei, Dr. K., Chemiker (1909). 

Sanden, Konr. von, Oberst a. D. (1908). 

Schachenmeier, Dr., Assistent der Physik an der Technischen 
Hochschule (1913). 

Scheele, Apotheker (1908). 

Schellenberg, R., Geh. Finanzrat, Ministerialdirektor im Finanz¬ 
ministerium (1899). 

Scheurer, K., Hofmechaniker und Optiker (1877). 

Schiller, Dr. Arn., prakt. Arzt (1909). 

Schilling, Dr. Karl, Professor (1913). 

Schleiermacher, Dr. A., Geh. Hofrat, Professor der theoretischen 
Physik an der Techn. Hochschule (1881). 

Sch midie, W., Direktor der Oberrealschule in Konstanz (1908). 

Schmidt, Emil, Ingenieur (1912). 

Schmidt, Fr., Professor der wissenschaftlichen Photographie an 
der Techn. Hochschule (1892). 

Schmidt, W., Vorsteher des Pädagogiums (1910). 

Schnebel, Ludw., Lehrer in Ziegelhausen (1915). 

Scholtz, K., Corpsstabsveterinär (1905). 

Schultheiß, Professor Dr. Ch., Großh. Meteorolog und Dozent 
an der Techn. Hochschule (1886). 

Schwab, Dr. Th., prakt. Arzt (1905). 

Schwaiger, Professor Dr.-Ing. Anton, a. o. Professor der Elektro¬ 
technik (1911). 

Schwarzmann, Professor Dr. M., Privatdozent für Mineralogie 
an der techn. Hochschule und Vorstand der mineral.-geolog. 
Abteilung des Naturalienkabinettes (1901). 

Schwörer, V., Geh. Oberregierungsrat, Ministerialrat im Mini¬ 
sterium des Kultus und Unterrichts (1912). 

Siefert, X., Geh. Oberforstrat, Professor der Forstwissenschaft 
an der Techn. Hochschule (1895). 

Sprenger, A. E„ Geh. Oberregierungsrat (1878). 

Spuler, Dr. A., a. o. Professor der Anatomie in Erlangen (1897). 

Spuler, Dr. R., Augenarzt (1903). 

Stark, F., Professor an der Oberrealschule (1895). 

Staudigl, Jos., Kammersänger (1913). 

Steiner, Dr. A., prakt. Arzt (1896). 



XX- 


Jahresbericht. 


Stein köpf, Prof. Dr. W„ Privatdozent für Chemie an der Techn. 
Hochschule (1909). 

Stöbe, Prof, an der Realschule in Bretten (1909t 
Stoll, Dr. Herrn., Oberförster in Forbach (1902). 

Ströbe, Dr. F., Privatmann (1905). 

Stutz, Ludw., Großh. Obervermessungsinspektor (1905). 

Teichmüller, Dr. J., a. o. Professor der Elektrotechnik an der 
Techn. Hochschule (1899). 

Thoma, Dr., Professor in Ettlingen (1911). 

Tolle, M., Hofrat, Privatdozent für Maschinenbau an der Techn. 
Hochschule (1906). 

Troß, Dr. O., Hofrat, prakt. Arzt (1893). 

Türk, W., Dipl.-Ing. (1909). 

Ubbelohde, Dr. Leo, a. o. Prof, der Chemie an der Technischen 
Hochschule (1912). 

Vogel, Dr. Jul., Chemiker (1904). 

Volz, H., Professor an der Akademie der bildenden Künste (1892). 
Wagner, Dr. E., Exzellenz, Konservator der Altertümer (1864). 
Wagner, G., Privatmann in Achern (1876). 

Wagner, Leop., Prokurist (1899). 

Wild, Dr. Lehramtspraktikant (1912). 

Williard, A., Baurat a. D. und Stadtrat (1895). 

Wilser, Dr. L., Privatgelehrter in Heidelberg (1881). 

Wimmer, Dr. Em., Forstamtmann, a. o. Prof, an der Techn. 
Hochschule (1904). 

Wohnlich, Dr. Em., Assistent an der Lebensmittelprüfungsstation 
(1909). 

Wörnle, Dr., Privatdozent des Maschinenbaues an der Techn, 
Hochschule (1914}. 

Wunderlich, Dr. H., Hofrat, prakt. Arzt (1896). 

Wundt, Dr. Emil, Chemiker (1912). 

Zartmann, Dr. F., Privatmann (1899). 

Zepf, Kas., Professor an der Baugewerkschule (1912). 

Ziegler, A., Geh. Hofrat (1903). 

Ziegler, Dr. V., prakt. Arzt (1899). 


Schriftleitung: Prof. Dr. Schultheiss. 



Sitzungsberichte. 

(Autoren-Referate.) 


749. Sitzung am 25. Oktober 1912. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 46 Mitglieder. 

Herr Privatdozent Dr. G. Fuchs hielt einen Vortrag über 
»Die wissenschaftlichen Ergebnisse einer Sommerreise 
ins Engadin 1912«. 

Vortragender schildert erst die geographischen, orographischen 
und kurz die geologischen Verhältnisse des Engadin, erörtert 
sodann seine klimatischen Besonderheiten, die es mit dem Wallis 
gemein hat, deren Gesamtwirkung insbesondere in dem hohen 
Hinaufsteigen der Wald- und Baumgrenze bis zu 2200 ja 2400 Meter 
über dem Meer zum Ausdruck komme. Dies Ineinanderwirken 
der geschilderten Verhältnisse bedinge besondere floristische und 
faunistischeErscheinungen. Eine der merkwürdigen Erscheinungen, 
die das Engadin in der Schweiz noch mit dem Wallis gemein 
habe und sich besonders durch die klimatischen Besonderheiten 
erklären lasse, seien die immer wieder auftretenden Massen¬ 
vermehrungen des grauen Lärchenwicklers, der auch im Sommer 
1912 wieder in starker Vermehrung aufgetreten sei und mit dem 
Wind auch die hohen Bergwände mit Höhen von über 3000 Meter 
überfliege, und sich so in andere Täler verbreite. 

Des weiteren schildert Vortragender das Vorkommen einer 
großen Anzahl von Spechtringelbäumen um St. Jon bei Schuls 
und erläutert, wie es komme, daß der Specht manche Bäume, hier 
nur Föhren, ringele, daß anzunehmen sei, daß die Spechte, vor¬ 
nehmlich der große Buntspecht, die Bäume mit ringelnden Hieben 
bedecke, um deren Saft zu lecken und dies im Frühjahr zur 
Brunstzeit. 


Verhandlungen. 26. Band. 


I 



Sitzungsberichte. 


2* 


Sodann trägt Vortragender noch die Ergebnisse seiner 
Forschungen über die dort lebenden Borkenkäfer vor. Er beschreibt 
zu dem Zweck erst die Waldverhältnisse um Schuls (1200 Meter) 
und um Scarl (1814 Meter) und stellt fest, daß die Käfer aus der 
Gattung Ips, welche die Lärche und die, welche die Arve bewohnen, 
verschiedenen Arten angehören, trotz der Ansicht von Professor 
Keller aus Zürich, der beide in einer Art vereinigt hatte. Außer¬ 
dem wird von der Auffindung einer neuen Art an der Fichte 
dort berichtet. Vortragender zeigt sodann eine Anzahl Lichtbilder 
aus dortiger Gegend, welche teils Spechtringelbäume darstellen, 
teils Waldbilder, teils Bilder der Gegend und Hochgebirgsauf- 
nahmen. 

Herr Professor Paulcke ergänzte die Ausführungen des 
Vortragenden noch dadurch, daß er eine Erklärung für den in 
das Bergeil am Malajopaß erfolgenden Steilabsturz gab und 
Herr Professor Schultheiß erläuterte die eigentümliche Trocken¬ 
heit des Engadins und den Malajawind, der entgegengesetzt zum 
Verhalten der Lokalwinde in anderen Alpentälem untertag tal¬ 
abwärts anstatt aufwärts weht und der seine Entstehung der starken 
Auflockerung der Luft in dem heißen Bergeil verdankt. 


750. Sitzung am 8. November 1912. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hof rat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 200 Mitglieder. 

Herr Geh. Hofrat Dr. O. Lehmann hielt einen Experimental- 
Vortrag über »Die Sichtbarmachung der Molekular¬ 
struktur von Kristallen durch Röntgenstrahlen«. 

Wieder hat die Physik einen sehr wesentlichen Fortschritt 
zu verzeichnen! Herrn M. Laue in München (jetzt Zürich) ist 
geglückt, den Aufbau klar durchsichtiger Kristalle aus gleich¬ 
artigen regelmäßig zusammen gelagerten winzigen Partikelchen 
(Molekülen), deren Durchmesser nur etwa 1 j lo eines Milliontel 
Millimeters beträgt, gewissermaßen direkt zur Anschauung zu 
bringen mit Hilfe hindurchgesandter Röntgenstrahlen. 

Zur Annahme einer solchen inneren Struktur auch der voll¬ 
kommensten, wasserklaren Kristalle werden wir genötigt durch 
deren physikalisches Verhalten, doch fällt nicht nur dem Laien, 
sondern auch denjenigen, der sich eingehend mit Physik befaßt 



Sitzungsberichte. 


3* 

hat, schwer, an diese völlig unsichtbare Struktur zu glauben, trotz 
aller Gründe, die dafür sprechen, denn nur das, was wir unmittel¬ 
bar sehen können, pflegt völlig überzeugend zu wirken. 

Es gibt etwa ein Viertelhundert strenger Beweise dafür, daß 
ein Kilogramm eines Körpers etwa 640/M Quadrillionen Moleküle 
enthalten muß, wenn M dessen Molekulargewicht ist, d. h. die Zahl, 
welche maßgebend dafür ist, in welchem Gewichtsverhältnis der 
Stoff sich mit andern chemisch verbindet. Nichtsdestoweniger 
spricht der vorsichtige Physiker immer nur von einer Molekular¬ 
hypothese, und sucht dieser Hypothese auszuweichen, wo immer 
nur möglich. Viel sympathischer wäre ihm, er könnte alle Stoffe, 
so wie sie uns unmittelbar erscheinen, als durchaus zusammen¬ 
hängende Medien ohne Poren (d. h. intermolekulare leere Zwischen¬ 
räume) betrachten, doch muß er sich auch sagen, daß, wenn die 
Moleküle wirklich existieren, es verfehlt wäre, auf jener Annahme 
zu beharren; denn auch sie ist nur eine Hypothese und ihr Wert 
ist praktisch sehr gering einzuschätzen, denn sie ermöglicht ihm 
häufig nicht einmal die einfache Beschreibung der natürlichen 
Vorgänge, geschweige denn die Lösung seiner eigentlichen Auf¬ 
gabe, die Vorausberechnung des Verhaltens der Stoffe in solcher 
Weise, wie sie der Techniker gebraucht, um darnach seine Ma¬ 
schinen und Anlagen aller Art so bauen zu können, daß sie sicher 
das leisten, was wir von ihnen erwarten. 

Genau wie die Berechnung der Leistung einer Maschine 
genaueste Kenntnis aller ihrer Teile zur Voraussetzung hat, so 
bedarf auch der Physiker notwendig genauer Kenntnis der Mole¬ 
kularstruktur der Körper, vor allem der Kristalle, denn weitaus 
die meisten festen Körper sind nur Aggregate winziger, erst bei 
starken mikroskopischen Vergrößerungen sichtbarer Kriställchen. 

Sollte es nun nicht möglich sein, mittelst des Mikroskops 
auch die Moleküle zur Anschauung zu bringen? Einen Stoff 
1000 mal vergrößert zu sehen, ist mit Hilfe eines modernen 
Mikroskops eine Kleinigkeit; aber ein Molekül hat bei solcher 
Vergrößerung erst einen scheinbaren Durchmesser von einem 
zehntausendstel Millimeter, es entzieht sich somit noch immer 
völlig der Wahrnehmung. Vielleicht wäre aber die Technik im¬ 
stande, noch stärker vergrößernde Mikroskope zu bauen. Tat¬ 
sächlich stellt die Erfindung des Ultramikroskops einen Fortschritt 
in dieser Richtung dar, doch genügt es ebenfalls noch nicht, auch 


1 » 



Sitzungsberichte. 


4* 

gibt es keine richtigen Bilder und zwar aus einem eigentümlichen 
Grunde. Auch das Licht hat eine Struktur, so wenig wir davon 
unter gewöhnlichen Umständen wahrnehmen. Ein Lichtstrahl 
besteht aus abwechselnd entgegengesetzt gerichteten, in Ab¬ 
ständen von etwa einem halben Tausendstel Millimeter auf ein¬ 
ander folgenden elektrischen und magnetischen Feldern, welche 
mit einer Geschwindigkeit von 300 Millionen Metern pro Sekunde 
im Raume forteilen und nur da, wo sie auf Moleküle auftreffen 
eine Störung erleiden, die uns das Vorhandensein dieser Moleküle, 
d. h. eben der Körper, die sie bilden, erkennen läßt. 

Richtige Bilder der Körper können wir nur erhalten, wenn 
diese bedeutend größer sind als die genannten Abstände der 
elektrischen Felder im Lichtstrahl, die sog. Wellenlänge des 
Lichtes. Für gewöhnliche mikroskopische Objekte trifft dies 
noch zu, keineswegs aber für die Moleküle, die bedeutend kleiner 
sind als Lichtwellen. Die moderne Physik hat nun eine Menge 
anderer Strahlenarten zutage gefördert, wie z. B. die Kathoden¬ 
strahlen, welche die Moleküle, auf die sie auftreffen, zum Leuchten 
bringen können. Würden wir beispielsweise Luft mit einer guten 
Luftpumpe so stark verdünnen, daß der mittlere Abstand der 
Moleküle etwa ein Zentimeter wäre, so müßte sie beim Durch¬ 
gang eines Bündels Kathodenstrahlen im finstern Raum aus 
winzigen leuchtenden Sternchen zu bestehen scheinen, in durch¬ 
schnittlichen Abständen von je einem Zentimeter. Tatsächlich 
trifft dies nicht zu, denn die Luftmoleküle bewegen sich immer¬ 
fort und zwar mit einer Schnelligkeit, die der Geschwindigkeit 
von Flintenkugeln gleich kommt. Sowenig wir eine solche im 
Fluge sehen können, können wir die besprochenen leuchtenden 
Luftmoleküle einzeln wahrnehmen, wir sehen nur einen phos- 
phorisch leuchtenden Nebel. 

Mehr Erfolg könnte scheinbar die Verwendung von Röntgen¬ 
strahlen haben. Sie sind den Lichtstrahlen verwandt und haben 
den neuesten Untersuchungen von A. Sommerfeld in München 
zufolge, soweit überhaupt von einer Wellennatur gesprochen 
werden kann, eine Wellenlänge, die noch kleiner ist als der 
Durchmesser eines Moleküls. Im Prinzip wäre also wohl mög¬ 
lich, damit vergrößerte Bilder von Molekülen herzustellen; aber 
gerade wegen ihrer kleinen Wellenlänge erleiden sie beim Durch¬ 
gang durch Linsen keine Brechung, wie sie zur Erzeugung eines 



Sitzungsberichte. 


5* 

vergrößerten Bildes notwendig ist, die ganze Optik des Mikroskops 
versagt, selbst wenn wir Linsen aus dem das Licht am stärksten 
brechenden Medium, aus Diamant, verwenden. Die Bilder würden 
auch, eben weil die Wellenlänge nicht wesentlich kleiner ist als 
der Molekular-Durchmesser, durchaus unrichtig werden, minde¬ 
stens so unrichtig wie die des Ultramikroskops, da sich in solchem 
Falle sogenannte Beugungserscheinungen einstellen. 

Versucht man z. B. mittelst eines dünnen Lichtstrahls ein 
Schattenbild einer Nähnadel auf einem Schirm zu erzeugen, so 
findet man häufig gerade in der Mitte des Schattens, wo derselbe 
am dunkelsten sein sollte, eine helle Linie. Die Lichtstrahlen 
gehen nicht geradlinig an den Rändern der Nadel vorbei, sondern 
werden gebeugt. Verwendet man ein ganzes Gitter aus parallelen, 
gleichweit abstehenden Nadeln, so erhält man zu beiden Seiten 
des durch das durchgehende Licht veranlaßten Lichtflecks auf 
dem Schirm noch ziemlich weit abgebeugte seitliche Lichtflecke. 
Bei zwei rechtwinklig gekreuzten Gittern sind es Lichtpunkte 
und bei mehreren parallel hintereinandergestellten Kreuzgittern 
bleiben nur vereinzelte, dafür aber um so hellere Punkte übrig, die 
annähernd in Kreisringen um den zentralen Lichtfleck gruppiert 
sind. Aus ihrer Entfernung läßt sich der Abstand der Gitter¬ 
kreuzpunkte berechnen, falls er nicht durch direkte Messung be¬ 
kannt ist, und eine Probe ergibt leicht die Richtigkeit der 
Rechnung. Die Molekularstruktur eines Kristalls stellt nun ein 
ähnliches, nur feineres Raumgitter dar und somit ist zu erwarten, 
beim Durchgang eines Bündels Röntgenstrahlen werde eine ähn¬ 
liche Beugungserscheinung auftreten, obschon die Kristall platte 
völlig klar und durchsichtig ist und keine Anzeichen das Vor¬ 
handensein einer Gitterstruktur ohne weiteres ahnen läßt. 

Das ist nun die wichtige Entdeckung von Laue und seiner 
Mitarbeiter, daß die vermutete Beugungserscheinung tatsächlich 
auftritt und daß die daraus berechneten Abstände der Moleküle 
(*/} Milliontel Millimeter) sich in vollkommener Übereinstimmung 
befinden mit dem früheren Ergebnis, daß auf i Kilogramm 
640/M Quadrillionen Moleküle gehen, falls M das Molekulargewicht 
der betreffenden Substanz bedeutet, woraus man z. B. weiter 
schließen kann, daß ein Wasserstoffmolekül i 1 / 2 Tausendstel von 
einem Quadrilliontel Kilogramm wiegt, ein Molekül Sauerstoff 
i6mal soviel. 



6* 


Sitzungsberichte. 


751. Sitzung am 22. November 1912 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 59 Mitglieder. 

Vor Eintritt in die Tagesordnung beglückwünschte der Vor¬ 
sitzende den anwesenden Herrn Dr. Otto Ammon mit freund¬ 
lichen Worten zu seinem bevorstehenden 70. Geburtstag, wobei 
er erwähnte, daß der Jubilar, der als Vereinsmitglied beinahe in 
keiner Sitzung fehle, für seinen Eifer, sowie seine Beteiligung an 
den Erörterungen und seine regelmäßigen Sitzungsberichte in der 
Presse die Anerkennung des Vereins verdiene, was allgemeine 
Zustimmung fand. Für die warmen Wünsche ferneren Wohl¬ 
ergehens dankte der Gefeierte mit kurzen herzlichen Worten: In 
dieser zwanglosen Weise nehme er die Beglückwünschung gerne 
entgegen; er habe nur nicht gewollt, daß sich seinetwegen jemand 
besonders bemühe. 

Herr Professor Dr. Auerbach hielt sodann einen Vortrag 
über das Thema: »Unsere Pelze, ihre Lieferanten und 
deren Verbreitung.« 

Nach einer kurzen historischen Einleitung, aus der hervor¬ 
ging, daß das Kürschnergewerbe eines der ältesten auf der Erde 
ist, schilderte der Vortragende in knapper Form den Bau der 
Haut und der Haare, sowie den Einfluß, den Umgebung und 
Klima auf die Ausbildung des Haarkleides haben. Durch diese 
Schilderung lernen wir verstehen, warum die kostbarsten Pelze 
und die geschätzten Pelztiere fast ausschließlich in den kalten 
Regionen Vorkommen, wenn uns auch die heißen oder doch 
gemäßigten Zonen einige Pelzlieferanten stellen, wie Skunks, 
Schweifbiber (Nutria), Opossum u. a. 

Den Hauptteil des Vortrags machte die Besprechung der 
hauptsächlichsten Pelztiere und deren Verbreitung auf der Erde 
aus. An Hand eines reichen Materials, das in liebenswürdiger 
Weise von der Firma Lindenlaub zur Verfügung gestellt worden 
war, konnte der Vortragende die einzelnen Felle beschreiben, ihren 
Wert und die Zahl der jährlich durchschnittlich in den Handel 
kommenden Exemplare angeben. Eine Aufzählung der be¬ 
sprochenen Tiere kann hier natürlich nicht gegeben werden; wir 
wollen nur einige der wichtigsten hervorheben: Rotfuchs, Kreuz¬ 
fuchs, Silber- und Schwarzfuchs, Polar- und Blaufuchs; Skunks, 
Waschbär, Marder, Zobel, Nörz, Hermelin, Sealskin, Fisch- und 
Seeotter; Biber, Nutria, Chinchilla, Persianer, Breitschwanz und 



Sitzungsberichte. 


7* 

Astrachan. Ferner wurden auf die Imitation wie Seal-Bisam, 
Seal-Kanin, Zobel-Murmel usw. kurz hingewiesen und angegeben, 
wie man mit Hilfe des Mikroskopes auf den ersten Blick diese 
Nachahmungen von den echten Pelzen unterscheiden kann, selbst 
wenn nur ein einziges Haar untersucht wird. Daß in neuester 
Zeit die wertvollsten Pelztiere wie Silberfuchs, Blaufuchs, Zobel, 
Skunks u. a. vom Menschen zur Pelzgewinnung künstlich gezüchtet 
werden, wurde vom Vortragenden ebenfalls erwähnt. 

Den Schluß der Ausführungen bildeten einige Hinweise auf 
die Aufbewahrungsarten der Pelze im Sommer und die Mittel, 
dieselben vor dem Angriff der Raubinsekten, wie Motten usw. 
zu schützen. 


752. Sitzung am 6. Dezember 19x2. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 37 Mitglieder. 

Herr Bergrat Naumann trug über »Das Rettungs¬ 
wesen im Bergbau« vor. 

Der durch Lichtbilder unterstützte Vortrag nahm von der 
Unfallgefahr im Bergbau und zwar besonders von der Schlag¬ 
wettergefahr seinen Ausgang. Die verschiedenen Entstehungs¬ 
ursachen der Schlagwetterexplosionen wurden einer Betrachtung 
unterzogen, und die verhängnisvollen Wirkungen der hierbei 
gebildeten Nachschwaden besonders hervorgehoben. Die Entfer¬ 
nung der betäubten Personen aus diesen giftigen Gasen, wie sie 
auch bei Flötzbränden auftreten, neben der Beseitigung mecha¬ 
nischer Hindernisse, die den Gefährdeten den Fluchtweg ab¬ 
schneiden, wurde als eine der wichtigsten Aufgaben im bergbau¬ 
lichen Rettungsdienst bezeichnet. Als weitere Aufgabe der 
Rettungsmannschaften wurde auch die vorbeugende, verhütende 
Tätigkeit, wie beispielsweise das Setzen von Branddämmen, 
erwähnt. 

Redner behandelte weiter die Ausrüstung des Rettungsmanns, 
vor allem die verschiedenen Arten von Apparaten, die ihm den 
Aufenthalt in unatembaren Gasen gestatten: Die Schlauchapparate, 
die Behälterapparate mit flüssiger Luft, die Regenerationsapparate 
der Drägerwerke in Lübeck und der Westfalia in Gelsenkirchen, 
wie auch die Pneumatogene kamen zur Darstellung. Ferner 
wurden auch die Vorrichtungen zum Transport Betäubter (Schleif- 



8* 


Sitzungsberichte. 


bretter mit Sauerstoffapparaten) wie auch die Wiederbelebungs¬ 
apparate behandelt. Schließlich nahm die Organisation des 
Rettungswesens im Rahmen des Vortrags einen größeren Raum 
in Anspruch. Die oberschlesische Zentrale für Rettungswesen 
in Beuthen wurde besonders ausführlich besprochen, der Wert 
der Rettungsübungen eingehend gewürdigt. Mit einem Blick 
auf die Einrichtungen des Auslands und einigen Bildern amerika¬ 
nischer Rettungsübungen wurde der Vortrag geschlossen. 

753. Sitzung am 20. Dezember 1912. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend: 28 Mitglieder. 

Herr Geh. Hofrat Dr. Haid hielt einen Vortrag über: Gezei¬ 
ten und physikalische Konstitution des Erdkörpers. 

754. Sitzung am 17. Januar 1913. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 58 Mitglieder. 

Herr Professor Dr. S i e v e k i n g hielt zunächst einen Vortrag 
über die elektromagnetische Lichttheorie. Der Vortragende ent¬ 
wickelte die Grundgleichungen des elektromagnetischen Feldes und 
gab eine genaue Darstellung der modernen Anschauungen über die 
Vorgänge, die eine elektromagnetische Störung begleiten. Der Vor¬ 
trag war gedacht als eine Einleitung zu der Theorie bewegter Sy¬ 
steme. Hier reichen die Hertz-Maxwellschen Vorstellungen nicht 
mehr aus. Die quantitative Dissonanz der beobachteten Effekte mit 
der Theorie zwingt zu Modifikationen, die zuerst von H. A. Lorentz 
entwickelt wurden. Die neuere Relativitätstheorie löst einige der 
Widersprüche, doch sind in letzter Zeit schwerwiegende Argumente 
gegen diese bekannt geworden. Darüber zu sprechen, soll einem 
zweiten Vortrag Vorbehalten bleiben. 

Oberstleutnant a. D. Schuster sprach über Beziehungen der 
18.6jährigen Periode der Mondknoten, des sog. Mondzirkels, zu 
einer Periode der Sonnenflecken und einer solchen der Kometen¬ 
bewegung. 

An eine kurze Einleitung über die Sonnenflecken und ihre ver¬ 
schiedenen Perioden knüpfte er die Bemerkung: Es beständen zwar 
verschiedene Beziehungen zwischen letzteren Perioden und perio¬ 
dischen Erscheinungen auf unserer Erde, z. B. dem Erdmagnetismus 
und den Nordlichtern, doch seien diese, soweit ihm bekannt, rein sta- 



Sitzungsberichte. 


9* 

tistischer Natur. Im Lauf seiner Mondarbeiten sei er nun auf die 
im Thema benannten Beziehungen gekommen, welche, wie er be¬ 
stimmt glaube, uns Aufschluß über die Vorgänge im Welträume 
geben können. 

Nach Erklärung der komplizierten, wenig bekannten Bewegung 
der Mondbahnebene im Mondzirkel zeigte er an Mittelkurven, wie 
diese Bewegung im Lauf von 18.6 Jahren eine auffallende Vier¬ 
schwankung in den Jahresmitteln des Luftdruckes, der Temperatur, 
der Regenmenge und entsprechend im Wasserstand der Ströme, zur 
Folge habe. 

Durch den Physiker Professor Dr. J. Schneider-Darmstadt auf 
eine Arbeit von Professor P. Reis: „Die periodische Wiederkehr von 
Wassernot und Wassermangel im Zusammenhänge mit den Sonnen¬ 
flecken, den Nordlichtern und dem Erdmagnetismus“ aufmerksam 
gemacht, sei der Gedanke nahe gelegen, daß, wenn ein Zusammen¬ 
hang bestehe zwischen den auffallenden Perioden der Regenmengen 
und denen der Sonnenflecken nach P. Reis einerseits, andererseits 
aber, nach seinen Untersuchungen, mit der 18.6jährigen Periode des 
Deklinationswechsels der Mondbahnebene, daß dann auch, in An¬ 
lehnung an den bekannten Satz: Sind zwei Größen einer Dritten 
gleich, so sind sie sich selber gleich, — soweit er eben auf sinnliche 
Wahrnehmungen zutreffen könne — ein Zusammenhang zwischen 
den Perioden der Sonnenflecken und der 18.6jährigen Mondsperiode 
wahrscheinlich sein. Und ein direkter Vergleich der nach Professor 
Wolfs Relativzahlen aufgetragenen Kurve der Sonnenflecken mit 
einer, der 18.6jährigen Mondsperiode entsprechenden Wellenlinie er¬ 
gab in der Tat eine in die Augen springende Übereinstimmung bei¬ 
der Perioden vom Anfang um 1735 bis etwa 1783, dann ein Anwach¬ 
sen der Periodenlänge bei den Sonnenflecken bis zum Jahre 1810, 
eine Wiederabnahme derselben bis etwa 1833, worauf sich nochmals 
die ursprüngliche Übereinstimmung einstellt. 

Die Annahme des Vortragenden, es könnten in der Zeit von 
1783 bis 1833, vielleicht durch Interferenzwirkung anderer Wellen¬ 
systeme, zwei Fleckenperioden ausgemerzt worden sein, wurde spä¬ 
ter gestützt, als ihn ein privater Mondforscher, Apotheker Schwindt- 
Bremen, auf die von der K. K. Akademie der Wissenschaften in 
Wien veröffentlichten Arbeiten des Bürgerschuldirektors Unter- 
weger aufmerksam machte, nach welchem sich aus der Anzahl der 
in einem Jahr die Sonnennähe passierenden Kometen und dem Nei- 



Sitzungsberichte. 


IO* 

gungswinkel deren Bahnebene eine Funktion berechnen läßt, welche, 
angetragen, zwar, wie Unterweger behauptete, eine große Verwandt¬ 
schaft mit dem periodischen Gang der Sonnenflecken zeigt, aber in 
weit höherem Maß als diese die 18.6jährige Mondsperiode befolgt, 
so daß sich in der betreffenden Kurve auch die bei den Sonnenflek¬ 
ken vermißten beiden Wellen deutlich vorfinden. 

Das hierauf aus den fast einen Zeitraum von 160 Jahren um¬ 
fassende Sonnenflecken- und Kometenfunktionszahlen mit 18.6jäh¬ 
riger Periodenlänge gebildete Hauptmittel ergab dann auch in beiden 
Fällen Doppelperioden von bemerkenswerter Regelmäßigkeit. 

Weitere Kurvenbilder ließen noch ersehen, wie die Sonnen- 
flecken-Relativzahlen eine kontinuierliche Reihe von Perioden, von 
der 8.5jährigen bis zur 11 jährigen ergeben, welche von der 9.3jäh- 
rigen Periode ab an Bestimmtheit zunimmt und unmittelbar nach 
der 11 jährigen Periode erlischt. 

Die entsprechende Reihe von Mitteln aus der sog. Kometen¬ 
funktion zeigt in der 9.3jährigen Periode, also der 18*6jährigen 
Doppelperiode, die beste Rgelmäßigkeit. 

Aus der ganzen Untersuchung leitete der Vortragende folgen¬ 
des ab: Wenn der Mond, wie deutlich nachgewiesen, die verschie¬ 
densten Wellensysteme erzeugt, welche, abgesehen von denen, aus 
anderen Ursachen, sich so rein erhalten, daß sie theoretisch zu tren¬ 
nen und nachzuweisen sind, — wovon die Tatsache eine Vorstel- 
lung geben kann, daß ein starker elektrischer Wellenstoß durch das 
atmosphärische Gewirre auf tausende von Kilometern dringt und 
seine Eigenart behält, so daß er dort, eben vermöge dieser Eigenart, 
die Arbeit des Telegraphierens verrichten kann — so muß, schon 
im Hinblick auf das Energiegesetz, angenommen werden, daß auch 
die Erde auf den Mond, durch den Raum hindurch, eine Resonanz¬ 
wirkung ausübt, die natürlich einen der Schwingung fähigen Äther 
voraussetzt. Besteht aber zwischen dem Mond und der Erde ein 
solches Wechselverhältnis, so ist es zwischen allen Weltkörpern ganz 
natürlich. 

Die Übereinstimmung im Hauptmittel der Kometenfunktion 
mit der 18.6jährigen Mondperiode bedeute dann, daß die Bewegung 
der Weltkörper in ihrem periodischen Erscheinen und der Neigung 
ihrer Bahnebene, die Einwirkung eines großen Gesetzes, des der At¬ 
traktion, durch Wellenstöße verschiedener Stärke ausgeübt, verrate, 
welche Stöße diese Körper wieder nach der Sonne zurückgeben müs- 



Sitzungsberichte. 


I I* 

sen und den bildlichen Ausdruck für diese Vorgänge sehe er in den 
Sonnenflecken. 

Wenn er hier eine Ansicht vertreten hat, von welcher sich bis¬ 
her kaum ein Sterblicher hätte etwas träumen lassen, so wage er 
dies, weil er auf ganz anderem Wege ebenfalls zur Erkenntnis ge¬ 
kommen sei, daß das Wesen der Massenanziehung durch den Raum 
hindurch nur unter der Voraussetzung eines der Schwingung fähi¬ 
gen, also materiellen Äthers verständlich gemacht werden könne. 

Der Vorsitzene, Geheimer Hofrat O. Lehmann, dankte dem 
Vortragenden für seine Mitteilung und der Mühe, die er sich zur 
Feststellung der vermuteten Beziehungen gegeben hat, mit Hinweis 
darauf, daß das Aufsuchen von Zusammenhängen auf empirischem 
Wege, wie das Beispiel Keplers beweist, dessen Erforschung der 
Planetenbewegung zur Erkenntnis des Gravitationsgesetzes führte, 
für die Wissenschaft von großem Werte sein kann. Wie gerade die¬ 
ses Beispiel zeigt, erlangen die Resultate aber eben erst dann wirk¬ 
lichen Wert, wenn auf Grund der so erhaltenen Hypothesen Voraus¬ 
berechnung der Erscheinungen möglich wird; denn diese eben ist 
die eigentliche Aufgabe der Wissenschaft. Man muß sich auch hü¬ 
ten, aus quantitativen Beziehungen sofort auf kausale Zusammen¬ 
hänge zu schließen. So kann man z. B. aus den verschiedenartigsten 
Erscheinungen, die in gar keiner inneren Beziehung stehen, wie in 
einem der letzten Vorträge gezeigt wurde, mathematische Ausdrücke 
für die Molekülzahl pro Kilogramm ableiten. Indem man alle Aus¬ 
drücke einander gleich setzt, erhält man quantitative Beziehungen 
zwischen jenen Erscheinungen, denen kein direkter kausaler Zusam¬ 
menhang entspricht. Ein wesentliches Erfordernis wissenschaft¬ 
licher Behandlung ist ferner das, daß nicht Anschauungen, die die 
Wissenschaft längst als irrig verworfen hat, wie z. B. die Existenz 
mechanischer Wellen im Äther, wie sie die alte Undulationstheorie 
des Lichtes annahm, ohne Gegenbeweis und ohne Hinweis auf die 
bestehende Literatur ohne weiteres als zulässig vorausgesetzt wer¬ 
den. Ebensowenig gestattet wissenschaftliche Behandlung die Au¬ 
ßerachtlassung der neuen Forschung auf dem betreffenden Gebiet. 
Beispielsweise liegen über die Gravitation eine Menge Arbeiten aus 
letzter Zeit vor, in welchen nicht nur Hypothesen aufgestellt, sondern 
quantitativer Prüfung an den Tatsachen unterworfen werden* Solche, 
den Anforderungen der Wissenschaft entsprechende, mit großer 
Sorgfalt durchgeführte Arbeiten dürfen nicht einfach als nicht vor- 



Sitzungsberichte. 


12* 

handen betrachtet oder als unwesentlich übergangen werden. Ver¬ 
mutlich sind sie dem Herrn Vortragenden nicht bekannt geworden. 
Die kurze zur Verfügung stehende Zeit würde allerdings ein Ein¬ 
gehen auf deren Inhalt unmöglich machen. 

755. Sitzung am 31. Januar 1913. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend sehr viele Mitglieder. 

In Anwesenheit Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs be¬ 
richteten die Herren Geheimerat Dr. E n g 1 e r , Professor Dr. E b- 
1 e r (Heidelberg) und Professor Dr. S k i t a über den 8. internatio¬ 
nalen Kongreß für angewandte Chemie. 

756. Sitzung am 14. Februar 1913. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 53 Mitglieder. 

Herr Dr. Reis sprach: Über die neuere Ent wicklung 
unserer Kenntnis der Flammen. An die Untersuchung 
der Verbrennungsvorgänge, die zu Ende des 18. Jahrhunderts von 
Scheele, Priestley, Lavoisier unternommen wurde, 
knüpft sich der Beginn einer wissenschaftlichen Chemie. In Flam¬ 
men spielen sich heftige chemische Vorgänge zwischen Gasen ab, die 
gewöhnlich zu starker Erhitzung und zum Leuchten führen. Der 
chemische Vorgang ist in den üblichen Flammen die Oxydation 
brennbarer Stoffe durch elementaren Sauerstoff- Andere Flammen 
(z. B. Chlorflammen) haben keine allgemeinere Bedeutung erlangt. 
Die wichtigsten Schritte in der Erforschung der Flammen waren: 
die Messung der V erbrennungswärmen durch Berthe- 
1 o t und durch Julius Thomsen, die Einführung des Bunsen¬ 
brenners, der ein fertiges, gleichförmiges Gas-Luftgemisch der 
Verbrennung zuführt, die Ausbildung von Messungsmetho¬ 
den für hohe Temperaturen (Thermoelemente, optische 
Pyrometer) die Messung der Drucke, die bei Explosionen in ge¬ 
schlossenen Gefäßen auftreten, die Untersuchung der Unvoll- 
»tändigkeit der Verbrennung bei hohen Temperaturen. Ubei 
alle diese Fragen sind wir heute in befriedigender Weise unterrich¬ 
tet. Dagegen ist über den Mechanismus des Verbrennungsvorgan¬ 
ges und über die Geschwindigkeit seines Verlaufes nur unzureichen¬ 
des bekannt. Wichtige Beiträge zur Kenntnis dieser Fragen liefer¬ 
ten die Untersuchungen über Entzündungstemperatu- 



Sitzungsberichte. 


13* 

ren, Explösionsgrenzen (Eitner), Fortpflan¬ 
zungsgeschwindigkeit von Explosionen. Beson¬ 
ders interessant sind die Versuche, die durch Druckerhöhung 
das Gas auf die Entzündungstemperatur erwärmen. 

Sicher sind nicht alle Tatsachen aus Temperatur und Zusam¬ 
mensetzung der verbrennenden Gase abzuleiten, vielmehr herrschen 
in Flammen besondere „nicht thermische“ Einflüsse. Dar¬ 
über ist durch Habers Arbeiten über den Innenkegel der 
Bunsenflamme einiges bekannt geworden. Dieser übertrifft bei wei¬ 
tem an Leuchtkraft (Chemilumineszenz) elektrischer 
Leitfähigkeit und hoher chemischer Reaktionsge¬ 
schwindigkeit das aus ihm entströmende Gas. Die Ähnlich¬ 
keit zwischen Flammen und elektrischen Entladungen tritt in Habers 
Arbeiten sehr deutlich hervor. Die Haber sehen Methoden sind 
noch weiterer Anwendung fähig, besonders zur Lösung von Proble¬ 
men der chemischen Spektroskopie. 

757. Sitzung am 28. Februar 1913. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 34 Mitglieder. 

Herr Dr. W i 1 s e r (Heidelberg) machte verschiedene inter¬ 
essante Mitteilungen; er sprach zunächst über „Den klugen 
HundvonMannhei m“, ein Beitrag zum Verständnis der Tier¬ 
seele. Die auffallenden geistigen Fähigkeit dieses Tieres, eines 
zweijährigen Terriers, das einem Bekannten des Vortragenden ge¬ 
hört, wurden ganz zufällig, während einer Rechenstunde der Kinder, 
entdeckt. Ein besonderer Unterricht hat nicht stattgefunden; nach 
und nach hat ihm seine Herrin, die durch ein Leiden an den Rollstuhl 
gefesselt ist, immer schwierigere Aufgaben gestellt. Durch einen 
glücklichen Zufall war bei der ohne jede Voreingenommenheit und 
mit größtmöglicher Sorgfalt vorgenommenen Prüfung des Hundes 
auch Herr Krall, der Besitzer der vielbesprochenen Elberfelder 
Pferde, zugegen, dessen Mitteilungen über die ähnlichen Leistungen 
seiner eigenen Zöglinge sehr wertvoll waren. Wenn auch der Vor¬ 
tragende als Verteidiger einer von jeder Übertreibung und Einsei¬ 
tigkeit freien Entwicklungslehre von jeher der Ansicht war, daß 
sich der tierische von dem menschlichen Verstände nicht dem Wesen, 
sondern nur dem Maße nach unterscheidet, so mußte er doch, 
nach der Bekanntschaft mit dem alle Erwartungen weit übertreffen¬ 
den Hund „Rolf“ gestehen, daß er früher die Kluft zwischen Men- 



Sitzungsberichte. 


14 * 

schengeist und Tierseele für viel weiter und tiefer gehalten hatte. 
Es wurden nun einige der erstaunlichen Leistungen des klugen Tieres 
mitgeteilt, dabei aber auf das Selbstbeobachtete das größte Gewicht 
gelegt. Zur Beantwortung der Fragen dient eine von der Frau des 
Hauses in gemeinsamer Arbeit mit ihrem gelehrigen Schüler auf¬ 
gestellte Buchstabiertafel, mit einer bestimmten Zahl für jeden Buch¬ 
staben, die durch Pfotenschläge, Zehner und Einer für sich, ange¬ 
geben wird; für häufig vorkommende Wörter, wie „ja‘ und „nein“ 
sind besondere Zahlen, 2 und 3, vereinbart. Vorgesprochene Wör¬ 
ter, z. B. die Namen Krall und W i 1 s e r, gibt der Hund richtig 
wieder, wobei allerdings verwandte Laute manchmal verwechselt und 
Vokale ausgelassen werden. Geldstücke unterscheidet er mit Sicher¬ 
heit und gibt das Metall des einzelnen, sowie ihren Gesamtwert an, 
in unserem Falle 11 Mark und 11 Pfennige durch vier Pfotenschläge, 
je einen für dieZehner undEiner der Mark, je einen für die derPfen- 
nige. Allerlei Gegenstände, wie Fleischstückchen auf einem Teller, 
verschiedenfarbige Blumen in einem Strauß, werden richtig gezählt. 
Das Überraschendste aber sind die — offen gestanden unerklär¬ 
lichen — Lösungen schwieriger Rechenaufgaben, wie Quadrat- und 
Kubikwurzeln. Auf die Frage: „Was sagst du den Herrn zum Ab¬ 
schied?“ buchstabierte Rolf: ad, auf die andere, ob ihm seine neueste 
Photographie gefalle, antwortete er mit „nein“, warum nicht? 
Frau: das kluge Tier vermißt die Farbe. Daß solche Erfahrungen 
dem Seelenforscher neue Rätsel aufgeben, wird niemand bestreiten. 

Die Steinzeitvölker Schwedens und Däne¬ 
marks hat W i 1 s e r schon vor 10 Jahren besprochen in seinem 
Vortrag über „Die Rasse des schwedischen Volkes“, damals haupt¬ 
sächlich auf die nach Inhalt und Ausstattung die Bezeichnung 
„Prachtwerk“ verdienenden „Crania suecica antiqua“ von R e t z i u s 
sich stützend. Seitdem sind in Schweden neue Funde gemacht, die 
dänischen übersichtlicher zusammengestellt und besser beschrieben 
worden. (N i 1 s e n, Beiträge und Weitere Beiträge zur Anthropo¬ 
logie Dänemarks in der Steinzeit, Jahrb. 1906 und 11). Die scnwe- 
dischen Knochenfunde, aus den drei südlichen Landschaften Schonen, 
Bohuslän und Westgotland, sowie von den Inseln Öland und Gotland 
stammend, sind von Profesor F ü r s t in Lund, dem Mitarbeiter von 
R e t z i u s, in mustergültiger Weise abgebildet und beurteilt wor¬ 
den. (Zur Kraniologie der schwedischen Steinzeit, Verh. d. K. Schw. 
Ak. 49, 1). Es handelt sich um Überbleibsel von etwa 120 Men- 



Sitzungsberichte. 


sehen jeden Alters und Geschlechts, darunter 28 meßbare Schädel, 
wozu die 42 von Retz ius beschriebenen und 158 dänische kom¬ 
men. Mehr als 1 / 9 der altschwedischen Schädel haben einen Index 
von 74—76, von welcher Mitte die Zahlen nach beiden Seiten, aber 
nach oben schneller als nach unten, abfallen: die Langschädeligkeit 
springt in die Augen. Demgegenüber lassen die Schädel von den 
dänischen Eilanden (kein einziger stammt aus Jütland) eine bedeu¬ 
tend stärkere Beimengung von Rundköpfen (26, bezw. 8 v. H.) er¬ 
kennen; schlägt man aber die südlichste schwedische Landschaft, 
Schonen, zu Dänemark, so "ändert sich das Verhältnis für dieses 
kaum; ein deutliches Zeichen, von woher die rundköpfige Menschen¬ 
art (Homo brachycephalus) gekommen ist. Sehr bemerkenswert ist 
der Umstand, daß in der Eisenzeit (aus der Bronzezeit sind wegen 
der damals üblichen Leichenverbrennung nur wenige Schädel erhal¬ 
ten) die Langköpfe weit mehr überwogen, und zwar in Dänemark 
noch auffallender als in Schweden. Ich kann darin, im Gegensatz zu 
Fürst, kein Zeichen eines Rassenwechsels, einer „Veränderung“ 
der Steinzeitvölker erblicken, auch keine andere Auslese der Be¬ 
statteten, sondern erkläre mir die Tatsache so, daß in dieser Zeit, die 
in der Hauptsache ja mit der der indogermanischen Wanderungen 
zusammenfällt, die nordische Rasse (H. europaeus) wegen starker 
Vermehrung von einem wichtigen Ausdehnungsdrang ergriffen war 
und gerade durch die unablässig von ihr ausgehenden Wanderscharen 
ihr Blut reiner als sonst erhielt- In der Steinzeit sind die Rund¬ 
köpfe in Dänemark wieder viel zahlreicher als in Schweden (33 
gegen 13 v. H.). In Schonen (Hoellinge) wie auf Seeland findet sich 
der „Borreby-Typus“, hochgewachsen, aber rundköpfig, offenbar 
einer Kreuzung von H. europaeus mit brachycephalus entstammend- 
Die nordischen Anthropologen gebrauchen leider immer noch den 
durch einen Fundort näher bezeichneten Ausdruck „Typus“ statt der 
naturwissenschaftlich allein richtigen lateinischen Doppelnamen. Auch 
verschiedene Verletzungen, bezw. chirurgische Eingriffe sind fest¬ 
gestellt, so unter den dänischen Funden mehrere Trepanationen, 
unter den schwedischen ein gut geheilter Schenkelbruch, ebenso Mi߬ 
bildungen, wie ein Auswuchs des obersten Halswirbels, der eine 
falsche Gelenkfläche ins Hinterhauptsbein eingeschliffen, ein offen 
gebliebenes Kreuzbein (Spina bifida ossis sacri) und dergl. 

Die Entdeckung vormenschlicher Gebeine in 
England (bei Piltdown in Sussex) war für den Vortragenden 



Sitzungsberichte. 


l6* 

nicht überraschend, denn er hatte ja stets darauf hingewiesen, daß 
dieses ursprünglich die verbindende Brücke zwischen der nordi¬ 
schen Urheimat des Menschengeschlechts und dem europäischen Ver¬ 
breitungsgebiet des Urmenschen (H. primigenius) bildende Land 
noch bedeutsame Aufschlüsse über unsere Vorgeschichte liefern 
würde. In der Tat haben die letzten anderthalb Jahre zwei hochwich¬ 
tige derartige Funde gebracht, der von Ipswich, ein Gerippe einer 
schon höher entwickelten Menschenart (H.mediterraneus foß.), das 
aber unter dem Geschiebelehm (bouldon clav) der größten Eiszeit 
lag, und der von Piltdown, die rechte flälfte eines Unterkiefers, die 
linke eines Schädels, von so altertümlicher Bildung, daß sie nach des 
Vortragenden Ansicht nicht mehr zur entwicklungsgeschichtlich äl¬ 
testen Menschenart (H. primigenius) gehören, sondern einer euro¬ 
päischen Art der Gattung ,,Vormensch“ (Proanthropus europaeus) 
zugeschrieben werden müssen. 

An diese Vorträge schloß sich eine rege Besprechung an, die 
hauptsächlich die geistigen Eigenschaften an Tieren zum Gegenstand 
hatten. 


758. Sitzung am 25. April 1913. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hof rat Dr. Lehmann. Anwesend 49 Mitglieder. 

Im großen Hörsaal des Chemischen Insitutes der Technischen 
Hochschule hielt Herr Geh- Hofrat Dr. L. Klein einen durch zahl¬ 
reiche Lichtbilder anschaulich gemachten Vortrag über: Dendro- 
logische Merkwürdigkeiten von Karlsruhe und dessen nächster Um¬ 
gebung. 


75g. Sitzung am 9. Mai 1913. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 2" Mitglieder. 

Herr Privatdozent Dr. Vogt hielt zuerst einen Vortrag über 
„Bau und Ökonomie der B i e n e n z e 1 1 e“. Der Bau der 
Honigbiene hat von je die Phantasie der Naturfreunde, die Gedan¬ 
ken der Naturforscher und Geometer auf sich gelenkt. Dem Wunsch 
der theologischen Naturauffassung, hinter der einzelnen Er¬ 
scheinung eine zweckvolle Intelligenz zu finden, nicht der exakten 
Beobachtung entspringt im Anfang des 18. Jahrhunderts ein Mythus 
über die Genauigkeit und Zweckmäßigkeit des Bienenbaues, der noch 



Sitzungsberichte. 


17* 

heute populäre und vielfach auch wissenschaftliche Bücher beherrscht. 
Die Form der Bienenzelle wird auf Grund angeblicher Messungen 
des Astronomen Maraldi und auf Grund einer Berechnung des Ma¬ 
thematikers König für diejenige gehalten, welche bei größtem Inhalt 
die kleinste Oberfläche benutzt; die Bienen haben als Bauprinzip die 
möglichste Wachsersparnis und haben diesen Zweck in der Form der 
Zelle bestehend aus einer sechsseitigen prismatischen Säule und 
einem dem Rhombendodekaeder entnommenen pyramidalen Ab¬ 
schnitt aufs genaueste erreicht. Mit dieser Meinung, an die sich eine 
ganze Legende knüpft, räumt ein Büchlein, H. Vogt, Geometrie und 
Ökonomie der Bienenzelle, Breslau 1910, gründlich auf, das durch 
wirliche Messungen die tatsächlichen Schwankungen an den Bienen¬ 
zellen nachweist — der Winkel der Pyramidenebenen schwankt um 
20 Grad —, und zeigt, daß das Mittel nicht bei den von Maraldi 
geforderten 120 Grad, sondern bei 114 Grad liegt. Die Königsche 
Berechnung fällt hin, denn die Wanddicken sind ungleich, die Kan¬ 
ten sind verstärkt. Diejenige Zellform, welche unter Berücksichti¬ 
gung dieser Verhältnisse das meiste Wachs sparen würde, ist von der 
wirklichen Zellform noch weiter entfernt als die von Maraldi ge¬ 
wünschte, und überdies würde selbst bei Ausführung dieser Form 
die geringe .'Wachsersparnis verschwinden gegenüber dem sonst 
durch Unregelmäßigkeiten vergeudeten Wachs. Gibt man dennoch 
zu, was aus phylogenetischen Gründen wahrscheinlich erscheint, daß 
die Bienen dem Maraldischen Typus, bei dem nur Ebenenwinkel von 
120 Grad auftreten, zustreben, so erscheint es möglich, aus dem 
Grade der Genauigkeit, mit welcher der Typus erreicht wird, 
Schlüsse auf die Gesetzmäsigkeit zwischen Reiz- und Empfindungs¬ 
unterschiede der Biene zu ziehen, wie es für Tierseelen selten möglich 
sein wird. 

Darauf berichtet Herr Profesor Dr. H. Hausrath über ei¬ 
nige Versuche, die er zur Aufklärung der Schüttekrankheit 
der Kiefer ausgeführt hat. Bei dieser Krankheit vertrocknen 
die Nadeln, wobei sie sich lebhaft rot färben. In der neuesten Zeit 
war in der Literatur von dem verstorbenen Münchener Forscher 
Mayr und anderen die Ansicht vertreten worden, daß die Schütte 
immer nur durch einen Pilz — Hysterium pinastri — hervorgerufen 
wurde- Dem Vortragenden ist es gelungen, durch Einsetzen von 
Pflanzen in eine Gefrierkiste bei gleichzeitiger Steigerung der Ver¬ 
dunstung typische Schütteerscheinungen unter Ausschluß von Pilz- 


Verhandlungen. 26. Band. 


II 



Sitzungsberichte. 


18 * 

infektion zu erzielen. Damit ist erwiesen, daß es neben der viel ge¬ 
fährlicheren Pilzschütte auch eine Vertrocknungsschütte gibt, die, wie 
Ebermayer schon vor 40 Jahren ausführte, dann auftritt, wenn der 
Boden gefroren ist, die Nadeln aber durch intensive Besonnung zu 
starker Verdunstung angeregt werden. Es entsteht dann ein Mi߬ 
verhältnis zwischen Wasseraufnahme durch die Wurzeln und Ver¬ 
dunstung, infolge dessen die Nadeln vertrocknen. 

Zum Schluß berichtete Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann 
„Über künstliche Edelstein e“. Künstliche Edelsteine 
werden hauptsächlich aus reiner, aus Alaun und Ammoniak gewon¬ 
nenen Tonerde hergestellt. Das feine Pulver wird durch ein auf 
elektrischem Wege beständig geschütteltes Sieb in eine Knallgas¬ 
flamme eingeführt, in welcher die Teilchen schmelzen. Die Flamme 
ist gegen einen bleistiftdicken Tonstift gerichtet, an welchen sich die 
Tröpfchen ansetzen und zu einem einzigen Kristall vereinigen, der mit 
der Zeit immer größer wird. So erhält man farblosen Saphir. Wird 
etwas Chromoxyd zugesetzt, so entsteht roter Rubin. Gelber Saphir 
wird durch Zusatz von Nickel erhalten, blauer durch Zusatz von Ei¬ 
senoxyd und Titansäure, blauer Spinell durch Färbung mit Kobalt 
und Alexandrit mit Vanadin. Die Methode ist von Verneuil 1891 
ersonnen und wird heute vielfach angewendet, bei uns namentlich in 
Idar und Bitterfeld. Jeder Apparat liefert pro Tag einen Kristall 
im Gewicht von 1—5 Gramm (5—25 Karat), doch lassen sich auch 
solche bis 15 Gramm herstellen. Die besten sind von natürlichen 
nicht zu unterscheiden und werden zu Schmucksachen verwendet, 
die weniger schönen finden ausgedehnte Anwendung in der Uhren¬ 
industrie und Elektrotechnik. Die Preise sind bedeutend niedriger 
als die der natürlichen Steine. Im kleineren kostet das Karat (5 
Gramm) etwa 8 Mark. 


760. Sitzung am 23. Mai 1913. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 36 Mitglieder. 

Herr Privatdozent Dr. K. F a j an s hielt einen Vortrag über: 
„DasperiodischeSystemimLichtderradioaktiven 
Umwandlungen“, in dem er eine neue von ihm entwickelte 
Theorie auseinandersetzte. Den Ausgangspunkt bildet die vor Kur¬ 
zem gelungene Einreihung der radioaktiven Elemente in das perio¬ 
dische System. Es zeigte sich dabei, daß, was uns chemisch als ein 



Sitzungsberichte. 


19* 

Element erscheint, in Wirklichkeit ein Gemisch von mehreren Ele¬ 
menten darstellt, die zwar chemisch nicht zu unterscheiden sind, aber 
durch ihre radioaktiven Eigenschaften wie die Strahlung und vor 
allem die verschiedene Lebensdauer als verschiedene Individuen cha¬ 
rakterisiert werden. Da solche chemisch ähnliche Elemente ein ver¬ 
schiedenes Atomgewicht besitzen, stellt das Atomgewicht des Ge¬ 
misches einen Mittelwert vor. Es ist nun nicht unwahrscheinlich, 
daß dasselbe für alle Elemente gilt, d. h. daß auch sie Gemische von 
mehreren chemisch sehr ähnlichen Elementen mit verschiedenem 
Atomgewicht sind, so daß die Atomgewichte der gewöhnlichen Ele¬ 
mente vielleicht nur Mittelwerte darstellen. Auf Grund dieser An¬ 
nahme lassen sich viele Schwierigkeiten, die die Deutung des perio¬ 
dischen Systems bis jetzt bot, leicht überwinden. 


761. Sitzung am 6. Juni 1913. 

Mitglieder-Haupt Versammlung. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 200 Mitglieder. 

Der Schriftführer erstattete zuerst den Tätigkeitsbericht über 
das abgelaufene Vereinsjahr, danach gab der Rechner den Kassen¬ 
bericht. Nachdem beiden durch den Vorsitzenden der Dank des 
Vereins für ihre Mühewaltung ausgesprochen war, wurde ihnen Ent¬ 
lastung erteilt. 

Herr Kaufmann Beil hielt darauf einen Lichtbildervortrag über: 
,,Die Geschichte der Karlsruher Gartenanlagen“. 


762. Sitzung am 20. Juni 1913. 

Vorsitzende»: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 115 Mitglieder. 

Herr Prof. Dr. Hausrath hielt einen Vortrag über: „Draht¬ 
lose Telegraphie“. 

Der Vortragende erläuterte zuerst den physikalischen Vorgang 
im elektrischen Schwingungskreis, wobei er besonders auf den we¬ 
sentlichen Unterschied zwischen dem geschlossenen Schwingungs¬ 
kreis (Kondensatorkreis) und dem offenen (Hertzschen Oszillator 
und Resonator) hinwies. Der erstere ist geeignet, intensive elek¬ 
trische Schwingungen von schwacher Dämpfung zu erzeugen, ver¬ 
mag aber nicht elektrische Energie in den Raum auszustrahlen oder 


11» 



Sitzungsberich te. 


20 * 

aus ihm aufzunehmen, der letztere ist hierfür besonders geeignet, 
kann aber für sich allein nicht in geeigneten Schwingungszustand 
versetzt werden. Hieraus ergibt sich der Vorteil des Braunschen 
Systems, bei dem ein geschlossener Kreis als Schwingungserzeuger 
mit einem offenen, der Antenne, als Strahler verbunden („gekop¬ 
pelt“) wird, während Marconi im Anschluß an die Hertzschen La¬ 
boratoriumsversuche beide Vorgänge in der Antenne vereinigte. 

Die Kopplung zweier Kreise gibt aber zu Schwebungen Anlaß, 
indem die Energie zwischen den gekoppelten Kreisen hin- und her¬ 
pendelt und sich dabei hauptsächlich im Funken des Kondensator¬ 
kreises nutzlos verzehrt. Außerdem hat sie zur Folge, daß die An¬ 
tenne gleichzeitig zwei Wellen von verschiedener Länge aussendet. 
Die Länge dieser Wellen ändert sich mit der Stärke der Kopplung 
und wegen der scharfen Resonanz, die zwischen der Eigenschwin¬ 
gung der Empfangskreise und den durch die Wellen in ihnen erreg¬ 
ten Kräften hergestellt werden muß, um große Empfindlichkeit und 
Störungsfreiheit des Empfangssystems zu erzielen, kommt immer 
nur eine im Empfänger zur Wirkung. 

Dieser Nachteil wird durch Verwendung der sogenannten Lösch¬ 
funkenstrecken beseitigt, die in dem Moment auslöschen, wo die 
Energie zum ersten Mal aus dem Kondensatorkreis in den Antennen¬ 
kreis hinübergeschwungen ist und den ersteren dadurch abkoppeln. 
So wird ein Zurückpendeln der Energie verhindert, die nun in der 
Antenne eine einwellige, im wesentlichen nur durch die erwünschte 
Wellenaussendung gedämpfte Schwingung erzeugt. Ein weiterer 
Vorteil der Löschfunkenstrecken besteht darin, daß die in der Se¬ 
kunde übergehende Funkenzahl und damit, abgesehen von einer Ver¬ 
mehrung der Sdhwingungsenergie, die Höhe des Tons, den der Be¬ 
obachter auf der Empfangsstation vernimmt, von ca. 30 auf ca. 1000 
gesteigert werden konnte. Der charakteristische Ton, der so ent¬ 
steht, ermöglicht eine deutliche Unterscheidung selbst schwacher 
Zeichen von den durch atmosphärische Störungen bedingten Geräu¬ 
schen und eine weitere Selektion der Zeichen der korrespondierenden 
Station gegenüber gleichzeitig hörbaren fremden Stationen. Diese 
Vorteile werden besonders in dem modernen Vieltonsystem ausge¬ 
nützt, bei dem viele Töne durch eine Klaviatur erzeugt und so ver¬ 
abredete musikalische Signale gegeben werden können. 

Die Erscheinungen wurden durch Demonstrationen erläutert 
und das Wesentliche auch denjenigen, die derart komplizierte elek- 



Sitzungsberichte. 


2 1* 

trische Vorgänge nicht verstehen können, durch mechanische 
Schwingungsmodelle wenigstens im Gleichnis vorgeführt. Die Mo¬ 
delle selbst sind vom Vortragenden konstruiert und bisher noch 
nicht veröffentlicht worden. 


763. Sitzung am 18. Juli 1913. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 46 Mitglieder. 

Herr Geheimerat Dr. E n g 1 e r berichtete über die in der Nähe 
des Bahnhofs Krozingen erbohrte Thermalquelle. 
Schon im Jahr 1909 war im Elsaß in einer Tiefe von 938 Metern 
eine sehr starke, durchschnittlich 66 Grad heiße Springquelle von 
nachhaltiger Ergiebigkeit erbohrt worden. Am 26. November 1911 
sprang auch aus einem nach dem Vorschläge von Bergrat Thürach bei 
Krozingen erstellten Bohrloch bei 561 Meter Tiefe ein gewaltiger 
Wasserstrahl hervor. Man war auf eine 1,25 Meter tiefe, wahr¬ 
scheinlich mit einer großen Verwerfungsspalte kommunizierende 
Kluft gestoßen, aus welcher das Wasser durch das Bohrloch mit 
solcher Gewalt, Schlamm und Steine mit sich führend, ausgewor¬ 
fen wurde, daß die Weiterarbeit anfänglich unmöglich war. Als 
man später, um Verstopfungen zu beseitigen, weiter bohrte, brach 
bei 565 Meter Tiefe der Bohrer und alle Bemühungen, denselben 
wieder auszubringen, waren erfolglos. Trotzdem sprudelte die 
Quelle seitdem bei einer Temperatur von 40—41 Grad mit ziem¬ 
lich konstanter Ergiebigkeit von 80 Liter in der Sekunde, nachdem 
sie anfänglich allerdings schwankend war und bis über 120 Sekun¬ 
denliter lieferte, manchmal aber auch ganz nachließ. Ebenso war 
anfänglich die Temperatur einige Grad höher. Schon in einem 
früheren Bohrstadium war man bei 424 Meter Tiefe auf eine klei¬ 
nere, 31 Grad warme Quelle gestoßen, deren Wasser nach der Ana¬ 
lyse von Professor D i 11 r i c h in Heidelberg im Kilogramm 8,7 
Gramm Salze enthielt, also mehr als das Doppelte der jetzigen 
Springquelle. Die Einzelbestandteile dieser ersten Quelle waren 
in der Hauptsache gleicher Art (schwefelsaure, kohlensaure und 
Chlorsalze von Kalk, Magnesia, Natron und Kali) w r ie diejenigen, 
welche später auch Professor Ru pp in der jetzt noch sprudelnden 
Quelle gefunden hat, worüber unlängst berichtet wurde. In dem 
Wasser beider Quellen fällt der hohe Gehalt an Gips und an Kali- 



Sitzungsberichte. 


2 2* 

salzen auf; letzteres läßt auf irgend einen Zusammenhang mit dem 
neuerdings in dortiger Gegend entdeckten Kalisalzlager schließen. 

Sehr merkwürdig verhielt sich das Wasser der Quelle in bezug 
auf den Gehalt an Radium-Emanation. Während dasselbe wenige 
Tage nach Erschließung der Quelle starke Radioaktivität zeigte, ging 
diese schon nach einigen Tagen rasch zurück. Sie betrug nach Mes¬ 
sungen teils von Professor S i e v e k i n g, teils von Dr. Lauten- 
schläger am 3. Dezember 1911 über 8 Mache-Einheiten, am 
16 Dez., je nach Entnahme des Wassers, noch 4—5 Mache-Ein¬ 
heiten, am 19. Dezember nur noch 3 Mache-Einheiten, so daß ein 
völliges oder doch fast völliges Verschwinden zu befürchten war. In 
der Tat ergab eine Messung am 23. Juni d. J. so viel wie gar keinen 
Emanationsgehalt mehr. Man wird bei Neuerbohrungen von Quellen 
mit dieser Erscheinung zu rechnen haben, zumal da auch bei der in 
Donaueschingen neuerbohrten Solquelle ein ebensolches Schwinden 
der Radioaktivität beobachtet worden ist. 

Die Befürchtung, daß die Thermalquelle von Badenweiler durch 
die aus der Krozinger Quelle ausgeworfenen gewaltigen Wasser¬ 
massen in ihrer Ergiebigkeit beeinträchtigt werden könnte, hat sich 
bei genauen Kontrollbestimmungen der von der Badenweiler Therme 
gelieferten Wassermenge als unbegründet erwiesen. 

Derselbe Vortragende legte darauf noch einige sogenannte 
M a n g a n k n o 11 e n aus dem mittleren Buntsandstein der Um¬ 
gebung von Baden-Baden vor. Gegenüber einer etwas sensationell 
gehaltenen Zeitungsnachricht, wonach es sich hierbei um stark ra¬ 
dioaktives Material handle, wurde betont, daß sich bis jetzt nur zwei 
solche Knollen von der Höhe Urberg-Badener Höhe fanden, die eine 
geringe Radioaktivität erkennen lassen. Alle anderen Stücke, die 
aus verschiedenen Gegenden des Landes stammten, erwiesen sich als 
im gewöhnlichen Sinn nicht aktiv. 

Über die geologischen Verhältnisse der Krozinger Quelle machte 
Herr Bergrat T h ü r a c h noch interessante Mitteilungen. 

Herr Professor M a y besprach in einem Vortrag drei neuere 
Arbeiten über Goethe als Naturforscher: Hansen, 
„Goethes Metamorphose der Pflanzen“; Kohlbrugge, „Historisch- 
kritische Studien über Goethe als Naturforscher“ und Chamberlain, 
„Goethe, der Naturforscher“. An die kurze Inhaltsübersicht dieser 
Werke knüpfte der Vortragende kritische Betrachtungen über den 



Sitzungsberichte. 


23* 

vielumstrittenen Sinn der Pflanzenmetamorphose bei Goethe, um zu 
zeigen, daß die Akten über Goethe als Naturforscher noch lange 
nicht geschlossen sind. 


764. Sitzung am 24. Oktober 1913. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 87 Mitglieder. 

Her Dr. W i 1 s e r, Heidelberg, berichtete zunächst „N e u e s 
vom klugen Hund und von den englischen Kno¬ 
chenfunde n“. Der schon am 28. Februar besprochene Hund in 
Mannheim ist seitdem berühmt geworden und wird von Gelehrten 
des In- und Auslandes besucht. In Gesellschaft eines italienischen 
Psychologen hat ihn auch der Vortragende am 19. September wieder¬ 
gesehen und seine geistige Entwicklung, seine erstaunlichen Fort¬ 
schritte bewundert. Das Wundertier — so darf man es nennen — hat 
ein vorzügliches Gedächtnis und eine gute Beobachtungsgabe, ver¬ 
steht die menschliche Sprache, denkt und urteilt selbständig, kann 
rechnen und lesen, verfügt über einen umfangreichen Wortschatz, 
darunter auch abgeleitete Begriffe, und antwortet nicht bloß auf Fra¬ 
gen, sondern teilt auch aus eigenem Antrieb seine Gedanken und Ge¬ 
fühle mit. Zur Bekräftigung dessen wird eine Reihe z. T. amtlich 
beglaubigter Protokolle verlesen und erläutert. Bewußte oder unbe¬ 
wußte Täuschung ist ausgeschlossen; es handelt sich um Tatsachen, 
vor denen der Naturforscher sich beugen muß. Gewiß ist eine so 
hohe Begabung bei einem Tier ein höcht seltener Ausnahmefall und 
kehrt in dieser Weise vielleicht niemals wieder. Daß wir aber im all¬ 
gemeinen die geistigen Fähigkeiten der höheren Tiere etwas höher 
einschätzen müssen als bisher, zeigen z. B. die Elberfelder Pferde 
und ein anderer Zögling von Frau M- ein % jähriges Kätzchen, das, 
wenn bei guter Laune, auch leichte Rechenaufgaben löst und ein¬ 
fache Fragen beantwortet. — Wie oft in ähnlichen Fällen, ist auch 
um die im vorigen Jahre bei Piltdown in Sussex gefundenen ur- 
menschlichen oder besser vormenschlichen Gebeine ein lebhafter Ge¬ 
lehrtenstreit entbrannt. Im Gegensatz zu der früheren Zusammen¬ 
setzung und Ergänzung der Bruchstücke haben Ke i t h und Wil¬ 
liams eine andere angefertigt, bei der die Kieferbildung viel 
menschlicher und ein Schädelraum von 1500 statt nur 1000 ccm her¬ 
auskommt. Neuerdings ist jedoch am gleichen Ort noch ein kleines, 



Sitzungsberichte. 


24 * 

aber wichtiges Knochenstückchen gefunden worden, nämlich ein 
Eckzahn, der die ursprüngliche Auffassung von Smith Wood¬ 
ward zu bestätigen scheint, wie auch eine genauere Vergleichung 
und Zusammenstellung mit dem entsprechenden Schimpansenknochen 
für eine ungemein tierähnliche, noch unter der des Fundstücks 
von Mauer stehende Kiefergestalt spricht. Nach dem Entwicklungs¬ 
gesetz der Wechselbeziehung kann aber ein solcher Kiefer nur mit 
einem kleinen und engen Schädel vereinigt gewesen sein. Somit 
ist der vom Vortragenden schon seit Jahren theoretisch vorausge¬ 
setzte und in den Stammbaum des Menschengeschlechts eingezeich¬ 
nete „europäische Vormensch (Proanthropus europaeus)“ nun auch 
paläontologisch belegt. Der von dem englischen Forscher vorge¬ 
schlagene Name Eoanthropus besagt dasselbe, stellt aber unnötiger¬ 
weise eine neue Gattung auf. Noch ein anderer für die menschliche 
Vorgeschichte wichtiger Fund ist vor kurzem jenseits des Ärmel¬ 
meers bei Halling in Kent gemacht worden. Ein ziemlich wohler¬ 
haltenes und vollständiges Gerippe lag in unberührter Schicht, deren 
Alter von den Sachverständigen übereinstimmend auf 15 000 Jahre 
geschätzt wird. Dem entspricht auch Schädelbildung und Knochen¬ 
bau, die ganz neuzeitlich sind und, nach dem Urteil der Engländer, 
„einem von unseres Gleichen“ angehört haben müssen, d. h. dem 
„Lößmenschen“ (Homo mediterraneus fossilis), dem urgeschicht- 
lichen Vorgänger der noch heute in England stark vertretenen Mit¬ 
telmeerrasse. Dieser, wenn auch vielleicht auf einer tieferen Entwick¬ 
lungsstufe, gehört auch das Skelett von Ipswich an, das unter dem 
Geschiebelehm (boulder clay), einem Erzeugnis der Eiszeit, ruht 
und demnach ein viel höheres urgeschichtliches Alter haben muß- 
Daß eine verhältnismäßig so hochstehende Menschenart so früh in 
unserem Weltteil, und zwar in dessen Norden auftritt, läßt sich nur 
durch einen nördlichen Ursprung und eine nordsüdliche Ausbreitung 
unserer Gattung erklären. — Seiner schönen, schon früher vorgeleg¬ 
ten Abhandlung „Zur Kraniologie der schwedischen Steinzeit“ hat 
der Lunder Anthropologe Fürst einen wertvollen Nachtrag über 
„Trepanierte schwedische Schädel aus älterer 
Zeit“ folgen lassen. Die Schädelöffnung oder Trepanation ist die 
ältestbekannte Operation, die teils aus Aberglauben, teils wegen Ge¬ 
hirnkrankheiten oder Schädelverletzungen ausgeführt wurde und 
sich in Frankreich und Dänemark bis in die Steinzeit zurückverfol¬ 
gen läßt. Aus Schweden sind jetzt 8 der älteren Eisenzeit ange- 



Sitzungsberichte. 


25 * 

hörende Fälle bekannt, darunter 3 wegen Schädelverletzung mit 2 
Heilungen. 

Herr Dr. Schachenmeier trug sodann „U ber den di¬ 
rekten Nachweis von Atomen und Elektronen“ 
vor. Die Atomhypothese ist das Fundament unseres physikalischen 
Weltbildes. Wenn aber die Physik über die Richtigkeit derselben 
wie bei jeder anderen Hypothese Rechenschaft geben soll, durch 
Prüfung an der Erfahrung, so stößt sie auf fast unüberwindliche 
Schwierigkeiten. Alles, was sie über die Atome, ihre Anzahl, Größe, 
ihren Bewegungszustand aussagen kann, ist nur auf Umwegen in¬ 
direkt erschlossen und es haftet ihm immer etwas Hypothetisches an. 

Ein direkter Nachweis der Atome scheint deshalb endgültig 
ausgeschlossen zu sein, weil auch in dem kleinsten Stück Materie, 
das wir zu isolieren vermögen, ihre Anzahl noch so groß ist, daß wir 
niemals zur Beobachtung einzelner Atome gelangen können. Selbst 
in 1 ccm eines (einatomigen) Gases sind noch (bei o Grad und 1 
Atmosphäre Druck) 27 Trillionen Atome enthalten. 

Alle Vorgänge, welche wir an den Körpern unserer Umgebung 
beobachten können, sind daher das Resultat zahlloser Einzelwirkun¬ 
gen seitens der Atome. Wir konstatieren nur statistische Mittel¬ 
werte. Diese Mittelwerte lassen sich aber größtenteils auch unter 
der Annahme erklären, daß die Materie ein Kontinuum sei. Es 
gründet sich hierauf eine skeptische Schule, welche den Atombegriff 
als unnötig und irreführend gänzlich aus der Wissenschaft eliminie¬ 
ren wollte. 

Trotz dieser Ausichtslosigkeit, die Atomhypothese sicherer zu 
begründen, wurde dieselbe mit den neueren Entdeckungen immer 
unentbehrlicher. Es sei nur an die Erscheinungen in Crookesschen 
Röhren und an die radioaktiven Substanzen erinnert. Das Aller¬ 
merkwürdigste aber ist, daß gemäß diesen Resultaten auch die Elek¬ 
trizität atomistisch, nämlich aus Elektronen, den Elementarquanten 
der Elektrizität, aufgebaut sein muß. 

Aus dem Gesagten geht hervor, welch enorme Bedeutung den 
allerneuesten Experimenten beizulegen ist, die tatsächlich viel un¬ 
mittelbarer, als man je für möglich gehalten hatte, über die Existenz 
der Atome und Elektronen sowie über ihr Verhalten Aufschluß 
geben. 

Eine Methode, Elektronen einzeln zu studieren, beruht auf der 
Tatsache, daß ionisierte Luft stets positiv und negativ geladene 



26 * 


Sitzungsberichte. 


Teilchen (Ionen) enthält, welche gerade das elektrische Elementar¬ 
quantum tragen- Schweben nun in der Luft kleine Tröpfchen z. B. 
aus öl, so tritt immer der Fall ein, daß sich ein einzelnes oder nach 
und nach mehrere Ionen an dasselbe ansetzen. M i 11 i k a n beob¬ 
achtet ein derartiges Tröpfchen zwischen den Platten eines Konden¬ 
sators durch ein Mikroskop, indem er es von der Seite intensiv be¬ 
leuchtet. Durch abwechselndes Laden und Entladen des Konden¬ 
sators kann er dasselbe beliebig lange auf- und abwärts verfolgen 
und die eingefangenen Ionen kontrollieren. Aus der beobachteten 
Geschwindigkeit und der treibenden Kraft des Feldes läßt sich seine 
Ladung berechnen. M i 1 1 i k a n fand nun niemals Ladungen, die 
kleiner waren als das Elementarquantum, ferner größere Ladungen, 
die aber immer nur ein ganzzahliges Vielfaches des Elementarquan¬ 
tums betrugen. Gegenüber gewissen Zweifeln, die an der Existenz 
eines Elementarquantums der Elektrizität laut geworden waren, lie¬ 
fern M i 11 i k an s Versuche die zuverlässigste Stütze für die Elek¬ 
tronenhypothese. Der nach dieser Methode bestimmte Wert des Ele¬ 
mentarquantums beansprucht schon große Genauigkeit; er beträgt 
4,77.io: 10 elektrostatische Einheiten in guter Übereinstimmung mit 
den auf andere Weise gefundenen Werten. 

Die Millikansche Versuchsanordnung stellt zugleich die 
feinste Wage dar, die wir kennen. Wird schließlich der Raum zwi¬ 
schen den beiden Kondensatorplatten mit Salmiaknebel erfüllt, so 
wird jedes Nebelteilchen, das ein Ion eingefangen hat, nach einer 
der beiden Platten wandern, und man beobachtet die Entstehung 
zierlicher Dendriten. 

Für materielle Atome sind die Schwierigkeiten des direkten 
Nachweises bedeutend größer als bei Elektronen. Nur eine glück¬ 
liche Entdeckung, nämlich die der radioaktiven Substanzen, gab 
uns hierzu brauchbare Hilfsmittel an die Hand. Radioaktive Prä¬ 
parate senden Strahlen aus, welche man in drei verschiedene Klas¬ 
sen einordnet, die a-, ß- und y-Strahlen. Die a-Strahlen sind erwie¬ 
senermaßen Helium-Atome, welche beim Zerfall der Atome der ra¬ 
dioaktiven Substanz ausgeschleudert werden. /ß-Strahlen sind aus¬ 
geschleuderte negative Elektronen. Was nun diese Strahlen so ge¬ 
eignet macht für unseren Zweck des direkten Nachweises materieller 
Atome, ist ihre ungeheuere Geschwindigkeit. Das Heliumatom eines 
a-Strahles wird mit einer Geschwindigkeit von 20000 km pro 
Sekunde ausgeschleudert. Die kinetische Energie eines solchen n- 



Sitzungsberichte. 


27* 

Teilchens ist daher trotz seiner geringen Masse so groß, daß seine 
Wirkung einzeln nachgewiesen werden kann. Um diese Tatsache 
auszunützen, sind eine Reihe geistreicher Methoden ausgearbeitet 
worden. 

Rutherford ließ die a-P.irtikel auf einen Sidot-Schirm 
aufprallen, welcher bei jedem Teilchen aufleuchtet- 

Die meisten anderen Experimentatoren benützen jedoch die Ei¬ 
genschaft der a-Strahlen, die Luft zu ionisieren, wodurch dieselbe 
leitend wird; ein geladenes Elektroskop verliert seine Ladung in der 
Nähe eines radioaktiven Präparats. Die Versuchsanordnung kann 
nun so empfindlich gemacht werden, daß das Elektroskop jeden Ioni¬ 
sationsstoß anzeigt, der durch ein vorbeifliegendes «-Teilchen er¬ 
zeugt wird. Wir erwähnen nur die neuesten Versuche von Gei¬ 
ger. Bei diesen steht das Elektroskop in Verbindung mit einer 
Spitze, welche in den von den a-Teilchen jeweils ionisierten Luftraum 
hineinragt. Jedes a-Teilchen löst eine Spitzenentladung aus, bei wel¬ 
cher ganz beträchtliche, vom Elektroskop bequem registrierbare, 
Elektrizitätsmengen übertreten. 

Größere Vielseitigkeit als die erwähnten Versuche, welche alle 
auf den Zweck, die a-Teilchen zu zählen (Aktivitätsmessung) zuge¬ 
schnitten sind, zeichnet die Versuche von Wilson aus. Wilson 
macht nämlich die Bahn des a-Teilchens selbst sichtbar. Luftionen 
haben die Eigenschaft, übersättigten Wasserdampf zu kondensieren, 
der sich in kleinen Tröpfchen um die Ionen ansammelt. Läßt man 
also die zu untersuchenden Strahlen in eine Kammer eintreten, in 
welcher mit Wasserdampf übersättigte Luft sich befindet, so hinter¬ 
läßt jedes durchgegangene a-Partikel als Spur eine Reihe von feinen 
Wassertröpfchen. Intensive seitliche Beleuchtung ermöglicht ihre 
photographische Aufnahme. Ein sinnreicher Mechanismus bewirkt 
die Kondensation des Wasserdampfes an den Ionen möglichst un¬ 
mittelbar nach ihrer Entstehung und dann auch sofort Momentanbe¬ 
leuchtung. 

Der Anblick der Wilsonschen Photographien gewährt 
einen ungemeinen Reiz. Glaubt man doch unmittelbar in ein Gewirr 
von Molekülen und Atome hineinzublicken. Man kann an denselben 
die Zahl der vom a-Strahl gebildeten Ionen studieren, es sind 20 bis 
30 000 pro Zentimeter, ferner seine Reichweite, die Streuung, den 
Rückstoß beim Zerfall der Emanation usw. 



28* 


Sitzungsberichte. 


Wilson macht auch die Bahnen der ausgeschleuderten Elek¬ 
tronen sichtbar, die sogenannten /J-Strahlen, welche für die vorhin 
besprochenen Methoden noch nicht ganz leicht zugänglich sind. 
Schließlich gelingt es ihm, auch die ionisierende Wirkung der Rönt¬ 
genstrahlen photographisch zu registrieren. 

Die beschriebenen Experimente sind durchweg so einfach und 
erfordern zu ihrem Verständnis so wenig Vorkenntnisse aus ande¬ 
ren Gebieten der Physik, daß sie geradezu handgreifliche Demon¬ 
strationen atomistischer Vorgänge vorstellen. Kein Skeptiker kann 
bei deren Anblick leugnen, daß wir aus der Welt des unendlich Klei¬ 
nen unumstößliche Erkenntnisse gewonnen haben. 

Zwar lehren sie nichts wesentlich Neues, was nicht schon 
aus anderen Arbeiten bekannt gewesen wäre, jedoch besteht be¬ 
gründete Hoffnung, daß diese direkten Methoden noch wuchtige bis 
jetzt ungelöste Probleme aufklären werden. 


765. Sitzung am 7. November 1913. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 85 Mitglieder. 

Herr Geheimer Hofrat Dr. O. Lehmann hielt einen Ex¬ 
perimentalvortrag über: „Die Umwandlung elektrischer Energie in 
mechanische Arbeit“. 

An der Hand zahlreicher experimenteller Demonstrationen, die 
sich in Kürze nicht beschreiben lassen, erläuterte der Vortragende 
den Übergang elektrischer Energie in Bewegungsenergie durch die 
Wirkung elektrostatischer und elektrodynamischer Kräfte. Den 
Schluß bildete die Darlegung, wie auch hier das Relativitätsprinzip 
ein Hauptsatz der neueren Physik trotz scheinbarer Widersprüche 
sich glänzend bewährt, jenes Prinzip, gemäß welchem wir auf keine 
Weise den absoluten Bewegungszustand eines Körpers erfahren kön¬ 
nen. Beispielsweise stoßen sich zwei ruhende gleichartig elektrisch 
geladene Körper, z. B. zwei geriebene Siegellackstangen, gegenseitig 
ab. Macht man diesen Versuch in einem Eisenbahnwaggon, derart, 
daß die Verbindungsebene der beiden Siegellackstangen senkrecht 
zur Fahrrichtung ist, so möchte man zufolge des Satzes, daß gleich¬ 
sinnig bewegte gleichartige Elektrizitäten eine anziehende elektro¬ 
dynamische Kraft aufeinander ausüben, glauben, daß mit zuneh¬ 
mender Fahrgeschwindigkeit die ursprüngliche elektrostatische Ab- 



Sitzungsberichte. 


29* 

stoßungskraft, welche man sich als unveränderlich vorzustellen ge¬ 
wohnt ist (da sie nach dem Coulombschen Gesetze vollkommen durch 
die Größe der Ladungen und ihren Abstand bestimmt ist), schlie߬ 
lich von der elektrodynamischen Anziehung übertroffen werde, so 
daß man durch Messung der Kraftwirkung etwa mittelst einer Fe¬ 
derwage imstande wäre, den absoluten Eetrag der Fahrgeschwin¬ 
digkeit zu ermitteln. Natürlich steht dieser in keiner Beziehung zu 
der relativen Geschwindigkeit etwa zu der Ausgangsstation des Ei¬ 
senbahnzuges, die wir mit Leichtigkeit messen können, es ist viel¬ 
mehr zu berücksichtigen, daß sich diese z. B. mit der ganzen Erde 
mit der Geschwindigkeit von 30 000 Meter um die Sonne bewegt, 
die Sonne selbst wieder samt der Erde mit einer ganz unschätz 
baren Geschwindigkeit um einen entfernten Fixstern usw. Tatsäch¬ 
lich können wir auch auf dem genannten Wege die absolute Ge¬ 
schwindigkeit nicht erfahren, denn die elektrostatische Kraft bleibt 
bei der Bewegung der Körper keineswegs unverändert, sie erleidet 
vielmehr stets solche Änderungen, daß die auftretende elektrodyna¬ 
mische Kraft gerade eben kompensiert wird* Die Abstoßung der 
gleichartig elektrischen Siegellackstangen bleibt somit immer genau 
dieselbe, wie schnell auch der Eisenbahnzug, in welchem das Experi¬ 
ment ausgeführt wird, sich bewegen möge. Absolute Geschwindig 
keit ist überhaupt ein nicht zu fassender Begriff. Er hätte nur einen 
Sinn, wenn es etwas absolut Festes im unendlichen Raume gäbe. Län¬ 
gere Zeit glaubte man einen den ganzen Raum erfüllenden, absolut 
ruhenden Äther, als den Träger der elektrischen und magnetischen 
Kräfte, sowie der Lichtstrahlung und verwandter Strahlungen an¬ 
nehmen zu sollen, sö daß absolute Geschwindigkeit die relative Ge¬ 
schwindigkeit zu diesem Äther wäre. Das Relativitätsprinzip will 
sich aber mit dessen Existenz nicht vereinigen lassen, so daß viele 
heute den Raum als absolut leer annehmen, oder Äther nur da, wo 
sich Kräfte genannter Art oder Strahlungen zeigen. 

Scheinbar widerspricht der Kompensation der elektrodynami¬ 
schen Kraft durch die Änderung der elektrostatischen die erwähnte 
Anziehung gleichgerichteter elektrischer Ströme, die sofern sie in 
metallischen Leitern fließen, nichts anderes als Ströme von Elektro¬ 
nen sind, d. h. der kleinsten nicht weiter teilbaren Partikelchen, aus 
welchen die Elektrizität besteht. In Wirklichkeit ist der Wider¬ 
spruch nur scheinbar, denn in diesem Fall wird die elektrostatische 
Kraft der negativen Elektronen stets vollkommen kompensiert durch 



Sitzungsberichte. 


30* 

die gleichgroße entgegengesetzt wirkende Kraft der in gleicher 
Menge im Metall vorhandenen positiven Atomreste. 

Gleiches gilt für einen elektrolytischen Leiter, in welchem 
letztere nicht am Orte bleiben, wo sie sind, sondern in entgegenge¬ 
setzter Richtung wandern, wie die negativen Teilchen, die sich hier 
nicht frei bewegen können, sondern nur verbunden mit Atomen zu 
Ionen, wie sich aus Faradavs Gesetz der Proportionalität der Zer¬ 
setzungsprodukte mit der Stromstärke ergibt. 


766. Sitzung am 21. November 1913. 

Vorsitzender: Heu Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 180 Mitglieder. 

Herr Geh. Hofrat Dr. O. Lehmann hielt einen Experimen¬ 
talvortrag über „Alte und neue Luftpumpe n“. Während 
vor etwa 40 Jahren das Auspumpen der Luft aus einem Behälter 
noch eine sehr anstrengende Arbeit mit unvollkommenem Erfolg war, 
ist in neuerer Zeit mit Hilfe der von Professor Gaede in Freiburg 
im Breisgau erfundenen Luftpumpen das Ziel mit Leichtigkeit und 
in vollkommenster Weise zu erreichen. An Hand zahlreicher Ex¬ 
perimente und Lichtbilder demonstrierte der Vortragende die Ent¬ 
wicklung der Luftpumpe seit ihrer Erfindung durch den Magdebur¬ 
ger Bürgermeister Otto v. Guericke, welcher 1654 ihre Wirkung dem 
Reichstag in Regensburg vorführte und hierdurch die allgemeine 
Aufmerksamkeit darauf lenkte, bis zur neuesten Form, der Diffu¬ 
sionspumpe von Gaede, die sogar in wissenschaftlichen Kreisen noch 
wenig bekannt ist und das non plus ultra darstellt, insofern sie keiner 
mechanischen Betriebskraft bedarf, sondern lediglich der Heizung 
durch eine Gasflamme, und welche nichtsdestoweniger rasch und in 
vollkommenster Weise evakuiert. 

In ältester Zeit konnte die Wirkung einer Säugpumpe nicht ver¬ 
standen werden, da man die Luft für gewichtlos hielt, weil ein auf¬ 
geblähter luftdichter Sack nicht mehr wiegt als wenn er leer ist. 
Erst Torricelli, ein Schüler Galileis, erkannte, daß bei diesem Ex¬ 
periment vergessen worden war, den Auftrieb in Betracht zu ziehen, 
welcher eben das Gewicht der Luft gerade kompensiert. Richtig 
schloß er aus der Tatsache, daß Wasser nur auf ca. 10 Meter Höhe 
aufgesaugt werden kann, der Druck der Luft müsse einer Wasser- 



Sitzungsberichte. 


3 «* 

säule von dieser Höhe das Gleichgewicht halten- Guericke gelang 
es durch Auspumpen eines auf der Wage tarierten Ballons näher 
festzustellen, daß i Kubikmeter Luft etwas mehr als i Kilogramm 
wiegt. Seine Luftpumpe und ebenso deren erste Verbesserungen 
hatten noch eine große Unvollkommenheit, den sog. schädlichen 
Raum, aus welchem verdichtete Luft und Feuchtigkeit nicht aus¬ 
getrieben werden konnten. Bei den Quecksilberluftpumpen, welche 
auf Grund von Torricellis Versuchen konstruiert wurden, fehlte die¬ 
ser, doch waren sie sehr zerbrechlich, auch mußte die Feuchtigkeit 
durch Trockenapparate fern gehalten werden. 

Schließlich gelang es, die Guerickesche Luftpumpe von dem Ein¬ 
fluß des schädlichen Raumes zu befreien, indem man diesen mit öl 
ausfüllte (Ölluftpumpen) und bei der neuesten Verbesserung 
durch Gaede ist dafür gesorgt, daß auch angesammelte Feuchtigkeit 
selbsttätig durch das öl entfernt, also ein Trockenapparat entbehr¬ 
lich gemacht wird. 

Das Streben, die unbequeme Hin- und Herbewegung des Kol¬ 
bens zu vermeiden, führte zur Konstruktion rotierender Luftpum¬ 
pen, Spiralpumpen, unter welchen wieder Gaedes Quecksilber¬ 
luftpumpe die vollkommenste darstellt. Sie gleicht etwa einer Gasuhr, 
bei welcher das Wasser durch Quecksilber ersetzt ist. Die Trommel 
wird gedreht und saugt infolgedessen Luft ein »während sie bei der 
Gasuhr durch das eingepreßte Gas gedreht wird. 

Ein Ventilator saugt ebenfalls Luft ein, selbst wenn der rotie¬ 
rende Teil nur eine Scheibe ist, in letzterem Fall, weil die Luft von 
der Scheibe durch Reibung mitgerissen wird. Gäbe es keine Mole¬ 
küle, wäre die Luft ein zusammenhängender Stoff, wie die alte 
Lehre von der Luftbewegung annimmt, so müßte immerhin eine 
'derartige Schleuderluftpumpe um so besser funktionieren, je rascher 
die Scheibe rotiert. In Übereinstimmung mit der Molekulartheorie 
ergibt sich aber in Wirklichkeit eine Grenzleistung, die durch Stei¬ 
gerung der Geschwindigkeit nicht überschritten werden kann und zu 
gering für praktische Verwertung ist, selbst wenn mehrere solche 
Pumpen hintereinander geschaltet werden, wobei zweckmäßig die 
Scheiben in geringem Abstand auf dieselbe Welle gesetzt werden. 
Bringt man aber nach Gaede zwischen je zwei solchen Scheiben einen 
am Gehäuse befestigten Vorsprung an, welcher die mitgerissene Luft 
aufhält und sie zwingt zu einer Öffnung des Gehäuses zu entweichen, 
so bildet sich auf der entgegengesetzten Seite des Vorsprunges ein 



Sitzungsberichte. 


32 * 

Vakuum, in welches man durch eine zweite Öffnung im Gehäuse Luft 
aus einem evakuierenden Behälter einsaugen lassen kann. Der 
alten Theorie zufolge könnte auch auf diese Weise kein absolutes 
Vakuum erzielt werden- Die Molekulartheorie ergibt aber, daß, falls 
die Geschwindigkeit der Scheiben größer als Molekulargeschwindig¬ 
keit wird, alle Gasmoleküle mitgerissen und aus der Pumpe heraus¬ 
geschleudert werden, ja selbst Wasserdampfmoleküle, so daß also 
nicht einmal eine Trockenvorrichtung nötig ist, um ein praktisch ab¬ 
solutes Vakuum, in welchem der Luftdruck auf etwa ein Tausend¬ 
stel von einem Millionstel seines anfänglichen Wertes reduziert ist, 
zu erhalten. Nach diesem Prinzip wirkt Gaedes Molekular¬ 
luftpumpe. Damit ihre Leistung voll zur Geltung komme, müs¬ 
sen weite kurze Röhren zur Verbindung mit dem Rezipienten ge¬ 
wählt werden, da sich die hochverdünnte Luft nur sehr träge be¬ 
wegt. 

Bei Gaedes Diffusionspumpe wird in einem eisernen 
Behälter Quecksilber zum Verdampfen gebracht. Derselbe ist mit 
einem feinen Schlitz versehen, durch welchen die Quecksilberdampf¬ 
moleküle nicht herauszudringen vermögen, welcher aber Luftmole¬ 
külen den Eintritt gestattet- Infolge der molekularen Bewegung 
wird also, falls sich an den Schlitz das Verbindungsrohr zu dem zu 
entleerenden Behälter anschließt, aus letzterem beständig Luft in 
den Quecksilberdampf eindringen und mit diesem durch ein Ansatz¬ 
rohr entweichen. Dieses Rohr wird aber gekühlt, so daß das Queck¬ 
silber in Tropfen zurückfällt und die Luft allein wirklich entweicht. 

Ein interessantes Nebenresultat der Studien Gaedes ist das, daß 
sich die Temperatur der Sternschnuppen aus ihrer Geschwindigkeit 
und Höhe berechnen läßt. Von etwa 70 bis 200 Kilometer Höhe 
besteht, wie die Meteorologen nachgewiesen haben, die Atmosphäre? 
vorherrschend aus Wasserstoffgas, welches in den unteren Schichten 
fast völlig fehlt. Ein diese Wasserstoffatmosphäre durchdringender 
Würfel von geringer Wärmeleitungsfähigkeit, welcher sich wie 
Sternschnuppen mit einer Geschwindigkeit von ca. 60 Kilometer pro 
Sekunde bewegt, erwärmt sich auf der Vorderfläche auf Sonnen¬ 
temperatur (ca. 6900°), auf den Seitenflächen bleibt die Tempera¬ 
tur dagegen tief unter dem Gefrierpunkt (ca. —50 °) und auf der 
Rückfläche ist sie absolut Null, d. h. —273 °. Rotiert der Würfel, 
so nimmt er eine mittlere Temperatur von ca 4300 0 an, erhitzt sich 
also stärker als die Kohlenspitzen einer Bogenlampe und strahlt 



Sitzungsberichte. 


33* 

dementsprechend sehr helles Licht aus, obschon die hohe Temperatur 
wegen der Kürze der Fallzeit nicht in die Tiefe dringen kann, wie 
auch daraus folgt, daß Meteoriten nur eine dünne geschmolzene 
Rinde aufweisen. 


767. Sitzung am 5. Dezember 1913. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 35 Mitglieder. 

Herr Professor Rupp hielt einen Vortrag über „Weingärung 
und Weinkrankheiten“. 


768. Sitzung am ig. Dezember igi3. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 86 Mitglieder. 

Herr Professor Dr. Auerbach gab einen durch Lichtbilder 
anschaulich gemachten Bericht über seine „Tiefsee-Expedition in den 
Atlantischen Ozean mit dem Motorschiff Armauer Hansen“. Der 
Vortrag ist unter den Abhandlungen des vorliegenden Bandes ab¬ 
gedruckt. 


769. Sitzung am 6. Februar 1914. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 17 Mitglieder. 

Herr Privatdozent Dr. G. Fuchs hielt einen Vortrag „Uber 
parasitische und andere Nematoden bei Borkenkäfern und bei Hylo- 
bius abietis L., sowie einige andere Parasiten und deren Einwirkung 
auf die Biologie dieser Käfer“ mit Lichtbildern. 

Vortragender bespricht in kurzer Weise die Ergebnisse seiner 
nun 6 Jahre dauernden Arbeiten auf diesem ganz neuen Gebiet. 
Nach einer kurzen Darstellung der Lebensweise der Borkenkäfer, 
speziell des Ips typographus L., erwähnt er insbesondere deren 
Nachfraß, der zu viel Meinungswechsel unter den Forschern gegeben. 
Vom Studium dieses ausgehend, erwähnt Vortragender, wie er durch 
die Untersuchung lebender Käfer gelegentlich von Zuchtversuchen 
zum Studium der Parasiten gelangt sei. Parasitischer Nematoden 
gebe es bei Ips typographus L. zwei Arten: Tylenchus contortus ty- 
pographi und Tylenchus disper typographi, welche Autor beschrieb, 


Verhandlungen. 26. Band. 


III 



Sitzungsberichte. 


34* 

sowie deren Larvenentwicklung zur freibleibenden Generation dar¬ 
legte. Die Untersuchungen gestalteten sich deshalb so schwierig, 
weil nebst der ungeheueren Zahl der Nematoden diese in vielfältigen 
Formen und Arten Vorkommen- Diese mußten erst genau studiert 
werden, bevor die Zusammenhänge festgestellt werden konnten. Ne¬ 
ben den Parasiten kommen bei genanntem Borkenkäfer noch Nema¬ 
toden vor, welche Vortragender „Wohnungseinmieter“ nannte, da 
sie, ohne Parasiten zu sein, die Wohnung des Käfers beleben und 
sich vom nahrungsreichen Mulm ernähren, die zum Zwecke des 
Transports durch den Käfer besonders angepaßte Larvenformen ent¬ 
wickelten, welche teils unter den Flügeldecken eingehüllt in eine 
Fetthülle, teils im Enddarm lebten. Solche Wohnungseinmieter 
seien Rhabditis obtusa typographi, Diplogaster Bütschlii, Rhabdito- 
laimus Hallerie, Tylenchus major und macrogaster. Als Parasiten 
fanden sich noch Gregarina typographi, Telosporidium typographi 
und Diplochis omnivorus, eine Schlupfwespe. 

Die Einwirkung der Parasiten gehe dahin, daß in erster Linie 
die Fruchtbarkeit merkbar eingeschränkt werde, dann daß der Tod 
bei Jungkäfern oft eintrete und schließlich die Fähigkeit, Geschwi¬ 
sterbruten anzulegen, unterbunden werde. Das Telosporidium und 
die Schlupfwespe führten unbedingt den Tod herbei, die übrigen 
Parasiten unter Umständen. Im ganzen dürften ungefähr die 
Hälfte aller Käfer den Parasiten zum Opfer fallen. 

Im Telosporidium typographi sei ein Parasit gefunden, mit dem 
man vielleicht die Käfer durch Infektion vertilgen könne. 

Die Untersuchung der Nematoden einer Reihe weiterer Borken¬ 
käfer veranlaßte den Vortragenden, 6 formulierte Sätze aufzustel¬ 
len, in welchen deren phyletische Abstammung und ihr Verhältnis 
zu den Borkenkäfern dargestellt wird. 

Ganz ähnliche Verhältnisse in bezug auf Parasiten finden sich 
bei Hylobius abietis L.. Vortragender berichtigt den biologischen 
Irrtum Leuckarts in bezug auf die freilebende Generation des Al- 
lantonema mirabile und meint, daß nun die Ansicht von einer Rhab- 
ditistheorie beseitigt sei. Er führt dann auch hier Wohnungsein¬ 
mieter und ihre Entwicklung vor: Rhabditolaimus Leuckarti, Diplo¬ 
gaster Aylobii und lineatus, und beschreibt eine große Gregarine; 
faßt schließlich die Ergebnisse in einigen Punkten zusammen, teils 
rein zoologischer Natur, teils von forstzoologischem, also angewandt 
zoologischem Interesse. 



Sitzungsberichte. 



770. Sitzung am 20. Februar 1914. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 93 Mitglieder. 

Herr Professor Paul Mayer hielt einen Vortrag über „Kreisel¬ 
wirkungen: Kreiselkompaß und Einschienenbahn“. Der Kreiselkompaß 
ist eine Konstruktion von Anschütz-Kaempfe in Kiel, die den Magnet¬ 
kompaß, welcher durch die großen Eisenmassen auf Kriegsschiffen 
immer weniger brauchbar wird, als Richtungsweiser ersetzen soll. 
Seit 1911 ist die Konstruktion soweit vollendet, daß sich in Praxis 
keine Anstände mehr ergeben haben- Die Vorteile des Kreiselkom¬ 
passes sind so groß, daß er jetzt trotz der sehr viel höheren Kosten 
auch in Handelsschiffe eingebaut wird. — Im Gegensatz zu dieser 
abgeschlossenen Konstruktion ist der 1909 von Scherl und Brennan 
vorgeschlagene Einschienenwagen noch nicht über das Modellsta¬ 
dium hinausgekommen. Einer Weiterbildung scheinen keine prin¬ 
zipiellen Bedenken entgegen zu stehen; ein praktisches Bedürfnis 
nach dem Wagen existiert zurzeit jedoch nicht. 

Beide Konstruktionen beruhen auf der Eigenschaft des Krei¬ 
sels, daß ein dauerndes Kippen seiner Achse nur dann eintreten 
kann, wenn ein sowohl zur Rotationsachse als zur Kippung senk¬ 
rechtes äußeres Drehmoment vorhanden ist. Dieses Kreiselgesetz 
wurde aus den Trägheitseigenschaften der Masse abgeleitet, und der 
Ansatz, der die Berechnung der auftretenden Bewegungen erlaubt, 
gegeben. 

Von beiden Konstruktionen wurden Modelle gezeigt. Der 
Kreiselkompaß besteht im wesentlichen aus einem elektrisch ange¬ 
triebenen Kreisel, dessen Achse durch die Schwere eine horizontale 
Lage aufgezwungen wird. Ein solches System muß sich infolge der 
Erddrehung von selbst in die Süd-Nordrichtung einstellen; um¬ 
gekehrt ist die Tatsache, daß der Kreiselkompaß funktioniert, ein ex¬ 
perimenteller Beweis der Rotation der Erde. Eine ältere Kreisel¬ 
kompaßkonstruktion von Anschütz hat bei Fahrten, die nicht in einer 
der vier Hauptrichtungen der Windrose verliefen, Mißweisungen, 
ergeben. Es hat langer Versuche bedurft, bis der Grund dieser Ab¬ 
weichungen klargestellt war; er ist in periodischen Erschütterungen 
des Schiffes zu suchen, die sich nur dann, wenn der Kreisel nicht in 
symmetrischer Lage zu der Erschütterungsebene steht, geltend zu 
machen vermögen. Durch Einbau von drei Kreiseln, die in Abhän¬ 
gigkeit von einander stehen, in einen Kompaß ist jetzt dieser Fehler 
behoben. 


jii* 



36* 


Sitzungsberichte. 


Bei der Demonstration der Einschienenbahn wurde erwähnt, daß 
die Konstruktion nach der Berechnung nur dann stabil ist, wenn der 
Koeffizient, der die Reibung des Rahmens der Kreiselaufhängung 
mißt, negativ ist. Dies ist technisch durch einen Hilfsmotor zu er¬ 
reichen, der in dem Moment, in welchem die Reibung einsetzen 
würde, eingeschaltet wird und den Kreiselrahmen beschleunigt. Dem 
Kreisel fallen demnach zwei Aufgaben zu: einmal muß er durch 
seine rotierende Masse den Widerstand abgeben, an dem sich der aus 
dem Gleichgewicht gekommene Wagen wieder aufrichten kann, zum 
andern hat er im richtigen Moment den Hilfsmotor einzuschalten; 
eine Tätigkeit, die etwa der eines Steuermanns zu vergleichen ist. 
Wichtig ist ferner, daß eine Stabilität bei der Scherl- und Bren- 
nanschen Anordnung nur möglich ist, wenn der Wagen auf der 
Schiene ein bestimmtes Maß Reibung hat. Diese Bedingung wird 
sich bei einer Ausführung im Großen wohl von selbst erfüllen, bei 
dem vorliegenden kleinen Modell haben sich infolge der wechselnden 
Reibung gelegentlich Störungen ergeben. 

771. Sitzung am 6. Marz 1914. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hof rat Dr. Lehmann. 

Feier des 50jährigen Bestehens des Naturwissenschaftlichen Ver¬ 
eins und der Hertzschen Entdeckungen bei Anwesenheit Ihrer Kö¬ 
niglichen Hoheiten des Großherzogs und der Großherzogin und eines 
großen Kreises geladener Gäste in der Aula der Technischen Hoch¬ 
schule. 

Der Vorsitzende, Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann hielt da¬ 
bei den Festvortrag, dessen Inhalt in Kürze der folgende war. 1 

Die Gründung des Naturwissenschaftlichen Vereins, dessen 
„Verhandlungen“ 25 Bände füllen mit Berichten über rund 750 
Sitzungen und sehr zahlreichen Abhandlungen über die Ergebnisse 
heimischer Forschungstätigkeit, ist zurückzu führen auf einen 
Wunsch des höchstseligen Großherzogs Friedrich, es möge den ge¬ 
bildeten Kreisen von Karlsruhe fortlaufend von den für die Entwick¬ 
lung der Technik und damit für die Hebung der Kultur so außer¬ 
ordentlich wichtigen Fortschritten auf dem Gebiete der Naturwissen¬ 
schaften in gemeinverständlicher Weise Kenntnis gegeben werden. 
Unter Leitung von Eisenlohr, Grashof, Wiener, Eng- 

1 Der Vortrag ist vor den Abhandlungen, S. III, abgedruckt. 



Sitzungsberichte. 


37* 

1 e r und dem gegenwärtigen Vorsitzenden in Verbindung mit der 
opferwilligen Tätigkeit der Sekretäre, unter welchen besonders 
M e i d i n g e r hervorzuheben ist, der 30 Jahre lang dieses Amt be¬ 
kleidete, hat der Naturwissenschaftliche Verein sein Ziel zu erreichen 
versucht und durch Tauschverkehr mit mehr als 100 andern natur¬ 
wissenschaftlichen Vereinen der ganzen Welt seinen Mitgliedern Ge¬ 
legenheit geboten, auch über die wissenschaftliche Tätigkeit an an¬ 
dern Orten leichtverständliche Berichte zu erhalten. Da sich in kur¬ 
zen Worten ein Gesamtbild der Leistungen des Vereins nicht geben 
läßt, greift der Vortragende den Bericht heraus, den gerade vor 
25 Jahren der damalige Physiker der Technischen Hochschule Hein¬ 
rich Hertz über seine kurz zuvor gemachten Entdeckungen 
dem Verein gegeben hat, Entdeckungen, die nicht nur auf dem Ge¬ 
biet der Elektrizitätslehre und Optik eine völlige Umwälzung her¬ 
vorbrachten, sondern zu einer Menge neuer wichtiger Entdeckungen, 
zu welchen im Grunde auch die der Röntgenstrahlen und Radium¬ 
strahlen zu rechnen sind, führten und namentlich zur Erfindung der 
heute von so großer Wichtigkeit gewordenen drahtlosen Tele¬ 
graphie. 

Die Anregung zu seinen Untersuchungen hatte Hertz durch H. 
v. Helmholtz erhalten, dessen Schüler und späterer Assistent 
er gewesen war. Schon in seiner berühmten Schrift „Die Er¬ 
haltung der Energie“ hatte sich Helmholtz dahin ausgesprochen, daß 
bei elektrischer Entladung, d. h. beim Ausgleich von Überschuß und 
Mangel an Elektrizität ganz ähnlich wie beim Uberströmen von Was¬ 
ser aus einem vollen in ein leeres Gefäß sich Schwingungen ausbil¬ 
den, daß die Elektrizität zunächst zwischen den beiden Leitern 
hin- und herpendle. Das erwies sich auch als richtig, dagegen 
war fraglich, ob das beobachtete Hinausschießen der Elektrizität 
über das Ziel wie beim Wasser eine Folge von Trägheit war oder, 
wie die Faradav-Maxwellsche Theorie behauptete, eine Folge von 
fortgesetzer Umwandlung von elektrischer in magnetische Energie 
und umgekehrt. Während die alte Theorie überall da, wo sich elek¬ 
trische und magnetische Kräfte oder Energien zeigten, Elektrizität 
oder Magnetismus als Ursache dieser Kräfte annahm, sollten der 
neuen Theorie zufolge solche Kräfte und Energien losgelöst von 
elektrischen und magnetischen Körpern existieren und ganz unab¬ 
hängig von diesen mit der gleichmäßigen Geschwindigkeit von 300 
Millionen Metern im leeren Raume fortschreiten können. Direkte 



38* 


Sitzungsberichte. 


Fernwirkung eines elektrischen oder magnetischen Körpers, wie sie 
die alte Theorie als selbstverständlich voraussetzte, gab es nach der 
neuen Theorie überhaupt nicht; eine Wirkung auf einen entfernten 
Körper war auch ihr nur möglich, wenn dieser von sich ausbreiten¬ 
den oder fortwandernden „Kraftfäden“, die sich an ihn anhefteten, 
getroffen wurde, da diese substanzlosen Kraftfäden das Bestreben 
haben sollten, sich der Länge nach zusammenzuziehen und der 
Quere nach auszudehnen. All dies erschien wenig glaubhaft und 
Hertz setzte sich nun zunächst das Ziel, zu ermitteln, ob wirklich elek¬ 
trische und magnetische Kräfte sich mit der genannten Geschwin¬ 
digkeit im Raume ausbreiten. Das Problem mußte sich lösen lassen, 
wenn es gelang, hinreichend rasche elektrische Schwingungen zu er¬ 
zeugen, denn dann mußten im Raume fortschreitende Wellen elek¬ 
trischer Kraft oder Strahlen elektrischer Energie auftreten, ganz 
ebenso wie, wenn die Oberfläche eines ruhigen Teiches an einer 
Stelle in Schwingungen versetzt wird, von da aus ein System ringför¬ 
miger Wellen sich längs der Wasseroberfläche ausbreitet. Da die 
Länge einer Welle während der Dauer einer Schwingung zurück¬ 
gelegt wird, ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Quotient von 
Wellenlänge und Schwingungsdauer. Es gelang Hertz in der Tat, ge¬ 
nügend rasche elektrische Schwingungen zu erzielen und mit Exakt¬ 
heit zu beweisen, daß es wirklich Strahlen elektrischer und mag¬ 
netischer Kraft oder Energie gibt, die sich mit der genannten Ge¬ 
schwindigkeit im leeren Raume wie Lichtstrahlen, [deren Geschwin¬ 
digkeit dieselbe ist], ausbreiten; daß diese elektromagnetischen Strah¬ 
len sich in jeder Hinsicht wie das Licht verhalten und sich von dem¬ 
selben nur dadurch unterscheiden, daß sie etwa eine Million mal 
größere Wellenlänge haben. Treffen die Strahlen auf geeignete Lei¬ 
ter, so erregen sie darin Ströme, die zur telegraphischen Zeichen¬ 
gebung verwendet werden können. Bekanntlich hat zuerst Marconi 
praktische Apparate konstruiert, die dies ermöglichen und heute kön¬ 
nen Telegramme ohne Draht direkt über den ganzen Ozean gesandt 
werden. Die hierzu benutzten elektromagnetischen Wellen sind bis 
ioooo mal so groß als die Hertzschen Wellen, zu ihrer Erregung 
gehören mächtige Maschinen von Hunderten von Pferdestärken. 
Diese großen Energiemengen können unsichtbar den leeren Raum 
durchdringen, es sind in sich zurücklaufende elektrische und mag¬ 
netische Kraftfäden, die kein Ende besitzen, welches an einen elek¬ 
trischen beziehungsweise magnetischen Körper angeheftet w'äre. Die 



Sitzungsberichte. 


39* 

Faraday-Maxwellsche Theorie der elektromagnetischen Vorgänge 
sowie des Lichtes hat also durch die Hertzschen Versuche eine glän¬ 
zende Bestätigung gefunden. Wie man sich aber im Raume frei 
fortschreitende Kräfte vorstellen soll, macht noch heute viel Kopfzer¬ 
brechen, denn wir verstehen eine Kraftwirkung nur dann, wenn wir 
ein Wesen kennen, welches die Kraft ausübt. Gewöhnlich wird ein 
jeden Raum erfüllender Äther als Träger der Kraft betrachtet, doch 
begegnet auch diese Annahme großen Schwierigkeiten. 


772. Sitzung am 1. Mai 1914. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 150 Mitglieder. 

Herr Professor Dr. P a u 1 c k e hielt einen Vortrag mit zahl¬ 
reichen Lichtbildern über seine „W anderungen in Nord¬ 
amerika, insbesonders im Yellowstone“. 


773. Sitzung am 15. Mai 1914. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 45 Mitglieder. 

Herr Professor Dr. Sieveking hielt einen Vortrag über: 
,,D ie wissenschaftlichen Grundlagen des Flug¬ 
wesen s“. 


774. Sitzung am 12. Juni 1914. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. 

Die Herren L e m b k e und Privatdozent Dr. F a j a n s hielten 
Vorträge über „Experimentelles und Theoretisches 
überdieverschiedenen Atomgewichte des radio¬ 
aktiv gewonnenen und des gewöhnlichen Blei s“. 


775. Sitzung am ig. Juni 1914. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 79 Mitglieder. 

Herr Obergeometer Dr. Bürgin hielt einen Vortrag über 
„Stereophotogrammetrie und ihre Anwendung 
bei topographischen Aufnahme n“. 



Sitzungsberichte. 


40* 


776. Sitzung am 3. Juli 1914. 

Mitglieder-Hauptversammlung. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 30 Mitglieder. 

Der Schriftführer gab zunächst den üblichen Tätigkeitsbericht, 
der Rechner sodann den Kassenbericht; nachdem der Vorsitzende 
beiden den Dank des Vereins ausgesprochen hatte, wurde ihnen von 
der Versammlung Entlastung erteilt. 

Der Vorsitzende machte dann die Mitteilung, daß einem 
Wunsch des Schriftführers entsprechend, der bisher auch die Ge¬ 
schäfte des Bibliothekars und des Schriftleiters der Vereinsveröf¬ 
fentlichung besorgt und der um Entlastung gebeten hatte, durch eine 
Vorstandssitzung eine Änderung in der Besetzung der Ämter be¬ 
schlossen worden sei- Die Geschäfte der Schriftleitung der Ver¬ 
handlungen habe Herr Professor Dr. Paulcke übernommen und die 
Büchersammlung werde von jetzt ab mit Genehmigung des Großh. 
Kultusministeriums und des Senates der Technischen Hochschule von 
der Bibliothek der Technischen Hochschule verwaltet. 

Herr Professor Dr. Schwarzmann hielt sodann einen Vor¬ 
trag über: „Goldwäschen im Rhei n“. 

Der Vortragende hatte im Jahr 1910 auf Anregung des Herrn 
Geheimerats Dr. Engler die sämtlichen durch Anfrage bei den Bür¬ 
germeisterämtern in Erfahrung gebrachten Goldwäscher im Gro߬ 
herzogtum Baden besucht, um zu einer Zeit, da die Goldwäscher tm 
südlichen Teil von Baden schon hoch betagt waren, die in den ein¬ 
zelnen Gegenden geübten Verfahren festzustellen und in den Ver¬ 
handlungen des Vereins niederzulegen. Später gab sich ihm eben¬ 
falls durch Anregung des Herrn Geheimerats Engler sowie durch 
Vermittlung der Rheinbauinspektion Mannheim Gelegenheit, das 
Goldwäschen in der Ausführung in Philippsburg zu sehen und in 
photographischen Aufnahmen das Verfahren festzulegen. 

Der durch die Tätigkeit der Hochwasser besonders vor der 
Ausführung der Regulierung abgelagerte goldführende Sand gab 
sich dem Wäscher durch seine schwarze Farbe (verursacht durch 
Magnet- und Titaneisenkörnchen) zu erkennen. Die Waschwürdig¬ 
keit wurde sodann durch eine Vorprobe auf der hölzernen rauhen 
Schaufel festgestellt. Durch eine kreisende Bewegung der Schaufel¬ 
fläche in ihrer Ebene im Wasserspiegel lassen sich die leichteren 
Teilchen wegspülen, und die schwereren, insbesondere die kleinen 



Sitzungsberichte. 


41 * 

blechförmigen, scharfkantigen und deshalb leicht hängen bleibenden 
Goldflitterchen werden für das Auge sichtbar. 

Der Goldwäscher läßt nun drei Schaufeln Goldsand durch ein 
Sieb (Gitter), das den Kies zurückhält auf ein geneigtes tuchüber¬ 
zogenes Brett, die Waschbank fallen. Durch aufgegossenes Wasser 
wird der Sand weiter das Brett hinab gespült. Die tonigen und 
quarzigen Teile verlassen am unteren Ende das Brett, die schwereren 
Teile und die Goldplättchen bleiben auf dem Tuch liegen. Ist das 
Tuch nach ständiger Wiederholung des Aufschüttens und Weiter- 
schwemmens mit dem Goldsand reichlich beladen, so werden die Tü¬ 
cher in einen Kübel ausgeschwenkt, der den Sand aufnimmt. Das 
leere Tuch kommt dann wieder auf die Waschbank zur erneuten 
Sandaufnahme. Der schließlich im Kübel durch Ausschwenken noch¬ 
mals von tonigen und leichten Teilchen gereinigte Goldsand wird 
dann in die Wohnung des Wäschers verbracht, wo die zweite Opera¬ 
tion vorgenommen wird: das Ausziehen des Goldes aus dem Sand 
mit Hilfe von Quecksilber. 

Das Quecksilber hat die Eigentümlichkeit mit Gold feste Le¬ 
gierungen „Goldamalgame“ zu bilden. Der Wäscher reibt den durch 
Wasser dickbreiig gemachten Goldsand mit Quecksilber zusammen 
in so gründlicher Weise, daß das Quecksilber überall im Sand fein 
verteilt mit dem Gold zusammentrifft und sich mit diesem zu Gold¬ 
amalgam vereinigt. Nach Zusatz von mehr Wasser zu dem Sand 
wird dieser leichter bewegbar und bei weiterem Reiben, Umschwen¬ 
ken der Schüssel und Eintauchen derselben in einen Kübel mit Was¬ 
ser gelingt es dem Goldwäscher, das Quecksilber, in welchem das 
Goldamalgam verteilt ist, zu größer 'werdenden Kügelchen und 
schließlich zu einer einzigen Flüssigkeit zu vereinigen- 

Im südlichen Teil von Baden wird diese Amalgamation in einem 
über anderthalb Meter langen Holzschiffchen vorgenommen, wie 
überhaupt die Ausführung der Einzelheiten in verschiedenen Gegen¬ 
den abweicht. 

Das schließlich wieder vereinigte Quecksilber wird durch ein 
leinenes Tuch gepreßt, wobei das feste Goldamalgam, das vorher im 
andern Quecksilber suspendiert war, als eine einheitliche Masse zu¬ 
rückbleibt. Das Amalgam von Philippsburg erhielt nach der Be¬ 
stimmung des Vortragenden etwa 30 % Gold, was sehr nahe einer 
bestimmten chemischen Formel (AuHg.) entspricht. Durch Erhit- 



Sitzungsberichte. 


42* 

zung entweicht das Quecksilber aus dem Amalgam und das Gold 
bleibt zurück. 

Der Vortragende sprach weiter über die Herkunft und die Be¬ 
gleitmineralien des Goldes, welche außer den genannten Erzen Edel¬ 
mineralien wie Granat, Zirkon u. a. sind und unter dem Mikroskop 
z. T. ihre Kristallform vorzüglich zeigen, da ihre Härte eine Abrun¬ 
dung verhindert hat. Eine im Laboratorium ausgeführte Trennung 
des Goldsandes nach dem Eigengewicht bewies, wie vorzüglich der 
Goldwäscher die leichteren Teile aus dem Sand entfernt hatte. 

777. Sitzung am 25. November 1914. 

Gemeinsam mit dem Karlsruher Bezirksverein Deutscher Ingenieure. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hof rat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 200 Mitglieder. 

Herr Geh. Hofrat Dr. O. Lehmann hielt einen Vortrag: 

Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer. 

Der Vortragende führte etwa folgendes aus: 1 Das Problem, 
mit welchem sich Robert Mayer befaßt hat, und dessen glückliche 
Lösung ihm gelungen ist durch Auffindung des Gesetzes der Er¬ 
haltung der Energie und der zahlenmäßigen Beziehung zwischen 
Wärmeaufwand und Arbeitsleistung (z. B. bei Wärmekraftmaschi¬ 
nen), ist im Grunde so alt wie die Physik selbst. Ausgehend von 
der stets gleichmäßigen Bewegung der Sterne gelangte schon Aristo¬ 
teles zu einem „Gesetz von der Erhaltung der kreisenden Bewegung“, 
welches dann von Galilei durch sein Trägheitsgesetz, das „Gesetz 
von der Erhaltung der geradlinigen Bewegung“ ersetzt wurde. Nur 
eine Kraft, die gemessen wird durch das Produkt der Masse des 
Körpers mit der Beschleunigung — wir nennen sie die „Galileische 
Kraft“, kann die Bewegung stören. 

Eine bewegte Kanonenkugel hat vermöge ihres Bewegungszu¬ 
standes auch eine Kraft, mit der sie Hindernisse überwinden kann, 
Leibniz nannte sie „lebendige Kraft“; sie wird aber gemessen durch 
das halbe Produkt von Masse mit dem Quadrat der Geschwindigkeit. 
Diese Leibnizsche Kraft ist also etwas anderes als die Galileische 
Kraft. Man kann das Gesetz der Trägheit auch das „Gesetz der Er¬ 
haltung der Leibnizschen Kraft“ nennen. Bei einer senkrecht empor¬ 
geschossenen Kugel, die schließlich in bestimmter Höhe zur Ruhe 
kommt, ist die lebendige Kraft scheinbar tot geworden. Tn Wirk- 

1 Der Vortrag ist unter den Abhandlungen abgedruckt, S. 83. 



Sitzungsberichte. 


43* 

lichkeit hat sie sich nur gewissermaßen versteckt, denn sie kommt 
wieder in vollem Betrage zum Vorschein, wenn die Kugel herunter¬ 
fällt. Die gehobene Kugel besitzt, wie Joh. Bernoulli im Jahre 1742 
sich ausdrückte, Arbeitsfähigkeit. Durch Rädenverke wie bei 
Uhren kann die Arbeitsfähigkeit, die gemessen wird durch Kraft 
mal Zeithöhe auf andere Körper unverändert übertragen werden. 
Es gibt also auch ein „Gesetz der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit“. 
Bei einem schwingenden Pendel gehen Arbeitsfähigkeit und leben¬ 
dige Kraft immerfort wechselweise in einander über, es gilt ein 
„Gesetz der Erhaltung der Summe von lebendiger Kraft und Ar¬ 
beitsfähigkeit oder der Energie“, welches Wort zuerst von Thomas 
Young 1807 gebraucht wurde. 

Die vielfachen vergeblichen Bemühungen, eine Maschine, die 
Energie aus Nichts erzeugt, ein perpetuum mobile herzustellen, lie¬ 
ßen erkennen, daß das Gesetz streng gültig ist und doch schien es 
Ausnahmen zu erleiden. Durch Stoß oder Reibung kann die leben¬ 
dige Kraft einer Kanonenkugel beispielsweise scheinbar vernichtet 
werden. Der bayerische Kriegsminister Graf Rumford war der 
erste, der im Jahre 1798 erkannte, daß sie auch in diesem Fall tat¬ 
sächlich nicht vernichtet ist; daß sie nur in anderer Form erscheint, 
nämlich als Wärme. Auch die Wärme ist also eine Art Arbeits¬ 
fähigkeit, wie Rumford weiter dadurch beweisen konnte, daß eine 
scharf geladene Kanone sich weniger erhitzt als eine blind geladene, 
weil nämlich ein Teil der Verbrennungswärme des Pulvers in leben¬ 
dige Kraft der Kanonenkugel übergeht. Demgemäß war das „Gesetz 
der Erhaltung der Kraft“ zu erweitern, man mußte auch die Wärme 
als Kraft im Leibnizschen Sinne betrachten. 

Bei einer Elektrisiermaschine entsteht nun aber durch Reibung 
neben Wärme auch Elektrizität. Der Gedanke, auch diese sei eine 
Kraft, ja auch Magnetismus, chemische Affinität usw-. seien Kräfte, 
die ohne Änderung ihrer Quantität in einander übergehen können, so 
daß das Gesetz der Erhaltung der Kraft eine ganz universelle Bedeu¬ 
tung habe und keine Ausnahme erleide, wurde zuerst 1837 von Fr. 
Mohr, Professor der Pharmazie in Bonn, ausgesprochen. Die Be¬ 
griffe waren ihm aber nicht klar, er verwechselte Galileische und 
Leibnizsche Kraft und so war seine Hypothese leicht zu widerlegen. 

Um wirklich von einem allgemeingültigen Gesetz der Erhaltung 
der Kraft, von einer Einheit aller Naturkräfte sprechen zu können, 
mußte zunächst das gemeinsame Maß dieser Kräfte gefunden und 



Sitzungsberichte. 


44* 

nachgewiesen werden, daß die Umwandlung in bestimmtem unab¬ 
änderlichem Zahlenverhältnis stattfindet, gleichgültig, welches die 
Art des Vorganges ist. 

Diesen Schritt nun hat zuerst Robert Mayer, Sohn eines Phar¬ 
mazeuten in Heilbronn, im Jahre 1841 getan. Als Schiffsarzt hatte 
er Gelegenheit, Vorgänge kennen zu lernen, die nur durch eine Ver¬ 
wandlung von Wärme in lebendige Kraft und umgekehrt zu deuten 
waren. In die Heimat zurückgekehrt, wo er sich als Arzt niederließ, 
versuchte er in einer Abhandlung, die er an die Redaktionen der An¬ 
nalen der Physik sandte, seine Ideen zu allgemeiner Kenntnis zu 
bringen. Die Arbeit wurde aber nicht aufgenommen, er erhielt nicht 
einmal eine Antwort! Ursache war vielleicht, daß er damals auch 
noch nicht klar zwischen Galileischer und Leibnizscher Kraft unter¬ 
schied; dann aber wohl namentlich der Umstand, daß einige Jahre 
zuvor Arbeiten von Carnot und Clapeyron erschienen waren, in 
welchen in exakter Weise bewiesen schien, daß die Wärme etwas un¬ 
veränderliches, ein Stoff ist und Arbeit aus Wärme nur in der Weise 
gewonnen werden könne, daß sie von höherer Temperatur auf nie¬ 
drige herabsinkt, ganz wie bei einem Wasserrad nur Arbeit gewon¬ 
nen wird, wenn ein Wassergefälle zur Verfügung steht. Auch hier 
ist es nicht das Wasser, welches sich in Arbeit umsetzt, denn dessen 
Menge bleibt unverändert. 

Wohl gelang es Robert Mayer, seine Entdeckung des richtigen 
Gesetzes der Erhaltung der Kraft in einem kleinen Aufsatz in Lie- 
bigs Annalen der Chemie darzulegen und 1845 in zwei größeren 
Schriften, für die er aber keinen Verleger fand, so daß er sie auf 
eigene Kosten drucken lassen mußte. 

Die Physiker nahmen aber keine Notiz davon und selbst 
Helmholtz, der 1847 den Gedanken weiterführte und ihn namentlich 
auch auf elektrischem Gebiete in präzise Form brachte, erwähnt 
weder in seiner Schrift noch als Berichterstatter der Zeitschrift 
Fortschritte der Physik irgend etwas von Rob. Mayer, weil er, wie 
er später angibt, nichts von dessen Arbeiten wußte. Der Umstand, 
daß nun in rascher Folge verschiedene Arbeiten erschienen, in wel¬ 
chen ohne Rücksicht auf Mayers Priorität derselbe Gegenstand be¬ 
handelt wurde, daß sogar auf seine Reklamation ihm selbst jedes 
Verdienst abgesprochen und nicht einmal eine Erwiderung gestattet 
wurde, erzeugte bei ihm eine starke seelische Depression und nervöse 
Erkrankung, infolge deren er einmal aus dem Fenster sprang und 



Sitzungsberichte. 


45* 

sich eine schwere Verletzung zuzog. Einige Zeit wurde er deshalb 
ins Irrenhaus gebracht. Schließlich wurde aber doch, auch von 
Helmholtz und andern hervorragenden Physikern, sein Verdienst 
anerkannt* Helmholtz sagte, es sei Tatsache, daß er unabhängig 
und selbständig den Gedanken gefunden habe, der den größten neue¬ 
ren Fortschritt der Naturwissenschaft bedingte- Auf den heutigen 
Tag war ein großer Festakt zur Jahrhundertfeier der Entdeckung 
des Gesetzes der Erhaltung der Energie durch Robert Mayer an der 
technischen Hochschule seines Heimatlandes in Verbindung mit dem 
Verein deutscher Ingeneure geplant, bei welcher ganz besonders 
darauf hingewiesen werden sollte, welche außerordentliche Förde¬ 
rung der Technik durch diese Entdeckung zuteil geworden ist. Die 
Festschrift von Professor Dr. Weyrauch (betitelt: Robert Mayer, zur 
Jahrhundertfeier seiner Geburt, Stuttgart bei K. Wittwer), welche 
außerordentlich reiches Material enthält, auch eine lange Liste der 
Ehrungen für Robert Mayer vor und nach seinem im Jahre 1878 er¬ 
folgten Tode, ist bereits erschienen; die Feier selbst, zu welcher zahl¬ 
reiche Einladungen an Auswärtige ergangen waren, konnte leider 
des Krieges wegen nicht stattfinden. Das Denkmal, das sich Mayer 
selbst durch seine jetzt allgemein anerkannte Entdeckung gesetzt 
hat, machte aber besondere Ehrungen eigentlich entbehrlich. 


778. Sitzung am 11. Dezember 1914. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 21 Mitglieder. 

Herr Dr. Wilser berichtete zunächst „U ber die neuesten 
Fossilmenschenfunde in Deutschland“. Zwei für 
die Vorgeschichte der Menschheit wichtige Entdeckungen fallen ins 
verflossene Jahr. Die durch die Zähne und Schädelstückchen von 
Taubach, einer als Fundstätte fossiler Gebeine bekannter Ortschaft 
bei Weimar, erweckten Hoffnungen haben sich erfüllt. In der näch¬ 
sten Umgebung, bei Ehringsdorf, wurde am 8. Mai in einem Stein¬ 
bruch, 12 Meter unter der Oberfläche ein Unterkiefer freigelegt, 
dessen ganze Gestalt, insbesondere das fehlende Kinn und die Enge 
des Kieferbogens, dem Sachverständigen auf den ersten Blick die 
Zugehörigkeit zu einer tiefstehenden Menschenart bezeugte. Zur 
weiteren Behandlung wurde das wertvolle Fundstück den bewähr¬ 
ten Händen des Straßburger Anthropologen Schwalb anvertraut, 
der darüber im Anatomischen Anzeiger (XLVII 13) einen Vor- 



Sitzungsberichte. 


46 * 

bericht erstattet hat. Mit vollem Recht schreibt dieser Gelehrte, man 
dürfe den Knochen „wohl als Weimarer Unterkiefer“, nicht aber als 
Teil eines Homo Weimariensis bezeichnen, da er zwar einige Ei¬ 
gentümlichkeiten aufweist, die sich „aber alle auf denselben Grund¬ 
typus (der der Urmenschen, H. primigenius) zurückführen lassen“. 
Dazu gehört z. B- der Vorsprung des oberen, die Zahnhöhlen enthal¬ 
tenden Randes, eine sog. „alveolare Prognathie“. Von solchen Un¬ 
terkiefern kennen wir jetzt über ein Dutzend, und sie lehren, daß die 
spärlichen und zerstreuten Horden des Urmenschen auf dem Weg 
zu höherer Entwicklung bald in dem einen, bald in dem anderen 
Merkmal vorausgeeilt waren. Wollten wir bloß die Enge des Bogens 
berücksichtigen, so müßten wir dem Ehringsdorfer Kiefer die 
„tiefste Stelle innerhalb der Spezies H. primigenius“ anweisen, eine 
entschieden noch tiefere als dem Mauerkiefer. In anderer Hinsicht, 
so z. B. in der Rückbildung der Weisheitszähne, steht er wieder 
etwas höher. Sein Alter ist auf etwa 400 000 Jahre zu veranschla¬ 
gen; trotzdem war sein Träger, wie mitgefundene Feuerstein¬ 
geräte und Kohlenspuren beweisen, nicht aller Gesittung bar. Un¬ 
ter der gleichalterigen Tierwelt findet sich noch das gegen Ende 
der Eiszeit bei uns ausgestorbene haarlose Nashorn (Rhinoceros 
Merckii). — Wesentlich, vielleicht um 200 Jahrtausende, jünger sind 
die am 18. Februar bei Oberkassel, auf dem rechten Rheinufer in 
der Nähe von Bonn, gefundene Gebeine, zwei fast vollständige Ske¬ 
lette, und zwar verschiedenen Geschlechts, die der Vortragende am 
23. Juni in einer Versammlung der Bonner Anthropologischen Ge¬ 
sellschaft selbst zu besichtigen Gelegenheit hatte. In dieser stark be¬ 
suchten Sitzung besprachen die dortigen Gelehrten Steinmann, 
V e r w o r n und B o n n e t ausführlich den Fund von seiner zoolo¬ 
gischen, archäologischen und anatomischen Seite (Sitzungsbericht 
in den „Naturwissenschaften“ II 27). Er gehört in die Renntierzeit, 
als der Mensch schon kunstreiche Geräte aller Art aus Bein und 
Horn zu schnitzen verstand. Zwei solcher Gegenstände, ein Pferde¬ 
kopf und eine zierliche Nadel, waren den Bestatteten beigegeben. 
Diese sind von mittlerem und zierlichem Wuchs (155—160 cm), 
wenn auch die männlichen Gebeine auf große Leibeskraft schließen 
lassen. Die Schädel zeigen einen ausgesprochenen Langbau 
(Ind. 70 und 74) und gut entwickelte Kinnvorsprünge, so daß die 
Arten primigenius und brachicephalus ausgeschlossen sind. Am 
zweckmäßigsten teilen wir daher den Fund den urgeschichtlichen 



Sitzungsberichte. 


47* 

Vorfahren der heutigen Mittelmeervölker zu (H. mediterraneus fos- 
silis), ebenso wie die lange nicht so vollständigen und wohl erhalte¬ 
nen Gebeine aus dem Höhlenfels bei Nürnberg. Die nach dem 
männlichen Schädel ziemlich stark entwickelten Stirnwülste sind 
wohl nur ein Zeichen großer Muskelkraft und brauchen nicht als Be¬ 
weis einer Kreuzung mit H. primigenius gedeutet zu werden. — 
Schließlich erzählte der Vortragende noch einiges von dem klugen 
Hund von Mannheim, den er nun seit zwei Jahren beobachtet 
und vor kurzem wiedergesehen hat. Obwohl wegen schwerer Er¬ 
krankung seiner Herrin von einem regelrechten Unterricht keine 
Rede mehr sein konnte, haben sich seine erstaunlichen Fähigkeiten 
noch weiter entwickelt. Seine nun io Monate alten Jungen lassen 
durchweg eine sehr gute Begabung erkennen und leisten zum Teil 
schon Bemerkenswertes. Wenn die Dame, wie sie hofft, den Unter¬ 
richt wieder aufnehmen kann, werden einige von ihnen vielleicht den 
Vater erreichen und dadurch den Beweis liefern, daß auch im Tier¬ 
reich die geistigen Eigenschaften sich wie die leiblichen vererben. 

Herr Professor Dr. Teichmüller berichtete sodann über 
einen neuen Leitungsdraht, der nach einem erst wenige Tage alten 
Beschlüsse des Verbandes Deutscher Elektrotechniker für elektrische 
Hausinstallationsleitungen hergestellt werden soll. Anlaß dazu hat 
der Krieg gegeben, insofern die Elektrotechnik mit der Verwendung 
der zur Herstellung von Kriegsmaterial brauchbaren Stoffe, Kupfer 
und Gummi, sparsam umgehen will. Der neue Leitungsdraht besteht 
aus Eisen mit stark getränkter Papierisolation, über die ein Eisen¬ 
mantel gefalzt ist; es ist also ein Rohrdraht, wie er, aus andern Stof¬ 
fen hergestellt, schon seit mehreren Jahren verwendet wird. Das 
Eisen hat zwar einen fast acht mal so großen spezifischen Wider¬ 
stand als das Kupfer, die Querschnitte brauchen aber bei w'eitem 
nicht acht mal so groß zu sein, weil die meisten Leitungen in unsern 
Hausinstallationen mit Rücksicht auf mechanische Festigkeit min¬ 
destens i qmm stark genommen werden, während sie in einer Stärke 
von Bruchteilen eines qmm den elektrotechnischen Ansprüchen, die 
man an sie stellt, im allgemeinen weitaus genügen würden. Die Rech¬ 
nung hat z. B. ergeben, daß in einem dreistöckigen Mietshaus mit 
drei Vierzimmerwohnungen für alle Leitungen in den Stockwerken 
Eisendrähte von 1,5 qmm genügen, wenn für die Steigleitungen 4 
und 6 qmm starke Leitungen verwendet werden. — Auch die Frei¬ 
leitungen sollen nach Möglichkeit in Eisen ausgeführt werden. 



48* 


Sitzungsberichte. 


Herr Prof. Dr. Schultheiß macht zum Schluß einige Mitteilun¬ 
gen über die Hörbarkeit des Kanonendonners. 


779. Sitzung am 22 . Januar 1915. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 36 Mitglieder. 

Herr Professor Dr- P. Askenasy sprach über das Thema: 
„A llgemeines zur Stickstofffrag e“- Der Vortragende 
wies auf die große Bedeutung der Frage für unsere Ernährung hin. 
Die Weltproduktion der stickstoffhaltigen Düngemittel stieg von 2,8 
Millionen Tonnen im Jahre 1880 auf 4,5 Millionen 1913. Von 
letzteren kamen als Chilesalpeter aus Chile 2,5 Millionen. Deutsch¬ 
land allein verbrauchte 19x3 0,8 Millionen Tonnen Salpeter. Da die 
natürlichen Vorräte an Salpeter nicht unerschöpflich sind, da man 
auch mit dem Guano und Algendünger, sowie mit den mit der at¬ 
mosphärischen Feuchtigkeit zur Erde wandernden assimilierbaren 
Stickstoffmengen, die Arrhenius für die ganze Erdoberfläche auf 400 
Millionen Tonnen jährlich berechnet, ferner auch mit den Stickstoff 
bindenden Knöllchenbakterien der Leguminosen dem Boden nicht 
genügend Stickstoffdünger zuführen kann, müssen wir uns auf eine 
steigende Produktion an künstlichen Stickstoffdüngern ein¬ 
richten. Als solche kommen in Betracht: 

1. Salpetersäure aus Luft. Sie ist nur mit Hilfe 
billigster Wasserkräfte gewinnbar. Europa produziert zurzeit 
130000 Tonnen Kalksalpeter auf diesem Wege. Die Produktion 
wird voraussichtlich bald auf 600 000 Tonnen steigen. 

2. Ammoniumsulfat. Es entstammt heute noch grö߬ 
tenteils den Kokereien und den Gasanstalten. Die Weltproduktion 
betrug 1913 1,2 Millionen Tonnen, in Deutschland allein 0,5 Milio¬ 
nen. Da sie in den Kokereien nicht dem steigenden Bedarf entspre¬ 
chend ausdehnungsfähig ist, muß die chemische Synthese ein- 
greifen. Auf diesem Gebiet hat unbestreitbar den größten Erfolg 
das Verfahren der Vereinigung von Stickstoff und Wasserstoff auf 
Basis der Erfindung von Professor F. Haber. Dieses jüngste Ver¬ 
fahren wird trotzdem schon in allergrößtem Maßstab ausgeführt. 
Von welcher großer Bedeutung es auch gerade jetzt ist, wird erst 
nach Beendigung des Krieges allgemeiner bekannt werden. — Die 
Bedeutung des ebenfalls in Deutschland aus Kalziumkarbid erzeug 
baren Kalkstickstoffes, der sich als Dünger bestens be- 



Sitzungsberichte. 


49* 

währt hat, tritt in diesem Augenblick gegen das Haber- Verfah¬ 
ren etwas zurück, wennschon auch von Kalkstickstoff bereits über 
iooooo Tonnen jährlich erzeugt werden. — Die wissenschaftliche 
Bearbeitung aller dieser Methoden, auch die der Gewinnung von 
Ammoniak aus Aluminiumnitrid, auf deren Zusammen¬ 
hang mit der Aluminiumindustrie der Vortragende hinwies, ist 
größtenteils von den Chemikern der Karlsruher Hochschule ausge¬ 
führt worden. — An den Vortrag schloß sich eine lebhafte Dis¬ 
kussion. 

Herr Geh. OberforstratSiefert schließt sich den Dankes¬ 
worten des Vorsitzenden an den Vortragenden an. Es ist die Stick¬ 
stoffrage für die Ernährung und Wehrhaftigkeit unseres Volkes 
(Herstellung von Sprengstoffen) von größter Wichtigkeit. Nach 
Meldungen der landwirtschaftlichen Presse ist die Errichtung von 
drei Fabriken nach der Haberschen Erfindung in Angriff genom¬ 
men. Es wäre von Interesse zu hören, wo diese Gründungen statt¬ 
finden und ob sie durch den Staat oder die Privatindustrie erfolgen. 
Bei dem Wegfall des unter den künstlichen Stickstoffdüngern an 
erster Stelle benützten Chilesalpeters ist es dringend nötig, daß 
nicht nur neue Stickstoffquellen erschlossen werden, sondern daß die 
Preise für diese Düngemittel, die an sich schon sehr hoch sind 
(i kg. Stickstoff kostet etwa 1,20 M.), nicht in die Höhe getrieben 
werden, zumal eben neben der Stickstoffzufuhr nach dem Minimum¬ 
gesetz auch noch andere Düngemittel dem Boden gegeben werden 
müssen, um gute Ernten zu erzielen. Leider verbietet in der Regel 
der hohe Stickstoffpreis die Anwendung dieses Düngemittels auf den 
Wiesen zur Steigerung der so nötigen Futtererträge. In der ge¬ 
genwärtigen, an sich teueren Zeit ist nach mancherlei Anzeichen zu 
befürchten, daß besonders die kleineren Landwirte, die in Baden 
weitaus vorwiegen, mit der Anschaffung von Düngemitteln zurück¬ 
halten, was gerade jetzt, wo die Erzielung größtmöglicher Ernten 
durchaus nötig ist, im höchsten Grade bedenklich wäre. 


780. Sitzung am ig. Februar 1915. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 43 Mitglieder. 

Herr T h i e m e hielt einen Vortrag über Funkentelegra- 


Vcrhandlungen. 26. Rand. 


IV 



5°' 


Sitzungsberichte. 


781. Sitzung am 5. März 1915. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 200 Mitglieder. 

Herr Geh. Hofrat Dr- Lehmann hielt „Zum 70. G e b u r t s- 
t a g von W. C. von Röntgen“ einen Vortrag, dessen Inhalt in 
Kürze der folgende war: 1 

Kaum bekannt geworden, hat die Entdeckung der Röntgenstrah¬ 
len sofort das lebhafteste Interesse der ganzen gebildeten Welt er¬ 
regt, nicht nur wegen der wunderbaren Eigenschaften dieser Strahlen, 
sondern hauptsächlich wegen der Aussicht außerordentlich nützlicher 
Verwertung derselben auf ärztlichem Gebiete. Was man erwartete, ist 
eingetroffen und gerade im jetzigen Kriege leisten die Röntgenauf¬ 
nahmen der Chirurgie die allergrößten Dienste. Wir sind stolz da¬ 
rauf, daß ein Deutscher der Welt eine so hervorragende Entdek- 
kung geschenkt hat, daß diese Entdeckung hervorgegangen ist aus 
den Forschungen deutscher Physiker (Hittorf, Hertz, Lenard), und 
daß ihre praktische Verwertung hauptsächlich durch deutschen Fleiß 
zur höchsten Vollendung gebracht wurde. 

An der Hand zahlreicher Experimente, Lichtbilder, Wand¬ 
tafeln und ausgestellter Röntgenaufnahmen zeigte der Vortragende, 
wie die theoretischen und experimentellen Forschungen über die 
Vorgänge bei elektrischen Entladungen in verdünnten Gasen, ins¬ 
besondere über die Natur der Kathodenstrahlen, zunächst zur Auf¬ 
findung der Lenardstrahlen geführt haben. Er erörterte die ver¬ 
schiedenen Schwierigkeiten, die sich der Herstellung für den prak¬ 
tischen Gebrauch geeigneter Apparate zur Erzeugung der Röntgen- 
strahlen entgegenstdlten und wie diese Schwierigkeiten der Reihe 
nach überwunden wurden. Auch die neuesten Formen von Röntgen¬ 
röhren, die Coolidge- und Zehnder-Röhre, wurden besprochen und 
gezeigt, wie es wieder rein wissenschaftliche Untersuchungen (über 
das Freiwerden von Elektronen aus weißglühendem Wolfram und 
über die Beseitigung der letzten Gasreste aus Elektroden und Röh¬ 
ren waren, die zu diesen wesentlichen technischen Fortschritten ge¬ 
führt haben, welche allerdings noch nicht in die Röntgenpraxis Ein¬ 
gang gefunden haben, da die neueren Röhren im Handel noch nicht 
zu haben sind. 

Noch wunderbarer als die medizinische Röntgentechnik und in 
ihren Folgen unabsehbar ist die durch M. v. Laues Entdeckung der 

1 Der Vortrag ist abgedruckt unter den Verhandlungen, S. 105 . 



Sitzungsberichte. 


5 •* 

Interferenz von Röntgenstrahlen beim Durchgang durch Kristalle 
in allerneuester Zeit ermöglichte Erforschung der Molekularstruktur 
der Kristalle mit Hilfe der Röntgenstrahlen. Diese Entdeckung lie¬ 
fert zugleich den Beweis, daß die Röntgenstrahlen im Grunde nichts 
anderes sind als ultraviolette Lichtstrahlen, deren Wellenlänge aber 
außerordentlich viel kleiner ist, als die der kürzesten bis jetzt be¬ 
kannten Wellen. Die Lenardstrahlen, welche Ströme negativer Elek¬ 
trizität sind und demgemäß von einem Magneten abgelenkt werden, 
sind dagegen, trotz ähnlicher Eigenschaften, keine Lichtstrahlen. 
Es gibt verschiedenartige Röntgenstrahlen, so wie es verschie¬ 
denartige Lichtstrahlen gibt, nämlich langwellige oder weiche 
Röntgenstrahlen, die nur geringes Durchdringungsvermögen haben, 
und kurzwellige oder harte Strahlen, die selbst sehr dicke Körper 
durchdringen können, ohne merklich absorbiert zu werden. Die ge¬ 
wöhnlich gebrauchten Röntgenstrahlen sind ein Gemisch verschieden 
harter Strahlen, ähnlich wie das gewöhnliche weiße Licht ein Gemisch 
verschiedenfarbiger Lichtstrahlen (d- h. von Strahlen verschiedener 
Wellenlänge) ist. Die Wellenlänge mittelharter Röntgenstrahlen ist 
rund ioooo mal kleiner als die der äußersten ultravioletten Strahlen. 
Sie entstehen ähnlich wie die Lichtstrahlen durch Wiedervereinigung 
von Elektronen mit dem Atomrest, von welchem die Elektronen 
beim Durchgang von Kathodenstrahlen oder von anderen Röntgen¬ 
strahlen (d. h. beim Durchgang starker elektrischer und magne¬ 
tischer Felder) abgetrennt wurden. Die Wiedervereinigung erfolgt 
unter pendelnden Schwingungen, deren Zahl pro Sekunde im ge¬ 
nannten Fall etwa 30 Trillionen beträgt. Dabei werden elektrische und 
magnetische Felder, deren Dicke nur etwa 2 / 10 von der Dicke 
eines Atoms beträgt, in den Raum hinausgesandt, welche pro Se¬ 
kunde wie die des Lichtes eine Strecke von 300 Milionen Meter zu¬ 
rücklegen. Die Wellenlänge dieser Röntgenstrahlen, d. h. die Dicke 
dieser elektrischen und magnetischen Felder (ein positives und ein 
negatives zusammengerechnet) ist umgekehrt proportional der Span¬ 
nungsdifferenz der Elektroden der Röntgenröhre, die selbst wieder 
abhängt von der Güte des Vakuums in der Röhre und mit dieser 
wächst. Je größer die Spannungsdifferenz der Elektroden, um so 
größer ist nämlich die Geschwindigkeit der Kathodenstrahlen, durch 
welche die Röntgenstrahlen erzeugt werden, um so heftiger also der 
Zusammenstoß, der in den Kathodenstrahlen fortbewegten Elektro¬ 
nen mit den Molekülen. Ist die Geschwindigkeit kleiner als 2 Mil- 


iv* 



Sitzungsberichte. 


5 2 * 

lionen Meter pro Sekunde, so ist der Anprall zu schwach, um 
Elektronen aus den Molekülen auszutreiben, so daß auch keine Rönt¬ 
genstrahlen entstehen. Die Spannungsdifferenz, welche der genann¬ 
ten Geschwindigkeit entspricht, beträgt nur n Volt. Mit zuneh¬ 
mender Spannungsdifferenz entstehen zunächst sehr weiche Röntgen¬ 
strahlen, die nicht einmal imstande sind, die Glaswand der Röhre 
zu durchdringen. Für ärztliche Durchleuchtungen werden Span¬ 
nungen von 50 000 bis 200 000 Volt gebraucht. Bei dem überaus 
raschen Wechsel der Richtung der elektrischen und magnetischen 
Kräfte der Röntgenstrahlen, d. h. bei der außerordentlich großen 
Schwingungszahl derselben, können die Elektronen der getroffenen 
Atome im allgemeinen nicht in Mitschwingung versetzt werden. 
Die Röntgenstrahlen werden deshalb nicht reflektiert und gebrochen 
wie gewöhnliche Lichtstrahlen, wohl aber treten Beugungserschei¬ 
nungen auf, ganz wie bei Lichtstrahlen, die durch ein aus sehr 
feinen Spalten bestehendes Gitter (Beugungsgitter) hindurchgehen. 
Wie im genannten Falle sieht man auf dem auffangenden Schirme 
den hellen Streifen, welchen das auf treffende Strahlenbündel erzeugt, 
umgeben von anderen hellen Streifen, aus deren Abstand die Wellen¬ 
länge genau berechnet werden kann* Geeignete Gitter, deren Spal¬ 
ten der geringen Wellenlänge der Röntgenstrahlen entsprechend nicht 
viel größer sein dürfen, als die Atomdurchmesser, finden sich bei 
Kristallplatten, da in solchen die Moleküle zu regelmäßigen Raum¬ 
gittern geordnet sind. Man kann eine solche Platte auffassen als 
ein System hintereinander aufgestellter Paare von gekreuzten Git¬ 
tern, wobei sich natürlich entsprechend kompliziertere Interferenz¬ 
erscheinungen ergeben, als bei einfachen Beugungsgittern* Man sieht 
ein System von hellen Flecken auf dem Schirm, welche solche Lage 
haben, als ob die Röntgenstrahlen von den Molekülschichten reflek¬ 
tiert würden, zwischen welche ihre Wellenlänge gewissermaßen hin¬ 
einpaßt, wie es bei Reflexion des Lichtes bei den Lippmannschen Far¬ 
benphotographien der Fall ist. Kennt man also die Wellenlänge der 
Röntgenstrahlen, so kann man umgekehrt aus dem Interferenzbild 
einen Schluß ziehen auf die Beschaffenheit des Raumgitters, d. h. 
auf die Art der Anordnung der Moleküle. Beispielsweise findet 
man beim Diamant eine Anordnung, wie sie nach den bisherigen 
Ergebnissen der Chemie hinsichtlich der Art der Gruppierung der 
Atome (nach Wertigkeiten) zu erwarten war, die aber unter den 
bisherigen Raumgittersystemen der Kristallographie fehlte. Da eine 



Sitzungsberichte. 


53* 

Gruppe von Atomen ein Molekül bildet, kann man im Prinzip auch 
Aufschluß erhalten über die innere Konstitution eines Moleküls, 
und über die Abstände der darin enthaltenen Atome, eines der wich¬ 
tigsten Probleme der Wissenschaft. So wie der Maschinenbauer 
naturgemäß die Leistungen einer Maschine nur dann genau voraus¬ 
berechnen kann, wenn er deren Zusammensetzung genau kennt, so ist 
(zur Vorausberechnung der Naturerscheinungen genaue Kenntnis 
der verborgenen Zusammensetzung der Materie erforderlich. Selbst 
bei Lebewesen spielt diese eine große Rolle und Übergänge zwischen 
der einfachen Molekularanordnung der festen Kristalle und der sehr 
komplizierten bei Lebewesen sind in den flüssigen Kristallen ge¬ 
geben. Auch diese sind bereits nicht ohne Erfolg mit Röntgenstrah¬ 
len untersucht worden, doch müßte, um weitere Fortschritte zu er¬ 
zielen, weil die Objekte, ähnlich wie Bakterien, organische Zellen 
usw. sehr klein sind, erst noch eine Art Röntgenstrahlen-Mikroskop 
erfunden werden, was wohl durch die neueren Verbesserungen von 
Röntgenröhren möglich werden wird. 


782. Sitzung am 12. Mai 1915. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 150 Mitglieder. 

Herr Ingenieur D i n e s s e n hielt einen Lichtbildervortrag 
über: Unsere Flotte (Großkampfschiffe, Torpedo- und Unter¬ 
seeboote. 


783. Sitzung am 17. Dezember 1915. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 15 Mitglieder. 

Der Vorsitzende Herr Geh. Hofrat Dr- O. Lehmann ge¬ 
dachte zunächst des Ablebens zweier langjähriger Mitglieder des 
Vereins, des Wirklichen Geheimen Oberpostrats Joh. Friedr. 
Hess und des AJt-Stadtrats Adolf Meess, die beide der Tä¬ 
tigkeit des Vereins stets reges Interesse entgegenbrachten und von 
welchen besonders der letztere mehrfach seine Arbeitskraft und sein 
tiefgehendes Wissen auf dem Gebiete der Schmetterlingskunde in 
den Dienst des Vereins gestellt hat. Sodann berichtete er über die 
neuesten Forschungsergebnisse bezüglich der 
Struktur kristallinischer Flüssigkeiten Man 



Sitzungsberichte. 


54* 

kann drei Arien solcher unterscheiden. Die zähflüssigen 
Kristalle haben dieselbe Struktur wie die festen. Die Moleküle 
sind zu regelmäßigen Raumgittern zusammengelagert, wie durch das 
Verfahren von v. Laue durch Röntgenstrahlen nachgewiesen werden 
kann. Beim Fließen wird das Raumgitter gestört, was aber keine Än¬ 
derung der Eigenschaften bedingt, wie sie nach der althergebrachten 
Theorie der Aggregatzustände der Polymorphie und der Amorphie 
eintreten müßte. Diese Theorie ist somit unrichtig. Die Ände¬ 
rung des Raumgitters erfolgt so, daß sich die Moleküle in die Stel¬ 
lung geringsten Widerstands gegen den ausgeübten Zwang zu be¬ 
geben suchen, ähnlich wie die Lenkrollen an einer Rollkarre beim 
Verschieben derselben sich so einstellen, daß ihre Achse senkrecht 
zur Richtung der Verschiebung wird, wobei sich letztere mit gering¬ 
ster Kraft vollzieht. Die zweite Klasse ist die der schleimig- 
flüssigen Kristalle. Deren Moleküle ordnen sich immer in 
geradlinige Reihen, aufeinandergeschichteten Tellern ver¬ 
gleichbar. Im Normalzustand sind diese Molekülreihen parallel- 
Er stellt einen Übergang zur Raumgitterstruktur der festen und 
zähflüssigen Kristalle dar, unterscheidet sich aber von dieser da¬ 
durch, daß die Moleküle um die Achse der Reihen beliebig gegen 
einander verdreht sein können (Halbisotropie). Beim Fließen ver¬ 
drehen sich die Molekülreihen gegeneinander ohne ihre grad- 
linigeGestaltzu verlieren. Sie gehen dabei stets von Punkten 
einer Unstetigkeitslinie aus und endigen an Punkte einer zweiten. 
Gewöhnlich sind diese Unstetigkeitslinien Basisrand und Achse eines 
Doppelkegels, doch können es auch z. B. zwei zu einander senkrechte 
sich nicht schneidende gerade Linien sein oder Ellipsen, die wie 
Kettenglieder mit einander verschränkt sind usw- Außerdem verkür¬ 
zen oder verlängern sich die Molekulreihen beim Fließen immer so, 
daß die Anzahl der Moleküle in der Raumeinheit, d. h. die Dichte 
der Substanz, dieselbe bleibt. Ganz wie im Fall einer Säule aufein¬ 
ander geschichteter Teller sind die beiden Enden einer Molekül¬ 
reihe ungleichwertig, so daß man den Molekülen geradezu teller- 
oder schalenförmige Gestalt zuschreiben muß. Kommen zwei ho¬ 
mogene schleimig-flüssige Kristalle in übereinstimmender Stellung, 
d. h. so daß die konkaven Enden der Molekülreihen nach derselben 
Seite gerichtet sind, in Berührung, so fließen sie — ebenso wie zwei 
Wassertropfen in Berührung kommend, sich zu einem Tropfen ver¬ 
einigen —, zu einem Kristallindividuum von normaler Struktur zu- 



Sitzungsberichte. 


55* 

sammen. Ist aber ihre Stellung entgegengesetzt, so bleiben die Mo¬ 
lekülreihen nicht parallel, es entstehen Strukturstörungen, der ge¬ 
nannten Art, die sich durch ihre eigentümliche Lichtbrechung ver¬ 
raten. In einer größeren Masse schleimig-kristallinischer Flüssig¬ 
keit wird durch die zahlreichen Strukturstörungen eine Trübung 
bedingt, wie wenn die Substanz durch eingebrachten feinen Staub 
verunreinigt wäre. Wird eine solche Masse zum Fließen gebracht, 
so kann die Zahl der Strukturstörungen und damit die Trübung 
sowohl zunehmen wie abnehmen, denn wie bei den zähflüssigen Kri¬ 
stallen macht sich ein Bestreben der Moleküle geltend, die Stellung 
geringsten Widerstandes anzunehmen. Auch die molekularen Kräfte, 
welche von den Gefäßwandungen ausgehen, kommen zur Geltung 
und ganz besonders merkwürdige Gebilde und Strukturen entstehen, 
wenn fremde Stoffe von der kristallinischen Flüssigkeit aufgelöst 
werden. Das Grundgesetz bleibt aber immer bestehen; sowohl im 
Ruhezustand wie während des Strömens, selbst wenn dieses ein 
wirbelartiges ist, bleiben die Molekülreihen stets geradlinig, sie än¬ 
dern nur ihre Richtung und ihre Länge. Dieses Gesetz gilt nicht 
für die tropfbar -flüssigen Kristalle, welche freischwe¬ 
bend die Form kugeliger Tropfen annehmen und wie solche zusam¬ 
menfließen. Die Erscheinungen sind hier so verwickelt, daß sie sich 
nicht mit kurzen Worten beschreiben lassen. Der Vortrag wurde 
begleitet von Vorführung zahlreicher meist farbiger Lichtbilder. 


784. Sitzung am 20. Januar 1916. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 25 Mitglieder. 

Herr Lehrer S c h n e b e 1 hielt einen Vortrag über: „D ie An¬ 
wendung von Detektoren und Verstärkungsröh¬ 
ren in der drahtlosen Telegraphi e“. 


785. Sitzung am 11. Februar igi6. 
Mitglieder-Hauptversammlung. 

Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 150 Mitglieder. 

Herr Oberbaurat R e h b o c k sprach über die Hochwasserkata¬ 
strophe in Holland am 13./14. Januar 1916. Der Redner wies ein¬ 
leitend auf die geschichtliche Entwicklung der Niederlande hin, 



5 6 * 


Sitzungsberichte. 


deren Gestalt zum Teil von seinen Bewohnern im Kampf mit dem 
Wasser festgelegt worden ist, indem große Gebiete dem 
Meere durch Eindeichung abgewonnen wurden- Heute ist das ganze 
Landgebiet, soweit es nicht durch Dünen geschützt ist, durch Deiche 
gegen die Angriffe des Meeres gesichert. Hinter diesen Deichen 
liegen ausgedehnte Landflächen in einer Größe von etwa 7700 Qua¬ 
dratkilometer, d. h. von der halben Größe des Großherzogtums Ba¬ 
den, unter der mittleren Höhe des Meeresspiegels. Diese mit dem 
Namen „Polderland“ bezeichneten Bodenflächen werden durch dau¬ 
erndes Auspumpen des Niederschlagwassers mit Pumpwerken trok- 
ken gehalten. Sie finden in sehr ausgedehntem Maß für eine sehr 
gewinnbringende Viehzucht Verwendung als Grasland. Die Sicher¬ 
heit des Polderlandes beruht auf der Festigkeit der Deiche, die meist 
durch Deichgenossenschaften unterhalten werden. In früheren Jahr¬ 
hunderten waren Deichbrüche an der Tagesordnung. Sie führten 
vielfach zur Überschwemmung ausgedehnter Landflächen, nament¬ 
lich in den bis 4 Meter unter dem Meeresspiegel liegenden Gebieten 
um die Zuidersee herum. Zum letztenmal hat eine große Sturmflut 
am 4-/5. Februar 1825 sehr umfangreiche Gebiete der Provinzen 
Nordholland, Friesland und Oberysel unter Wasser gesetzt. Seit 
jener Zeit aber galten die Poldergebiete der Niederlande als sicher. 

Eine gewaltige, durch einen schweren Nordweststurm hervor¬ 
gerufene Sturmflut hat in der Nacht vom 13- zum 14. Januar d. J. 
das Wasser der Zuidersee bis zu einer vorher noch nie erreichten 
Höhe ansteigen lassen und eine Hochwasserkatastrophe veranlaßt, 
wie sie die jetzt lebende Generation noch nicht gesehen hat. Um die 
ganze Zuidersee herum haben die Deiche schwer gelitten, an zahl¬ 
reichen Stellen sind sie gebrochen, so daß sich die Fluten des Meeres 
weithin über die tiefliegenden Landgebiete ergießen konnten. Die 
schwersten Überschwemmungen sind in der Provinz Nordholland 
nördlich des Amsterdamer Seekanals eingetreten, wo im äußersten 
Norden beim Helder 3000 Hektar des Anna-Paulowna-Polders unter 
Wasser liefen, vor allem aber weiter südlich, wo gegenüber der auch 
selbst überfluteten Insel Marken die Zuidersee-Deiche an vielen Stel¬ 
len durchbrochen wurden. Hier gerieten sehr ausgedehnte Gebiete 
von zusammen 13000 Hektar, sowie die Städte Edam, Purmerend, 
Zaandam und eine große Anzahl kleinerer Ortschaften unter Was¬ 
ser. Ein ganz ungeheuerer Schaden wurde dabei angerichtet, weil 
die salzigen Fluten das überschwemmte Gebiet vielleicht auf Jahre 



Sitzungsberichte. 


c 

5 / 

hinaus der vollen Nutzung entziehen werden. Zahlreiche Häuser 
wurden zerstört und große Mengen Vieh kamen ums Leben. Die 
Gesamthöhe des Schaden läßt sich heute noch nicht übersehen, wird 
aber auf Hunderte von Millionen Gulden geschätzt. 

Der Redner besprach sodann eingehend die Mittel, die von hol¬ 
ländischen Ingenieuren zur möglichst schnellen Trockenlegung des 
Überschwemmungsgebietes vorgeschlagen wurden. Durch Eingrei¬ 
fen des Militärs ist es zunächst gelungen, die das noch nicht über¬ 
flutete Gebiet schützenden Zwischendeiche in aller Eile aufzuhöhen 
und dadurch eine weitere Ausdehnung der Überschwemmung zu ver¬ 
hindern. Zur weiteren Sicherung der gefährdeten Gebiete wurde 
unter Mitverwendung des vorhandenen Eisenbahndeiches ein neuer 
Schutzdeich von Zaandam bis Edam ausgeführt. Die Wiederher¬ 
stellung der Seedeiche selbst dürfte aber noch wenigstens zwei Mo¬ 
nate in Anspruch nehmen. Erst dann kann mit dem Auspumpen 
des Überflutungswassers begonnen werden. Hierzu können auch die 
starken Pumpwerke bei Amsterdam und unter Umständen sogar die 
50 Kilometer vom Uberflutungsgebiet entfernten Pumpwerke bei 
Gouda und Katwyk Verwendung finden. 

Um eine Wiederholung einer solchen Hochwasserkatastrophe 
sicher zu verhindern, werde zurzeit in Holland die Verwirklichung 
des Projektes zur Trockenlegung der Zuidersee ernstlich in Erwä¬ 
gung gezogen. Es ist zu erwarten, daß das eingetretene schwere 
Unglück die schon seit über 20 Jahren verfolgten Arbeiten zur Er¬ 
reichung dieses Zieles fördern wird. Der Redner ging dann noch 
auf die Einzelheiten des im Jahre 1891 vom jetzigen Wasserbaumi¬ 
nister Dr. Lely aufgestellten Entwurfs der „Zuidersee-Vereinigung“ 
näher ein, nach dem die Zuidersee durch einen über die Insel Wierin¬ 
gen führenden Seedeich von der Nordsee abgetrennt und in einen 
Süßwassersee verwandelt werden soll. Im Laufe der Zeit sollen von 
der Fläche dieses Sees allmählich 194000 Hektar trocken gelegt 
werden, auf welchem neu gewonnenen Gebiet dann etwa Vt Mil¬ 
lion Menschen ihr Auskommen finden könnten. 

Der Vortrag wurde durch eine große Anzahl interessanter 
Lichtbilder erläutert, die in anschaulicher Weise die gewaltigen Zer¬ 
störungen der Fluten an Deichen, Häusern und Schiffen erkennen 
ließen. 

Nach dem Vortrag fand die Mitgliederhauptver- 
Sammlung statt, die schon ein Jahr zuvor hätte abgehalten wer- 



5 8* 


Sitzungsberichte. 


den sollen; wegen der kriegerischen Ereignisse und der Schwierig¬ 
keiten der Rechnungsprüfung hat sie verschoben werden müssen. 

Der Schriftführer gab den üblichen Bericht über die Vereins¬ 
tätigkeit im abgelaufenen Vereinsjahr, der Rechner den Kassenbe¬ 
richt; beiden wurde der Dank des Vereins durch den Vorsitzenden 
ausgesprochen und dann Entlastung erteilt. 

Der Vorstand wurde durch Zuruf wiedergewählt; außerdem 
noch Herr Bankdirektor Gau, dem das Amt des Rechners übertra¬ 
gen wurde. 


786. Sitzung am 14. Februar 1916. 

Vorsitzender: Herr Geh. H' Trat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 200 Zuhörer. 

Gemeinsame Sitzung mit dem Karlsruher Bezirksverein Deut¬ 
scher Ingenieure, der Chemischen Gesellschaft des Badischen Ar¬ 
chitekten- und Ingenieurvereins und des Elektrotechnischen Vereins 
der auch S. K. Hoheit der Großherzog anwohnte. Herr Geheime¬ 
rat Dr. Lummer von der Universität Breslau hielt einen Vor¬ 
trag über „D ieVerflüssigungderKohleunddieHer- 
stellung der Sonnentemperatu r“. Herr Professor 
Dr. Lummer begann seinen lebensprühenden, mit Witz und Laune 
gewürzten Vortrag mit Betrachtungen über die Grenzen des Natur- 
erkennens und über die Möglichkeit, die einmal zu Ende gehende 
Kohlenergie zu ersetzen, um hierauf die verschiedenen Methoden zu 
entwickeln, sehr hohe Temperaturen aus der Strahlung der Körper 
zu bestimmen. 

Als wichtigstes Ergebnis der mit dem Lummerschen Interfe¬ 
renzphoto- und Pyrometer und nach der Lummer-Pringsheimschen 
Methode der logarithmischen Isochromaten angestellten Versuche ist 
die Tatsache hervorzuheben, daß die wahre Temperatur des posi¬ 
tiven Kohlenkraters der in freier Luft brennenden Bogenlampe von 
Stromstärke und Bogenlänge unabhängig ist und rund 4200 abs. be¬ 
trägt. Wenn alle früheren Versuche (Desprez, Moissan u. a.) durch 
Steigerung der Energiezufuhr die Kohle der Bodenlampe zum 
Schmelzen zu bringen, mißlungen sind, so daß seither der Satz: d i e 
reine Kohle ist unschmelzbar und geht bei hoher Tem¬ 
peratur unmittelbar aus dem flüssigen in den gasförmigen Zustand 
über — als unumstößlicher Lehrsatz galt, so war der Anreiz, für den 
Forscher um so größer, die Versuche zum Schmelzen des Kohlen- 



Sitzungsberichte. 


59* 

Stoffs unter veränderten Bedingungen wieder aufzunehmen. Durch 
Verminderung des Drucks auf ^Atmosphäre und Anwendung ver¬ 
hältnismäßig kleiner Stromstärke ist es in der Tat dem Vortragen¬ 
den gelungen, einen Zustand des positiven Kraters herbeizuführen, 
der allen Anzweiflungen zum Trotz sich als flüssiger Zustand des 
reinen Kohlenstoffs erwies. Schwer zu beschreiben ist der wunder¬ 
bare Anblick des in starker Vergrößerung projizierten Kohlenflusses, 
auf dessen dunklem Hintergrund, Eisschollen vergleichbar, unge¬ 
mein helle fünf- bis sechseckige Körper, sog. „Fische“, mit fabel¬ 
hafter Schnelligkeit sich hin- und herbewegen, während ein waben¬ 
ähnliches Netz warscheinlich kristallisierten Kohlenstoffs von mitt¬ 
lerer Helligkeit die auf die Waben passenden Fische auffängt, wo¬ 
rauf sie von der Mitte her wieder geschmolzen werden. Die Fische 
sind wahrscheinlich Graphitkristalle, wie ebenso die wieder erstarrte 
Kohlenflüssigkeit sich als Graphit nachweisen läßt. Ausdrücklich 
weist der Vortragende die Annahme zurück, daß seine Versuche 
mit der Herstellung künstlerischer Diamanten in unmittelbarem Zu¬ 
sammenhang stehen. Dagegen zeigt er durch den Versuch, daß auch 
andere Kohlensorten, insbesondere glasklare Diamanten, geschmol¬ 
zen werden können und ebenfalls den oben geschilderten Anblick 
darbieten, ferner, daß das Schmelzen der Kohle auch bei anderen 
Drucken, von V# bis 2 Atmosphären, gelingt. Die Konstanz der 
Temperatur der aus festem Zustand verdampfenden Kohle ließ ver¬ 
muten, daß diese Temperatur durch Druckverminderung erniedrigt, 
durch Drucksteigerung erhöht werden kann. 

Die Schwierigkeit, welche sich bei den hierauf bezüglichen Ver¬ 
suchen einstellte und darin bestand, daß die Bogenlampe bei er¬ 
höhtem Druck nicht brennen wollte, mußte durch besondere Kunst¬ 
griffe überwunden werden. So gelang es, den Lichtbogen bei Druck 
bis zu 23 Atmosphären zu erzeugen und dadurch Temperaturen her¬ 
zustellen, die bis zu 8000 Grad gehen, während die Temperatur der 
mit Platinstrahlung strahlenden Sonne zu etwa 6000 Grad angenom¬ 
men werden kann. Würde es möglich sein, den Lichtbogen bei noch 
viel höheren Drucken von 500 bis 600 Atmosphären zustande zu 
bringen, so müßte er der Berechnung nach eine Temperatur von 
200 000 Grad haben- Eine Gegenüberstellung zweier Bogenlampen, 
die unter x bezw. 2 Atmosphären Druck brannten, gab den unmittel¬ 
baren Beweis, daß der höhere Druck eine Erhöhung der Temperatur 
und damit eine noch viel stärkere Steigerung der Gesamthelligkeit 



6o* 


Sitzungsberichte. 


zur Folge hat. Es ist ohne weiteres ersichtlich, wie diese Versuchs¬ 
ergebnisse ztir Erreichung einer besseren Wirtschaftlichkeit der 
Lichtquellen Verwendung finden können. 

Am Schluß seines Vortrages ging der Redner noch auf einen 
phantastisch erscheinenden, von Pringsheim als „blödsinnig“ be- 
zeichneten Gedanken ein: die immer noch ungewisse Sonnentem¬ 
peratur aus dem Bau des menschlichen Auges zu bestimmen. Wenn 
aber der allgemeine Schluß richtig ist, daß die Organe der lebenden 
Wesen sich den natürlichen Bedingungen anpassen, dann liegt auch 
der Schluß nicht ferne, daß das Höchstmaß der Empfindlichkeit 
des Sehorgans dem Höchstmaß der Helligkeit des Son¬ 
nenlichts entsprechen muß. Um diesen Gedanken durchzuführen, 
erinnert der Redner auf die von ihm entdeckten merkwürdigen Seh¬ 
empfindungen, die auf der Verschiedenheit der beiden wichtigsten 
Netzhautbestandteile, der Zapfen und Stäbchen, beruhen. Die Zap¬ 
fen, in nächster Nähe der Sehnervendigung gelegen, treten in Wirk¬ 
samkeit beim Tage und beim direkten Sehen, beim Fixieren, wäh¬ 
rend die Stäbchen das indirekte Sehen und das Sehen im Dunkeln 
vermitteln. Das Merkwürdigste ist nun, wie durch überraschende 
Versuche veranschaulicht wurde, daß nur die Zapfen färben empfind¬ 
lich sind, während die Stäbchen alles Helle grau oder weiß sehen. 
Ferner verschwindet für die Stäbchen der Lichteindruck beim Fixie¬ 
ren, der Gegenstand scheint auszuweichen, weil in der direkten Seh¬ 
richtung keine Stäbchen sich befinden. Es lassen sich auf diese 
Weise auffallende Gesichtsempfindungen und Gespensterercheinun- 
gen auf höchst natürliche Weise erklären. 

Doch der Fülle des Gebotenen war zuviel, und so konnte die 
Darlegung, wie sich aus dem Bau des Auges die Sonnentemperatur 
ermitteln läßt, nicht mehr durchgeführt werden; der Vortragende 
sah sich der begrenzten Zeit wegen veranlaßt, abzubrechen. Zum 
Schluß wurde noch einmal das Bild des flüssigen Kohlenstoffs in 
vergrößerter Projektion vorgeführt. 

Der Vorsitzende gedachte, indem er dem Vortragenden den 
Dank der Zuhörer aussprach, des hohen wissenschaftlichen und 
technischen Wertes der Lummerschen Arbeiten, die einen Triumph 
deutscher Forschungen darstellen. 







Feier des 50jährigen Bestehens des Naturwissen¬ 
schaftlichen Vereins und des 25jährigen Jubi¬ 
läums der Hertzsehen Entdeckungen. 1 

Königliche Hoheiten! Hochgeehrte Anwesende! 

Vor 50 Jahren erschien das erste Heft der Verhandlungen 
unseres Naturwissenschaftlichen Vereins. Heute liegt die stattliche 
Zahl von 25 Bänden vor, enthaltend Berichte über die Vorträge 
in rund 800 Sitzungen und überdies eine sehr große Zahl ein¬ 
gehender Abhandlungen über die Ergebnisse unserer heimischen 
Karlsruher Forschungstätigkeit. Dank vor allem den vielen, die 
in uneigennütziger Weise zu solchem Erfolg beigetragen haben! 

Ins Leben gerufen wurde der Verein durch das lebendige 
Interesse unseres höchstseligen Großherzogs an dem Gedeihen der 
Naturwissenschaften, deren hohe Bedeutung für die Entwicklung 
der Kultur er klar erkannte. Den besonderen Anlaß gab die Ver- 

1 Experimental-Vortrag von O. Lehmann in der Aula der Technischen 
Hochschule in Anwesenheit Ihrer Königlichen Hoheiten des Großherzogs und der 
Großherzogin, sowie zahlreicher Gäste. Da die vorhandenen Plätze nicht zureichten, 
fand am folgenden Tage eine Wiederholung des Vortrags ebenfalls vor zahlreicher 
Zuhörerschaft statt. 


IV 


O. Lehmann 


Sammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Karlsruhe 1858, 
welcher besonderer Glanz verliehen war durch Vorführung eines 
neuen Apparates, des Rühmkorffschen Funkeninduktors durchseinen 
Erfinder, in Verbindung mit den ebenfalls zu dieser Zeit erfun¬ 
denen Geißlerschen Röhren. Durch die Fürsorge des Großherzogs 
ist das physikalische Institut in den Besitz dieses Apparates ge¬ 
kommen, den Sie hier in Funktion sehen. Bei den Untersuchungen 
von H. Hertz sollte er später noch eine große Rolle spielen. 

Am Schluß der Versammlung drückte Seine Königliche Hoheit 
dem Geschäftsführer der Versammlung, dem Physiker Wilhelm 
Eisenlohr (den Sie hier im Bilde (Fig. 1) sehen;, den Wunsch 
aus, es möchte doch fortlaufend dem Kreise der Gebildeten in 
Karlsruhe von den so außerordentlich wichtigen und interessanten 
Fortschritten der Naturwissenschaften in gemeinverständlicherWeise 
Kenntnis gegeben werden. 

Das war nun wohl bereits früher geschehen seitens eines 
Vereins, den Eisenlohr 16 Jahre hindurch geleitet hatte; doch hatten 
politische Wirren der Tätigkeit dieses Vereins ein Ende bereitet. 
Der Wunsch des Großherzogs wirkte Wunder! Alsbald entstand 
(wieder unter Eisenlohrs Leitung) ein neuer Verein. Gut besuchte 
Vorträge gegen Eintrittsgeld wurden in größerer Zahl geheilten 
und in wenigen Jahren vermochte sich der Verein sogar ein an¬ 
sehnliches Vermögen zu sammeln. 

Ganz entsprach er aber nicht den Bedürfnissen. Die Zuhörer 
wollten nicht einfach durch einen unnahbaren Kanzelredner be¬ 
lehrt sein, sie wollten die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen 
und sich über den Gegenstand gemütlich zu unterhalten. So ent¬ 
stand denn bald neben dem ersten neuen Verein ein zweiter, zu¬ 
nächst gleichfalls unter Vorsitz Eisenlohrs 1 , unser heutiger Natur¬ 
wissenschaftlicher Verein, der größeren Beifall fand und 
schließlich Erbe des andern wurde, der sich nach einigen Jahren 
auf löste. Das ererbte Vermögen in Verbindung mit einem Zuschuß 
seitens Großh. Regierung ermöglichte die Herstellung eines Tausch¬ 
verkehrs mit mehr als hundert anderen naturwissenschaftlichen 
Vereinen der ganzen Welt. Welchen Wert diese auf die Tätigkeit 
des Karlsruher Vereins legen, geht hervor aus den zahlreichen uns 

1 Unter Mitwirkung von Alex. Braun und Fr. A. Wal ebner. Mitgliederzahl 
bei der Gründung 62. 



Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw. 


V 


zum heutigen Feste zugegangenen, sehr herzlich gehaltenen Gratu¬ 
lationen ! . 

Das persönliche Interesse des höchstseligen Großherzogs ist 
dem Verein stets erhalten geblieben und mit besonderem Danke 
dürfen wir berichten, daß auch Seine Königliche Hoheit unser 
regierender Großherzog, dem Verein seine Gunst zugewendet hat 
und ihm wiederholt die hohe Ehre seines Besuches bei den Sitzungen 
zuteil werden ließ. 

Daß der Verein auch von privater Seite gefördert wurde, in¬ 
dem er das Recht erhielt, bei Verleihung der von Kettnerschen 
Stiftung für wissenschaftliche Forschungsreisen mitzuwirken und 
durch die Bohmsche Stiftung nebst andren, sowie einen Zuschuß 
Großh.-Regierung in die Lage versetzt wurde, eine eigene Erd¬ 
bebenwarte in Durlach einzurichten, die unter Leitung von Herrn 
Geh. Hofrat Haid bereits interessante Ergebnisse erzielt hat, kann 
ich nur flüchtig berühren. 

Im Jahre 1872 sah sich Eisenlohr durch Krankheit, von welcher 
ihn bald der Tod erlöste, genötigt, vom Vorsitz des Vereins zu¬ 
rückzutreten. Fast ein Vierteljahrhundert hindurch trat nunmehr 
an seine Stelle der Vertreter der technischen Maschinenlehre 
Grashof 1 2 (Fig. 2), dessen Denkmal in der Kriegstraße mich eines 
besonderen Hinweises auf seine bedeutungsvolle Tätigkeit enthebt. 
Treu stand ihm zur Seite der Vertreter der technischen Physik 
und Direktor der Landesgewerbehalle Meidinger 3 , der 30 Jahre 
hindurch das mühevolle Amt des Schriftführers verwaltete. Auf 
Grashof folgte der Mathematiker Wiener (Fig. 3) als Leiter des 
Vereins, auf diesen, und zwar für die lange Zeit von 14 Jahren, 
der Direktor des chemischen Instituts, unser jetziger Ehrenpräsident, 


1 Solche sind eingelaufen von den in dem Tausch verkehr-Verzeichnis näher ange¬ 
gebenen Vereinen und Akademien in Augsburg, Basel, Bonn (2 Vereine), Breslau, Brünn, 
Charlottenburg, Danzig, Dresden, Dürkheim, Frankfurt a. M., Frankfurt a. O., Frei- 
buig i. Br., St. Gallen, Gießen, Graz, Halle a. S„ Hamburg, Hanau, Hannover, Innsbruck, 
Kassel, Kiel, Königsberg, Kolozsvar, Magdeburg, München, Nürnberg, Philadelphia, 
Prag, Rom, Stuttgart, Wien, Wiesbaden, Upsala. Diesen wissenschaftlichen Gesell¬ 
schaften spricht der Naturwissenschaftliche Verein Karlsruhe hiermit seinen herzlichen 
Dank aus. 

2 Seit 1856 auch Vorsitzender des Karlsruher Bezirksvereins Deutscher Ingenieure. 

3 Photographie siehe diese Verhandlungen Bd. 19, 135, 1906 (O. Lehmann, Heinrich 
Meidinger). 



VI 


O. Lehmann 


unter dessen Leitung der Verein ganz besonderen Aufschwung 
nahm x . 

In wenig Worten die Tätigkeit des Vereins zu schildern, ist 
unmöglich. Unter den vielen greife ich deshalb einen Vortrag 
heraus, den, in welchem gerade vor 25 Jahren der Physiker der 
Technischen Hochschule Heinrich Hertz 2 dem Verein über seine 
kurz zuvor gemachten Entdeckungen berichtete, Entdeckungen, die 
in kürzester Zeit das größte Aufsehen in der ganzen Welt erregen 
sollten. 

Hertz (dessen Büste hier aufgestellt ist) war und blieb ein 
einfacher bescheidener Gelehrter, obschon er sehr gut die große 
Wichtigkeit seiner Entdeckungen zu schätzen wußte. Erstaunt 
würde er immerhin sein, wenn er heute sehen könnte, welche 
Umwälzungen in der Physik er veranlaßt hat und von wie hoher 
Bedeutung die praktische Anwendung seiner Entdeckungen zur 
drahtlosen Telegraphie geworden ist. 

Leider war ihm nicht vergönnt, selbst wesentlich an dem 
weiteren Ausbau des von ihm erschlossenen Wissensgebietes mit¬ 
zuarbeiten; schon nach drei Jahren wurde er in Bonn, wohin er 
einen ehrenhaften Ruf erhalten hatte, von einer sehr schmerzhaften 
Krankheit befallen, und nur 36 Jahre alt, wurde er den Seinen 
entrissen, tief betrauert von den Physikern aller Nationen. 

So sind wir heute nicht in der Lage, ihm unsere Glückwünsche 
zu dem Jubiläum zu übermitteln, wir freuen uns aber, wenigstens 
Frau Hertz und der einen seiner beiden Töchter, die sich heute 
hier in unserer Mitte befinden, Gelegenheit geben zu können, sich 
von der Bewunderung, die wir für die Arbeiten des Verewigten 
hegen, zu überzeugen. 

Das ursprüngliche Ziel dieser Arbeiten war Prüfung einer 
in England entstandenen neuen Theorie der elektrischen 
Kraft. Was die Wirkung dieser Kraft ist, weiß jeder, der z. B. 
das Sträuben und die gegenseitige Anziehung von Papierbüscheln 

1 Näheres über die Geschichte des Vereins siehe Birnbaum, diese Ver¬ 
handlungen 1873, lieft 6 , S. 5. Von ausgezeichneten Sitzungen waren die 100. am 
10. Febr. 1872 (Mitgliederzahl 101, anwesend 38), die 200. am 28. Nov. 1877 (M. 118, 
a. 34), die 300. am 14. März 1884 (Teilnahme d. Großherzogs, M. 122, a. 27), die 
400. am 5. Dez. 1890 (M. 135, a. 27), die 500. am 7. Mai 1897 (M. 161, a. 56), die 
600. am 10. Juli 1903 (M. 211, a. 62), die 700. am 16. Juli 1909 (M. 267). 

? Photographie siehe diese Verhandlungen Bd. 15, 19, 1902 (A. Schleiermachei, 
Heinrich Hertz). Vgl. ferner Bd. II, S. 355, 1896 (M. Doll, H. Hertz). 



Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw. 


VII 


die mit den Konduktoren einer Elektrisiermaschine verbunden 
sind, gesehen hat. Um eine Kraftwirkung zu verstehen, müssen 
wir sie aber in Gedanken nachmachen können; wir müssen somit 
ein Wesen kennen, ebenso unteilbar wie unser Ich, ein Individuum 
oder Atom, das die Kraft ausübt, an dessen Stelle wir in unserer 
Phantasie die eigene Person gesetzt denken können. So kam 
man dazu, anzunehmen, die elektrische Kraft werde ausgeübt von 
einem unsichtbaren und, da Elektrisierung die Körper nicht 
schwerer macht, auch unwägbaren feinem Fluidum, der Elek¬ 
trizität, welche als Aggregat gleichartiger nicht weiter teilbarer 
Partikelchen, der Elektronen, aufzufassen ist. Indem wir die 
Elektrisiermaschine betätigen, erzeugen wir im einen Konduktor 
Überschuß, im andern Mangel an Elektronen, ganz wie z. B. 
eine Pumpe, wie sie 
hier aufgestellt ist 
(Fig. 4), Wasser aus 
dem einen Behälter 
heraus und in den an¬ 
dern hineinpumpt, 
im ersten Mangel, 
im zweiten Über¬ 
schuß erzeugt. 

Versuchen wir 
auf Grund dieser 
Vorstellung zu ver¬ 
stehen, weshalb z. B. 

Metallkugeln, die 
auf kleine Wagen 
aufgesetzt und ent¬ 
gegengesetzt elek¬ 
trisch gemacht sind 
(Fig. 5), sich anzie- 
hen, so treffen wir 
immerhin auf erheb¬ 
liche Schwierigkei¬ 
ten. Unsere Kraft 
kann nur durch Be¬ 
rührung wirken; 
hier soll die Kraft 




VIII 


O. Lehmann 



Fig. 5 


sogar durch den luftleeren Raum hindurch in die Ferne wirken! 
Und weshalb ist die Kraft, mit der der Konduktor den, Über¬ 
schuß an Elektronen enthält, den andern gegen sich heranzieht, 
ebensogroß wie die Kraft, die der Konduktor ausübt, in welchem 
Mangel an Elektronen vorhanden ist? 

Hierüber dachte zuerst Faraday in London (den Sie hier 
im Bilde sehen) zu Anfang des vorigen Jahrhunderts nach. Er 
kam zu dem Schluß, die alte Auffassung muß falsch sein! Das 
Ding, welches die Kraft ausübt, ist nicht in, sondern zwischen 
den Metallkugeln. Wie durch gespannte Fäden oder Spiralfedern, 
die an ihnen angeheftet sind, werden sie gegen einander gezogen. 
Der ganze Zwischenraum, das ganze Dielektrikum ist mit solchen 
Kraftfäden erfüllt zu denken, die sich nicht durchdringen 
können und deshalb gegeneinander drücken, wie es auch Gummi¬ 
fäden tun würden. Die Gestaltung wird uns ungefähr angedeutet 
durch die Streifen der gesträubten und sich anziehenden Papier¬ 
büschel. Genauer ist der Verlauf für ein durch eine Kugel ab¬ 
gegrenztes Gebiet dargestellt durch das Modell (Fig. 6). Würden 
wir zwei solche Gebilde in übereinstimmender Stellung auf ein¬ 
ander zu bewegen, so würden wir infolge des Kraftfadendrucks 
auf einen Widerstand treffen, wie beim Zusammenpressen zweier 
Gummibälle. So erklärt sich nach Faraday die gegenseitige Ab¬ 
stoßung gleichartig elektrischer Körper. 

Noch ein anderer Grund war es, durch welchen er in der 
Annahme der Existenz derartiger Kraftfäden im Dielektrikum be¬ 
stärkt wurde. Wir verstehen ihn am besten, indem wir das 
Gleichnis des Wasserpumpwerks nochmals beiziehen. Der Höhen¬ 
unterschied der Wasserspiegel bedingt eine Kraft, die wir zum 
Betrieb eines Wasserrades ausnützen können. Diese Kraft allein 
ist es aber nicht, welche die Arbeit, die Energie des Wasser- 




Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw. 


IX 


rades bedingt, es kommt auch auf die Menge des Wassers an. 
Nach dem Gesetz der Erhaltung der Energie muß man sich vor¬ 
stellen, die Energie sei in den beiden Wasserbehältern gewisser¬ 
maßen aufgespeichert und komme bei Tätigkeit des Wasserrades 
in anderer Form, als Bewegungsenergie, aum Vorschein. 

Ganz ebenso, wenn wir zwischen die entgegengesetzten elek¬ 
trischen Konduktoren ein sogenanntes elektrisches Rad, einen 
statischen Elektromotor (Fig. 7) bringen. Die Arbeit, die dieses 
Rad leistet, indem es getrieben durch die elektrische Kraft sich 
bewegt, entstammt der in den Konduktoren aufgespeicherten elek¬ 
trischen Energie. Freilich die aufgespeicherte Wasserenergie 
können wir nach der Menge des Wassers, nach dem Wasserstand 
beurteilen, die Elektrizität ist aber unsichtbar. Eine bessere 
Analogie scheint deshalb eine Druckluftanlage (Fig. 8) zu 
bieten, bestehend aus zwei Kesseln, in welchen durch eine Pumpe 
Über- beziehungsweise Unterdrück hergestellt wird, deren Dif¬ 
ferenz die Arbeitsleistung eines zwischengeschalteten Druckluft¬ 
motors bestimmt. Die Luft ist unsichtbar und ihre Menge ist 
abhängig von dem angewandten Druck. 



Fig. 6 


X 


O. Lehmann 


Wie Faraday erkannt hat, ist die Art der Aufspeicherung 
der elektrischen Energie aber doch eine wesentlich andere. Würden 
wir beispielsweise die Kessel mit Sand ausfüllen, so wäre die Ener- 



Fig- 7 


gieaufspeicherung unmöglich; im Fall der elektrischen Kugeln, die 
innen hohl sind, hätte dies nicht den geringsten Einfluß. Von 
wesentlichem Einfluß wäre dagegen, wenn wir die Kugeln mit Sand 
umgeben würden, während bei den Luftkesseln dies für die Leistung 
des Motors durchaus gleichgültig wäre. Hieraus zog Faraday den 
wichtigen Schluß: Der Sitz der aufgespeicherten Energie ist nicht 
das Innere der elektrischen Konduktoren, sondern das isolierende 
Medium, welches sie umgibt, das Dielektrikum. Dieses ist, wie 
gezeigt, von Kraftfäden erfüllt, in ihnen ist die Energie aufge¬ 
speichert. Ist das Dielektrikum wie hier Luft, so erstrecken sich 





Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw. 


XI 



Fig. 8 


die Kraftfäden von Molekül zu Molekül (Modell), wie aus der 
Abhängigkeit der Energieaufspeicherung von der Natur dieses 
Dielektrikums zu schließen ist; sie verbinden entgegengesetzte 
Pole der Moleküle und veranlassen diese, sich nach ihrem Ver¬ 
laufe zu richten. So entsteht dielektrische Polarisation, wie 
sie in den beiden Tafeln 1 durch einseitige Schattierung angedeu¬ 
tet ist. Man kann sich vorstellen, in den einzelnen Molekülen 
werde auf einer Seite Überschuß, auf der andern Mangel an Elek¬ 
tronen erzeugt. Daß aber nicht hierin allein die Aufspeicherung 


1 Siehe Frick, physik. Technik 7. Aufl. Bd. II. (1) Taf. I. Fig. 5 und 8. 








XII 


O. Lehmann 


elektrischer Energie beruht, geht daraus hervor, daß sich diese 
kaum erheblich ändert, wenn man die Luft wegpumpt, so daß 
nur Äther bleibt, in welchem solche Polarisation nicht vorhan¬ 
den ist. Die elektrische Energie ist hier sicher lediglich 
durch das Vorhandensein der Kraftfäden bedingt. 

Zur Erklärung aller Erscheinungen, speziell der Beziehungen 
zu den magnetischen Kräften, reicht ohne weiteres auch die neue 

Theorie nicht aus. Von einem 
Körper, der weit von ent¬ 
gegen gesetz t elek tr ische n 

entfernt ist, z. B. von einem 
frei im Raume schwebenden 
Elektron, strahlen die Kraft¬ 
fäden gleichmäßig nach allen 
Richtungen scheinbar ins 
Unendliche aus (Modell Fig. 
9); bewegen sich aber Elek¬ 
tronen in einer gewöhnlichen 
elektrischen Leitung, so be¬ 
gegnen sie immerfort ent¬ 
gegen gese t z t el ek t r i sch e n 

Molekülen (solchen mit Mangel an Elektronen), von welchen ihre 
Kraftfäden gewissermaßen abgefangen und am Austritt aus dem 
Draht gehindert werden. 

Demgemäß sollte man erwarten, zwei stromdurchflossene 
Leiter oder zwei Teile desselben stromdurchflossenen Drahtes 
könnten keine Kraft aufeinander ausüben. Der Versuch, den ich 
hier ausführe, zeigt merkwürdigerweise das Gegenteil. Lasse ich 
die an einer Feder aufgehängte Drahtspirale und die weitere 
darunter fest aufgestellte hintereinander von einem Strom durch¬ 
fließen, so tritt, wie zu sehen, sofort kräftige Anziehung zwischen 
beiden ein. 

Zur Erklärung dieser Kraftwirkung muß angenommen werden, 
daß, wenn Elektronen sich bewegen, zu der elektrischen Kraft 
eine völlig neue Kraft hinzutritt, die wieder verschwindet, wenn 
die Bewegung aufhört. Diese von der elektrischen verschiedene 
Kraft bezeichnet man als magnetische Kraft. 

Aus ihrem Auftreten kann man immer auf das Vorhanden¬ 
sein bewegter Elektronen schließen. Bringe ich eine Draht- 





Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw. 


Xllf 


spule über eiserne Nägel und schicke einen Strom durch sie, 
so werden die Nägel (wie Sie sehen) plötzlich magnetisch an¬ 
gezogen und ziehen sich auch gegenseitig an, demgemäß ist an¬ 
zunehmen, in ihren Molekülen befänden sich kreisende Elektronen, 
deren Bahnen sich unter Einfluß des Stromes in der Spule pa¬ 
rallel richten. Stahlstäbe werden so zu Magneten, die Parallel¬ 
richtung der molekularen Ströme wird eine bleibende und die 
Stäbe wirken nun wie stromdurchflossene Spulen aufeinander ein. 
Gleichartige Enden stoßen sich ab (wie der Versuch zeigt), un¬ 
gleichartige ziehen sich an. 

Wie die elektrische Kraft kann man sich nach Faraday auch 
diese magnetische Kraft hervorgebracht denken durch Kraftfäden, 
welche an entgegengesetzten Polen endigen, im leeren Raum (im 
Äther) zusammenhängend sind, in magnetisch polarisierten 
Medien aber, d. h. solchen, deren molekulare Ströme sich parallel 
gerichtet haben, von Molekül zu Molekül gehen. Die Ent¬ 
stehung magnetischer Kraftfäden bedingt Anhäufung 
magnetischer Energie auch im reinen Äther, der keine 
kreisenden Elektronen enthält, in gleicher Weise, wie Entstehung 
elektrischer Kraftfäden Anhäufung elektrischer Energie. Bei 
elektromagnetischen Motoren (wie einen solchen das Modell hier 
zeigt) wird fortgesetzt die zugeleitete elektrische Energie in 
magnetische Energie umgesetzt und aus dieser wieder Bewegungs¬ 
energie erzeugt. 

Die Faradayschen Vorstellungen sind durch Maxwell (den 
Sie hier im Bilde sehen ! ), in exakte mathematische Form gebracht 
worden. Einige Modelle mögen dies erläu¬ 
tern. Ein ringförmiger elektrischer Strom oder 
eine stromdurchflossene Spule erzeugt mag¬ 
netische Kraftfäden in seiner Achse; ein ge¬ 
rader, in diese Richtung gebrachter Eisenstab 
wird deshalb zum Magneten (Elektromag¬ 
neten), solange der Strom dauert. Ein gerader 
Strom (auch ein einziges geradlinig bewegtes 
Elektron) erzeugt ringförmige magnetische 
Kraftfäden in Ebenen senkrecht zu seiner 
Richtung (Fig. 10). Nach der alten Theorie 

1 Aus Meyers Gr. Konversationslexikon. 6. Aufl. Bd. 15, Tafel Physiker, S. 844. 





XIV 


O. Lehmann 


wären solche in sich zurücklaufende Kraftfäden, die nicht an Polen 
endigen, unmöglich. Wir haben hier, wenigstens im Äther, der 
keine magnetisch polarisierte Moleküle enthält, magnetische 
Kraft ohne Magnetismus! Gerade Linien senkrecht zur Rich¬ 
tung der elektrischen und magnetischen Kraft bestimmen die 
Richtung des Energiestroms. 

Bereits Faraday hatte nun die sehr wichtige Entdeckung ge¬ 
macht, daß die Vorgänge auch umgekehrt verlaufen können. Be¬ 
wegt sich ein Magnetpol in gerader Bahn, so entstehen ringförmige, 
zu dieser senkrechte elektrische Kraftfäden, nach der alten Theorie 
wieder etwas Unmögliches, denn sie stellen elektrische Kraft 
ohne Elektrizität dar, sofern die Kraftfäden im leeren Raum, 
im reinen Äther verlaufen, welcher ja keine Elektronen enthält. 
Ein im Kreise bewegter Magnetpol weckt entsprechend eine 
elektrische Kraft in der Achse des Kreises 1 . 

Wird im ersten Fall an die Stelle, wo ein ringförmiger Kraft¬ 
faden auftritt, ein Drahtring gebracht, so bricht der Kraftfaden 
auf, heftet sich an Elektronen und der Elektronen beraubte Moleküle 
an, so daß die Kraft einen in sich zurücklaufenden Elektronen¬ 
strom, den Induktionsstrom, erzeugt. Der Nachweis ist einfach. 
Ich schiebe eine durch eine gewöhnliche Glühlampe geschlossene 
Drahtspule über den Pol eines Elektromagneten und sofort zeigt 

1 Voraussetzung ist in beiden Fällen anscheinend, daß der Äther relativ zur An- 
fangslage ruht. Würde er sich mitbewegen, so wäre nicht verständlich, weshalb die 
elektrischen Kraftfäden entstehen können. Man erkennt hier eine große Schwierigkeit. 
Die Anfangslage kann selbst eine bewegte sein, z. B. bewegt sich die Erde mit allem, 
was darauf ist, ohne daß wir es bemerken, mit 30 000 Meter pro Sekunde Geschwin¬ 
digkeit um die Sonne. Ein relativ zur Anfangslage ruhender Äther wäre also relativ 
zur Sonne in Bewegung. Dies müßte sich bei Versuchen, bei welchen sich der Beob¬ 
achter nicht mitbewegt, zu erkennen geben. Ist der Äther in absoluter Ruhe, so müßte 
möglich sein, die absolute Geschwindigkeit eines Körpers zu bestimmen, was dem Re¬ 
lativitätsprinzip, welches eben diese Unmöglichkeit behauptet und sich immer bewährt 
hat, widerspricht. Die Existenz des Äthers ist somit eine sehr problematische. (Siehe 
O. Lehmann, diese Verhandlungen Bd. 23, 51, 1910, und Aus der Natur 7, 705, 1911, 
sowie die große Literatur hierüber in wissenschaftlichen Zeitschriften.) Die von A. 
Einstein 1905 aufgestellte Relativitätstheorie verzichtet auf Veranschaulichung durch Bei¬ 
ziehung des Äthers und stellt nur Gleichungssysteme auf, die sie so wählt, daß sie 
sog. Lorentztransformationen gegenüber kovariant sind, was eben die Unabhängigkeit 
aller Phänomene von der Absolutgeschwindigkeit bedeutet. Ponderomotorische Kraft 
und elektromagnetisches Feld haben dabei keine absolute, d. h. von Bewegungszustande 
des Bezugssystems unabhängige Existenz. 



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XV 


uns das Aufleuchten der Lampe das Entstehen des Induktions¬ 
stromes an. Das Contraktionsbestreben der Kraftfäden erklärt 
ihn aber nicht. 

Es ist nicht einmal nötig, die Spule oder den Magneten zu 
bewegen, um diese Wirkung hervorzubringen; es genügt schon, 
den den Elektromagneten erregenden Strom zu schließen oder zu 
öffnen, denn auch hierdurch entsteht oder verschwindet ein Bündel 
magnetischer Kraftfäden in der Achse der Spule. 

Die Linien senkrecht zur Richtung der elektrischen und mag¬ 
netischen Kraft geben auch im Fall der Induktion die Richtung des 
Energiestromes an. Fehlt der Drahtring und ist nur Äther vor- 
handen.so tritt An häuf ung elektrischer Energie oh neElek- 
trizität, lediglich durch Bildung geschlossener Kraftfäden 
ein, wieder entgegen der alten Theorie. Wäre der Magnetpol nicht 
vorhanden, so würde das Verschwinden dieser elektrischen Energie in 
ebenso rätselhafter Weise Bildung magnetischer Energie ohne 
Magnetismus bedingen. Umgekehrt würde beim Verschwinden 
magnetischer Energie an deren Stelle elektrische auftreten. 

Wie Maxwell zeigte, geht hieraus hervor, daß sich die Kraft¬ 
fäden, also auch elektrische und magnetische Kraft mit 
endlicher Geschwindigkeit im Raume ausbreiten muß. (Die 
Rechnung ergibt eine Geschwindigkeit von 300 Millionen 
Metern pro Se¬ 
kunde.) Denkt 
man sich z. B. 
einen geraden 
Strom entste¬ 
hend, so bilden 
sich, wie wir 
wissen, rings¬ 
herum ringför¬ 
mige magneti¬ 
sche Kraftfä¬ 
den, angedeu¬ 
tet durch den 
Drahtring (Fig. 

.11). Das Auf¬ 
treten dieser be¬ 
dingt aber wie- 



Fig. n 


XVI 


O. Lehmann 


der das Auftreten neuer, sie ringförmig umschließender elektrischer 
Kraftfäden, diese erzeugen wieder neue magnetische, und so gelangt 
dann die Energie, die Kraftfädenanhäufung, erst allmählich in 
größere Entfernung. Nach der alten Theorie kann von einer sol¬ 
chen Geschwindigkeit der Kraftausbreitung keine Rede sein, da 
es sich nach dieser um eine unmittelbare Wirkung in die 
Ferne handeln sollte,- also, wenn überhaupt Elektronen oder Mag- 
netonen (kreisende Elektronen) vorhanden sind, überall im Raume 
auch deren Kraft wirkt, ohne daß eine Ausbreitung derselben 
stattfindet. 

Es ist natürlich, daß sich für diese Vorgänge besonders der¬ 
jenige interessierte, der zum erstenmal das Gesetz der Erhaltung 
der Energie in präziser Weise im Gesamtgebiet der Physik be¬ 
wiesen hat, der scharfe Denker H. v. Helm holt z (dessen Büste hier 
aufgestellt ist). 

Der einfachste Fall des Verschwindens elektrischer Energie 
ist der der Entladung. Bei genügend hoher Spannung kann 
plötzlich ein Elektronenstrom durch die Luft hindurch stattfinden, 
wobei die elektrische Energie in Wärme und Licht übergeht, d. h. 
die Elektronenbahn als elektrischer Funke 1 oder Lichtbogen sicht¬ 
bar wird. Die alte Meinung, dabei finde einfach ein Ausgleich 
von Elektronenüberschuß gegen Mangel statt, kann, wie Helm- 
holtz bereits im Jahre 1847 entdeckte 2 , nicht aufrecht erhalten 
werden. Auch wenn ein voller Wasserbehälter mit einem leeren 
verbunden wird, stellt sich nicht sofort gleichmäßiger Wasserstand 
her, sondern vermöge seiner Trägheit schießt das Wasser auf 
größere Höhe hinauf, um dann alsbald wieder zurückzuströmen, 
so daß andauernde Schwingungen entstehen. Für elektrische Ent¬ 
ladungen, z. B. zwischen den hier aufgestellten Leydener Flaschen, 
gilt ganz dasselbe, die Funken, welche Sie sehen, erscheinen des¬ 
halb so hell, weil sie aus einer außerordentlich großen Zähl äußerst 
rasch aufeinander folgender Funken bestehen, indem die Elektrizität 
vielleicht 100000 mal pro Sekunde zwischen den beiden Flaschen 
hin- und herströmt. 

Es gibt verschiedene Methoden, diese elektrischen Schwin¬ 
gungen nachzuweisen. Wenn ich den Draht, der die äußeren 

1 Demonstriert mittels einer KlingelfuBschcn Induktors, Funkenlänge = I Meter. 

‘ llelmholtz, Die Erhaltung der Kraft, Ostwalds Klassiker, Leipzig, W. Engel¬ 
mann 1889 S* 33. 



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XVII 


Belegungen der beiden Flaschen verbindet, zu einer Spule gestalte 
und eine zweite Spule nähere, die durch eine Glühlampe ge¬ 
schlossen ist, so verrät deren, wie Sie sehen, anscheinend gleich¬ 
mäßiges Leuchten, daß Induktion stattfindet derart, daß mag¬ 
netische Kraftfäden in außerordentlich raschem Wechsel in die 
Spule hinein und wieder daraus herausgehen, wie es bei ent¬ 
sprechend rasch ihre Richtung wechselnden Strömen der Fall 
sein muß. 

Verbinde ich die beiden Flaschen nur durch einen U-förmig 
gebogenen Draht, welcher an einzelnen Stellen durch Glühlampen 
überbrückt ist, so leuchten diese auf, was bei gleichmäßigem Strom 
nicht möglich wäre. Woher rühren nun diese elektrischen 
Schwingungen? Besitzt die Elektrizität Trägheit wie das Was¬ 
ser, wie die alte ursprünglich auch von Helmholtz angenommene 
Theorie vorauszusetzen genötigt war, oder handelt es sich nach 
Faraday-Maxwells Theorie um fortgesetzte Umwandlung von 
elektrischer Energie in magnetische und umgekehrt? 
Um einen stromdurchflossenen Leiter müssen sich auf Kosten 
elektrischer Energie magnetische Kraftfädenringe bilden, deren 
Verschwinden bei Vollendung des Ausgleichs von Überschuß 
und Mangel der Konduktoren, welche der Leiter verbindet, einen 
Induktionsstrom (von gleicher Richtung wie der frühere) veranlas¬ 
sen muß, welcher umgekehrte Ladung der Konduktoren bedingt, 
worauf sich das Spiel wiederholt, so daß beständiges Hin- und 
Herströmen der Elektronen in regelmäßigem Takte stattfinden 
muß. Helmholtz konnte keine exakte Lösung des Problems, ob 
die alte oder neue Theorie zutrifft, finden und regte deshalb seinen 
hochbegabten Schüler und Assistenten Heinrich Hertz, den 
fähigsten unter den jüngeren Physikern, den einzigen Mann, der 
in gleicher Weise die abstraktesten mathematischen Theorien und 
die Kunst der experimentellen Forschung beherrscht, wie er sich 
gelegentlich ausdrückte, an, seine Bemühungen in dieser Richtung 
fortzusetzen. 

Das Charakteristikum der Faraday-Maxwellschen Theorie 
war, daß sich die Kraftfäden im Äther, annähernd auch in Luft 
mit der Geschwindigkeit von 300 Millionen Meter pro Sekunde 
ausbreiten sollten. Wie aber eine so enorme Geschwindigkeit 
messen? Das schien völlig aussichtslos; doch Helmholtz hatte 
sich nicht getäuscht, Hertz glückte der große Wurf in verhält- 



XVIII 


O. Lehmann 


nismäßig kurzer Zeit und zwar hier in Karlsruhe im Auditorium 
des physikalischen Instituts der Technischen Hochschule. 

Den Gedankengang verstehen wir am besten, wenn wir wie¬ 
der zur Bewegung des Wassers zurückkehren. Ich habe hier ein 
System mit einander verbundener halb mit Wasser gefüllter senk- 



Fig. 12 


rechter Röhren. Drücke ich im ersten den Wasserspiegel hin¬ 
unter, so steigt er in den übrigen, beim Heben ist das Umgekehrte 
der Fall. Folgen Senkungen und Hebungen in rascher Folge, 
so bildet sich, da zu weit fortgeschrittene Niveauänderungen 
keine Zeit zum Ausgleich haben, ein fortschreitender Wellen¬ 
zug aus (P'ig 12), und aus der Länge der Wellen und der Zahl 
der Schwingungen pro Sekunde ergibt sich in einfacher Weise 
die Fortpflanzungsgeschwindigkeit; sie ist gleich der Länge einer 
Welle dividiert durch die Zeit ihrer Bildung, d. h. die Schwingungs¬ 
dauer. Durch Reflexion des Wellenzuges am Ende ergibt sich 
eine stehende Wellenbewegung (Fig. 13), wobei einzelne Punkte, 
die Knoten immer in Ruhe bleiben. Ihr Abstand ist gerade eine 
halbe Wellenlänge, so daß sich also diese mit aller Präzision 
messen läßt. Auch die Bestimmung der Schwingungszahl pro 
Sekunde bereitet keine Schwierigkeit, 

Lim nach diesem Prinzip elektrische Schwingungen zu be¬ 
nutzen zur Messung der Ausbreitungsgeschwindigkeit elektrischer 
und magnetischer Kraftfäden, müßte man ein Mittel haben, solche 
Schwingungen von noch weit größerer Schnelligkeit zu erzielen, 
als sie bei der besprochenen Flaschenentladung auftreten. Durch 
Verkleinerung des Apparates ist das im Prinzip möglich, doch 



Fig. 13 






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XIX 


läßt sich von vornherein erwarten, daß die in solchen kleinen 
Apparaten angehäuften Energiemengen so gering sein werden, 
daß man überhaupt nichts mehr beobachten kann. 

Zu seiner Überraschung fand nun Hertz bei einem Vorlesungs¬ 
versuch über Induktion durch oscillatorische Entladung mittels 
zweier gleichgestalteter Spulen 1 , wie er sie in der Sammlung vor¬ 
fand (ich habe sie hier aufgestellt), daß das durchaus nicht der 
Fall war und alsbald erkannte er auch den Grund. Bei gleicher 
Beschaffenheit der Spulen mußte der Effekt eintreten, den man 
in der Akustik Resonanz nennt: fortgesetzte Verstärkung der 
Schwingungen durch Übereinanderlagerung, weil sie in beiden 
Spulen gleichzeitig in gleichem Takte erfolgen. 

Damit war das Prinzip für die Konstruktion eines brauch¬ 
baren Apparates, bestehend aus Oscillator 2 und Resonator von 
gleicher Beschaffenheit gegeben. Beide bestehen aus metallenen 
Kugeln, verbunden durch einen Draht, der in der Mitte eine 
kleine Funkenstrecke hat*. DasRühmkorffsche Induktorium diente 
zur Ladung der Kugeln des Oscillators. Daß wirklich äußerst 
rasche Schwingungen beim Überschlagen eines Funkens in der 
Unterbrechungsstelle in der Mitte entstanden, ließ sich, ganz ’wie 
ich es bei den Leydener Flaschen mit Glühlampen demonstrierte, 
daran erkennen, daß Überbrückung der Funkenstrecke 
durch einen Drahtbügel die Funken nicht zum Ver¬ 
schwinden brachte und daß in der Funkenstrecke des Resona¬ 
tors induzierte Funken auftreten. Das System der Kraftfäden bei 
solchen elektrischen Schwingungen besteht (in einem bestimmten 
Momente, wie das Modell Fig. 5 darstellt), aus elektrischen Kraft¬ 
fäden, die die beiden Kugeln verbinden, und magnetischen, welche 
ringförmig den verbindenden Draht umschließen. 

Läßt man die Kugeln fort, so funktioniert der Apparat immer 
noch, die Schwingungen erfolgen nur noch rascher. Es genügt, 
auch, nur ein Ende des Resonators einem Ende des Oscillators 

1 Vgl. Frick, phys. Technik. 7. Aufl. Bd. II (1) S. 708. 

2 Siehe A. Schleiermacher, diese Verhandl. 15, 28, Taf. II, 1902. 

;1 Die Kugeln sind nicht durchaus nötig, es könnten auch einfache Stäbe sein, 
wie unten in Fig. 14 angedeutet. Die. elektrischen Schwingungen sind hier durch die 
darüber befindlichen Modelle, welche die Schwankungen der elektrischen Spannung wie 
in Fig. 13 andeuten, dargestellt. Man müßte sich den Resonator nicht neben, sondern 
vor oder hinter den Oscillator gesetzt denken. 



XX 


O. Lehmann 


zu nähern (wie bei Fig. 14). 
Man kann ferner eine ganze 
Anzahl Resonatoren zu ei¬ 
nem zusammenhängenden 
Draht aneinanderreihen, wo¬ 
bei sich das System der elek¬ 
trischen und magnetischen 
Kraftlinien, wie es durch das 
Modell (Fig. 5) dargestellt 
war, mehrfach wiederholt 
(Fig. 15). Hier haben wir, 
was wir suchten, stehende 
Wellen elektrischer 
Kraft, und es erübrigt nur die Schwingungszahl zu bestimmen, die 
sich leicht aus den Dimensionen des Oscillators berechnen läßt und den 
Abstand der Knotenpunkte zu messen. Ganz einfach kann letzteres 
geschehen, wie später Lecher gefunden hat, indem man zwei parallele 
Reihen solcher Resonatoren verwendet, jede von einem Pole des Os¬ 
cillators beeinflußt, so daß die Spannungszustände in ihnen überall ent¬ 
gegengesetzt sind. Kurzschluß an Knotenstellen durch übergelegte 
Drähte (Fig. iö) stört dann den Vorgang nicht, wohl aber Kurz¬ 
schluß an anderen Stellen, so daß man die Lage der Knoten mit 
aller Schärfe bestimmen kann. 

Durch diese Hertzschen Versuche war die Richtigkeit der 
Faraday-Maxwellschen Theorie, wenigstens soweit Ströme in 
Drähten in Betracht kamen, erwiesen, die alte Theorie endgültig 
abgetan. Aber die neue Theorie lehrte, daß nicht nur an Drähten 
die Fortpflanzungsgeschwindigkeit elektrischer und magnetischer 



Fig 15 



i 





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XXI 



Fig. 16 


Kräfte eine endliche ist, sondern auch im freien Raume, ja sogar im 
luftleeren Raume, in dem sogenannten Äther. Während bei den elek¬ 
trischen Wellen in Drähten immer noch Elektronen als Träger der 
elektrischen Kraft in Frage kommen, Enden der Kraftfäden, die an 
den Draht gebunden waren, sollte nach Faraday-Maxwells Theorie 
Ablösung der elektrischen Kraftf äden von den Elektronen 
möglich sein, es sollte im leeren Raume elektrische und magnetische 
Kraft auftreten, obschon doch der leere Raum nichts enthalten kann, 
was eine solche Kraft nach der alten Vorstellungsweise ausüben 
könnte, denn der Äther enthält weder Elektronen noch Magnetonen. 
Hätte Hertz seinen Oscillator ganz nach Art der alten Schwingungs¬ 
kreise, wie sie bei unseren Versuchen über elektrische Schwingungen 
verwendet wurden und auch bei dem besprochenen Vorbild den 
Induktionsscheiben, so wäre ihm die Lösung dieses II. Teils des 
Problems nicht geglückt; denn die Kraftfäden bleiben auch hier 
immer in der Nähe der Leiter, breiten sich nicht merklich in den 
Raum aus. Er verwandte aber, wie gezeigt, nicht einen ge¬ 
schlossenen Schwingungskreis, die Kugeln seines Oscillators 
waren einander nicht gegenüber, sondern an den entgegengesetzten 
Enden des sie verbindenden Drahtes, so daß die Kraftfäden not¬ 
wendig zum großen Teil durch entfernte Gebiete des Raumes 
hindurchgehen mußten. 

In der Tat gelang ihm, mittels dieser offenen Oscillatoren 
zu beweisen, daß tatsächlich Ablösung ringförmig in sich 
zurücklaufender elektrischer und magnetischer Kraft¬ 
fäden von dem Oscillator möglich ist, welche selbstän- 



XXII 


O. Lehmann 


dig, unbekümmert um die weiteren Vorgänge im Oscil- 
lator, mit der ihnen eigentümlichen Geschwindigkeit 
in den Raum hinauseilen und ihre Existenz nur dadurch ver¬ 
raten, daß sie, wenn sie auf einen gleichgestalteten Resonator auf¬ 
treffen, in dessen Unterbrechungsstelle ein Funkenspiel wecken, 
indem sie im Resonator aufbrechen, sich an die in dem Metall 
vorhandenen Elektronen anheften und diese nun in entsprechende, 
äußerst rasche hin- und hergehende Bewegung versetzen. 

Die Figuren (17a—h) zeigen die aufeinander folgenden Stadien 
der Ablösung der elektrischen Kraftlinien, wobei die magnetischen 
entsprechend dem Modell (Fig 5) immer senkreckt dazu zu denken 
sind. In größerer Entfernung sind die Kraftfäden annähernd 
geradlinig. 

Die Fünkchen in der Unterbrechungsstelle des Resonators 
sind aus der Entfernung nicht gut zu sehen. Man kann aber 
deren Auftreten indirekt dadurch nachweisen, daß man die Unter¬ 
brechungsstelle nach dem Vorgang von Branly mit Feilspähnen 
füllt, welche durch die Fünkchen verschweißt werden, so daß sie 
z. B., wie der Versuch zeigt, den Strom eines galvanischen Ele¬ 
mentes, welches ein Galvanometer oder eine elektrische Klingel 
betätigt, hindurchlassen, durch die Erschütterungen seitens der 
letzteren aber alsbald wieder auseinander gebrochen werden. 

Die Schwingungen im Resonator erzeugen natürlich ebenso 
wie diejenigen im Oscillator eine elektromagnetische Strahlung. 
Setzt man zwei, drei oder mehr Resonatoren der Reihe nach zu 
einem Stab aneinander, so ist die Strahlung entsprechend kom¬ 
plizierter (Fig 18, 19), die Wellenlänge bleibt aber diesselbe. In 
gleicher Weise erzeugt ein langer, der Oscillatorachse paralleler 
Draht, welcher als Kette vieler Resonatoren (Fig 16) aufgefaßt 
werden kann, eine derartige reflektierte Strahlung, noch bes¬ 
ser ein Gitter aus vielen parallelen Drähten. Bei Drehung um 
90 0 erweist sich das Gitter natürlich wirkungslos. Zufügung 
eines gekreuzten Gitters zum ersten ändert also die Wirkung 
nicht, man kann sogar die beiden Gitter zu einer zusammenhän¬ 
genden Metallfläche, einem ebenen Spiegel vereinigen. Infolge 
Interferenz der ankommenden und reflektierten Wellen bilden 
sich Knotenpunkte, deren Abstand die Fortpflanzungsgeschwindig¬ 
keit der elektrischen Wellen im freien Raume ermitteln läßt. 
Hertz fand, daß sie, wie es Faraday-Maxwells Theorie forderte. 






XXIV 


O. Lehmann 



300 Millionen Meter pro Sekunde beträgt. Damit war das 
Problem endgültig zugunsten dieser Theorie entschieden! 

Die Geschwindigkeit ist ganz dieselbe wie die des Lichtes 
und dies hatte bereits Maxwell veranlaßt, seine elektromag¬ 
netische Lichttheorie aufzustellen, welcher zufolge auch das 
Licht nur aus elektrischen (und dazu senkrechten magnetischen) 
Kraftfäden von regelmäßig abwechselnder Richtung besteht, welche 
losgelöst von Elektronen frei im Raume fortschreiten. 

In der Tat konnte Hertz nachweisen, daß die Analogie zwischen 
den von ihm entdeckten elektromagnetischen Strahlen und den 
Lichtstrahlen eine vollkommene ist. Das Reflexionsgesetz der 
ersteren stimmt mit dem des Lichtes überein, deshalb können die 
Hertz-Strahlen durch einen Hohlspiegel parallel gemacht und 
in einem zweiten konzentriert werden, wie der Versuch zeigt. 
Verdrehe ich den einen Hohlspiegel, so daß das Strahlenbündel 
nicht in den anderen hineingelangt, so spricht der darin enthaltene 
Resonator nicht an; durch Zwischenschaltung eines ebenen Spie¬ 
gels kann aber dem Strahl wieder die richtige Richtung gegeben 
werden. 





Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw. XXV 


i 



Fig. 19 


Die Analogie mit dem Licht bewährte sich auch beim Durch¬ 
gang durch ein Prisma 1 , welches natürlich für Lichtstrahlen nicht 
durchsichtig zu sein braucht. Auch Interferenzversuche lassen 
sich in beiden Fällen in gleicher Weise anstellen. Durch die 
Öffnung in einem Metallschirm (Fig. 20) tritt ein geradliniger 
Strahl heraus, da der Energiestrom immer senkrecht zur elektri¬ 
schen und magnetischen Kraft sein muß, gewissermaßen aus ab¬ 
geschnittenen Kraftfäden bestehend, doch lehren die Beugungs¬ 
erscheinungen, daß deren Enden verbunden sind. Von einem 
Lichtstrahl unterscheidet sich ein solcher magnetischer Strahl 
im wesentlichen nur durch die Wellenlänge, welche für das Licht 
etwa eine Million mal kleiner ist Die Wellenlänge des gelben 
Lichtes beispielsweise beträgt rund ein halbes Tausendstel Milli¬ 
meter. Da die Länge des Oscillators der Abstand zwischen zw T ei 
Schwingungsbäuchen, also die halbe Wellenlänge ist, folgt, daß 
die Oscillatoren, welche das Licht erzeugen, einzelne Atome sein 
müssen, das Licht also seine Entstehung Schwingungen der Elek¬ 
tronen in den Atomen verdankt. So wurde durch die Hertzschen 


Siehe A. Schleiermacher a. a. O. Taf. I. 








XXVI 


O. Lehmann 


Versuche eine sichere 
Basis für das große 
Gebiet der physikali¬ 
schen Optik und der 
Strahlungstheorie ge¬ 
wonnen. 

Marconi gelang 
es, auch eine hochwich¬ 
tige praktische Ver¬ 
wendung der Hertz- 
schen Strahlen zu er¬ 
sinnen , nämlich die 
drahtlose Telegra- 
phie. Wir haben nur 
nötig, bei unserem Ap¬ 
parat die Klingel durch 
einen gewöhnlichen 
Morsetelegraphen zu 
ersetzen, um sofort 
auf einige Entfernung, 
selbst durch Wände 
hindurch ohne Drahtleitung telegraphieren zu können. Für weitere 
Entfernungen ist die Energiemenge der kleinen Hertzschen Oscil- 
latoren aber nicht ausreichend, man muß größere nehmen: Drähte 
an hohen Masten emporgeführt, sogenannte Antennen, welche 
Wellen bis zu einer Länge von 10 Kilometern erzeugen. Die 
eine Hälfte von Oscillator und Resonator kann man sparen, denn 
falls man die Antennen unten mit der Erde verbindet, wird dieses 
Ende von selbst zum Knotenpunkt. Die Figur 21 zeigt die von 
einem solchen halben Oscillator ausgehenden Wellen, wobei die 
Kraftlinien an der Erdoberfläche endigen. Die Antenne kann 
auch andere Form haben, z. B. T-Form, wie die Antenne des 
Dampfers »Imperator , welche ermöglicht, mit Wellen von 1,8 km 
Länge mitten auf dem atlantischen Ozean immer Verbindung mit 
dem Lande (d. h. bis auf 3800 km Entfernung) zu unterhalten, so 
daß jeden Morgen eine Bordzeitung mit den neuesten Nachrichten 
erscheinen kann. (Die projizierten Bilder zeigten Antenne, Auf¬ 
nahmeapparat und ein Exemplar der Bordzeitung.) Neuerdings 
ist sogar eine direkte drahtlose telegraphische Verbindung zwischen 





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XXVII 



Berlin und Newyork hergestellt worden. (Die Bilder zeigten Auf¬ 
nahme- und Empfangsstation.) 

Zur Speisung solcher großer Oscillatoren gehören natürlich 
ganz andere Energiemengen als bei den Hertzschen Versuchen. 
Nach dem Vorgänge von Braun wird hierzu das Resonanzprinzip 
benutzt. Wie Tesla gezeigt hat, erfordert Resonanz bei elek¬ 
trischen Schwingungen nicht notwendig Gleichheit der induzie¬ 
renden und induzierten Spule wie bei den alten Induktionsscheiben, 
es muß nur Übereinstimmung der Schwingungsdauer vorhanden 
sein. So sehen wir bei dem Apparate hier 1 bei wesentlich ver¬ 
schiedener Beschaffenheit der beiden Spulen so kräftige Resonanz 
auftreten, daß große Büschel von Elektronenströmen in die Luft 
austreten. Würden wir eine Antenne anschließen, so würde die 


1 Siehe Fr ick, Phys. Technik, 7. Aufl. Bd. II, (I) Seite 715. 




XXVIII 


O. Lehmann 


Energie genügen, viele kilometerweit zu telegraphieren. Bei 
größeren funkentelegraphischen Stationen gehören Maschinen 
von Hunderten von Pferdestärken dazu, die nötige Energie 
zu liefern. 

Anfänglich bereitete große Schwierigkeiten die Rückwirkung 
der induzierten Spule, an welche die Antenne angesetzt ist, auf 
den induzierenden Schwingungskreis. Heute ist durch die Methode 
der Stoßfunken von Max Wien (zahlreiche sehr kleine gut ge¬ 
kühlte hindereinander geschaltete Funkenstrecken), d. h. Funken, 
die sofort erlöschen, wenn die Schwingungen der Antenne erregt 
sind, so daß der induzierende Schwingungskreis, weil er unter¬ 
brochen ist, durch letztere nicht beeinflußt werden kann, auch 
diese Schwierigkeit behoben; man kann Wellen von genau be¬ 
stimmter Länge hersteilen, die nur auf einen besonders darauf 
abgestimmten Resonator ein wirken. 

Größte Bedeutung hat die drahtlose Telegraphie für die 
Schiffahrt erlangt, nicht nur zur Verständigung bei Gefahr, 
sondern auch zu genauer Zeitbestimmung, die nötig ist für 
exakte Ortsbestimmung.- Ersetzt man den telegraphischen Emp¬ 
fangsapparat durch eine elektrische Zündvorrichtung, so können 
aus der Ferne Minen entzündet werden; ersetzt man sie durch 
einen Elektromotor, der das Steuerruder betätigt, so kann ein 
Schiff aus der Ferne gesteuert werden und anderes mehr. 

Soweit es sich nur um telegraphische Verständigfung handelt, 
wird an Stelle des gewöhnlichen Morsetelegraphen das weit emp¬ 
findlichere Telephon benutzt, wobei durch regelmäßige im Takte 
von Schallschwingungen bewirkte Unterbrechung der elektrischen 
Schwingungen dafür gesorgt werden muß, daß hörbare Töne ent¬ 
stehen (tönende Funken). Indem man nicht einfach Unterbre¬ 
chungen wirken läßt, sondern die Stromschwankungen in einem 
Mikrophon, in welches hineingesprochen wird, ist drahtlose 
Telephonie auf große Entfernung bis 600 Kilometer möglich 
Voraussichtlich wird möglich sein, die Methode unter Benutzung 
der Lieben-Röhr e, die 40 fache Verstärkung eines Lautes er¬ 
möglicht, noch zu verbessern. 

Auch diese Erfindung der Liebenröhre beruht auf einer von 
Hertz bei seinen Versuchen gemachten Entdeckung, daß, wie 
später Hall wachs näher erforscht hat, das Licht den Austritt von 



Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw. 


XXIX 


Elektronen aus Konduktoren, welche solche im Überschuß ent¬ 
halten, bewirken kann, wie sich z. B. zeigt, wenn man eine 
blanke negativ geladene Zinkplatte belichtet. Ein gespreizter, 
damit verbundener Papierbüschel fällt sofort zusammen. 



Fig. 22 


Durch das genaue Studium der Lichterscheinungen beim 
Durchgang der Elektrizität durch Gase, insbesondere des blauen 
Lichts an der Kathode (der Stromzuführung, welche Elektronen 
im Überschuß enthält), kam Hertz zu der interessanten Entdeckung, 
daß diese sogenannten Kathodenstrahlen auch dünne Metall¬ 
schichten durchdringen können. Die Fortsetzung der Versuche 
durch seinen Assistenten Lenard wurde Veranlassung der Ent¬ 
deckung der Röntgenstrahlen, deren hohe Bedeutung für die 
medizinische Wissenschaft allbekannt ist, die neuerdings infolge 
ihrer äußerst kleinen Wellenlänge auch Nachweis der Raumgitter¬ 
struktur von Kristallen ermöglicht haben, ganz besonders aber 



XXX 


O. Lehmann 


Veranlassung wurden zur Entdeckung der Becquerelstrahlen 
und des Atomzerfalls bei radioaktiven Substanzen. Ein unge¬ 
heueres neues Wissensgebiet wurde dadurch erschlossen. 

Man fand, daß die Kathodenstrahlen nichts anderes sind, als 
fortgeschleuderte Elektronen, daß ihre scheinbare Trägkeit, ver¬ 
möge deren sie sogar, wie Hertz gefunden hat, Blattgold durch¬ 
dringen können, nur eine scheinbare ist. Ein bewegtes Elektron 
ist immer umgeben von ringförmigen magnetischen Kraftfäden 
senkrecht zur Achse, so daß immerfort ein Energiestrom in Linien 
senkrecht zur magnetischen und elektrischen Kraft (welche Rich¬ 
tungsänderung erfährt) stattfinden muß, indem die verschwin¬ 
denden magnetischen Kraftfäden fortgesetzt elektrische Kraft er¬ 
zeugen, die das Elektron in seiner geraden Bahn weitertreibt, 
ohne aber seine Geschwindigkeit zu erhöhen, ganz wie die wahre 
Trägheit die wägbare Materie. (Fig. 22). 

Selbst der elektromagnetischen Strahlung kommt eine schein¬ 
bare Trägheit oder Masse zu. Zu Anfang wurde gezeigt, daß 
zwei gleichgerichtete Kraftfädensysteme, wie sie von Oscillator 
und Resonator ausgehen, einander genähert, die Erscheinung der 
elektrischen Abstoßung zeigen, d. h. daß sie einen Druck aufein¬ 
ander ausüben, wie etwa gegeneinander gepreßte Gummibälle. 
Dementsprechend muß ein Lichtstrahl, welcher einen 
Spiegel trifft, einen Druck auf diesen ausüben und ein 
Körper der einen Lichtstrahl aussendet, muß einen Rückstoß erfah¬ 
ren, ähnlich wie ein Gewehr, aus welchem eine Kugel abgeschossen 
wird. Die Erde beispielsweise erfährt durch die Sonnenstrahlung 
einen Druck von 74 Millionen Kilogramm; durch dieselbe Kraft wird 
die Sonne gestoßen, indem sie die Strahlen in der Richtung der 
Erde aussendet. Wirkung und Gegenwirkung sind aber nicht 
wie sonst gleichzeitig, der Druck auf die Erde erfolgt erst 8 
Minuten später, eben wenn die Strahlen die Erde erreichen. Das 
gibt zu denken. Die Kraftfäden, welche in den leeren Raum 
hinauseilen, verhalten sich anscheinend wie fortgestoßene Massen. 
Ein Kubikmeter Sonnenlicht beispielsweise scheint eine Masse von 
Sj Quadrilliontel Kilogramm zu haben. Um soviel müßte die 
Masse eines schwarzen Körpers zunehmen, der ein Kubikmeter 
Sonnenlicht aufnimmt. Ja, aus den Strahlungsgesetzen wäre zu 
schließen, daß diese Masse gewissermaßen aus Atomen besteht. 



Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw. 


XXXI 


Ein Atom gelbes Licht müßte eine Masse von 385 Billiontel 
Kilogramm haben. Das erscheint uns nicht verständlich, denn 
Strahlung ist, wie gezeigt, nur Kraft oder Energie, nicht Masse. 
Selbst die Annahme, die Kraftfäden seien ein verborgener Be¬ 
wegungszustand des Äthers, welche ermöglichte, den Äther, der 
übrigens kein Gewicht hat, als die stoßende oder fortgestoßene 
Masse zu betrachten (denn Kraft ist Masse mal Beschleunigung), 
begegnet den größten Schwierigkeiten. Ist überhaupt Bewegung 
des Äthers möglich, so müßten entsprechende Störungen in der 
Entstehung und Ausbreitung der elektrischen und magnetischen 
Kraftfäden eintreten, von welchen sich nichts beobachten läßt. 
Nur die Annahme, der Äther sei das absolut Ruhende in der 
Welt scheint zulässig, wobei dann aber (vgl. S. XIV, Anm. 1) an¬ 
genommen werden muß, die Naturgesetze seien derart, daß nichts 
destoweniger auf keine Weise die Bewegung eines Körpers 
relativ zum Äther erkannt werden kann. 

Rätsel häuft sich hier auf Rätsel und Hunderte von Physikern 
aller Länder sind zurzeit bestrebt, diese Rätsel, die sich auf Grund 
der Hertzschen Entdeckungen ergeben haben, zu lösen. Dabei 
ergeben sich immer neue Lücken unserer bisherigen Naturkennt¬ 
nis, immer neue Entdeckungen und Erfindungen und das Ende 
der Reihe ist nicht abzusehen. 

Einen Forscher, der die Wissenschaft so sehr bereichert hat, 
dessen Bild hier in der Aula der Technischen Hochschule mit 
Recht unter die Bilder der größten Männer der Wissenschaft ein¬ 
gereiht ist, unter seinen Mitgliedern gehabt zu haben, ist der ganz 
besondere Stolz des Karlsruher Naturwissenschaftlichen Vereins. 
Ich möchte hoffen, daß mir gelungen wäre, durch meine Skizze, 
die in Anbetracht der Kürze der Zeit naturgemäß nur eine sehr 
flüchtige sein konnte, immerhin denjenigen unter Ihnen, die durch 
Lebensstellung oder Beruf verhindert sind, sich eingehender mit 
Naturwissenschaft zu beschäftigen, wenigstens einigermaßen die 
Möglichkeit geboten zu haben, die hohe Wichtigkeit der Hertzschen 
Arbeiten durch eigene Anschauung zu erkennen. 

Hertz, ursprünglich als Ingenieur ausgebildet und durch seine 
Gaben zu glänzender Lebensstellung berufen, hat hierauf verzichtet 
und die dargelegte, überaus schwierige Tätigkeit auf dem Gebiet 
der reinen Wissenschaft vorgezogen, in begeistertem Streben nach 



XXXII 


O. Lehmann 


Erkenntnis der Wahrheit. Sein Werk ist geeignet, in weitesten 
Kreisen ein Gefühl reiner Freude zu wecken über solchen Triumph 
des menschlichen Geistes, zugleich aber auch hohe Bewunderung 
des edlen Charakters seines Urhebers. Das Deutche Museum von 
Meisterwerken der Naturwissenschaften und Technik in München 
hat beschlossen, diesem in seinem Ehrensaal ein Denkmal zu er¬ 
richten; allen sichtbar und unvergänglich ist das Denkmal, das 
ihm durch sein Werk selbst gesetzt ist. 



Abhandlungen. 




Bericht 

über die Expedition des „Armauer Hansen“ 

in den Atlantischen Ozean im Jahre 1913. 

Von Prof. Dr. M. Auerbach, Karlsruhe (Baden). 

Als mir im August des Jahres 1911 mein Freund Dr. 
B. Heiland Hansen, Direktor der Biolog. Station von Bergens 
Museum, mitteilte, daß die Station jetzt ein seetüchtiges Forschungs¬ 
schiff erhielte, auf dem wir zusammen einmal eine Expedition zur 
Förderung unserer Spezialstudien unternehmen könnten, dachte 
ich nicht, daß dieser nur ganz kurz angedeutete Plan schon bald 
zur Ausführung gelangen könnte. Um so angenehmer wurde 
ich daher Ende 1912 durch einen Brief Heilands überrascht, 
der mir mitteilte, das neue Schiff solle zum Frühjahr 1913 fertig 
sein, und der Ausführung einer größeren Reise stände nichts 
entgegen, falls ich mich beteiligen wolle. Die Hauptfrage war 
hier wie überall die Beschaffung der nötigen Mittel, und nur 
zögernd ging ich an die Aufgabe heran, den auf mich fallenden 
Teil der Expeditionskosten zusammenzubringen, denn einmal 
handelte es sich um eine ziemlich große Summe, und dann hatte 
ich von unserem Badischen Ministerium des Kultus und Unterrichts 
sowie vom Karlsruher Naturwissenschaftlichen Verein schon so 
oft in bereitwilligster Weise Reiseunterstützungen erhalten, daß es 
mir unbescheiden erschien, schon wieder mit neuen Forderungen 
aufzutreten. Meine Bedenken wurden endlich nur durch die Über¬ 
zeugung besiegt, daß es sich dieses Mal um eine vielleicht nie 
wiederkehrende günstige Gelegenheit handle und daß indirekt 
die auf der Expedition gewonnenen Resultate auch unserem 
Heimatorte von Nutzen sein könnten. So stellte ich dann schließlich 
die nötigen Gesuche fertig, und wieder Erwarten fanden sie eine 
günstige Aufnahme; die nötigen Mittel wurden mir bewilligt, 
so daß Ende des Jahres 1912 ernstlich mit der Festlegung des 
Reiseplanes usw. begonnen werden konnte. 



4 


Dr. M. Auerbach 


Ehe ich nun an die Schilderung des Zweckes und des Ver¬ 
laufs unserer Expedition herangehe, muß es meine erste Pflicht 
sein, auch an dieser Stelle unserem Ministerium des Kultus und 
Unterrichts, sowie dem Naturwissenschaftlichen Verein zu Karlsruhe 
meinen besten Dank abzustatten für die weitgehende finanzielle 
Unterstützung, die mir eine Teilnahme an der Reise erst möglich 
machte, sowie dem Ministerium noch für die Erteilung eines 
vierteljährlichen Urlaubs für die Monate Mai bis August 1913. 

Es ist vielleicht auch hier der geeignetste Platz kurz der 
anderen Herren noch zu gedenken, denen ich Dank schulde. 
Da steht an erster Linie mein Freund Heliand Hansen, der 
Expeditionsleiter. Ihm danken wir den schönen, harmonischen 
Verlauf der ganzen Reise, er ist stets mit unveränderlicher 
Freundlichkeit bereit gewesen, alle meine Wünsche zu erfüllen 
und durch seinen stets guten Humor hat er uns unser Schiff auf 
der ganzen Fahrt zu einer lieben Heimat gemacht. Die Direktion 
von Bergens Museum und an ihrer Spitze ihr Präsident, Herr 
Oberarzt Claus Hansen in Bergen, ist mir während der langen 
Wartezeit in Bergen in stets unveränderlicher Gastfreundschaft 
entgegengekommen, so daß Ungeduld und Nervosität leicht besiegt 
werden konnten, als sich die Fertigstellung der Ausrüstung Woche 
um Woche hinzog. Zu danken habe ich auch dem Besitzer der 
Segeljacht »Togo« Fischereikonsulent und Kapitän Iversen, der 
uns sein tüchtiges kleines Schiff zur Vornahme kleiner Exkursionen 
in die Fjorde zur Verfügung stellte und mir aus dem reichen 
Schatz seiner langjährigen Erfahrungen immer bereitwilligst Rat¬ 
schläge erteilte. 

Endlich gebührt herzlicher Dank allen wissenschaftlichen 
Expeditionsteilnehmern und der wackeren Besatzung des Schiffes. 
Während der ganzen langen Zeit ist von keiner Seite auch nur 
die geringste Trübung des guten Einvernehmens an Bord vor¬ 
gekommen, und das ist nur dem guten Willen aller Beteiligten 
zu verdanken. Mit den »Wissenschaftlern« verbindet mich jetzt 
aufrichtige Freundschaft und der ganzen Besatzung, vor allem 
Kapitän Wilhelmsen kann ich nur die höchste Bewunderung 
zollen für die Art, wie sie unser kleines Schiff glücklich durch 
alle Stürme hindurchführten, wie sie alle die komplizierten Apparate 
handhabten und wie sie immer freundlich zu kleinen Dienstleistungen 
bereit waren. Es ist nicht zu viel, wenn ich sage: »Mit einem 



Bericht über die Expedition des »Annauer Hansen« 


5 


Schiffe wie Armauer Hansen und mit seiner Besatzung kann 
man alles unternehmen; selbst die schwersten Aufgaben lassen 
sich mit ihrer Hilfe lösen.« Drum sage ich allen hier nochmals 
meinen herzlichsten Dank. 

Da ich mich mit einer größeren Summe an der Expedition 
beteiligt hatte, hielten wir es für richtig, schon von vornherein 
die verschiedenen Ansprüche der Teilnehmer an dem wissen¬ 
schaftlichen Materiale festzulegen. Der biologischen Station ver¬ 
blieb alles ozeanographische und meteorologische Material; die 
Ausbeute an wirbellosen Tieren fällt Bergens Museum zu, und 
ich selbst erhalte die Ausbeute an Fischen, soweit es sich nicht 
um Unika oder neue Spezies handelt, die nur in ganz wenigen 
Exemplaren erbeutet wurden; diese verbleiben Bergens Museum. 
Jeder Teil kann frei über das ihm zufallende Material verfügen; 
die wissenschaftlichen Arbeiten, die über die Ergebnisse der 
Expedition erscheinen, werden als Mitteilungen der betr. im 
Besitze befindlichen Institute veröffentlicht; Arbeiten über die 
Fischausbeute, soweit sie in meinem Besitz ist, erscheinen als 
Mitteilungen aus dem Großh. Naturalien-Kabinett in Karlsruhe 
und der biolog. Station in Bergen. 

Nachdem die finanzielle Seite des Unternehmens sicher gestellt 
war, hieß es nun, einen Plan des Reiseweges zu entwerfen. Es 
mußte hierbei berücksichtigt werden, daß Armauer Hansen mög¬ 
lichst mit Hilfe der Segel zu fahren haben würde, um einen 
möglichst großen Aktionsradius zu erhalten und möglichst an 
Brennmaterial zu sparen. Infolgedessen war ursprünglich be¬ 
absichtigt, von Bergen aus südlich durch die Nordsee und den 
Kanal zu gehen, den Busen von Biskaya zu kreuzen und nach 
Lissabon zu gelangen. Von hier aus sollte die Route nach 
den Azoren führen und von dort in nördlicher Richtung dem 
großen Rücken folgen, der unterseeisch den Nordatlantik in ein 
östliches und westliches Becken teilt. Zwischen 55—60 0 n. Br. 
sollte dann der Kurs westlich gerichtet werden, um auf dem 
Plateau von Rockall noch Untersuchungen zu ermöglichen, 
endlich sollten Stationen noch in der Färoe-Shetland-Rinne ge¬ 
nommen werden. Nach 3 Monaten sollte dann die Expedition in 
Bergen wieder ihren Abschluß finden. 

Leider aber konnte dieser große Plan nicht zur Ausführung 
gelangen. Die große Winde des Schiffes, die wir unbedingt zur 



6 


Dr. M. Auerbach 


Vornahme unserer Fänge brauchten, wollte und wollte nicht 
fertig werden, die Kettenübertragungen, welche den Antrieb der 
Winde durch den Schiffsmotor ermöglichen, trafen mit öwöchiger 
Verspätung aus Deutschland ein und erst i l / 2 Monat nach dem 
ursprünglich festgesetzten Termin war das Schiff klar. 

Es tauchte nun die Frage auf: »Was tun?« Die kostbare 
Zeit war verstrichen; zum Anfang August mußten wir zurücksein; 
an eine Durchführung des ursprünglichen Programms war nicht 
zu denken. Sollten wir die Expedition für dieses Jahr ganz auf¬ 
geben oder sollten wir sehen, in der noch zur Verfügung stehenden 
Zeit so viel wie möglich zu erreichen? Nach langen Beratungen 
entschlossen wir uns zu letzterem. Von der Westküste Schott¬ 
lands nach Westen, etwa zwischen dem 55. und 60. 0 n. Br. er¬ 
streckt sich ein Gürtel des atlantischen Ozeans, der weder in 
ozeanographischcr noch in zoologischer Hinsicht jemals genauer 
untersucht worden ist, alle früheren Expeditionen hatten ihr 
Arbeitsfeld entweder nördlicher oder südlicher gehabt. Es mußte 
also von großem wissenschaftlichem Interesse sein, diese Lücke 
möglichst auszufüllen, zumal es sich hier um ein Grenzgebiet 
handelt, wo kalte und warme Strömungen Zusammentreffen. Als 
dann Heliand Hansen mir auch noch in Aussicht stellen konnte, 
daß mir von anderen Expeditionen auch Fischmaterial aus süd¬ 
licheren Teilen des Atlantik zugänglich gemacht werden solle, 
gab ich zu dem neuen Plan meine Zustimmung. Darnach sollten 
wir von Bergen aus zunächst über die Nordsee, zwischen den 
Orkney und Färöer hindurch nach Stornoway auf den Hebriden, 
von hier aus sollte dann versucht werden, so weit nach Westen 
(mindestens 28 0 w. L.) zu kommen, wie Zeit und Proviant es 
erlauben würden. Die weiteren Ausführungen werden zeigen, 
daß dieses Programm genau durchgeführt werden konnte. 

Was nun den Zweck und die wissenschaftlichen Ziele der 
Expedition anbelangt, so lassen sich diese nicht gut in einigen 
Sätzen zusammen fassen, da zu viele heterogene Dinge in Frage 
kommen. Mir persönlich lag vor allen Dingen daran, Unter¬ 
suchungen über die Parasiten- und speziell die Myxosporidien- 
fauna der pelagischen und Tiefseefische anzustellen. Alles was 
wir bisher über letztere Schmarotzer wissen, bezieht sich auf 
solche in Süßwasser- und in typischen Küstenfischen. Die Fische 
der Hochsee, die rein pelagisch leben und diejenigen der Tiefsee 



Bericht über die Expedition des -Armauer Hansen< 


7 


sind noch qje in bezug auf diese Parasitenfauna untersucht worden, 
und daher muß jedes Resultat, falle es nun positiv oder negativ 
aus, von großem Interesse sein. 

Neben dieser Hauptfrage lassen sich natürlich noch sehr 
viele andere Probleme studieren; so muß es von Interesse sein, 
allein nur schon die Fischfauna jenes Meeresabschnittes kennen 
zu lernen und mit den anderen Gebieten zu vergleichen. Auch eine 
ganze Reihe biologischer Momente können untersucht werden, 
da wir ja durch die zu gleicher Zeit vorgenommenen ozeano- 
graphischen Arbeiten über die Zusammensetzung und die sonstigen 
Bedingungen des betr. Meeresabschnittes unterrichtet sind. Welcher 
Art die etwa resultierenden Arbeiten sein werden, kann sich 
aber erst entscheiden, wenn das ganze Material zur wissen¬ 
schaftlichen Bearbeitung hergerichtet ist. 

Wie wir schon sahen, geht das Material an wirbellosen Tieren 
in den Besitz von Bergens Museum über; in welcher Art dasselbe 
verwertet werden wird, kann ich natürlich nicht sagen; jedenfalls 
aber wird es allein schon in zoogeographischem Sinne von großem 
Interesse sein. 

Auch über die ozeanographischen Aufgaben unserer Expe¬ 
dition steht mir als Zoologen kein Urteil zu; es ist das Sache 
meines Freundes Heliand Hansen; ich kann hier nur andeuten, 
daß es die Aufgabe unserer Ozeanographen war, die hydrogra¬ 
phischen Verhältnisse des von uns besuchten Meeresteiles in jeder 
Hinsicht zu untersuchen. Besonderes Augenmerk sollte auf den 
Golfstrom, seinen Verlauf und seine Grenzen gerichtet werden. 
Es wurden zu diesem Zwecke vorgenommen: Strommessungen, 
Bestimmungen der Temperaturen, des Salz- und Ionengehaltes 
des Seewassers von der Oberfläche bis in die größten Tiefen; 
ferner wurden natürlich Tiefseelotungen vorgenommen und Proben 
des Meeresbodens zu späteren Studien aufgehoben. Während wir 
Zoologen an Bord eigentlich nur die Sammlung unseres Materials 
vornehmen konnten, um es dann später zu bearbeiten, waren die 
Ozeanographen in der glücklichen Lage, schon einen großen Teil 
ihrer Untersuchungen während der Fahrt zu vollenden, so daß sie 
gleich definitive Resultate sahen. Welcher Art diese sind, kann 
ich natürlich nicht veröffentlichen, nur so viel darf ich sagen, daß 
dieser Teil unserer Expedition sehr zufriedenstellende Ergebnisse 
gezeitigt hat. 



8 


Dr. M. Auerbach 


Ehe ich nun an die Schilderung des Verlaufs unserer Reise 
herantrete, dürfte es wohl geraten sein, einige Worte zu sagen 
über das Expeditionsschiff, seine wissenschaftliche Ausrüstung, 
die Verpflegung an Bord und über alle Teilnehmer an derselben. 

Das wichtigste bei einer ozeanographischen Expedition ist ihr 
Schiff; ist dieses für seinen Zweck geeignet gebaut und seetüchtig, 
so kann ein Mißerfolg, falls nicht ganz unvorhergesehene unglück¬ 
liche Ereignisse eintreten, nur durch die Untüchtigkeit seiner 
Besatzung und der wissenschaftlichen Teilnehmer erklärt werden: 
Es war daher von vornherein Heiland Hansens Ziel, ein so 
gutes Seeschiff wie nur irgend möglich zu erhalten. 

Bei Erreichung dieses Zieles mußten nun verschiedene Gesichts¬ 
punkte berücksichtigt werden. Einmal standen keine unbegrenzten 
Geldmittel zur Verfügung, so daß das Fahrzeug nicht zu teuer 
werden durfte. Dann mußte man auch darauf sehen, den Betrieb 
möglichst billig zu gestalten und dabei doch einen möglichst 
großen Aktionsradius zu bekommen. So durfte vor allem das 
Schiff nicht zu groß werden, denn es hätte sonst zu viel gekostet 
und würde auch eine zu große Besatzung erfordert haben. 

Aus diesem Grunde schon schied die Frage des Baues eines 
Dampfers aus. Kleine Dampfer können im Verhältnis nur wenig 
Kohlen mitnehmen, soll der sonstige Raum nicht zu sehr ein¬ 
geschränkt werden; dazu kommt dann noch, daß die Lage der 
Maschinen im Schiffskörper sehr viel guten Platz wegnimmt. 
Diese Nachteile hat ein reines Motorschiff nicht; der Motor kann 
ganz ins Achterschiff gelegt werden; die Behälter für das Brenn¬ 
material lassen sich überall an solchen Stellen einbauen, die sonst 
zu nichts zu brauchen sind, und dadurch kann die Anordnung 
der Wohn- und Arbeitsräume eine sehr praktische werden. Aber 
auch reine Motorschiffe haben ihre Nachteile. Die Motoren, und 
seien sie noch so gut, haben ihre Launen, und diese machen sich 
meist gerade dann geltend, wenn man sie am wenigsten brauchen 
kann. Der Platz für das Brennmaterial (Öl, Petroleum u. a.) ist 
natürlich auch nicht unbegrenzt, so daß auch hier der Aktionsradius 
eine gewisse Grenze nicht überschreiten kann, und dann hat 
endlich das reine Motorboot mit dem Dampfer das gemeinsam, 
daß beide bei Seegang sehr unruhig im Wasser liegen und so 
heftige Bewegungen ausführen, daß oft an Arbeiten nicht zu 
denken ist. 



Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen 


9 


Aus diesen Gründen entschloß man sich, dem zu bauenden 
Schiffe auch Segel zu geben, und zwar derart, daß es allein unter 
Segel noch gute Fahrt machte und dabei doch leicht und von 
wenigen Leuten zu manöverieren war. 

Dieser Lösung nun schien sich von Anfang an ein schweres 
Hindernis in den Weg zu stellen. Zum Einholen und Aussetzen 
der Netze und sonstigen Instrumente müssen große und sehr starke 
Winden an Bord sein. Diese wurden bisher stets mit Dampf oder 
Elektrizität getrieben und es entstand die Frage, ob ein Antrieb 
der Winden durch den Schiffsmotor möglich sein würde. Die zu 
Rate gezogenen Ingenieure bejahten diese Frage, und so wurde 
denn beschlossen, den Versuch zu wagen und das Schiff als erstes 
mit Solchen vom Motor getriebenen großen Winden auszurüsten. 
Man kann sich denken, mit welcher Spannung wir alle warteten, 
als die große Winde zum ersten Male in Gang gesetzt wurde 
und wie wir jubelten, als alles tadellos klappte; hing doch hiervon 
das ganze Schicksal der Expedition und des Schiffes überhaupt 
ab. Daß das Gelingen dieses Versuches in bezug auf den Bau 
von Hochseefischereifahrzeugen von großer Bedeutung sein kann, 
ist eine Frage für sich, die wir vielleicht noch zum Schlüsse einer 
kleinen Betrachtung unterziehen können. 

Nachdem also die Ingenieure die Ausführbarkeit der obigen 
Frage bejaht hatten, wurden die Pläne des Schiffes hergestellt 
und der Bau desselben ausgeschrieben. Die Ausführung wurde 
dann der Werft von Lindstöl in Risör im Christianiafjord übertragen. 

Der Rumpf ist ganz aus Eiche gebaut und außerordentlich 
stark gehalten; seine Länge beträgt etwa 23 m, seine größte Breite 
ca. 6 m, sein Tiefgang mit Last ca. 3 1 j 2 m. In Rücksicht auf die 
Gewichtsverteilung (der Motor und die große Winde liegen hinten) 
ist der Rumpf hinten sehr breit. Der Typ des Schiffes wird in 
Norwegen als Schoite bezeichnet, ein Typ, der sich durch große 
Seetüchtigkeit und gute Segeleigenschaften auszeichnet. Die 
Takelung besteht aus 2 Masten, einem Großmast vorn und hinten 
einem kleinen Besan. An Segeln werden geführt außer Fock 
und Klüver ein Großsegel (Gaffelsegel) und ein Besan, bei gutem 
Wetter am Großmast noch ein Topsegel. Die Gesamtsegelfläche 
beträgt etwas über 200 Quadratmeter; alle Segel können von 
wenigen Leuten von Deck aus bedient werden; bei günstigem Winde 
und unter vollen Segeln läuft das Schiff (ohne Motor) 7—8 Knoten. 



IO 


Dr. M. Auerbach 



Fig. i. »Armauer Hansen« im Sognefjord am 22. Juni 1913 


Der Motor (Rohölmotor der A.-G. Bolinde) liefert bei normaler 
Belastung 40 P.S., kann jedoch auf 46 und vorübergehend 52,6 
P.S. gesteigert werden; er vermag das Schiff allein mit 6—S 
Knoten Geschwindigkeit durch das Wasser zu treiben. 

Von großer Wichtigkeit für ein ersprießliches Arbeiten ist 
natürlich das Vorhandensein eines großen hellen Arbeitsraumes, 
und auf diesen wurde daher auch die größte Sorgfalt verwendet. 
Das Laboratorium liegt mittschiffs unter Deck und nimmt die 
ganze Breite des Schiffes ein; in ihm liegt der Schwerpunkt des 
Fahrzeuges, so daß in ihm die Bewegungen auch die geringsten 
sind. Durch große Oberlichter ist für gute Beleuchtung gesorgt, 
ein großer Arbeitstisch, gute Sitzgelegenheiten, große Schränke 
für Instrumente und Reagentien geben Gewähr für gute Arbeits¬ 
möglichkeit; ferner sind noch vorhanden ein Waschtisch, ein Sopha 
und Büchergestelle für eine reichhaltige wissenschaftliche und 
Unterhaltungsbibliothek. 

Nach vorn schließt sich an das Laboratorium ein hübscher 
Salon an, der als Wohnraum und Speiseraum dient und zugleich 
2 Wissenschaftler sehr bequem zum Schlafen auf nimmt; an Back¬ 
bord ist vom Salon noch eine Kabine mit 2 Kojen abgetrennt. 










Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen« I j 

Auch im Laboratorium können 2 Personen sehr gut schlafen, 
so daß in den 3 bisher geschilderten Räumen ein Stab von 6 wissen¬ 
schaftlichen Teilnehmern sehr bequem untergebracht werden kann. 
Alle Wohnräume sind weiß gestrichen; die Möbel sind Natur-Eiche 
gebeizt; der Boden ist mit Linoleum belegt. 

Vor dem Salon an Steuerbord ist eine Kabine für Kapitän 
und Steuermann, an Backbord findet sich die Küche und das 
Klosett, während das Vorschiff 4 Matrosen aufnehmen kann. 

Hinter dem Laboratorium befindet sich zunächst ein kleiner 
Vorplatz mit einer Treppe zum Deck. Dahinter liegt der große 
Lastraum, der auch vom Vorplatz aus durch eine Tür betreten 
werden kann, dann folgt der Maschinenraum und endlich noch 
eine Kabine für 2 Maschinisten. 

Der ganze Kielraum unter dem Boden der Kajüten etc. ent¬ 
hält den Ballast und die Tanke für Trinkwasser und das Motoröl. 




Fig. 2. Plan von »Armauer Hansen«. A. Decksplan; B. Plan unter Deck. 


Fig. A. 1. Luke zum Kabelgatt; 2. Ankerwinde; 3. Luke zum Mannschaftsraum; 
4. Niedergang zu den Wohnräumen; 5. Oberlicht des Laboratoriums; 6. Niedergang zum 
Laboratorium; 7. Luke zum Lastraum ; 8. große Winde; 9. große Rolle; 10. seitlich verstell¬ 
bare Rollen; 11. Ozeanogr. Winde; 1 2. Ruderstuhl; 13. Lukas Lotmaschine; 14. Luke zur 
Maschinistenkabine; 15.OberlichtdesMotorraums; 16.Steuerhaus; 17. Fockmast; i8.Bcsan- 
mast. (Die punktierte Linie stelltden Verlauf der Stahltrosse bei Fängen mit den Netzen dar.) 

Fig. B. I. Mannschaftskabinc; II. Gang; III. Kapitänskabine; IV. Klosett; 
V. Salon; VI. Backbordkabine; VII. Laboratorium; VIII. Vorraum; IX. Lastraum; 
X. Motorraum; XI. Maschinistenkabine; XII. Küche. 

a. Sopha, zugleich unteres Bett: b. Rückenlehne desSophas, zugleich aufgeklappt oberes 
Bett; c. Anrichten usw.; d. Waschtische; e. Schränke, Buffet usw.; f. Tische; g. Tanke. 





12 


Dr. M. Auerbach 


Diese Behälter dienen zu gleicher Zeit als Ballast. Wenn das in 
ihnen enthaltene Süßwasser aufgebraucht ist, werden sie mit See¬ 
wasser gefüllt. Alle Tanke sind so geräumig, daß bei einer 
Teilnehmerzahl von 12 Mann für etwa 5—6 Wochen Süßwasser 
zum Trinken und Kochen mitgenommen werden kann. Der Öl¬ 
vorrat reicht bei mittlerem Betrieb auch etwa für 4 Wochen aus; 
befindet sich das Schiff aber oft nur unter Segel, so ist natürlich 
eine viel längere Fahrtdauer möglich. Diese wenigen Angaben 
genügen wohl, um zu zeigen, daß der Aktionsradius des Schiffes 
ein sehr großer und dem eines bedeutend größeren Dampfers 
um vieles überlegen ist. 

Wichtig für leichtes und erfolgreiches Arbeiten sind auch die 
Anordnungen an Deck. Hier war großes Gewicht darauf gelegt, 
möglichst viel freien Raum zum Arbeiten zu haben, deshalb waren 
die Decksaufbauten auch möglichst reduziert. Nur das Steuerhaus 
achter vor dem Besanmast kann als eigentlicher Aufbau gelten; 
die Luken, Oberlichter und Niedergänge sind nicht sehr hoch 
und hindern die freien Bewegungen in keiner Weise. Alles Nähere 
kann man aus den beiliegenden Plänen ersehen. 

Neben dem Schiffe sind das Wichtigste die Apparate, die 
dazu dienen die Ausbeute zu sammeln und an Bord zu bringen. 
Armauer Hansen ist in dieser Beziehung sowohl in zoologischer 
wie ozeanographischer Hinsicht vorzüglich ausgerüstet. 

Um die Tiere und Pflanzen des Meeres zu erbeuten bedient 
man sich in erster Linie der Netze. Kleinere Formen werden 
mit den bekannten Planktonnetzen gefangen, deren Netzstoff aus 
Müllerseide in verschiedener Maschenweite besteht. Von derartigen 
Netzen führten wir eine große Zahl mit und waren mit ihren 
Fängen außerordentlich zufrieden; die Tiere leiden in ihnen am 
wenigsten und die schönsten ganz unbeschädigten Exemplare 
haben wir mit ihnen gefangen. Züge mit Schließnetzen haben 
wir nicht ausgeführt, sondern wir haben nach der Methode Dr. 
Hjorts gearbeitet, die in seinem Werke über die Michael Sars- 
Expedition geschildert ist. 

Neben den Planktonnetzen wurden ferner mit gutem Erfolge 
noch angewendet das sogen. Tobisvad oder Petersensche Jung¬ 
fischnetz und für größere Bodenfische das große Trawl (vergl. d. 
Michael Sars-Expedition). Fast immer wurden in einem Zuge zu 
gleicher Zeit in verschiedenen Tiefen verschiedene Netzarten aus- 



Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen 


1 3 



Fig. 3. Die große Winde. 



Fig. 4 . Anordnung der großen Winde und Rolle für die zoolog. Fänge. 

















>4 


Dr. M. Auerbach 


gelassen, so daß mit einem Zuge eine große Wassermenge filtriert 
wurde und zwar von der Oberfläche bis in große Tiefen. 

Das Aussetzen und Einziehen der Netze ist natürlich eine 
schwierige Arbeit und kann nur mit maschineller Hilfe geschehen. 
Zu diesem Zwecke ist mittschiffs an Deck vor dem Steuerhause 
eine große Winde eingebaut, die, wie wir schon sahen, vom Schiffs¬ 
motor angetrieben wird. Auf der Windentrommel befinden sich 
5000 m einer etwa fingerdicken Stahltrosse, die Fänge bis zu 
etwa 2500—3000 m Tiefe gestattet. Die Trosse läuft von der 
Winde zunächst nach vorn um eine große Rolle (vergl. Decksplan) 
und von dieser wieder nach hinten über eine zweite kleine Rolle 
an der Steuerbordreeling. 

Außer der Netzausrüstung besitzt das Schiff auch vollständiges 
Geräte zum Fischen mit Langleine, eine Methode, die auf den 
Bänken ein reiches Material von Bodenfischen liefern kann. 

Daß endlich auch genügend Geräte zum Sortieren und Aus¬ 
suchen der Fänge, wie große Baljen, eine durch den Motor 
getriebene Pumpe etc. vorhanden sind, ist selbstverständlich. 

Wenn man die ozeanographischen Verhältnisse der Bergener 
biologischen Station einigermaßen kennt, wird es nicht wunder 
nehmen, daß die hydrographische Ausrüstung Armauer Hansens 
in jeder Beziehung mustergültig ist. Wir finden neben einer 
durch Motor und Hand zu treibenden großen Hydrographenwinde 
hinten an Steuerbord (vergl. Decksplan) noch verschiedene kleine 
Handwinden mit zusammen vielen tausend Metern Stahl- und 
Bronceleine, eine Lukas’sche Lotmaschine, Meterräder, Strommesser, 
Wasserschöpfer verschiedener Systeme in größerer Anzahl, Thermo¬ 
meter, Barographen usw. kurz alles, was zu den Untersuchungen 
irgendwie notwendig ist; auch sind alle Apparate vorhanden, um 
das Material, soweit möglich, sofort an Bord zu verarbeiten. Für 
die Güte des Schiffes und seines Instrumentariums mag schon 
allein der Umstand sprechen, daß auf der ganzen Expedition nicht 
ein einziger Thermometer zerbrochen, kein Instrument ernstlich 
beschädigt wurde, obgleich die Arbeit durch das stets herrschende 
stürmische Wetter meist sehr erschwert war. 

Die Stimmung der meisten Menschen hängt viel davon ab, 
wie sie ernährt werden, und deshalb kann keine zu große Sorgfalt 
auf die Verproviantierung gelegt werden. Ich kann hier natür¬ 
lich nicht auf die Küchenverhältnisse näher eingehen, und will 



Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen 


*5 



Fig. 5. Die ozeanographische Winde. 


nur bemerken, daß möglichst für Abwechslung gesorgt war, wenn 
auch durch die Krankheit unseres Koches, wie wir bei der Reise¬ 
schilderung sehen werden, gerade diese Frage eine etwas schwierige 
war. Satt sind wir immer geworden, und geschmeckt hat es uns 
auch immer, besonders wenn wir selber kochten. Auch mit 
Getränken waren wir gut versehen, wenn auch unser Hauptgetränk 
Kaffee, Tee und Schokolade war. 

Zum Schlüsse meiner einleitenden Betrachtungen endlich 
noch einige Worte über die Personen, die an der Expedition 
teilnahmen. Dieselben sonderten sich in zwei Gruppen, auf der 
einen Seite die wissenschaftlichen Teilnehmer und auf der andern 
die Seeleute, zu denen auch der Koch und die Maschinisten zu 
rechnen sind. 





Dr. M. Auerbach 


Fig. 6. Kontrolle eines Nansen'schcn Wasserschöpfers durch Heiland Hansen. 

Leiter der Expedition war, wie ich schon verschiedentlich 
erwähnte, Dr. Björn Heiland Hansen, nach dessen Ideen ja 
auch das Schiff gebaut war; er war der Leiter der ozeanographischen 
Arbeiten. Ihm stand zur Seite der Meteorologe cand. Birkeland, 
der neben den meteorologischen Arbeiten auch an allen hydro¬ 
graphischen Untersuchungen teilnahm, da er an der nächstjährigen 
Nordpolexpedition von Roald Amundsen als Meteorologe und 
Hydrograph teilnehmen wird. Teils ozeanographisch teils zoologisch 
war Herr Ludwig Ameln aus Bergen beschäftigt. Als Zoologen 
endlich nahmen Teil, Herr cand. S. Johnsen, Kustos an Bergens 
Museum und der Verfasser dieses Berichtes. 

Natürlich war die Arbeit an Bord nicht streng nach den 
verschiedenen Gebieten geteilt, man half sich vielmehr gegenseitig 







Bericht über die Expedition des *Armauer Hansen« 


17 



Fig. 7. Das Tiefseeloot mit dem »Lukas«. 

so viel wie irgend möglich. So verrichteten die Ozeanographien 
oft zoologische Hilfsdienste, wie andererseits auch wir Zoologen 
häufig bei hydrographischen und meteorologischen Beobachtungen 
helfend mit einsprangen, Hilfeleistungen, die sicher für die Gesamt¬ 
bildung des Einzelnen nur von Vorteil sein konnten. Nebenbei 
war es auch niemand verwehrt, sich nach Belieben sonst nützlich 
zu machen; so betätigte ich mich persönlich so viel wie möglich 
seemännisch, zeitweilig auch als Koch und als Scheuerfrau; doch 
davon später. 

Für das ganze Schiff und den seemännischen Teil der 
Expedition verantwortlich war unser braver Kapitän Wilhelmsen, 
der auch stets bei den wissenschaftlichen Untersuchungen die 
Navigierung übernahm und seine Aufgabe stets in bewunderungs- 

Verhandlungen 26. Bd. 2 








i8 


Dr. M. Auerbaeh 


würdiger Weise löste. So ist es z. B. wahrlich keine Kleinigkeit, 
bei starkem Wind und einer See von 5—6 m Höhe bei Vornahme 
einer Lotung auf 3000 m das Fahrzeug so zu manöverieren, daß 
die Lotleine immer genau senkrecht im Wasser steht. 

Der zweite im Kommando war Steuermann Seiersted, ein 
richtiger Seebär, der während der ganzen Dauer der Fahrt auch 
nicht einen Schritt an Land getan hat. 

Als Maschinisten waren an Bord der Mechaniker Lien und 
der Mechaniker Olsen, beide hatten oft sehr schweren Dienst, 
wenn sie bei hoher See den Motor und die Winden zu bedienen 
hatten und oft Tag und Nacht nicht zur Ruhe kamen. Als Koch 
war der Steward Brundland angestellt, der während der langen 
Wartezeit in Bergen, auf der Probefahrt und auf den Fahrten mit 
»Togo« viele Proben seiner Kunst gab; leider erkrankte er sofort 
nach der Ausfahrt und mußte in Stornoway auf den Hebriden zurück- 
gelassen werden, wo wir ihn erst am Ende der Reise wieder abholten. 

Den eigentlichen Matrosendienst versahen die Seeleute Harald 
Lund und Wilhelm Toft. Beide waren aber so geschickt, daß 
sie eigentlich als »Mädchen für Alles« verwendet wurden; das eine 
Mal funktionierten sie als Koch, dann spielten sie Waschfrau 
usw., kurz gesagt, das ganze seemännische Personal war so vor¬ 
züglich zusammengesetzt, wie man es sich nur wünschen konnte. 

Nach diesen allgemeinen Bemerkungen können wir nun dazu 
übergehen, in großen Zügen den Verlauf der Reise zu schildern. 

Wieder einmal, wie schon so oft, stand ich am Morgen des 
1 o. Mai v. J. an der Kaimauer des Strandkai 19 im Hamburger 
Hafen und schaute auf den kleinen norwegischen Postdampfer 
herab, der mich nach Bergen bringen sollte. An Bord war cilles 
in schönster Unordnung, wie das zu Ladung einnehmenden Schiffen 
gehört, jedoch zeigte mir eine Besichtigung unter Deck, daß ich 
auf »Kong Gudröd' gut aufgehoben sein würde, war das Schiff 
doch noch ganz neu und alles peinlich sauber. Ein Blick in die 
Passagierliste belehrte mich auch, daß mein Vater, der mich bis 
Bergen begleiten wollte,, und ich fast die einzigen Passagiere 
waren, ein Umstand, der nicht hoch genug einzuschätzen ist. 

Nachts 12 Uhr Sollte das Schiff in See gehen. Wir hatten 
unsere Kojen schon zeitig aufgesucht, denn die Ausfahrt war uns 
nichts Neues. Pünktlich um 12 Uhr wurden wir denn auch durch 
das Anschlägen der Maschinen und einige merkwürdige schräm- 



Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen« 


»9 


mende Geräusche geweckt, aber bald war wieder alles ruhig, und 
wir schlossen daraus, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei. 
Erst am Pfingstsonntag Morgen um 5 Uhr kam dann die Maschine 
wieder in Gang, und dieses Mal wurde es ernst, wir fuhren ab. 
Beim Frühstück erfuhren wir vom Kapitän, daß wir nachts 
infolge großer Ladung und Ebbe auf Grund gesessen hatten 
und erst mit eintretender Flut losgekommen waren. Da wir 
nichts zu versäumen hatten, konnte uns diese Verzögerung nur 
angenehm sein, hatten wir doch dadurch eine schöne Tagesfahrt 
elbabwärts. Bei Brunsbüttel lag ein Teil unserer Hochseeflotte 
verankert, wodurch wir Gelegenheit erhielten, einige unserer 
schönen neuen Schlachtschiffe zu sehen, in erster Linie den großen 
Panzerkreuzer »Moltke«. Aber noch eine andere Überraschung 
stand uns bevor; vor Cuxhafen tauchte ein Schiffskoloß auf, der 
sich bei näherem Zusehen als das größte Schiff der Erde, der 
»Imperator« entpuppte; so hatten wir durch die Verspätung zwei 
schöne Eindrücke gewonnen, die uns bei pünktlicher Abfahrt 
verloren gegangen wären. 

Über den weiteren Verlauf der Reise bis Bergen ist nicht 
viel zu sagen; der Aufenthalt an Bord war sehr angenehm; das 
Wetter war wechselnd und die See so glatt, daß selbst der 
empfindlichste Magen keine Veranlassung zu Rebellionen gehabt 
hätte. Montag vorm. 11 Uhr liefen wir in Christiansand ein und 
blieben dort bis 2 I / 2 Uhr nachm, liegen; dann ging es weiter 
mit dem üblichen Halten in Cleven-Mandal, Farsund, Flekkefjord, 
Egersund nach Stavanger, wo wir gegen 11 Uhr vorm, am 
Dienstag 11. Mai ankamen. Auch während dieses Teils der Fahrt 
ereignete sich nichts, ebensowenig auf der Reise nach Bergen, 
das wir am 13. vorm. 5 Uhr erreichten. 

Es war für mich ein eigentümlich wohliges Gefühl, mit dem 
Bewußtsein zu erwachen, daß ich jetzt im alten lieben Bergen 
sei; es schien mir, als wäre ich nach Hause gekommen. An Land 
begrüßte mich Wachtmeister Glimme, von der Biolog. Station, 
der mir bei den Zollformalitäten behilflich war. Meine erste Frage 
galt natürlich unserem Schiff, aber ach, die Auskunft war nicht 
erfreulich. An Bord von »Armauer Hansen solle es aussehen 
wie in einer Räuberhöhle; es werde mit Hochdruck an der 
Fertigstellung gearbeitet, aber sicher würde noch einige Zeit ver¬ 
streichen, bis alles zur Abfahrt bereit wäre. Glücklicherweise 



20 


Dr. M. Auerbach 


ahnten wir damals noch nicht, welche Geduldsprobe uns bevor¬ 
stand, die Enttäuschung wäre zu groß gewesen. 

Nach Lage der Dinge war es unmöglich, auf »Armauer 
Hansen« zu wohnen, und so nahmen wir Quartier im Smeby-Hotel, 
wo ich wieder, wie immer, ausgezeichnet aufgehoben war. Lange 
konnte ich es dort aber nicht aushalten; es trieb mich, meine 
alten Freunde zu begrüßen und das Schiff zu sehen, dem wir uns 
anvertrauen sollten. So brachen wir denn bald nach der Biologischen 
Station auf und gingen von dort zur Werft, an der »Armauer« 
lag. An Deck stand mein Freund Heliand Hansen, der uns 
nach herzlicher Begrüßung überall herumführte. Eines sah ich 
sofort, »Armauer« ist ein vorzügliches Seeschiff, irgend eine Gefahr 
ist normaler Weise mit der Reise nicht verbunden; aber ich sah 
auch mit Schrecken, daß wir nicht so bald fortkommen würden. 
Unter Deck wurden die Tanke für Öl und Süßwasser eingebaut, 
auf Deck wurden alle Nähte neu verpicht und an der Montierung 
der Winden gearbeitet. Die Geduldsprobe konnte beginnen! 
Für den Abend erhielten wir eine Einladung von dem Direktor 
der zoolog. Abteilung von Bergens Museum, Herrn Dr. Brinkmann, 
bei dem ich die Teilnehmer unserer Expedition kennen lernte. 

Am 16. Mai fuhr mein Vater mit Bergens Bahn wieder nach 
Hause, und ich war nun allein auf mich und meine Arbeiten 
angewiesen. Ich kann nun hier nicht auf eine Schilderung der 
langen Wartezeit in Bergen mit allem ihrem Ärger eingehen; 
nur will ich erwähnen, daß alle Bekannten geradezu rührend sich 
darin überboten, mir das Warten so angenehm wie möglich zu machen. 

Vielleicht hat auch gerade die lange Verzögerung der Abfahrt 
ihr Gutes gehabt. Ich hatte genug Zeit, mich in alle Einzelheiten 
des Schiffes und seiner Einrichtungen zu vertiefen und mich aktiv 
an allen Fragen der Expeditionsausrüstung zu beteiligen; das ist 
nun aber für einen Zoologen, der ja viel reisen muß, wenn er 
weiter kommen will, von allergrößtem Wert. Das Zustandekommen 
und die Vorbereitungen der Expedition waren für mich so lehrreich, 
daß ich jetzt jene Wartezeit nicht missen möchte; sie hat mich befähigt, 
vielleicht später einmal selbst ähnliche Expeditionen auszurüsten. 

Bald sahen wir, daß der Mai und ein Teil des Juni sicher noch 
mit Reisevorbereitungen verstreichen würden und deshalb begrüßte 
ich es mit Freuden, als Heiland vorschlug, die Zeit wenigstens 
teilweise mit kleineren wissenschaftlichen Exkursionen auszufüllen. 



Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen« 2 i 

Am 27. Mai schifften Heliand, Birkeland, Heliands Assi¬ 
stent Gaarder, Maler Lofthus und ich uns auf der Segeljacht 
»Togo« ein, die Eigentum des früheren Kapitäns des »Michael 
Sars« (norwegisches staatliches Forschungsschiff) und jetzigen 
Fischereikonsulenten Iversen ist; Kapitän Iversen nahm selbst 
an der Tour teil; das Ziel war der Mofjord, ein ganz enges und 
landschaftlich wunderbarschönes Wasserbecken nördlich von Bergen; 
dort sollten hydrographische und zoologfische Untersuchungen vor¬ 
genommen werden. Ich speziell hoffte, dort Larven von Gadus- 
arten zu erhalten, die mir über den ersten Zeitpunkt der Infektion 
mit Myxosporidien Auskunft geben konnten. 

»Togo« ist ein merkwürdiges Schiff. Bei 11 m Länge und 
3 i / 2 m Breite birgt es in sich einen Raum, der fast nicht ausgefüllt 
werden kann. Mit der Besatzung waren wir 9 Mann an Bord! 
und trotzdem hatten wir gemütlich Platz. Es muß vom Land aus 
höchst erstaunlich ausgesehen haben, wenn aus der Luke ein 
Mensch nach dem anderen auftauchte, bis die Zahl 9 erreicht war, 
und dem Unbefangenen mag sich der Eindruck aufgedrängt 
haben, daß es unter Deck etwa wie in einer gefüllten Herings¬ 
tonne zugehe; aber weit gefehlt; Mittagessen, Nachmittagskaffee, 
Abendbrot und Frühstück vereinte uns alle in der winzigen 
Kabine, und ich habe selten so gemütliche Stunden verlebt, wie 
gerade hier. Selbst für »Kunstgenüsse« war gesorgt, denn 
»Togo« besitzt auch ein Grammophon, und oft ertönte Carusos 
Stimme über das Wasser hin, und abends gaben wir den am 
Ufer versammelten Bewohnern der Dörfer Freikonzerte. Leider 
verliefen die schönen Tage im Mo- und Osterfjorde nur zu schnell; 
die zoologischen und hydrographischen Untersuchungen waren 
beendet; die Ausbeute war befriedigend, hatte ich doch eine 
ganze Anzahl Fischlarven bekommen. Am 29. Mai trafen wir 
wieder in Bergen ein und hier erwartete uns eine freudige Über¬ 
raschung; »Armauer Hansen« war wenigstens in den Wohnräumen 
fertig, so daß Heliand und ich sofort an Bord übersiedeln konnten. 
Heiland bezog die Backbordkabine, während ich es mir im 
Salon bequem machte und zwar in der oberen Koje; dies war 
für mich wichtig, denn ich sollte diesen Platz für die ganze Dauer 
der Reise behalten und zur See gilt der Grundsatz, immer mög¬ 
lichst hoch über anderen Personen sich aufzuhalten, damit nicht 
unsichere Kantonisten einem eine »Bescherung von oben« bereiten 



22 


Dr. M. Auerbach 


können. Die erste an Bord verbrachte Nacht zeigte uns, daß 
die Betten sehr gut und bequem waren und man mit Ruhe in 
die Zukunft blicken konnte. Ferner hatte die Fahrt mit »Togo« 
uns einander schon näher gebracht; der Koch hatte seine Kunst 
zu aller Befriedigung gezeigt, so daß wir in bezug auf unser leib¬ 
liches Wohl unbesorgt sein konnten; und als Wichtigstes fanden 
wir, daß wir wissenschaftlichen Expeditionsteilnehmer gut zueinander 
paßten. Dieses Resultat war sehr zu begrüßen, denn wenn man 
viele Wochen auf einem kleinen Schiff nur auf sich und einige 
wenige andere Menschen angewiesen ist. denen man in keiner 
Minute aus dem Weg gehen kann, so ist es erste Bedingung, 
daß alle miteinander harmonieren, sonst kann einem der Aufenthalt 
an Bord zur Hölle werden, und die Arbeiten müssen unter solch 
gespannten Verhältnissen natürlich leiden. 

Woche auf Woche verstrich, wir lagen einmal an dieser, dann 
an jener Werft; nach und nach wurde alles fertig und als dann 
endlich auch die Ketten und Zahnräder zur großen Winde ein¬ 
trafen, war der spannende Augenblick nicht mehr fern, wo zum 
ersten Male der Motor zum Treiben der großen Winde in Gang 
gesetzt wurde. Alles wollte natürlich möglichst gut sehen, und 
der Maschinenraum war voll Leute. Da sprach Lien, unser erster 
Maschinist, ein Machtwort; einer nach dem andern wurde hinaus¬ 
geworfen, nur er blieb allein zurück; oben an Deck standen wir 
alle um die Winde herum, während unter uns der leerlaufende 
Motor rumorte; da, plötzlich ein stärkeres Rasseln und langsam 
aber sicher setzt sich die große Trommel in Bewegung; die 
schwerste Frage war gelöst, unserer Abfahrt stand nun nichts 
mehr im Wege. Wer wird es uns verdenken, wenn wir dieses 
Ereignis zusammen mit den Ingenieuren der Werft durch einige 
Flaschen Champagner in festlicher Art würdig begingen. Wir 
konnten jetzt den Tag unserer Abfahrt auf den 26. Juni festsetzen. 
Vorher aber mußte noch eine größere Probefahrt unternommen 
werden; um auch die neuen Winden bei der Arbeit zu erproben. 
Da wir nicht wissen konnten, ob bei den Versuchen auch alles 
glatt gehen würde, suchten wir uns als Ziel der Probefahrt einen 
Platz aus, der bei genügender Wassertiefe ein ruhiges, durch 
Witterung nicht beeinflußtes Arbeiten gestatten würde. Unsere 
Wahl fiel auf den schönen Sognefjord, der von Bergen aus leicht 
und schnell zu erreichen ist und im mittleren Teil Tiefen bis zu 



Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen' 


23 


etwa 1100 m aufweist, die für unsere Zwecke vollkommen genügten. 
Verschönt wurde die Aussicht auf dieser Probefahrt noch dadurch, 
daß Nansen, der sich für unser neues Schiff und seine Ein¬ 
richtungen sehr interessierte, an derselben Teil nehmen sollte. 

Am 21. Juni nachmittags wurde das Schiff allmählich klar zur 
Abfahrt; allerdings sah es an Deck noch sehr ungemütlich aus, 
aber als wir dann um 7 Uhr loswarfen, und in den Fjord dampften, 
war auch hier in überraschend kurzer Zeit Ordnung geschaffen. 
Die wissenschaftlichen Teilnehmer dieser Probefahrt waren: 
Heiland Hansen, Prof.Nansen,Birkeland, AssistentGaarder, 
Ameln und ich selbst. Bei prachtvollem Wetter fuhren wir durch 
die schönen Fjorde und blieben noch lange an Deck in gemüt¬ 
lichem Gespräche beieinander. 

Der nächste Tag, ein Sonntag, fand uns im Sognefjord; 
strahlende Sonne überflutete die Landschaft und spendete sommer¬ 
liche Wärme, die uns bald zwang unser Sonnensegel auszuspannen; 
gegen Mittag kam Balholm in Sicht, und hier ankerten wir in 
einer kleiner Bucht. In primitiver Weise wurde an Deck ein 
Tisch aufgeschlagen und bald konnten wir uns an den Künsten 
unseres Koches erlaben, der zur Feier des Tages ein ganz besonderes 
Festmahl hergerichtet hatte. Den Nachmittag verbrachten wir mit 
Spaziergängen an Land, einer kleinen Motorbootfahrt auf dem 
Fjord und einem erfrischenden Bade, zu dem Nansen die An¬ 
regung gab. 

Abends gegen 6 Uhr wurde mit der Arbeit begonnen. Vor 
Balholm senkt sich der Boden des Fjords bis zu ca. 1100 m Tiefe 
herab, und hier machten wir den ersten Versuch mit dem großen 
Trawl. Das große, schwere Netz, das über den Grund hingleitet, 
wurde mit 2000 m Stahltrosse ausgesetzt. Nach dem Nachtessen 
wurde mit dem Einholen begonnen. Dabei zeigte es sich, daß 
die große Winde ausgezeichnet arbeitete, daß aber noch einige 
unbedeutende Veränderungen an ihr vorzunehmen sein würden. 
Um */* 12 Uhr nachts kam das Trawl wieder an Deck; das Netz 
war in Unordnung geraten, hatte aber doch gut gefangen; es 
enthielt u. a. sehr viele Angehörige der Spezies Munida tenuimana, 
einer Tiefseekrustacee mit schön leuchtenden Augen, eine ganze 
Anzahl Holothurien (Stichopus tremulus), einige prachtvolle Quallen 
(Periphyllia hyacinthina) und vieles andere mehr. Ich konservierte 
den ganzen Fang in 4°/ 0 igem Formol und übergab ihn später 



24 


Dr. M. Auerbach 


Bergens Museum. Hochbefriedigt von den Ergebnissen dieses 
ersten Arbeitstages begaben wir uns endlich gegen i Uhr zur 
Ruhe. Bei mir wollte allerdings der Schlaf nicht so bald kommen, 
denn ein liebliches Schnarchquintett umgab mich. In der Kapitäns¬ 
kabine sägte der Steuermann mit rührendem Eifer knorriges 
Eichenholz, unter mir bemühte sich Ameln, ihm in keiner Weise 
nachzustehen; in der Backbordkabine lag Nansen, der zwar nach 
seiner eigenen Aussage nie schnarcht, aber für diese Nacht, viel¬ 
leicht angesteckt durch das böse Beispiel, hiervon eine Ausnahme 
machte, und aus dem Laboratorium endlich kam gleich noch der 
Klang eines Duetts von Heiland und Birkeland! Wann wird 
einmal ein sicheres Mittel gegen diese Tugend gefunden, ein 
sicher wirkendes Antischnarchol! Ich besaß ein solches Mittel, 
konnte es aber leider nicht immer anwenden. 

Schon um 7 Uhr am anderen Morgen waren wir aus den 
Federn. Heute sollten Versuche mit den Planktonnetzen und 
den hydrographischen Apparaten angestellt werden. Es klappte 
alles vorzüglich. Ein Planktonnetz brachte eine Unmenge 
kleiner Rippenquallen (Ctenophoren) herauf, und die Ozeano- 
graphen hatten alle Hände voll zu tun, so schnell lieferte die 
neue Motorwinde das Material an Deck. Hier war die Haupt¬ 
frage die gewesen, ob sich die Winde beim Einholen der In¬ 
strumente genügend rasch würde stoppen lassen, denn das ist 
von Wichtigkeit, einmal damit die Apparate nicht gegen den 
Davit geschleudert werden, der das Motorrad trägt und dann, 
damit bei hohem Seegang nicht eine anlaufende Welle die In¬ 
strumente im Augenblick, wenn sie aus dem Wasser kommen, 
an der Bordwand zerschlägt. Wir fanden nun, daß bei geschickter 
Handhabung die Winde augenblicklich still steht, und da Armauers 
Freibord nur etwa 1 m beträgt, so ist die Gefahr nur sehr gering 
im Vergleich zu einem größeren Schiff mit hochliegendem Deck. 
Tatsächlich ist uns denn auch ein derartiger Unfall nie passiert, 
trotzdem wir draußen im Ozean oft bei sehr schlechtem Wetter 
arbeiten mußten. 

Nachmittags gegen 4 L'hr lagen wir für kurze Zeit an der 
Landungsbrücke von Baiholm und wurden dort natürlich sofort 
von wissensdurstigen Touristen geentert. Besonders auf Nansen 
war es abgesehen; aber der war verschwunden. Welcher Raum 
des Schiffes ihn aufgenommen hatte, weiß ich bis heute noch nicht, 



Bericht über die Expedition des >Armauer Hansen« 


25 


als wir dann aber um 5 Uhr abfuhren, war er plötzlich wieder 
da. Der Himmel hatte sich mit schwarzen Wolken bezogen, und 
es schien, als ob ein heftiges Gewitter im Anzuge sei; aber es 
war falscher Alarm; bald klärte es sich wieder auf und abends 
hatten wir wieder prachtvolles Wetter zur Heimfahrt. Die Probe¬ 
tour hatte ausgezeichnete Resultate geliefert und daher durften 
wir uns auch abends einen ordentlichen Griff in unseren »Wein¬ 
keller« gestatten. Die Stimmung war glänzend und erst spät 
begaben wir uns zur Ruhe. 

»Ja, wollen denn die Herren den ganzen Tag schlafen?« war 
das erste, was wir am kommenden Morgen so gegen 9 Uhr ver¬ 
nahmen. Die gewichtige Frage kam aus Nansens Mund, der 
im tiefen Negligee in seiner Kabinentür stand und voll Staunen 
auf uns andere Schläfer blickte. Bald waren wir alle munter, nur 
unser »Generaldirektor« Heiland macht morgens immer einige 
Mühe beim Wecken, denn da schläft er am besten und selbst 
Segelmanöver direkt über seinem Kopfe, Hammerschläge gegen 
die Bordwand direkt an seinem Ohr, sollen, wie böse Menschen 
behaupten, oft keine Wirkung haben. Endlich saßen wir alle 
beim Frühstück und gegen 10 Uhr warfen wir wieder in Bergen 
Anker. Nansen reiste bald darauf wieder nach Kristiania und 
uns blieb der Rest des 24. und der 25. und 26. Juni noch zu 
Vorbereitungen für die eigentliche Expedition. Die Änderungen 
an der großen Winde wurden zur richtigen Zeit fertig und so 
konnten wir denn am 25. abends bei Heliands Freund Nordahl 
Olsen Abschied feiern. 

Der 26. Juni brachte noch gehörig Arbeit. Es galt, alle 
Gegenstände im Laboratorium seetüchtig verstauen, denn daß 
Armauer nicht immer ruhig und unbeweglich im Wasser liegen 
würde, wußten wir schon. Endlich gegen Abend war alles klar, 
mit Ausnahme des Ankers, der sich in der Kette eines anderen 
verankerten Schiffes verwickelt hatte; nach einer Arbeit von 2 
Stunden war auch endlich dieses Hindernis beseitigt, die große 
Fahrt hatte begonnen. Vorläufig sah es allerdinge noch nicht sehr 
ernst aus. Eine ganze Reihe guter Freunde war noch an Bord und 
aß mit uns zu nacht; sie kehrten später mit dem Motorboot der 
Station nach Bergen zurück und erst spät kamen wir zur Ruhe. 

Nur kurzer Schlaf war uns beschieden. Der Morgen des 
27. Juni nahte mit all seinen Schrecken. Ich erwache gegen 4 



26 


Dr. M. Auerbach 


Uhr mit dem Gefühle, daß mich jemand mit Gewalt aus dem Bett 
werfen will; zugleich hatte die Hölle alle ihre Wohlgerüche aus- 
gespieen! Das Schiff ist aus dem Fjord ins freie Wasser hinaus¬ 
gekommen und ist gerade richtig in einen lieblichen Südweststurm 
hineingelaufen. Durch die heftigen Schwankungen wird das 
Bodenwasser, das sich in jedem Holzschiffe findet, aufgewühlt und 
sendet seinen Fäulnisgestank durchs ganze Schiff. Wenn man 
1000 faule Eier auf einmal in einem engen Raume zerschlagen 
würde, hätte man doch nur annähernd einen Begriff von dem 
Gestank an Bord, man muß sich noch den Duft von Petroleum, 
Maschinenöl und sonstigem dazu denken. »Nein, das soll der 
Teufel aushalten.« Ich turne mit Lebensgefahr aus meiner Koje 
und werde nun beim Ankleiden wie bei einem Indianertanz im 
ganzen Salon herumgewirbelt, Stiefel und Kleidungsstücke müssen 
mit viel List eingefangen werden; endlich bin ich soweit fertig, 
um einen Blick an Deck werfen zu können. Dabei interessiert 
es mich merkwürdigerweise ganz besonders, wann ich nun see¬ 
krank werde, ein Zustand, den ich bisher nur vom Ansehen kannte. 
Dieses Mal aber packt es mich doch auch, d. h. Neptun fordert 
einige substanzielle Opfer, aber zu meinem Vergnügen merke 
ich, daß ich über meinen Zustand ganz zufrieden philosophieren 
kann und eigentlich gar keine nennenswerten Schmerzen habe. 
An Deck ist es recht ungemütlich; an freies Stehen ist nicht zu 
denken; man muß sich irgendwo festhalten, dazu kommt Spritz¬ 
wasser über und es regnet. Aber ein Vergnügen ist’s doch, 
unser Schiff im Sturm zu sehen und deshalb halte ich auch 2 
Stunden oben aus. Die schwersten Seen werden spielend von 
Armauer genommen und keine einzige Sturzwelle kommt an Deck. 
Der Motor ist gestoppt und wir fahren nur mit kleinen Segeln, 
kommen aber doch gut vorwärts. Allmählich wird’s oben aber 
doch zu ungemütlich, und so turne ich dann langsam wieder 
hinunter. Der Gestank hat sich glücklicherweise verzogen; er 
hält nie lange an. Ameln und Johnsen sind scheußlich seekrank, 
Heiland und Birkeland sind schläfrig und rühren sich kaum. 
Da unsere Arbeit erst hinter Stornoway beginnt, habe ich auch 
nichts zu tun und besteige meine Koje wieder, nachdem ich einige 
Vorsorge getroffen habe, daß ich nicht hinausfliegen kann. Darauf 
bin ich eingeduselt und habe feist den ganzen Tag und die folgende 
Nacht ohne Unterbrechung wie ein Dachs geschlafen, mit Ausnahme 



Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen« 


27 


einiger kleiner Episoden, die durch Opfer an Neptun ausgefüllt waren, 
die mich aber nicht weiter behelligten. Ich konnte vielmehr mit 
Vergnügen feststellen, daß meine Seekrankheit sich in gemütlicher 
Weise äußerte und sich jedenfalls bei einigem Zwang zu Arbeit 
bald verkrochen hätte. 

Am 28. war das Wetter etwas besser, wenn auch die See 
noch recht hoch ging. Heiland, Birkeland und ich sind 
wohlauf und lassen uns das Frühstück prächtig schmecken. Von 
unserem Steward ist nichts zu sehen und zu hören, Harald und 
Wilhelm bemühen sich, unsere Mägen zu befriedigen; sie erzählen 
uns auch, daß der Steward seekrank vorn im Mannschaftsraum 
liegt. Um meinen Körper wieder ins richtige Gleichgewicht zu 
bringen, übernehme ich von 10—12 Uhr den Dienst am Steuer; 
das ist bei hoher See eine ganz hübsche Arbeit und ist etwa 
mit einer gleichlangen gymnastischen Übung zu vergleichen, denn 
jede See will das Fahrzeug aus dem Kurs werfen, und das darf 
natürlich nicht sein; deshalb muß das Rad unaufhörlich bald nach 
Backbord, bald nach Steuerbord gedreht werden. 

In der Nacht vom 28. auf den 29. passieren wir Sumburgh- 
head, die Südspitze der Shetland-Inseln; als wir gegen 10 Uhr 
an Deck kommen liegt Fair Isle hinter uns; wir sind im atlantischen 
Ozean angelangt. Das Wetter ist schön, aber es steht noch eine 
ziemlich hohe Dünung; später passieren wir das Light Flash Feuer 
auf den Orkney Inseln und setzen den Kurs W. S.W. auf die 
Hebriden. Johnsen hat sich nun auch erholt, während Ameln 
und der Steward noch immer krank sind; unsere beiden Matrosen 
haben wahrhaftig viel zu tun, sie müssen die Seemannsarbeiten 
verrichten und dazu auch noch kochen; aber sie sind ihrer Auf¬ 
gabe gewachsen und erfreuen uns durch eigenartige aber gute 
Gerichte, wie z.B. süßen Haferschleim mit Apfelsaft, eine Spezialität 
Haralds. Der Koch aber bekommt keine so guten Sachen; 
Kapitän Wilhelmsen braut ihm einen Teufelstrank, der ihn 
kurieren soll; ich will diese Medizin doch zum Nutzen anderer 
Seekranker hier bekannt geben: Man nehme ein großes Wasser¬ 
glas und fülle es halb mit Rizinusöl; dann fülle man mit Kampher- 
tropfen auf, mische etwas Petroleum bei und »versüße« das Ganze 
mit Apfelsaft! Es ging das Gerücht, daß der Steward dieses Gemisch 
erst nach langem und eindringlichem Zureden geschluckt habe; ge¬ 
holfen hat es ihm nicht, aber auch merkwürdigerweise nicht geschadet. 



28 


Dr. M. Auerbach 



Fig. 8. Stornoway vom Hafen aus. 


Das Wetter besserte sich nach und nach immer mehr, und 
als wir am 30. vorm, an der schottischen Westküste hinfuhren, 
war prachtvoller Sonnenschein und ruhige See, so daß auch die 
armen Kranken endlich erschienen, allerdings nur noch als Schatten 
früherer Blüte. Abends um 7 Uhr warfen wir im Hafen von 
Stornoway auf den Hebriden Anker. Die Stadt, welche ein paar 
tausend Einwohner zählt, macht einen typisch englischen Eindruck. 
Besonders beliebt scheinen als Verzierung die Chimney-pots zu 
sein, die an allen möglichen und unmöglichen Stellen angebracht 
sind. Birkeland zählte deren an einem kleinen Hause über 20; 
in ebenso großer Anzahl sind Kirchen vorhanden. Uns interes¬ 
sierte besonders die Flotte der Heringsfischer, die nachmittags 
ausläuft und am darauffolgenden Vormittag zurückkommt. Der 
Fang wird teils von F'ischdampfern und teils von eigentümlich 
gebauten aber eleganten Segelbooten besorgt. Für alle hatte das Land 
insofern Interesse, als wir hier Post von zu Hause vorfanden und 
die letzten Nachrichten vor der großen Fahrt an unsere Ange¬ 
hörigen senden konnten. F'ür Ameln endlich hatte der Ort noch 
weitere Bedeutung; er wurde hier zurückgelassen, um für mich 
möglichst viele Küsten fische als Vergleichsobjekte zu meinem nor- 








Bericht über die Expedition des Armauer Hansen' 


2Q 


wegischen Material zu sammeln. Irgend etwas von Bedeutung 
erlebten wir an Land nicht. An Bord hingegen wurde noch eifrig 
gearbeitet; die Maschinisten nahmen den Motor auseinander, um 
ihn nochmals gründlich zu reinigen; im Raum wurde die Ladung 
neu gestaut; endlich wurde noch möglichst viel frischer Proviant 
eingenommen. Am Abend des 2. Juli wurde Armauer an den 
Quai verholt, um die Tanke alle mit Süßwasser nachzufüllen. 
Außer der Mannschaft waren nur noch Birkeland und ich an 
Bord. Da kommt Kapitän Wilhelmsen verzweifelt ins Labora¬ 
torium, gefolgt vom englischen Quaiaufseher. Wilhelmsen spricht 
nur norwegisch und der Aufseher nur englisch; da ist eine Ver¬ 
ständigung schwer, und deshalb wurden wir zu Hilfe gerufen. 
Uns sowohl wie Wilhelmsen wird zunächst klar, daß der Mann 
Durst hat, aber nicht nach Wasser; deshalb rückt Birkeland 
gleich mit der Whisky- und ich mit einer echten Schwarzwälder 
Kirschwasserflasche ins Gefecht. Das imponiert der hohen Behörde 
gewaltig, und abwechselnd spenden wir unsere Genüsse. Was der 
gute Mann aber sonst noch will, bleibt uns unklar; sein Englisch 
ist Dialekt und wird durch vorher schon verstaute Alkoholika 
noch schwieriger, uns versteht er gar nicht. Drum lassen wir 



Fig. 9. Englischer Hcringsfischer in Stornoway. 




30 


Dr. M. Auerbach 


ihn einfach trinken und sorgen dafür, daß alle Tanke gut mit 
dem sogen. Trinkwasser gefüllt werden, einer Flüssigkeit, die in 
natürlichem Zustande schon braun ist, wie starker Tee. Als 
dieses Geschäft besorgt ist, wobei alle unsere Kabinen zu s/ 4 unter 
Wasser gesetzt sind, regt sich auch unser Mann wieder und heischt 
Bezahlung und zwar für mehr, als wir überhaupt Platz in den 
Tanken haben. Wilhelmsen spricht norwegisch und wird auch 
endlich mit ihm fertig; um */* i Uhr schließt dann diese denk¬ 
würdige Episode, und wir kommen ins Bett. 

Die definitive Abfahrt ist auf den Vormittag des j.Juli festgesetzt. 
Es ist auch alles bereit; Ameln hat sich verabschiedet und soll 
an Land gesetzt werden; der Motor ist klar zum Anlaufen. Da 
taucht der Steward aus der Küche auf und spricht einige Worte 
mit Heliand, worauf dessen Gesicht lang und länger wird. Was 
los ist, sollen wir bald erfahren. Unser guter Koch fühlt sich 
noch nicht gesund genug, um die große Tour mitzumachen und 
verlangt an Land ins Spital zu kommen. Allgemein großes Er¬ 
staunen und wenig Gegenliebe! Aber was hilft’s. Heliand und 
Johnsen fahren mit an Land, um die Aufnahme ins Spital zu 
veranlassen und nach Ersatz zu suchen. 

Birkeland und ich bleiben an Bord zurück. Da sehr wenig 
Aussicht ist, hier einen andern Koch zu finden, machen wir uns 
schon mit dem Gedanken vertraut, allein auf uns selbst angewiesen 
zu sein, und in dieser Voraussicht inspizieren wir die vorhandenen 
Vorräte und stauen sie so, daß wir sie stets gut finden. Unsere 
Befürchtung trifft zu; als Heliand und Johnsen nachm. 4 Uhr 
endlich zurückkommen, erfahren wir, daß alle Versuche umsonst 
waren, wir müssen unsere Reise ohne Koch und ohne Aufwärter 
antreten, d. h. also: »Ade alle Bequemlichkeit; es gibt jetzt ein 
Zigeunerleben !* Daß die Reise schon an und für sich für empfindsame 
Naturen kein Vergnügen sein würde, wußten wir von Anfang an; 
man muß auf so manches verzichten, das einem sonst unentbehr¬ 
lich erscheint. So ist allein schon die Frage des täglichen Waschens 
schwierig. Wir müssen mit einer Abwesenheit von 4 Wochen 
rechnen, es können im ungünstigsten Falle aber auch 6—8 Wochen 
daraus werden. Da heißt es mit dem Süßwasser sparen und an 
Waschen mit solchem ist nicht zu denken. Seewasser nimmt aber 
bekanntlich den Schmutz nicht fort, selbst nicht bei Verwendung 
sogen. Seewasserseife; die Wascherei ist also nur eine Illusion und 



Bericht über die Expedition des »Armaucr Hansen« 


3 


wir haben sie oft ganz bleiben lassen. Zum Rasieren leisteten 
sich einige von uns alle 8 Tage ein kleines Rasierbecken voll 
Süßwasser, und dieses wurde dann nachher noch zum Waschen des 
Gesichtes und der Hände benutzt; man sieht daraus schon, sauber 
waren wir nicht gerade, aber es war eben nicht anders zu machen. 

Zu diesen körperlichen Unbequemlichkeiten kam nun durch 
die Abwesenheit unseres Stewards noch manches hinzu. Es war 
bestimmt worden, daß Harald und Wilhelm kochen sollten; 
würden diese uns nun für die ganze Zeit mit ihren Künsten ge¬ 
nügen? Durch diese neue Aufgabe waren aber beide jetzt so 
sehr mit Arbeit versehen, daß sie unter keinen Umständen noch 
mehr aufgebürdet bekommen konnten, und so blieb denn die Auf¬ 
gabe der Reinhaltung unserer Wohnräume, das Auf- und Abschlagen 
der Betten usw. uns selbst überlassen. Man sieht, daß unsere 
Aussichten nicht gerade glänzend waren; es winkte neben der 
wissenschaftlichen Arbeit noch manche Pflicht, die nicht jeder¬ 
manns Sache ist, aber trotzdem war die Stimmung an Bord vor¬ 
züglich; wir alle waren froh, fortzukommen, und mit gutem Willen 
und einigem Humor kann man, wenn auch nicht alles, so doch 
vieles ertragen. 

Nachmittags halb 5 Uhr des 3. Juli wurden endlich die Anker 
gelichtet, und wir schickten uns an, dem Anblick des Landes für 
einige Zeit Lebewohl zu sagen. Das Wetter hatte sich inzwischen 
verschlechtert und bei strömendem Regen glitten wir aus dem 
Hafen. Draußen im Kanal zwischen Schottland und den Hebriden 
sichteten wir die dreieckige Rückenflosse eines Fisches, die sich 
nur ganz langsam bewegte; bei näherer Besichtiguug stellten wir 
die Diagnose auf einen Mondfisch (Orthagoriscus inola), ein eigen¬ 
tümliches Tier mit merkwürdig gebautem Körper. Leider hatten 
wir keine Harpune an Bord, um den Fisch zu erbeuten. Da das 
Wetter andauernd schlecht blieb, gingen wir bald unter Deck und 
verbrachten den Abend mit Lesen, Plaudern und Kartenspielen. 
Letzteres Spiel nahm unheimlich überhand, und leider muß ich 
bekennen, daß ich der Urheber war. Die einzigen Spiele, die ich 
kann, sind Sechsundsechzig und eine Patience. Ersteres Spiel 
kannte Heliand auch, und oft vertrieben wir beide uns die Zeit 
damit; die Patience aber wurde Gemeingut und Landplage und 
häufig konnte man Heliand, Birkeland und mich (Johnsen 
spielte nie sondern schlief) abends am Tische sitzen und eine 



32 


Dr. M. Auerbach 


Patience nach der andern legen sehen; es wurden da merkwürdige 
Dauerrekorde aufgestellt. 

Wollte ich den weiteren Verlauf der Reise in gleicher Aus¬ 
führlichkeit weiter schildern, so würde dieser Bericht zu umfang¬ 
reich werden, ich muß mich daher begnügen, in großen Zügen 
unsere Erlebnisse zu erzählen. 

Am 5. Juli morgens kamen wir in Sicht von St. Kilda, einer 
kleinen Gruppe von Felseninseln westlich der Hebriden. Hier 
sollte nun die eigentliche Arbeit beginnen, und es wurden daher 
einige Netze in 75 m und 50 m Tiefe ausgesetzt; das Resultat 
des Fanges dieser Station Nr. 1 waren im wesentlichen Crustaceen. 
Von St. Kilda setzten wir Kurs auf Rockall, einen kleinen Felsen, 
der etwa 20 m aus dem Ozean herausragt; der Fels krönt ein 
ausgedehntes Plateau, das teilweise nur wenige Meter unter dem 
Wasserspiegel liegt und deshalb für die Schiffahrt gefährlich ist. 
Nachts steigerte sich der Wind abwechslungsweise einmal wieder 
zu einem kleinen Sturm, der uns zwang, nur mit gerefften Segeln 
zu fahren (der Motor wurde in Zukunft fast nur bei den Arbeiten 
gebraucht); das störte uns aber weiter nicht, nur insofern hatte er 
Bedeutung, als mitten in der Nacht die Wanduhr im Salon mit 
furchtbarem Krach heruntersprang und wie rasend im ganzen 
Raum herumsauste; wollte ich Ruhe haben, so mußte ich auf die 
Jagd gehen, und es gelang mir auch endlich, den Störenfried ein¬ 
zufangen; ich nahm ihn zur Sicherheit mit ins Bett, denn von 
hier aus konnte er wenigstens keinen Schaden mehr anrichten. 

Die folgenden Tage sollten Untersuchungen des Meeres über 
dem Rockall-Plateau gewidmet sein. Am Vormittag des 7. Juli 
wurden mit den Nansen’schen Wasserschöpfern aus verschiedenen 
Tiefen Wasserproben zur chemischen Untersuchung heraufgeholt 
und zugleich mit Umkippthermometern die Temperaturen gemessen. 
Nachmittags wurde das Rettungsboot ausgesetzt und über einer 
Tiefe von ca. 300 m vorn und achter mit 2 Stahltrossen verankert, 
so daß es ganz fest lag; Heiland, Birkeland und Olsen be¬ 
fanden sich in demselben, um Strommessungen vorzunehmen. 
Wir anderen beneideten sie nicht um diese Arbeit, denn sie sollten 
ununterbrochen 24 Stunden im Boot bleiben, um alle Arbeiten 
auszuführen. Das Wetter war nicht prima, die See leicht bewegt, 
und das Boot leckte einigermaßen, so daß alle halbe Stunde das 
eingedrungene Wasser ausgeschöpft werden mußte. Unser Schiff 



Bericht über die Expedition des »Armaucr Hansen 


33 


kreuzte während dessen immer in Sicht des Bootes, jedoch war 
dieses auch mit Proviant und Wasser für mehrere Tage ausge¬ 
rüstet für den Fall, daß wir den Zusammenhang mit ihm ver¬ 
lieren sollten. 

Wir an Bord benutzten unterdessen die Zeit zu anderen 
Arbeiten. Abends setzten wir in 300 m eine Langleine (Grund¬ 
angel) mit 400 mit konservierten Clupea sprattus geköderten Angel¬ 
haken aus, um Grundfische zur Untersuchung zu bekommen. 
Die Lage der Leine wurde durch 2 Bojen gekennzeichnet. Abends 
wurde das Wetter unfreundlicher, und wir gedachten der 3 draußen 
im offenen Boot, froh, an Bord zu sein, und krochen gegen 11 
Uhr in unsere Kojen. 

Schon um 4 Uhr am nächsten Morgen wurden wir durch 
großen Lärm an Deck geweckt. Es war inzwischen eine sehr 
kräftige Brise aufgesprungen und ein weiteres Verbleiben im Boote 
unmöglich. Hungrig, müde und bis auf die Haut durchnäßt, kamen 
die Ozeanographen wieder aufs Schiff, stärkten sich mit etwas 
Schiffszwieback und begaben sich dann zur Ruhe. Jetzt begann 
für uns Zoologen die Arbeit. Nachdem mit großen Schwierig¬ 
keiten das Rettungsboot in dem hohen Seegang wieder geheißt 
war, ging es auf die Suche nach unserer Leine, und nach einiger 
Zeit waren wir auch so glücklich, die eine Boje zu sichten. 
Angetan mit unserem Ölzeug standen wir an Deck um die 
gefangenen Fische gleich in Empfang zu nehmen und zu ver¬ 
arbeiten. Die Ausbeute war gut; sie bestand aus 52 Acanthias 
vulgaris, 19 Pristiurus melanostomus , 3 Molva vulgaris und 3 
Brosmius brosme. Es kostete viele Mühe im Regen und bei sehr 
stark schwankendem Schiffe aus diesen Fischen die Gallen- und 
Harnblasen herauszupräparieren und sie auch sonst zu untersuchen. 
Nach und nach stellte sich auch Hunger ein, denn wir waren 
seit 4 Uhr morgens tätig, hatten noch nichts im Magen, und 
inzwischen war es 3 Uhr nachmittags geworden. Endlich um 4 
Uhr waren die Ozeanographen wieder munter und ein gutes 
Mittagsmahl entschädigte uns für alle Strapazen. Die Unter¬ 
suchungen auf der Rockall-Bank wurden als Station Nr. 2 bezeichnet. 

Da das Wetter andauernd schlecht und stürmisch blieb, war 
hier an weitere Arbeiten nicht zu denken, und so setzten wir den 
Kurs westlich. Der nächste Tag, der 9. Juli, fand uns auf 56° 
41' n. B. und 17 0 8' w. L. Zur Feier des Geburtstages unseres Groß- 

Verhandlungen 26. Bd 3 



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Dr. M. Auerbach 


herzogs wusch ich mich morgens mit Süßwasser und rasierte mich; 
das Schiff hatte Flaggenschmuck angelegt. Im übrigen hatten wir 
unser gewöhnliches Wetter, Regen und Sturm, so daß wir nur 
mit doppelt gerefftem Großsegel und einfach gereffter Fock und 
Besan fahren konnten. In ähnlicher Weise ging es in den folgenden 
Tagen weiter. Das ungünstige Wetter konnte uns allerdings am 
Arbeiten nicht abhalten; am 9. Juli hatten wir Station 3, am 10. 
Juli Station 4, die uns die ersten echten pelagischen Fische lieferten, 
am 11. Juli Station 4a und vom 12. auf den 13. sollte bei Station 5 
(ca. 55 0 38' n. B. und 22 0 w. L.) ein ganz großer zoologischer Fang 
ausgeführt werden. Eine Lotung mit dem »Lukas« ergab 2807 m 
Tiefe und es wurden nun ausgesetzt: mit 3500 m Leine ein 
Tobisvad; mit 2000 m Leine ein Planktonnetz von 1 m Durch¬ 
messer, mit 1500 m Leine ein Tobisvad, mit 1000 m Leine wieder 
ein Planktonnetz, mit 600 m Leine ein Tobisvad, mit 300 m Leine 
und an der Oberfläche noch je ein Planktonnetz. Alle freuten 
wir uns auf das Heraufkommen des interessanten Fanges, aber 
Wilh. Busch sagt ja schon: »Dieses Mal, wie überhaupt, kommt 
es anders als man glaubt.« Wir saßen im Salon beim Grog und 
legten Patience. Heiland ging einige Minuten an Deck, um 
nachzusehen, ob mit den Netzen alles in Ordnung wäre; da kommt 
er aber auch schon ganz still wieder herunter und verkündet, 
daß beim Auslassen der letzten 20 m Stahltrosse der Wirbel, 
welcher die außenbords befindlichen 3500 m Trosse mit den letzten 
1500 m auf der Trommel der großen Winde verband, gebrochen 
ist, und damit diese 3500 m Stahltrosse mit allen Netzen in die 
Tiefe gesunken und auf immer verloren sind. Das war ein harter 
Schlag für uns. Abgesehen von dem finanziellen Verlust, der 
immerhin einige tausend Kronen ausmachte, hatten wir damit die 
Möglichkeit verloren, in sehr großen Tiefen zu fischen. Es blieben 
uns nur noch 1500 ni Leine, die Fischzüge bis zu 12 oder 1300 m 
gestatten würde. Die Ursache des Bruches muß in einem Fehler 
des Wirbels gelegen haben, denn die liefernde Firma hatte für 
eine viel größere Zugfestigkeit garantiert, als durch den Zug der 
Netze verursacht worden war. L T nd bei allem hatten wir doch 
noch Glück im Unglück! Die Trosse brach unter Wasser, im 
Augenblick als Heiland an Deck stand; wäre der Bruch an Deck 
erfolgt, so würde er jedenfalls durch das zurückschnellende lose 
Ende totgeschlagen worden sein oder hätte doch wenigstens einige 



Bericht über die Expedition des ^Armauer Hansen« 


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Knochenbrüche davongetragen. Traurig und niedergeschlagen 
gingen wir an jenem Abend zu Bette; aber unsere Devise war: 
>Ja nicht unterkriegen lassen«, und ihr treu hielten wir am nächsten 
Morgen Kriegsrat, was jetzt weiter zu tun wäre. Wir hatten zu 
unseren Fängen noch 1500 m Trosse, das große Trawl, 2 Tobisvad 
und eine große Zahl Planktonnetze; mit diesem Material konnten 
wir Weiterarbeiten und auch alle pelagischen Oberflächen- und 
Tiefseefische erbeuten, da vom Boden bis ca, 600 m von der 
Oberfläche die Fauna ziemlich gleichartig ist; nur die eigentlichen 
Grundfische waren für uns nun nicht mehr erreichbar, aber diesen 
Verlust konnten wir' verschmerzen, da die Boden-Fisch-Fauna nur 
eine recht spärliche ist. Jedenfalls können wir auch mit unseren 
Fangresultaten nach dem großen Unglück recht zufrieden sein. 
Die Netzanordnung wurde in Zukunft so getroffen, daß wir in 
1300 m ein Tobisvad, in 1000, 600, 150 und 10 m je ein Plankton¬ 
netz hatten. Das Aussetzen der Netze dauerte etwa 2 Stunden; 
ebensoviel Zeit erforderte das Einholen; die Dauer des Schleppens 
schwankte, meist betrug sie 6—8 Stunden; es wurden Tages¬ 
und Nachtfänge unternommen. 

Noch ein Umstand machte sich durch den Verlust der Stahl¬ 
trosse bemerkbar, der unter Umständen hätte ungemütlich werden 
können. Unsere Kompasse zeigten nicht mehr richtig. Sie waren 
korrigiert worden, als alle Trosse an Bord war, und nun wurden 
sie durch die Abwesenheit so großer Eisenmassen etwas toll; aber 
dank der Geschicklichkeit von Kapitän und Steuermann erwuchs 
uns auch hieraus keine Gefahr, und wir sind später ganz genau 
wieder an unseren Ausgangspunkt, St. Kilda, zurückgekommen, 
trotzdem wir während 8 Tagen keine astronomischen Beobachtungen 
machen konnten. 

So waren wir denn stets unter Segel bei meist schlechtem 
Wetter immer weiter nach Westen gekommen, so viel wie mög¬ 
lich arbeitend und die Fänge konservierend; am 20. Juli hatten 
wir einen schönen Tag mit Sonne, die uns eine Ortsbestimmung 
gestattete, unsere Position war 31 0 7' w. L., 5,5 0 51' n. B.; wir waren 
also schon weiter als ursprünglich bestimmt war; was sollten wir 
nun tun? Mit Motor und Segel hätten wir in 3 Tagen bequem 
Grönland erreichen können, und wir behandelten allen Ernstes 
die Frage, ob wir hinfahren sollten. Zuletzt siegte aber doch die 
Überlegung, daß wir wissenschaftlich davon nichts profitieren 



36 


Dr. M. Auerbach 


könnten, denn zum intensiven Untersuchen der Meeresabschnitte 
bis nach Grönland hätten wir doch nicht Zeit gehabt. Darum 
beschlossen wir, umzukehren und den Kurs von nun an mehr 
nordöstlich zu halten. Bestimmend bei diesem Entschlüsse waren 
auch die Ernährungsverhältnisse an Bord. Bei dem mit geradezu 
raffinierter Bosheit stets herrschenden schlechten Wetter hatten 
unsere Seeleute einen sehr schweren Dienst, und Harald und 
Wilhelm sollten dabei abwechselnd auch noch 3mal am Tage 
kochen; daß dabei keine großen Festmahle zustande kamen, ist 
klar, und nach und nach wurde uns die Kost etwas einförmig. 
Da faßten wir denn einen großen Entschluß. Heliand und ich 
übernahmen, teilweise wenigstens, die Küche. Ich glaube, daß 
alle hierdurch gewannen. Heiland war geradezu ein Künstler; 
aus nichts machte er die schönsten Gerichte; so fabrizierte er 
eines Abends Eierkuchen ohne Eier nur aus Mehl, Wasser, Milch 
und Zucker, und niemand würde gemerkt haben, daß der Haupt¬ 
bestandteil fehlte! Meine Spezialität waren Pommes frites, aber 
im Verein brachten wir noch manche schöne andere Speise zustande. 

So einfach war die Kocherei allerdings nicht. Die Küche 
ist ein kleiner Raum von ca. 1,5 m Länge und 1 m Breite; gekocht 
wurde nur auf Petroleum-Primus-Brennern, die in kardanischer 
Aufhängung hingen. Ein Primus war Tag und Nacht konstant 
von einem großen Kaffeetopf besetzt, denn Kaffee wurde stets 
und zu jeder Zeit von allen, besonders aber vom Kapitän getrunken. 
So blieb noch eine Flamme frei, und auf dieser mußte sich die 
ganze Kocherei abwickeln; ich weiß noch, wie wir geschwitzt 
haben, als wir eines Abends für das ganze Schiff 30 Pfannkuchen 
backen mußten; abends um 1 l i S Uhr gings los und um 7 * 12 Uhr 
kamen wir selbst zum Essen; von 5 zu 5 Kuchen lösten wir uns 
ab, denn die Hitze und der Rauch waren ziemlich bedeutend. 
Erschwert wurde die Kocherei noch durch die starken Bewegungen 
des Schiffes bei dem fast anhaltenden Sturm. Mit den Füßen 
und dem Rücken mußte man sich irgendwo festklammern, damit 
man nicht hinausgeschleudert wurde, und mit den Händen konnte 
man rühren und schaffen, wenn man nicht gerade damit das 
Geschirr vor dem Hinunterfallen schützen mußte. Da ist mancher 
Teller und manches Glas hinübergegangen, und oft bin ich beim 
Kartoffelschälen zusammen mit dem Eimer und allen wild 
gewordenen Kartoffeln auf dem Deck herum gekugelt, natürlich 



Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen« 


37 


unter dem brüllenden Gelächter der anderen Leckermäuler, die 
wohl essen aber nicht kochen wollten. Ja, es war doch eine 
schöne Zeit! 

31 ° 7' w. L. war also unser äußerster Punkt; von hier an fuhren 
wir in nordöstlicher Richtung. Während Heiland auf dieser west¬ 
lichsten Station Nr. io ozeanographische Untersuchungen voraahm, 
hatten wir Zoologen eine interessante ornithologische Erscheinung 
zu verzeichnen. Unsere einzigen tierischen Begleiter draußen auf 
dem offenen Ozean waren bisher fast ausschließlich Sturmvögel der 
Art Fulmarusglacialts und einige große Raubmöven gewesen, deren 
genaue Artzugehörigkeit nicht festzustellen war; ich schoß zwar 
eine derselben, konnte sie aber nicht an Bord holen, da momentan 
kein Boot zu Wasser gelassen werden konnte. Hier nun, in einer 
Entfernung von mindestens 20 Längengraden vom nächsten Lande, 
umkreiste plötzlich ein Brachvogel (Numenius hudsonicus?) 
einigemale unser Schiff, um dann in südwestlicher Richtung zu 
verschwinden. Die Flügelschläge des Vogels waren regelmäßig 
und kräftig; er schien also nicht ermüdet zu sein. Jedenfalls w T ar 
das Tier mit den westlichen Winden von Amerika zu uns hinaus¬ 
gekommen. Die uns begleitenden Sturmvögel waren außerordentlich 
vertraut; wenn wir auf den Stationen arbeitend still lagen, kamen 
sie wie zahme Enten bis auf 1 m ans Schiff heran und gestatteten 
mir so, einige gute photographische Aufnahmen von ihnen zu 
machen. Ganz anders verhielten sich die gleichen Arten an der 
Küste; hier umkreisten sie wohl in raschem Fluge das Fahrzeug, 
ließen sich aber nie so nahe bei ihm auf dem Wasser nieder; sie 
hatten wohl schon schlechte Erfahrungen gemacht. 

Natürlich wurde der westlichste Punkt unserer Expedition 
auch durch ein entsprechendes Festmahl und einer Flasche 
Champagner gefeiert. Die Station 11 auf ca. 56° n. B. und 30'/ 4 ° 
w. L. am 21. Juli lieferte auch ausgezeichnete zoologische Aus¬ 
beute; wir bekamen hier eine ganze Reihe besonders schöner und 
typischer pelagischer Fische; dabei war das Wetter sehr stürmisch 
und das Bergen der Netze gestaltete sich sehr schwierig, ebenso 
die Bearbeitung der Fänge. Als wir mit ausgesetzten Netzen 
langsam fuhren, passierte uns in nicht sehr großer Entfernung 
ein großer englischer Passagierdampfer, das dritte Schiff, welches 
wir die ganze Zeit über in Sicht bekamen. Wir signalisierten 
hinüber, um zu bitten, daß er auf drahtlosem Wege unser Wohl- 



38 


Dr. M. Auerbach 


befinden nach Bergen berichten möge, aber da ja der Herr Eng¬ 
länder nichts von uns wollte, fuhr er ohne jede Antwort und ohne 
seine Flagge zu zeigen, ruhig weiter. Inzwischen nahm der Sturm 
immer mehr zu und gestaltete das Nachtessen sehr schwierig. 
Mit dem Essen war es überhaupt stets so eine Sache. Ruhig 
lag das Schiff ja nie, und wenn hoher Seegang war, wie meistens 
und z. B. auch heute, so ging keine Mahlzeit, ohne Zwischenfälle 
ab. Selbstverständlich war der Tisch stets mit Schlingervorrichtung 
versehen, aber die Bewegungen waren doch oft so stark, daß 
man kein Glas stehen lassen konnte; wir mußten stets sofort aus¬ 
trinken und das leere Glas dann hinlegen. Daß fast täglich die 
Kaffee- oder Teekanne vom Tische sprang, und die halbe Suppe 
und die Kartoffeln es sich auf unserem Schoß gemütlich machten, 
waren so gewöhnliche Erscheinungen, daß wir sie gar nicht mehr 
beachteten. Johnsen hatte es am schlimmsten; er saß in Lee 
des Tisches auf einem nicht festgeschraubten Stuhle und hatte 
nach und nach große Übung darin erlangt, sich mit den Knien 
am Tische festzuklemmen und dadurch sicher zu verankern; aber 
es ereignete sich doch häufig, daß er plötzlich verschwunden war, 
und seinen Corpus in Heilands Kabine zusammensuchen konnte; 
meist begleitete ihn dabei sein Teller, Messer und Gabel in treuer 
Anhänglichkeit. Wer den Schaden hat, braucht für Spott nicht 
zu sorgen! Aber einmal ging es selbst mir schlecht, der ich 
Johnsen gegenüber auf dem Steuerbordsopha saß. Ich wollte 
gerade Birkeland einen Aquavit einschänken, als eine plötzlich 
anlaufende hohe See zunächst Johnsen unsichtbar machte und 
zugleich mich vom Sopha unter den Tisch beförderte; geistesgegen¬ 
wärtig hielt ich wenigstens die Flasche und das gefüllte Glas in 
die Höhe, so daß diese beiden Gegenstände im Verein mit meinen 
Unterarmen und Händen das Einzige war, was meine Gegenwart 
bezeugte. Mit rührender Sorgfalt retteten Heliand und Birke¬ 
land Flasche, Glas und Inhalt; wir armen Zoologen mußten 
selbst sehen, wie wir wieder ans Tageslicht kamen. 

Geradeso schwierig wie das Essen war auch das Schlafen. 
Solange Armauer ruhig lag, ging es vorzüglich; anders wurde 
es aber im Seegang. Natürlich bauten wir uns mit Brettern jeden 
Abend eine Schutzwand, die uns vor dem Herausgeworfenwerden 
bewahrte, aber das genügte oft nicht. Meine Koje lag in der 
Längsrichtung des Schiffes, und wenn nun die See hochging, und 



Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen« 


39 


das Schiff schlingerte, so rollte ich in meinem Bett hin und her 
wie eine Zigarre in einer leeren Kiste. Wenn daher Sturm war, 
baute ich mir mit Brettern und Matratzen noch ein besonderes 
Sturmbett, das so schmal war, daß ich fest eingeklemmt war und 
nun ohne zu rollen wie in einer Wiege schlafen konnte. Birke¬ 
land und Johnsen lagen querschiffs. Sie haben sich zu Akro¬ 
baten anderer Art ausgebildet; einmal standen sie fast senkrecht 
aufrecht, dann aber fanden sie sich in der nächsten Minute in 
umgekehrter Stellung, d. h. die Füße waren oben. Die beigefügte 
Zeichnung unserer Lage bei einer Neigung des Schiffes von 50° 
zur Horizontalen wird diese Angaben am besten illustrieren. 
Trotzdem haben wir immer gut geschlafen; nur wurde ich wenig¬ 
stens einmal in der Nacht geweckt, wenn beim Wachewechsel 
Segelmanöver ausgeführt werden mußten, und 5 Menschen in 
ihren schweren Seestiefeln unmittelbar über meinem Kopfe herum¬ 
trampelten; an dieses Geräusch habe ich mich nie ganz gewöhnt; 
die anderen dagegen sind davon fast niemals aufgewacht! 

Am 22. und 23. Juli hatten wir zur Abwechslung einmal 
Nebel und damit auch eine neue schöne Musik, denn von 5 zu 
5 Minuten wurde an Deck mit Liebe und Gefühl das Nebelhorn 
geblasen. Wenn auch die Wahrscheinlichkeit, hier auf Schiffe zu 



Fig. 10. 



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Dr. M. Auerbach 


treffen, fast gleich o war, so mußte diese Vorsicht doch sein. Am 
Nachmittag des 23. auf dem 57 0 58' n. B. und 25 0 35' w. L. 
(Station 13) fiel der Barometer plötzlich sehr stark, und zugleich 
nahm der Wind zu. Birkeland, unser Meteorologe, der im Pro¬ 
phezeien von Stürmen schon einige Übung erlangt hatte, kündete 
diesmal einen Generalsturm an, und so kam es auch. Wir sind 
mit unserem Schiff an diesem Abend und in der anschließenden 
Nacht ganz gehörig umhergetanzt, aber trotzdem war es nicht 
ungemütlich. Die Bewegungen unseres braven Armauer Hansen 
waren bei allem doch so sanft, daß ein unbehagliches Gefühl gar 
nicht aufkommen konnte, und ich erst an den Generalsturm 
glaubte, als mich auch Kapitän Wilhelmsen hoch und heilig 
versicherte, daß es wirklich so wäre. Stehen, liegen und sitzen 
war schon so oft schwierig gewesen, daß es heute gar nicht be¬ 
sonders auffiel und als Heliand zum Nachtessen mit einem fa¬ 
mosen Kartoffelsalat auftauchte, war unsere einzige Sorge, uns 
dieses herrliche Fabrikat auch möglichst ohne Verlust einzuverleiben. 
Dann gingen wir ins Bett, weil wir da am ruhigsten lagen, lasen 
noch einige Stunden und schliefen endlich sanft ein, die Sorge 
um das Schiff unserer guten Mannschaft überlassend. 

In diesem starken Sturm hat sich Armauer ganz vorzüglich 
gehalten, wir sind die ganze Zeit über nur mit dem Sturmklüver 
und doppelt gerefftem Großsegel gefahren und sind nur in der 
Hundewache beigedreht, aber nicht etwa, weil Wind und See für 
unser Schiff zu schwer wurden, sondern weil Wilhelmsen ruhig 
schlafen wollte! 

Am 24. flaute der Wind langsam ab, und am 25. hatten wir 
einmal einigermaßen ordentliches Wetter; an diesem Tage befanden 
wir uns auf ca. 5S 0 40' n. B. und 20° 55' w. L. und arbeiteten 
auf Station 14. Die Ausbeute war eine sehr gute und ich zeigte 
zum erstenmal die Güte und Brauchbarkeit unseres Laboratoriums 
für feine anatomische Arbeiten (trotz Seegang), indem ich mit der 
Präparierlupe von einer größeren Anzahl gefangener Cyclothone 
microdon die Gallenblasen herauspräparierte. Der Leser dieser Zeilen 
darf sich überhaupt aus den vorliegenden Schilderungen nicht etwa 
vorstellen, daß wir uns an Bord die ganze Zeit über nur amüsiert hätten; 
das war natürlich nicht der Fall; aber ich kann ja nicht immer 
schreiben, daß wir die und diese Netze aussetzten und diese und jene 
Fische bekamen und präparierten usw., das würde nur ermüden; 



Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen« 


41 


ich greife die Erlebnisse heraus, die allgemeines Interesse haben. 
Die wissenschaftlichen Resultate werden an anderer Stelle ge¬ 
schildert. 

Der 26. Juli brachte ebenfalls einigermaßen gutes Wetter und 
am 27. mußten wir nach unser Berechnung wieder in der Nähe 
von Rockall sein; die Position war nach Schätzung 58° 28' n. B., 
14 0 20' w. L. Eine Lotung mit »Lukas« bei Aufnahme der Station 
16 gab bei 275 m Grund; damit wußten wir, daß wir uns über 
dem Rockall-Plateau befanden; den Felsen selbst aber sichteten 
wir nicht; da wir uns ihm von NW. her näherten war Vorsicht ge¬ 
boten, denn die Untiefen liegen im N. und NO., abends loteten 
wir nochmals, fanden aber bei 500 m keinen Grund und eine um 
io'/4 Uhr nachts vorgenommene Lotung ergab 1677 m. Jetzt war 
die Frage: »Sind wir westlich oder östlich auf der Bank?« Im ersten 
Falle ist die Situation etwas kritisch, weil die Untiefen noch vor 
uns liegen; im letzten Falle dagegen ist keine Gefahr; wir haben 
dann am Tage bei dem unsichtigen Wetter den Felsen schon im 
NO. passiert. Astronomische Bestimmungen waren bei dem be¬ 
wölkten Himmel unmöglich, und so mußte uns das Lot helfen. 
Bis 12 Uhr nachts nahmen wir rein östlichen Kurs; dann sollte 
gelotet werden; hatte die Tiefe gegen früher sehr stark abge¬ 
nommen, so mußten wir uns dem Felsen nähern; blieb sie jedoch 
ungefähr gleich oder nahm zu, so waren wir in der Rinne zwischen 
Rockall und England. Um Mitternacht ging also das Lot hinab; 
es ist klar, daß wir alle voll Spannung an Deck waren, 100 um 
100 m rollten ab, und erst bei 1655 m fanden wir Grund. Damit 
war unsere Position festgelegt; wir konnten ohne Gefahr den öst¬ 
lichen Kurs beibehalten. Zu unser aller Bedauern haben wir den 
Felsen selbst nicht zu Gesicht bekommen, aber es lohnte sich 
auch nicht, nach ihm zu suchen, und daher gingen wir weiter, 
um den 28. noch den Untersuchungen in der Rockall-Rinne zu 
widmen. (Stat. 17.) In der Nacht vom 28. auf den 29. sichteten wir 
den ersten Fischdampfer seit 4 Wochen und wußten damit, daß wir 
uns wieder bewohnten Gegenden näherten; am 29. wurde noch eine 
kurze ozeanographische Station (Nr. 18) genommen und darnach 
war die Devise: »Zurück nach Stornoway«. Im Laufe des Tages 
mußte Land in Sicht kommen und derjenige, der es zuerst sich¬ 
tete, sollte Stoff zu einer neuen Hose bekommen. Alles schaute 
voll Eifer aus mit Ausnahme von Wilheimsen, der schlief und 



42 


Dr. M. Auerbach 


Kaffee trank. Ganz verschlafen kam er endlich an Deck und 
erkundigte sich, wer denn nun die Hose habe. »Noch niemand« 
war die Antwort; »nun, dann habe ich sie«, meinte er verschmitzt 
lächelnd und deutete auf St. Kilda, das gerade groß und mächtig 
aus dem Nebel auftauchte. Am 5. Juli waren wir von hier aus¬ 
gegangen und am 29. Juli kamen wir ganz programmäßig genau 
an unseren Ausgangspunkt zurück! Die Navigation war also 
keine schlechte gewesen. 

Hier wurde noch eine kurze ozeanographische Station (Nr. 19) 
genommen, und dann sollte es mit allen Segeln nach Stornoway 
gehen. Aber auch jetzt kam es wieder anders, als wir glaubten. 
In dem Augenblick, als gerade auch das Topsegel geheißt war, 
flaute der Wind vollständig ab, und mit schlagenden Segeln lagen 
wir unbeweglich fest. Unsere Hilfe mußte nun allein beim Motor 
liegen, aber dessen Vorrat an Süßwasser war auf gebraucht, und 
Seewasser durfte nicht verwendet werden. Glücklicherweise waren 
wir mit unserem Trinkwasser sparsam gewesen, so daß wir von 
diesem 2 Tanke an den Motor abtreten konnten. Nachdem das 
Wasser umgefüllt war, kam denn auch die Maschine bald in 
Gang, und fort gings gen Stornoway. 

Man wird nun glauben, daß wir uns sehr nach dem Land 
gesehnt hätten, dessen Anblick wir ja 4 Wochen entbehrt hatten. 
Ich muß jedoch, für meine Person wenigstens bekennen, daß dies 
nicht der Fall war. Das einzige, was mich an Land zog, war 
das Verlangen, Nachricht von zu Hause zu erhalten, dorthin auch 
von mir zu geben, ein möglichst heißes und ausgiebiges Bad zu 
nehmen und einmal etwas anderes zu essen. Hätte ich das alles 
an Bord haben können, ich hätte das Land mit keinem Schritte 
betreten und wäre gern noch 4 Wochen lang draußen geblieben. 
Unser Steuermann als echter Seebär hat denn auch von Bergen 
bis Bergen den festen Boden nicht eine Sekunde betreten, selbst 
nicht, als er auf der Rückreise in Stornoway eine neue Mütze 
brauchte; diese ließ er sich von Harald, der den gleichen Kopf¬ 
umfang hatte, aus der Stadt mitbringen. Ich selbst bin auch nur 
2 mal zu obigen Zwecken kurz in der Stadt gewesen. 

Der nächste Tag (30. Juli) brachte uns bei gutem Wetter 
abends gegen l ! 2 8 Uhr nach Stornoway. Vorher hatten wir uns 
natürlich fein gemacht. Der Rest unseres Süßwassers machte 
die zutage liegenden Teile unserer corpora blendend weiß, der 



Bericht über die Expedition des -Armauer Hansen« 


43 


gewucherte Bart schwand unter dem Rasiermesser und unsere 
guten Anzüge machten uns zu noblen Kerlen. Beim Ankern 
wurden wir gleich von Ameln und dem wieder ganz hergestellten 
Steward begrüßt, die uns auch gleich unsere Post aushändigten 
und berichteten, was sonst in der Welt vorgefallen war. Abends 
vereinigte uns ein Festmahl im Imperial-Hotel. Der nächste Tag 
war der eigenen Reinigung und der des Schiffes und Motors 
gewidmet; alles erstrahlte wieder in Schönheit und präsentierte 
sich würdig den neugierigen Blicken der seekundigen Engländer, 
die natürlich der Fahrt unseres winzigen Schiffchens hinaus in den 
Ozean großes Interesse entgegengebracht hatten. Bezeichnend ist 
dabei, daß Ameln während der ganzen Zeit seines Aufenthaltes 
von der niederen Bevölkerung mit Mißtrauen beobachtet worden 
war; er wurde für einen deutschen Spion gehalten, und die Kinder 
riefen ihm das oft auf der Straße nach. Trotzdem aber hat er 
die Zeit seines Landaufenthaltes großartig ausgenützt und für mich 
ein prachtvolles Material von Küstenfischen (d. h. deren Gallen- und 
Harnblasen) gesammelt. 

Am i. August war Armauer wieder seeklar und nachmittags 
4 Uhr verließen wir unter dem Tücherwinken der jungen Damen, 
deren Bekanntschaft Ameln inzwischen gemacht hatte, den Hafen, 
um möglichst rasch nach Bergen zu kommen. Zu Heilands 
Entsetzen benahm sich unser Schiff wie ein alter Droschkengaul, 
der den Stall wittert. Mit Motor und Segel kämen wir rasch 
vorwärts, alles klappte immer; der Motor streikte nie und lief nie 
warm, was früher manchmal vorgekommen war. So kam es denn 
auch, daß wir unglaublich schnell die Nordsee überquerten und 
schon am 4. August morgens um 1 / z 6 Uhr in Bergen vor der 
biologischen Station Anker warfen. Niemand hatte uns erwartet, 
und so war alles sehr erstaunt, uns wieder wohlbehalten zu Hause 
zu sehen. Ich hatte die Zeit der Überfahrt benutzt, um meine 
Instrumente etc. für die Heimfahrt zu packen, und das war gut; 
denn auf dem Bureau der Dampfschiffrheederei erfuhr ich, daß 
am gleichen Abend um 6 Uhr der Postdampfer »Sverre Sigurdssön«, 
ein alter lieber Bekannter, nach Hamburg abgehen würde. Sofort 
belegte ich einen Platz; allerdings war keine Kabine mehr frei, 
und ich mußte mich mit einem Bett im Salon begnügen; aber 
was wollte das nach unserer Tour besagen! Der an sich kleine 
Dampfer erschien mir wie ein Koloß, und das Bewußtsein, für 



44 


Dr. M. Auerbach 


gar nichts mehr sorgen zu müssen und sich nur bedienen lassen 
zu können, war mir zunächst ganz befremdlich. 

Rasch waren alle notwendigen Geschäfte abgewickelt, und 
ein solennes Essen vereinigte uns alle noch einmal mittags im 
Grand-Hotel. Dann gings ans Abschiednehmen. Auf Deck des 
Dampfers schüttelten wir uns zum letzten Male die Hände und 
langsam entschwand Bergen mit all seinen lieben Freunden meinen 
Blicken. Über die Heimfahrt ist nichts mehr zu berichten; sie 
verlief ohne jeden Unfall, und Donnerstags vormittags, 7. August, 
konnte ich nach genau 3 monatlicher Abwesenheit gesund und 
munter die Meinigen wieder zu Hause begrüßen. 


Zusammenstellung 

der durch die Expedition erlangten Resultate. 

I. Zoologische Reiseausbeute. 

Ich kann hier im wesentlichen nur eine Liste der von uns 
gesammelten Fische geben, da die Verarbeitung der Wirbellosen 
ziemlich lange Zeit beanspruchen wird; von ihnen werde ich deshalb 
nur einige besonders interessante Stücke ganz kurz erwähnen. 
Auch die Zusammenstellung der Fische kann nur eine provisorische 
sein, da die Zeit zur definitiven Bearbeitung noch nicht ausreichte; 
daher kann es auch möglich sein, daß da und dort noch einige 
Änderungen vorgenommen werden müssen. Die Liste gibt nur 
eine einfache systematische Aufzählung, da die Diskussion der 
faunistischen und geographischen Fragen durch einen von uns 
jedenfalls an anderem Orte geschehen wird. Der Kenner kann 
jedoch aus meinen heutigen Angaben schon manches ersehen, das 
auf die geographische Verbreitung der pelagischen und Boden¬ 
fische ein neues Licht wirft. Besonders wird er finden, daß viele 
Arten von uns bedeutend nördlicher nachgewiesen werden konnten, 
als man bisher annahm. Besonders sei auf die Parabrotula 
plagiophthalmoidcs Zugmeier hingewiesen, die bisher nur einmal 
gefangen und nur in einem einzigen Exemplare bekannt war. 

Die Bestimmung der Fische geschah teils von mir teils von 
Johnsen schon während der Reise an Bord. Dann hat Johnsen 
das ganze Material in Bergen nochmals einer genauen Revision 
unterzogen und die Arten bestimmt, die wir an Bord nicht iden- 



Bericht über die Expedition des Armauer Hansen« 


45 


tifizieren konnten. Wenn man in Betracht zieht, daß wir im 
ganzen nur 4 Wochen arbeiten konnten, stets von schlechtem 
Wetter begleitet waren, durch Bruch der Stahltrosse und Verlust 
vieler Netze einen empfindlichen Schaden erlitten und auch in 
nur verhältnismäßig schwach bevölkerten Meeresabschnitten fischten, 
so muß man zugeben, daß unsere Ausbeute eine sehr gute zu 
nennen ist, besonders, wenn man sie mit den Ergebnissen vieler 
anderer bedeutend größerer Expeditionen vergleicht* (z. B. »Valdivia« 
von 1898—1899 in fast allen Meeren mit insgesamt 90 Gattungen 
und 206 Arten). 


a) Erbeutete Fische. 

(Die genaue Herkunft usw. wird später in einer besonderen Arbeit gegeben.) 

I. Elasmobranchii. 

Ordnung Plagiostomi. 

Unterordnung SelachiL 

a) Scyllidae: 1. Pristiurus vielanostomus Bon. 

b) Spinacidae: 1. Acanthias vulgaris Risso. 

II. Teleostomi. 

Ordnung Teleostei. 

Unterordnung Malacopterygii. 

a) Clupeidae: 1. Clupea harengus; 2. Clupea sprattus. 

b) Salmonidae: 1. Argentina silus Nilss. juv.; 2. Bathytroctes sp. 
juv.; 3. Bathylagus benedicti Goode und Bean. 

c) Stomiatidae: 1 . Slomias boa Risso; 2. Chauliodes sloanei Bloch 
und Schn.; 3. Astronestes sp. 

d) Sternoptychidae: 1. Cyclothotte sign ata Garm.; 2 .Cycl.microdon 
Günth.; 3. Cycl. m.pallida Brauer; 4 . Argyropelecus olfersi Cuv.; 
5. Arg. hemigymnus Cocco. 

Unterordnung Apodes. 

a) Muraenidae: i. Leptocephalus Anguillae vulgaris . 

b) Nemichthyidae: i. Serrivomer sector Garm. 

Unterordnung Haplomi. 

a) Scopelidae: \. Myclophum arcticum Lüth.; 2. M.glaciale Reinh.; 
3. M. punctatuvi Raf.; 4. Lantpanyctus alatum? Goode u. Bean; 
5. Lampadena nov. sp.? 

* Besonders muß noch hervorgehoben werden, .daß ein großer Teil der von uns 
gefangenen Fische sich durch die ganz vorzügliche Erhaltung auszeichnet. 



4^ 


L)r. M. Auerbach 


Unterordnung Catosteomi. 

a ) Syngnathidae: i. Nerophis aequoreus L. juv. 

Unterordnung Anacanthini. 

a) Macruridae: i. Coryphaenoides (Macrurus) sp, juv. (2 — 3 Arten). 

b) Gadidae: 1. Gadus callarias L.; 2. G. aeglefinus L.; 3. G, mer- 
langus L.; 4. G. mtnulus; 5. Älolva rnolva L.; 6. Brosmius 
b ros me Ascan. 

c) Brotulidae: 1. Parabrotula plagiophthalmoidcs Zugm. (bisher 
nur in einem einzigen Exemplar gefangen). 

Unterordnung Acanthopterygii. 

a) Berycidae: 1. Mclamphaesmizolepis Günth.; i.Af.viegalops Lüthk. 
bjSparidae: 1. Pagellus centrodontus Cuv. 

c) Scombridae: 1. Scomber scombrus . 

d) Pleuronectidae: 1. Pleuronectes platessa . 

e) Triglidae: 1. Trigla sp. 

Das sind also im ganzen 26 Gattungen mit etwa 39 verschie¬ 
denen Arten; dazu kommt dann noch eine Anzahl Fischlarven, 
die noch nicht bestimmt wurden*. 

Gesehen haben wir dann ferner noch einen Mondfisch (Ortha - 
goriscus mola L.) vor Stornoway und einen großen Hai, jedenfalls 
einen Menschenhai (Care har ins glaucus L.) an der schottischen Küste. 

b) Zusammenstellung einiger gefangener Wirbelloser. 

Wie schon erwähnt, gebe ich hier nur eine ganz kleine willkürliche Auswahl aus dem 

noch unbearbeiteten Material. 

Medusae. 

Pcriphyllia hyacinthina Steenstr. 

Actiniae. 

Arachnactis albt da M. Sars. 

Vennes. 

Verschiedene Species von Sagitta; verschiedene Nemertinen. 

Crostacea. 

Gigantocypns agassizii G. W. Müller; Phronima sp.; Eryoncicus 
Sp.y usw. usw. 

' Wenn man die erbeuteten Küstenfische nicht berücksichtigt, so bleiben uns 
ib Gattungen mit 25 Arten, die wir in Zeit eines Monats in einem verhältnismäßig 
kleinen Meeresabschnitte fingen (Vergl. damit das Material der *Yaldtvia*, gefangen 
während 9 Monaten lind in fast allen Meeren, pag. 43). 



Bericht Ober die Expedition des > Armauer Hansen - 


47 


Pteropoda. 

Clio pyramidata L.; Clione limacina Phipps. 

Cephalopoda. 

Verschiedene Gattungen und Arten. 

c) Aufführung einiger während der Fahrt beobachteter Vögel. 

Die im Folgenden gegebene kurze Liste von Vögeln, die 
unterwegs beobachtet wurden, macht durchaus keinen Anspruch 
auf Vollständigkeit. Wir sahen viel mehr Arten, als ich hier an¬ 
gebe; da wir aber wegen des schlechten Wetters fast nie Boote 
aussetzen konnten, um geschossene Exemplare an Bord zu holen, 
unterblieb die Jagd auf dieselben fast ganz, und deshalb war sehr 
oft auch eine genaue Bestimmung unmöglich. 

In der Nähe der Küsten wurden beobachtet: 

Somateria mollissima Leach.; Sula bassana Gray.; Phalacrocorax 
carbo L.; Fulmarus glacialis Steph.; Pitffinus anglorum Temm.; 
Lestris sp.; Larus argentatus Brünn.; L. marinus L.; L.fuscus L.; 
Z. ridibundus L.; Kissa tridactyla Bp.; versch. Species der Gattung 
Sterna; Frater cula arctica 111 .; Uria lonivia Brünn, und andere 
Species von Uria. 

Draußen auf dem Ozean sahen wir nur: 

Fulmarus glacialis Steph., diesen allerdings stets in großer Menge, 
in verschiedenen Altersstadien und ganz außerordentlich vertraut, 
so daß die Tiere oft bis auf i m ans Schiff herankamen und sich 
wie zahme Enten füttern ließen. Daneben beobachteten wir öfters 
einige große Raubmöven und einmal auf 31 ° 7' w. L., 55 ° 51 ' n. B. 
einen Numenius, den ich, weil wir Amerika bedeutend näher als 
Europa waren und fast immer westliche Winde herrschten, für 
N. hudsonicus halten möchte. 

Größere Meersäugetiere, d. h. Wale, sahen wir nur recht 
selten; was in unseren Gesichtskreis kam, waren nur kleinere 
Formen, und nie kamen sie so nahe heran, daß wir sie hätten 
bestimmen können. 

II. Resultate und Erfahrungen in bezug auf das Expeditionsschiff. 

Dr. J. Hjort hat in seinen Schilderungen der Expedition des 
»Michael Sars« schon hervorgehoben, daß ein kleines Schiff ver¬ 
hältnismäßig leistungsfähiger sei in bezug auf derartige wissen- 



4 8 


Dr. M. Auerbach 


schaftliche Expeditionen, als ein großes Fahrzeug, nur voraus¬ 
gesetzt, daß das Schiff auch seetüchtig ist. Nun ist »Michael 
Sars« ein ziemlich kleiner Dampfer, dem die Mängel anhaften, die 
wir bei Schilderung des Baues von »Armauer Hansen« kurz er¬ 
wähnten. Es kann also von vornherein erwartet werden, daß sich 
unsere Expedition in mancher Hinsicht noch günstiger gestaltet 
habe wie jene, und dem ist tatsächlich so. 

Als besondere Vorzüge »Armauer Hansens« möchte ich hier 
nochmals zusammenfassen: i. seine Seetüchtigkeit, 2. seine guten 
Segeleigenschaften, 3. seine Kleinheit, 4. die Anordnung seiner 
Wohn- und Arbeitsräume, 5. der Antrieb der Winden durch den 
Schiffsmotor, 6. seine Billigkeit im Betrieb. 

Über Punkt 1 und 2 ist nicht viel zu bemerken, es sind 
Eigenschaften, die man von jedem guten Seeschiff, das Segel 
führt, verlangen kann; Punkt 3 jedoch erscheint zunächst merk¬ 
würdig, trifft aber doch vollkommen zu. Wenn das Schiff so 
klein ist, daß es nur auf einer der großen Ozeanwellen sitzt, so 
wird es allerdings die Bewegungen dieser Wellen mitmachen, aber 
es wird gleich einer schwimmenden Möve stets oben auf dem 
Wasser bleiben; infolgedessen werden die Schwankungen auch 
fast immer recht sanfte und gleichmäßige sein, so daß sie nicht un¬ 
angenehm empfunden werden. Ist dagegen das Schiff größer, so 
muß es zu gleicher Zeit auf 2 oder mehr Wellen ruhen, und dar¬ 
aus entsteht dann leicht ein heftiges Stoßen und Rollen, begleitet 
von der Übernahme von Sturzseen. Uns ist während der ganzen 
Reise nicht eine einzige Sturzsee auf Deck gekommen; nur 
leichte Schaumspritzer fanden ihren Weg dorthin. Eine Folge der 
Kleinheit des Schiffes ist auch der geringe Freibord und damit 
ein geringer Windfang durch das Fahrzeug. Beides ist aber bei 
Vornahme der wissenschaftlichen Arbeiten von großem Werte. 
Das Schiff wird durch den Wind nur wenig abgetrieben und läßt 
sich infolgedessen auch sehr leicht mit dem Motor manöverieren; 
man kann wohl sagen, daß es Kapitän Wilhelmsen möglich ist 
»Armauer Hansen« für einige Zeit auch in schwerem Wetter fast 
absolut auf der Stelle zu halten; dies wird bewiesen durch die 
genau senkrechte Stellung der Lotleine auch bei Lotungen bis zu 
3000 m Tiefe; wie vorteilhaft ein geringer Freibord beim Einholen 
der Apparate ist. haben wir früher schon gesehen; das Wetter 
muß) schon sehr schlecht sein, wenn alle Arbeit ruhen soll. 



Bericht über die Expedition des -Armauer Hansen« 


49 


Punkt 4 ist ebenfalls früher schon kurz behandelt worden. 
Bei Dampfern nimmt die Maschine mit den Kessel- und Heizungs¬ 
anlagen meistens den besten Platz fort, indem dieselben oft wenig¬ 
stens mittschiffs angebracht sind. Beim Typ von »Armauer Hansen 
liegt hingegen das Laboratorium, welches am stabilsten sein 
sollte, in der Mitte, und der Schwerpunkt des ganzen Schiffes 
befindet sich in ihm; es ist daher klar, daß in diesem Raume die 
Schwankungen auch am geringsten sein müssen, und die Mög¬ 
lichkeit zum Arbeiten auch bei Seegang denkbar günstig ist. 

Punkt 5, Antrieb der Winden durch den Schiffsmotor bedarf 
kaum noch weiterer Erklärung; dadurch daß die Aufstellung einer 
extra Dampfwinde oder einer elektrisch getriebenen Winde weg¬ 
fällt, wird einmal direkt viel Raum gespart, und dann fällt auch 
der Raum für Brennmaterialien fort, die sonst noch mit an Bord 
sein müßten. Der ganze Betrieb wird auch viel sauberer, denn 
das unangenehme Kohlentrimmern fällt ganz fort; das Füllen der 
Tanke mit Rohöl erfolgt ohne jede Belästigung und ohne Schmutz. 

Von allergrößter Wichtigkeit endlich ist Punkt 6, die Billig¬ 
keit des Betriebes. Wenn man sich eine Kostenberechnung der 
früheren Expeditionen vornimmt und diese mit dem vergleicht, was 
wir brauchten, so sind unsere Ausgaben fast verschwindend klein 
zu nennen. Wenn wir das Schiff mit seiner ganzen seemännischen 
und wissenschaftlichen Ausrüstung als vorhanden annehmen, so 
werden sich die Kosten einer Expedition pro Monat auf ca. 5000 M. 
stellen, wenn man dabei folgendes berücksichtigt: 1. Gehalt der 
ganzen Besatzung; 2. Verpflegung von Mannschaft und Wissen¬ 
schaftlern; 3. Motoröl bei i2stündigem Gebrauch des Motors pro 
Tag; 4. Verzinsung des Schiffes und seiner Apparate mit 5% 
des Wertes; 5. Amortisation des angelegten Kapitals; 6. Versiche¬ 
rung des Schiffes; 7. Hafen- und Lotsengebühren, Verluste, Re¬ 
paraturen usw. usw. Zieht man in Betracht, daß alle diese Punkte 
mit obiger Summe gedeckt sind, und daß man dafür ein voll¬ 
kommen wissenschaftlich ausgerüstetes Schiff mit Mannschaft und 
voller Verpflegung zur Verfügung hat, so wird die Billigkeit der¬ 
artiger Expeditionen im Vergleich zu früheren Zeiten einleuchten. 

Als Beweis für die Güte unseres Schiffes und die Zweck¬ 
mäßigkeit seiner Einrichtungen mag vielleicht auch noch die Tat¬ 
sache dienen, daß meines Wissens unsere Expedition, obgleich 
eine der kleinsten, doch von allen mit am längsten ununterbrochen 

Verhandlungen 26. Bd. 4 



50 


Dr. M. Auerbach 


draußen auf dem Meere war, ohne Land anzulaufen (von Storno- 
way bis Stomoway gerechnet), und daß wir ganz bequem auch 
noch 2—3 Wochen hätten draußen bleiben können. Mit einem 
großen Schiffe ist das natürlich keine Leistung; mit einem kleinen 
Fahrzeug von 59 brutto Reg.-Tons ist das aber nur möglich, 
wenn die ganze Anlage und Ausrüstung wohl durchdacht ist. 

Diese angestellten Betrachtungen sind nun vielleicht auch 
geeignet, noch eine praktische Seite zu berühren, die u. U. von 
Wichtigkeit sein könnte, nämlich in bezug auf den Bau von Hoch¬ 
seefischereifahrzeugen. Bisher wird die Hochseefischerei zum 
großen Teile von Dampfern betrieben, die in ihrem Typ und in 
ihrer Größe etwa dem »Michael Sars« entsprechen. Wir haben 
nun gezeigt, daß ein Fahrzeug wie »Armauer Hansen« fast genau 
so gut wie ein Dampfer mit dem gleichen Erfolg all die Fischerei¬ 
geräte anwenden kann, wie sie auch auf den Fischdampfern ge¬ 
bräuchlich sind. Läßt man nun auf Armauer Hansen das Labo¬ 
ratorium, den Salon und den Vorraum zum Laboratorium nicht 
ausbauen, so hat man hier einen sehr großen Raum zum Unter¬ 
bringen des Fanges in Eis. Das Fahrzeug ist seetüchtiger wie 
die Fischdampfer, ist in seiner Anschaffung und im Betrieb viel 
billiger und hat einen größeren Aktionsradius, alles Vorteile, die 
die geringere Geschwindigkeit (7—8 Seemeilen pro Stunde) wohl 
aufwiegen. Jedenfalls ist eine solche Frage wohl der Erwägung wert. 

III. Persönliche Vorteile. 

Über dieses Thema läßt sich hier natürlich nur sehr wenig 
sagen, da die Vorteile, die jeder Naturforscher von derartigen 
Reisen sowohl in wissenschaftlicher wie auch rein menschlicher 
Beziehung haben wird, so unendlich mannigfaltig sind, daß man 
sie gar nicht alle aufzählen kann. Ich füge zur Bekräftigung des 
Gesagten vielleicht am besten das an, was Charles Darwin am 
Ende seiner: »Reise eines Naturforschers um die Welt« in bezug 
auf unser Thema sagt: 

»Zum Schluß scheint mir es, als wenn nichts einen jungen 
Naturforscher mehr fördern könne, als eine Reise in ferne Länder. 
Sie schärft sowohl als mildert jenes Drängen und Verlangen, 
welches, wie Sir J. Ilerschel bemerkt, ein Mensch empfindet, 
wenn auch jeder körperliche Sinn vollständig befriedigt ist. Die 



Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen 


5 1 

Anregung durch die Neuheit der Gegenstände und die Möglich¬ 
keit eines Erfolges reizen ihn zu einer vermehrten Tätigkeit an. Da 
überdies die bloße Anzahl isolierter Tatsachen bald uninteressant 
wird, so führt die Gewohnheit der Vergleichung zur Verall¬ 
gemeinerung .« und weiter: »Ich habe aber die Reise mit 

zu tief empfundenem Entzücken gemacht, als daß ich nicht jedem 
Naturforscher empfehlen könnte (obschon er nicht erwarten darf, 
so glücklich mit seinen Reisegenossen zu sein, wie ich es ge¬ 
wesen bin), unter allen Umständen die Gelegenheit zu ergreifen 
und aufzubrechen, wenn möglich zu Landreisen, und ist es nicht 
anders möglich, zu einer langen Seefahrt.« 

Die Richtigkeit dieser Sätze habe ich Punkt für Punkt an 
mir selber empfunden. Die Arbeit daheim im Laboratorium erhält 
erst ihren richtigen Wert durch die eigenen Beobachtungen 
draußen in der Natur; es drängen sich einem Probleme auf, auf 
die man zu Hause niemals gekommen wäre. 

Von welchem Werte ist allein schon die Kenntnis der ver¬ 
schiedenen Apparate und Instrumente, mit deren Hilfe unser 
Arbeitsmaterial gesammelt wird, und welche Vorteile liegen schon 
darin, diese Apparate nun auch selbständig richtig handhaben zu 
lernen! Die Tatsache, wie hier Wissenschaft und reine Praxis 
sich die Hand reichen, muß einen mit der höchsten Bewunderung 
erfüllen und einem zeigen, wie auch hier kein Stand ohne den 
anderen auskommt. 

Dadurch ferner, daß man bei einer solchen Expedition auch 
Kollegen ganz anderer Fächer mit der Tat aushilft, erhält man 
tiefe Einblicke in ganz andere Wissensgebiete. Der Horizont 
weitet sich, und man wird davor bewahrt, einseitig in einem 
Spezialgebiete zu verknöchern. 

Die rein menschlichen und persönlichen Gewinne auf einer 
solchen Reise können und sollen hier nicht erörtert werden; sicher 
aber sind sie nicht gering anzuschlagen. 

Und so bin ich denn am Ende meines kurzen Berichtes 
angelangt. Ich kann denselben nicht besser schließen, als daß 
ich allen denen, die mir die Teilnahme an der Expedition ermög¬ 
lichten, nochmals aufs herzlichste danke. Unserem wackeren 
»Armauer Hansen €, seiner Besatzung und seinen Wissenschaftlern 
wünsche ich für die Zukunft stets eine gute Fahrt und ebenso schöne 
oder noch bessere Erfolge, als wir sie auf der ersten Reise hatten. 

4 * 





52 


Dr. M: Auerbach 


Einige Bemerkungen über die Herstellung photo¬ 
graphischer Aufnahmen auf derartigen Expeditionen. 

Im folgenden will ich noch ganz kurz einige Erfahrungen 
mitteilen, die ich in bezug auf photographische Fragen unterwegs 
machen konnte. Dieselben sind natürlich rein persönliche Ein¬ 
drücke und bezwecken nur, Kollegen, die in ähnliche Verhältnisse 
kommen können, einige Winke zu geben. 

Für weniger wertvolle Aufnahmen, d. h. also für rein unter¬ 
haltendes Material hatte ich meine kleine Taschenkamera aus 
Metall im Format 4V2 X 6 mitgenommen. Das Objektiv war 
ein gewöhnliches Detektiv-Aplanat F : 6,8. Zu den Aufnahmen 
verwandte ich Packfilm von Herzog. Apparat und Film haben 
mich nie im Stich gelassen; ich bin mit beiden sehr zufrieden 
gewesen; die Film wurden erst zu Hause entwickelt; sie haben 
durch das lange Liegen in der feuchten Luft nicht gelitten. 

Zu den wertvollen Aufnahmen verwandte ich meine große 
Voigtländer Spiegelreflexkamera 9X12 mit dem Collinear 2 
(F : 5,4). Auch diese Kamera hat sich vorzüglich bewährt, jedoch 
muß ich raten, wenn möglich ganz aus Metall gebaute Modelle 
zu verwenden, denn meine noch aus Holz hergestellte Kamera 
ist im Laufe der Zeit etwas gequollen, so daß häufig kleine Nach¬ 
hilfe am Spiegel und am Verschluß notwendig war. Im übrigen 
aber hat eine Spiegelreflexkamera gerade an Bord, wo deren 
Größe nicht hindert, so viele Vorteile, daß nicht weiter darüber 
geredet zu werden braucht. 

Endlich verwandten wir auch noch eine Einloch-Kino- 
Kamera von Frnemann in Dresden, mit deren Resultaten wir 
auch sehr zufrieden waren. Allerdings hatten wir dadurch viele 
Schwierigkeiten, daß das Stativ bei dem hohen Seegang fest¬ 
gehalten oder festgebunden werden mußte, und daß oft ein 
regelmäßiges Drehen der Kurbel dadurch unmöglich wurde, 
daß man seinen eigenen Körper vor dem Überbordgehen schüt¬ 
zen mußte. 

Als ganz vorzügliches Hilfsmittel erwies sich das Aktino- 
photometcr von Heide. Nachdem ich mich mit demselben ein¬ 
gearbeitet hatte, ist mir keine einzige Aufnahme mißlungen; da¬ 
bei nimmt die Bestimmung der Expositionsdauer nur wenig Zeit 
in Anspruch. 



Bericht über die Expedition des Armauer Hansen« 


53 


Es muß von Wichtigkeit sein, die gemachten Aufnahmen 
womöglich gleich an Bord entwickeln zu können, denn nur da¬ 
durch bewahrt man sich vor Enttäuschungen und ist in der Lage, 
eine etwa mißglückte wertvolle Aufnahme nochmals zu machen. 
Nun ist auf einem kleinen Schiffe der Einbau einer Dunkelkammer 
fast unmöglich, und das Hantieren in einer solchen bei Seegang 
ist fast nicht durchzuführen. Da hat mir denn meine Fokodose 
die ausgezeichnetsten Dienste geleistet; ohne dieselbe wäre ein 
sofortiges Entwickeln der Platten überhaupt nicht angegangen. 
Das Fixieren der Platten habe ich in einer ähnlichen Dose aus 
Glas vorgenommen; dadurch wurde immer ein sauberes und 
sicheres Arbeiten ermöglicht und ich möchte daher auf Expedi¬ 
tionen diese Dose nicht missen. 

Man weiß aus meinen früheren Schilderungen, daß wir mit 
dem Süßwasser sehr sparsam umgehen mußten, deshalb war auch 
an ein Auswässern der Negative in ihm nicht zu denken. Sü߬ 
wasser wurde nur zum Anmachen des Entwicklers und Fixier¬ 
bades verwandt. Das Auswaschen geschah in reinem, öfters ge¬ 
wechseltem Seewasser und nur zum Schluß wurde mit Süßwasser 
nachgespült. Zu Hause habe ich dann die Negative nochmals gut 
mit fließendem Süßwasser ausgelaugt und kann nun die Platten 
von anderen regulär behandelten nicht mehr unterscheiden. 
Gelegentlich habe ich sogar den Entwickler mit Seewasser ange¬ 
setzt und auch gute Bilder bekommen; die Negative sehen etwas 
sonderbar aus, jedoch sind die Kopien tadellos. 

Das Einlegen der Platten in die Kasetten und in die Foko¬ 
dose geschah in einem von mir selbst konstruierten einfachen 
Wechselsack aus doppeltem schwerem Stoff, der sich schon auf 
früheren Seereisen glänzend bewährt hat. 









Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe 
auf Grundlage langjähriger Beobachtungen. 

von Dr. Friedrich Gautier. 


Einleitung. 

Von den langjährigen Temperaturbeobachtungen der Station 
Karlsruhe ist bis jetzt nur ein geringer Bruchteil der Bear¬ 
beitung zugänglich gewesen, nämlich ausschließlich das seit Be¬ 
stehen eines amtlichen badischen Beobachtungsnetzes 1 gewonnene 
Material; und selbst dieses wurde meist nur in beschränktem 
Maße benützt, da die ersten Aufzeichnungen nicht mit derselben 
Sorgfalt vorgenommen worden waren, wie die neueren. Zu einer 
Verwertung des älteren Materials, das in feist ununterbrochener 
Folge bis ins vorletzte Jahrhundert zurück vorhanden, ist es wohl 
in früherer Zeit gelegentlich gekommen; die diesbezüglichen 
Schriften von Wucherer, Eisenlohr 2 u. a., die das Klima von 
Karlsruhe zum Gegenstand haben, besitzen aber heutzutage nur 
mehr historischen Wert. Der Verfasser hat es nun unternommen, 
diese Aufzeichnungen zu sammeln, auf ihre Brauchbarkeit zu 
prüfen und einen größeren Teil derselben durch Umformung in 
vergleichbare Werte zu verwandeln. Bei dieser Gelegenheit hat 
er versucht, aus der Fülle des neu gewonnenen Materials weitere 
Ergebnisse in klimatologischer Beziehung zu erhalten. Für die weit¬ 
gehende Förderung in meiner Arbeit, die mir von Seiten des 
Leiters des hiesigen Zentralbureaus, Herrn Professor Dr. Ch. 
Schultheiß zuteil geworden ist, möchte ich hier meine Erkennt¬ 
lichkeit ausdrücken, ferner auch Herrn Professor Dr. Brodmann, 

1 Seit dem Jahre 1868. 

2 Ein Verzeichnis dieser älteren Literatur findet sich im XIV. Jahresbericht der 
Großherzoglich Badischen meteorologischen Centralstation Karlsruhe für das Jahr 1882. 



Dr. Friedrich Gautier 


5 6 

dem Direktor der Bibliothek des Polytechnikums, dessen Freund¬ 
lichkeit mir die Auffindung und Benützung alten handschriftlichen 
Materials sehr erleichtert hat, an dieser Stelle für seine Mühe¬ 
waltung danken. 

Nach einer eingehenderen Übersicht über die der Gegenwart 
überlieferten Aufzeichnungen soll in einem zweiten Abschnitte 
die Art und Weise der Rekonstruktion von Mittelwerten aus 
älteren Beobachtungen behandelt werden; diese korrigierten Werte 
sind dann in Tabellen der Arbeit beigefügt. Einige weitere Ka¬ 
pitel werden die Ergebnisse enthalten, welche sich in klimato- 
logischer Hinsicht boten: einzelne Schlußfolgerungen in bezug 
auf den Gang der Wärmeschwankungen im Zeitraum eines Jahres 
wie im Verlauf längerer Perioden (Klimaschwankungen) und hin¬ 
sichtlich der Darstellung monatlicher und jährlicher Extremwerte. 

Das Beobachtungsmaterial. 

Die in neuerer Zeit in Karlsruhe angestellten Beobachtungen 
sind bereits in mehreren Werken — ich erwähne nur die von 
Singer 1 , Schultheiß 1 — in bezug auf ihre Exaktheit und Gleich¬ 
artigkeit untersucht w’orden; es genügt deshalb, die zusammen¬ 
fassenden Bemerkungen der genannten Autoren, die bezüglich 
der Page der Station und der Beurteilung des Materials von 
Wichtigkeit sind, hier kurz anzuführen. Die erste Aufstellung 
befand sich nach Weber 2 »in dem Westflügel der polytechnischen 
Schule, an der ostnordöstlichen Grenze der Stadt, nur 78 m von 
dem Saume des ausgedehnten Waldes entfernt, der Karlsruhe 
auf der nördlichen Seite begrenzt. Das Barometer steht in einem 
Zimmer der ersten Halbetage, das Psychrometergehäuse befindet 
sich vor einem Fenster desselben Zimmers in reiner Nordlage 
6 m über dem mit Gras bewachsenen und mit Bäumen bepflanzten 
B«>den». :1 Singer 1 erwähnt die Verlegung der Station vom 
= ■> Juli 1882 mit der Bemerkung, daß jetzt die Lage »zu wenig 
frei sei. Schultheiß setzt die Beschreibung folgendermaßer fort: 

1 Singer, K., Temperaturmittel für Süddeutschland. Dissert. München. 1889. 
S. 53. Schultheiß, Ch., Die Temperaturverhältnissc im Großherzogtum Baden. Karls¬ 
ruhe, i<)oS. 

- Dr. F. Weber im I. Jahresbericht für das meteorologische Jahr 1869. S. 270. 

1 Benützt wurden bis auf Fünftelgrade geteilte Geißler’sche Normalthermometer, 
dir gegen Strahlung durch ein luftiges Blechgehäuse geschützt waren. 



Die Temperaturveihiiltnisse von Karlsruhe 


57 


Bis zum März 1895 war das Gehäuse vor einem Nordfenster des 
nördlichen Seitenflüges des Gebäudes der technischen Hochschule 
untergebracht. Durch zwei in etwa 1 m Entfernung seitwärts 
angebrachte Holzwände sollte es vor Bestrahlung geschützt werden. 
Seit dem Jahr 1895 sind die Thermometer im Hauptbau und 
zwar bis zum Dezember 1898 8,3 m, von da an 12,1 m über dem 
Boden angebracht; seit 1896 werden die Morgentemperaturen auf 
einer von der Sonne nicht beschienenen Seite ermittelt. . . «* 

Vor Gründung eines staatlichen badischen Beobachtungsnetzes 
im Jahre 1868 sind meteorologische Beobachtungen von Seiten 
des physikalischen Instituts unter Leitung von W. Eisenlohr 
längere Jahre hindurch im damaligen Lyzeumgebäude, wo heut¬ 
zutage die Zentralanstalt für Meteorologie und Hydrographie 
untergebracht ist, vorgenommen worden; als jenes mit Oktober 
1865 in den Ostflügel des Polytechnikums verlegt ward, wurden 
die Beobachtungen dort weitergeführt. Die Ablesungen geschahen die 
ganze Zeit hindurch vom gleichen Beobachter, bzw. einem gelegent¬ 
lichen Stellvertreter desselben, dem Institutsmechaniker Heckmann, 
der sie in zuverlässiger Weise besorgte, und enthalten keine 
Lücken; es waren Doppelbeobachtungen 2 , auf der Hofseite des 
Gebäudes in etwa 6 m Höhe über dem Pflaster vor einem 
Korridorfenster, wo sich noch heute eine kleine Kontrollstation 
befindet, und der entgegengesetzten Straßenseite gen Süden zu, 
Die Lage der Station in einem verhältnismäßig engen Hofe, um¬ 
geben von massigen Bauwerken, deren Steinquader die sommer¬ 
liche Strahlung und winterliche Ausstrahlung noch verspätet 
Wiedergaben, gegenüber der hohen Wand der evangelischen 
Kirche, war bei weitem nicht frei genug; zudem war seit Jahr¬ 
zehnten die Bebauung nach der Peripherie der Stadt zu soweit 
vorgeschritten, daß die Beobachtungsstelle sogenannte »Stadt¬ 
temperaturen« liefern mußte. Nach Verlegung der Station in 
das Hochschulgebäude, das damals noch sehr frei stand, w r aren 
die Bedingungen für die Beobachtungen fast ebenso günstige wie 
nach Gründung der staatlichen Karlsruher Station; auch jetzt 
fanden Doppelregistraturen statt, doch figurieren dieselben nur 
mehr unter den Rubriken: »Nord- und Südseite ; tatsächliche Be- 

1 Schultheiß, Die Temperaturverhältnisse im Großherzogtum Baden, Karls¬ 
ruhe 1908. S. 31 ff. 

■ Zeitweise wurden auf der Hofseite an zwei Instrumenten Ablesungen vorgenommen. 



Dr. Friedrich Gautier 


5& 

obachtungen sind jedenfalls nur an einer der Stellen vorgenommen 
worden, da der Unterschied der beiden Ablesungen konstant i° 
beträgt und als Durchschnittswert stets das arithmetische Mittel 
angenommen wurde. Die betreffenden Zahlenwerte von der 
Station im Lyzeum, wo das doppelte Journal durchaus nicht 
immer ausgefüllt wurde, differieren um Beträge zwischen 
o und 1 1 I 2 ° R. Die Ergebnisse der Beobachtungen dieser Reihe 
sind nur in einzelnen, losen, gedruckten Blättern veröffentlicht; 
ihr Verfasser ist Forstrat Dr. Klauprecht aus Karlsruhe, ein auch 
auf forstlich-meteorologischem Gebiete bekannter Autor, der un¬ 
mittelbar nach Gründung der Zentralstation (1869) die älteren Auf¬ 
zeichnungen mit Parallelbeobachtungen im botanischen Garten 
verglichen hat 1 — leider waren die Unterlagen dieser Arbeit nicht 
mehr aufzufinden; wie auch von diesen Blättern selbst nur noch 
ganz wenige Exemplare existieren 2 . Die von ihm berechneten 
Mittelwerte sind bedeutend zu hoch angesetzt; auch hat der Ver¬ 
fasser, der mit dem Leiter der meteorologischen Beobachtungen 
persönlich schlecht stand, diese nur zu einem Teile übernommen 
(von 1857 ab). Die älteren Beobachtungen, die vielfach auf 
Registrierungen im botanischen Garten gegründet sind, differieren, 
wie Zusammenstellungen mit Vergleichsstationen ergaben, sehr 
unterschiedlich mit den geprüften Werten jener Reihe. 

Für die ersten Jahrgänge aus dem sechsten Jahrzehnt des 
vergangenen Jahrhunderts fanden sich keine Aufzeichnungen im 
Besitz des Institutes, dagegen sind für die vierziger Jahre wieder 
ausführliche Journale vorhanden, die von dem damaligen Lehrer 
für Mathematik und Naturwissenschaften am Lyzeum, Professor 
Stieffel, einem sehr gewissenhaften Beobachter, persönlich geführt 
worden. Dieselben schließen mit dem Jahre 1849 ab. Die Be¬ 
obachtungsstelle, zu dieser Zeit noch recht frei gelegen, befand 
sich an einem Hause der Spitalstraße, etwa 4 1 / 2 m über dem 
Straßenniveau. Der Verfasser fand eine Fortsetzung dieser Be¬ 
obachtungen in Bulletins der vom nämlichen Autor geleiteten 
Monatsschrift »Zeus«, außerdem in täglichen Berichten der Karls¬ 
ruher Zeitung sowie in kleinen graphischen Darstellungen, die der 
Autor wohl später gelegentlich herauszugeben beabsichtigt hatte, 

1 Siche VIII. Jahresbericht der Grofiherzoglich Badischen meteorologischen Central- 
station Karlsruhe 1877. S. 73 Anmerkung. 

- Im Besitze des Instituts. 



Die Tempemturverhältnisse von Karlsruhe 


59 


woran ihn jedoch sein früher Tod hinderte. Am ausführlichsten 
sind die ununterbrochen bis zum August 1851 fortlaufenden 
Zeitungsberichte; sie geben die Beobachtungen von 7h hm , 2 h p., 9 h p., 
tägliches Maximum und Minimum wieder. Die in recht kleinem 
Maßstab gehaltenen Monatsblätter der erwähnten graphischen 
Darstellungen sind im Formate von Sektoren einer Kreisfläche 
angelegt, und zwar so, daß je 12 derselben, ein Jahrgang, zu 
einer runden Tafel zusammengestellt werden können. Diesen Re¬ 
gistrierungen, die nur Maxima, Minima und Tagesmittel enthalten, 
wurden die späteren Werte (8. 1851—7. 1852) entnommen, vielfach 
kontrolliert durch die im »Zeus« überlieferten Monatsberichte. In 
jener Zeitschrift wird auch häufig auf solche Darstellungen ver¬ 
wiesen und es ist darum nicht ohne Interesse zu wissen, welchem 
Zwecke diese so sorgfältig, gar nicht unkünstlerisch ausgeführten 
Zeichnungen gedient haben. 1 Hat doch selbst der Nichtfachmann 
seine Freude an diesen Blättern, die mit ein paar Blicken den 
Witterungsverlauf längerer Zeiträume übersehen lassen, wenn er 
auch nicht alle die Details, die Stieffel noch anzubringen für nötig 
fand, beachten wird. Dieselben bildeten das grundlegende Ma¬ 
terial für ausführliche Wetterprognosen, die der Verfasser anfangs 
mit großem Vertrauen auf seine reichhaltige Sammlung von Be¬ 
obachtungen und Erfahrungen im »Zeus« veröffentlichte. Sie 
stützten sich hauptsächlich auf die an und für sich nicht unrichtige 
Wahrnehmung, daß der Witterungsverlauf gewisser Jahreszeiten 
sich gelegentlich wiederholt, bzw. einen ähnlichen Charakter zeigt 
— Beispiel: Kälterückfälle des Mai und Juni, Altweibersommer 
September/Oktober —, und da der Gelehrte in langwieriger, 
peinlicher Arbeit durch Aufzeichnung der täglichen und jähr¬ 
lichen Schwankungen der Temperatur, des Drucks, der Bewöl¬ 
kung und andere »Meteore« ein sehr reichhaltiges Material 
zusammengestellt hatte, so glaubte er, mit Hilfe desselben weit¬ 
gehende Prognosen (über einen Monat) geben zu können. An¬ 
fänglich hatte er auch einigen Erfolg, aber bald enttäuschten die 
sich mehrenden Fehlschläge sowie die umständliche und vielfach 
recht schwer verständliche Formulierung der Prognosen die An¬ 
hänger seiner Theorie. Die Zeitschrift verlor ihre Abonnenten 

1 Näheres in Treutlein, P., Der Karlsruher Meteorolog Ph. Fr. Stieffel, 
( 1 797 —1852)«. Vorträge, gehalten im Naturwissenschaftlichen Verein zu Karlsruhe, 
Karlsruhe 1892, S. 52 ff. 



6o 


Dr. Friedrich Gautier 


und die letzten Jahre seines Lebens wurden dem Autor durch 
mancherlei Schwierigkeiten, darunter auch solche finanzieller Art, 
und die mißgünstige Aufnahme, die sein immerhin ein wenig 
kühnes Unternehmen in einigen Kreisen fand, leider recht ver¬ 
bittert. 

In denselben Jahren, in denen Professor Stieffel beobachtete, 
bestand bereits in dem frei am Rand des ausgedehnten Hardt¬ 
waldes gelegenen botanischen Garten eine kleine Parallelstation 
(Wetterwarte). Ihre im Original nicht mehr vorhandenen Auf¬ 
zeichnungen waren privatim von der Hofgärtnerei veranstaltet 
und durch einen Gartenaufseher vorgenommen worden. Auszüge 
davon sind regelmäßig im Karlsruher Tageblatt veröffentlicht 
worden; der Verfasser hat dieselben für die in Frage kommende 
Zeit, das erste Lustrum der 50er Jahre und einige Abschnitte aus 
den folgenden Jahrgängen, gesammelt und mit den Parallelbeob¬ 
achtungen Heckmanns und Stieffels verglichen. Leider wurden 
solche Zusammenstellungen durch einige Mängel erschwert. Ein¬ 
mal war die Beobachtungszeit, 6 h a., 12 h p. und 6 h p., eine wenig 
günstige; andererseits auch die Aufstellung des Instruments eine 
schlechte. Dasselbe befand sich in 1 'j 2 m Höhe über einem 
Rasenbeet und war gegen Strahlung nur höchst ungenügend 
durch einen kleinen schachtelartigen Bretterschirm gedeckt, der 
von der Sonne selbst rach durchwärmt werden konnte und nur 
in den Morgen- und frühen Nachmittagsstunden Schutz bot. 
Wegen dieser mehrfachen nachteiligen Einflüsse wurde die Reihe 
nur für jene wenigen Jahre benützt, in denen die übrigen Beob¬ 
achtungen eine Lücke aufwiesen: Aug. 1852—Dez. 1854. 

Für die älteren Beobachtungen, die ein für speziellere Zwecke 
nicht mehr recht brauchbares Material darstellen und mehr nur 
zum Vergleich der Wärmeschwankungen über längere Zeiträume 
hin hier mitgeteilt wurden *, genügt ein kurzer Hinweis. 

Erhalten sind uns im Originale die Aufzeichnungen der Be¬ 
obachtungen der ersten drei Jahrzehnte des Jahrhunderts; von 
denen des vierten sind die Jahrgänge 1835 —1840 wie die der 
ersten fünfziger Jahre nur in täglichen Bulletins des Karlsruher 
Tugblatts vorhanden. Die Beobachtungstermine waren keine 
festen; dieselben schwankten zwischen 6 und 8a.m„ 1 und 3p.m. 

1 Siche v Tdhelh-. 



Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe 


6 I 


und 9 und 11 p.m.; doch lassen sie sich durchschnittlich etwa auf 
7, 2, io h normieren, wie eine Reihe von Proben erwies 1 . Die 
Beobachtungsstation befand sich die ersten drei Jahre in einem 
Hause des inneren Zirkel (Nr. 9) unweit der heutigen Karl Friedrich- 
Straße, von 1805 —1840 im Lyzeumgebäude in etwa 6 m Boden¬ 
höhe, durch den Bau selbst gegen Sonnenstrahlung einigermaßen 
geschützt. Anfangs war die Lage eine günstigere als später, 
nachdem die Bebauung der Umgebung fortgeschritten, und die 
noch freie Ostseite des Hofes hinter der Anstalt durch einen 
Flügelanbau abgeschlossen worden war 2 . Die Beobachtungen 
leitete bis zum Mai 1821 E. W. Böckmann, Professor am Lyzeum 
zu Karlsruhe, ein Sohn des Gründers der ersten badischen Wetter¬ 
warte (Ende der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts zu Karls¬ 
ruhe); nach seinem Tode Professor L. A. Seeber von Mai bis 
Dez. 1821 und von Dez. 1821—Nov. 1834 sein Nachfolger, Pro¬ 
fessor Wucherer 3 , der bereits in Freiburg meteorologische Beob¬ 
achtungen vorgenommen hatte. Die folgenden Jahrgänge bis 
zum Beginn der veröffentlichten Aufzeichnungen Stieffels, Jan. 
1835—Sept. 1840, die wie erwähnt nur in Zeitungsberichten uns 
erhalten sind, stammen von Seeber; die Werte für den Dez. 1834 
sind bereits Stieffels Journalen entnommen. 

Die Reduktion. 

Die Reduktion der neueren Beobachtungen seit Errichtung 
der badischen Zentralstation beruht auf Vergleichen des jährlichen 
Wärmegangs der Beobachtungsstelle mit solchen Stationen, die 
nachweislich längere Zeit keine Veränderung in der Aufstellung 
ihrer Instrumente zeigten, und wo die lokalen Faktoren, die von 
Einfluß auf den Temperaturgang, dieselben blieben. Bei einem 
Vergleiche mit einigen badischen Stationen bestätigte sich die 
Angabe Singers 4 , daß durch allmähliche Verbauung der anfänglich 

1 Beispiel: Juli 1817. Morgentermin im Durchschnitt 6 h 40a. Mittagstermin 

2 h 36p. Abendtermin io 1 * 10p. 

2 Von 1807 ab. Siehe: Festgabe zum Jubiläum der 40. jähr. Regierung Sr.Kgl. 
Hoheit des Großherzogs Friedrich von Baden,‘Karlsruhe 1892. Geschichte des phv- 
sikal. Instituts der Technischen Hochschule Karlsruhe von O. Lehmann. Seite 231. 

3 Unter Wucherer wechseln die Beobachtungstermine öfters; gelegentlich sind wie bei 
seinen Vorgängern Ausschnitte aus der Tageschronik und phänologische Notizen beigefügt. 

4 Singer, K., Temperaturmittel für Süddeutschland, München 185t). S. 54. 



62 


Dr. Friedrich Gautier 


so günstigen Lage der Station eine Zunahme der jährlichen 
Mitteltemperatur um etwa 0,3—0,5° stattgefunden habe. Es sind 
nämlich die Differenzen mit 


in Z e 




Mannheim 

i8;6-8o 1881—85 1886—90 

Buchen 

Donau- 

eschingen 1 

Basel 

nach 

Schultheiß 2 

Wint. —0.2 0 —0.2 0 —o.o° 

18 / 1 —75 +i- 9 ° 

+ 3 - 4 ° 

1886—94 I 

Früh. -o.6° -0.5 0 -0.5 0 

1876—80 +2.0° 

+ 3 - 6 ° 

4-0.5° 1 

Somm. —o.8° —o.;° —0.5 0 

1881—83 4-2.1° 

+ 37 ° 

• 895—98 : 

Herbst -o.6° -0.3 0 -0.3 0 

1886—90 4 - 2 .3° 


+o. 3 ° 1 

Jahr -0.55 0 -0.42 0 -0.32 0 

1891—94 4 - 2 - 3 ° 
1895—98 4-2.1° 




Die Korrektion wurde, da der Einfluß der zunehmenden Be¬ 
bauung sich nicht plötzlich, sondern allmählich zeigte, unter ziem¬ 
lich gleichmäßiger Verteilung ihrer Beträge auf den Zeitraum 
1871 —1890 eingestellt, und die einzelnen Jahresmittel in folgender 
Weise berichtigt: 

Jahrgänge 

1869—1875 um -»-0.2 0 

1876—1879 „ -4-0,1° 

1880—1881 „ — 

1882—1885 „ —0.1° 

1886—1895 März —o.2° 

Belege für eine größere Abweichung des Wertes dieser 
Korrektion in den einzelnen Jahreszeiten ergaben sich nicht; viel¬ 
mehr schwankten je nach dem Charakter der Witterung die 
Differenzen um ganz kleine Beträge, und es erschien darum Tät¬ 
lich, an den Jahres-, Monats- und Pentadenmitteln stets die näm¬ 
lichen Verbesserungen anzubringen. Eine kleine Ausnahme glaubte 
der Verfasser für die Sommermonate von 1882 ab bis 1895 ein- 
treten lassen zu dürfen, da in dieser Zeit die späterhin eingeführte 
Ablesung der Morgentemperaturen auf der nicht durch die 
Sonnenstrahlung beeinflußten Westseite des Gebäudes mangelte, 
und sich aus der Differenz der vor und nach 1895 eingesetzten 
Werte der Morgentemperaturen mit den Tagesmitteln ergibt, daß 

1 Schultheiß. Ch.. Die Temper,Tturverhnltnissr im (uoßherzogtum Baden. Karls- 
iuhe 1908. S. 32. 






Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe 63 

die älteren knapp l / 2 ° zu hoch liegen. Korrektion für jeden der 
Monate Mai bis August —o.i 01 . 

Die Beobachtungen dieser Zeit sind im allgemeinen zuver¬ 
lässige gewesen, so daß die reduzierten Werte bis auf einige 
Zehntelgrade den wirklichen Beträgen entsprechen werden. Aller¬ 
dings vermindert sich mit jedem weiteren Jahrzehnt, das man 
zurückgeht, die Genauigkeit der Beobachtungen, aber es stellen 
ja diese reduzierten Ziffern immer nur angenäherte Werte dar. 
Nach Mitteilungen von Seiten des Leiters des badischen Wetter¬ 
dienstes, Professor Schultheiß, kann erst etwa seit dem zweiten 
Lustrum der achtziger Jahre die völlige Zuverlässigkeit der Be¬ 
obachtungen verbürgt werden. Immerhin ist aber auch das ältere 
Material, wie die mittleren Differenzen mit mehreren benachbarten 
Stationen zeigen, so namentlich die Beobachtungsreihe von 
Würtenberger, durchaus kein schlechtes, und es dürften höchstens 
ein paar Werte aus den ersten siebziger Jahren, die etwas tief 
zu liegen scheinen, eine kleine Ausnahme bilden; doch sind die 
Fünfjahresmittel dadurch nicht weiter beeinflußt. 

Die erwähnten ungünstigen Umstände verlangten immer ge¬ 
bieterischer ein Einschreiten; die anderweitige Unterbringung der 
Station im Juli 1882 war ohne Wirkung geblieben, und erst die 
Verlegung im März 1895 brachte gründliche Abhilfe. Vergleiche 
zwischen den Wärmemitteln an den beiden Aufstellungen, die 
allerdings nur zwei Monate hindurch vorgenommen werden 
konnten) ergaben damals eine Temperaturerniedrigung von etwa 
einem halben Grad. Nach Differenzen mit einigen badischen 
Stationen dürfte dieser Betrag im Jahresmittel um ein geringes 
zu hoch sein und 0.3 0 C wohl nicht übersteigen. Da die Mittel 
der vorhergehenden Jahre um 0.2 0 zu hoch angenommen waren, 
so mußte für die nächsten Jahre ein positiver Korrektionswert 
von -4-0.1° eingesetzt werden. 

Differenzen nach: 



Buchen 

Breiten 
(bis 1897) 

B a <1 e n 

1891—94 

-H2 - 35 ° 

- 4 - 1 . 2 ° 

4 - 0 . 6 ° 

1895—98 

- 4 - 2.1 ° 

4 - 1 . 0 ° 

4 - 0 . 4 ° 

1899—02 

4 - 2 . 2 ,5° 


4 - 0 . 5 ° 


1 Siehe Tabelle IV. Anhang. 



64 


L'r. Friedrich Gautier 


Im Oktober 1898 wurde die Station zum letzten Male ver¬ 
legt; diese Veränderung hatte gemäß obiger Tabelle wieder eine 
geringe Erhöhung der Mittelwerte zur Folge, die auf o.i° be¬ 
stimmt wurde; von da an wird wohl trotz des weiteren An¬ 
wachsens der Stadt die mittlere Wärme ungefähr die gleiche 
geblieben sein. 

Korrektionsbeträge für: 

April 1S95 bis Oktober 1898 -ho. 1 0 

Juli 1882 bis August 1895 

^ V _Q J ° 

Sommermonate Mai bis August 

Die Reduktion der Heckmannschen Beobachtungen 1855 — 
1868 geschah unter Benützung der Vergleichsstationen Basel, 
Straßburg, Mannheim und Frankfurt 1 . Zunächst wurden die 
Differenzen der Monatsmittel der genannten Stationen mit Karls¬ 
ruhe graphisch festgelegt. Schon aus dieser Darstellung ergab 
sich, daß die Reihe eine nach Abschnitten getrennte Behandlung 
verlange. Von Frühjahr 1860 ab ist nämlich der jährliche Ver¬ 
lauf der Differenzen ein abweichender; dieselben erreichen nicht 
mehr jene hohen Werte, die die Sommermonate der letzten fünf¬ 
ziger Jahre ergaben, weisen dagegen eine umgekehrte Periode 
mit Minimum in der wärmeren Jiihreszeit auf. Es liegt nun nahe, 
jene Änderung auf Verbesserungen in der Aufstellung der In¬ 
strumente durch Anbringung von Schutzvorrichtungen gegen 
Strahlung zurückzuführen-; denn während aus dem Gange der 
Differenzen in den Wintermonaten Ungleichmäßigkeiten nicht zu 
ersehen sind, werden nun die Wärmeüberschüsse der Sommer¬ 
monate um ein beträchtliches geringer als die der winter¬ 
lichen Jahreszeit. Die Einflüsse der * Stadtlage «9 die sich in einer 
erhöhten Wintertemperatur geltend machen, fallen erst mit der 
Verlegung der Beobachtungsstelle an die Stadtperipherie Oktober 
1865 weg; im Sommer wird die stärkere Erwärmung des städtischen 
Weichbildes nur bei größerer Ausdehnung desselben und an be¬ 
sonders heißen Tagen durch Erhöhung der Abendtemperaturen 
stärker bemerkbar; da aber gerade Ende der fünfziger Jahre 
warme» Sommer einander folgten, so worden die großen Diffe¬ 
renzen jener Monate zum Teil auch diesem Umstande zur Last 
gelegt werden dürfen; es wurden deshalb für einzelne dieser Mo- 


1 Das Klima von löankfiut am Main. Frankfurt 1901. 
* Das Temprratcimiiu*! für </' p war vorher /11 hoch. 



Die Temperaturverhältnissc von Karlsruhe 


^5 


nate noch besondere kleine Korrektionen beigefügt. Zwecks Be¬ 
seitigung all’ dieser Abweichungen wurden nun fünfjährige Diffe¬ 
renzen mit Frankfurt und Basel gebildet, zwei Beobachtungsorten, 
die ziemlich gleich weit in entgegengesetzter Richtung von Karls¬ 
ruhe entfernt sind und bei nicht allzu verschiedener Lage einen 
ähnlichen Gang der meteorologischen Elemente sowie zuverlässigere 
Beobachtungen aufweisen. Mit dieser Reduktion verschwinden 
denn auch die erwähnten *Stadttemperaturen«; denn wenn 
auch die reduzierten Frankfurter Beobachtungen an demselben 
Mangel leiden — sie zeigen für die in Betracht kommenden Jahre 
1857—59 einen ähnlichen Wärmeverlauf wie Karlsruhe - , so 
sind doch die Mittel von Basel (Beobachtungsstelle Domhof), die 
mehrfachen Korrektionen unterzogen wurden, zum Ausgleiche 
etwas zu niedrig angesetzt 1 . 

Die Beträge, um welche die Wärmemittel der Heckmann sehen 
Reihe ermäßigt werden mußten, sind, nach Jahresabschnitten 
geordnet, folgende: 


Jan. Fcb. Miirzj Apr. Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. NovJ Dez. 


*857— 

l8ÖO 

1.2° ! 1.2° 

, ,0 . -0 

1 -3 io 

i. 5 ° 

>• 5 “ 

; ‘- 5 ° 

' i,6°. 1.7 0 1.4 0 r.i° 1.1? 

1 86 1 — 

OC 

C 7 ' 

'Ji 

1.2°; 1 . 3 0 

i.i° 0.9 0 

o.8° 

0 

’ c > 

0 

o.6° 

0.7° 0.9° 1.0° t.l° 1.1° 

1866- 

1868 

o.o° i o.o° o.i° o.i° 

1 

0.1° 

0.1° 

|o-. c 

| 

| 0.1° 0.1° 0.1° 0.1° 0.0° 


Was nun die Sorgfältigkeit anbelangt, mit der die Beob¬ 
achtungen vorgenommen wurden, so ist sie wohl dem Maßstab, 
den man damals an dieselben legte, entsprechend. Die Re¬ 
gistrierungen der sechziger Jahre weisen noch recht gleichmäßige 
Differenzen mit jenen der Wetterstellen von Straßburg, Mann¬ 
heim, Basel und Frankfurt auf. In den früheren Jahren sind aber 
auch die Beobachtungen Heckmanns nicht mehr so sorgfältiger 
Art, und einige Mittelwerte der Jahre 1855 und 1856 waren in 
dieser Hinsicht zu beanstanden. 

Die Vergleichung der Aufzeichnungen von 1866—1868 wurde 
in ähnlicher Weise vorgenommen; als Abweichungen von den 
normalen Werten ergaben sich hier nur unerhebliche Beträge. 
Die Beobachtungsstelle, die sich von Oktober 1865 an bereits 

1 Stark korrigierte Werte: Strub, W., Die Tcinpvrutiirvc-rhältnissc von Hasel. 
Basel 1910. S. i6ff, S. 93. 

Verhandlungen 20. Bd. D 









66 


Dr. Friedrich (iautier 


im neuen Polytechnikumsgebäude befand, muß demnach unter 
nicht viel weniger günstigen Bedingungen gestanden haben, als die 
nach Gründung des badischen Beobachtungsnetzes eingerichtete; 
sind doch die Differenzen zweier Monate, von denen Doppelbe¬ 
obachtungen vorliegen, minimale (o.i°;. 

Die Beobachtungsreihe vom botanischen Garten wurde eben¬ 
falls nach Differenzen mit den Stationen Basel und Frankfurt aus¬ 
geglichen; die Reduktion der Stieffel’schen Beobachtungen er¬ 
folgte in der nämlichen Weise, jedoch unter der Modifikation, 
daß die gewonnenen Werte gleichmäßig um einen bestimmten 
Betrag erhöht wurden, der sich aus einem Vergleich mit den 
Lustrenmittein weiterer Stationen ergab. 

Die monatlichen Reduktionsbeträge waren folgende: 

Stieffels Reihe, i. 1841 — 7. 1852 
o.6° o.8° i,o° 1.1 0 1.2 0 1.3 0 1.4 0 1.5 0 1.4 0 1.1 0 o,8° o.6° 

Bei der Reduktion der älteren Beobachtungen war es nur 
möglich, angenäherte Werte zu bringen; denn wenngleich die 
Aufzeichnungen lückenlose sind, meist in den besten Händen 
lagen und die Beobachtungsstelle von 1805—1840 nicht wechselte, 
so verhindert doch der Mangel völlig brauchbarer Vergleichs¬ 
stationen, das Nichteinhalten regelmäßiger Ablesetermine, die 
späterhin nicht mehr kontrollierbaren Wirkungen von Strahlungs¬ 
einflüssen, gelegentlicher Einführung neuer Instrumente die Fest¬ 
stellung exakter Mittelwerte. Dieselben sind aus diesem Grunde 
nur in ganzen Zahlen angegeben 1 . Zur Reduktion wurde die 
Basler Reihe von 1831 — 1840 benützt: 

monatliche Korrektionswerte: 

0.4 0 o.6° 0.7 0 o.8° o.8° 0.7 0 0.7° 0.9 0 1.1 0 0.9 0 o.6° 0.4 0 

Jahr: 0.7 0 


1 Hat man doch erst in letzter Zeit recht erkannt, wie fragwürdig solche fiktiven 
Werte aus älterer Zeit sind, und wie bereits geringfügige Änderungen in der Auf¬ 
stellung der Instrumente Unterschiede der Mittel von mehreren Zehntelgraden zur 
Folge haben, ganz abgesehen von der oberflächlichen Handhabung des Wetterdienstes. 
Aber selbst neuere Bearbeitungen, wie die über das Klima von Frankfurt und die 
älteren Wärmemittel von Wien bringen noch auf Zehntelsgrade abgerundete Beträge, 
die den wahren Weiten unmöglich entsprechen können. 



Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe 


&7 

Die gewonnenen Beträge jedoch mit Rücksicht auf die freiere 
I^age der Station in den ersten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts 
um o. i° bis 0.4 0 ermäßigt. Die Tabelle zeigt die Art dieser 
Reduktion, bringt Vergleiche mit älteren Reihen fremder Stationen 
und die in Lustrenmitteln dargestellten Ergebnisse. 


Temperaturextreme. 

Die neu gewonnenen Mittelwerte liefern uns für die Extreme 
der Wärmeschwankungen nicht unerhebliche Ergänzungen. So 
brachte die Wärmeperiode der fünfziger und sechziger Jahre vor 
allem für die Sommermonate Höchstwerte, welche, selbst wenn 
man alle verfügbaren Aufzeichnungen bis ins vorletzte Jahrhundert 
zurück in Betracht zieht, nicht übertroffen wurden. Vor Anbringung 
der geprüften Korrektionen hielt man diese Wärmeanomalien für 
noch weit beträchtlicher; nun können sie, aufs rechte Maß zu¬ 
rückgeführt, auch mit den offiziellen Beobachtungen der letzten 
vierzig Jahre in Vergleich gebracht werden. Ein so extremer 
Juli, wie beispielsweise der vom Jahre 1859, Monate wie der 
April 1865, Mai 1868, Juni 1858 kommen im Laufe eines Jahr¬ 
hunderts wohl nur einmal vor. Die absoluten Werte übersteigen 
die bisher bekannten Extreme seit dem Jahre 1869 um folgende 
Beträge: 


April 

11 

oj. 

~l 

O l< 
i 

rO | 

II 

um 

i.i° 

Mai J 

1868 _ 

18.8° 

um 

2 - 5 ( 

I I 8 Ö 9 

12,5" 



1 

, 1889 

16.3° 



Juni 

1 ,S -58 _ 

= 2I - 5 ° 

um 

i.6° 

Juü j 

i «59 _ 

23.0 01 

um 

i.i ( 

1 1877 

’ i9-9° 



1911 

2 l.Q° 



Dez. 

( 1868 _ 

. 7 .i° 

um 

O 

oc 

0 

Som. ! 

1^)9 = 

20*7° 

um 

o.ö' 


l 1880 

<*• 3 ° 



1 

1911 

20.1° 




Der Monat August des letztgenannten Jahres (1911) war da¬ 
gegen selbst der wärmste seit hundert Jahren. 

Aus dem ältesten Beobachtungsmaterial, wie es uns in den 
Aufzeichnungen der Mannheimer Ephemeriden (deren Werte auch 
für Karlsruhe einsetzbar sind), der Karlsruher Tagebücher von 


1 Die Hitzeperiode vom 15. Juli bis 15. August 1911 hatte ebenfalls ein Tcm 
peraturmittel von über 23 C 



68 


Dr. Friedrich Gautier 


Böckmann, Seeber und Wucherer vorliegt (übersichtlich zusammen¬ 
gestellt auf einzelnen gedruckten Blättern von Forstrat Professor 
Klauprecht 1869), habe ich noch, soweit Reduktionen es zuließen, 
weitere Extremwerte zum Vergleich gebracht 1 . Positive Ano¬ 
malien kommen hier weniger in Betracht; dagegen bringen uns 
die kühleren Perioden zu linde des vorvergangenen und gegen 
Mitte des 19. Jahrhunderts einige stärkere negative Abweichungen, 
beispielsweise das Jahr 1816 den kältesten Sommer des Jahr¬ 
hunderts mit etwa 15.7 0 Durchschnitt (noch um über i° kälter 
als die ungünstigen Sommer von 1913, 1909, 1888, 1882 und 
1860). Der rauheste Winter war derjenige von 1829/30 (mit —5 0 ). 

Die folgende Tabelle zeigt uns die im Laufe von etwa 
anderthalb Jahrhunderten vorkommenden Extreme sowie die ab¬ 
soluten Schwankungen der Monats- und Jahresmittel 2 * * : 


1 Absolutes 
Maximum 

Jan. 

Feb. 

März 

Apr. 

Mai 

Juni 

Juli 

Aug. Sept. 

Okt. 

Nov. 

Dez. 

6° 

7 - 3 “ 

1 o° 

13.6 

18.8° 

21 - 5 ° 

23.0° 

21.8° 

, „ „O 

1 / O 

• 3 ° 

9 ° 

7 - 1 ° | 

1 Jahrg.änge 

'834 

1796 

I 869 

1822 

1865 

1868 

1858 

'859 

1911 

1807 

1895 

l8ll 

1795 

1852 

1868 

I Absolutes 

1 Minimum 

—8° 

I-6.1 0 

l -1 ° 

1 6 ° 

io- 5 ° 

14.2° 

16 0 

« 5 ° 

10.2° 

p -° 

5*5 

-0.5° 

— 8 - 5 ° 

Jahrgänge 

1830 
1 793 

'895 

1845 

1812 

1 77 1 

I 1902 

1871 

1 9 1 3 

1 1816 

1844 

1785 

1912 

rt* 

00 

K 

1858 

1879 

1788 


Winter 1829/1830 —5 0 

» 1833/I834 ) o 

1868/1869/ 5 


Sommer 

» 

» 


1816 
1846 | 

«859 j 


-»-15.7 0 

-•-20.7 0 


Jahr 1829 -t-8.i° 

Jahr 1822 -Hii.7 0 


1 Siehe Tabelle III. 

2 Einige Werte aus dem 18. Jahrhundert sind reduziert nach Mannheimer, Frank¬ 

furter und Pariser Beobachtungen, wie sie in den Mannheimer Flphemeriden 1781 bis 

1792, dem 1902 in Frankfurt erschienenen Werk: Das Klima von Frankfurt a. Main 

und den Annales du Bureau Central Meteorologiquc de France Annec 1887. ß. 2iiff. 

wiedergegeben sind. Siche auch Tabelle VI. 






Die Temperaturverhältnissc von Karlsruhe 


69 


Absolute Schwankungen. 


Jan. Febr. März 
14° 13.4 0 11° 


April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez. 

7.6° 8.3° 7-3° 7-o° 6.8° 7.3 0 7-5° 9-5° 15-6° 


Winter Sommer Jahr 

io 0 5 0 3.6° 


Nach dieser Zusammenstellung erreichen die positiven Ab¬ 
weichungen ihr Maximum im Dezember, ihr Minimum im Früh¬ 
herbst, doch sind die einzelnen Beträge nicht sehr viel von 
einander verschieden; die negativen Extreme übersteigen jedoch 
in den Wintermonaten die sommerlichen Werte um das Doppelte. 
Stellt man diese Anomalien in einer Kurve graphisch dar, so 
zeigt sich, daß ein noch längerer Zeitraum von Beobachtungen 
erforderlich wäre, damit überall den absoluten Werten möglichst 
angenäherte Beträge gegeben werden können; namentlich weisen 
April, Oktober und Novemher noch kleine Fehlbeträge auf; doch 
wird die Kurve selbst bei Erfüllung dieser Voraussetzung keinen 
völlig gleichmäßigen Verlauf aufweisen, da einzelne Unregelmäßig¬ 
keiten durch den jahreszeitlichen Witterungscharakter bedingt 
sind. Gerade das anomale Verhalten der beiden Spätherbstmonate 
ist darauf gegründet; während der Dezember unter Umständen 
zu den strengsten Wintermonaten gehören kann, sind die Be¬ 
dingungen starker negativer Anomalien, Bildung einer dauernden 
Schneedecke und anhaltende strenge Kälte, vorher fast ausge¬ 
schlossen; die spätherbstliche Witterung trägt ein ruhigeres Ge¬ 
präge, das in einer stetigeren Luftdruckverteilung und in einer 
geringeren Veränderlichkeit der Temperaturmittel zum Ausdrucke 
kommt. 


Jährlicher Gang der Temperatur. 

Die aus den Funftagesmitteln 1 gewonnene Jahreskurve der 
Temperatur zeigt einige bemerkenswerte Eigenschaften. Unregel¬ 
mäßigkeiten im Verlauf derselben, die man als Zufälligkeiten an¬ 
sprechen mußte, wenn die Mittelwerte kürzeren Zeiträumen ent¬ 
nommen waren, treten in der längeren Periode von 60 Jahren 
(1851—1910) deutlich ausgeprägt heraus. Vergleicht man ihren 


1 Vgl. Tabelle V und VII. 



70 


Dr. Friedrich Gautier 


wirklichen Verlauf mit dem einer normalen Jahreskurve, so treten 
die Abweichungen am deutlichsten hervor. Nachdem die Kurve 
ihren tiefsten Punkt gegen Mitte Januar erreicht hat, beginnt sie 
allmählich anzusteigen, bis in der zweiten Dekade des Februar 
ein Kälterückfall diese Bewegung unterbricht. Dieser ist jedoch 
kein sehr auffälliges Phänomen; wenige kräftig einsetzende 
Kälteperioden genügten ja bei der starken negativen Wärme¬ 
anomalie, die sie in dieser Jahreszeit mit sich bringen können, 
bereits, auch ein langjähriges Mittel um den Betrag von einigen 
Zehntelsgraden zu erniedrigen; und die Häufigkeit, mit der er 
auftritt ist keine bedeutende. Gegen Mitte des März folgt ein 
ähnlicher von andern Autoren ebenfalls erwähnter, etwas schwäche- 
rerer Temperatur-Rückfall, nachdem das Ende des Februar und 
die ersten Märztage bereits höhere Tagesmittel lieferten. Ende 
des genannten Monats setzt eine ganz entschiedene Wärmezunahme 
ein, die sich dann gegen die Monatswende zum Mai etwas ver¬ 
langsamt. Die Kälterückfälle dieses Monats, die unter dem Namen 
der »Eisheiligen« bekannt sind, kommen infolge ihres zeitlich 
wechselnden Auftretens in den Mittelwerten gar nicht zum Vor¬ 
schein, viel intensiver treten hingegen die im allgemeinen bedeu¬ 
tendschwächer empfundenen Wärmerückgänge von Mitte Juni hervor, 
welche auf unserer Zeichnung die stärkste Störung der Kurve 
darstellen. 

Ausgeprägter als in manchen andern Reihen machen sich 
die sommerlichen Wärme- bezw. Schönwetterperioden geltend 
— die größeren positiven Abweichungen sind eben in dieser 
Jahreszeit von der Stärke der Einstrahlung (Sonne) abhängig —. 
In den hier untersuchten Fällen der letzten 20 Jahre ergab sich 
denn auch — für alle hier in Betracht kommenden Perioden -— 
eine auffallende Häufigkeit des Vorkommens; durchschnittlich war 
ein Verhältnis von 2:3 festzustellen. Die erste der Perioden liegt 
um die Monatswende Mai/Juni, sie zeigt als Gegenstück des folgen¬ 
den Wärmeausfalls die ausgeprägteste Form. Ende Juni ist wieder 
ein kleiner Höhepunkt zu erkennen; bis zur dritten Julipentade 
steigt von da an die Kurve kaum merklich. Um den 20. oder 23. 
des Monats ist der Wendepunkt erreicht; doch hält sich dann die 
Wärme bis etwa zum 20. August, der ebenfalls als bevorzugter 
Termin gelten muß, auf ziemlich gleichem Stande; dann folgt die 
erste stärkere Senkung; der Wärmerückschritt wird zu Beginn 



Die Temperaturverhältni>se von Karlsruhe - i 

des September wieder etwas aufgehalten (3. Wärmeperiode): 
derselbe Vorgang wiederholt sich am Monatsschluß (4. Wärme¬ 
periode). Wegen der stärkeren Ausstrahlungswirkungen treten die 
zuletzt erwähnten Perioden besserer Witterung, von denen die 
zweite mit unserem »Alteweibersommer« identisch ist, weniger als 
besonders warme Zeitabschnitte hervor; aber sie bewirken immer¬ 
hin eine Unterbrechung der Kurve auf ihrem absteigenden Aste. 
Noch einmal verlangsamt sich der Rückgang der Temperatur 
gegen Schluß des November; doch hat diese Störung keinen auf¬ 
fälligen Charakter. 

Eine ganz bestimmte Drucklage läßt sich mit der Mehrzahl 
dieser Wärmeperioden nicht in Verbindung bringen. Im Früh¬ 
sommer drängen sich Hochdruckgebiete häufig von Westen oder 
Nordwesten in den Kontinent hinein und bedecken dann bald 
mehr den zentralen bald mehr den nördlichen Teil desselben, 
während im Spätjahr barometrische Maxima sich vielfach im Osten 
des Erdteils konzentrieren, und dann die Erwärmung sich unter 
Mithilfe südlicher Luftströmungen einstellt. Immerhin aber ist 
stets eine größere Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß in diesen 
Zeitabschnitten kräftigere Gebiete hohen Druckes über dem kon¬ 
tinentalen Europa zur Herrschaft kommen. 


Klimaschwankungen. 

Durch Vergleiche mit einer Anzahl möglichst ungestörter 
Beobachtungsreihen benachbarter Stationen wie Frankfurt, Basel, 
Stuttgart, Straßburg, Paris, wurde auch der Versuch gemacht, die 
älteren nur mit Vorbehalt vergleichbaren Temperatur-Aufzeich¬ 
nungen von Böckmann, Wucherer und Seeber — die Stieffelsche 
Reihe konnte wegen ihrer besseren Zuverlässigkeit ohne kom¬ 
pliziertere Korrektionen übernommen werden — auf richtige Mittel¬ 
werte (und zwar nur Lustrenmittel) zu reduzieren. Bei der Berech¬ 
nung erschien es vorteilhaft, stets den Unterschied von je zwei 
aufeinander folgenden Fünfjahresmitteln der Korrektion zu Grunde 
zu legen, in der Annahme, daß solche zeitlich benachbarten Ab¬ 
schnitte am ehesten noch die tatsächlichen Schwankungen der 
Wärmemittel wiedergeben würden. Die nachfolgende Tabelle zeigt 
die Ergebnisse dieser Berechnungen. 



/ 


Dr. Friedrich Gautier 


Differenz der Lustrenmittel gegen das nächstfolgende Lustrum: 



bei 

Lustrum 


Basel 

Frank¬ 

furt 

Karlsruhe 
n. Klau- 
precht 

Straß- 

bürg 

Paris 

Karlsruhe! 

korrigiert 

— 5 S 

Mittel 

8.8 

9.2 

— 

9.6 

.0,3 

9-3 

I846-50 

Diffe- 

+ 2 

+ 2 

_ 

+5 

+4 

9.8 

1841—45 
1856—40 

renz in 
Zehn¬ 
tels- 

— 0 

- 3 

~3 

- 5 

-5 

+ 1 

” 5 

+I 

9-3 

9-4 

183'—35 

graden 

+ 10 

Regens- 

+ S 

+6 

+9 

97 

1826—30 

— 5 

burg 

_ 2 

“5 

"6 

9-5 

1821—25 




+ 8 



10.5 

; l8l6 — 20 



-8 

— 12 



9-4 

l8l I— 15 1 



— 1 

+ 0 



9-5 

1806—IO 




+ 2 



9-9 

l8oi—05 



-3 

- 2 



9.6 


Nach derselben lassen sich entsprechend den Resultaten der 
Untersuchungen Brückners 2 zwei weitere warme Perioden um die 
zwanziger Jahre des vergangenen und in den neunziger Jahren 
des 18. Jahrhunderts festlegen. Die tiefsten Lustrenmittel fallen 
zusammen mit den Zeiten, die als Not- und Teuerungsjahre bekannt 
sind, so die von 1812—16 und von 1851 55. Diese Zusammen¬ 

stellung bestätigt aber auch wieder, daß die Brücknerschen 
Schwankungen in ihrem Ausmaße ziemlich unterschiedlich sind 
und eine Regelmäßigkeit nur in geringem Umfang erkennen 
lassen. Mitten in die genannten warmen Perioden fallen bei¬ 
spielsweise in unserem Gebiete eine Anzahl abnorm kalter Winter 
wie diejenigen von 1784 und 1789, von 1827 und 1830, welche 
die betr. Lustrenmittel unter den normalen Wert erniedrigen; und 
in die kalten Perioden zu Anfang des Jahrhunderts die warmen 
Jahre 1806 und 1807 und der Sommer von 1S11, der die berühmte 
Weinernte gezeitigt hat. Am besten stimmt hinsichtlich der Dauer 
der Perioden die Zeiteinteilung, wie sie Richter in seiner Abhand¬ 
lung: »Geschichte der Schwankungen der Alpengletsch er« 2 für 
den Ausfall der Weinernten angibt: 

warme Zeit 1821 — 35 

kalte * 1836—55 

warme » 1856—75 

kalte » 1876 ab 

1 1812—1 (> +<).0°. 

- Zeitschrift des deutschen und österreichischen Alpenvereins. Jahrg. 1891, S. 44. 




Die Tempcraturverhältnisse von Karlsruhe 


73 


weniger gut eine Scheidung in Abschnitte entsprechend den Be¬ 
wegungen der Gletscher, wo ja mehr ein Wechsel in der Größe 
der Niederschlagsmengen als Schwankungen der Temperatur in 
Betracht kämen, und jede derartige Wirkung sich örtlich differen¬ 
ziert und sehr verspätet geltend macht. Die Tabelle II im Anhang 
gibt sämtliche Perioden mit ihren Temperatur-Mittelwerten an. 

Recht deutlich treten diese Schwankungen in einer Zusammen¬ 
stellung der Mitteltemperaturen von je fünf aufeinanderfolgenden 
Wintern bezw. Sommern hervor, entsprechend einer Berechnung, 
wie sie Strub 1 für Basel gegeben hat. Seit 1897 sind die Mittel 
der Wintermonate andauernd übernormale, und während die letzte 
warme Periode der sechziger Jahre nur 7 zu warme Winter brachte, 
zeitigte die gegenwärtig zu Ende gehende bereits über 15. Zum 
Ausgleiche sind dafür in der kälteren Gruppe der achtziger Jahre 
wieder eine Anzahl milder Winter zu verzeichnen. 

Ihrer Zeitdauer und Intensität nach sind die einzelnen Perio¬ 
den recht unterschiedlich. Den warmen Jahren zu Ausgang des 
18. Jahrhunderts folgte eine kürzere kältere Periode; der ebenfalls 
nur etwa 15 Jahre dauernden intensiveren der zwanziger Jahre 
eine längere, mehrfach unterbrochene kältere Zeit, um die Mitte 
des letzten Jahrhunderts, die, wenn man nur die Winter berück¬ 
sichtigen wollte, noch erheblich in die nächsten Wärmeperioden 
eingreifen würde (kalte Winter noch im 2. Lustrum der zwanziger 
Jahre und bis zum Anfang der sechziger Jahre). Die sich an¬ 
schließende wärmere Periode kulminierte in den sechziger Jahren 
und reichte mit ihren heißen trockenen Sommern bis über die 
Mitte der siebziger hinein, während die ihr der Länge nach ent¬ 
sprechende sie ablösende kältere Zeit anfangs nur unternormale 
Winter, später bei milden Wintern sehr feuchte, kühle Sommer¬ 
monate aufwies. Mit dem Lustrum 1886/90, das ein Mittel von 
nur 9 C° (—0.7° unter dem Durchschnitt) hat, ist ihr Höhepunkt 
erreicht, doch greifen die kälteren Winter gerade wie bei der 
vorhergehenden kühleren Periode noch ein gut Stück in die 
wärmere hinein, die man etwa mit den Jahren 1892 oder 1893 
beginnen lassen kann. Die folgenden Jahresgruppen zeitigten 
verhältnismäßig geringere positive Abweichungen, jahreszeitlich 
namentlich im Frühling und Sommer den Durchschnitt gerade 
nur erreichend; dagegen stellten sich in feist ununterbrochener 

1 Strub, \V., Die Temperaturverhältnisse von Basel, S. 125. 



74 


L)r. Friedrich Gautier 


holge milde Winter ein, so daß beispielsweise von den vergange¬ 
nen 13 Sommern des 20. Jahrhunderts 6 zu den kühlen zu rech¬ 
nen sind (o.6° und mehr unterm Mittel), während nur 1 Winter, 
der von 1901, um einen im Verhältnis entsprechenden Betrag 
unternormal war. 


Extreme Sommer und Winter seit 1856. 



Sommer 

Winter 1 

mit 19 0 

unter 17 3 4 ° 1 

mit 2 x /a° 

unter o.o° 

I 

Warme Periode 


1857 

1860 

•859 

1858 




1858 

1864 

1863 

1863 


1856—1875 


1859 

1869 

1866 

1870 


| warme 

kalte 

1861 

1871 

1867 

1871 




1865 


1869 


Sommer 

. . 9 

4 

1868 


1873 





1873 




1 Winter 

. . 6 

4 

1874 







1 8"5 





2. Kalte Periode 


1876 

1882 

1876 

1876 


1876—1893 


1877 

1886 

1883 

1880 




1881 

1888 

1884 

oc 

00 

I 


j warme | 

kalte 

1887 

1890 

1885 

1888 

Sommer 

4 

5 


189t 


1889 







1891 

Winter 

• • 4 

7 




'893 

3 

. Warme Periode 


•893 

1903 

1898 

1893 


1893—1913? 


1897 

1907 

1899 

1901 




1900 

1909 

1902 



warme 

kalte 

1904 

1910 

1903 


Sommer 

. . j 6 

6 

1905 

1912 

1906 





1911 

1913 

1910 


Winter 

• • 8 




1912 







«913 



Die mit diesen Jahren zu Ende gehende warme Periode unter¬ 
scheidet sich demnach von der vergangenen durch das häufige 
Auftreten sehr milder Winter, während warme Sommer, wie sie 
in den letzten fünfziger, den sechziger und siebziger Jahren die Regel 
bildeten, nur spärlich vertreten waren; ein Ergebnis, das auch in der 
abnehmenden Häufigkeit guter Weinernten seine Parallele findet. 

1 Zum Winter des bc/eichneten Jahrgangs wird stets der vorangehende Dezember¬ 
monat hin/ugcrechnet. 



Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe 


75 


Lustrenmittel, io-, 30- und 60jährige 1 Temperaturmittel Tal». 1 


Lustrum 

Jan. 

Febr. 

März April 

Mai 

Juni 

J-di 

Aug. Sept. 

Okt. 

Nov. 

Dez. 

Jahr 

>851-55 

1-4 

0.7 

3.8 

8.8 

13-3 

17.0 

19.0 

18.4 

14.0 

10.2 

4.2 

qJ 

9-3 

1856—60 

1.0 

1.4 

5 * 1 

97 

137 

18.5 

19.2 

19.3 

« 5-2 

10.7 

2.6 

1.8 

9 9 

11861—65 

-0.4 

2.2 

57 

10.8 

15.0 

1 7*5 

19.1 

18.6 

15.2 

10.6 

5-4 

0.9' 

10.0 

1866—70 

*•4 

4.4 

4*3 

10.6 

.5.0 

1 77 

I9.8 

*77 

1 5-4 

8.9 

4-5 

i -3 

IO.I 

•8-1—75 

*•5 

L 3 

5-9 

IO.I 

12.9 

17.1 

20.1 

I 8.4 

15.4 

9.2 

4-4 

—0.0 

97 

1876—80 

—0.0 

3.6 


9.8 

12.7 

17.8 

18.6 

I8.9 

* 4-3 

9.6 

4.8 

1.0 

97 

vr> 

OO 

J, 

00 

OC 

0.6 

3-8 

5-5 

9 4 

13.8 

17.2 

19.2 

17.5 

14.1 

8.7 

5.7 

2.1 

9.8 

1886-90 

—0.0 

-0.3 

3-8 

9.2 

14*3 

■ 7-5 

• 8.3 

17.6 

14.0 

83 

5.0 

-°\ 

1.4 

9.0 

1891—95 

-2.3 

1.2 

5*0 

10.5 

14.0 

• 7-3 

I9.O 

• 8.3 

15.0 

97 

5-3 

9-5 

I896-OO 

21 

3-6 

5-9 

9-4 

13.0 

18.0 

I9.O 

.8.5 

14.8 

9.8 

5-2 

2.0 10.1 

1901—05 

0.6 

2*3 

6.3 

97 

« 3-5 

177 

20.1 

18.0 

1 4-5 

9-2 

4-3 

2.0' 

9-9 

1906—IO 

0.9 

2.0 

4.8 

9.2 

* 4-5 

.7.2 

17.9 

18.0 

14.0 

10.9 

47 

2.6 

9 7 

Perioden 














1851—60 

1.2 

LI 

4.4 

9.2 

* 3-5 

17.8 

19.1 

18.9 

14.6 

10.4 

3.4 

1 * 3 j 

9.6 

1861—70 

°-5 

3.3 

5 o 

10.7 

15.0 

11 7-6 

« 9.4 

18.2 

15.3 

9.8 

4.9 

i.ii 

10.1 

1871—80 

0.7 

2.4 

5.8 

10.0 

128 

* 7-4 

19.4 

18.7 14.8 

9.4 

4.6 

0.5 

97 

1881—90 

o -3 

1.8 

4.6 

9-3 

14.0 

17.3 

18.8 

17.6 

14.0 

83 

5.4 

I.Oj 

9-4 

1891—00 

— 0.7 

24 

5-4 

10.0 

1 3-5 

177 

19.0 

18.4 

14.9 


5-2 

«7 

9.8 

1901 —10 

0.8 

2.1 

5-6 

9.4 

14.0 

17.4 

19.0 

18.0 

1 4*3 

10.0 

4-5 

2.3 

9.8 

3oj;ihr. Pe¬ 
riode von 
Hann u. ff. 














00 

0» 

T 

00 

0 

0.8 

1 23 

5 -i 

10.0 

13.8 

17.6 

19-3 

18.6 

14.9 

9.9 

4-3 

1.0 

9.8 

1881-1910 

03 

21 

5-2 

9.6 

138 

17.5 

18.9 

18.0 

1 4-4 

9-4 

5 ° 

«7 

97 

60 jährige* 
Mittel 














185I-I9IO 

°-5 

! 2.2 

5-2 

9.8 

138 

« 7.5 

19.1 

•8.3 

147 

9.6 

4.6 

I -4i| 

975 


J ahreszeiten- M ittel 



Winter 

Frühling 

Sommer 

Herbst 

1851—60 

1.2 

9.0 

18.6 

9-5 

1861—70 

1.6 

10.2 

18.4 

10.0 

CO 
*> 1 

T 

OC 

0 

1.2 

9-5 

18.; 

9.6 

1881—90 

1.0 

9-3 

17.9 

93 

1891 — OO 

«•3 

9.6 

18.4 

10.0 

I9OI — IO 

1.7 

97 

18.1 

9.6 

00 

01 

T 

CO 

0 

«•3 

9.6 

18.5 

97 

I 1881 —1910 

1 -4 

9-5 

182 

9.6 

0 

O' 

T 

OO 

1.4 

9.6 

18.3 

9.6 

1 


1 Maxima fett, Minima kursiv Ziffern. 










Dr. Friedrich Gautier 


76 


Tab. ii Jahres-, Winter- und Sommermittel. 1851 —1914 


Jahr 

Jahres¬ 

mittel 

Sommer¬ 

mittel 

Winter- 

mittel 

1 

Jahr 

Jahres¬ 

mittel 

Sommer¬ 

mittel 

Winter- 

mittel 

I 1851 

9.4 

18.2 

2.2 


1891 

9.1 

17.2 

-1.9 

I '852 

10.5 

18.6 

2-4 


1892 

9-5 

18.6 

f .8 

>853 

8.6 

18.1 

3-3 


>893 

10.0 

18.9 

-0.4 

'854 

9.2 

17.2 

-i -3 


1894 

10.0 

17.9 

i *5 

' »855 

8.7 

18.5 

-0.4 


'895 

9.2 

18.4 

2.7 

: '856 

9-5 

.8.5 

1.2 


1896 

9-5 

1 7-9 

* 4 

00 

<-n 

10.3 

19.7 

1.1 


1897 

10.i 

19.0 

1 -9 

! '858 

93 

1 9-3 

-04 


1898 

10.4 

18.1 

-> — 

- • / j 

! 1859 

11.2 

20.7 

3 ° 


1899 

10.1 

18.5 

3-9 

1860 

9.1 

16.9 

0.9 


1900 

10.4 

19.1 

2.0 I 

1861 

9.9 

19.4 

0.4 


1901 

9-4 

18.6 

—0.1 

1862 

10.7 

18.0 

1.4 


1902 

9.6 

17.8 

3-0 

1863 

10.5 

18.5 

3 -o 


*903 

10.1 

1 7-5 

2-5 

! 1864 

8.7 

17.4 

0.4 


1904 

10.2 

19.2 

i -4 

1865 

10.4 

18.9 

—0.2 


1905 

10.0 

' 9-8 

2.0 

i 1866 

10.6 

18.5 

3-2 


1906 

.0.1 

.8., 

2.6 

186; 

9-9 

18.0 

3-7 


1907 

10.0 

17.6 

0.4 ; 

iS*.« 

1i.o 

19.4 

1 *5 


1908 

9.1 

18.2 

i -5 1 

1869 

10.0 

1 r-5 

5.0 


1909 

9.3 

I (>.9 

0.1 

| 1870 

9-0 

18.8 

-0.4 


1910 

10.2 

; ''' 

4.0 

; 1871 

83 

1 7-4 

-1.6 


1911 

10.8 

20.1 

2.0 ! 

1872 

10.7 

17-9 

0.2 


1912 

99 

1 7*7 

3-9 1 

, i8 73 

10.1 

19.2 

3 -o 


1 9 1 3 

10.4 

167 

3 0 

i8; 4 

96 

18.9 

1.6 


1914 


178 

; i -3 

1873 

9-7 

19.0 

0.6 





I87O 

10.1 

19 3 

— 0.1 

Mittlere Wärme der Klimaperioden 

.8;; 

10.2 

19.1 

4.9 

Perioden- und Lustrenmittel 

1878 

9-9 

18.0 

2.2 

| Warme 



Kalte 

I '879 

8.3 

17-9 

1.2 

1 7 7 5 — 1800 

1801 — 1820 

j l88() 

10.1 

18.0 

- 3.0 


circa 


circa 

1 l88l 

9 5 

19.0 

2.0 

Lustra: io° 9? 

6 9? 6 io° 

j?8 9°6 9°9 9°5 9-4 

! 1882 

9-9 

16.7 

1 -3 


9 8 

96 

I 1883 

9-8 

17.9 

3-3 

1821 — 1835 

1836—1855 

l 1884 

10.4 

18.2 

3 -<> 

Lustra: 10? 5 

9-5 9-7 

9?4 9' 

3 9-8 9-3 

1 1885 

9-5 

18.2 

2.9 


9:9 

9?5 

| 188<> 

9-9 

1 7*7 

0-3 

1856-1873 

.8; 

■6—l805 

1 1887 

8.3 

1 18.9 

1 

| 0.0 

Lustra: 9?«) io?o 10V1 

9-7 9-7 

9-8 9 “ 9°5 

1888 

8.6 

17.0 

—0.2 


9-9 

9-5 

1881) 

9.0 

18.4 

! -<M I 

1896 

- 1910 



1800 

9 0 

1 7 1 

0 8 

j 

Lustra: io r .'1 

9 ? 9 9 ? 7 






1 i 

1 1 


9.9 
























Die Tempcraturveihültnisse von Karlsruhe 


/ / 


Tabelle III 

Monats- und Jahresmittel der Temperatur in C°. 1 

1851 — 1914 


Jahr- 

gänge 

Jan. 

Febr. 

März 

April 

Mai 

Juni 

Juli 

Aug. 

Sept. 

Okt. 

Nov. 

|i 

Dez. ; 

r 

Jahr 

1851 

27 

i -9 

5-5 

10.7 

11.6 

18.5 

177 

18.5 

1 2.2 

I 1.0 

2.1 

|! 

0.6 ! 

9-4 

1852 

3-6 

3 -i 

2.8 

7.8 

15.2 

I6.5 

21.2 

18.2 

1 4-3 

8.1) 

9.0 

6.0 

10.6 

1853 

4.0 

—0.2 

1.0 

7 o 

13.0 

17.0 

19.2 

18.2 

14.2 

9.8 

4.0 

- 3-8 

8.6 : 

•»54 

—0.0 

—O.I 

5 * 1 

9-7 

1 4*4 

15-4 

18.8 

17.4 

* 4-3 

10.2 

2.6 

3 * 

9.2 

1855 

-3.3 

— 1.1 

4.4 

8.4 

12.1 

17.8 

l8.1 

l 9*7 

*4 9 

11.6 

3-5 

—2.0 

«• 7 , 

I856 

1.6 

4 * 1 

3-6 

10.4 

11.7 

>8.3 

i 7-3 

20.0 

*3 4 

9-9 

*•3 

2 -5 

9 5 

1857 

0.4 

0.4 

4.8 

8.7 

14.4 

1 7*7 

20.9 

20.5 

16.6 

11.5 

5-0 

2 4 1 

10.3 

I858 

-2.4 

—1.1 

4-3 

IO.I 

12.4 

21.5 

18.1 

18.3 

* 7-3 

10.5 

-0.5 


9-3 

1859 

1.8 

4-7 

8.6 

10.6 

* 4-5 

18.0 

23.0 

21.0 

*4 9 

12.2 

4-5 

—0.0 

11.2 

1860 

3-6 

—1.0 

4.1 

8.6 

15.6 

17.0 

16.8 

16.9 

1 3*9 

9.2 

2.6 

*0 : 

9 * 

l86l 

- 4 .b 

4.2 

6.4 

8.7 

13-2 

19.0 

I8.9 

20.3 

15.0 

11.4 

5-8 

1.0 

9-9 

1862 

O.9 

2-3 

8.3 

12.2 

16.2 

16.8 

I 8.9 

18.2 

15.8 

11.2 

5-3 

2.8 

10.7 

I863 

3-3 

2.8 

5*6 

10.6 

* 4*5 

> 7 -i 

>8.3 

20.1 

13.6 

10.9 

5-3 

3 -+ : .i 

10.3 

I864 

- 3-5 

1.2 

6.9 

9.0 

> 3-8 

I6.9 

.8.5 

16.8 

* 4-5 

8.9 

3*9 

1 

—2.; 1 1 
3 1 

8.7 

I865 

*•9 

—0.2 

1.4 

13.6 

1 7-5 

1 7 9 

20.9 

17.8 

* 7-3 

10.8 

6.5 

-04 

10.4 

1866 

4-5 

5-5 

5.0 

11.1 

11.9 

* 9-3 

18.9 

16.9 

15.6 

8.1 

5-8 

1 4.0 

10.6 

1867 

1.2 

6.0 

4.9 | 

10.0 

14.9 

*7 5 

17.6 

19.0 

15.8 

89 

3*5 

—O.I 

9-9 

1868 

O.I 

4.6 

4.8 ; 

9.0 

18.8 

18.8 

* 9-9 

19.4 

16.4 

9.9 

2.8 

7.1 

1 1.1 

1869 

0.6 

7.3 

30, 

»2.5 

14.7 

14.8 

20.8 

16.9 

16.4 

7.8 

5-4 

-o, S | 

10.0 

1870 

0.8 

- 1-5 

3 -^ 

10.4 

1 4-9 

18.2 

21.7 

n>. 5 

* 2.9 

9.6 

5 * 

; — 3-8 , 

9.0 

18; 1 

- 3-7 

2.8 

6.6 

9-7 

12.4 

14.2 

19.2 

18.9 

16.1 

6.4 

*■9 

— 4-4 

8-3 

.872 

1.8 

3-2 

6.5 

10.8 

13.8 

16.8 

19.9 

17.0 

15.8 

10.6 

/ • / 

4.1 

10.7 

1873 

3.6 

1.4 

7-3 : 

8-5 

115 

17.8 

20-8 

19.1 

13.6 

10.8 

5-3 

*•5 

10.1 

1874 

2.5 

0.8 

5-4 1 

11.5 

11.1 

17.8 

22.0 

16.9 

16.1 

, 

94 

2-3 

—0.0 

9-7 

1875 

3-5 

j-i -7 

3 - 6 ; 

9.8 

1 5-7 

18.7 

18.4 

1 9*9 

* S -4 

8.8 

5 ° 

-1.2 

9-7 

1876 

“ 2 *5 

33 

6.5 | 

10.6 

11.4 

18.1 

; *9-9 

19.8 

* 3-9 

11.8 

3-8 

5 -* 

IO.I j 

1877 

4.2 

5-4 

4 -* 

9 * 1 

| 11.8 

19.9 

>8.5 

19.0 

S 11.8 

7-9 

7-7 

2 ,s; 

10.2 

1878 

0.8 

! 34 

5 * 1 

10.5 

1 5-3 

1 / *3 

'8.3 

18.4 

* 5 - * 

10.5 

4.6 

-0.3 

9-9 

! 1879 

O.I 

3-7 


8.2 

11 -5 

1 7 *7 

16.6 

* 9-3 

15.2 

8.5 

2-3 

-8 5 

8.3 

1880 

-2.8 

2.4 

7 -i 

10.4 

13 4 

16.2 

19.9 

18.0 

1 5-5 

9-3 

5-4 

9.3 

IO.I 


1 Die zugrunde liegenden Tagesmiltel sind nach der Formel [■''a. in. + 2 h p. in. 
+ 2 (9 h p. m.)] : 4 gebildet. 














Dr. Friedrich Gauder 


Noch Tabelle III 


Jahr¬ 

gänge 

Jan. 

j 

Febr. ( März 

i 

April 

Mai 

Juni 

Juli 

Aug. 

Sept. 

Okt. 

Nov. 

Dez. 

Jahr 

1 

1881 

-3 0 

2.8 

6.8 

8.6 

> 3*7 

17.8 

21.1 

18.2 

» 3*4 

6.0 

7.6 

i *5 

9*5 

1882 

0-5 

2.0 

7.8 

10.0 

14.2 

l6.l 

> 7-4 

16.5 

>37 

10.7 

6-5 

3 *i 

9*9 

1883 

2.0 

4-9 

13 

8.9 

■ 4-7 

18.2 

17.8 

17.6 

14.4 

9.2 

6.1 

2.0 

9.8 

1884 

4.8 

40 

7 -i 

8.3 

14.8 

15.0 

20.6 

18.9 

» 5 » 

9.0 

3-3 

3*5 

10.4 

1885 

— 1.1 

5-5 

4.6 

11.0 

11.7 

I 9 .I 

18.9 

16.5 

14.0 

8.7 

4.9 

0.6 

9*5 

1886 

0.8 

-0.5 

3-5 

11.1 

14.2 

! 5*4 

19.0 

18.7 

16.7 

11.0 

6.4 

2.6 

9*9 

1887 

-2.9 

0.4 

2.6 

9-3 

« 1-3 

,7.8 

21.1 

17.8 

12.6 

6-3 

4 * 1 

0.6 

8.5 

1888 

— 1.0 

—0.1 

4.4 

7.8 

> 4-4 

18.2 

16.1 

16.6 

I4.0 

7.0 

3*8 

0.1 

8.6 

1889 

-0.7 

—0.6 

2.6 

9.0 

16.3 

19.7 

18.2 

17.2 

12.7 

9.2 

3*7 

-0.4 

90 

1890 

3-7 

—0.8 

6.0 

8.8 

>5 1 

* 6-3 

17.2 

1 7 *9 

14.1 

8.1 

4*9 

- 3*4 

i 9.0 

1891 

- 3 -i 

0.8 

5-2 

7.8 

14.0 

17.0 

17.8 

16.8 

13.0 

10.7 

3*7 

3 *o 

9 .» 

1892 

0.2 

2-3 

2.9 

9.6 

14.6 

17.2 

18.3 

20.0 

1 5*4 

8.4 

5.6 

—0.8 

, 9*5 

'«93 

-5.3 

3 ° 

7 -i 

1 2.2 

14-3 

1 7 9 

19.3 

. 9.2 

14.5 

10.9 

3*8 

0.9 

1 10.0 

1894 

— 0.1 

3-8 

6.7 

12.1 

12.9 

16.5 

19.8 

17.4 

12.4 

9*7 

6.4 

1 5 

10.0 

1895 

-34 

-61 

3-3 

1 1.0 

14.2 

1-.8 

19.4 

17.9 

17.5 

8.7 

7 » 

2.4 

9.2 

1896 

°*5 

1 

8.i 

7 9 

1 3-4 

18.4 

19.0 

16.3 

14.4 

9.6 

3*5 

1.4 

; 95 

1897 

—0.6 

5 *o 

8.2 

9.8 1 

12.6 


! 19*2 

1 »8.8 

>3 9 

1 8.8 

3*9 

2.0 

10.1 

1898 

2.3 

3-5 

3.0 

io -3 

* 3-0 

I 7 .() 

17.1 

20.1 

15.11 

1 >*7 

5,6 

: 3 -‘\ 

! IO.4 

1899 

4.1 

3 « 

3-2 ' 

9-3 

1 3-4 

>;•« 

18.9 

» 9-3 

14.8 

8.8 

7*2 


j IO. I 

1900 

3-4 

40 

29 

94 ' 

12.8 

; 18.0 

20.6 

i 18.0 

15.6 

10.3 

5.6 

1 0 

4-1 : 

IO.4 

1901 

-1 -9 

-2.3 

4-3 

10.3 

15.0 

18.2 

> 9*7 

! » 7-8 

14.8 

9*3 

3*5 

3-2 

9.4 

| 

1902 

4.0 

1.8 

C).6 

»i -3 , 

10.5 

16.9 

19.0 

17.6 ; 

14.7 

9.1 

3*2 

1 or 

; 9.0 

1903 

1.9 

3-4 

7.6 

65 

14.0 

16.8 

18.1 

* i •/ , 

>53 

1 >4 

6.0 

0.8 

10.1 

1904 

—0.2 

3*6 

3-3 

11.0 1 

14.6 

■ 1 7*7 1 

21.7 

18.2 

13.2 

9*9 

3*9 

5 <> ! 

10.2 

1905 

- 0.7 

3 * 1 

7-4 

9.4 ; 

> 3*4 

18.9 

- 

21.8 

18.8 

>4 3 : 

6.1 

4.8 

2.4. 

100 

190b 

3-3 

2.2 

4-4 

9.8 1 

14-7 

16.2 i 

>9 3 

I8.9 1 

13.6 

1 *7 j 

: 6.8 

1 

—O. I 

10.1 

1907 

1 2 

0.2 

4-7 

8.2 ' 

« 4*9 

*"* 2 

16.9 ; 

18.7 

' 5 - 8 

II.9 

5*8 

4*3 

10.0 

1908 

— 2.7 , 

3 -o 

4-7 

» • / 

1 3-3 

1 9-4 

19.2 

16.0 

14.0 

8 - 

3*2 

1.1 

* 91 

1909 

-07 

—0.2 

4-7 

10.9 

1 3-4 

15.6 

16.7 

18.5 

13.6 

M .3 

3*4 

4*2 

9-3 

1910 

3-2 

4-7 

3 <> 

9.6 

13.8 

, ' 7 -» 

17*3 

» 7*9 

12-9 

10.9 

1 4*5 

3-6 

10.2 

1911 

-0.3 

29 

(). 2 

9 -° ; 

> 4-3 

1 16.6 

21.9 

21.8 | 

16 4 ; 

9-9 

6.4 

4*8 ; 

; »0.8 

1912 

2.0 

3.0 

9.0 

90 

14.8 

18.0 

1 9-5 

15.5 

10 . 2 ! 

8.2 

: 4*2 

3-6 

99 

1913 

2-3 

3 -' 

8.<> 

9-7 

> 4*7 

i •' 

160 

16.9 

>3 9 

10.8 

8.6 

2.6 

10.4 

"'M 

- 2 - 5 

3-8 

/ • 2 

1 2.2 

12.4 

1 0 

18.7 | 

18.6 

13.6 

9.1 

4*3 


1 

















Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe 


79 


1801 —1850 zu Tabelle III 

Älteste Monats- und Jahresmittel der Temperatur 

















8o 


Dr. Friedrich Gautier 


Tah iv Mitteltemperatur 1 von je 5 Wintern und Sommern 


! Jahre 




Jahre 



'851-55 

I.I 

18.2 


1880—84 

1.6 

18.0 

1852—36 

1.0 

18.2 


1881—85 

2.2 

17-9 

•853-5; 

0.7 

18.4 


1882—86 

2.2 

17-9 

1854—58 

O.4 

18.7 


1883—87 

1.9 

18.0 

■855—59 

O.7 

19.1 


1884—88 

1 *3 

18.0 

1856 60 

1.0 

19.1 


1885 — 89 

0.6 

17.9 

1857 —€> I 

I .O 

19.1 


1886—90 

0.1 

17.8 

1858 - 62 

1.2 

18.9 


1887—91 

-0.1 

1 7.7 

1859—64 

1.4 

18.6 


1888—92 

—0.1 

17.8 

1860—64 

i -3 

18.4 


1889—93 

0.1 

1 7-9 

1861 —65 

1.2 

18.4 


1890—94 

0. i 

18.0 

1862- — 66 

1.5 

18.3 


1891-95 

0.0 

18.2 

1863 -67 

1.8 

18.3 


1892—96 

0.2 

18.3 

1864 — 68 

2.0 

18.4 


'« 93 - 97 

°-5 

18.4 

1865—09 

2.4 

18.4 


I 894-98 

0.9 

18.4 

1866 — 7° 

2.3 

18.4 


1895 -99 

1.6 

18.4 

1867 — 7 1 

1.7 

18.3 


1896—00 

2.1 

18.5 

1868 — 72 

1.2 

18.2 


1897 - 01 

2.2 

18.6 

1869—73 

1.0 

18.3 


1898 — 02 

2.2 

18.4 

1870- 74 

0.8 

18.4 


1899 -03 

2.2 

18.4 

1871-75 

0.8 

18.6 


1900 - 04 

1.9 

18.4 

1872 -76 

1.2 

18.8 


1901—05 

1.9 

18.4 

1 * s r 3—rr 

1.7 

19.0 


1902 — 06 

2.0 

18.4 

1874 -78 

1.8 

18.9 


1903-07 

1.9 

18.5 

1X75 —79 

1.6 

18.7 


1904—08 

1.6 

18.4 

1870—80 

1 *3 

18.5 


1 1905- 09 

1.5 

18.1 

1S77- 81 

1.2 

18.3 


1906 - 10 

1.6 ! 

' 7-9 

1878-82 

1.0 

18.0 


1907 — 1 1 

1.8 

18.0 

i« 79-«3 

1 -° 

1 7 ■') 


1908 - -12 

2.2 

18.0 





190913 

26 

. 7-8 


Anhang: Differenz der Morgentemperatur vom Tagesmittel 
im Monatsdurchschnitt: (C°) 


1 

1 886— 1890^ 1891 — 1 895 1896—1900 1901 —1905 

Unterteil ted 
( 86 - 95 ) zu <96*051 

! Ap.il . 

2.9 

3-6 

2.6 

2.8 

+ 0.7 

I Mai. 


2-3 

-i 

2.8 

-°*3 

; Juni. 

1.9 

2. I 

2.6 

2.7 

—0.6 

| Juli. 

1.0 

2.0 

2.4 

2.9 

-0.7 

August .... 


2.5 

2.0 

2.6 

-0.3 | 

September 

2.0 

3-2 

2 6 

2.7 

+0.4 


1 Duichsdinitt über Mittel b tt. Mittel ausgeglichen nach Formel [(m — l) 
+ 2 m + im +1)]: 4. 

























Pentoden-Mittel. Reihe a= 1851—1880, b = 1881 —1910, c= 1851 —1910. Tal). 


Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe 


81 



Verhandlungen 26. Bd, 


6 




























C° j Januar-Februar] März April Mai Juni 1 Juli August jSeptemjOktoberNovemb-jOezemb. 



Positive und negative Abweichung der Monatsmittel. 



Zum 100. Geburtstag* von Robert Mayer. 

Von O. Lehmann. 

Hundert Jahre sind verflossen, seit der Arzt Robert Mayer in 
Heilbronn das Licht der Welt erblickte, der Entdecker eines funda¬ 
mentalen Gesetzes, das die bis dahin getrennten Kapitel der Physik 
in innigen Zusammenhang brachte und die Entwicklung der Physik 
sowohl wie der Technik außerordentlich gefördert hat. Die Tech¬ 
nische Hochschule seines Heimatlandes hatte die Absicht, in Ver 
bindung mit dem Verein Deutscher Ingenieure diese Jahrhundert¬ 
feier durch einen großen Festakt zu begehen, zu welchem auch zahl¬ 
reiche Gäste von auswärts eingeladen werden sollten. Die von Herrn 
Professor Dr. Weyrauch herausgegebene, sehr reichhaltige Fest¬ 
schrift *, der ich manches für den heutigen Vortrag entnehme, ist be¬ 
reits erschienen, das Fest mußte leider des Krieges halber ausfallen. 

Wenn es uns heute möglich ist, wenigstens in kleinem Kreise der 
Verdienste Robert Mayers zu gedenken, so verdanken wir das den 
Tapferen, die unter unsäglichen Strapazen, Entbehrungen und Lei¬ 
den, stets vom Tode bedroht, treue Wacht halten an den Grenzen 
unseres Vaterlandes gegen das Eindringen übermächtiger Feinde, 
welche getrieben durch Neid und Mißgunst, Habsucht und Herrsch¬ 
sucht unsern durch langjährige fleißige Arbeit geschaffenen Wohl¬ 
stand, ja unsere Existenz zu vernichten streben. 

Dieser unserer Helden im Felde wollen wir vor allem mit inni¬ 
gem Dank für ihr Wirken gedenken. Doch wir wollen auch nicht ver¬ 
gessen derjenigen, die durch verborgene, aber äußerst schwierige 
und aufreibende wissenschaftliche Geistestätigkeit und scharfsinnige 

1 Robert Mayer, zur Jahrhundertfeier seiner Geburt, Stuttgart, K. Wittwer, 
1915. Siebe ferner Fr. Dürr, Schwäbische Chronik, 2i.No\\, Nr. 545 u. R. Lorenz, 
Julius Robert Mayer, Gedächtnisrede zum 100. Geburtstage, Jahib. d. Frankfurter 
physikalischen Vereins. 


6 * 




8 4 


O. Lehmann 


Verwertung ihrer Ergebnisse zur Förderung der Technik dazu bei¬ 
getragen haben, die Rüstung Deutschlands derart zu verstärken, 
daß trotz der großen Übermacht der Gegner nicht nur deren Einfall 
in unser Gebiet verhindert, sondern sogar der Krieg in ihr eigenes 
Land getragen werden konnte. 

Zu diesen gehört im weiteren Sinne auch unser Robert Mayer, 
dem leider nicht vergönnt war, zur rechten Zeit die gebührende An¬ 
erkennung seiner Erfolge zu finden. 

Das Problem, dessen Lösung Robert Mayer gelungen ist, ist 
im Grunde so alt wie die Physik selbst. Bekanntlich hat diese ihren 
Ausgang genommen von der Astrologie der alten Magier oder Prie 
ster in Babylonien und Ägypten 1 vor etwa 6000 Jahren. Auf Grund 
genauer Beobachtung der Bewegung der Gestirne vermochten die 
Magier bereits Sonnen- und Mondfinsternisse vorherzusagen. Aber, 
warum bewegen sich die Sterne regelmäßig? Warum bleibt ihr Be¬ 
wegungszustand immer erhalten? 

Aristoteles, der griechische Philosoph, der im 4. Jahrhundert 
v. Chr. die Bezeichnung „Physik“ geschaffen hat, gab die Antwort: 
Weil die Sterne auf ihrer Bahn nicht gelenkt werden durch willkür¬ 
lich schaltende Gottheiten, wie die Astrologen angenommen hatten, 
sondern weil die kreisende Bewegung, die sie ausführen, eine natür¬ 
liche ist und deshalb wegen Mangels eines Grundes immer erhalten 
bleiben muß, sofern sie nicht durch ein Hindernis aufgehalten oder 
abgeändert wird. 

Die Erkenntnis des Domherrn Kopernikus in Frauenburg im 
Jahre 1507, daß die Bewegung der Sterne nur eine scheinbare ist, in 
Wirklichkeit vielmehr die Erde sich wie ein großer Kreisel immer 
gleichmäßig um ihre Achse dreht, war geeignet, des Aristoteles 
I.ehre von der Erhaltung der kreisenden Bewegung 
zu stützen. Doch bereits 100 Jahre später erkannte Galilei, der Pro¬ 
fessor der Physik in Pisa, der eifrigste Verfechter der kopernika- 
nisehen Theorie, die Unhaltbarkeit der Aristotelischen Auffassung. 
Seinem neuen Trägheitsgesetz zufolge ist die natürliche Bewegung 
diejenige, die immer erhalten bleibt, wenn keine störende Ursache 
hinzukommt, nicht die kreisende, sondern die geradlinige. 

1 ^ gk J- Fr ick 11. O. Lehmann, Physikalische Technik, 7. Aufl. Bd. I (2) 
S- t»33 u. ff. Braunschweig 1905, ferner meine Schriften: Physik u. Politik, Rektorats¬ 
rede Karlsruhe 1901 und Geschichte des physik. Instituts d. techn. Hochschule, Fest¬ 
gabe der Fridcriciana zur 83. Vors, deutscher Xaturf. u. Ärzte, Karlsruhe 1911. 



Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer 

Ein Wagen oder Eisenbahnzug auf horizontalem Geleise, bei 
welchem die Triebkraft gerade durch die Reibung der Räder kom¬ 
pensiert wird, bewegt sich, wie uns heute ganz geläufig ist, mit 
gleichmäßiger Geschwindigkeit immer weiter, soweit das Geleise 
geradlinig ist. Aber selbst, wenn er an einer Kurve durch den elasti¬ 
schen Gegendruck der Schienen genötigt wird, die geradlinige Bahn 
zu verlassen und ein Stück eines Kreises zu durchlaufen, bleibt seine 
Geschwindigkeit erhalten. 

Gleiches gilt für eine abgeschossene Kanonenkugel. Wie der 
Wagen besitzt diese vermöge ihres Bewegungszustandes, den sie zu 
erhalten sucht, eine Kraft, vermöge deren sie Hindernisse über 
winden, z. B. eine Mauer durchbrechen kann. Leibniz führte im 
Jahre 1695 für diese Kraft die Bezeichnung „lebendige Kraft“ ein, 
im Gegensatz nur „toten Kraft“, die dieselbe Kugel als Druck auf 
den Boden ausübt, wenn sie zur Ruhe gekommen ist. 

Damit setzte er sich freilich in Widerspruch zu Galilei, Descar- 
tes (1644) und Newton (1687), nach welchen es nur eine Art 
Kraft gibt, die stets gemessen wird durch das Produkt der Stoff¬ 
menge oder Masse mit der erzielten Beschleunigung, während das 
Maß der lebendigen Kraft das halbe Produkt von Masse mal Qua¬ 
drat der Geschwindigkeit ist. 

Lebendige und tote Kraft sind also ganz verschiedene Begriffe. 
Sie sollten nicht mit dem gleichen Wort bezeichnet werden. Spricht 
man aber doch von lebendiger Kraft, so kann man das Galileische 
Trägheitsgesetz auch das Gesetz von der Erhaltung der le¬ 
bendigen Kraft nennen, welche freilich nur so lange Bestand 
hat, bis eine störende Ursache hinzutritt. 

Galilei, der Erfinder der Pendeluhr, hat erkannt, daß bei einem 
Uhrwerk die Bezeichnung tote Kraft für den Zug der Gewichte 
nicht immer passend ist. Völlig tot ist sie eben erst nach dem Ab¬ 
lauf der Gewichte. 1 Gleiches trifft für eine aufgezogene Feder zu. 
Durch allerlei Mechanismen, wie Räder und Hebel, ist man im¬ 
stande, die scheinbar tote Kraft unter Erhaltung ihrer Größe auf 
andere Körper zu übertragen. Falls sich dabei eine Änderung der 
Größe ergibt, so bleibt doch das Produkt von Kraft und Weg immer 
erhalten, welchen wichtigen Satz die Mechanik als „goldene Regel ‘ 
bezei ebnete. 

1 Der Vortrag wurde begleitet von Demonstrationen zahlreicher Apparate und 
Maschinen, auf welche hier der Kürze halber nicht eingegangen wird. 



86 


O. Lehmann 


Job. Bernoulli hat im Jahre 1742 für das genannte Produkt von 
Kraft und Weg die Bezeichnung ,,Arbeitsfähigkeit“ eingeführt, so 
daß man die goldene Regel als das „G e s e t z der Erhaltung 
d e r A r b e i t s f ä h i g k e i t“ bezeichnen könnte. 

Bernoulli erkannte weiter, daß in manchen Fällen, z. B. beim 
Schwingen des Uhrpendels, diese Arbeitsfähigkeit sich in lebendige 
Kraft umsetzt und alsbald wieder aus dieser aufs neue entsteht, 
derart, daß in jedem Moment die Summe beider Größen die¬ 
selbe ist. Für das Pendel und ähnliche Vorrichtungen konnte man 
dann ein erweitertes „Gesetz der Erhaltung der K r a f t“ 
aufstellen, indem man unter Kraft die Summe von lebendiger Kraft 
und Arbeitsfähigkeit (Spannkraft) verstand. 1 

Das Wort ,,Kraft“ in dieser Bedeutung gebraucht, ist ein ganz 
anderer Begriff als der von Galilei, Newton und Descartes so be- 
zeichnete. Die sich darum ergebende Verwirrung wurde noch ver¬ 
größert dadurch, daß J. Watt, der Erfinder der Dampfmaschine, 
etwa 1770, einen dritten Begriff, den der Leistung, die gemessen 
wird durch das auf eine Sekunde entfallende Produkt von Kraft und 
Weg, einfach als ,,Kraft“ bezcichnete. Die Leistung einer Kraft 
gleich dem Gewicht von 75 Kilogramm, wenn sich ihr Angriffspunkt 
mit der Geschwindigkeit von 1 Meter in der Sekunde bewegt, 
nannte er ,,Pferdekraft“, weil sie ungefähr der Leistung eines Pfer¬ 
des entspricht. S. Carnot bezeichnete 1824 das Produkt von Kraft 
mal Weg als „Arbeit“. Die elektrotechnische Einheit derselben wird 
als Joule 2 bezeichnet, die Einheit, d. h. eine Arbeit von 1 Joule pro 
Sekunde als 1 Watt. 1000 Watt sind ein Kilowatt; dieses wird 
jetzt vielfach an Stelle der Pferdekraft als Effekteinheit gebraucht. 

Die feinere Mechanik des Mittelalters hatte sich namentlich mit 
der Herstellung von Uhrwerken zum Betrieb von Automaten (be¬ 
weglichen Puppen) befaßt. Ein sich selbst aufziehendes Uhrwerk, 
ein perpetuum mobile wäre dabei außerordentlich dienlich gewesen 
und seine Erfindung erschien als das höchste zu erstrebende Ziel. 

1 Helmhol tz ersetzte aus diesem (irunde später das Wort ,,Arbeitsfähigkeit“, 
das aber auch heute noch gebräuchlich ist. durch das Wort ..Spannkraft“. Mavcr 
nannte sie ,,Fallkraft“. 

' Dies ist die Arbeit einer De/imagradvne, d. h. der Kraft, die der Masse i kg 
die Re^chlcunigung I erteilt; siehe O. Lehmann, Leitfaden der Physik, Vorwort 

S. 7 und Zeitschr. f. Instmmentenkunde 33, 270, 1013; R. de Rai lieh acht, Rev. 
gen. des Sciences 24, 17, 1013 u. La tcchnitjuc moderne 6, 3Ö9, f«) 14• 



Zum (Oo. Geburtstag von Robert Mayer 


«7 


Schließlich erkannte man die Unmöglichkeit eines Erfolges, die für 
gewöhnliche Uhrwerke eben bereits in dem Satz von der Erhaltung 
der Kraft (richtiger der Arbeitsfähigkeit) ausgesprochen ist. Die 
Unmöglichkeit des perpetuum mobile wurde ein physikalischer Lehr¬ 
satz. Bereits Stevin hatte 1605 daraus auf sehr einfache Weise das 
Gesetz der schiefen Ebene abgeleitet. Schlingt man nämlich um 
zwei gleich hohe schiefe Ebenen verschiedener Neigung, die den 
höchsten Punkt gemein haben, eine geschlossene Kette und wäre das 
Gesetz der schiefen Ebene nicht richtig, so würde die Kette ent¬ 
sprechend der Differenz der entgegengesetzten Kräfte beständig um¬ 
laufen, man hätte ein ganz einfaches perpetuum mobile 

Obschon nun das Gesetz von der Erhaltung der Kraft im 
Grunde mit dem Axiom von der Unmöglichkeit der perpetuum mo¬ 
bile identisch schien, zeigten sich doch auffallende Ausnahmen. Die 
lebendige Kraft einer Kanonenkugel, beispielsweise, wird anschei¬ 
nend völlig zerstört, wenn die Kugel auf ein mächtiges Hindernis 
auftrifft. 

Der erste, der klar erkannte, daß diese Zerstörung nur 
eine scheinbare ist, daß die lebendige Kraft sich ge¬ 
wissermaßen nur versteckt, in Wirklichkeit weiterexistiert als le¬ 
bendige Kraft der Bewegung unsichtbarer Moleküle, wie solche be¬ 
reits Daniel Bernoulli 1738 zur Erklärung des Verhaltens der Gase 
angenommen hatte, war der bayerische Kriegsminister Graf Rum¬ 
ford 1 (ursprünglich ein amerikanischer Lehrer namens Thomson). 
Beim Besuche von Artilleriewerkstätten 1798 fiel diesem näm¬ 
lich die starke Erhitzung von Kanonenrohren beim Ausbohren auf, 
wenn der Bohrer stumpf war. Im Grunde war das nichts Neues, 
denn die Entzündung eines rasch gedrehten Holzstabes bei starker 
Reibung an einem Widerlager wurde schon in sehr alten Zeiten zum 
Anmachen von Feuer benutzt, wenn eine andere Möglichkeit fehlte. 
Rumford konstruierte aber eine Vorrichtung, die wir heute Wasser¬ 
kalorimeter nennen würden, mit der ihm gelang, nachzuweisen, daß 
ohne merkliche Materialabnutzung beliebig viel Wärme gewonnen 
werden kann, wenn nur ausreichender Vorrat von Arbeitsfähigkeit 
(er verwandte Pferde zum Antrieb der Maschine) vorhanden ist und 
verbraucht wird. Augenscheinlich ging, wie bemerkt, die sichtbare 
Bewegung in unsichtbare über; cs war anzunehmen, daß auch für 
diesen Übergang das Gesetz der Erhaltung der lebendigen Kraft 

1 Rumford, Trans. Roy. Soc. London 88, 25. Jan., 1798. 



88 


O. Lehmann 


seine Gültigkeit behalte. Der Fall der plötzlich durch ein Hindernis 
in ihrem Lauf aufgehaltenen Kanonenkugel ist also kein Beweis für 
eine Verletzung des Gesetzes; auch hier geht offenbar, wie auch die 
Erhitzung der Kugel erkennen läßt, die lebendige Kraft sichtbarer 
Bewegung in solche unsichtbarer Molekularbewegung über. Daß 
auch der umgekehrte Übergang stattfinden könne, erkannte er daran, 
daß ein blind geladenes Geschütz sich stärker erwärmt als ein scharf 
geladenes, was offenbar so zu deuten war, daß ein großer Teil der 
durch Verbrennung des Pulvers beim Abfeuern entstandenen Wärme 
verbraucht wird, um der Kugel ihre lebendige Kraft zu erteilen. Es 
handelt sich um einen Übergang der lebendigen Kraft der Moleküle 
des Pulverdampfs auf die Kugel unter Erhaltung ihrer Menge. Die 
um jene Zeit erfundene Dampfmaschine schien gleiches zu beweisen. 

Eine Verallgemeinerung der Vorstellungsweise lag nahe und 
bereits 1837 sprach sich der Professor der Pharmazie in Bonn Er. 
Mohr 1 aus wie folgt: ,.Außer den bekannten 54 chemischen Ele¬ 
menten gibt es in der Natur der Dinge nur noch Ein Agens, und 
dies heißt Kraft; es kann unter den passenden Verhältnissen als 
Bewegung, chemische Affinität, Kohäsion, Elektrizität, Licht, Wärme 
und Magnetismus hervortreten, und aus jeder dieser Erscheinungs¬ 
arten können alle übrigen hervorgebracht werden. Dieselbe Kraft, 
wenn sic den Hammer hebt, kann, wenn sie anders angewendet wird, 
jede der übrigen Erscheinungen hervorbringen.“ 

M. Planck 2 bemerkt dazu: „Man sieht, es ist nur noch ein 
Schritt bis zur Frage nach dem gemeinschaftlichen Maß aller dieser 
als gleichartig erkannten Naturkräfte.“ Dieser Schritt nun wurde 
zuerst getan von Robert Mayer im Jahre 1841. Er erkannte den 
Fehler in Mohrs Vorstellungswcise (zunächst allerdings noch nicht 
mit voller Sicherheit), der in der Verwechslung von Galilei-Newtons 
Kraftbegriff mit dem Leibnizschen beruhte, weshalb eben Mohrs 
Hypothese keinen Glauben fand, da sie in dieser Hinsicht leicht be¬ 
stritten werden konnte. Er hat später auch direkt mit Mohr darüber 
korrespondiert und drückt sich dabei in drastischer Weise in folgen¬ 
den Worten aus: ..Den unproduktiven (Galilei-Newtonschen) 

Druck haben wir umsonst, die (Leibnizsche) Kraft aber, das so¬ 
genannte Kilogrammeter kostet immer Geld.“ ' 5 

1 Kr. Mohr, Arm. < 1 . Pharm. 24. 14 r, 1837. 

- M. Planck, Pas Prinzip d. Erhaltung; d. Energie. 3. Aufl. 1913, S. 24. 

51 Pie eingeklammerten Worte sind von mir beigefügt. L. 



Zum ioo. Geburtstag von Robert Mayer 


89 


Vermutlich hatte er als Sohn eines Apothekers Kenntnis erhal¬ 
ten von dem drei Jahre zuvor in einer pharmazeutischen Zeitschrift 
erschienenen Artikel von Fr. Mohr. Auch die Versuche von Rum¬ 
ford, der öfters nicht weit von Heilbronn, in Mannheim und auch 
hier in Karlsruhe in unserem physikalischen Institut (gemeinsam 
mit dem damaligen Physiker Boeckmann) tätig war, mußten ihm 
wohl bekannt sein. Von den Bestrebungen zur Herstellung eines 
perpetuum mobile hatte er schon als Knabe gehört, auch hatte er 
selbst einen mißglückten Versuch gemacht, ein solches herzustellen. 
Gelegenheit äußerte er sich, gerade die Erkenntnis der Unmöglich¬ 
keit, ein perpetuum mobile herzustellen, habe ihn zur Auffindung 
der Äquivalenz von Arbeit und Wärme geführt. In einem Briefe 
an den Psychiater Griesinger 1842 schreibt er: ,,Meine Behaup¬ 
tungen können alle als reine Konsequenzen aus diesem Unmöglich¬ 
keitsprinzip betrachtet werden. Leugnet man nur einen Satz, so 
führe ich gleich ein perpetuum mobile auf/ 4 

Freilich, die damaligen Physiker waren anderer Ansicht. Trotz¬ 
dem alle Einwendungen gegen Rumfords mechanische Theorie der 
Wärme in klarer Weise zurückgewiesen waren, hielt man immer noch 
an der alten Stofftheorie der Wärme fest, die die Wärme als ein 
feines (allerdings unwägbares) Fluidum betrachtet, weil sie von 
heißen zu kalten Stellen, d. h. von Stellen großer zu solchen geringer 
Dichte abfließt, wie etwa die Luft von Stellen hohen zu solchen ge¬ 
ringen Barometerstandes. Der Ingenieur Sadi Carnot in Paris war 
im Jahre 1824, ebenfalls ausgehend von der Unmöglichkeit eines 
perpetuum mobile, zu ganz anderen Ergebnissen als Graf Rumford 
gekommen, über welche er in einer Schrift 1 berichtete, die großes 
Aufsehen erregte und bezüglich deren der berühmte englische Physi ¬ 
ker Lord Kelvin sagte, ,,er habe im ganzen Gebiete der Wissenschaft 
nichts bedeutenderes als diese Schrift gefunden/ 4 Carnot hat sich 
geäußert: ,,Die Arbeitserzeugung in unseren Dampfmaschinen ist 
also zurückzuführen nicht auf einen wirklichen Ver¬ 
brauch an Wärme, sondern auf ihren Übergang von einem 
warmen zu einem kalten Körper/ 4 Er hat die Arbeit einer Dampf¬ 
maschine mit der eines Wasserrades (Wassermotor), verglichen, bei 
welcher ebenfalls die Wascrmenge ungeändert bleibt. Ebenso wie 


1 Sadi Carnot, Rcflexions sur la puissance motrice du feil et sur les machines 
propres a developper cettc puissance, Paris 1824. 



9 ° 


O. Lehmann 


bei diesem die Arbeit durch das Produkt der Menge des Wassers 
mit dem Gefälle, um welches es heruntersinkt, gemessen wird, sei die 
Arbeit einer Dampfmaschine proportional dem Produkt der durch 
sie hindurchgehenden Wärmemenge mit dem Temperaturgefälle, 
um welches sie herabsinkt. Selbst der Ingenieur Hirn, der später 
besonders sorgfältige Messungen des mechanischen Wärmeäquiva¬ 
lents bei Dampfmaschinen ausgeführt hat, war noch 1858 der Mei¬ 
nung, eine expansionslos arbeitende Dampfmaschine könne ohne 
Aufwand von Wärme Arbeit leisten. 

Viel früher, nämlich schon 1832, hat übrigens Sadi Carnot selbst 
seinen Irrtum eingesehen, doch hat er dies nicht öffentlich bekundet, 
sondern nur in einem unveröffentlichten Privatbriefe. Die Physiker, 
die von diesem Brief nichts wissen konnten, blieben natürlich der 
Meinung, durch Sadi Carnots hervorragende Arbeit seien die Ver¬ 
suche von Rumford in exakter Weise widerlegt, die Stofftheoric der 
Wärme sei endgültig als die richtige zu betrachten. 

Robert Mayer ist wohl durch Carnots Theorie nicht beeinflul.it 
worden; sehr wesentlich dürfte aber auf seinen Gedankengang die 
um jene Zeit sich vollziehende Einführung der Eisenbahnen ein¬ 
gewirkt haben. In seinem ersten Aufsatze 1 (1842) schreibt er: 
,,Die unter dem Kessel (einer Lokomotive) angebrachte Wärme geht 
in Bewegung über und diese setzt sich wieder an den Achsen der 
Räder als Wärme in Menge ab.“ 

Im gleichen Jahre äußerte er sieh in einem Briefe an Griesinger: 
..Ob wir schnell oder langsam verbrennen, ob im offenen oder im 
Raum der Maschine, ist für das Endresultat, für das durch den Ver¬ 
brennungsprozeß gelieferte Wärmequantum gleichgültig; lassen wir 
aber mit unserer Kohlcnmenge die Maschine arbeiten und (die) Ge¬ 
wichte heben, so wird ein geringeres Wärmequantum als vorher ge¬ 
liefert; der Ausfall wird aber präzis wieder gedeckt, wenn wir den 
mechanischen Effekt, den die Gewichte durch das Herabsinken lie¬ 
fern, zur Wärmeproduktion verwenden.“ - 

Drei Jahre später in seinem zweiten Aufsätze drückt er sich 
aus: ..Die in den Lokomotiven wirksame Kraft ist die Wärme. Der 

1 Oie Mechanik der Wärme in gesammelten Schriften von Rob. Mayer mit 
historisch - literarischen Mitteilungen herausgegeben v. Weyrauch, Stuttgart, Cotta 
1803, S. 20. 

- Kleinere Schriften und Briefe von Kob. Mayer, nebst Mitteilungen aus 
seinem Leben; leide herausgegeben von Weyrauch, Stuttgart 1893, Cotta, S. 187. 



Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer gi 

Aufwand von Wärme oder die Verwandlung der Wärme in Bewe¬ 
gung beruht nun darauf, daß die Wärmemenge, welche von den 
Dämpfen aufgenommen wird, fortwährend größer ist als die, welche 
von den Dämpfen bei ihrer Verdichtung an die Umgebung wieder 
abgesetzt wird. Die Differenz gibt die nutzbar verwendete oder die 
in mechanischen Effekt verwandelte Wärme.“ 1 

„Damit, sagt Weyrauch mit Recht, war die wichtigste Grund¬ 
lage der heutigen Theorien aller Wärmemotoren gegeben.“ 

Freilich für das volle Verständnis war überdies auch Carnots 
Gedankengang zu berücksichtigen, der aber Robert Mayer fremd 
war, so daß dessen Versuche, den Wirkungsgrad von Dampfmaschi¬ 
nen zu bestimmen, zu keinem befriedigenden Ergebnis führten. 

Vortrefflich waren Robert Mayers populäre Darlegungen über 
die Bedeutung der Übertragbarkeit und gegenseitigen Verwandel¬ 
barkeit der verschiedenen Energieformen. Er beschreibt die Über¬ 
tragung der potentiellen Energie mittelst des Hebels, die Umwand 
lung derselben in Bewegungsenergie durch Stoß und Reibung, die 
Rückumwandlung der Bewegungsenergie in Energie der Lage beim 
Pendel, die Entstehung von Wärme aus Bewegungsenergie und 
Lichtenergie; die Rückumwandlung von Wärme in Bewegungsener¬ 
gie durch die Dampfmaschine, in Lichtenergie durch einen glühen¬ 
den Körper, die Übertragung der Wärme durch Leitung, die Um¬ 
setzung von Wärme in chemische Energie und deren Rückumwand¬ 
lung bei der Verbrennung, die Übertragung elektrischer Energie, die 
Entstehung derselben aus Bewegungsenergie beim Emporheben des 
Deckels eines Elektrophors, die Umwandlung in Wärme beim gal¬ 
vanischen Glühen, die Umwandlung in Bewegung bei elektrischen 
und magnetischen Anziehungen und Abstoßungen, die Umsetzung in 
elektrische Energie von anderer Spannung durch Induktion, die Um¬ 
setzung von Wärme in elektrische Energie mittelst der Thermo- 
säule usw. Die Sonnenwärme ist es nach Ansicht von Robert Mayer, 
welche das Wasser als Dampf zu Wolken hebt, damit Quellen und 
Flüsse speist, Mühlen und Schiffe treibt und die Strömungen in der 
Atmosphäre, die Winde, hervorbringt, die ebenfalls wieder durch 
Windmühlen und die Segel der Schiffe zur Erzeugung von Bewe¬ 
gung anderer Art nutzbar gemacht werden können. 

Die Sonnenwärme ist es ferner, welche in den Pflanzen chemi¬ 
sche Vorgänge hervorruft, durch welche die Wärme latent wird, um 

1 Die Mechanik der Wärme usw. S. 52. 



O. Lehmann 


9 = 

wieder zum Vorschein zu kommen, wenn die Pflanzenmasse, das 
Holz oder die daraus entstandene Kohle verbrannt wird. Wenn wir 
den Kessel der Dampfmaschine heizen, verwandeln wir die auf- 
gespeicherte latente Sonnenwärme in Heizwärme und diese dann in 
die mechanische Arbeit der Maschine. Das Licht einer Öllampe 
oder Stearinkerze ist im Grunde ebenso nur frei werdende aufge¬ 
speicherte Sonnenwärme. Der enorme fortwährende Verlust der 
Sonne an Wärme wird gedeckt durch die lebendige Kraft der im¬ 
merfort hineinstürzenden Meteorsteine und die Kontraktion der 
Sonnenmasse. 1 Die Erdwärme kann zum Teil aus Gravitations¬ 
energie entstehen, da sich die erkaltende Erde zusammen¬ 
zieht, auch üben Ebbe und Flut eine Bremswirkung auf 
die Achsendrehung der Erde aus, erzeugen also Wärme aus Be¬ 
wegungsenergie. „Es gibt nur eine Kraft, sagt Robert Mayer, welche 
die ganze Welt beiebt und zusammenhält. Wärme, Licht, Mag¬ 
netismus, Elektrizität, mechanische Arbeit und chemische Vorgänge 
sind nur verschiedene Erscheinungsformen ein und derselben 
Einheit.“ 

Im Grunde hatte hieran schon Fr. Mohr gedacht; erst Robert 
Mayer aber gelangte zu klarer Auffassung des Energiebegriffs, zur 
Erkenntnis seiner Verschiedenheit vom Newtcnschen Kraftbegriff. 
..Das Wort Kraft“, sagt er, „wird in zwei verschiedenen Bedeu¬ 
tungen gebraucht: 1. Man versteht darunter jeden Druck oder Zug, 
jedes Bestreben eines trägen Körpers, seinen Zustand der Ruhe oder 
Bewegung zu ändern, und wird dieses Bestreben für sich und unab¬ 
hängig vom Erfolge betrachtet; 2. in einem andern Sinne heißt 
„Kraft“ das Produkt des Druckes in den Wirkungsraum, oder auch 
das halbe Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit“. 
Er bezeichnet es als eine Sisyphusarbeit, die Unterscheidung in 
Einzeb’ällcn durchzuführen und hält deshalb für geboten, das Wort 
Kraft entweder ganz zu vermeiden oder es nur für die eine der bei¬ 
den Kategorien zu gebrauchen. Tatsächlich war die Einführung des 
\Y ortes Energie statt lebendiger Kraft dem Verständnis außer 
ordentlich förderlich und Robert Mayer wäre wohl auf weniger Wi¬ 
derstand gestoßen, wenn er selbst diesen Schritt der Einführung 
einer neuen Bezeichnung unternommen hätte. 


1 Heute nimmt man an, <laH auch radioaktive Substanzen eine wesentliche Rolle 
dabei spielen. 



Zum 100 . Geburtstag von Robert Mayer 


93 


Sehr wesentlich ist ferner, daß Robert Mayer als erster es unter¬ 
nommen hat, zahlenmäßig festzustellen, welches Quantum lebendi¬ 
ger Kraft nötig ist zur Erzielung einer Wärmeeinheit, sowie nach¬ 
zuweisen, daß genau ebensoviel lebendige Kraft gewonnen wird, 
wenn eine Wärmeeinheit verschwindet. 

Durch Versuche über die Erwärmung der Holländer in einer 
Papierfabrik kam er zu einer ungefähren Bestimmung des mechani¬ 
schen Wärmeäquivalents. Sein im Jahre 1814 ausgeführter Versuch 
war ganz dem des Grafen Rumford nachgebildet. Er verfügte natürlich 
nicht über gleich bedeutende Mittel; auch, als vielbeschäftigter Arzt, 
nicht über die nötige Zeit. Da ferner kein Universitätsinstitut in 
Heilbronn existierte, welches ihm hätte eine Arbeitsstätte gewähren 
können, war die Beschaffung der Apparate keine leichte Sache. 
Über den ersten ausgeführten Apparat berichtet er 1849 in der Bei¬ 
lage zur ,,Augsburger Allgemeinen Zeitung“ wie folgt: ,,Der zu 
diesen Versuchen erforderliche Apparat, wie ich einen solchen durch 
Herrn Mechanikus Wagner hier habe verfertigen lassen, besteht im 
wesentlichen aus einem metallenen Zylinder, in welchem sich Was¬ 
ser befindet, das mittelst eines Pumpenstiefels durch eine enge Öff¬ 
nung hindurchgepreßt und dadurch erwärmt wird. Wenn man nun 
die so hervorgebrachte Wärmemenge mit dem gleichzeitig stattfin¬ 
denden Arbeitsverbrauche vergleicht, so hat man damit das wich¬ 
tigste naturwissenschaftliche Problem der Jetztzeit gelöst.“ 

Später verwandte er eine der Rumfordschen Anordnung noch 
mehr entsprechende Apparatur zur Bestimmung des Effekts von Ma¬ 
schinen. Er schreibt darüber: 1 Die ursprüngliche Idee, die Um¬ 
wandlung der Arbeit in Wärme vermittelst einer Druckpumpe zu be¬ 
wirken, wurde durch Herrn Zech (Direktor der Maschinenfabrik in 
Heilbronn, der die Ausführung des Apparats übertragen war) sehr 
zweckmäßig dahin modifiziert, zu diesem Ende eine Bremse anzu¬ 
wenden, welche in einem mit Wasser gefüllten Kasten läuft. Wenn 
man nun, was leicht geschieht, die in einer gewissen Zeit auf Kosten 
der Arbeit produzierte Wärme mißt, so ergibt sich hieraus sogleich 
die von dem Motor gelieferte Anzahl von Meterkilogramm oder 
Pferdestärken.“ 

Die vollständige Lösung des Problems verlangte allerdings wei¬ 
ter den Nachweis, daß sich auch in andern ganz anders gearteten 


Die Mechanik der Wärme usw. S. 348. 



94 


O. Lehmann 


Fällen der Umsetzung von Arbeit in Wärme sich die gleiche 
Zahl ergibt. Dies hat bald darauf (1843) J. P. Joule 1 (ein reicher 
Brauereibesitzer in der Nähe von Manchester), mit großen Mitteln 
durchgeführt. Lange Zeit wurde deshalb dieser (speziell in Eng¬ 
land) zu Unrecht als der eigentliche Entdecker des mechanischen 
Wärmeäquivalents betrachtet. 

Sehr originell und überaus scharfsinnig war die Art, wie Ro¬ 
bert Mayer (1842) die zweite Aufgabe löste, die Erbringung des 
Nachweises, daß, wenn umgekehrt Wärme in mechanische Arbeit 
übergeht, genau dieselbe Zahl von Einheiten lebendiger Kraft aus 
einer Einheit verlorener Wärme gewonnen wird, die durch den 
ersten Versuch gefunden wurde. Dieser Beweis gelang ihm sogar 
ohne Anwendung irgend welcher Apparatur, lediglich auf Grund von 
Zahlenangaben, die schon damals in den Lehrbüchern der Physik 
zu finden waren. Der Gedankengang ist folgender: 

Erwärmen wir 1 kg Luft (das ist etwa —cbm) in einem 

geschlossenen Gefäße, etwa dem Zylinder eines Heißluftmotors, 
welcher durch einen dichtschließenden beweglichen, aber bei diesem 
Versuch festgehaltenen Kolben abgeschlossen wird, um i° Celsius, 
so brauchen wir dazu diejenige Wärmemenge, welche als die spezi¬ 
fische Wärme bei konstantem Volum bezeichnet wird. Sie beträgt 
0,168 Kalorien. Durch die Erwärmung steigt, wie bekannt, der 

Druck der Luft um Atmosphäre. Würde man nun aber diese 

Druckzunahme verhindern, dadurch, daß man den Kolben beweg¬ 
lich ließe, d. h. würde man die Erwärmung bei konstantem Druck 
vornehmen, so brauchte man offenbar mehr Wärme; denn man 
könnte ja die Erwärmung erst bei fcstgehaltenem Kolben be¬ 
wirken, wobei wieder 0,168 Kalorien verbraucht würden, sodann 
den Kolben freigeben, wobei sich die Luft im Zylinder ent¬ 
sprechend der durch Hebung der äußeren Luft geleisteten Arbeit, 

die ^ = 293 Joule beträgt, abkühlt, und nun wieder soweit 

erwärmen, bis die frühere Temperatur wieder hergestellt wird, 
wozu, wenn die Arbeit von x Joule einer Kalorie gleichkommt, 

27 

; Kalorien gehören würden. Tatsächlich ergaben die Experi- 


J. I*. Joule, J*hil. Mag. III, 23, 18.13; 31, 184;. 



Zum ioo. Geburtstag von Robert Mayer 


95 


mente die spezifische Wärme der Luft bei konstantem Druck 
wesentlich größer als die bei konstantem Volum, nämlich zu 
0,273 Kalorien 1 2 . 

2Q 7 

Die Differenz 0,273 — 0,168 = 0,069 muß also = ^ Kalorien 
sein, woraus folgt: x = = 4189. So viele Joule sind also 

äquivalent einer Kalorie, die Zahl 4189 ist das mechanische Äqui¬ 
valent einer Kalorie. 

An Stelle dieses einfachen Versuches könnte natürlich die Mes¬ 
sung der Abkühlung der Luft im Verhältnis zur Arbeitsleistung bei 
einem Druckluftmotor dienen, oder die Messung der Arbeitsleistung 
im Vergleich zum Wärmeverbrauch bei einem Heißluftmotor. 

Vorausgesetzt bei der dargelegten Berechnung ist allerdings das 
eine, daß sich die Luft nur abkühlt, wenn sic Arbeit gegen den Kol¬ 
ben leistet, daß sogenannte freie Expansion, d. h. Ausdehnung in 
einen leeren Raum hinein keine Abkühlung ergeben würde. Die 
Richtigkeit dieser Annahme erschloß Robert Mayer aus Versuchen 
von Gay-Lussac im Jahre 1807; später hat sie dann Joule exakt be¬ 
wiesen, speziell für sogenannte vollkommene Gase. 2 Infolge der Un¬ 
genauigkeit der in den Lehrbüchern enthaltenen Zahlen, auf welche 
sich Robert Mayer stützte, war die erwartete Übereinstimmung des 
so gefundenen mechanischen Wärmeäquivalents mit dem nach der 
ersten Methode gewonnenen keine ganz vollkommene. Auf eine 
solche Abweichung konnte man aber gefaßt sein. Durch Joules Ver¬ 
suche wurde sie vollkommen beseitigt. Daß nichtsdestoweniger di: 
Richtigkeit von Robert Mayers Theorie nirgendwo Anerkennung 
fand, erklärt sich eben, wie schon bemerkt, dadurch, daß die Stoff- 
theorie der Wärme durch die Ausführungen von Sadi Carnot und 
Clapeyron eine bedeutende Stütze erhalten hatte. Dazu kam aber 


1 Sie ließe sich z. B. bestimmen durch Durchlciten eines abgemessenen Luft- 
ejuantums durch ein mit Eisslücken gefülltes Gefäß, da zum Schmelzen von I kg Eis 
80 Kalorien gehören. Daraus kann dann die spez. Wärme bei konst. Volum berechnet 
werden, wenn man das Verhältnis beider Größen kennt, das sich durch den einfachen 
Versuch von Clement und Desormes, Beobachtung des Wiederansteigens des Druckes 
nach dem Ausströmen der Luft aus einem Behälter, der sofort wieder geschlossen 
wurde, die dadurch bedingt ist, daß die beim Ausströmen entstandene Abkühlung 
allmählich wieder verschwindet. 

2 Für gewöhnliche unvollkommene Gase trifft sie nicht streng zu, es bleibt eine 
Abkühlung übrig, bei übervollkommcnen tritt Erwärmung ein. 



96 


O. Lehmann 


weiter, daß Robert Mayer versuchte, die Äquivalenz von Wärme und 
Arbeit auch rein philosophisch zu begründen. 

Derartigen philosophischen Betrachtungen pflegte man keiner¬ 
lei Wert beizulegen, weil philosophische Spekulationen niemals zur 
Auffindnung neuer Tatsachen geführt hatten, vielmehr geradezu als 
ein Hemmnis der Fortschritte auf naturwissenschaftlichem Gebiete 
erschienen. An einer Stelle sagt R. Mayer selbst, metaphysische Be¬ 
handlung disgoutiere ihn unendlich. 

Das er sich nicht dazu entschlossen hat, für die Leibnizsche 
Kraft das Wort „Energie“ zu gebrauchen, welches bereits 1807 von 
Thomas Young eingeführt war 1 oder falls ihm dieses nicht bekannt 
war, eine selbstersonnene neue Bezeichnung, hat, wie schon oben 
bemerkt, die Lesbarkeit seiner Arbeiten (insbesondere in damaliger 
Zeit) sehr beeinträchtigt. Gleiches gilt von Robert Mayers Be¬ 
zeichnungen auf anderen Gebieten. Er nannte auch, wie Mohr 
„Elektrizität“ eine „Kraft“, obschcn sie das nicht ist. Er meinte 
übrigens augenscheinlich „elektrische Energie“. Ebenso war für ihn 
„chemische Differenz“ eine „Kraft“, während „chemische Energie“ 
gemeint war. Solche Unklarheiten konnten nur beseitigt werden 
durch präzise mathematische Formulierungen unter Verwendung der 
bereits bekannten Beziehung zwischen den verschiedenen Größen; eine 
Arbeit, die erst im Jahre 1847 von H. Helmholtz in seiner Schrift 
„Uber die Erhaltung der Kraft“ geleistet worden ist, so daß häufig 
dieser als Vater des Prinzips von der Erhaltung der 
Kraft bezeichnet, wurde, wie es z. B. seitens der physikalischen 
Sektion der Naturforscherversammlung in Berlin 1886 in einem 
Gratulationstelegramm geschehen ist. 

Aufzuklären war ferner der Widerspruch mit den anscheinend 
sehr exakten Ausführungen von S. Carnot. Dies geschah 1849 
durch Clausius, welcher deshalb ebenfalls als Urheber der mecha¬ 
nischen Wärmetheorie bezeichnet wurde. Clausius zeigte, daß 
zwischen dem Carnotschen Prinzip und Robert Mayers Ergebnis, 

1 Der Ausdruck »potentielle Energie ; wurde allerdings erst 1853 von Rank ine 
eingeführt, zum Unterschied von der Bewegungsenergie, welche er »aktuelle Energie 
nannte. Thomson und Tait haben 1867 den letzteren Ausdruck durch den heute 
gebräuchlichen »kinetische Energie' ersetzt. Ilelmholtz gebrauchte übrigens 1847 
ebenfalls noch das Wort Kräfte im Sinne von % Energie - , was erkennen läßt, wie 
unklar damals noch die Begriffe waren, so daß Hob. Mayers Wahl der Bezeichnung 
verständlich erscheint. 



Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer 


97 


welches er den »ersten Hauptsatz der Thermodynamik« nennt, 
kein Widerspruch besteht, wenn es nur richtig gefaßt wird.^ Es 
stellt geradezu einen »zweiten Hauptsatz der Thermodynamik« 
dar, der von nicht minder großer Bedeutung ist als der erste, 
insofern er angibt, welcher Bruchteil einer gegebenen Wärme¬ 
menge sich überhaupt in Arbeit umsetzen läßt. Häckel hat ein¬ 
mal gesagt, der zweite Hauptsatz sage aus, der erste sei nicht 
richtig. Scheinbar trifft dies zu, denn der erste sagt aus, aus 
i Kalorie bekomme man 4189 Joule Bewegungsenergie, während 

der zweite aussagt, man bekomme 4 — 9 • (r, — r 2 ) Joule Bewegungs- 

T I 

energie, d. h. die maximale, durch eine thermodynamische Ma¬ 
schine zu gewinnende Arbeit, sei das Produkt des aufgenommenen 
Wärmegewichts mit dem Temperaturgefälle. Letzteres ist die 
Differenz der höchsten und niedrigsten Temperatur (i r , bezw. r 2 ), 
das Wärmegewicht der Quotient der aufgenommenen Wärme¬ 
menge dividiert durch ihre Temperatur t, nach absoluter Skala 
gemessen. 

Diesen zweiten Teil der Arbeit zu leisten war Robert Mayer 
nicht beschieden, dazu waren eben gründliche Studien in Mathema¬ 
tik und mathematischer Physik nötig, zu welchen er neben seinem 
ärztlichen Berufe keine Gelegenheit finden konnte. Daß er von der 
Existenz des zweiten Hauptsatzes eine Ahnung hatte, geht daraus 
hervor, daß er sich gelegentlich äußert, nachdem er von der Umset¬ 
zung der Wärme in Arbeit durch eine Dampfmaschine gesprochen 
hat: „So wenig aber eine gegebene Menge Chlor, Metall und Sauer¬ 
stoff ohne Bildung eines Nebenproduktes in chlorsaures Salz sich 
verwandeln läßt, so wenig können wir eine gegebene Wärmemenge 
als Ganzes in Bewegung umsetzen.“ 

Er fand beispielsweise den Wirkungsgrad eines Geschützes zu 
etwa 9 % und bemühte sich, auch den Wirkungsgrad der Dampf¬ 
maschinen zu ermitteln. Von hier bis zur klaren Erkenntnis des 
zweiten Hauptsatzes war aber noch ein großer Schritt. 

Obschon dieser weitere Ausbau der mechanischen Wärme¬ 
theorie erst später von andern durchgeführt wurde und weitere Klä¬ 
rung erst in neuester Zeit durch Aufstellung des Nernstschen 
Wärmetheorems und der Planckschen Energiequantentheorie 1 er- 


1 Siehe O. Lehmann, Verl), d. Karlsr. nat. Vereins 24, 273, 1912. 
Verhandlungen 36. Bd. 7 



g8 


(). Lehmann 


folgt ist, so ändert das aber nichts an der Tatsache, daß er, wie 
Helmholtz 1 sagt, ,,u nab hängig und selbständig den 
G e d a n k e n gefunden hat, der den größten neu e- 
ren Fortschritt der Naturwissenschaft be¬ 
dingt e.“ 

Der Ruhm der Erfindung, sagt Hel inhol tz weiter, haftet an 
dem, der die neue Idee gefunden hat. Auch kann man nicht unbe¬ 
dingt verlangen, daß der Erfinder der Idee verpflichtet sei, auch den 
zweiten Teil der Arbeit (die feinere Ausgestaltung und präzise Fest¬ 
stellung durch genaue Experimente) auszuführen. 

Leider hat der Mangel an Anerkennung seiner Zeitgenossen in 
Verbindung mit Bemühungen, seine eigenen Ergebnisse Andern zuzu- 
schreiben und ihn gewissermaßen als Plagiator hinzustellen, Robert 
Mayers Gemüt schwer bedrückt und sein Leben, trotz der hohen Be¬ 
friedigung, die ihm gewähren mußte, die wissenschaftliche Erkennt¬ 
nis um ein gutes Stück weitergebracht zu haben, zu einem unglück¬ 
lichen gemacht. 

Er war geboren am 25. November i8i_| als Sohn eines Apothekers 
in Heilbronn. An der Schule fiel er nicht durch besondere Leistun¬ 
gen auf. Der sprachliche Unterricht war ihm unsympathisch; physi¬ 
kalische und chemische Experimente interessierten ihn mehr. Zeit¬ 
weise soll er den Platz 37 unter 38 Schülern innegehabt haben; nur 
in der Mathematik erzielte er gute Noten. Auch an der Universität, 
wo er am studentischen Leben regen Anteil nahm, betrieb er Stu¬ 
dien nur insoweit, als zum Examen unbedingt nötig, doch war er 
schon damals ein ,,Grübler“. Der Tübinger Universitätskanzler G. 
Rümelin äußerte sich über den jungen Mayer: „Er war ebenso 
beliebt und beachtet bei den Lehrern wie bei den Mitschülern. Fr 
gab sich stets ganz wie er war, es kam kein unwahres Wort aus sei¬ 
nem Munde; er hatte eine volle und freudige Anerkennung für 
fremde Vorzüge und trat niemanden zu nahe. Er war nach seiner 
Gemütsart ein anima candida. Alx*r alles, was er sagte und tat, trug 
den Stempel der Originalität.“ Sofort nach Beendigung seiner Uni¬ 
versitätsstudien nahm er Dienst als Schiffsarzt auf einem Ostindien¬ 
fahrer. Da es keine Patienten gab, hatte er Zeit, seine Grübe¬ 
leien fortzusetzen, welche sich hauptsächlich auf die Unmöglichkeit 

1 H. Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft. Ostwald, Klassiker. 
Nr. I, S. 3S. 



Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer 


99 


des perpetuum mobile und die mechanische Wärmetheorie von Rum¬ 
ford und Mohr bezogen. 

Auf der Reise nach Batavia fiel ihm nun auf, daß das Venen¬ 
blut der Schiffsmannschaft, die joo Tage hindurch nur wenig zu 
arbeiten hatte, viel röter war als sonst, d. h. daß es unverbrauchten 
Sauerstoff enthielt. Daraus zog er alsbald den Schluß, die Quelle 
der Muskelkraft (richtiger Muskelarbeit) sei die Verbrennungs¬ 
wärme, die bei Verbindung des Sauerstoffs mit dem Blute entsteht 
(richtiger die latente Wärme, die gewissermaßen in den beiden Kör¬ 
pern aufgespeichert ist, solange sie nicht verbunden sind, das was 
wir heute „chemische Energie“ nennen). 

Von dem Steuermann hatte er weiterhin erfahren, daß das 
sturmgepeitschte Meer wärmer ist als zuvor, solange es ruhte. Auch 
dies veranlaßte ihn zum Nachdenken, bis schließlich die neu er¬ 
kannte Wahrheit, die Lösung des Problems, weshalb das alte Gesetz 
der Erhaltung der Kraft anscheinend in vielen Fällen seine Gültig¬ 
keit verliert und welcher der wahre innere Zusammenhang der ver¬ 
schiedenen Naturkräfte ist, in seinem Geiste klar vor ihm stand. 

Getrieben durch die Sehnsucht, dieses Problem, dessen hohe Be¬ 
deutung für Naturwissenschaft und Technik er sofort erkannte, mit 
besseren Hilfsmitteln weiter durcharbeiten zu können, kehrte er als¬ 
bald in seine Vaterstadt (1841) zurück und ließ sich dort als prak¬ 
tischer Arzt nieder, welche Stellung er 27 Jahre hindurch behielt. 

Einen Anhänger für seine Lehre fand er in seinem älteren Bru¬ 
der, der die väterliche Apotheke übernommen hatte; sonst begegnete 
ihm zu seinem Leidwesen überall nur Widerspruch. 

Eine kleine Abhandlung, die er am 16. Juni 1841 an Poggen- 
dorff, den bekannten Herausgeber der einzigen großen deutschen 
Zeitschrift für Physik, der „Annalen der Physik und Chemie“ sandte, 
betitelt: „Über quantitative und qualitative Bestimmung der 

Kräfte“ wurde von Poggendorff nicht aufgenommen. Mayer er¬ 
hielt überhaupt keine Antwort, auch nicht auf die zweimalige Bitte, 
ihm wenigstens das Manuskript zurückzuschicken. Dieses wurde 
erst 36 Jahre später im literarischen Nachlaß von Poggendorff ge 
funden. 

Man kann aus diesem Manuskript ersehen, daß sich damals Ro¬ 
bert Mayer ebenfalls noch nicht ganz im klaren war über den Unter¬ 
schied von Galilei-Newtons Kraftbegriff und dem Leibnizschen Be¬ 
griff. Das mag wohl mit Ursache der Ablehnung der Arbeit durch 



IOO 


O. Lehmann 


Poggendorff gewesen sein. Im übrigen stand Poggendorff offen¬ 
bar ganz auf dem Standpunkt von Sadi Carnot, denn eine auf glei¬ 
chem Standpunkt stehende Abhandlung von Clapeyron über die be¬ 
wegende Kraft der Wärme aus dem Jahre 1834 brachte er noch im 
Jahrgang 1843, also 9 Jahre später, in Übersetzung mit besonderer 
Empfehlung in den Annalen zum Abdruck, 2 Jahre nach dem Ein¬ 
gang von Mayers Abhandlung. Wie wenig er sich um Mayer küm¬ 
merte, zeigt die Stelle in seinem biographisch-literarischen Lexikon, 
1863, wo er angibt: ,,Soll vor 1858 im Irrenhaus gestorben sein.“ 
(In einem Nachtrag ist dies allerdings berichtigt.) 

Robert Mayer versuchte dann seine Arbeit bei den von Liebig 
herausgegebenen Annalen der Chemie und Pharmazie anzubringen, 
wo sie 1842 unter dem Titel: „Bemerkungen über die Kräfte der 
unbelebten Natur“ zwar erschien, aber von den Physikern nicht ge- 
lesen wurde. 

Im gleichen Jahre verehelichte er sich mit der Tochter eines 
Heilbronner Bürgers (Heermann) und wurde zugleich Oberamts¬ 
wundarzt und später Stadt- und Armenarzt. Am geselligen Leben 
der Stadt nahm er regen Anteil. Nach drei Jahren erschien sein 
Hauptwerk: „Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhang 
mit dem Stoffwechsel.“ Diese Schrift sollte ursprünglich wieder 
in Liebigs Annalen erscheinen; Liebig lehnte sie aber ihrer Größe 
wegen ab und verwies Mayer an Poggendorff, was dieser aber na¬ 
türlich nicht tat. Da er auch keinen Verleger finden konnte, blieb 
ihm nichts anderes übrig, als die Arbeit auf eigene Kosten drucken 
zu lassen; ebenso im Jahre 1848 eine zweite Arbeit: „Beiträge zur 
Dynamik des Himmels.“ Wieder fehlten aber die Leser. Den Phy¬ 
sikern blieben beide Schriften unbekannt. Das ist um so merkwür¬ 
diger, als gerade in jener Zeit auf Anregung des Physikers Magnus 
in Berlin die deutsche physikalische Gesellschaft entstanden war, die 
es sich zur Aufgabe machte, in Jahresberichten die gesamte neu 
erscheinende Literatur sorgfältig zu sammeln, und weil der Bericht¬ 
erstatter über die hier in Betracht kommende Literatur der hervor¬ 
ragendste Sachkenner war, der überhaupt gefunden werden kannte, 
nämlich Helmholtz. 

Der erste Band dieser Jahresberichte betitelt: „Die Fortschritte 
der Physik im Jahre 1845“, welcher 1847 erschien, enthält weder 
eine Angabe über Robert Mayers im Jahre 1845 erschienene bedeu¬ 
tendste Schrift: „Die organische Bewegung in ihrem Zusammen- 



Zum ioo. Geburtstag von Robert Mayer 


IOI 


hang mit dem Stoffwechsel“, noch auch eine Andeutung über seine 
im Jahre 1842 in Liebigs Annalen erschienene grundlegende Schrift, 
obschon sich ein von Helmholtz selbst geschriebener ausführlicher 
Bericht über eine von Liebig selbst verfaßte, in denselben Annalen 
1845 veröffentliche Abhandlung vorfindet, in welcher ähnliche Ge¬ 
danken ausgesprochen werden, wie sie Robert Mayer dargelegt 
hatte. Unter Hinweis auf diesen Bericht im Band 1 wird dann in 
Band 3, 232, 1850 Robert Mayers Schrift von 1845 kurz zitiert, 
mit der Bemerkung, sie enthalte im wesentlichen dieselben Gedan¬ 
ken, die schon in dem genannten Referat dargelegt seien. 

In Band 4, 66, 1852 sagt Helmholtz von Robert Mayers wich¬ 
tigster Bestimmung des mechanischen Wärmeäquivalents aus den 
spezifischen Wärmen der Gase, das sei gar nichts anderes, als was 
Holtzmann bereits 1845 veröffentlicht habe. Er wußte gar nicht, 
daß Mayers Abhandlung schon 1842 erschienen war! 

Erst in Band 7, 566, 1855 erwähnte Helmholtz in einem Sam¬ 
melbericht ganz flüchtig, von Robert Mayer sei die Ansicht, man 
müsse die Wärme als eine Bewegungsform, nicht als einen Stoff be¬ 
trachten, zuerst aufgestellt worden — Rumford wird nicht zitiert —. 
Sie sei dann später von Joule und von ihm selbst (Helmholtz) wei¬ 
ter verarbeitet worden. 1 Ferner rühre auch der Gedanke, das 
mechanische Wärmeäquivalent aus den spez. Wärmen der Gase zu 
berechnen, von Robert Mayer her und sei dann später von Joule 
und Holtzmann aufgenommen worden. 

Außer diesen wenigen kurzen Bemerkungen und einigen ähn¬ 
lichen, die der Erwähnung nicht wert sind, findet sich in den Jahres¬ 
berichten der deutschen physikalischen Gesellschaft nichts über das 
Lebenswerk von Robert Mayer. Waren nun seine Schriften, ins¬ 
besondere die 1845 erschienenen, bei Abfassung des Jahresberichts 
von 1845 übersehen worden, so hätten die Leser unter Vermerk 


1 Helmholtz wollte in der Tat mehr beweisen als Roh. Mayer, nämlich 
daß alle Energieformen, außer sichtbarer Bewegung also auch potentielle Energie, 
elastische Spannung elektrische und magnetische Energie, chemische Affinität usw. 
verborgene Bewegungszustände seien, welches Ziel später von seinem Schüler 
H. Hertz (aber ohne Eifolg) weiter verfolgt worden ist. (Siehe meine Schrift: 
»Feier . . . des 25jühr. Jub. d. Hcrtz’schen Entdeck... Yerh. d. Karlsr. nat. Vereins 
26, 1914; ferner: Max Born, Phvs. Zeitschr. 17, SG 19 1 (>; W. Nernst, Ber. d. 
D. phys. Ges. 1916, 83; A. Einstein, Eickhot. Zeitschr. 191b; K. Eajans, Phvs 
Zeitschr. 16, 47b, 19*5; P. Debvc, Sitzb. Akad. München 1915, 1. 



102 


0 . Lehmann 


dieses Versehens im folgenden oder einem der späteren Bände über 
den Inhalt genauer unterrichtet werden können und müssen. Daß 
dies unterblieben ist und erst relativ spät eine kurze Andeutung 
davon gegeben wird, zumal in der eigentümlichen Form, der In¬ 
halt sei im wesentlichen der gleiche wie der der Schriften von Liebig, 
Helmholtz, Joule und Holtzmann, die doch erst später erschienen 
waren, hat zu der Auffassung Anlaß gegeben, den Schriften Robert 
Mayers komme überhaupt keine Bedeutung zu, man brauche keine 
Rücksicht darauf zu nehmen. 

So sagt Heinrich von Treitschke in seiner ,,Deutschen Ge¬ 
schichte im 19. Jahrhundert“ 1894 S. 430: „Ähnliche Ideen (die 
Physik als Bewegungslelue aufzufassen, wie es Helmholtz tat) hatte 
kurz zuvor, ohne daß Helmholtz darum wußte, der Heilbronner Arzt 
Robert Mayer ausgesprochen, einer jener unseligen, zwischen Genie 
und Wahnsinn schwankenden Geister, die unter den Erfindern und 
Entdeckern nicht selten erscheinen.“ 

Während nun aber vor Erscheinen der Abhandlungen von Ro¬ 
bert Mayer, abgesehen von den zitierten Schriften von Rumford und 
Mohr der Gegenstand in physikalischen Zeitschriften gar nicht be¬ 
handelt worden war, erschienen nun in rascher Folge eine Reihe von 
Abhandlungen ähnlichen Inhalts, deren Autoren die Schriften Mayers 
gar nicht zitierten, so daß sich dieser zu unerquicklichen Prioritäts¬ 
reklamationen genötigt sah, insbesondere zu einer kurzen Darlegung 
seiner Ergebnisse in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“. Als 
darauf eine Antwort seitens eines Tübinger Privatdozenten (der 
übrigens wissenschaftlich kaum bekannt geworden ist) erschien, die 
den Wert seiner Arbeit ganz und gar in Abrede stellte und als die 
Redaktion eine Erwiderung darauf gar nicht zuließ, verfiel Robert 
Mayer einer nervösen Erkrankung, gelegentlich welcher er am 
28. Mai 1850 im Delirium sich unangekleidet aus dem Fenster des 
zweiten Stockwerkes herunterstürzte und sich schwere Verletzun¬ 
gen, insbesondere an den Füßen zuzog. Immerhin war er am Schlüsse 
desselben Jahres soweit hergestellt, daß er eine Verteidigungsschrift 
betitelt: „Bemerkungen über das mechanische Äquivalent der 

Wärme“ herausgeben konnte, die ihn wieder im Vollbesitz der gei¬ 
stigen Kräfte zeigt. Trotzdem wurde er für geisteskrank erklärt 
und erst in einer Kaltwasserheilanstalt, dann in einer Irrenanstalt 
untergebracht, wo man seine Verbitterung, die durch die schlechte 
Aufnahme seiner Publikationen entstanden war, durch den Zwang- 



Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer 


103 


Stuhl zu kurieren suchte. Erst Ende 1853 zo S er wieder in seine 
Wohnung ein, natürlich allseits mit Mißtrauen betrachtet. 

Man hat den Physikern, in erster Linie natürlich dem Bericht¬ 
erstatter Helmholtz, welcher übrigens damals Mediziner war, einen 
Teil der Schuld an diesem tragischen Schicksal Robert Mayers zu¬ 
geschrieben. Wer aber weiß, wie viel Studium und wieviel gründ¬ 
liche und genaue Kleinarbeit in der Regel dazu nötig sind, Fort¬ 
schritte auf physikalischem Gebiet zu erzielen, der wird auch be¬ 
greifen, daß die Physiker allzeit sehr wenig Neigung gehabt haben, 
ihre Zeit auf das Studium von Publikationen von Nichtphysikern zu 
verwenden, von welchen anzunehmen war, daß sie die nötige Vor¬ 
arbeit nicht geleistet haben. Die Bewältigung der Literatur ist 
selbst bei solchem Verzicht noch für die meisten eine unmögliche 
Arbeit. Es gibt auf dem Gebiete der Physik eben kein Patentamt, 
welches in möglichst kurzen und präzisen Sätzen feststellt, was in 
einer neuen Publikation wirklich neues enthalten ist. 

Robert Mayer hatte wenigstens noch die Genugtuung, daß noch 
vor seinem Tode der Wert seiner Schriften erkannt wurde. Außer 
(Itfn Arbeiten und Vorträgen von Helmholtz und von Clausius hat 
dazu hauptsächlich die populäre Schrift von Tyndall ,,Die Wärme 
betrachtet als eine Art der Bewegung“ 1865 (deutsch herausge¬ 
geben von Helmholtz und Wiedemann 1867) beigetragen. Leicht ver¬ 
ständlich geschrieben, w r eckte sie überall Begeisterung für die neue 
Entdeckung des inneren Zusammenhangs aller Naturerscheinungen. 
Im Jahre 1869 wurde Robert Mayer von der Versammlung Deut¬ 
scher Naturforscher und Ärzte eingeladen, einen Vortrag zu halten, 
was auch geschah. Die meisten Akademien und viele gelehrte Ge¬ 
sellschaften wählten ihn zum Mitgliede, auch wurden ihm eine An¬ 
zahl wertvoller Preise zuerkannt. Überdies erhielt er den württem- 
bergischen Personaladel. 

Liebig schrieb 1868: „Wie unendlich fruchtbar ist doch das 
Prinzip der Erhaltung der Kraft in der Naturwissenschaft gewor¬ 
den und wenn ich daran denke, daß die erste Abhandlung Mayers 
weder Poggendorff noch ein anderer drucken wollte, und daß man 
ihn für einen Narren in Heidelberg und Karlsruhe erklärte, so er¬ 
scheint der geistige Fortschritt von da an bis heute ganz wunder¬ 
bar.“ Tvndall nannte ihn geradezu das größte Genie des 19. Jahr¬ 
hunderts. Auch andere hervorragende Männer wie Schönbein, 
Moleschott, Mohr, Clausius, Hirn, Yerdct, Saint-Robert u. a. haben 



104 


O. Lehmann 


seinen Arbeiten warme Anerkennung gespendet. Darüber hinaus 
sagt Weyrauch, der die Mayerschen Arbeiten und seinen Lebensgang 
mit besonderer Gründlichkeit studiert hat: „Er ist nicht nur ein 
Bahnbrecher der Erkenntnis, ein Märtyrer der Wissenschaft, son¬ 
dern auch ein Förderer des Geweinw'ohls, ein charaktervoller und 
guter Mensch gewesen.“ 

Durch letzteres erklärte sich auch die außerordentlich große 
Teilnahme bei seinem Begräbnis. Da es zufällig an Kaisers Geburts¬ 
tag stattfand, wurden zum Zeichen der allgemeinen Trauer die Fah¬ 
nen während des Begräbnisses eingezogen. Die Stadt Heilbronn 
hat ihm am 25. November 1892 ein Bronzedenkmal auf ihrem 
Marktplatz errichtet, der Verein Deutscher Ingenieure eine Marmor¬ 
büste vor der technischen Hochschule in Stuttgart (auch in unserer 
Aula befindet sich Robert Mayers Bildnis), ferner eine Bronzetafel 
an seinem Wohnhaus in Heilbronn; das deutsche Museum für 
Meisterwerke der Naturwissenschaften und der Technik in Mün¬ 
chen stellte in seinem Ehrensaal eine Marmorhexme von Robert 
Mayer auf und bewahrt seinen Apparat zur Bestimmung des mecha¬ 
nischen Wärmeäquivalents in seiner Sammlung. 


Als Vertreter des Naturwissenschaftlichen Vereins möchte ich 
zum Schlüsse dem Verein Deutscher Ingenieure danken, dafür, daß 
er auch diese Gelegenheit wieder benutzt hat, die Verdienste Robert 
Mayers in Erinnerung zu bringen. Dank sei auch allen, die heute 
erschienen sind und so die Feier in unserem kleinen Kreise ermög¬ 
licht haben. 



Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Roentgen. 

Von O. Lehmann. 

In meinem letzten Vortrage (Zum ioo. Geburtstag von Robert 
Mayer) gab ich das wissenschaftliche Lebensbild eines Mannes, des¬ 
sen hochwichtige Forschungen von seinen Zeitgenossen trotz viel¬ 
facher populärer Publikationen anfänglich völlig verkannt wurden, 
dessen Leben sich infolgedessen unglücklich gestaltete, wenn er auch 
schließlich die Genugtuung hatte, seine Ergebnisse von Wissenschaft 
und Technik anerkannt und gebührend gewürdigt zu sehen. 

Anders bei Wilhelm Konrad von Roentgen, dessen 70. Geburts¬ 
tag auf den 27. d. M. fällt — gerade in unsere Ferien, weshalb wir 
ihn schon in heutiger Sitzung feiern. Roentgen hat über seine wich¬ 
tigste Entdeckung, die nach ihm benannten Strahlen, nur zwei sehr 
kurze Abhandlungen in einer wenig zugänglichen Zeitschrift ver¬ 
öffentlicht. Nichtsdestoweniger wurde er dieser Entdeckung halber 
sofort m der ganzen Welt hoch gefeiert. 

Er ist geboren am 27. März 1845 1X1 Lennep in der Rheinpro¬ 
vinz. Sein Studium absolvierte er in Zürich unter Leitung von 
Kundt, dessen Assistent er 1872 nach seiner Übersiedelung nach 
Straßburg wurde. Heute ist er der Physiker der Universität Mün¬ 
chen. Auf die vielen Ehrungen \ die ihm anläßlich seiner Ent¬ 
deckung zuteil wurden, näher einzugehen, scheint mir nicht nötig, 
sie verschwinden gegenüber dem Denkmal, das er sich selbst durch 
seine Entdeckung setzte. Mit Freude können wir diese als eine 
deutsche Tat bezeichnen, die außerordentlich segensreich gewirkt 


1 In Berlin, wohin er eine Berufung ablehnte, wurde ihm ein Denkmal errichtet; 
in Würzburg, wo er zur Zeit der Entdeckung der X-Strahlen als Ordinarius tätig war, 
eine Gedenktafel. Er wurde wirklicher Geheimrat, in den Adelstand versetzt und 
durch Verleihung des Nobelpreises ausgezeichnet. 



O. Lehmann 


.106 

hat und tagtäglich wesentlich dazu beiträgt, die zahllosen Wunden, 
die der schreckliche Krieg schlägt, zu heilen. Auch den eigentlichen 
Ausgangspunkt der Entdeckung haben wir in Deutschland, speziell 
hier in Karlsruhe, zu suchen, wie ich schon in dem Festvortrag zum 
25-jährigen Jubiläum der Entdeckungen von Heinrich Hertz in un¬ 
serem Verein gerade vor einem Jahre ausgeführt habe. 

Auf Grund der Forschungen des Physikers Hittorf in Münster, 
welcher fand, daß von der Kathode hochevakuierter Geißlerscher 
Röhren Strahlen ausgehen, die von ihnen getroffene fluoreszenz¬ 
fähige Stoffe zum Leuchten bringen können, war Hertz (1892) zu 
dem Ergebnis gelangt, daß solche Kathodenstrahlen dünne Metall¬ 
schichten durchdringen können. Seinem Assistenten Lenard 
(jetzt Physiker der Universität Heidelberg) war dann gelungen, die 
Kathodenstrahlen durch eine mit dünnem Aluminiumblech (Alumi¬ 
niumfolie) bedeckte Öffnung sogar in die gewöhnliche Luft austreten 
zu lassen, somit einen Fluoreszenzschirm auch außerhalb des Rohres 
durch ihre Einwirkung zum Leuchten zu bringen. 

Roentgen wiederholte Lenards Versuch und fand zu seiner 
Überraschung, daß unter Umständen der Fluoreszenzschirm auch 
hell aufleuchtet, wenn ein Aluminiumfenster nicht vorhanden isL 
Es mußte also noch eine andere Strahlung existieren, die das Leuch¬ 
ten erregen konnte und imstande war, sogar die relativ dicke Glas¬ 
wand der Röhre zu durchsetzen. Daß sie etwas anderes war, als die 
von Lenard entdeckte Strahlung, gab sich auch dadurch kund, daß 
sic nicht wie letztere von einem Magneten abgelenkt wurde. Licht¬ 
strahlung konnte es auch nicht sein, denn sie vermochte dicke Schich¬ 
ten undurchsichtiger Stoffe wie Pappdeckel, Holz, Ebonit, Blech 
usw. zu durchsetzen, wurde auch nicht reflektiert und nicht gebro¬ 
chen. Vorläufig wurden die neuen Strahlen deßhalb als X-Strahlen 
bezeichnet, weil der Mathematiker unter X eine unbekannte Größe 
zu verstehen pflegt. Das aber, was sofort die Aufmerksamkeit der 
ganzen Welt erregte, war der Umstand, daß man mittelst der neuen 
Strahlen, weil sie eine Substanz um so weniger durchdringen, je 
dichter sie ist, die Knochen im lebenden Körper sehen und sogar 
photographieren konnte, ohne diesen zu schädigen. 

Im Dezember 1895 drang von Wien aus die Kunde diese* 
Wunders in die Welt. Am 23. Januar 1896 demonstrierte es Roent¬ 
gen zum ersten Male in der Sitzung der physikalischen und medizi¬ 
nischen Gesellschaft in Würzburg. Tn unserem Verein berichtete ich 



Zum 70. Geburtstag von \V. C. v. Roentgen 107 

flarüber bereits am 7. Februar des gleichen Jahres und der Vortrag 
mußte in rascher Folge noch mehrmals wiederholt werden, nämlich 
am 21., 24., 27., 28., 29. Februar und 2. März, ein Zeichen, wie groß 
auch hier das Interesse war. Dazu war die Demonstration da¬ 
mals durchaus nicht leicht. Röntgen hatte nämlich in seiner kurzen 
Mitteilung eine so knappe Beschreibung des Verfahrens gegeben, 
daß die meisten, welche die Versuche wiederholen wollten, damit 
nicht zurecht kamen. 

Tausende und abertausende Röhren wurden vergeblich kon¬ 
struiert, sagt Fr. Dessauer, in Hast und Drang des neuen, allerdings 
auch gewaltigen und tief eingreif enden Ereignisses. Und wie glück¬ 
lich war man, wenn man nach vielen Enttäuschungen am schwachen 
Aufleuchten von ein wenig Bariumplatincyanür nur merkte, daß wirk¬ 
lich einige X-Strahlen entstanden. Alle Bilder zeigten unscharfe 
verwaschene Konturen. Verwendung in der Medizin schien also 
leider ausgeschlossen. Erst in der viel später erschienenen zweiten 
Abhandlung teilte Röntgen mit, daß die von ihm benützte Röhre 
eine solche sei, wie sie Crookes zur Demonstration der Wärmewir¬ 
kungen der Kathodenstrahlen gebraucht hatte, bei welcher also die 
Kathodenstrahlen auf ein Platinblech fallen. Nun kamen bald 
brauchbare Röhren in den Handel, es wurden auch die Fluoreszenz¬ 
schirme verbessert und an Stelle des langsam arbeitenden Wagner- 
schen Hammers der Induktorien traten rascher arbeitende mit Mo¬ 
tor betriebene Unterbrecher, Turbinenunterbrecher und schließlich 
der besonders einfache und leistungsfähige Wehneltunterbrecher. 

Anfänglich glaubte man, die Intensität der Röntgenstrahlen 
müsse um so größer werden, je größer die Zahl der Funken pro Se¬ 
kunde. Die gleichzeitig sich entwickelnde Ionenstoßtheorie der Ent¬ 
ladung lehrte aber die Unrichtigkeit dieser Annahme. 

Erfolgt ein Induktionsstoß, so wächst die Spannungsdifferenz 
der Elektroden der Röhre zunächst stark an, da die Luft nur wenig 
Elektronen enthält, die nur geringe Stromstärke vermitteln können. 
Dieselben erhalten infolge der hohen Spannungsdifferenz große Ge 
schwindigkeit und die Röntgenstrahlen, welche sie beim Auftreffen 
auf die Antikathode auslösen, sind sogenannte harte Strahlen, welche 
feste Körper im allgemeinen leicht durchdringen. Durch Zusam¬ 
menstoß dieser rasch bewegten Elektronen mit Molekülen, d. h. in¬ 
folge der Durchquerung der Atome durch diese Elektronen, ferner 
durch das Aufstoßen der positiven Atomreste oder Archionen, der 



io8 


O. Lehmann 


sogenannten Kanalstrahlen, auf die Substanz der Kathode bilden 
sich rasch immer mehr Elektronen und Archionen, so daß der Wi¬ 
derstand der Röhre und damit die Spannung, somit auch die Ge¬ 
schwindigkeit der Kathodenstrahlen und die Härte, d. h. das Durch¬ 
dringungsvermögen der Röntgenstrahlen sinkt. Ist der Zwischen¬ 
raum zwischen zwei Entladungen zu klein, so verschwindet die Io¬ 
nisation nicht mehr in genügendem Maße, ebensowenig die an der 
Antikathode erzeugte Wärme, die weichen Strahlen werden in dem 
Gemisch vorherrschend und die Absorption in dem durchleuchteten 
Gegenstand steigt so hoch, daß Kontraste nicht mehr hervortreten, 
Einzelheiten nicht mehr zu erkennen sind. Ferner läßt die Röhre 
mehr und mehr den niedriger gespannten, umgekehrt verlaufenden 
Schlicßungsinduktionsstrom durch, welcher durch die Zerstäubung 
der Antikathode die Röhre verdirbt und geradezu unbrauchbar 
machen kann. Bei dem Turbinenunterbrecher läßt sich die Fre¬ 
quenz durch Änderung der Umdrehungszahl leicht regulieren, we¬ 
niger gut bei dem Wehneltunterbrecher. Hier geht der Strom von 
der bis auf einen kurzen Platin- oder Nickelstift durch Porzellan 
isolierten Anode durch verdünnte Schwefelsäure zu einem als Ka¬ 
thode dienenden Bleiblech. Die Erhitzung des Anodenstifts be¬ 
dingt die Bildung einer Dampfschicht, welche den Strom unter¬ 
bricht, der sich aber nach der hierdurch bedingten Beseitigung der 
Dampfschicht wieder in früherer Stärke herstellt und eine neue 
Dampfschicht bildet in einer Zeit, die durch die Selbstinduktion der 
Primärspule bedingt ist. Um diese zu regulieren, können verschie¬ 
den große Windungszahlen mittelst des sogenannten Reaktanzschal¬ 
ters eingeschaltet werden. Man nimmt zunächst die größte Win¬ 
dungszahl, also die größte Selbstinduktion, zieht den Stift des 
Wehneltunterbrechers tunlichst in das Porzellanrohr zurück und 
stellt den Stromregulator auf schwach, d. h. schaltet möglichst viel 
Widerstand ein. Schließt man nun den Primärstrom, so werden zu¬ 
nächst keine Stromunterbrechungen stattfinden. Nun schaltet man 
allmählich am Stromunterbrecher immer mehr Widerstand aus, bis 
die Funken einsetzen, wobei man die scheibenförmige Elektrode der 
Sekundierspule als Kathode benützt. Die Röntgenröhre darf noch 
nicht eingeschaltet sein. Sind die Funken dünn und rötlich, von 
einem Zischen begleitet, so ist die Stiftlänge zu gering, sind sie dick, 
gelblich und stumpf, so ist die Stiftlänge zu groß. Sie muß also so 
reguliert werden, daß blendend weiße knatternde Funken übergehen. 



Zum 70. Geburtstag von W. ('. v. Rocntgen 

Schaltet man nun die Röntgenröhre an und ist die Spannung noch 
nicht ausreichend, den Stromdurchgang zu erzwingen, so muß die 
Selbstinduktion, d. h. die Zahl der benutzten Windungen der Pri¬ 
märspule vermindert werden, bis die Spannung eben die richtige 
ist. Erscheint nun die Funkenfolge noch zu langsam, so kann man 
sie erhöhen durch weitere Ausschaltung von Widerstand. Mittelst 
des Etappenschalters lassen sich größere Stufen ausschaltcn, mittelst 
des Stromregulators kleinere. 

Den durch die Röhre gehenden Strom mißt man mittelst eines 
Milliamperemeters, welches nach Klingelfuß zweckmäßig in der 
Mitte der Sekundärspule angebracht wird. Hierbei ist nämlich be¬ 
sondere Isolation unnötig, weil in der Mitte der Spule weder posi¬ 
tive noch negative Spannung, sondern die Spannung Null herrscht. 
Die Spannungsdifferenz der Enden der Sekundärspule beurteilt man 
nach Klingelfuß mittelst einer in der Mitte um die Sekundärspule 
gelegten Probewickelung, welche mit einem Hitzdrahtvoltmeter ver¬ 
bunden ist (Sklerometer). 

Zeigt das Milliamperemeter beim Stromdurchgang durch die 
Röhre stetig steigende Stromstärke, das Voltmeter entsprechend fal¬ 
lende Spannung an, so ist die Belastung der Röhre zu stark, sie ver¬ 
ändert ihren Gasinhalt, indem aus den Elektroden Gas entweicht, 
so daß sie immer weicher und schließlich unbrauchbar wird. Es ist 
somit nötig, die Stromstärke zu vermindern, mittelst des Strom¬ 
regulators, eventuell, falls dies nicht reichen sollte, durch Verklei¬ 
nerung der Stiftlänge und schließlich durch Erhöhung der Selbst¬ 
induktion. Wird umgekehrt die Spannung immer höher, die Strom¬ 
stärke immer geringer, d. h. wird der Gasinhalt der Röhre absor¬ 
biert, wodurch die Röhre allmählich immer härter und schließlich 
ebenfalls unbrauchbar wird, so muß man durch dieselben Mittel in 
umgekehrter Gebrauchsweise die Stromstärke erhöhen. Sie hat den 
richtigen Wert, wenn die Angaben von Milliamperemeter und Volt¬ 
meter im wesentlichen konstant bleiben. Die Lebensdauer der Röhre 
ist in solchem Falle am größten. 

Ganz läßt sich die Röhre freilich nicht unverändert erhalten. Ist 
sie etwas zu weich geworden, so läßt man sie längere Zeit ruhen und 
gebraucht sie nur bei zu schwachem Strom. Wurde sie zu hart, 
so ist es nötig, Gas einzuführen, wozu die an jeder Röhre ange¬ 
brachte Regeneriervorrichtung dient, früher gewöhnlich ein Röhr- 



I IO 


O. Lehmann 


chen mit Ätzkali oder Kohle, welche beim Erwärmen etwas Gas ab¬ 
geben, heute gewöhnlich ein Palladiumröhrchen, welches beim Er¬ 
wärmen etwas Gas durchläßt oder Glimmer, der durch einen Zweig¬ 
strom erhitzt wird und Wasserdampf abgibt oder ein mit poröser 
Masse verstopftes Kapillarröhrchen, welches durch Quecksilber ab¬ 
geschlossen ist, aber Luft passieren läßt, wenn mittelst Luftdruck 
das Quecksilber vorübergehend weggedrückt wird. Nach der Re¬ 
generation muß die Röhre erst etwas ruhen. 

Um den Durchgang von Schließungsstrom durch die 
Röntgenröhre zu hindern, wird eine Ventilröhre in deren 
Stromkreis eingeschaltet, d. h. eine Vakuumröhre, deren eine 
Elektrode weit von der Glaswandung absteht, während die 
andere eng von derselben umschlossen ist. Der Strom kann 
bei passendem Vakuum, welches eventuell wieder mit der Regene¬ 
riervorrichtung zu regeln ist, nur dann hindurch gehen, wenn die 
freie Elektrode Kathode ist, da in der anderen die Eletronen an 
der Glaswand anstoßen und diese negativ elektrisch machen, ehe sie 
die zur Erhöhung der Leitfähigkeit der Luft durch Ionenstoß erfor¬ 
derliche Geschwindigkeit erlangt haben. Die freie Elektrode muß 
also an die Kathode des Induktoriums angeschlossen werden. Oh 
die Ventilröhre wirkt und wirklich nur Stromstöße von gleicher 
Richtung durchläßt, wird durch eine eingeschaltete Geißlersche 
Röhre mit langen Elektroden kontrolliert. Nur auf einer derselben 
darf sich blaues negatives Glimmlicht zeigen. 

Sollen scharfe Bilder entstehen, so müssen die schat¬ 
tenwerfenden Röntgenstrahlen möglichst von einem einzigen 
Punkt der Antikathode ausgehen, d. h. der Brennfleck, in 
welchem die Kathodenstrahlen Zusammentreffen, muß mög¬ 
lichst geringe Ausdehnung haben und muß diese behalten, 
auch darf er nicht hin- und herwandern. Letzteres kann durch 
magnetische Ablenkung bedingt sein, wenn sich das Induktorium in 
zu großer Nähe befindet, aber auch durch elektrische, weil die Anti¬ 
kathode die negative Elektrizität der Kathoden strahlen aufnimmt 
und diese zurückstößt. Es muß also für gute Ableitung der nega¬ 
tiven Elektrizität gesorgt werden, was dadurch geschieht, daß man 
die Antikathode in leitende Verbindung mit der Anode bringt. Auch 
Regenerieren während der Röntgenaufnahme bedingt unscharfe Bil¬ 
der, da die eintretende Luft Verschiebung des Brennflecks zur 
Folge hat. 



Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Rocntgen 


I 1 I 


Da sich im Brennfleck die Antikathode sehr stark erhitzt, muß 
dafür gesorgt werden, daß sie nicht angeschmolzen wird. Man 
nimmt deshalb ein Metall von hohem Schmelzpunkt, neuerdings ge¬ 
wöhnlich Wolfram, welches zugleich großes Atomgewicht hat, wie 
es für guten Wirkungsgrad der Umsetzung der Kathodenstrahl¬ 
energie in Energie der Röntgenstrahlung erforderlich ist. Ferner 
wird die Kathode mit Kühlvorrichtungen versehen, unter welchen 
die Müllersche Wasserkühlung sich besonders bewährt hat. Bei un¬ 
ruhigen, lebenden Objekten kann die Schärfe der Bilder durch die 
fortgesetzte Verschiebung beeinträchtigt werden. Man sucht des¬ 
halb mit möglichst kurzer Expositionsdauer auszukommen, d. h. mit 
kurzen, starken Induktionsstößen, eventuell auch mit einem einzigen 
(Moment- oder Blitzaufnahmen). Bei Röhren, die mit 40 bis 60 
Milliampere belastet werden sollen, muß der Brennfleck einen 
Durchmesser von 3—5 Millimeter haben, wenn Anschmelzen (An¬ 
stechen) vermieden werden soll. Im allgemeinen werden die Bilder 
bei schwachem Strom und langer Exposition besser. Zur Messung 
der Ausdehnung des Brennflecks dient das sogenannte Fokometer, 
welches z. B. nach dem Prinzip der Lochkamera konstruiert sein 
kann oder nach dem Prinzip der Probeabbildung undurchlässiger 
Objekte in verschiedenen Entfernungen. 

Sehr störend ist der Umstand, daß Röntgenstrahlen nicht nur 
vom Brennfleck ausgehen, sondern, da sich da, wo Röntgenstrahlen 
auftreffen, sogar in dem von diesem durchdrungenen Körper, Se¬ 
kundärstrahlen bilden, von vielen anderen Punkten, weshalb sich 
über das reine Bild ein ganz diffuses lagert, das dasselbe verschleiert 
und unter Umständen ganz unterdrückt. Ganz besonders treten 
solche Sekundärstrahlen bei sehr harten Röhren auf; man nimmt 
deshalb die Röhrenhärte nicht größer, als durchaus nötig, und 
blendet die aus der Röntgenröhre austretenden Sekundärstrahlen 
durch ein Bleidiaphragma (Schlitz- oder Irisblende) oder besser ein 
Bleirohr (Tubusblende) ab, hindert auch das Eindringen unnötiger 
Röntgenstrahlen in den zu durchleuchtenden Körper durch Ab¬ 
decken aller nicht in Betracht kommenden Stellen in der Nähe mit 
Bleiblech. Die photographische Platte muß ohne Luftzwischen¬ 
raum dem Objekt anliegen und der nötige Abstand derselben vom 
Brennfleck (50—70 cm) durch passende Befestigung der Röntgen¬ 
röhre in einem Stativ hergestellt werden und zwar so, daß der 
Brennfleck senkrecht über der Mitte der Platte steht und die Achse 



I 12 


O. Lehmann 


der Röntgenröhre der Platte annähernd parallel läuft, da dann die 
Intensität der Strahlung am größten ist. 

Unter spezifischer Härte einer Röhre versteht man diejenige, 
welche sie beim Strom i Milliampere zeigt. Röhren von gleicher 
spezifischer Härte sind aber keineswegs gleichwertig, denn sie kön¬ 
nen sehr verschiedene Charakteristik haben, d. h. die Spannung 
(Härte) kann mit wachsender Stromstärke nur langsam oder rasch 
anwachsen und zwar bei normalem Gebrauch, d. h. ohne Änderung 
des Gasinhalts der Röhre. Zur Durchleuchtung dicker Objekte, 
die eben wegen der unvermeidlichen, im Objekt selbst entstehenden 
Sekundärstrahlen sehr schwierig ist, müssen Röhren mit steiler Cha¬ 
rakteristik verwendet werden. 

Wie bei jedem elektrischen Strom ist die Stromarbeit, 
somit hier auch die Röntgenstrahlenarbeit, proportional dem 
Produkt von Stromstärke, Spannung und Zeit, d. h. dem Pro¬ 
dukt der Milliampere, der Härte und der Sekunden. Harte Strah¬ 
len gehen aber auch durch die photographische Platte leicht hin¬ 
durch, d. h. die absorbierte Strahlenmenge, somit der photographi¬ 
sche Effekt ist umgekehrt proportional der Härte. Demgemäß 
ist für die photographische Aufnahme maßgebend das Produkt der 
Milliampere und der Sekunden, d. h. das Produkt der Stromstärke 
mit der Expositionszeit. Aus Tabellen kann man entnehmen, wie 
groß dasselbe für verschiedene Zwecke sein muß. Indem man diese 
Zahl mit der Stromstärke dividiert, erhält man also die erforderliche 
Expositionszeit. 

Durch Verwendung von Verstärkungsschirmen, d. h. durch 
Auflegen dünner Folien auf die Schichtseite der Platte, welche unter 
Einfluß der durch sie hindurchdringenden Röntgenstrahlen fluores¬ 
zieren und, da sie mit der präparierten Seite der Schichtseite der 
Platte unmittelbar anliegen, ebenfalls auf letztere einwirken, kann 
die Expositionszeit wesentlich herabgesetzt werden. Die Qualität 
der Bilder ist aber wesentlich von der Korngröße dieser Folien ab¬ 
hängig und davon, daß sie nicht nachleuchten. 

Steht zum Betrieb eines Funkeninduktors nicht Gleichstrom, 
sondern nur Wechselstrom zur Verfügung, so kann man letzteren 
durch einen Wcchselstrom-Gleichstromtransformator in Gleichstrom 
um wandeln oder man kann mittelst eines Synchronmotors einen 
rotierenden Hochspannungs-Stromschlüssel (sogenannten Gleich¬ 
richter) betreiben, welcher den Strom immer nur dann der Röhre 



Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Roentgen 


H 3 


zuleitet, wenn er die richtige Richtung hat, während er ihn bei ent¬ 
gegengesetzter Richtung durch einen Hochspannungswiderstand 
leitet. Durch geeignete Gestaltung des Stromschlüssels kann auch 
dafür gesorgt w'erden, daß z. B. nur der Teil der Stromwelle, welcher 
hohe Spannung besitzt, durch die Röhre geht, so daß vorwiegend 
harte Strahlen entstehen, oder daß zwar die ganze Stromwelle zur 
Wirkung kommt, aber jeweils ein Stromstoß ausfällt, die Induk¬ 
tionsstöße also in größeren Pausen erfolgen. 

In manchen Fällen ist die auch noch bei Brennfleckabständen 
von 50—70 cm auftretende der Divergenz der Strahlen entspre¬ 
chende Verzerrung der Bilder störend. Bei dem orthodiagraphi- 
schen Verfahren vermeidet man dies durch Verschiebung der Rönt¬ 
genröhre unter Mitverschiebung des zeichnenden Stiftes. Durch Röh¬ 
ren mit zwei Kathoden kann man stereoskopische Bilder erzielen, 
die im Stereoskop deutliche Vorstellung der Struktur geben. Durch 
Momentaufnahmen lassen sich kinematographische Films gewinnen. 

Die weitere Ausbildung der Theorie der elektrischen Entladung, 
insbesondere die Entdeckung, daß aus glühenden Körpern von selbst 
Elektronen austreten, führten neuerdings zur Konstruktion einer 
außerordentlich leistungsfähigen Röntgenröhre, deren Härte sich 
ganz nach Bedarf regulieren läßt, der Coolidge-Röhre. Die Kathode 
ist hier eine winzige ebene Spirale von 5 Windungen von Wolfram¬ 
draht von 0,2 mm Dicke, welche durch eine kleine hochisoliert auf¬ 
gestellte Akkumulatorenbatterie zur hohen Weißglut (2450°) erhitzt 
wird. Das Rohr ist bis auf etwa —-— mm Quecksilberdruck 
evakuiert, so daß, solange die Kathode kalt ist, bei der angewandten 
Spannung von etwa 70 Kilovolt (= 7 cm Schlagweite) überhaupt 
kein Strom hindurchgeht. Wird nun aber die Spirale geheizt, so 
entwickeln sich aus derselben so viele Elektronen, daß der Strom 
alsbald auf 25 Milliampere anschwillt und diese Stärke sowie die 
Spannung dauernd behält, da eine Gasentwicklung aus den zuvor 
lange im Vakuum geglühten Elektroden nicht erfolgt und Gas 
absorption nichts an der Härte der Röhre ändern würde, da diese 
eben durch die Zahl der aus dem Wolfram frei werdenden Elektro¬ 
nen bestimmt ist. Ein schwach konischer Mantel aus Molybdän, 
welcher mit der Kathode verbunden ist, bewirkt durch elektrische 
Ablenkung die Konzentration der Kathodenstrahlen auf den Brenn¬ 
fleck der Antikathode. Ebenso wie andere Röntgenröhren besteht 
auch diese Röhre aus Glas. 


Verhandlungen 26. Bd. 


8 



O. Lehmann 


IM 


Zchnder, der früher als Assistent von Röntgen tätig war, ist es 
in allerneuester Zeit geglückt, die Röhre zerlegbar aus Metall herzu¬ 
stellen, was nicht nur deren Zerbrechlichkeit beseitigt, sondern auch 
Schutzvorrichtungen überflüssig macht. Kathode und Anode sind 
durch einen dicken Porzellankörper von einander isoliert. Die Ka¬ 
thode kann sehr groß und ebenso wie bei der Coolidge-Röhre aus 
Wolfram hergestellt sein, sonst erfolgt die Regenerierung durch 
elektrisch geheizte Kohle. Die Kathode kann verschoben und da¬ 
durch der Brennfleck genau auf die Antikathode gebracht werden, 
eventuell falls diese angeschmolzen sein sollte, auf eine andere Stelle. 
Da die Röhre zerlegbar ist, können einzelne Teile ausgewechselt wer¬ 
den und die Abtrennung von der Pumpe erfordert also kein Ab¬ 
schmelzen. Sie soll bis 1000 mal so starke Strahlen geben wie ge¬ 
wöhnliche Röhren. 

Die wunderbarsten Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgen¬ 
strahlen sind nun aber nicht durch Verbesserung der Technik ihrer 
Herstellung erzielt worden, sondern durch tieferes Eindringen in 
das eigentliche Wesen der Strahlen. 

Wie schon bemerkt, entstehen sie beim Auftreffen der Ka¬ 
thodenstrahlen auf die Antikathode. Die in den Kathodenstrahlen 
bewegten Elektronen müssen von einem Magnetfeld begleitet wer¬ 
den, dessen Kraftlinien zur Bewegungsrichtung senkrecht stehende 
konzentrische Kreise sind. Dieses Feld verschwindet beständig auf 
der Rückseite und bildet sich auf der Vorderseite neu; es herrscht 
eine ständige Energieströmung in der Nähe der Elektronen, deren 
Stromlinien senkrecht zu den elektrischen und zu den magnetischen 
Kraftlinien verlaufen. Die elektrischen Kraftlinien behalten nicht 
ihre geradlinige Form und ihre gleichmäßige radiale Verteilung, son¬ 
dern suchen sich in eine Ebene senkrecht zur Richtung der Bewe¬ 
gung zusammenzuziehen. 

Trifft ein solches fortschreitendes Elektron auf ein Hindernis, 
7. B. ein materielles Molekül, so kann zweierlei eintreten: Ist die 
Spannungsdifferenz der Elektronen oder was auf dasselbe hinaus¬ 
kommt, der Spannungsabfall im Kathodendunkelraum, durch wel¬ 
chen die Elektronen beschleunigt werden und die Geschwindigkeit 
erhalten, die sie beim Verlassen des Dunkelraumes besitzen, kleiner 
als 11 Volt, was einer Geschwindigkeit von 2 Millionen Meter pro 
Sekunde entspricht, so wird das Elektron von dem Atom, auf wel¬ 
ches es auftrifft, aufgehalten, es bleibt gewissermaßen daran kleben 



Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Roentgen 


115 


und beide zu einem Ion vereinigt, bewegen sich nun mit verminderter 
Geschwindigkeit weiter, auch an andere Moleküle, die sie treffen, 
Geschwindigkeit abgebend und so den sogenannten elektrischen 
Wind erzeugend. Infolge des Gehalts von derartigen negativen 
Ionen erscheint die von Kathodenstrahlen getroffene Luft unipolar 
elektrisch leitend, d. h. bringt man in dieselbe ein positiv geladenes 
Elektroskop, so verliert dasselbe seine Ladung sofort, da sie neu¬ 
tralisiert wird durch die infolge der elektrischen Anziehung darauf 
zustürzenden negativen Ionen; ein negativ geladenes Elektroskop, 
von welchem diese Ionen abgestoßen werden, behält dagegen seine 
Ladung. Ist die beschleunigende Spannung größer als 11 Volt, d. h. 
die Elektronengeschwindigkeit größer als 2 Millionen Meter per 
Sekunde, so fahren die Elektronen durch die Atome hindurch und 
stören deren Struktur. Unelektrische Atome müssen nämlich, wie 
aus den Erscheinungen der Elektrolyse, der dielektrischen Polarisa¬ 
tion usw. hervorgeht, aus entgegengesetzt elektrischen Bestandteilen 
bestehen, also Elektronen enthalten, die durch Kraftlinien mit den 
positiven Resten, den Archionen verbunden sind. Fährt ein Elek¬ 
tron hindurch, so bedingt dessen elektrisches Feld eine Störung des 
Kraftlinienverlaufs, die den Austritt von Elektronen zur Folge hat. 
Man sagt, durch den Elektronen- bezw. lonenstoß finde eine Zer¬ 
trümmerung der Moleküle statt. Die Wiedervereinigung der los¬ 
gestoßenen Elektronen mit dem Atomrest bedingt die Lichterschei¬ 
nung, das Fluoreszieren der getroffenen Materie; in einer Geißler- 
schen Röhre das Auftreten des blauen Glimmlichts, welches den 
dunklen Kathodenraum umsäumt. Bei der Spitzenentladung in ge¬ 
wöhnlicher Luft ist dieses Glimmlicht infolge der Bildung von Me 
talldampf, der sehr viel mehr Elektronen erzeugt, als gewöhnliche 
Luft, auf einen leuchtenden Punkt beschränkt, von dem negativ elek¬ 
trischer Wind ausgeht. 

Infolge der Zertrümmerung der Luftmoleküle durch den Elek¬ 
tronenstoß in Elektronen und Archionen, welchen Prozeß man als 
Ionisierung bezeichnet, wird nicht wie bei Spannungen unter 11 Volt 
nur ein positiv, sondern auch ein negativ geladenes Elektroskop ent¬ 
laden, da dieses positive Archionen und Verbindungen solcher mit 
Luftmolekülen, die Molionen anzieht und seine Ladung an dieselben 
abgibt. Die Luft wird infolge der Ionisierung gut leitend und zwi¬ 
schen dem blauen Glimmlicht und der Anode ist deshalb in einer 
Geißlerschen Röhre kein erhebliches Spannungsgefälle vorhanden. 



O. Lehmann 


I 16 

die Elektronen bewegen sich, da sie durch ihr fortwährend ver¬ 
schwindendes Magnetfeld (wie man sagt, durch Selbstinduktion) 
immer neuen Bewegungsantrieb erhalten, in gerader Richtung un¬ 
bekümmert um die Lage der Anode immer weiter fort, wie wenn 
sie träge Massen wären. Aus dem Gesetz über die Größe der Selbst 
induktion ergibt sich, daß einem einzelnen Elektron eine träge Masse 
von 1,56 • io“ 3 ° kg zukommt. Aus dieser Masse und der Ge¬ 
schwindigkeit, die bei einer Elektrodenspannungsdifferenz von 2000 
Volt rund 20 Millionen Meter pro Sekunde ist, ergibt sich die Sto߬ 
kraft der Ionen und die infolge der Vernichtung ihrer scheinbaren 
Bewegungsenergie auftretende Wärmemenge. Tatsächlich handelt 
es sich nicht um einen Verlust an wahrer Bewegungsenergie, eben 
weil die Masse keine wirkliche, sondern nur eine scheinbare ist, son¬ 
dern um Verwandlung von magnetischer Energie in Wärmeenergie. 

Von den das bewegte Elektron umgebenden konzentrisch kreis¬ 
förmigen Kraftlinien geht also bei Durchquerung der Atome ein Teil 
verloren, weil die magnetische Energie zur Stoßwirkung verbraucht 
wird. Ein anderer Teil aber bleibt erhalten, und schreitet mit der 
Geschwindigkeit von 300 Millionen Meter in den Raum hinaus fort, 
was wieder eine Folge der Induktionswirkung ist. Die an der Vor¬ 
derseite des bewegten Elektrons neu entstehenden Kraftlinien müs¬ 
sen nämlich ringförmig sie umgebende elektrische Kraftlinien erzeu¬ 
gen, diese wieder magnetische usw., so daß immer weitere Ausbrei¬ 
tung des Magnetfeldes in den Raum hinaus eintreten muß. Von 
dem gebremsten Elektron löst sich also ein ringförmiges magneti¬ 
sches Kraftfeld ab, das sich beständig erweitert und wenn es Atome 
oder Moleküle trifft, durch Störung ihrer inneren Felder in ähnlicher 
Weise zertrümmernd oder ionisierend wirken muß, wie Elektronen, 
die durch die Atome hindurchfahren, die ia im Grunde auch nichts 
anderes sind als elektrische und magnetische Felder, mit dem Unter¬ 
schied, daß die elektrischen Kraftlinien in den Elektronen endigen, 
während die abgelösten elektrischen Felder die sich ausbreitenden 
ringförmigen magnetischen Kraftlinien ringförmig umschließen. 

Aus solchen ringförmigen Wellen magnetischer und elektrischer 
Kraft, die mit der Geschwindigkeit von 300 Millionen Meter per 
Sekunde in den Raum hinauseilen, bestehen die Röntgenstrahlen. 
Man nennt sie Röntgenimpulse. Daß sie ionisierend wirken wie 
Kathodenstrahlen, läßt sich leicht dadurch zeigen, daß ein geladenes 
Elektroskop sofort seine Ladung verliert, wenn Röntgenstrahlen in 



Zum 70. GeburtsUig von W. C. v. Rocntgen I 1 7 

der Nähe erregt werden. Die Wirkung kann auch dazu dienen, die 
Geschwindigkeit der Röntgenstrahlen experimentell zu bestimmen. 
Und geradeso wie bei den Kathodenstrahlen die Wiedervereinigung 
der durch Elektronenstoß freigemachten Elektronen mit den positi¬ 
ven Atomresten ein Leuchten, die Fluoreszenz bedingt, gilt dies 
auch für das Auftreffen von Röntgenstrahlen auf geeignete Stoffe, 
z. B. Bariumplatincvanür oder wolframsauren Kalk. Darauf eben 
beruht der Nachweis der Röntgenstrahlen mittelst des Fluores¬ 
zenzschirmes und die besprochene Verstärkung der Wirkung auf 
photographische Platten mittelst eines Verstärkungsschirmes. 

Die zur Erzeugung eines Röntgenimpulses mindestens er¬ 
forderliche Energie beträgt 2,69 • io~ l8 Joule. Nach der Quanten¬ 
theorie, nach welcher diese Energiemenge = 6,55 • io~* 4 • ^ Joule 

sein muß, wenn k die Impulsbreite ist, ergibt sich für letztere der 
Wert 74,55 Milliontel Millimeter. Welcher Bruchteil der Gesamt¬ 
energie eines Elektrons in Form von Röntgenenergie ausstrahlt, 
hängt ganz von der Beschaffenheit des getroffenen Atoms ab. 
Er wächst dem Kirchhoff sehen Satz von der Äquivalenz von 
Emission und Absorption gemäß mit dem Atomgewicht, ist aber 

immer kleiner als ~ 2 . Man kann ihn als den Wirkungsgrad 

der Röntgenstrahlung bezeichnen. Platin beispielsweise strahlt 
als Antikathode verwendet etwa 17 mal intensiver als Kohle. 

Es sind nicht nur die unmittelbar an der Oberfläche der 
Antikathode befindlichen Atome, welche Röntgenstrahlung aus¬ 
senden; die Kathodenstrahlen dringen vielmehr bis zu einer ge¬ 
wissen Tiefe ein, welche proportional ihrer Geschwindigkeit, d. h. 
der Elektrodenspannung ist. Beispielsweise dringen bei einer 
Bleiantikathode die Strahlen aus einer mittleren Tiefe von 
5,9 • io“ 5 cm. = 0.59 Tausendstel Millimeter. Mit Zunahme der 
Geschwindigkeit der Kathodenstrahlen steigt die Energie der 
Röntgenstrahlen proportional der 4. Potenz der Kathodenstrahl¬ 
geschwindigkeit, solange diese klein gegen die Lichtgeschwindigkeit 
ist. Sie kann ähnlich der des Sonnenlichts werden. Fände ein Ein¬ 
dringen der Kathodenstrahlen in die Tiefe der Antikathode 
nicht statt, so wären die sich ausbreitenden Kraftlinienringe parallel, 
die Röntgenstrahlenimpulse wären wie man sagt ,.gerichtet“. Tn 
Wirklichkeit werden aber die Elektronen bei weiterem Eindringen 



O. Lehmann 


I 18 

unregelmäßig abgelenkt und allmählich verlangsamt. Die Strahlung 
ist deshalb eine diffuse und zwar ist sie bis zu einem Emissionswin¬ 
kel von 80 ° annähernd gleichmäßig. Auch die Impulsbreite ändert 
sich in weiten Grenzen; die Strahlung muß also als ein Gemisch ver¬ 
schiedenartiger Strahlen aufgefaßt werden, wobei die größeren Im¬ 
pulsbreiten überwiegen. Je größer die Geschwindigkeit der Katho¬ 
denstrahlen, um so kleiner ist die Impulsbreite. 

Die Verschiedenheit der Impulsbreite macht sich geltend durch 
das Durchdringungsvermögen der Strahlen. Je kleiner sie ist, d. h. 
je größer die Elektronenspannung, je schwerer die Röhre den Strom 
durchläßt, je härter, wie man sagte, die Röhre ist, um so größeres 
Durchdringungsvermögen haben die Strahlen, um so weniger wer¬ 
den sie in einem Körper, den sie durchdringen, absorbiert. Weiche 
Röhren, d. h. solche mit schlechtem Vakuum, welche geringe Elek¬ 
trodenspannung erfordern, erzeugen im wesentlichen Strahlen, 
welche stark absorbiert werden und z. B. kaum durch die Fleisch¬ 
masse einer Hand hindurchgehen, so daß man von dieser auf dem 
Fluoreszenzschirm einen schwarzen Schatten erhält, in welchem 
nichts von der inneren Struktur der Hand zu erkennen ist. Um¬ 
gekehrt entwerfen sehr harte Strahlen einen kaum sichtbaren Schat¬ 
ten, in welchem ebenfalls keine Struktur zu erkennen ist, obschon 
sie in den Knochen etwas stärker absorbiert werden, als im Fleisch. 
Für medizinische Zwecke sind deshalb mittelharte Strahlen am 
besten geeignet, wie schon oben bemerkt wurde, oder ein Gemisch 
verschiedenartiger Strahlen, wie es bei Verwendung eines Induk¬ 
tor iums wegen der Form der Strom wellen von selbst entsteht. 

Zu Beginn eines Induktionsstoßes entstehen nämlich, da die 
Luft noch nicht ionisiert, die Elektrodenspannung also sehr hoch 
ist, zunächst sehr harte, dann mit fortschreitender Ionisierung und 
Verminderung der Spannung immer weichere Strahlen. Bei Ver¬ 
wendung eines Wechselstromgleichrichters kann man durch Abkür¬ 
zung der Dauer des Stromschlusses letztere abschneiden, so daß die 
härteren vorwiegen und z. B. im Fleisch nur etwa 5 bis 6 % absor¬ 
biert werden, während gewöhnlich 30 bis 40 % der Strahlen nicht 
hindurchkommen. 

Die Absorption ist ungefähr der 5ten oder 6ten Potenz des 
Atomgewichts der absorbierenden Atome proportional; weil aber die 
gewöhnliche Strahlung ein Gemisch verschiedenartiger Strahlen ist, 
ähnlich wie sich weißes Licht aus verschiedenartigen Farben zu- 



Zum ;o. Geburtstag von W. (\ v. Rocntgen IIq 

sammensetzt, kann man nicht von einem bestimmten Absorptions¬ 
koeffizienten sprechen. 

Geht man von weicheren zu immer härteren Strahlengemischen, 
so nimmt anfänglich die Absorption ab, bis sie plötzlich sehr stark 
wird, nämlich bei dem Härtegrade, bei welchem die Röntgenstrahlen 
ähnlich wie Kathodenstrahlen Fluoreszenz erregen. Diese Fluores¬ 
zenz besteht im allgemeinen in dem Auftreten einer sekundären 
Röntgenstrahlung von einer bestimmten Impulsbreite, die für den 
betreffenden Stoff charakteristisch ist und deshalb als ,charakteri¬ 
stische Strahlung“ bezeichnet wird. Sie ist mit Zertrümmerung der 
Moleküle wie im Falle der Ionisation verbunden, nämlich mit dem 
Austritt von Elektronen, d. h. der Bildung von Kathodenstrahlen 
und ihre Ursache ist die Wiedervereinigung der getrennten Elek¬ 
tronen mit den Atomresten, den Archionen. Macht man die auf¬ 
treffenden Röntgenstrahlen noch härter, so nimmt die Absorption 
wieder gleichmäßig ab. 

Die im Falle der starken sog. selektiven Absorption auf¬ 
tretenden Fluoreszenz-Röntgenstrahlen haben eine ganz bestimmte 
Impulsbreite, wie daraus hervorgeht, daß der Quotient von 
Absorptionskoeffizient /x und Dichte q der Gleichung genügt, 

^ = A X x , wo A und x Konstanten sind und X die Impulsbreite, 

d. h. daß ihnen im Gegensatz zu den »weißen« Röntgenstrahlen 
ein bestimmter Absorptionskoeffizient zukommt. Man nennt sie 
deshalb »monochromatische« Röntgenstrahlen. 

Bei Anwendung von Schwefel oder Kohle als absorbierenden 
Substanz entsteht nur eine einzige charakteristische Strahlung, bei 
Platin und Zink dagegen entsteht eine ganze Serie solcher Strahlen 
von verschiedenen Härtegraden. Hat der Stoff die Form eines 
dünnen Blättchens, so erhält man die charakteristischen Sekundär¬ 
strahlen nur bei streifender Inzidenz, da die Primärstrahlen viele 
Atome durchqueren müssen, damit genügend Energie absorbiert 
wird. Dichte, Temperatur, Aggregatzustand und chemische Bin¬ 
dung des Stoffes sind ohne Einfluß. Das Durchdringungsvermögen 
(die Härte) der primären Strahlen muß etwas größer sein als die 
der zu erzeugenden Sekundärstrahlen (Stokes Regel). In Gasen 
ist der Absorptionskoeffizient der Dichte proportional, der 

Quotient ” somit vom Druck unabhängig. 



120 


0 . Lehmann 


•Die durch Röntgenstrahlen beim Durchdringen von Gasen her¬ 
vorgerufene Ionisation (infolge des Austreibens von Elektronen aus 
den Molekülen) läßt sich nach Wilson sehr deutlich erkennen, wenn 
man feuchte Luft anwendet, die eben im Begriff ist, sich zu Nebel 
zu kondensieren. Die entstandenen Ionen rufen, indem sie Zu¬ 
sammenballen von Wasserdampfmolekülen um sich herum veranlas¬ 
sen, die Kondensation wirklich hervor, so daß der Weg jedes Ions 
sich als Nebelstreifen kennzeichnet. Während bei den a-Strahlen 
des Radiums (Kanalstrahlen) diese Schußkanäle als fast gerade 
Streifen erscheinen, sind sie bei den durch Röntgenstrahlen in dich¬ 
ter Luft erzeugten Ionen vielfach gekrümmte und gebrochene Linien. 
Sie sind ein auffälliger Beweis der Richtigkeit der Ionentheorie. 

In Luft ist zur Bildung eines Ionenpaars die Absorption der 
Energiemenge 34- io - ' 8 Joule nötig. Zur Abtrennung eines Elek¬ 
trons genügen io - * 8 Joule. Daß auch in flüssigen und festen 
Körpern durch Röntgenstrahlen Ionisation bewirkt wird, geht aus 
der Erhöhung des elektrischen Leitvermögens hervor. Das des 
Kalkspats steigt auf den 20ofachen Wert, falls tagelange Bestrah¬ 
lungen angewandt werden, und die Rückkehr des ursprünglichen Zu¬ 
standes erfolgt erst in Jahren, falls man sie nicht durch Erwärmen 
beschleunigt. 

Das Auftreten der starken selektiven Absorption bei Nickel, Sil¬ 
ber usw. ermöglicht die Konstruktion von Härtemessern für Rönt¬ 
genstrahlen. Würde man eine Aluminiumtreppe neben ein Nickel¬ 
blech auf den Fluoreszenzschirm legen, so würde bei bestimmter Ge¬ 
schwindigkeit der Strahlen vielleicht die mittelste Treppe ebenso 
dunkel erscheinen wie das Blech. Wäre die Absorption in Nickel 
der in Aluminium proportional, so würde auch bei Änderung der 
Geschwindigkeit der Strahlen der Anblick immer derselbe sein. Da 
dies nicht zutrifft, wird nunmehr eine andere Treppe gleich dunkel 
wie das Nickelblech erscheinen. Auf diesem Prinzip beruhen die 
Härtemesser von Benoist, Walter, Wehnelt usw. Statt Nickelblech 
wird Silberblech benutzt, dessen selektive Absorption besser geeig¬ 
nete Lage hat, als die von Nickel. 

Die Geschwindigkeit der Kathodenstrahlen, welche neben der 
charakteristischen Fluoreszenz-Röntgenstrahlung bei der Absorp¬ 
tion von Röntgenstrahlen entstehen, wächst mit der Härte der 
letzteren, ist aber unabhängig von deren Intensität. Dies läßt 
sich nur erklären durch die Quantentheorie, gemäß welcher diese 



Zum 70. Geburtstag von \V. C. v. Rocntgcn 


I 2 I 


Energie nur staffelweise in Quanten an die Elektronen abgegeben 
wird. Bei der Wiedervereinigung der Elektronen mit dem Atom¬ 
rest gilt dasselbe bezüglich der entstehenden sekundären Röntgen¬ 
strahlung. Hierbei findet aber nicht eine einfache Durchquerung 
des Atoms statt, da ja das Elektron mit demselben verbunden 
bleibt, letzteres gerät vielmehr in pendelnde Schwingungen um 
seine endgültige Lage, sendet also wiederholt Röntgenimpulse aus, 
d. h. Magnetfelder von abwechselnd entgegengesetzter Richtung, 
die im Raume aufeinander folgen und einen magnetischen Wellen¬ 
zug bilden. Ist v die Anzahl der pro Sekunde entstehenden 
Wellen und k ihre Länge, d. h. der Abstand zweier gleich¬ 
gerichteter Magnetfelder, so ist v ■ k der Weg pro Sekunde, 
d. h. = 3 • io 8 Meter und folglich nach der Quantentheorie ein 

Energiequant = 6,55 • io' 31 • 3 j -■ Joule. Dieses muß gleich der 

scheinbaren Bewegungsenergie eines Elektrons sein, die bei 

den Primärstrahlen dadurch entstanden ist. daß es sich durch 

das Spannungsgefälle E im Dunkelraum bewegt hat, welches 

gleich der Spannungsdifferenz der Elektronen ist. Die dabei 

von der Kraft des Feldes geleistete Arbeit ist, da die Ladung 

des Elektrons 0,156 • io“' 8 Coulomb beträgt, E ■ 0,156 • io - ' 8 Joule. 

Beträgt also die Elektrodenspannungsdifferenz 60000 Volt, so ist 

. 6,55. 10-34 • 3 • 10» , ,, , , 

k= ~ --i - r ——; =0,21 • io“ 7 mm = 0,21 X Atomdurchmesser. 

Derartige Röntgenstrahlen müßten sich also ganz wie ultra¬ 
violettes Licht verhalten, denn durch die Versuche von H. Hertz 
ist nachgewiesen worden, daß auch das Licht nichts anderes ist 
als eine Aufeinanderfolge abwechselnd entgegengesetzt gerichteter 
magnetischer und elektrischer Felder, die sich im Raume aus¬ 
breiten mit der Geschwindigkeit 3-10* Meter pro Sekunde. 
Die verschiedenen Strahlenarten unterscheiden sich nur durch die 
Wellenlänge, die für die äußersten ultraroten Strahlen bis gegen 
0,1 mm reicht, für die äußersten ultravioletten Strahlen bis gegen 
100 Milliontel Millimeter. Der Unterschied der Röntgenstrahlen 
diesen gegenüber wäre also lediglich der, daß ihre Wellenlänge nur 
2 Hundertstel eines Milliontel Millimeter, also noch rund 10000 
mal kleiner ist als die der kürzesten Lichtwcllen. 

Zur Messung der Lichtwellenlänge benutzt man Beugungsgit¬ 
ter. Für die Messung von Röntgenstrahlen wären solche nicht zu 



122 


O. Lehmann 


gebrauchen, da nicht möglich ist, mechanisch genügend feine Spal¬ 
ten herzustellen, die eben ungefähr von der Größenordnung der 
Wellenlänge sein müßten, d. h. von der Größenordnung der Atome. 
M. v. Laue 1 kam nun auf den sehr folgenreichen Gedanken, daß viel¬ 
leicht Kristallplatten ohne weiteres als Beugungsgitter für Röntgen¬ 
strahlen verwendbar wären, da aus dem Verhalten der Kristalle 
folgt, daß ihre Moleküle in Raumgittern angeordnet und die Ab¬ 
stände der Gitterebenen von der Ordnung io~ 7 mm sein müssen. 
Die zu erwartenden Erscheinungen müßten etwa dieselben sein, wie 
man sie bei Lichtstrahlen beobachtet, wenn man dieselben durch hin¬ 
tereinander gestellte Kreuzgitter hindurchleitet. 

Das von W. Friedrich und P. Knipping auf seine Anregung 
ausgeführte Experiment hat die Vorhersage glänzend bestätigt und 
hierdurch ist gleichzeitig ein Mittel gefunden worden, die Mole¬ 
kularanordnung in Kristallen, sowie auch in anderen Körpern mit 
aller Sorgfalt zu studieren. 

Besonders einfach liegen die Verhältnisse bei Diamant. Die 
Lage der Interferenzflecke läßt darauf schließen, daß derselbe 
aus zwei ineinandergestellten kubischen Raumgittern besteht, von 
welchen das eine gegen das andere in der Hexaederdiagonale 
um x / 4 derselben verschoben ist. Die Abstände der Netzebenen 
parallel den Oktaederflächen sind abwechselnd 0,508 « io“ 7 und 
1,522 • io~ 7 mm. Die Netzebenen parallel den Würfelflächen sind 
äquidistant, ihr Abstand beträgt 0,880 • io -7 mm. Um das eine 
Raumgitter in das andere überzuführen, muß man es um eine der 
Hexaederkante parallele Achse, die durch die Mitte des Abstandes 
zweier benachbarter entgegengesetzt orientierter Kohlenstoffatome 
hindurchgeht, um 180 0 drehen und zugleich in der Richtung jener 
Achse um % der Hexaederseite um h verschieben. Von jedem 
Atom gehen gleichlange Verbindungen nach vier Nachbaratomen 
und zwar in gleicher Richtung, wie sie die chemische Valenztheone 
den tetraedrisch gedachten Kohlenstoffatomen beilegt, d. h. radial 
von den Ecken des Tetraeders ausstrahlend. Man hat hieraus ge 
schlossen, für einen Kristall existiere der Begriff des Moleküles nicht 
wie für Flüssigkeiten und Gase, alle Moleküle seien in Kristallen 
in Atome aufgelöst und diese seien zu incinandergestellten Raum¬ 
gittern angeordnet; Moleküle entständen erst beim Auflösen, 
Schmelzen oder Verdampfen eines Kristalls; Erstarrung und Subii- 

1 Damals in München, jetzt in Frankfurt a. M. 



Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Roentgen 123 

mation seien gewisermaßen Dissoziationsprozesse. Mit der Lehre 
von den flüssigen Kristallen steht dieser Schluß freilich in direktem 
Widerspruch 1 und da bisher nicht gelungen ist, diesen zu beseitigen, 
muß man jene „Atomgruppierungstheorie“ wohl für irrtümlich hal 
ten. Bei der zurzeit noch geringen Zahl von Beobachtungen läßt 
sich ein sicherer Schluß überhaupt nicht ziehen. 

Die Theorie würde auch zu den merkwürdigen Konsequenzen 
führen, daß chemische Affinität und Kohäsion (Elastizität) im 
Grunde identisch sind und daß die Festigkeit der 5 festen Modifi¬ 
kationen des Ammoniumnitrats gleich sein müsse, da sie aus den¬ 
selben Atomen bestehen, die wie die Identität der chemischen Eigen¬ 
schaften beweist, in gleicher Art verbunden sind. 

Die Interferenzflecke kommen nicht etwa, wie man denken 
könnte, durch die charakteristischen Röntgenstrahlen der Antika¬ 
thode zustande, denn sie bleiben unverändert, wenn das Material 
der Antikathode geändert wird, sondern durch die gemischte Strah¬ 
lung aus deren Komponenten der Kristall diejenigen absondert, 
deren Wellenlängen zwischen seine Netzebenen passen. 

Es läßt sich zeigen, daß der Effekt derselbe ist, wie wenn 
die Strahlen an den Netzebenen reflektiert würden, wobei sie 
dann ähnlich wie die von Lippmanns Farbenphotographien reflek¬ 
tierten Strahlen miteinander interferieren, derart, daß nur die¬ 
jenigen übrig bleiben, deren Wellenlänge k = - dc ^~ <p - ist. 

Die Beugungsbilder sowohl der reflektierten wie die der durch¬ 
gegangenen Strahlen liegen auf Kreisen, ganz ebenso wie die 
eines gewöhnlichen Lichtstrahls, der auf ein Strichgitter in der 
Strichrichtung auffällt. In Wirklichkeit hat man aber nicht eine ein¬ 
zige Schicht von Strichen, sondern eine große Anzahl hintereinan 
der befindlicher. Daß es sich dabei nicht um gewöhnliche Reflexion 
handelt, geht daraus hervor, daß rauhe Flächen ebensogut reflek¬ 
tieren wie glatte. Es sind eben die Netzebenen im Kristall, nicht 
die Facetten der rauhen Oberfläche, welche als reflektierende Flä¬ 
chen aufzufassen sind. Je dichter dieselben mit Atomen besetzt sind, 
11m so größer ist die Intensität des reflektierten Lichtes. Ist das 
Strahlenbündel hinreichend dick, so sieht man die Interferenzflecke 
auch auf dem Fluoreszenzsehirm und kann sich dabei durch Drehen 

1 Siehe O. Lehmann, Ann. d. Phys. 47, 832, 1915 und Max Born, Dynamik 
der Raumgitter, Leipzig 1915. 



124 


O. Lehmann 


des Kristalls leicht davon überzeugen, daß sie alle dem Spiegelungs¬ 
gesetz entsprechend hin- und herwandern. Jeder Fleck entspricht 
einer Wellenlänge, die gleich dem doppelten der Projektion des Ab¬ 
standes der Ebenen auf die Richtung des einfallenden Strahls ist. 

Die an einem Kochsalzkristall abgebeugten Röntgenstrahlen 
sind also monochromatisches Röntgenlicht (Grund- und Oberschwin¬ 
gungen) im Gegensatz zum „weißen“ Röntgenlicht der Röntgenröhre 
(Gemisch von Strahlen). Benuzt man solche Strahlen zur Auf¬ 
nahme der Interfcrenzfiguren eines zweiten Kristalls und vergleicht 
diese „selektive“ Aufnahme mit der „weißen“, so kann man das 
Verhältnis der Gitterkonstanten beider Kristalle bestimmen. Bei 
zwei ineinandergestellten Raumgittern sind natürlich die Intensitä¬ 
ten der reflektierten Strahlen für die Wellenlängen geringer, welche 
eines der im Kristall enthaltenen Elemente stark absorbiert. 

Wenn ein an einem Kristall reflektierter Röntgenstrahl strei¬ 
fend auf einen zweiten Kristall fällt, so erhält man starke Reflexion, 
falls die beiden Kristalle parallel sind, dieselbe nimmt aber schnell 
ab, wenn der zweite Kristall um den auf ihn fallenden Strahl als 
Achse gedreht wird. Die Röntgenstrahlen werden also ebenso wie 
gewöhnliches Licht bei der Reflexion polarisiert und zwar sowohl 
bei der gewöhnlichen wie bei der selektiven Strahlung. 

Da von einem Kristall nur Strahlen reflektiert werden, für 
n ^ 

welche sin & = ist, würde man bei Reflexion eines durch einen 

Spalt hindurchgegangenen Strahlenbündels an einem zu einem 
dem Spalt parallelen Zylinder zusammengebogenen Glimmerblatt 
nur in der obigen Gleichung entsprechende vereinzelte Spaltbilder 
erhalten; falls das Strahlenbündel nur eine einzige Strahlenart von 
der Wellenlänge X enthielte, im einfachsten Falle ein einziges. Wä¬ 
ren zweierlei Strahlen von verschiedener Wellenlänge vorhanden, 
so würde ein aus zwei Linien bestehendes Spektrum erster Ordnung 
auftreten, nach demselben ebenfalls aus je zwei Linien bestehende 
Spektra 2, 3 . . . . n ter Ordnung. Wären unendlich viele Wel¬ 
lenlängen vorhanden, so würden entsprechend kontinuierliche Spek¬ 
tra der verschiedenen Ordnungen zu beobachten sein. Man hat also 
in einem derartigen Glimmerblatt ein Mittel zur Spektralanalyse 
der Rdntgenstrahlen, ebenso wie man z. B. in einem Spiegelgitter 
ein Mittel zur Spektralanalyse des Lichtes hat. Noch bessere Re¬ 
sultate werden erzielt durch Reflexion an einer ebenen Kristallplatte, 



Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Roentgen 


125 


welche sich langsam um eine in ihrer Ebene liegende Gerade dreht 
und die Strahlen auf eine photographische Platte reflektiert. Die 
Linien, die beim gebogenen Glimmerblatt gleichzeitig auftreten, er¬ 
scheinen hier nacheinander, was aber gleichgültig ist, da sie von der 
photographischen Platte alle fixiert werden, so daß in gleicher Weise 
wie mit dem Glimmerblatt ein photographiertes Spektrum erhalten 
wird. Man findet so z. B., daß Wolfram ein linienreiches Spektrum 
über einen kontinuierlichen gibt. Bei Platin wurden sehr linien¬ 
reiche Spektren erhalten, wobei sich allerdings gezeigt hat, daß nicht 
alle Linien verschiedenen Wellenlängen entsprechen, sondern ein¬ 
zelne durch Inhomogenitäten der Kristallplatte verursacht waren. 

Die Wellenlänge der oben erwähnten charakteristischen Strah¬ 
len erweist sich größer als die der Strahlen des kontinuierlichen 
Spektrums. Nur die letzteren tragen zur Entstehung der Laueschen 
Interferenzflecke bei, da sich sonst beim Drehen des Kristalls die 
Intensität der letzteren sprungweise ändern müßte. Temperatur¬ 
erhöhung schwächt infolge der Wärmebewegung der Moleküle das 
Reflexionsvermögen einer Kristallplatte für Röntgenstrahlen und 
zwar um so mehr, je weniger dicht die betreffenden Netzebenen mit 
Atomen besetzt sind. Bei den Laueschen Röntgenogrammen wird 
die Intensität der Interferenzflecke durch die Wärmebewegung um 
so mehr vermindert, je weiter sie vom Durchstoßpunkt entfernt 
sind; ebenso, wie bei der Reflexion an einer Kristallplatte die 
Schwächung um so beträchtlicher ist, je steiler die Strahlen einfal¬ 
len, so daß in der Regel die Reflexion nur bei streifendem Einfall zu 
beobachten ist. Erwärmung eines Kristalls bedingt deshalb, daß 
immer mehr Flecken am Umfang des Interferenzbildes verschwin¬ 
den. Abkühlung eines Steinsalzkristalls von gewöhnlicher Tem¬ 
peratur bis zur Temperatur flüssiger Luft hat dagegen wenig Ein¬ 
fluß. Beim Diamant ist wohl wegen der großen Kohäsion und der 
besonderen Form des Raumgitters der Einfluß der Wärme sehr ge¬ 
ring. Infolgedessen beobachtet man Reflexion auch unter steilen 
Winkeln und erhält die Interferenzfigur nicht nur auf einer hinter 
den Kristall gesetzten Platte wie sonst, sondern auch auf seitlich 
oder vom angebrachten Platten. 

Ein Magnetfeld von 10000 Gauß-Stärke erwies sich auf die 
Gestaltung der Interferenzbilder bei Steinsalz und Magnetit ohne 
Einfluß. 



126 


(>. Lehmann 


Beim Durchgang des Strahlenbündels durch ein dünnes Platin¬ 
blech entstehen Höfe um den Durchstoßpunkt, wahrscheinlich weil 
durch erzwungene Homöotropie beim Walzen halbisotrope Struktur 
hergestellt wurde. Durch Ausglühen ändern sich die Figuren, wohl 
weil infolge von enantiotroper Umwandlung die erzwungene Ho¬ 
möotropie wieder beseitigt wird. Bei Platten von Kohle und 
Schwefel ergaben sich helle und dunkle Ringe um den Durchgangs¬ 
punkt. Ähnlich bei gepreßten Wachs- und Paraffinplatten. Bei 
einem im Schraubstock gepreßten Wachsstück wurden, offenbar in¬ 
folge von erzwungener Homöotropie Flecke erhalten, welche sich 
beim Drehen der Platte um die Achse des Strahlenbündels mitbeweg¬ 
ten. Beim Durchgang der Strahlen durch Asbest oder Fasergips 
senkrecht zu den Fasern erscheint der Durchstoßpunkt von geraden 
Linien durchzogen, von welchen die stärkste senkrecht zu den Fa¬ 
sern steht. Beim Durchgang parallel zu den Fasern ist der zen¬ 
trale Fleck von konzentrischen Kreisen umgeben. Auch bei aus¬ 
gewalzten und ausgeglühten Metallplättchen zeigt sich ähnliches. 

Von ganz besonderem Interesse ist die Untersuchung der Mole¬ 
kularstruktur flüssiger Kristalle mit Hilfe der Röntgenstrahlen. Wie 
ich gefunden habe, können auch Flüssigkeiten eine Raumgitterstruk¬ 
tur besitzen, wie feste Kristalle, sowie andere nicht homogene, aber 
doch gesetzmäßige Molekularstrukturen, wie sich namentlich aus 
ihrem optischen Verhalten ergibt. Diese Strukturen können durch 
Einwirkung eines Magnetfeldes abgeändert werden; man müßte also 
bei Erzeugung eines Interferenzbildes mittelst Röntgenstrahlen eine 
Änderung dieses Bildes bei Einwirkung eines magnetischen Feldes 
beobachten, aus welcher die Art der Strukturänderung und damit 
die Art der Kraftwirkung zwischen den Molekülen erkannt werden 
könnte. Versuche dieser Art sind bereits von dem Mitarbeiter des 
Herrn v. Laue, Herrn St. v. Lingen, begonnen worden, es konnten 
auch Andeutungen von Interferenzbildern im Magnetfeld erhalten 
werden, doch hinderte der Ausbruch des Krieges die Fortsetzung 
der Versuche. Auch hier in Karlsruhe sollte ein großer Elektro¬ 
magnet zu solchen Forschungen aufgestellt werden, zu welchem die 
Jubiläumsstiftung der deutschen Industrie Mittel bewilligt hat. 

Die Erkenntnis der Struktur der Stoffe ist ein Hauptziel der 
Physik; denn so wie wir die Leistungen einer Maschine nur dann 
genau vorausberechnen können, wenn wir über ihre Bestandteile ge¬ 
nau orientiert sind, so gilt dies auch bezüglich des Verhaltens der 



Zum "o. Geburtstag von \V. C. v. Roentgen 


127 


Körper, wenn wir sie irgend welchen physischen Kraftwirkungen 
aussetzen. Auf Grund der bedeutenden Fortschritte in der Kon¬ 
struktion der Röntgenröhren dürften die dargelegten Untersuchun¬ 
gen nach Laues Prinzip noch reiche Früchte tragen. 1 

Insoweit Organismen aus kristallinisch-flüssigen Stoffen be¬ 
stehen, dürfte auch hier die Methode vielleicht einigen Aufschluß 
über die Art der Zusammenlagerung der molekularen Bausteine 
geben können und über deren Änderung während der Lebenstätig¬ 
keit. Die Röntgenstrahlen würden hierdurch für biologische und 
medizinische Forschungen noch weit größere Bedeutung gewinnen, 
als sie jetzt schon durch Ermöglichung der Erforschung der grö¬ 
beren inneren Beschaffenheit der Organismen und des menschlichen 
Körpers im lebenden Zustande besitzen. 2 


1 Siehe auch F. Rinne, Beiträge zur Kenntnis der Kristall-Röntgenogramme, 
Sitzb. d. Kgl. Sächs. Akad. 19. Juli 1915, worin nicht nur sehr gut gelungene noimale 
Interfereuzbilder wiedergegeben sind, sondern auch solche, die nach plastischer Deforma¬ 
tion der Kristalle erhalten wurden. Zur Herstellung diente eine Röntgenröhre neuester 
Konstruktion von Dr. Lilienfeld, siehe elektrotechn. Zeitschr. 37, 185, 1916. 

* Der Vortrag war begleitet von Vorführung zahlreicher Lichtbilder, sowie von 
Versuchen. 



'S 


V 




Nullpunktsenergie und Gravitation . 1 

Von O. Lehmann. 

Die Aufgabe der Physik, Vorausberechnung der Erscheinungen 
der leblosen Natur, hat exakte Beschreibung der Eigenschaften der 
Dinge zur Voraussetzung. Selbstverständlich müssen die betrach¬ 
teten Dinge auch wirklich existieren. Das trifft keineswegs immer 
zu. Aristoteles, der Begründer der Physik, beschäftigte sich viel mit 
der Drehung der die Erde scheinbar umhüllenden Himmelskugel. 
Eine solche kristallene Sphäre, an deren Existenz zurzeit des Aristo¬ 
teles niemand zweifelte, existiert, wie später Kopernikus gezeigt hat, 
keineswegs und auch das Kreisen der Sterne ist eine Täuschung, 
bedingt durch Drehung der Erde, deren wir uns nicht bewußt wer¬ 
den. Die farbigen Nachbilder, die wir, geblendet durch direkten 
Anblick der Sonne, zu sehen glauben, der Regenbogen, die Gespen¬ 
ster, die uns der Zauberspiegel vortäuscht, die zierlichen Sterne im 
Kaleidoskop und viele andere Dinge, welchen wir auf den ersten 
Blick reale Existenz zuschreiben möchten, besitzen solche nicht. 

Anders die Wogen des Meeres oder die Wirbelstürme, welche 
barometrische Minima umkreisen, deren Existenz sich zuweilen 
recht unangenehm fühlbar macht. Doch auch sie können nicht die 
Grundlage einer Berechnung bilden. Sie kommen und gehen, schwel¬ 
len an, zerteilen sich und zerrinnen wieder in nichts; sie sind nicht 
beständig, nicht unveränderlich. Einst galten sie gar als völlig un¬ 
berechenbare Willkürmaßnahmen von Wind- und Meeresgöttern und 
lange dauerte es, bis die Bestrebungen der Philosophen zur Er¬ 
kenntnis führten, daß auch hier sowohl das Kommende wie das Vor¬ 
angegangene aus dem Gegenwärtigen sich berechnen lassen müsse, 
wie es zuerst bei einer andern, früher von den Astrologen ebenfalls 


1 Vortrag im naturw. Verein und der ehern. Gesellschaft am 20. Juli 1916. 
Verhandlungen. 26. Band. 9 



>30 


O. Lehmann 


als Willensäußerung von Göttern betrachteten Naturerscheinung, der 
Bewegung der Gestirne, speziell hinsichtlich des Auftretens von 
Finsternissen, erkannt worden war. Später dachte Laplace selbst 
an die Möglichkeit der Aufstellung einer Weltformel, aus welcher 
sich alles Geschehen in der Welt mathematisch sollte ableiten lassen, 
wenn auch nicht in Wirklichkeit, so doch im Prinzip. 

Abgesehen von ihrer Veränderlichkeit haben Meereswogen und 
Wirbelstiirmc noch den anderen Mangel, daß sie keinen abgegrenz¬ 
ten Raum einnehmen, daß sie keine Individuen sind wie unsere 
eigene Person. Beschreibung eines Vorgangs ist für uns nur ver¬ 
ständlich, wenn wir ihn im Geiste nachmachen, d. h. unser eigenes 
Ich an Stelle der wirkenden oder einer Wirkung unterliegenden 
Dinge setzen können. Unser Ich ist aber unteilbar, wir vermögen 
uns nicht vorzustellen, daß es in zwei Teile gespalten werden könne. 
Darum suchte nicht nur das Altertum alles zu personifizieren, auch 
der spätere Anthropomorphismus war bestrebt, alles auf die Existenz 
von unteilbaren Atomen zurückzuführen. Wohl ist eine stetige 
Linie als Bahn eines Punktes, in welchem wir unser Ich konzentriert 
denken, für uns verständlich, auch eine stetige Fläche als Bahn einer 
Linie und stetiger Raum als Bahn einer Fläche; aber selbst die reine 
Mathematik sieht sich genötigt, diese Gebilde in Differentiale, Punkt¬ 
reihen, Strahlen- oder Fläehenbüschcl zu zerlegen, um mit ihnen 
rechnen zu können oder sonstige Schlüsse zu ziehen. 

Ganz uncntlxdirlich sind die Atome für den Chemiker, der sich 
in der kaleidoskopischen Mannigfaltigkeit der chemischen Gebilde 
ohne die Annahme, daß z. B. in dem Rost des Eisens die Atome des 
Eisens noch unverändert enthalten seien, weil sich die gleiche Menge 
basen wieder daraus abscheiden läßt, unmöglich zurecht finden 
könnte. 

Nachdem übrigens durch M. v. Laue und seine Nachfolger der 
direkte Beweis der Existenz von Atomen in Kristallen gegeben ist \ 
muß wohl die Zusammensetzung aller Körper aus getrennten gleich¬ 
artigen Partikelchen als Tatsache betrachtet werden, wenn auch die 
Erscheinungen der Radioaktivität beweisen, daß diese Partikclchen 
jedenfalls nicht die letzten unteilbaren Dinge sind. Wir könnten 
geradezu als Maß der Menge eines Stoffes die Zahl der darin ent 
haltenen Atome betrachten. Indeß läßt sich diese nicht direkt er¬ 


siehe O. Lehmann, diese Verb. 25, <)0, 1913. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


131 


rnitteln und sie würde auch keinen Vergleich der Stoffmengen oder 
Massen zweier verschiedenartiger Körper gestatten. 

Die Notwendigkeit solcher Vergleichung hat zuerst Galilei er¬ 
kannt, der wohl auch als Vater der Physik bezeichnet wird und 
durch die Ergebnisse von Kopcrnikus zu seinen Forschungen an 
geregt wurde. 

Er fand zuerst eine (nach seiner Meinung) ganz zweifellos un¬ 
veränderliche Größe bei den Bewegungserscheinungen in der trägen 
M a s s e oder Stoffmenge. Seinem Trägheitsgesetz zufolge bleibt 
Bewegung als gradlinige Bewegung immer erhalten, bis eine Kraft 
sie stört, als deren Maß das Produkt der Stoffmenge oder Masse 
mit der Beschleunigung zu betrachten ist. Eine solche Kraft ist 
freilich ein anthropomorphistisches Gebilde, ein Abbild unserer 
Muskelkraft, die uns durch den Tastsinn zum Bewußtsein kommt. 
Ebenso wie diese hat auch eine leblose Kraft (z. B. die einer Feder) 
zwei Angriffspunkte und Wirkung und Gegenwirkung 
sind einander gleich. Hebe ich einen Stein, so drücke ich mit den 
Füßen die Erde nach unten. Fällt der Stein, so treibt die Schwere 
die Erde auch gegen den Stein nach oben. Wirken zwei 
Kräfte zugleich, so stören sie sich in ihren Wir¬ 
kungen nicht. Eine Federwage kann deshalb als Kraftmesser 
geeicht werden, indem man nacheinander 1, 2, 3 . . . gleiche Ge¬ 
wichtsteine anhängt, denn deren Kräfte superponieren sich. We¬ 
gen der Superposition kommt cs bei den Bewegungen immer nur 
auf die relativen Geschwindigkeiten an. In einem gleichmäßig fah¬ 
renden Schiff können wir unser Mittagsmahl so gut einnehmen wie 
in einem stilliegenden, der Wein fließt in gleicher Weise aus der 
Flasche, da sich nach Galileis Relativitätsprinzip die Be¬ 
wegungen einfach ohne sich zu stören, superponieren. 

Sehr wichtig war Galileis Entdeckung, daß alle Körper gleich 
schnell fallen, denn sie ermöglichte die Bestimmung der trägen 
Masse verschiedenartiger Stoffe aus dem Gewicht, d. h. aus der 
Schwere der Körper. Sie führte zu dem Fundamentalsatz: Träge 
u n d schwere Masse sind genau proportional, s i e 
sind identisch. 

Man denke sich eine Spiralfeder über eine Rolle gelegt und 
;in den Enden mit ungleichartigen Gewichten, etwa einem Blci- 
und einem Holzstück, belastet, deren Stoffmengen ?n l und ;// 2 
seien. Man beschneide etwa das Holzstück so lange, bis gerade 


9 



•32 


O. Lehmann 


Gleichgewicht besteht. Da beide Massen durch die Schwere die¬ 
selbe Beschleunigung g erfahren, müssen auch die durch Wirkung 
und Gegenwirkung der Feder erzeugten Beschleunigungen der 
beiden Massen nach oben g t und g 2 gleich g sein, sonst wäre 
Gleichgewicht nicht möglich. Somit sind die Produkte rn l g t 
und in 2 g 2 1 welche Wirkung und Gegenwirkung der Feder messen, 
also einander gleich sein müssen, zu ersetzen durch m l • g und 
in 2 • g, woraus folgt: m Y = m 2 . Sobald die Vorrichtung, die Wage, 
im Gleichgewicht ist, sind also die trägen Massen der beiden 
Stoffe einander gleich, obschon die Wage direkt nur die Gleichheit 
der Schwerkräfte anzeigt. 

In wenigen Ausnahmefällen, nämlich bei den sogenannten Im¬ 
ponderabilien: Wärme, Elektrizität, Magnetismus und Licht, die man 
weder wägen, noch in bezug auf etwaige Trägheit prüfen konnte, 
mußte unentschieden bleiben, wie ihre Masse zu bestimmen sei und 
ob auch liier das Gesetz der Gleichheit von träger und schwerer 
Masse zutreffe. Sie schienen allerdings mit wägbaren Stoffen nur 
die Raumerfüllung gemeinsam zu haben. 

Nach Festsetzung des Kilogramms als Masseneinheit lag 
nabe, als Einheit der Kraft diejenige Kraft zu wählen, die der 
Masse i Kilogramm den (iesehwindigkeitszuwachs von I Meter pro 
Sekunde in der Sekunde erteilt, die Dezimegady ne, wodurch 
die Konstante, mit welcher das Produkt von Masse und Beschleu¬ 
nigung zu multiplizieren ist, um die Kraft zu erhalten, den für die 
Rechnung bequemsten Wert i erhält. 

Eine in Dezimegadynen (auch Kop 1 genannt) geeichte Feder¬ 
wage gestattet ohne weiteres jede Kraft genau ihrer Größe nach 
durch eine Zahl auszudrücken, ebenso wie die gewöhnliche Wage 
ermöglicht (abgesehen von den Imponderabilien), jede Stoffmenge 
in Kilogrammen zu messen und so die Grundlage für exakte Be¬ 
schreibung der Bewegungserscheinungen zu erhalten. 

Lange Zeit bestand aber eine Unklarheit darüber, wie eigent¬ 
lich die Wucht eines fallenden Steins zu messen sei, da dessen Sto߬ 
kraft augenscheinlich nicht allein durch seine Schwere, sondern 
auch durch seine Geschwindigkeit bestimmt ist, so daß man zwi¬ 
schen der toten Kratt des ruhenden Steines und der lebendigen 


1 O. Lehmann, Zuitsclir. f. Insti umentenkundr 1913, 279; Leitfaden der Physik, 
Itrauns. hwrijr 1 <>07, VII. 



Nullpunktsencrgie und Gravitation 


T 

1 0 0 


Kraft des fallenden zu untcrsclicidcn genötigt war, welche Aus¬ 
drücke zuerst von Leilmiz gebraucht wurden. 1 Während eine ge¬ 
wöhnliche (wahre) Kraft zwei Angriffspunkte besitzt, kommt einer 
Stoß- oder Trägheitskraft, als welche z. B. auch die Zentrifugalkraft 
eines eine Kurve durchfahrenden Eisenbahnwagens zu betrachten 
ist, nur ein Angriffspunkt zu." 

Die Studien hierüber führten zum Begriff der Arbeit, als 
deren Maß im Jahre 1742 von (oh. Bcrnoulli das Produkt von Kraft 
und Weg eingeführt wurde, so daß als Einheit (obiger Kraftdefini¬ 
tion gemäß) die Arbeit, welche* 1 I )ezimegadyne leistet, wenn sicli 
ihr Angriffspunkt in ihrer Richtung um 1 Meter verschiebt, das 
Joule, zu benutzen ist. T11 einem gehobenen Gewicht ist die Ar¬ 
beit als Arbeitsfähigkeit gewissermaßen aufgespeichert. Fällt die 
gehobene Linse eines Pendels, so nimmt ihre Arbeitsfähigkeit an¬ 
dere Form an, denn im tiefsten Punkte angekommen, hat die Pendcl- 
linse Arbeitsfähigkeit infolge ihrer lebendigen Kraft, sie vermag 
sich selbst auf die gleiche Höhe emporzutreiben, aus welcher sie 
heruntergefallen ist. Diese Arbeitsfähigkeit infolge des Bewe¬ 
gungszustandes, wofür wir das W ort „W u c h t“' seit alter Zeit 
haben, wurde von Thomas Yuung 1807 Energie genannt. 
Thomson und Tait nannten sie 1867 kinetische Energie zum Unter¬ 
schied von der durch Hebung des Gewichts entstandenen Energie 
der Lage, für welche Rankine 1853 die Bezeichnung potentielle 
Energie eingeführt hatte. 

Darüber, welches der absolute Wert einer Energie ist, kön¬ 
nen wir freilich nichts aussagen. Wenn ein Stein fällt, verliert er 
an Energie der Lage. Wenn er sehr weit von der Erde entfernt ist, 
ist seine Energie bedeutend größer als an der Erdoberfläche, aber 
da noch viele andere Weltkörper vorhanden sind, bezüglich deren er 
ebenfalls Energie der Lage besitzt, können wir den Gesamtbetrag 
nicht angeben. Ebensowenig kennen wir den absoluten Wert der 
Bewegungsenergie; denn um sic zu berechnen, müßten wir den ab¬ 
soluten Wert der Geschwindigkeit kennen. Es gibt aber in der 
Welt keinen festen Punkt und keine feste Richtung, von welchen 
wir bei der Messung ausgehen könnten. Zu der gewöhnlich gemes¬ 
senen Geschwindigkeit relativ zur Erde wäre die Geschwindigkeit 


1 O. Lehmann, diese Verh. 26. Zum 100. Geburtstag von R. Mnver, S. 6. 
- O. Lehmann in Fricks phys. Technik, 7. Aufl. I (2), (»65, 1905. 



•34 


O. Lehmann 


der Erde selbst, sowohl deren Umdrehungsgeschwindigkeit wie 
deren Umlaufsgeschwindigkeit bezüglich der Sonne, die allein 
30 000 Meter pro Sekunde beträgt, hinzuzufügen, weiter aber die 
Geschwindigkeit des ganzen Sonnensystems, über welche wir nichts 
aussagen können. Da nach Galileis Superpositions- oder Relativi¬ 
tätsprinzip die Bewegungen unabhängig von einander verlaufen, ist 
die Kenntnis der absoluten Werte für unsere Berechnungen übri¬ 
gens ganz unnötig. Auch bei der potentiellen Energie kommen im¬ 
mer nur Änderungen, d. h. Differenzen in Betracht. Nach Einsteins 
Relativitätstheorie 1 muß überhaupt jedes Naturgesetz in gleicher 
Weise gelten, mag der Beobachter sich mit der betrachteten Vor 
suchseinrichtung bewegen, wie z. B. ein Beobachter, der auf einem 
gleichmäßig fahrenden Schiff experimentiert, oder nicht, wie z. B. 
ein Beobachter, der vom Lande aus, etwa mittelst eines Fernrohres 
diese Versuche verfolgt. Die Naturgesetze müssen mathematisch 
gesprochen bei entsprechender Transformation des Koordinaten¬ 
systems kovariant sein. 

Ganz ebenso, wie bei einem pendelnden Körper die Energie 
fortgesetzt aus dem potentiellen Zustande in kinetische Energie über¬ 
geht und umgekehrt ohne Änderung ihrer Größe, so daß man von 
einem Gesetz der Erhaltung der Energie sprechen könnte, welches 
mit Galileis Trägheitsgesetz in Beziehung stände, wenn sich poten¬ 
tielle Energie als verl>orgener Bewegungszustand auffassen ließe, 
findet auch eine beständige Encrgieumwandlung ohne Änderung 
der Energiegröße statt, wenn eine elastische (Stahl-)Kugel auf eine 
elastische Unterlage fällt, zurückprallt, um dann von neuem herab¬ 
zufallen usw. Die Bewegungsenergie geht dabei in Energie 
elastischer Spannung über, die sich sofort wieder in Bewegungs¬ 
energie von umgekehrter Richtung zurückverwandelt. 

Beim Auffallen eines unelastischen Körpers auf eine un¬ 
elastische Unterlage schien sich aber das Gesetz der Erhal¬ 
tung d e r E n e r g i e (bezüglich Erhaltung der potentiellen Ener¬ 
gie bei \ ersuchen zur Herstellung eines perpetuum mobile zuerst er¬ 
kannt und als goldene Regel der Mechanik bezeichnet) nicht zu be¬ 
währen. Graf Rumford war der erste, welcher fand, daß auch hier 
eine andere Energieform auftritt, nämlich Wärme; daß also die 

1 A. Einstein, Ann. d. Plus. 17, 891; 18, 630, 1905: 49, 822, 1916; O. 

Lehmann, diese Verh. 23, 51, 1910; M. Laue, Das Relativitätsprinzip, Braun- 
sehwei^ 191 I. 



Xullpunktsenergie uml Gravitation 


135 


Wärme nicht, wie man früher glaubte, ein unwägbarer Stoff, son¬ 
dern eine unsichtbare, verborgene Form von Bewegung, ein regel¬ 
loses Hin- und Herzittern der Atome sei. 

Robert Mayer gelang es, wie in dem oben zitierten früheren 
Vorträge näher dargelegt ist, den quantitativen Zusammenhang zwi¬ 
schen verlorener Bewegungsenergie und entstandener Wärmeenergie 
oder umgekehrt zwischen der in einer Heißluftmaschine verschwun¬ 
denen Wärmemenge und der von ihr erzeugten mechanischen Arbeit 
festzustellen, so daß wir Wärme ebenso in Joule messen können wie 
potentielle und kinetische Energie. Demgemäß beträgt die Tem¬ 
peraturerhöhung von 1 kg Wasser einen Grad Celsius (bei 15 °), 
wenn wir demselben Wärmeenergie im Betrage von 4189 Joule zu¬ 
führen. 1 Kilogramm Petroleum würde durch dieselbe Energie¬ 
menge um ca. 2 Grad erwärmt, d. h. die s p e z i f i s c h e W ä r in e 
des Petroleums ist halb so groß wie die des Wassers, die man 
— 1 setzt. 1 

Helmholtz sah in der Entdeckung von R. Mayer eine Bestäti¬ 
gung der Rumfordschen Ansicht, daß Wärme nur ein verl)orgencr 
Bewegungszustand sei, so daß man das Gesetz der Erhaltung der 
Energie genauer als Gesetz der Erhaltung der Bewegungsenergie be¬ 
nennen könnte und Clausius gelang es, durch Krönigs Annahme 
über den Bewegungszustand der Atome und Moleküle, durch die 
sogenannte kinetische Gastheorie, das tatsächliche Ver¬ 
halten der Gase quantitativ fast restlos zu erklären. Der Druck der 
Gase ist nach dieser Theorie die Wirkung der molekularen Stöße; 
er wird demnach mit sinkender Temperatur, d. h. mit verminderter 
Bewegungsenergie der Moleküle, welche geradezu das Maß der ab¬ 
soluten Temperatur ist, kleiner; beim absoluten Nullpunkt muß er 
verschwinden. Tatsächlich verschwindet er dem Gasgesetz zufolge 
bei — 273 Grad Celsius, so daß dieser Punkt der Nullpunkt der ab¬ 
soluten Temperaturskala ist, der Punkt, bei welchem bei fortgesetz¬ 
ter Abkühlung schließlich die ganze Wärmebewegung aufhört. Da 
damit auch die abstoßende Kraft der Wärme verschwindet welche 
die Moleküle entgegen ihrer Anziehungskraft auseinandertreibt, 
muß auch deren Abstand Null werden und damit die potentielle 
Energie, die sic infolge ihrer Anziehungskräfte besitzen. Beim ab- 


1 Daß man heute die Wärme vielfach immer noch in Kalorien statt in Joule 
mißt, ist unnötig und störend. 



O. Lehmann 


136 

solutcn Nullpunkt muß also anscheinend jede Energie verschwin¬ 
den, es gibt keine Nullpunktsenergie. 

Auf Grund der kinetischen Gastheorie konnte ohne weiteres ein 
Hauptgesetz der Chemie die Avogadroschcn Regel abgeleitet wer¬ 
den 1 , es ergaben sich auf Grund spezieller Annahmen über die mitt¬ 
lere Weglänge und die Dimensionen der Moleküle, sowie über die 
Kräfte, die die Moleküle bei starker Annäherung auf einander 
ausüben, die Gesetze der inneren Reibung und der Wärmelcitung 
der Gase und die van der Waalsschc Zustandsgleichung, welche das 
Verhalten der Gase mit dem der Flüssigkeiten in Beziehung bringt. 
Letztere befindet sich freilich, wenn man die seit alter Zeit übliche 
1 dentitätstheorie der Aggregatzustandsänderungen und 
polymorphen Modifikationen der Rechnung zugrunde legt, nicht 
in befriedigender Übereinstimmung mit der Erfahrung; die Überein¬ 
stimmung kann aber hergestellt werden durch die Annahme, daß eine 
Änderung der Moleküle die Ursache des Kondensations- oder Vcr 
dampfungspro/osses ist gemäß meiner Theorie der moleku¬ 
laren (physikalischen) Tsomeric 2 , welche in gleicher Weise auch 
den Erstarrungs- und Schmelzprozeß, sowie die polymorphe Um¬ 
wandlung erklärt und durch die Existenz flüssiger Kristalle bewie¬ 
sen erscheint.' 1 Bei letzteren können d i e c i n g r e i f c n d - 
s t e n St ö r 11 n g e 11 d c r A r t der Zusammenlagerun g 
d er M o 1 c k ü I e e i n t r e t e n 4 , ohne daß eine Ander u n g 
der Eigenschaften erfolgt, wie sic nach der Identitäts¬ 
theorie der Polymorphie notwendig zu beobachten sein müßte. Fer¬ 
ner kann beispielsweise das Cholesterylcaprinat, nach meinen Be¬ 
obachtungen in drei flüssigen und zwei festen Modifikatio¬ 
nen \ auftreten, das Ammoniumnitrat in fünf festen Modifi¬ 
kationen 0 , was die Identitätstheorie nicht einmal im Prinzip zu er¬ 
klären vermag. 

Die Beobachtungen über die Brownsche Wimmolbewegung 
suspendierter Stäubchen und Tröpfchen 7 , Gaedes Studien über die 

1 Siche O. Lehmann, diese Vcrh. 25, 47, 1913. 

■ Derselbe, Zeitschr. f. Kristall«»grapli. 1, 97, 1877; Ann. d. Phys. 21, 181, 190t). 

A Derselbe, Die neue Welt der flüssigen Kristalle, Leipzig 1911; diese Vcrh. 
25, t(»p 1913; Phys. Zeitschr. 15, 617, 1914; Ann. d. Phys. 50, 555, 1916. 

* Derselbe, Ann. d. Phys. 48, 725, 1915; Phys. Zeitschr. 17, 241, 1916. 

Derselbe, Zeitschr. f. phys. Chcm. 56, 750, 190b; 73, 607, 1910. 

'■ Derselbe, Zeitschr. f. Kristallogr. 1, 97, 1 «S 7 7; Ann. d. Phys. 21, 181, 1906. 

7 Derselbe, diese Will. 25, 53, 1913. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


137 


äußere Reibung der Gase, die zur Konstruktion der Molekular¬ 
luftpumpe und der Diffusionsluftpumpe führten 1 , das merkwürdige 
Verhalten der Emanation radioaktiver Stoffe und anderes stand 
mit der kinetischen Gastheorie in bester Übereinstimmung, es 
war sogar möglich, auf Grund der Bestimmung des Verhältnisses 
der spezifischen Wärme der Gase bei konstantem Druck c p zu 
der bei konstantem Volumen c v das Verhältnis der in Form fort¬ 
schreitender Bewegung vorhandenen Bewegungsenergie K zur 
Summe dieser und der Energie von Rotationen und inneren 
Schwingungen E zu ermitteln. Es ergab sich einfach K : E = 

\ icp — c 7 ) : c v , woraus folgt, daß für Gase, deren Moleküle einzelne 

Atome sind, für welche also K= E ist, c p : c v — 1,66 sein muß, was 
die Beobachtung bestätigte. 

Für die Molekular wärme, d. h. die Wärmemenge ge¬ 
messen in Joule, die nötig ist, 1 Kilogrammol um 1 Grad C. zu 
erwärmen oder das Produkt M • c vt wenn M das Molekulargewicht 
ist, folgt aus den Annahmen der kinetischen Gastheorie, falls man 
die Zahl der Moleküle pro kg N nennt und die Masse eines 

Moleküls in kg m: M * c v = M • zV- m ■ • *., worin sich das Qua¬ 

drat der Molekulargeschwindigkeit c 2 aus der Grundgleichung der 
Theorie =“ ergibt, wenn (j die Dichte in kg pro cbm bedeutet, 
also das Volum v von 1 kg Mol = ist. Nun ist .V- in = 1 kg 

und - = 8319, so daß M • c v = ^ - 8319 Joule wird unab¬ 
hängig von der Natur des Gases, sofern dasselbe einatomig ist. 
Für ein beliebiges Gas ergibt sich, da nach R. Mayer 83.9 = 

-> 2 • (' £ 

M • 4189 (Cp — c v )> also Ä 1 = — r — ist, M • c v = - = 3 • — Joule, 

c p C V c p~ c r K 

ebenfalls in Übereinstimmung mit der Beobachtung. 

Selbst die Molekularwärme einatomiger fester Körper schien 
sich auf Grund der Vorstellung, daß bei diesen die Atome um 
bestimmte Gleichgewichtslagen rotieren oder schwingen, in be¬ 
friedigender Übereinstimmung mit dem experimentell gefundenen 
Gesetz von Dulong und Petit, nach welchem sie 6-4189 Joule 
betragen sollte, zu ergeben. Ist nämlich in die Masse eines 


1 W. Gaede, Vcrh. d. D. phys. Ges. 14, 775, 1912. 



> 3 » 


O. I-ehmann 


solchen Atoms in kg, r der Abstand vom Umlaufsmittelpunkt in 
Metern und c die Umlaufsgeschwindigkeit in Metern pro Sek., 

so ist die kinetische Energie - l - m c 2 Joule und die Zentrifugal¬ 
kraft m c 2 Dezimegadynen. Letztere ist gleich der Zentripetalkraft. 

die wie bei einem konischen Pendel proportional r zunimmt, also 
— Ar gesetzt werden kann. Würde das Atom dieser folgend 
in die Ruhelage zurückfallen, d. h. würde sich seine potentielle 

Energie', die = A J r dr = m ^ ist, in kinetische 

Energie verwandeln, so wäre diese, wie dieses Ergebnis zeigt, 
ebenso groß wie die kinetische Energie infolge der Umlaufs- 
bewogung; d. h. die Atome besitzen außer der letzteren eint' 
ebenso große potentielle Energie. Da nun für ein einatomiges 

(das die Atomwärme = • 8319 ist, muß sie für einen einatomigen 

festen Körper doppelt so groß = 3-8319 oder 6-4189 Joule sein. 
In neuerer Zeit fand sich aber, daß für tiefe Temperaturen dieser 
einfache Satz keineswegs mehr zutrifft, so daß, wie weiter unten 
noch näher gezeigt wird, in der Nähe des absoluten Nullpunkts 
die kinetische Theorie in der eben dargelegten Form nicht mehr 
zutreffend sein kann. 

Wie Clausius gezeigt hat, ermöglicht der von R. Mayer ge¬ 
fundene erste Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie 
oder Thermodynamik auch die Berechnung des Wirkungsgrades 
einer einfachen und vollkommenen thermodynamischen Maschine, 
wie sie zuerst Carnot in Betracht gezogen hat 1 , d.h. desjenigen 
Teils der von der Maschine aufgenommenen Wärme, 
der wirklich in mechanische Arbeit umgesetzt wird. 
Clausius gelangte durch solche Betrachtungen zur Auffindung des 
außerordentlich wichtigen zweiten Hauptsatzes der Thermo¬ 
dynamik, daß dieser Bruchteil der gegebenen Wärme, die so¬ 
genannte freie Energie, durch das zur Verfügung stehende 

'j' _ 'p, 

Temperaturgefälle bedingt ist, nämlich = wobei 7 \ die 

höchste, 7 \ die niedrigste Temperatur nach absoluter Skala ge¬ 
messen bedeuten. Nur wenn 7 \ — o wäre, d. h. wenn ein Tem- 


1 Siche < >. Lch inan n , dies* Verli. 26, i<)U>; Leitfaden der Physik, Braunsrhwcig 
15-* § i;o. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


»39 


peraturgefälle bis zum absoluten Nullpunkt zur Verfügung stände, 
wäre völlige Umwandlung der gegebenen Wärme in Bewegungs¬ 
energie oder mechanische Arbeit möglich. 

Wendet man diesen Satz auf die Leistung einer vollkommenen 
Dampfmaschine an, welche bei unendlich kleinem Temperatur¬ 
gefälle und bei unendlich kleinem Kolbenhub arbeitet, so ergibt 
sich (nach G. Kirchhoff) ein interessanter Satz für die Ver¬ 
dampfungswärme. 1 Bezeichnet man diese (gemessen in Joule 
pro kg-Mol) mit q m und die Dampftension in Dezimegadynen 
pro qm bei der absoluten Temperatur T mit /, so ist 

,„ 2 dlnp 

9m = 2 • 4189 • r ■ -JY~' 

Analoge Gleichungen ergeben sich für die Schmelzwärme und 
die Umwandlungswärme bei f>olymorphen Umwandlungen, die nach 
meiner Theorie der molekularen (physikalischen) Isomeric ebenso 
wie auch Schmelzung und Verdampfung als chemische Dissoziations¬ 
erscheinungen bei geringer Affinität zu betrachten sind, so daß 
schon hiernach vorausgeschen werden kann, daß auch für gewöhn¬ 
liche chemische Umsetzungen auf gleichem Wege ähnliche Aus¬ 
drücke für die Reaktionswärme zu finden sein müssen, was später 
J. H. van t’Hoff gefunden hat, wie noch näher gezeigt werden soll 

Schreibt man den von Clausius gefundenen Satz, daß die Arbeit 

bei einem Spiel der Carnotschen Maschine L = ( 9 , 1 r/ , Joule ist, 
wobei Qi die aufgenommene Wärme, gemessen in Joule bedeutet, 
so, dafä 7 *, unter Q t kommt, L = ^ (T i — T 2 ), so gleicht er ganz 
dem Satz, der die Arbeit eines Wassermotors bestimmt (Arbeit = 
Wassergewicht x Wassergefälle), falls man als Wärmegewicht 
bezeichnet und 7 \ — T 2 als Wärmegefälle. 

Man kann das Spiel der Maschine in zwei Teile zerlegen. 
Bei der sich von selbst vollziehenden Expansion des Gases wird 
Wärme aufgenommen, und bei komplizierten Maschinen, die in 
einzelnen Stufen arbeitend gedacht werden können, kann man 
sagen, das Wärmegewicht nimmt bei jeder Expansion 
immer mehr zu. Im zweiten Teil, der sich nicht von selbst 
vollzieht, bei welchem vielmehr der Kolben durch die Energie 

1 Siehe O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 157, § 172. 



des Schwungrades gegen den Gasdruck zurückgetrieben wird 

wird Wärme Q 2 abgegeben, das Wärmegewicht ^, 2 ist also 

negativ und man kann also allgemein sagen, bei solchen er¬ 
zwungenen Vorgängen nimmt das Wärmegewicht ab. 

Bei jedem vollkommenen Carnotsehen Kreisprozeß ist die 
Summe der aufgenommenen und abgegebenen Würmegewiclite die¬ 
selbe, bei unvollkommenen Maschinen überwiegen aber die aufge¬ 
nommenen, z. B. weil ein Teil der aus der aufgenommenen Warme 
erzeugten Arbeit zur Überwindung von Reibungswiderständen ver¬ 
braucht wird und somit nicht mehr als Bewegungsenergie des 
Schwungrades zur Kompression des Gases zur Verfügung steht. 

Der Carnotsche Kreisprozeß kann auch umgekehrt durchlaufen 
werden, ohne daß die Formeln sich ändern. Dabei würde in der 
ersten Hälfte Wärmegewicht abgegeben und zwar ebensoviel (wegen 
Gleichheit der Formeln) wie beim direkten Betrieb in der zweiten 
Hälfte. Denkt man sich das Gas vom Zustande der äußersten Ex- 
pansion in den Anfangszustand zurückgebracht, so ist also die 
Summe der abgegebenen W ärmegewichte auf beiden Wegen gleich 
groß. Fbcnso groß wäre sie, wenn man irgend einen beliebigen 
dritten umkehrbaren Weg wählen würde; sie stellt also eine den ge¬ 
gebenen Anfangszustand kennzeichnende Größe dar, die bei allen 
von selbst verlaufenden Vorgängen wächst und nur bei nicht von 
selbst verlaufenden abnehmen kann. Clausius hat deßhalb den zweiten 
I lauptsatz auch in der Form ausgesprochen: ,,D i c Entropie 
strebteinem M a x i m u m z u.“ 

I umgekehrt strebt die ,,f r e i e Euer g i e“ einem Mi¬ 
nimum zu. Bringen wir heißes und kaltes Gas zusammen, so 
wird das Temperaturgefälle von selbst niedriger und verschwindet 
schließlich ganz und damit auch die freie, in Arbeit umsetzbare 
Energie. Dieser Endzustand tritt dann ein, wenn die Entropie ein 
Maximum geworden ist. Es ist augenscheinlich der Zustand, der 
die größte Wahrscheinlichkeit besitzt. Denn wenn auch die mittlere 
Geschwindigkeit keineswegs allen Molekülen zukommt, so ist doch 
der Fall, daß sich von selbst alle Moleküle mit großer Geschwindig¬ 
keit in die eine Hälfte des Gefäßes begeben würden, die mit gerin¬ 
ger Geschwindigkeit in die andere, daß also von selbst eine Tempe- 
raturdiIterenz sich einstellen würde, ganz unwahrscheinlich. Das 
Wahrscheinlichste ist eine gleichmäßige Mischung der verschieden 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


l 4 I 


rasch bewegten Moleküle lind Boltzmann ist es in der Tat gelungen, 
nachzuweisen, daß die Entropie im G r 11 n d c nur ci n M a ß 
der Wahrscheinlichkeit des b e t r. Z u s t a n des i s t, 
genauer des natürlichen Logarithmus der Wahrscheinlichkeit. 


Bezüglich des absoluten Wertes der Entropie zeigen sich 
freilich Schwierigkeiten ähnlich wie bei Berechnung der Energie, 
da dieser vom Ausgangspunkt abhängt. Beispielsweise ist für ein 
kg eines Gases die Änderung der Entropie dS, wenn bei der 
absoluten Temperatur T die Wärmemenge dQ zugeführt wird 

dp _ dT I , _ j, r ± d T 83 IQ tiv 


dS = 


T 


= C A 


dT 1 , rj, . 1 \ dT 

~T = ~T dT + p dv ) = C V T 


M 


wenn v das Volumen in cbm bedeutet. Also S= c,, ln T+ 83 ' 9 ln i' 

j\I 

-»- Konst. Wie im folgenden gezeigt wird, kann aber die 
Konstante bestimmt werden, da sich der Wert der Entropie 
speziell für den absoluten Nullpunkt angeben läßt. 

Statt durch eine Temperaturdifferenz kann die freie Ener¬ 
gie auch durch eine Druckdifferenz bedingt sein. Wird ein 
Druckluftkessel mit einem Vakuumkessel verbunden, so kommt 
das Gas in Strömung. Beträgt die in Bewegung gesetzte Masse 
w kg, die Geschwindigkeit ?• m/se<\, also die entstandene kinetische 

V 2 

Energie in - - - Joule, so ist diese gleich der ebenfalls in Joule 

gemessenen verschwundenen Wärmemenge. Waren T 0 und T 
Anfangs- bezw. Endtemperatur, also die verschwundene Wärme¬ 
menge m -Cp(T Q —T ) 4189 Joule, so ergibt sich für die Aus¬ 
strömungsgeschwindigkeit des Gases v = I 2-4189- Cp{T Q — T) m/sec. 

Nach Ausgleich des Druckes ist weitere Umwandlung von Wärme 
in Bewegungsenergie nicht mehr möglich, die freie Energie ist 
Null geworden, die Entropie hat ihr Maximum erreicht. 

Werden zwei mit verschiedenartigen Gasen gefüllte Gefäße in 
Verbindung gesetzt, so findet D i f f u s i o n statt, d. h. jedes Gas 
expandiert, wie wenn das andere nicht vorhanden wäre, nur bedeu¬ 
tend langsamer, als in einem wirklich leeren Raum. Ist gleichmäßige 
Mischung eingetreten, so ist wieder die freie Energie Null, die En¬ 
tropie ein Maximum. Mittels halbdurchlässiger Kolben, von wel¬ 
chen jeder nur eines der beiden Gase durchläßt, könnte man diesel¬ 
ben unter Aufwendung mechanischer Arbeit wieder auf ihre An¬ 
fangsvolumina zurückbringen, wobei die Entropie naturgemäß, da 



142 


O. Lehmann 


cs sich um einen nicht von selbst verlaufenden Vorgang handelt, 
wieder abnimmt, die freie Energie wächst. 

Auch c h e m i s c h e Affinität kann das Vorhandensein 
freier Energie bedingen. Beispielsweise kann Arbeit gewonnen 
werden durch Vereinigung von Wasserstoff und Sauerstoff, doch um 
so weniger, je höher die Temperatur ist. Die Affinität der beiden 
Stoffe nimmt mit steigender Temperatur ab und wird bei der D i s- 
s o z i a t i o n s t e m p cratur Null. Unterhalb derselben stellt sich 
ein sogenanntes chemisches Gleichgewicht zwischen 
Wasserstoff-, Sauerstoff- und Wasserdampfmolekülen her, indem 
z. B. da, wo heftige Zusammenstöße stattfinden, die letzteren Mole¬ 
küle in erstcrc zerfallen, umgekehrt an Stellen minder heftiger Stöße 
Wasserstoff und Sauerstoff sich wieder verbinden. Je tiefer die 
Temperatur unter die Dissoziationstemperatur sinkt, um so geringer 
wird der Dissoziationsgra d, um so mehr werden die Was 
sc rdampfmoleküle überwiegend. Das Mengenverhältnis derselben 
in einem geschlossenen Gefäß hängt also lediglich von der Tempera¬ 
tur ab. Es würde sich auch nicht ändern, wenn man durch eine nur 
für Wasserdampf durchlässige Stelle der Wandung Wasserdampf 
hineinpressen und an andern für Wasserstoff bezw. Sauerstoff durch¬ 
lässigen Stellen gleichzeitig die äquivalenten Mengen von Wasser- 
lind Sauerstoff entziehen würde. Bei diesem Vorgang müßte aber 
mechanische Arbeit aufgewendet werden, denn Wasserdampf ver¬ 
schwindet und an Stelle desselben würden freier Wasserstoff und 
Sauerstoff erhalten, es würde also Wasserdampf zersetzt, d. h. die 
freie Energie wäre gewachsen, die Entropie vermindert. Die Berech¬ 
nung dieser Arbeit A für i kg-Mol ergibt 1 

A = 83 19 • T * ln c ^ y Joule 

wenn c x die Anzahl kg-Mol Wasserdampf in 1 cbm des Be¬ 
hälters bedeutet und ebenso c Y und c 2 die molekularen räumlichen 
Konzentrationen von Wasserstoff und Sauerstoff. Der Quotient 

— I\, die sogenannte Gleichgewichtskonstante ist 

( 'i’ • o 

von der Temperatur abhängig und die Gleichung läßt also nicht 
klar erkennen, wie sich die aufzuwendende Arbeit, die der 
Affinität der beiden Stoffe bei der betr. Temperatur entspricht, 
sich mit dieser ändert. 

1 Sich«' O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 164, § 174. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


143 


Dieselbe Arbeit würde natürlich gewonnen werden, wenn man 
auf der einen Seite Wasserstoff und Sauerstoff in den Behälter hin¬ 
einpressen und auf der anderen Seite die äquivalente Menge Wasser¬ 
dampf entziehen würde. Die dabei gewonnene Arbeit, d. h. die freie 
Energie, stellt wieder das Maß der A f f i n i t ä t von Wasser¬ 
stoff und Sauerstoff bei der betr. Temperatur dar. 

Um die Abhängigkeit derselben von der Temperatur übersehen 
zu können, ist cs nötig, die Änderung der Gleichgewichtskonstante 
K mit der Temperatur zu ermitteln. Dies ist ebenfalls mit Hilfe 
der beiden Hauptsätze möglich. Das Ergebnis ist 1 

<lrn = 2 • 418g • T l d/ i " v A Joule, 

wenn q m die auf 1 kg-Mol bezogene Reaktionswärme bedeutet. 

Auch dieses Ergebnis ist keine vollkommene Lösung der Auf¬ 
gabe, die chemische Affinität zu bestimmen, denn es stellt nur eine 
Differentialgleichung dar, bei deren Integration noch eine willkür¬ 
liche Integrationskonstante hinzu kommt. 

Betrachtet man, wie a. S. n angedeutet, den Verdampfungsprozeß 
als einen chemischen Vorgang entsprechend meiner Theorie der 
molekularen Isomerie, so ergibt der Vergleich der für die Verdamp¬ 
fungswärme gefundenen Formel mit der obigen p = K, d. h. man 
könnte das Verhältnis der Konzentrationen der reagierenden Mole 
küle aus der Dampftension, die der Dissoziationstension entspricht, 
finden, wenn die Beschaffenheit der Moleküle bekannt wäre. 

Durch das Studium der oben erwähnten Abweichungen der be¬ 
obachteten Werte der Atom- und Molekularwärmen von den theo¬ 
retischen gelangte Nernst neuerdings zu einer vollkommenen Lö¬ 
sung des Problems der Messung der chemischen Affinität, insofern 
es ihm durch ein hierbei entdecktes neues Wärmctheorc m. 
welches man auch als dritten Hauptsatz der Thermodyna¬ 
mik bezeichnet, möglich wurde, den Wert der Integrationskonstan¬ 
ten in den Ausdrücken für die freie Energie oder Entropie zu be¬ 
stimmen. Dieser Satz sagt aus, daß beim absoluten Null¬ 
punkt die spezifische Wärme und ihr Tempera¬ 
turkoeffizient Null werden, so daß es im Grunde auf 
keine Weise möglich sein wird, einen Körper wirklich bis zum abso¬ 
luten Nullpunkt abzukühlen. 


1 Siehe a. a. O. S. 165, § 175. 



«4 4 


<J. Lehmann 


Wie ich bereits in einem früheren Vortrage dargelegt habe 1 , 
fand sich so für die freie Energie oder Affinität A die Gleichung: 
A = C r 0 — ß T 2 , und für die Reaktionswärme U die Gleichung: 
U= U» ■+■ ß T 2 Joule. 

In welcher Weise sich die Reaktionswärme mit der Tempera¬ 
tur ändert, läßt sich wieder am einfachsten bei dem Verdampfungs¬ 
prozeß erkennen (welcher nach der Theorie der molekularen Isomerie 
ein chemischer Umwandlungsprozeß ist), insofern, ähnlich wie 
oben bei Bestimmung der Entropie gezeigt, derselbe Endzustand 
auf zwei verschiedenen Wegen von demselben Anfangszustand aus 
erreicht werden kann. 

Beispielsweise sei der Anfangszustand i kg flüssiges Benzol 
von der absoluten Temperatur T, der Endzustand i kg Benzol¬ 
dampf von der Temperatur T+-dT. Man kann das Kilogramm 
Benzol bei T° in Dampf verwandeln, wobei r Joule Wärme 
(Verdampfungswärme genannt) zuzuführen sind, und dann den 
Dampf um d T Grad erwärmen, wozu Cp * dT Joule gehören, wenn 
Cp die spezifische Wärme des Benzoldampfes in Joule pro kg ge¬ 
messen bedeutet. Der Gesamtwärmeverbrauch wäre r -+- Cp • dT. 
Man kann aber auch erst das flüssige Benzol um dT erwärmen 
wozu c d f Joule nötig sind, wenn c die spez. Wärme des flüssigen 
Benzols bedeutet und dann die Verdampfung herbeiführen, wozu 
r+dr Joule zuzuführen sind. Der Wärmeverbrauch c • dT-\-r-*-dr 
auf diesem zweiten Wege muß ebenso groß sein wie der auf dem 
ersten, d. h. r -+- Cp • d T = c d T r + d r , so daß der gesuchte 
Tom per a t u rkoe f f i z i e n t der Verdampfungswärme sich 

ergibt nach der Formel = Cp—c. Nun ist Cp — 0,292 • 4180, 

c — 0,436 • 41S9, also d \ = — 0,144 * 418g, in bester Überein¬ 
stimmung mit der Beobachtung. 

In ganz analoger Weise ergibt sich der Tcm peraturkoef- 
f i z i e n t der U m w a n d 1 u n g s w ä r m c (Reaktionswärme) 
bei der polymorphen Umwandlung von rhombischem in monoklinen 
Schwefel, wie Nernst gezeigt hat. 2 

1 O. I.fimiaim, diese Yerh. 24, 2QO, 1912; leider sind hier die Figuren 2 11. 
\ verwechselt. 

- Nach meiner Theorie der molekularen (physikalischen) Isomerie ist die polymorphe 
\ Anwandlung ein chemischer Vorgang, weil sie auf die Änderung der Moleküle be¬ 
ruht. Nernst, welcher Anhänger der alten Identitätstheorie ist, nach welcher es sich 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


145 


Man bewirke zunächst die Umwandlung von 1 kg rhombischem 
Schwefel bei der Umwandlungstemperatur T nach absoluter Skala, 
wozu U Joule (Umwandlungswärme) verbraucht werden. Sodann 
erwärme man den entstandenen monoklinen Schwefel um dT Grad, 
wozu c m ■ dT Joule nötig sind, wenn c m die spezifische Wärme 
des monoklinen Schwefels in Joule pro kg bedeutet. Der gesamte 
Wärmeverbrauch ist U-\- c m dT Joule. Man kann nun aber auch 
zunächst das kg rhombischen Schwefel um d T Grad erwärmen, 
wozu Cr • dT Joule gehören, wenn Cr die spezifische Wärme des 
rhombischen Schwefels ist, und dann die Umwandlung bewirken, 
wozu U -¥■ d U Joule verbraucht werden. Der Gesamtverbrauch 
an Wärme c r dT-*-U-*-dU muß gleich dem im ersten Fall sein, 
d. h. = U-+- c m dT, woraus sich als Temperaturkoeffizient der 

Umwandlungswärme ergibt d ~ = c m — c r . Da nun U = U 0 -*-ß T 2 , 

folgt ~ = 2 ß T, also ß = und U = U Q + ~~ ■ T 2 = 

(1,57 -1- 1,15 • io -5 • T 2 ) 4189 Joule. Somit ist die freie Ener¬ 
gie oder die Affinität, mit welcher sich die Umwandlung bei 
einer beliebigen Temperatur T vollzieht: A = U Q — ß T 2 = 
(1,57 — 1,15 • io -5 T 2 ) 4189 Joule pro kg. Bei der Umwandlungs¬ 
temperatur T t ist die Affinität A t — o, so daß sich aus dieser 
Gleichung ergibt T t = 369.5° nach absoluter Skala, in befriedi¬ 
gender Übereinstimmung mit den Beobachtungen. 

In gleicher Weise würden sich Affinität, Reaktions- oder Disso¬ 
ziationswärme und Dissoziationstemperatur für beliebige chemische 
Reaktionen und Gleichgewichtszustände berechnen lassen, voraus¬ 
gesetzt, daß es sich wie bei der Verdampfung und bei der polymor¬ 
phen Umwandlung 11m reversible Prozesse handelt, was z. B. für den 
oben betrachteten Fall der Dissoziation des Wasserdampfes zutrifft. 


lediglich um andere Raumgitteranordnung der Moleküle handelt, kann den Vorgang natürlich 
nicht ohne weiteres als chemische Reaktion bezeichnen. Die Versuche über Röntgen¬ 
strahleninterferenzen haben aber neuerdings ermöglicht, auch vom Standpunkt der Iden¬ 
titätstheorie eine chemische Umwandlung anzunehmen. Die neue Atoragruppierungs- 
theorie nimmt nämlich an, alle Kristalle seien gewissermaßen große Moleküle, sie 
seien direkt durch chemische Bindung aus Atomen zusammengesetzt. Kristalle poly¬ 
morpher Modifikationen wären also große chemisch isomere Moleküle, die Umwand¬ 
lung somit ein chemischer Vorgang. Ich halte diese Auffassung für unverträglich 
mit meinen Beobachtungen bei flüssigen Kristallen, wie ich in den Ann. d. Phys. 47, 
832, 1915 eingehend dargelegt habe. 

Verhandlungen. 26 . Band. 10 



146 


O. Lehmann 


Das Ergebnis zeigt, daß die Ansicht der älteren kinetischen 
Theorie, beim absoluten Nullpunkt müßten sowohl kinetische wie 
potentielle Energie der Atome = Null geworden sein, durchaus 
nicht zutrifft, denn mit sinkender Temperatur steigt die Affinität, 
d. h. die freie Energie, und beim absoluten Nullpunkt selbst würde 
sie gleich der Reaktionswärme, es wäre möglich, an Stelle von Wärme 
ausschließlich mechanische Arbeit zu bekommen und zwar ohne 
Temperaturgefälle. Demnach existiert also eine Null¬ 
punktsenergie und zwar ist sie freie Energie und hat 
einen sehr beträchtlichen Wert. 

Auch die nähere Erforschung der Imponderabilien führt 
zu derselben Schlußfolgerung. Bereits Helmholtz war durch nähere 
Analyse der elektrolytischen Vorgänge zu dem Ergebnis gekommen, 
die Elektrizität müsse aus weiter nicht mehr teilbaren Partikelchen 
bestehen, deren elektrische Masse 0,156- 10“ 18 Coulomb beträgt 1 , 
die das sind, was man heute Elektronen nennt, sofern es sich 
um negative Elektrizität handelt (die Elementarquanten der posi¬ 
tiven Elektrizität kommen nämlich nur mit Atomen zu Ionen ver¬ 
einigt vor). In den von Hittorf entdeckten Katbodenstrahlen, in 
welchen Crookcs, der sie „strahlende Materie* nannte, letzte Reali¬ 
täten zu sehen glaubte, bewegen sich Elektronen mit einer von der 
elektrischen Spannung abhängigen Geschwindigkeit, die über 100 
Millionen Meter pro Sekunde betragen kann. 2 

Die stoßweise Entladung von Elektroskopen durch vereinzelte 
bei Spitzencntladung entstandene Elektronen oder Ionen (auch Mol¬ 
ionen, Verbindungen von Ionen mit Molekülen), das Funkeln eines 
Zinkblendeschirms unter dem Einfluß von Radiumstrahlung, die 
durch Radium- und Röntgenstrahlen erzeugten Nebelstreifen in mit 
heuchtigkeit übersättigter Luft 3 u. a. sind direkte Beweise für die 
.Existenz der Elektronen. Letztere stellen zweifellos unveränder¬ 
liche Dinge, Invarianten der Relativitätstheorie dar, auf welche sich 
exakte Beschreibung und Berechnung der Naturvorgänge stützen 
kann. 

hin wesentlicher Unterschied gegenüber den Atomen ist die 
Polarität ihrer Kräfte und der Umstand, daß der Sitz 

1 Vgl. aber auch F. Ehrenhaft, Phys. Zeitschr. 16, 22;, 1915 und D. 

Konst-in tinowsky, ebenda S. 227, 1915. 

Si *hc O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 250, § 255 u. ff. 

Nach Wilson. Vgl. den Vortrag von Schachenmeier; ferner O. Leh¬ 
mann, diese Verh. 25, 71 11. ff., 1913. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


147 


der elektrischen Energie das elektrische Kraft¬ 
feldin dem um gebenden Medium ist. 1 

Ferner treten bei Bewegung von Elektronen oder allgemein bei 
Änderung der dieselben umgebenden Kraftfelder magnetische 
F e 1 d e r auf, die von anderen Imponderabilien, magnetischen Mas¬ 
sen (M agnetonen) auszugehen scheinen, so wie umgekehrt 
bei Änderung magnetischer Kraftfelder, die der Sitz magne¬ 
tischer Energie sind, gemäß Maxwells Gleichungen elek¬ 
trische Felder auftreten. 

Das Entstehen magnetischer Energie bei Bewegung von Elek¬ 
tronen bedingt, daß diese der Bewegung eine Art Trägheits¬ 
widerstand entgegensetzen und zwar ergibt die Berechnung % 
daß sich die Elektrizitätsmenge 1 Coulomb in dieser Hinsicht ver¬ 
hält wie eine träge Masse von 10 Billiontel Kilogramm, so daß man 
einem Elektron eine scheinbare träge Masse von 1,56 Quintilliontel 
Kilogramm zuschreiben muß. Tatsächlich entspricht dieser Annahme 
die Stoßkraft der Elektronen und die Wärmeentwicklung, wenn sie 
in ihrem Lauf aufgehalten werden. Wird in einem Eisenstab Mag¬ 
netismus durch Strom in einer umgebenden Drahtspule erregt, d. h. 
kommen die Elektronen in gleichgerichtete Rotation, so muß 
infolge des Gesetzes von Gleichheit von Wirkung und Gegenwir¬ 
kung der Eisenstab mit einer der trägen Masse der Elektronen ent¬ 
sprechenden Stoßkraft in entgegengesetzte Drehung versetzt werden. 
Tatsächlich ist es Einstein und de Haas 3 gelungen, die Existenz 
dieser Stoßkraft quantitativ richtig experimentell nachzuweisen. 
Temperaturerniedrigung hat geringen Einfluß auf die Intensität des 
Magnetismus, auch die magnetische Energie ist somit eine Null¬ 
punktsenergie, die nach der älteren Auffassung, beim absoluten Null¬ 
punkt verschwinde jede Bewegung, nicht existieren könnte. Übri¬ 
gens wird der elektrische Widerstand von Drähten in der Nähe des 
absoluten Nullpunkts Null, so daß elektrische Ströme in stark ab 
gekühlten Spulen ohne Energiezufuhr lange Zeit andauern können, 
was experimentell erwiesen wurde. 

Treffen elektrische oder magnetische Kraftlinien auf die 
Grenze zweier Medien mit verschiedener Dielektrizitätskonstante 
bezw. verschiedener magnetischer Permeabilität, so entstehen 

1 Siehe O. Lehmann, diese Verh. 26, X, 1914. 

2 Siehe O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 252, § 256. 

3 A. Einstein u. W. J. de Haas, Verh. d. D. phys. Ges. 17, 152, 1915 



148 


O. Lehmann 


ponderomotorische Kräfte, die an diesen Grenzflächen an- 
greifen und pro Quadratmeter ebensoviel Dezimegadynen 
betragen als die Energie Joule pro Kubikmeter, also im 

Fall eines elektrischen Feldes —„ - , im Fall des magnetischen 

O Jl fj 

Feldes wobei He und Hm die Zahl elektrischer bezw. 

8 31 fl 

magnetischer Kraftlinien pro qm bedeuten, wenn diese in solcher 
Dichte gezogen sind, daß sich am Fußpunkt jeder l j A n Coulomb 
bezw. l j A n Weber befinden. 1 

Die gesamte Kraft ist die Differenz der auf die eine und 
andere Seite der Grenzfläche wirkenden Kräfte. Ist die Grenzfläche 
senkrecht zu den Kraftlinien, so sind diese beiden Kräfte nach dem 
Innern des betr. Dielektrikums gerichtet, wie wenn die Kraftlinien 
an der Grenzfläche befestigt wären und Zugkräfte darauf ausübten. 
Ist die Grenzfläche parallel den Kraftlinien, so sind die Kräfte um¬ 
gekehrt nach außen gerichtet, so daß man von einem Druck der 
Kraftlinien quer zu ihrer Längsrichtung sprechen kann. Ist die 
Grenze schräg zu den Kraftlinien unter 45 0 , so liegen die Kraft¬ 
richtungen in der Fläche in entgegengesetzten Richtungen, brin¬ 
gen also eine Schubwirkung hervor. 2 

Die magnetischen Kraftlinien endigen scheinbar in magne¬ 
tischen Polen (oder Magnetonen), welchen man eine magnetische 
Masse zuschreibt (Maßeinheit das Weber), ebenso wie die elektri¬ 
schen in elektrischen Ladungen oder Elektronen und Ionen (Maßein¬ 
heit das Coulomb). In Wirklichkeit gibt es aber keine magnetische 
Massen, sondern nur bewegte Elektrizität, welche magnetische Felder 
erzeugt; die magnetischen Kraftlinien laufen also in Wirklichkeit 
immer in sich zurück. Ebenso treten bei Bewegung eines Magnet- 
l>ols in sich geschlossene elektrische Kraftlinien auf 3 , es gibt also 
elektrische Kraft ohne Elektrizität. Zweifellos besitzen diese in 
sich geschlossenen elektrischen und magnetischen 
Felder ohne Elektronen und Magnetonen reale 
Existenz ebenso wie die Atome, Elektronen und Ionen. Sie lassen 
sich in exakter Weise messen und können somit als Grundlage phy¬ 
sikalischer Berechnungen dienen. Da sie aber auch im leeren 


1 Siehe O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 246, § 252. 

2 Siehe F. Kinde, Elektrotechnik und Maschinenbau 1916, Nr. 12 u. 13. 

1 Siehe O. Lehmann, diese Verh. 26, XIII, 1914. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


149 


Räume existieren können und für uns eine Kraftwirkung nur ver¬ 
ständlich ist, wenn wir ein Wesen kennen, welches die Kraft ausübt, 
an dessen Stelle wir unser eigenes Ich gesetzt denken können, so sind 
wir geneigt, auch im leeren Raume ein auf keine Weise sonst wahr¬ 
nehmbares Medium anzunehmen, den Äther, welcher ebenfalls als 
Aggregat von Individuen, von Ätheratomen zu denken ist, 
denen man Beweglichkeit zuschreiben muß. 

H. Hertz bezeichnete es geradezu als Auffassung sämtlicher 
Physiker, die Aufgabe der Physik bestehe darin, alle Vorgänge auf 
Bewegungsvorgänge zurückzuführen, wie es auch die Ansicht von 
Hclmholtz und Clausius war, was freilich in vorliegendem Fall nur 
möglich ist unter Annahme verborgener Bewegungen, die sich auch 
im leeren Raume abspielen. Alle Bemühungen, die elektromagneti¬ 
schen Erscheinungen in solcher Art mechanisch zu erklären, sind aber 
erfolglos geblieben, ja nach H. Witte 1 läßt sich sogar beweisen, 
daß sie auch stets vergebliche sein werden. Es wäre also irrtümlich 
im Sinne Galileis, die mechanischen Erscheinungen als das Primäre 
zu betrachten; mehr Aussicht hat die umgekehrte Annahme, das 
wirklich Reale seien die elektrischen und ma¬ 
gnetischen Felder und durch deren Verhalten (welches 
durch die Maxwellschen Gleichungen bestimmt ist), seien die mecha¬ 
nischen Erscheinungen und das Verhalten der Materie zu deuten. 
Die Felder existieren unabhängig von der Temperatur, bilden also 
ebenfalls eine Form von Nullpunktscnergie. 

Das Merkwürdigste ist, daß in sich geschlossene elektrische und 
magnetische Felder frei im Raume fort wandern können, ähn¬ 
lich den Luftverdichtungen und -Verdünnungen beim Schall, welche 
ebenso wie die wandernden Felder keinen Gleichgewichtszustand 
darstellen. Seit den Untersuchungen von H. Hertz und seiner 
Nachfolger über diese elektromagnetische Strahlung sind wir über¬ 
zeugt, daß Licht- und Wärmestrahlung, chemische Strahlen und 
Röntgenstrahlen nichts anderes sind, als solche wandernde elek¬ 
trische und magnetische Felder, deren Abstand ein außerordentlich 
geringer sein kann, kleiner als der Durchmesser eines Atoms, der 
auf y i0 eines Milliontel Millimeters geschätzt wird. 

Treffen solche elektromagnetische Strahlen auf die Grenze 
zweier Medien mit verschiedener Dielektrizitätskonstante oder mag- 

1 H. Witte, Phys. Zeitschr. 7, 779, 1906; Ann. d. Phys. 26, 235, 1908; 32, 
382, 1910; Elektrot. Zeitschr. 1909, Heft 48. 



O. Lehmann 


150 

netisclier Permeabilität, so entstehen ponderomotorische Kräfte, wie 
oben angegeben; die Strahlung übt also einen Druck aus, der gemes¬ 
sen in Dezimegadynen pro Quadratmeter gleich der Energiedichte 
in Joule pro Kubikmeter ist. Es ist nicht möglich, diesen Druck zu 
verstehen ohne Annahme eines Trägers der Kräfte auch im leeren 
Raum, d. h. ohne Annahme der Existenz des Lichtäthers. 

Die Quelle der Arbeitsleistung durch den Druck von Licht - 
und Wärmestrahlung ist die Wärmeenergie, aus welcher die Strah¬ 
lungsenergie hervorgeht. Ganz wie im Fall der Umsetzung von 
Wärme in mechanische Arbeit mittelst einer thermodynamischen 
Maschine kann man also auch in diesem Fall nach dem Wirkungs¬ 
grad der EncrgieumWandlung fragen und das Problem in analoger 
Weise lösen. 

Man denke sich eine Carnotsche Maschine, deren Zylinder und 
Kolben auf der Innenseite vollkommen spiegeln bis auf die Boden¬ 
fläche des Zylinders, welche absolut schwarz sei. Letztere werde 
erwärmt, so daß sic Strahlung in den Zylinder hineinsendet, welche 
auf den Kolben drückt und dadurch das Schwungrad in Drehung 
versetzt. Da dieser Vorgang ebenso wie die Expansion eines Gases 
sich von selbst vollzieht, muß die Entropie wachsen. Die Boden¬ 
fläche verliert aber Wärme durch die Strahlung, ihre Entropie wird 
also kleiner, somit muß der Strahlung ebenfalls Entropie zukommen, 
(damit die Summe größer wird, als der frühere Betrag), folglich 
auch Temperatur, da die Definition der Entropie solche voraussetzt. 

Die Temperatur der Strahlung ist natürlich gleich der der schwar¬ 
zen Fläche, von welcher sie ausgeht, da der Vorgang umkehrbar ist 
(weil die Strahlungauch wieder absorbiert werden kann), wie bei einem 
gewöhnlichen Wärmegleichgewicht. Ist E die Strahlungsenergie 
in Joule pro cbm, so kann man anndimen, da 3 zu einander senk¬ 
rechte Richtungen gleichwertig sind bezüglich der Richtung der 
Strahlen, daß f / 3 der Strahlen senkrecht auf den Kolben auftreffe, 
somit der Druck ! /, E Dezimegadynen pro qm betrage. Ist die 
Kolbenfläche = <7 qm, der Hub ds Meter, die Volumzunahme 

E E 

dv cbm, so ist die Arbeitsleistung = ■ • q ■ ds = — ■ dv Joule. 

Die gesamte im Zylinder enthaltene Strahlungsenergie beträgt 
fi ■ v Joule, ihre Änderung d (E v) Joule. Nun muß nach dem 
ersten Hauptsatz für die zugeführte Wärmemenge gemessen in 

Joule die Gleichung bestehen dQ — d(Ev )-\-y • dv— vdE -+- ^ Edv\ 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


ferner beträgt nach dem zweiten Hauptsatz die geleistete Arbeit 
• d T= (J dE + \ - dvjdT, es muß also sein ö M- = ä ^ ^ 

-- ^ 7/ 

. i i \ d T r , ^ d T . dE 

oder = ~r —V ,,,, woraus folgt J — i h oder - - = 

1 1 1 u h, ° E E 


dT 

4 • —. oder E = Konst. 7 \ d. h. es ergibt sich das S tefa li¬ 
sch c Strahlungsgesctz über die Abhängigkeit der Strah¬ 
lungsintensität eines schwarzen Körpers von der Temperatur in 
vollkommener Übereinstimmung mit der Erfahrung. 

Arrhenius 1 schreibt dem Strahlungsdruck große Bedeutung zu 
für die Erhaltung der Welt. Während diese nach der Kant-Laplace- 
schen Theorie infolge der Strahlung und der dadurch bedingten Ab¬ 
kühlung der Himmelskörper in fortschreitender Kondensation be¬ 
griffen ist und auch nach dem Entropieprinzip schließlich dem 
„Wärmetod“ verfallen muß, wobei alle Energieformen sich in 
Wärme umgesetzt haben, entsprechend dem Maximum der Entropie, 
also Bewegung und Elektrizität nicht mehr existieren, alles Ge¬ 
schehen aufhört, soll nach Arrhenius der Strahlungsdruck, welcher 
feinste Stäubchen und Moleküle von den Sonnen forttreibt, eine Wie¬ 
derauflösung der Weltkörper in Nebel- und Gasmassen l>ewirken 
unter sich von selbst vollziehender Abnahme der 
Entropie durch Wirkung der Strahlungsarbeit und aus diesen 
Nebelmassen sollen sich dann wegen Ausstrahlung und Kondensa¬ 
tion durch Wirkung der Gravitation unter starker Wärmeentwick¬ 
lung neue Welten bilden. Berücksichtigt man aber, daß die Strah¬ 
lung aus Wärme entsteht und als eine Form freier Energie nur in 
solchem Maße als das vorhandene Temperaturgefälle gestattet, so 
erscheint eine Verhinderung des Wärmetodes auf diese Weise un¬ 
möglich. Die Welt muß also einen bestimmten Anfang gehabt ha¬ 
ben, sonst wäre der Wärmetod schon eingetreten, falls sie begrenzt 
ist; denn auf unendlich ausgedehnte Systeme lassen sich die Betrach¬ 
tungen nicht anwenden. 

Ein elektromagnetischer \V e 1 I e n z u g schrei¬ 
tet im leeren Raume mit der konstanten Ge- 


S. Arrhenius, Das Werden der Welten, Leipzig 1907. 



152 


O. Lehmann 


schwindigkeit von 300 Millionen Metern pro Se¬ 
kunde fort, ähnlich einem Zug von Wasserwellen auf der Ober¬ 
fläche eines Teiches, dessen Geschwindigkeit freilich nur sehr klein 
ist. Wäre es beispielsweise gelbes Natriumlicht, das im Spektroskop 
eine gelbe Linie erzeugt, so würde sich die Linie bei rascher Annähe¬ 
rung des Spektroskops an die Lichtquelle nach dem violetten Ende 
des Spektrums verschieben müssen (Dopplers Prinzip), bei Entfer¬ 
nung nach dem roten Ende, da pro Sekunde das Spektroskop im 
ersten Fall mehr, im zweiten weniger Wellen (elektr. Felder) emp¬ 
fängt. Würde sich die Lichtquelle verschieben, so würde ebenso 
auf deren Vorderseite der Abstand der Felder sich vermindern, die 
Energiedichte, also auch der Reaktionsstrahlungsdruck auf die Licht¬ 
quelle steigen, auf der Rückseite kleiner werden. Die Folge davon 
ist ein Widerstand gegen die Bewegung; d i e t r ä g e 
M a s s e d cs K ö r p e r s w ä c h s t a I s o m i t d e r G e s c h win¬ 
dig k e i t. Bei Verschiebung mit Lichtgeschwindigkeit würde sie 
unendlich werden, schneller kann sich also ein strahlender Körper 
— und jeder strahlt — nicht bewegen. Es gibt somit auch eine 
Grenze der Temperaturerhöhung, d. h. der Molekulargeschwindigkeit. 

Wäre ein innen vollkommen spiegelnder, absolut leerer Hohl¬ 
raum gegeben, dessen Wände so geringe Masse haben sollen, daß sie 
vernachlässigt werden kann, so würde nichtsdestoweniger dieser 
Hohlraum der Verschiebung einen Widerstand entgegenstellen, w i e 
wenn die Strahlung selbst Trägheit hätte. Auf 
solche kann man auch schließen aus der Stoßkraft, d. h. dem Druck, 
den sie auf einen getroffenen Körper ausübt. Beispielsweise wäre 
die träge Masse von 1 cbm Sonnenlicht = 53 Quadrilliontel Kilo¬ 
gramm, die träge Masse, die ein absolut schwarzer Körper durch 
Strahlung bei der absoluten Temperatur T Grad verliert 0,5g • T l 
Quadrilliontel Kilogramm pro Quadratmeter und Sekunde, ebenso 
groß die Vermehrung der trägen Masse, wenn er Strahlung absor¬ 
biert, was z. B. für iooo° den Betrag von 0,59 Billiontel kg pro 
qm und Sekunde ausmachen würde. Bei einem auf 0,001 mm 
Quecksilberdruck verdünnten Gas würde bei der Schmelztemperatur 
des Platins die darin enthaltene Strahlungsenergie etwa A /\ der 
in Form von thermischer Bewegung vorhandenen Energie aus¬ 
machen, so daß die träge Masse derselben bei rascher Strömung wohl 
in Betracht zu ziehen wäre. Ist das Gas ein einatomiges und in 
einen innen vollkommen spiegelnden Hohlraum eingeschlossen, ent- 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


>53 


hält es ferner strahlende Oszillatoren und absorbierende Resona¬ 
toren von Atomdimensionen, so läßt sich beweisen, daß ein Gleich¬ 
gewichtszustand, wie er dem Maximum der Entropie entspricht, nur 
bestehen kann bei gleichmäßiger Energieverteilung zwischen den 
bewegten Atomen und den Oszillatoren, was aber dann wie in einem 
früheren Vorträge 1 gezeigt wurde, zu einem Widerspruch gegen das 
oben abgeleitete und bewährte Strahlungsgesetz führt. Dieser Wi¬ 
derspruch verschwindet nur, wenn man auf das sonst in der kine¬ 
tischen Theorie stets als gültig anerkannte Gleichverteilungsgesetz 
verzichtet, ebenso auch auf die Gültigkeit der Maxwellschcn Glei¬ 
chungen für Atome, und mit M. Planck - annimmt, d i e E nerg i e 
könne nur in einzelne n Quanten i m B c t r a g c v o n 
6,55 • 10“ 34 • v Joule ausgesandt werden, worin v die 
Schwingungszahl eines Oszillators pro Sekunde ist und 6,55 • io~ 34 
ein von der Natur des Stoffes und den sonstigen Umständen unab¬ 
hängige Konstante, die als W i r k u n g s q u a n t u m bezeichnet 
wird. Aus dieser Energiequantentheorie ergibt sich nicht nur das 
obige Strahlungsgesctz, sondern auch die richtige Verteilung der 
Energie auf die einzelnen Strahlungsarten und deren Änderung mit 
der Temperatur, das Wiensche Verschic b u 11 g s g e s e t z. ; ‘ 

Weiter gelangt man auf Grund spezieller Annahmen über die 
Beschaffenheit der Atome, wie sie z. B. von Bohr 4 und Dein e •" ge 
macht wurden, wobei Elektronen um positive Ionen kreisend ge¬ 
dacht werden, zu quantitativer Ableitung der Li n i c 11 s p e k t r a 
der betr. Stoffe, ihrer Absorption und Dispersion, des 
Stokesschen Gesetzes der Fluoreszenz, der Lichtelek- 
t r i z i t ä t, der Röntgenstrahlenemissio 11 usw., ja so¬ 
gar von mechanischen Eigenschaften wie der s p e z. W ä r m e, der 
inneren Reibung usw. In Übereinstimmung mit den obigen 
Ergebnissen zeigt sich ferner, daß der Betrag v o n U> Energie- 
quant pro Freiheitsgrad jedes Atoms nicht ausgestrahlt 
werden kann, so daß jedes Atom eine N u 11 p u n k t s e 11 e r - 
gie in diesem Betrage besitzen muß, welche als träge Masse 
desselben erscheint. 

1 O. Lehmann, diese Verh. 24, 283, 1912. 

2 M. Planck, Sitzb. d. Berl. Akad. 190;, 542; Arm. d. Phys. 26, 1, m- s 
Theorie der Wärmestrahlung, 1913. 

' Siche O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 285, 2S7. 

4 Siche E. Riecke, Phys. Zeitsclir. 16, 222, 1915. 

5 P. Debye, Sitzb. d. Münch. Akad. 1915, 1. 



«54 


O. Lehmann 


In welcher Beziehung steht nun diese scheinbare träge Masse zu 
der wahren trägen Masse, die nach dem Galilcischen Fundamental¬ 
satz identisch ist mit der schweren Masse? Ist vielleicht die 
scheinbare träge Masse des elektrischen und magnetischen Feldes 
ebenfalls schwer, sind die Imponderabilien Elektrizität und Licht 
in Wirklichkeit ebenfalls schwere Massen? 

Einer solchen Annahme scheint schon der Umstand zu wi- * 
dersprechcn, daß die scheinbare Masse mit der Geschwindigkeit ver 
änderlich ist, während die Galileische wahre Masse etwas absolut 
Konstantes darstellt und als das anscheinend wirklich Reale zur 
Grundlage ^ller physischen Berechnungen diente. 

Nähere Untersuchung der Strahlungsvorgänge hat aber zu dem 
Ergebnisse geführt, daß der absolute Wert der Galileischen Masse 
sich nicht aufrecht erhalten läßt, sie wächst vielmehr mit der Ge¬ 
schwindigkeit, wie wenn Äther (immer mehr) mitgenommen würde. 

Die Wasserwellcn auf der Olxrrfläche eines Teiches werden von 
dem Wasser mitgenommen, wenn dasselbe in Strömung gerät, ihre 
Ausbreitung wird gestört in der Nähe einer fahrenden Gondel, da 
hier infolge der Reibung das Wasser sich mehr oder weniger mit¬ 
bewegt. Ähnlich sollte die Ausbreitung des Lichtes gestört werden 
in der Nähe der Erde infolge ihrer Rotation und ihres Umlaufs um 
die Sonne, falls eine Art Reibung zwischen Materie und Äther auf- 
tritt und infolge dessen der Äther in der Nähe der Erde von dieser 
bis zu gewissem Grade mitgenommen wird. Beobachtungen hierüber, 
sowie ül>er etwaige Mitnahme der Lichtwellen von Gas- oder Flüs¬ 
sigkeitsströmen in Röhren, wie sie Fizeau angestellt hat oder über 
die Mitbewegung elektrischer Kraftlinien in bewegten dielektrischen 
Stoffen, wie sie Röntgen ausführte, haben aber stets negativen Er¬ 
folg gehabt, was zu dem Schlüsse nötigt, der Äther könne auf 
keine Weise in Bewegunggesetzt werden, er müsse, 
falls er überhaupt existiert, stets in absoluter Ruhe verharren, 
mit wie großer Geschwindigkeit auch die Körper sich durch ihn hin¬ 
durchbewegen mögen. 

Die experimentelle Prüfung dieses Schlusses durch Michclson 
hatte aber gleichfalls negatives Ergebnis, was sich zwar insofern 
voraussehen ließ, als ein positives Ergebnis eben in der Feststellung 
der absoluten Ruhe des Äthers, d. h. in der Messung der absoluten 


1 O. Lehmann, diese Vcrh. 23, 51, 1910. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


155 


Geschwindigkeit des bewegten Körpers hätte bestehen müssen, da 
ja die Geschwindigkeit relativ zu dem absolut ruhenden Äther 
nichts anderes als absolute Geschwindigkeit ist. Bereits nach Gali¬ 
leis Relativitätsprinzip kann es aber nicht möglich sein, diese zu be¬ 
stimmen, auch deshalb nicht, weil kein fester Punkt und keine feste 
Richtung im leeren Raume, d. h. im Äther gegeben ist. 

Zur Erklärung des Michelsonschen Ergebnisses wurde not¬ 
wendig anzunehmen, daß ein bewegter Körper nur für 
einen mitbewegten Beobachter seine Längenaus¬ 
dehnung behält, während er sich für einen ruhenden 
Beobachter in der Richtung der Bewegung zu kon¬ 
trahieren scheint und zwar im Verhältnis 

6* 2 * Wen11 

v die Geschwindigkeit des Körpers und c die Lichtgeschwindigkeit 
ist. Der Grund liegt darin, daß die Länge nur relativen Wert hat. 
Der ruhende Beobachter kann nicht wie der mitbewegte einfach einen 
Maßstab anlegen, um die Länge zu ermitteln, er muß die Messung 
mit Hilfe von Lichtsignalen durchführen und hierdurch kommt er, 
obschon er sich des gleichen Maßstabes bedient und im Prinzip 
ebenso mißt wie der mitbewegte Beobachter, zu einem andern Ergeb¬ 
nis wie dieser. Gleiches gilt für die Beobachtung einer Zeitdauer, 
die in gleichem Maße eine Verkürzung erfährt oder für Beobachtung 
der Temperatur, die erniedrigt erscheint. Einstein 1 erweiterte das 
Relativitätsprinzip dahin, daß auch in diesem Fall immer nur die 
relative Bewegung in Betracht kommt, daß also die scheinbare 
Verkürzung ganz dieselbe ist, wenn der Körper 
ruht und der Beobachter sich bewegt. Daraus folgt, 
daß die Verkürzung unmöglich eine Folge der Verschiebung der 
Körpermoleküle relativ zum Äther und dadurch geweckter beson¬ 
derer Molekülekräfte sein kann, wie H. A. Lorentz zuvor angenom¬ 
men hatte. Gibt es wirklich einen Äther, so müßte freilich eine 
solche tatsächliche Kontraktion nach Ansicht von M. Planck eintre- 
ten und da sie dem Einsteinschen Relativitätsprinzip zufolge nicht 
ein treten kann, so schließt hieraus Planck auf Nichtexistenz 
des Äthers. Manche halten diesen Schluß nicht für genügend 
sicher und halten deshalb an der Existenz des Äthers fest, auf die, 
wie bemerkt, nicht verzichtet werden kann, wenn eine verständ- 

1 A. Einstein, Ann. d. Phys. 17, 891; 18, 639, J905; M. Laue, Das RcP- 
tivitätsprinzip, Braunschweig 1911. 



O. Lehmann 


156 

liclic Beschreibung der Erscheinungen, gegeben werden soll, da, 
wie oben ausgeführt, eine Kraftwirkung nur dann im Geiste von 
uns nachgeahmt werden kann, wenn wir ein unteilbares Wesen ken¬ 
nen, das die Kraft ausübt und an dessen Stelle wir unser eigenes 
Ich setzen können. Die Hypothese der Existenz des Äthers allein 
genügt allerdings auch noch nicht, wir müssen ihn uns als Aggregat 
von Atomen vorstellen. 

Durch Einführung der Einsteinsehen speziellen Relativitäts¬ 
theorie wurden auch Unklarheiten, die bezüglich der Maxwellschen 
Gleichungen bestanden, beseitigt. Beispielsweise induziert ein Ma¬ 
gnetpol in einem Kupferring, dem er genähert wird, einen elektri 
sehen Strom. Ist der Kupferring nicht verhanden, sondern der 
Raum leer, so erzeugt die Bewegung des Magnetpols nur ein ring¬ 
förmiges in sich zurücklaufendes elektrisches Kraftfeld. Ein sol¬ 
ches entsteht zunächst auch in dem Kupferring, weil aber dieser 
freie Elektronen enthält, so werden sie in der Richtung der elektri¬ 
schen Kraft in Bewegung gesetzt, es entsteht der Induktionsstrom. 
Würde man nun nicht den Magneten dem Kupferring nähern, son¬ 
dern den Kupferring bewegen, während der Magnet ruht, so liegt 
zur Entstehung eines ringförmigen elektrischen Feldes, welches 
einen Induktionsstrom erzeugen könnte, nach den Maxwellschen 
Gleichungen kein Grund vor und dennoch entsteht dieser Strom in 
ganz derselben Stärke, cs kommt nur auf die relative Bewegung 
von Magnetpol und Kupferring an; er muß entstehen nach dem 
Relativitätsprinzip, denn sonst ließe sich durch diesen Versuch ent¬ 
scheiden, was sich wirklich bewegt, Magnet oder Ring. 

Die erzielten Erfolge regten Einstein dazu an, seine Relativi¬ 
tätstheorie noch zu erweitern zur allgemeinen Relativi¬ 
tätstheorie, welche verlangt, die Naturgesetze müßten so be¬ 
schaffen sein, daß sie sich nicht ändern, welches auch die Art 
d er Bewegung des Beobachters i s t, d. h. des Bezugs¬ 
systems und des Koordinatensystems, in bezug auf welches die 
Koordinaten der einzelnen Punkte angegeben werden. 

Man stelle sich z. B. einen zur Erde fallenden Stein vor, wel¬ 
cher sich mit gleichmäßig zunehmender Geschwindigkeit der Erde 
nähert. Der auf der Erde stehende Beobachter glaubt, der Vorgang 
finde in dieser Weise statt. Wenn aber der Stein ruhte und die 
Erde würde sich mit gleichmäßig beschleunigter Geschwindigkeit 
dem Stein nähern, so hätte der Beobachter ganz denselben Eindruck. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


I.S7 


Das Relativitätsprinzip sagt uns, der Beobachter sei auf keine Weise 
imstande, zu entscheiden, was richtig ist, denn sonst wäre er ja be¬ 
rechtigt, ein Urteil über die absolute Ruhe der Erde auszusprechen. 

Ersetzen wir nun den Stein durch einen Lichtstrahl, wel¬ 
cher sich gegen die Erde bewegt, so muß gleiches gelten. Es darf 
nicht möglich sein, zu entscheiden, was sich wirklich bewegt, die 
Erscheinung muß so verlaufen, daß* nur die relative Bewegung ma߬ 
gebend ist. Daraus folgt das interessante Resultat, daß dem Licht¬ 
strahl nicht nur, wie oben angegeben, eine träge Masse zukomn,;. 
sondern genau dem Galileischen Satz von der Identität von träger und 
schwerer Masse entsprechend ein Gewicht, derart, daß, wenn wir 
1 cbm Sonnenlicht auf die Wage legen könnten, etwa eingeschlossen 
in einem spiegelnden Hohlraum, derselbe sich wie ein Gewichtsstück 
von 53 Quadrilliontel Kilogramm verhielte, d. h. von der Erde mit 
einer Kraft von 53 • 9,81 Quadrilliontel Dczimegady nen angezogen 
würde. Dementsprechend läßt sich eine geringe Verschiebung 
der Spektrallinien von der Sonne kommende Strahlen gegen 
das rote Ende des Spektrums hin beobachten, gegenüber den Spek¬ 
trallinien gleichartiger Stoffe auf der Erde, wie wenn die Schwin¬ 
gungszahl um 2 Millionte! abgenommen hätte, da die Wellen des 
Sonnenlichts durch die beschleunigte Bewegung gegen die Erde 
anseinandergezogen, also verlängert werden. 

Ein von einem Fixstern an der Sonne vorbeigehender Licht¬ 
strahl muß durch die Gravitationskraft der Sonne 
eine Ablenkung von 0,83 Bogensekunden erfahren *, d. h. der 
Stern müßte um den gleichen Betrag von seinem normalen Orte ab¬ 
gelenkt erscheinen. Am Planeten Jupiter vorbeigehend würde der 
Strahl eine Ablenkung um 0,02* erfahren. 

Auch die Lichtgeschwindigkeit, welche man früher als 
eine absolut konstante betrachtete, ergibt sich nach der all¬ 
gemeinen Relativitätstheorie als veränderlich. In einem Gra¬ 
vitationsfeld, in welchem 1 kg die potentielle Energie <Z> Joule 

besitzt, ist die Lichtgeschwindigkeit = 3 • io 8 (1-4- --~ o0 ) Meter 

pro Sekunde. (Der absolute Wert von ist unbekannt.) 

Da nun die Strahlung lediglich aus elektrischen und ma¬ 
gnetischen Feldern besteht, die Formen von Energie sind, ist man 

1 A. Einstein, Ann. d. Phys. 38, 355, 1912; 49, 822, 1916. E. Freundlich, 
Phys. Zeitschr. 15, 369, 1914. 



158 


O. Lehmann 


zu dem Schlüsse genötigt, daß Trägheit und Schwere 
Eigenschaften der Energie sind und auch die Elektronen 
ihre scheinbare träge Masse, von welcher oben die Rede war, 
lediglich ihren elektrischen und magnetischen Feldern verdanken 
und daß diese Masse keineswegs eine scheinbare ist, sondern daß 
ein Elektron wirklich ein Gewicht wie ein Gewicht¬ 
stück von 1,56 • io _ 3 ° kg besitzt, d.h. von der Erde mit der 
Kraft 1,56- io _3 ° 9,8 i Dezimegadynen angezogen wird. 

Die Unterscheidung zwischen wägbaren Kör¬ 
pern und Imponderabilien fällt hiermit; die Im¬ 
ponderabilien sind nur deshalb nicht wägbar, weil unsere Wagen 
nicht hinreichend fein sind. Wäre es z. B. möglich, einen auf der 
Wage tarierten Konduktor mit 1 Coulomb zu laden, so würde 
seine Gewichtszunahme io Billiontel Kilogramm = 10 Milliontel 
Milligramm betragen. Eine solche Ladung kann man aber bei wei¬ 
tem nicht herstellen, wie sich schon danach abschätzen läßt, daß ein 
so geladener Konduktor einen gleichgeladenen im Abstand von 
1 Meter mit der Kraft 9 • io** Dezimegadynen also rund mit einer 
Kraft gleich der Schwere von einer Million Tonnen beeinflussen 
würde. 

Da die Energieformen ineinander verwandelbar und gleich¬ 
wertig sind, folgt, daß auch beispielsweise der Wärme und 
der Bewegungsenergie Schwere zukommt. Die träge 
Masse von 1 kg Wasser, das man um 1 Grad C. erwärmt, ver¬ 
größert sich um 0,0454 Billiontel Kilogramm. Fällt ein Gewicht¬ 
stück, welches 1 Dezimegadyne wiegt, 1 Meter herunter, so ver¬ 
größert sich seine Masse infolge der angenommenen Geschwin¬ 
digkeit oder Wucht um —- Billiontel Kilogramm. Wäre die 

Erde in Ruhe, so wäre ihre Masse, wie sich aus dem Gravi¬ 
tationsgesetz ergibt*, 5,88 Quadrillionen Kilogramm. Infolge der 
Wucht, welche sie wegen ihrer Bewegung um die Sonne besitzt, 
kommt dazu noch der Betrag von 0,03 Trillionen Kilogramm. 
Nach dem Relativitätsprinzip ist die träge, also auch die 
schwere Masse eines Körpers nicht nur von seiner Geschwin¬ 
digkeit v abhängig, sondern auch davon, welchen Winkel die 
Richtung der beschleunigenden Kraft oder der Schwere mit der 
der Geschwindigkeit bildet. Ist dieser Winkel Null, so ist die 

1 Siehe O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 22, § 18. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


159 


Masse 


tn o 


~ , wenn Mo die Ruhemasse und c die Licht- 


y 

gesch windigkeit bedeutet. Diese Masse nennt man longitudinale 
Masse. Beträgt aber der Winkel 90°, so ist die Masse 


y.- 


V 2 
c 2 


Diese heißt transversale Masse. Für v — c werden beide unendlich 
groß. Auch der Wert der kinetischen Energie ist nicht einfach, 

wie anfangs angenommen, y nio v 2 Joule, sondern ——— 


y 


V 1 


nio c 2 = — mo v 2 
2 


.... d. h. sie wird durch eine unend¬ 


liche Reihe gegeben, deren erstes Glied vio v 2 ist. 1 


Da in dem Ausdruck die Lichtgeschwindigkeit vorkommt und 
diese von dem Gravitationsfeld abhängig ist, gilt gleiches auch für 
die kinetische Energie oder auch für die potentielle Energie, aus der 
diese entstanden ist; d. h. auch die Gravitationskonstante 
ist keine absolute Konstante. Würde man z. B. mittelst 
der Torsionswage die Gravitationskraft zwischen zwei Gewicht¬ 
stücken bestimmen und nun denselben Versuch auf einem hohen 
Berge machen, wo das Gravitationsfeld ein anderes ist, so würde 
man dort einen anderen Wert der Gravitationskonstante finden; denn 
diese erweist sich der Lichtgeschwindigkeit direkt proportional, 
ändert sich also im Gravitationsfeld in gleicher Weise wie diese. 

Insofern die kinetische Energie auch aus Energie elastischer 
Spannung hervorgegangen sein könnte, kann man den Schluß auch 
auf elastische Kräfte übertragen. Würde von den Enden 
einer elastisch gespannten Schnur das eine sich unten am Berge, das 
andere oben befinden, so wären die Spannungen trotz des Gleich¬ 
gewichtes an beiden Stellen nicht (dem Gesetz der Gleichheit von 
Wirkung und Gegenwirkung gemäß) gleich und ebensowenig die 
Dehnungen. 

Die Bahnellipse eines Planeten erfährt in der Richtung der 
Bahnbewegung, wie das Relativitätsprinzip beweist, eine lang- 


1 In der früheren Abhandlung diese Verh. 23, 72, 1900 ist m Q c 2 auf die rechte 
Seite gesetzt. Dies entspricht der Nullpunktsenergie, so daß der eigentliche Wert der 
m Q c 2 

kinetischen Energie - ist. 

} 1 — v 2 



i6o 


O. Lehmann 


same Drehung im Betrage e = 24 tt* -~ z ^ P ro Umlauf, 

wenn a die große Halbachse, c die Lichtgeschwindigkeit, c die 
Exzentrizität und T die Umlaufszeit in Sekunden ist. Für den 
Merkur beispielsweise ergibt diese Drehung die Perihelbewe¬ 
gung zu 43" pro Jahrhundert, wie bereits früher beobachtet 
worden war, aber nicht erklärt werden konnte. 

Wenn nun Trägheit und Schwere Eigenschaften der Energie 
sind, so entsteht, nachdem oben nachgewiesen wurde, daß die Atome 
selbst beim absoluten Nullpunkt noch Energie besitzen, die Frage, 
welcher Bruchteil der Atommasse dem Energieinhalt der Atome zu- 
zuschreiben ist. 

Schon Ostwald 1 dachte aus andern Gründen daran, die Gali- 
lcischc Masse sei nicht das eigentlich Reale, sondern die Energie, 
oder Materie und Energie seien eigentlich dasselbe, etwa entspre¬ 
chend W. Thomsons Wirbelatomtheorie 2 , nach welcher die Atome 
Stellen des Äthers wären, wo sich Bewegungsenergie in Form von 
Wirbelringen angehäuft hat, eine Hypothese, die insofern mit dem 
obigen Ergebnis, daß der Äther nicht in Bewegung gesetzt werden 
kann, vereinbar ist, als Atome nicht künstlich geschaffen werden 
können. Die thermochemischen Gleichungen, z. B. der Ansatz des 
Wasserstoff + Sauerstoff = Wasserstoff + Verbrennungswärme 
machen allerdings den Eindruck, als ob Materie sich auch in Wärme¬ 
energie umwandeln könnte. 

W. Wien" zog bereits die Möglichkeit einer elektromagneti¬ 
schen Begründung der Mechanik in Betracht auf Grund der An¬ 
nahme, das als Materie bezeichnete Substrat bestehe lediglich aus po¬ 
sitiven und negativen elektrischen Quanten, d. h. Konvergenzpunk¬ 
ten elektrischer Kraftlinien. L e n a r d 4 , welcher einen Einblick 
in die Struktur der Atome zu gewinnen suchte, indem er die Stoffe 
von Kathodenstrahlen durchdringen ließ, kam zu dem Ergebnis: 
..Was wir in dem von ihr (der Materie) eingenommenen Raume ge¬ 
funden haben, waren nur Kraftfelder, wie sic sich auch im freien 
Äther ausbilden können. Was sind dann jene Grundbestandteile 
aller Atome, auf welche wir durch das Massengesetz der Kathoden- 

1 W. Ostwald, Zeitschr. f. phys. ('hem. 18, 305, 1895. 

‘ Siche O. Lehmann, Molekularphysik 2, 364, 373 11. ff., 1889. 

\V. Wien, Ann. d. Phys. 5, 507, 1901. 

* 1 \ Lenuid, über Kathodenstrahlen, Leipzig 1906, 36. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


1 61 


Strahlenabsorption geführt wurden? Offenbar ebenfalls nur Kraft¬ 
felder wie die ganzen Atome.“ 

Die radioaktiven Erscheinungen, speziell die Wärmeentwick¬ 
lung beim Zerfall des Radiums und die enormen Geschwindigkeiten, 
mit welchen a- und ^-Teilchen fortgeschleudert werden, weisen dar¬ 
auf hin, daß ungeheuere Energievorräte in den Atomen vorhanden 
sein müssen, deren Trägheit und Schwere vollkommen die Trägheit 
und Schwere der Atome erklärt. 

Auch meine Untersuchungen über die molekularen Richtkräfte 
bei flüssigen Kristallen führten zu der Auffassung, daß es sich wohl 
lediglich um magnetische Wirkungen kreisender Elektronen han¬ 
delt wobei allerdings, da kreisende Elektronen nach den Maxwell- 
schen Gleichungen Strahlung aussenden, angenommen werden müßte, 
daß immer zwei Elektronen einander diametral gegenüberstehen, 
so daß ihre Strahlungen sich durch Interferenz vernichten. 

Eine präzise Berechnung, welcher Energiebetrag von den Ato¬ 
men nicht ausgestrahlt werden kann und ihnen als verborgene „1 a - 
tente Energie“ oder „N ullpunktsenergie“ auch beim 
absoluten Nullpunkt zukommt, ist auf Grund der Energiequanten¬ 
theorie zuerst von M. Planck 1 2 gegeben worden. Er findet, daß sie 
pro Freiheitsgrad der Atome ein halbes Energiequant beträgt. Es 
hindert nichts anzunehmen, sagt er, „daß innerhalb der chemischen 
Atome gewisse stationäre Bewegungsvorgänge von der Art stehen¬ 
der Schwingungen stattfinden, die mit keiner oder nur unmerklicher 
Ausstrahlung verbunden sind. Die Energie dieser Schwingungen, 
welche sehr bedeutend sein kann, würde sich dann, solange die 
Atome unverändert bleiben, auf keine andere Weise verraten als 
durch die Trägheit, welche sie einer translatorischen Beschleunigung 
des schwingenden Systems entgegensetzt, und durch die offenbar 
damit in engen Zusammenhang stehende Gravitationswirkung“. . . 
„Diesen Energievorrat, der dem Körper bei Null Grad absolut ver¬ 
bleibt und dem gegenüber alle in den gewöhnlichen physikalischen 
und chemischen Prozessen vorkommenden Wärmetönungen minimal 
sind, wollen wir hier als die „latente Energie“ des Körpers bezeich¬ 
nen. Die latente Energie ist von der Temperatur und von den Be- 


1 O. Lehmann, Die neue Welt der flüssigen Kristalle, Leipzig 1911, 346. 
Vgl. dazu M. Born, Sitzb. d. Berl. Akad. 30, 614, 1916. 

2 M. Planck, Sitzb. d. Berl. Akad. 1907, 542. 


Verhandlungen. 26. Band. 


I 



I 62 


O. Lehmann 


wegungen der chemischen Atome ganz unabhängig, ihr Sitz ist also 
innerhalb der chemischen Atome zu suchen.“ 

Setzt man, wie früher 1 berechnet, die Zahl der Wasserstoff¬ 
atome in i kg = 640 • io 2 4 (Nernst gibt sie zu 617 • 10 24 an) 
und das Gewicht von 1 Energiequant* = 0,72 • io _<8 • v, so hätte 

man die Gleichung 640 • 10 2 -* • j ■ 0,72 • io~< 8 • v= 1, woraus folgt 
v = —• io 2 * als Schwingungszahl oder sekundliche Umlaufs¬ 
zahl der Elektronen in einem Wasserstoffatom. 3 

Setzt man die Wellenlänge gewöhnlicher Röntgenstrahlen, 
wie früher berechnet 4 = 60 • io~ ,J Meter, also ihre Schwingungs¬ 
zahl v = 7—-°— = - 1 • 10 20 , so folgt, daß die Elektronen im 

Wasserstoffatom noch etwa 1000 mal rascher schwingen oder 
kreisen, als zur Erzeugung solcher Röntgenstrahlen nötig wäre. 

An anderer Stelle 5 sagt Planck: »Dieser von der Temperatur 
unabhängige Energierest gehört also zur .latenten* Energie, 
welche nicht zur Wärmekapazität, wohl aber zur trägen Masse 
beiträgt und auch die Quelle der radioaktiven Wirkung bildet.« 

Nimmt man mit Debyeden Bahnradiusder Elektronen im Wasser¬ 
stoffmolekül zu 0,5 • io" 0 Meter an, so ergäbe sich deren Peri¬ 
pheriegeschwindigkeit = 2 • 3,14 • 0,5 • io _, ° • - - • io 24 = 1,36 • io 12 

230,4 

= 1,36 Billionen Meter pro Sekunde. Dies steht im Widerspruch 
mit den MaxweU’schen Gleichungen, welchen zufolge die Ge¬ 
schwindigkeit höchstens die Lichtgeschwindigkeit d. h. 3 • io s 
Meter pro Sekunde sein kann. Die Quantentheorie verzichtet 
aber auf Anwendbarkeit der Maxwell’schen Gleichungen im Innern 
der Atome. Mit der Tatsache, daß aus radioaktiven Stoffen Elek- 

1 O. Lehmann, diese Verh. 25, 71, 1913. 

1 O. Lehmann, diese Verh. 24, 287, 1912. 

r ‘ Nach 1 *. Drbye, Sitzb. d. Münch. Akad. 1915, ist im Wasserstoffmolekül 
der Abstand der Elektronen vom Umlaufszentrum 0,5 • 10-8 cm, die Winkelgeschwin¬ 
digkeit = 4,214 • 10 16 sec- 1 . 

Nach W. Nernst, Ber. d. D. phvs. Ges. 18, 83, 1916, ist der Radius der 
Bahn der negativen Elektronen im Wasserstoffmolekül = 0,17 • IO“ 10 cm, ihre Um¬ 
laufszahl 4,07 • io»'), der Radius der Bahn der positiven Ionen 0,64 • iü“ x J cm, ihre 
Umlaufszahl 0,75 • io 2 3 pro Sekunde, also von ähnlicher Größenordnung, wie oben 
angegeben. 

4 Siehe O. Lehmann, diese Verh. 25, 93, 1913. 

b M. Planck, Ann. d. Phvs. 37, 653, 1912. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


163 

tronen mit einer Geschwindigkeit von 100 Millionen Metern pro 
Sekunde und mehr herausfahren können, befindet sich die An¬ 
nahme so großer Umlaufsgeschwindigkeiten der Elektronen in 
den Atomen in befriedigender Übereinstimmung. 

Fassen wir das Ergebnis unserer Betrachtungen zusammen, so 
läßt sich sagen, daß die alte von Galilei begründete Anschauung, 
welche als das wirklich Existierende, völlig Unveränderliche, die 
Masse des Stoffs betrachtet hat, die sich zusammensetzen soll aus Ato¬ 
men, heute nicht mehr haltbar ist, sondern bedeutender Abänderung 
bedarf. Das eigentlich Existierende sind die Energie und ihr Sub¬ 
strat, die elektrischen und magnetischen Felder, die auch im leeren 
Raume existieren können ohne Vorhandensein elektrischer und mag¬ 
netischer Massen. Letztere erscheinen überhaupt nur als E n d i - 
gungen oder Konvergenzpunkte der die Felder 
bildenden Kraftfäden. Ein Äther, welcher früher als Trä¬ 
ger der Kraftfelder gedacht wurde, existiert wahrscheinlich nicht; 
jedenfalls ist seine Annahme überflüssig, er scheidet bei den Berech¬ 
nungen vollständig aus. Er kann nicht einmal dazu beigezogen 
werden, eine anschauliche verständliche Vorstellung von den Kraft¬ 
feldern zu gewinnen. Die Beschreibung muß sich darauf beschrän¬ 
ken, quantitative Beziehungen zwischen den auftretenden Änderun¬ 
gen in Raum und Zeit zu geben, welche nur dann zutreffend sein 
können, wenn ^e sogenannten Lorentztransformationen gegenüber 
kovariant sind, was die Unabhängigkeit der Erscheinungen von der 
absoluten Geschwindigkeit bedeutet. Träge Masse und Schwere, 
welche die alte Theorie als die Grundeigenschaften der Atome be¬ 
trachtete, d. h. der materiellen Substanz, aus welchen diese bestehen, 
sind in Wirklichkeit Eigenschaften der in den Atomen enthaltenen 
Energie. Nur infolge der kreisenden Bewegung der Elektronen in 
den Atomen, welche auch noch beim absoluten Nullpunkt stattfin¬ 
det, besitzen diese Trägheit und Schwere. Auch der schwerste Stoff 
würde sein Gewicht vollkommen verlieren, wenn diese kreisende Be¬ 
wegung aufhörte. Sie ist ebenso auch die Ursache der molekularen 
Richtkraft der Kristallmoleküle, sowie der als Elastizität und Ko¬ 
häsion bezeichneten molekularen Kräfte und auch der chemischen 
Affinität. Die chemische Verbindungswärme ist sichtbar gewordene 
Nullpunktsenergie der Atome, d. h. sie entsteht aus der Energie der 
kreisenden Bewegung der Elektronen infolge Veränderung der Um- 


1 



164 


O. Lehmann 


laufszahl und ebenso entsteht aus dieser die Wärme, die beim radio¬ 
aktiven Zerfall der Atome auftritt, sowie die Strahlung. 


Es ist nicht zu leugnen, daß auch diese neue Anschauung in 
mancher Hinsicht nicht befriedigend ist. Um sie mit den Erfah¬ 
rungen in Übereinstimmung zu bringen, war Einführung der Ener¬ 
giequantentheorie nötig, welche Verzicht auf das Fundamentalgesetz 
der kinetischen Gastheorie (betreffend die gleichmäßige Energiever¬ 
teilung) und auf die Gültigkeit der Maxwellschen Gleichungen im In¬ 
nern der Atome nötig machte. Sie gestattet nicht unendliche Teil¬ 
barkeit der Energie, wie sie die Maxwellschen Gleichungen voraus¬ 
setzen und muß auch annchmen, daß die nach den genannten Glei¬ 
chungen unausbleibliche Ausstrahlung der Atome beim absoluten 
Nullpunkt in Wirklichkeit unmöglich ist. 

Nernst 1 glaubt über alle diese Schwierigkeit hinwegzukommen 
durch Hinzufügung einer einzigen weiteren Hypothese, daß nämlich 
dem leeren Raum (dem Äther) ebenfalls Nullpunktsenergie zu¬ 
komme in Form von Strahlung, die denselben beständig durchkreuzt, 
auch bei Abwesenheit materieller Stoffe, die Strahlung aussenden. 
Diese Nullpunktsstrahlung besteht aus Strahlen aller mög¬ 
lichen Schwingungszahlen und besitzt solche Intensität, daß sich 
die Nullpunktsenergie der Atome mit ihr im Gleichgewicht befindet. 
Die Atome können ihre Nullpunktsenergic nicht ausstrahlen, weil sie 
in solchem Falle sofort wieder eine ebenso große Menge Strahlungs¬ 
energie aus dem Äther absorbieren würden. Die Dichte der Null¬ 
punktsstrahlungsenergie des Äthers muß ungeheuer groß angenom¬ 
men werden, nämlich zu 15 000 Trillionen Joule pro cbm, was nach 
obigem einer Massendichte von 166000 kg pro cbm oder einem 
spezifischen Gewicht von 166 gleichkommt. Der Äther, den man 
früher als ein äußerst feines Medium betrachtete, würde sich somit, 
wenn wir ein Stück davon wägen könnten, als die weitaus schwerste 
Substanz erweisen, etwa 15 mal so schwer als Blei, die Atome 
wären minder dichte Stellen des Äthers. Nichtsdestoweniger 
bewegen sich die größten Himmelskörper durch diese dichte 
Masse mit ungeheueren Geschwindigkeiten, ohne den ge¬ 
ringsten Widerstand zu finden; wir bemerken auch keinerlei 
Druck, da die Gravitationskräfte der Ätheratome nach allen Rich- 

1 W. Nernst, Ber. d. D. phys. Ges. x8, 83, 1916. 



Nullpunktsenergie und Gravitation 


165 

tungen wirken. Daß die Ätheratome nicht zusammenfallen, erklärt 
Zehnder 1 vom Standpunkt der kinetischen Theorie, indem er ihnen 
Bewegung mit einer der Lichtgeschwindigkeit vergleichbaren Ge¬ 
schwindigkeit zuschreibt; denn würde ein Atom seine Nullpunkts¬ 
energie plötzlich in Bewegungsenergie umwandeln, so würde s^ine 
Geschwindigkeit gerade Lichtgeschwindigkeit werden, also so, wie 
wenn es Energie aus dem Äther aufnehmen würde infolge der Stöße 
der Äthermoleküle, wobei es deren Geschwindigkeit annimmt. Än¬ 
dert ein Atom seinen Bewegungszustand, so ändert sich nach Nernst 
auch seine Nullpunktsenergie. Die Stoßgesetze der Atome sind des¬ 
halb nicht die gleichen, wie die Stoßgesetze elastischer Körper. Der 
geringe Wert der spezifischen Wärme in der Nähe des absoluten 
Nullpunkts erklärt sich dadurch, daß die Atome außer der zugeführ¬ 
ten Wärme auch Ätherstrahlung aufnehmen. Hebt man einen Kör¬ 
per, so geht die Arbeit in Ätherstrahlung über, fällt der Körper her¬ 
unter, so geht Ätherstrahlung in Bewegung über. Das Wesen der 
Gravitation beruht also in der Nullpunktsstrahlung des Äthers. Tn 
analoger Weise erklären sich alleFormen von potentieller Energie, also 
auch die molekularen Kräfte wie Elastizität, Kohäsion und 
chemische Affinität, deren Verschiedenheit nur auf Ver¬ 
schiedenheit der in Betracht kommenden Schwingungsvorgänge be¬ 
ruht. Die chemische Verbindungswärme wird der Nullpunktsstrah¬ 
lung entnommen, weil sich die Schwingungsdauer ändert usw. 

Wir hätten hiernach in dem leeren Raum einen unerschöpf¬ 
lichen Vorrat von Energie, und zwar sehr wertvoller Energie, weil sie 
wie andere Strahlung freie Energie ist, also vollständig in 
mechanische Arbeit umgesetzt werden kann, nicht nur teilweise wie 
die Wärme. Wegen der Erschöpfung der Kohlenvorräte und der 
verfügbaren Wasserkräfte brauchten wir darum nicht besorgt zu 
sein, falls nur ein Mittel zur Verfügung stände, ohne Verbrauch 
teurer Materialien, wie es z. B. das Pulver der Kanonen ist, die 
Nullpunktsernergie in Bewegungsenergie verwandeln, oder wie die 
Nahrungsmittel, welche Organismen befähigen, Nullpunktsenergie 
in Muskelarbeit umzusetzen, dem Äther einen Teil seines Energie¬ 
vorrats zu nützlichen Zwecken zu entziehen. Vielleicht gibt es aber 
einen vierten Hauptsatz, der aussagt, daß diese Verwertung der 
Ätherenergie ohne kostspieligen Aufwand unmöglich ist und so die 
erwünschten Aussichten zerstört. 


1 L. Zehnder, Ber. d. D. phys. Ges. 18, 181, 1916. 



166 


O. Lehmann 


Die eigentümlichen Bewegungserscheinungen bei flüssigen 
Kristallen, welche durch direkte Umsetzung von chemischer Ener¬ 
gie in mechanische entstehen 1 (wie die Bewegungen der Organis¬ 
men), hätten ihren Grund ebenfalls in der Nullpunktsstrahlung des 
Äthers, ebenso wie die molekularen Richtkräfte, welche 
die Kristallstruktur bedingen. 

Nernst selbst spricht sich über diese Punkte nicht aus und gibt 
auch seine Hypothese mit allem Vorbehalt. Ich glaubte aber doch 
darauf hinweisen zu sollen, denn wenn auch die neuere Physik, wie 
aus dem Dargelegten hervorgeht, mit den alten Vorstellungen von 
dem Unterschied der wägbaren Massen und der Imponderabilien 
und den einfachen Vorstellungen über die Natur der Wärme gründ¬ 
lich aufgeräumt hat, so sind wir doch von einer völlig befrie¬ 
digenden exakten Beschreibung der Naturvorgänge anscheinend 
noch sehr weit entfernt; es bedarf weiterer intensiver Forschungs¬ 
arbeit, um klar festzustellen, welches die unveränderlichen Dinge 
sind, die wir als das wirklich Existierende zu messen und unseren 
Berechnungen zugrunde zu legen haben. 

Auch andere Fragen harren der Lösung: Was wird aus der 
Strahlung, die von den Himmelskörpern ausgeht, breitet sie sich in 
die Unendlichkeit immer weiter aus oder existiert ein begrenzter 
Äther, an dessen Oberfläche sie reflektiert wird? Muß wirklich die 
Welt den Wärmetod erleiden oder gibt es Vorgänge, die verhindern, 
daß die Entropie dieses Maximum erreicht? Geht der radioaktive 
Zerfall der Atome immer weiter, und warum sind, wenn die Welt 
seit unendlicher Zeit besteht, nicht bereits alle Atome zerfallen? 
Bezüglich der letzteren Frage ist Nernst der Ansicht, daß sich 
mit der Zeit wahrscheinlich alle materiellen Atome in Ätheratome 
auf lösen, daß es aber auch Vorgänge gibt, bei welchen sich aus Äther 
plötzlich wieder neue materielle Atome bilden, etwa so wie sich Ar- 
rhenius vorstellt, daß der Wärmetod der Welt durch Bildung neuer 
Himmelskörper verhindert werde, da entgegen dem zweiten Haupt¬ 
satz der Thermodynamik die Entropie unter Umständen auch von 
selbst kleiner werden könne. Vorläufig hat sich aber der zweite 
Hauptsatz stets als richtig erwiesen, es liegt kein Grund vor, daran 
zu zweifeln, und auch bezüglich der Rückbildung von Atomen fehlen 
uns jegliche Erfahrungen. 

1 O. Lehmann, Ann. d. Phys. 48, 177, 1915. 









Verhandlungen 

des 

Naturwissenschaftlichen 

Vereins 

IN KARLSRUHE 

27. Band. 1917-1921 


KARLSRUHE i. B. 

Druck der G. Braunsohen Hofbuchdruckerei 
1922 




Inhaltsverzeichnis. 


Berichte. 

Seite 

Bericht über die Tätigkeit des Naturw. Vereins vom l 5. März 1916 bis 29. April 1921 1* 

Rechnungsführung für die Jahre 1915—1921. 24* 

Bericht über den Betrieb der seismischen Stationen Durlach und Freiburg für 

die Zeit vom August 1914 bis März 1921. 25* 

Abhandlungen. 

Die deutsche Siedelung Tovai in Venezuela etc. Von Dr. IV. Groos und 

Dr. Fr. Gautier . 1 

Über Struktur, optisches und mechanisches Verhalten der als Myelinformen be- 

zeichneten flüssigen Kristalle. Von R. Schachenmaier . 9 

Die Hypothese von Prout über das Urelement. Von Max E. Ijemhert ... 67 

Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich. Von Helmut W. Kleiner . 84 








Bericht 

über die 

Tätigkeit des naturwissenschaftlichen Vereins 

vom 16. März 1916 bis 29. Oktober 1920 erstattet vom Vorsitzenden 
Prof. Dr. O. Lehmann und vom 12. November 1920 bis 29. April 
1921 vom derzeitigen 1. Schriftführer Prof. Dr. M. Auerbach. 

Durch seine Erkrankung war unser sonst sehr pflichttreuer 
und gewissenhafter, nunmehr verstorbener Schriftführer Herr 
Professor Dr. Schultheiß verhindert, regelmäßige Aufzeichnungen 
über die Vereinstätigkeit in den letzten Jahren zu machen. Ich 
war bemüht, aus den Notizen, die sich in seinem Nachlaß 
fanden und solchen, die ich mir selbst gemacht hatte, den von 
den Satzungen geforderten Bericht über die Vereinstätigkeit zu¬ 
sammenzustellen und glaube, daß er im wesentlichen zutreffend 
sein wird. 


1916. 

Der letzte von Schultheiß selbst erstattete Bericht, welcher 
im 26. Bande der Verhandlungen abgedruckt ist, erstreckte sich 
noch auf die 786. Sitzung vom 14. Februar 1916, in welcher 
Herr Geheimrat Prof. Dr. O. Lummer, Direktor des physikalischen 
Instituts der Breslauer Universität auf Einladung seitens des 
Vereins über »Verflüssigung der Kohle« berichtet hat. Seitdem 
ist infolge des Krieges nicht nur beim naturwissenschaftlichen, 
sondern auch bei anderen Vereinen das Bedürfnis nach Abhaltung 
von Sitzungen immer mehr zurückgegangen, da die Zahl der 
Mitglieder, welche die Möglichkeit hatten, daran Teil zu nehmen 
oder Vorträge zu halten, sich immer mehr verminderte und die 
durch den Krieg geschaffene schwierige Lebenslage die ganze 

Verhandlungen, 27. Band. 1 



2* Sitzungsberichte. 

Aufmerksamkeit und Kraft in Anspruch nahm. So sahen sich 
denn die verschiedenen verwandten wissenschaftlichen Vereine 
veranlaßt, sich näher zusammenzuschließen in der Art, daß ge¬ 
meinsame Sitzungen veranstaltet wurden oder gegenseitige Ein¬ 
ladungen erfolgten. Abweichend von der bisherigen Gepflogen¬ 
heit werde ich deshalb im folgertden auch solche nicht von seiten 
des Vereinsvorstandes veranlaßten Sitzungen als eigentliche 
Vereinssitzungen numerieren, da sonst ein ganz unrichtiges Bild 
des Vereinslebens entstände. Die einladenden Vereine werden 
aber jeweils genannt werden. 

787. Sitzung vom 16. März abends 8 Uhr auf Einladung des 
Oberrheinischen elektrotechnischen Vereins im Saale III der 
Brauerei Schrempp. Herr Dr.-Ing. Halbertsma von der Elek¬ 
trizitätsgesellschaft m. b. H. Dr.-Ing. Schneider & Co. in Frank¬ 
furt a. M. hielt einen Vortrag über »Fehlerhafte elektrische 
Beleuchtungsanlagen«. 

788. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirksvereins 
deutscher Ingenieure zur »Erläuterung des Murgwerks* seitens 
der Herren Oberbaurat Hauger und Oberbauinspektor Schüler 
in Forbach am 31. Mai. Daran schloß sich eine Besichtigung der 
damals noch im Bau befindlichen Anlagen an, nämlich: 1. der 
Wehranlage für das Ausgleichsbecken bei Forbach, 2. der Tief¬ 
bauarbeiten für das Niederdruckwerk, 3. der Hochbauarbeiten für 
das Schalt- und Transformatorenhaus, 4. der Tiefbauarbeiten für 
das Krafthaus, 5. des Wasserschlosses, 6. des anschließenden 
Stollens. Ferner war noch Gelegenheit gegeben zur Besichtigung 
der Wehranlagen für das Sammelbecken bei Kirschbaumwasen. 

789. Sitzung, gemeinsam mit der chemischen Gesellschaft 
am 23. Juni im kleinen Ilörsaal des chemischen Instituts der 
Technischen Hochschule. Herr Dr.WalterFraenkel aus Frankfurt 
a.M.hielt dabei einen Vortrag über »Metallische Verfestigung 
und Ersatz des Kupfers durch Zink«. 

790. Sitzung am 19. Juli auf Einladung des Oberrh. Elektro¬ 
technischen Vereins im großen Ilörsaal des elektrotechnischen 
Instituts der Technischen Hochschule zum Vortrag des Herrn 
Professor Richter über »Elektrische Maschinen mit 
Wicklungen aus Aluminium, Zink und Eisen». 



Sitzungsberichte. 


3* 

791. Sitzung am 20. Juli im kleinen chemischen Auditorium 
der Technischen Hochschule. Der Vorsitzende O. Lehmann 
erstattete Bericht über die neueren Forschungen betreffs »Null¬ 
punktsenergie und Gravitation*. 

792. Sitzung am Montag den 20. November auf Einladung des 
Karlsruher Bezirksvereins deutscher Ingenieure zum Vortrag des 
Herrn Geh.Hofrat Professor E. A. Brauer über »Graphische Er¬ 
mittelung der Flugbahn von Geschossen« im großen 
Hörsaal der Maschinenbauabteilung. 

793. Sitzung am Freitag den 24. November im großen 
Ilörsaal für Physik in der Technischen Hochschule. Der Vor¬ 
sitzende O. Lehmann berichtet über »Elektrisiermaschinen, 
insbesondere über Staudigls Influenzmaschine« mit zahl¬ 
reichen Lichtbildern, Experimenten und Ausstellung historischer 
Maschinen. 

794. Sitzung. Auf Samstag den 25. November wurde der 
Verein vom Oberrh. Elektrotechnischen Verein eingeladen zum 
Vortrag des Herrn Oberingenieur Büggeln in Stuttgart über 
»Die Teilnahme des Staates an der öffentlichen Elek¬ 
trizitätsversorgung unter besonderer Berücksichtigung 
der jüngsten Vorgänge in Württemberg« im großen Hör¬ 
saal des elektrotechnischen Instituts der Technischen Hochschule. 

795. Sitzung. Zu Mittwoch den 6. Dezember lud uns der 
Badische Ingenieur- und Architektenverein ein zu einem Vortrag 
des Flerrn Geheimrat Dr.-Ing. Baumeister über »Krieger- 
Heimstätten« im Konkordiasaal des Moninger-Restaurants. 

796. Sitzung. Auf Montag den 11. Dezember wurden wir vom 
Karlsruher Bezirksverein deutscher Ingenieure eingeladen in das 
Schloßhotel zu einem Vortrag des Herrn Betriebsdirektors Dipl.- 
Ing. K. Eglinger über »Die technische und wirtschaft¬ 
liche Entwicklung der Karlsruher Gaswerke (mit Vor¬ 
führung von Lichtbildern). 


1917. 

797. Sitzung. Montag den 5. März sprach in gemeinsamer 
Sitzung des Naturwissenschaftlichen Vereins und des Badischen 
Architekten- und Ingenieurvereins im großen Hörsaal des chemi- 



Sitzungsberichte. 


4* 

sehen Instituts Herr Professor Dr.Sauer, Rektor der Technischen 
Hochschule in Stuttgart über »Die Mineralschätze Deutsch¬ 
lands und ihre Bedeutung für den Weltkrieg«. 

798. Sitzung. Auf Montag den 12. März wurden wir vom 
Karlsruher Bezirksverein deutscher Ingenieure eingeladen zu einem 
Vortrag des Herrn Dr. Spethmann, Privatdozent an der Uni¬ 
versität Berlin, über »Unsere Kriegsschauplätze« im großen 
Hörsaal der Maschinenbauabteilung der Technischen Hochschule. 

799. Sitzung. Auf Montag den 16. April erhielten wir eine 
Einladung desselben Vereins zu einem Vortrag des Herrn Direktor 
Dr. Döderlein in der Arche im Restaurant Moninger über 
»Lehrbetriebe für Industriearbeiter«. 

800. Sitzung. Auf Samstag den 28. April wurden wir vom 
Oberrh. Elektrotechnischen Verein eingeladen zu einem Vortrag 
des Herrn Oberingenieur Büggeln aus Stuttgart über »Die 
Gewinnung von Nebenerzeugnissen bei der Kohlenver¬ 
sorgung, ihre volkswirtschaftliche Bedeutung und ihre 
Bedeutung für die öffentliche Elektrizitätserzeugung« 
im großen Hörsaal des elektrotechnischen Instituts der Technischen 
Hochschule. 

801. Sitzung. Auf Montag den 7. Mai lud uns deF Karls¬ 
ruher Bezirksverein deutscher Ingenieure ein zu einem Vortrag des 
Herrn Dipl.-Ing. F. Zürn, Fabrikdirektor in Gelsenkirchen, über 
»Unwirtschaftliche industrielle Werke, insbesondere 
Maschinen-, Dampfkessel - Fabriken und Brückenbau¬ 
anstalten«, mit Lichtbildervorführung im großen Hörsaal der 
Maschinenbauabteilung der Technischen Hochschule. 

802. Sitzung. In unserer Sitzung vom 15 Juni im großen 
Ilörsaal des chemischen Instituts sprach Herr Hofschauspieler 
Paul Paschen über »Wirkungsweise und Mißbrauch des 
menschlichen Stimmorgans«. 

803. Sitzung, gemeinsam mit der Chemischen Gesellschaft 
am 13. Juli im großen Hörsaal des chemischen Instituts. Herr 
Privatdozent Dr.Fajans berichtete über Neuere Forschungen 
über die Beziehungen zwischen chemischen Elementen.. 



Sitzungsberichte. 


804. Sitzung. Freitag den 9. November fand im kleinen 
Hörsaal des physikalischen Instituts die Mitglieder-Hauptver- 
sammlung statt, in welcher der Schriftführer und der Rechner 
Bericht erstatteten und der bisherige Vorstand wiedergewählt 
wurde. Sodann erfolgten kleinere Mitteilungen. 

805. Sitzung. Auf Mittwoch den 14. November wurden wir 
vom Badischen Architekten- und Ingenieurverein eingeladen zu 
einem Vortrag des Herrn Oberbaurat Rehbock im großen 
Hörsaal des chemischen Instituts über »Die Verwertung von 
Modellversuchen für Aufgaben des praktischen Wasser¬ 
baues«. 

806. Sitzung. Freitag den 14. Dezember hielt der Vorsitzende 
O. Lehmann im großen Hörsaal des physikalischen Instituts 
einen Vortrag über »Die Arbeiten von Werner Siemens 
und der Weltkrieg« mit Lichtbildern. 

1918. 

807. Sitzung. Freitag den 1. Februar begannen die Sitzungen 
des neuen Jahres mit einem Vortrag des Vorsitzenden O. Leh¬ 
mann über »Flüssige Kristalle und E. Haeckels 
Kristallseelen« mit Lichtbildern und kinematographischen 
Vorführungen im großen Hörsael des physikalischen Instituts der 
Technischen Hochschule. 

808. Sitzung. Auf Montag den 13. Mai wurden wir vom 
Karlsruher Bezirksverein deutscher Ingenieure eingeladen zu 
einem Vortrag des Herrn Oberingenieurs Ferd. Katz in Mann¬ 
heim über »Alte und neue Wege und Vorschläge für 
eine bessere Verwertung der Brennstoffe« im großen 
Hörsaal der Maschinenbauabteilung der Technischen Hochschule. 

809. Sitzung. Montag den 10. Juni erhielten wir eine Ein¬ 
ladung desselben Vereins zu einem Vortrag des Herrn Gewerbe¬ 
inspektors Regierungsbaumeister Emele über den »Aufbau 
der badischen Industrie« mit zahlreichen Lichtbildern. 

810. Sitzung. Auf Donnerstag den 25. Juni lud uns der 
Oberrh. Elektrotechnische Verein ein zu einem Vortrag des Herrn 
Baurat Landwehr im großen Hörsaal des elektrotechnischen 

Verhandlungen, 27. Band. 2 



Sitzungsberichte. 


6* 

Instituts der Technischen Hochschule über »Das Murgwerk, 
einschließlich Elektrizitätsversorgung Badens«, sowie 
zu der am 27. Juli stattfindenden Besichtigung des Murg¬ 
werks speziell des Hoch- und Niederdruckwerkes und des Schalt-- 
und Transformatorenhauses in Forbach, welche Anlagen damals 
besonderes Interesse boten, weil die Generatoren noch nicht ein¬ 
gekapselt und die Transformatoren noch nicht an Ort und Stelle 
aufgestellt waren. 

811. Sitzung. Auf Montag den 7. Oktober wurden wir vom 
Karlsruher Bezirksverein deutscher Ingenieure eingeladen zu einem 
Vortrag des Herrn Gewerbeinspektors Regierungsbaumeister 
Emele im großen Hörsaal der Maschinenbauabteilung der Tech¬ 
nischen Hochschule über »Die Gewerbeaufsicht und 
Schutzmaßnahmen für Arbeiter in gewerblichen 
Betrieben«. 

812. Sitzung. Mitglieder-Hauptversammlung vom 
6. Dezember im großen Hörsaal des physikalischen Instituts der 
Technischen Hochschule. Der Vorsitzende O. Lehmann ge¬ 
dachte zunächst des Ablebens des Vereins-Schriftführers, des 
Herrn Professor Dr. Schultheiß, welcher am 10. Oktober 1918 
im Alter von 58 Jahren infolge eines Krebsleidens im Kranken¬ 
haus hier gestorben ist. Er führte etwa folgendes aus: Zu Nürn¬ 
berg geboren und als Mittelschullehrer ausgebildet war Schultheiß 
1886 als wissenschaftlicher Assistent bei dem hiesigen Zentral¬ 
büro für Meteorologie und Hydrographie eingetreten. Im gleichen 
Jahre noch wurde er Mitglied des Naturwissenschaftlichen Vereins, 
dem er also 32 Jahre lang angehört hat. Seit 1890 hielt er auch 
meteorologische Vorlesungen an der Hochschule für die Forst¬ 
abteilung. Im Jahre 1896 wurde ihm der Titel Professor erteilt. 
1901 wurde er zum wissenschaftlichen Hilfsarbeiter bei der Ober¬ 
direktion des Wasser- und Straßenbaues und später zum Landes¬ 
meteorologen ernannt, auch durch Verleihung des Ritterkreuzes 
I. Klasse vom Zähringer Löwenorden ausgezeichnet. Seit 19 Jahren 
war ihm das arbeitsreiche Amt des Schriftführers unseres Vereins 
übertragen, zwei Jahre später auch das Amt des Herausgebers 
der Chronik und der Verhandlungen des Vereins und bald auch 
das des Bibliothekars. Seine außerordentlich gewissenhafte und 
emsige Tätigkeit im Interesse des Vereins, die oft ungemein 



Sitzungsberichte. 


~ * 
/ 


zeitraubend und anstrengend war, verdient größte Anerkennung- 
Dem habe ich auch im Namen des Vereins bei der Beerdigung 
im hiesigen Krematorium in einer Ansprache an die Trauer¬ 
versammlung unter Niederlegung eines Kranzes Ausdruck verliehen. 

Seit Schluß des gedruckten Berichtes in Band 26 (1916) hat 
der Verein ferner die folgenden Mitglieder durch Ableben ver¬ 
loren: v. Babo, Behm, Bürgin, Hafner, Kux, Molitor, Pezold, 
Riehm, Staudigl, Wagner, Ziegler. Ausgetreten sind die Herren: 
v. Bodman, Genter, Glöckner, Mikuschka, Lautenschläger, Neu¬ 
mann, v. Racknitz, Rösch, Schmidt, Thoma. Eingetreten: Kistner 
und Näbauer. Demgemäß beträgt die Mitgliederzahl zur Zeit 196. 

Die Vereins-Bibliothek wurde dem Beschlüsse der Haupt- 
Mitgliederversammlung gemäß am 12. November 1918 der Bibliothek 
der Hochschule übergeben einschließlich der Vorräte an Berichts¬ 
heften und der auf den Leih- und Tauschverkehr sich beziehenden 
Aktenbände und Adressenlisten. Durch Schreiben vom 3. Dezember 
1918 erklärte sich die Bibliotheksdirektion ausdrücklich bereit, 
auch den Schriftenverkehr des Vereins ganz zu übernehmen mit 
dem Vorbehalt, daß ihr gestattet sei, mit Rücksicht auf den be¬ 
stehenden Mangel an Personal die Prüfung der Verzeichnisse 
auf spätere Zeit zu verschieben und nur nach und nach durch¬ 
zuführen; ferner daß die Kosten für Porto und Packmaterial, 
sowie für Bezahlung einer Hilfskraft, die die Verteilung an die 
in Karlsruhe wohnenden Mitglieder besorgt, vom Verein getragen 
werden. Die Bücher verbleiben zunächst in dem Raum in der 
Technischen Hochschule, in welchem sie bisher verwahrt wurden, 
doch behält sich die Bibliotheks-Direktion hierin freie Entschei¬ 
dung vor. 

Betreffend den Betrieb der Erdbebenstationen des Natur- 
wissenschaftlichen Vereins in Durlach und Freiburg i. B. habe ich, 
da der Vorstand derselben Herr Geh. Hofrat Prof. Dr. Haid an¬ 
dauernd durch schwere Erkrankung gehindert war, sich desselben 
anzunehmen, den Direktor der Hauptstation für Erdbebenfor¬ 
schung in Straßburg Herrn Geheimrat Prof. Dr. Hecker gebeten, 
die Instrumente insoweit zu demontieren, daß keine Beschädigung 
derselben eintreten könne. Dies ist auch in Durlach am 27. Juni 
1917 in meinem Beisein unter Beihilfe des Institutsmechanikers 
Maisenhälder geschehen. Das Uhrwerk des Registrierapparats 
der Heckerschen Pendel wurde in das physikalische Institut ge- 



8 


Sitzungsberichte. 


bracht, um es gegen Verrosten zu schützen. Herr Geh. Rat 
Hecker machte bezüglich der Freiburger Apparate den Vorschlag, 
dieselben nach Straßburg zu verbringen, wo er in seiner Werk¬ 
stätte die veraltete Konstruktion kostenlos durch eine bessere, 
moderne ersetzen wolle, soweit es unter den durch den Krieg 
geschaffenen Verhältnissen möglich sei. Nachdem Herr Geh. 
Hofrat Haid in den Ruhestand versetzt und an seine Stelle Herr 
Prof. Dr. Näbauer getreten war, habe ich diesem anheimgegeben, 
sich in der Angelegenheit mit Herrn Hecker zu verständigen. 
Letzterer machte dabei den weiteren Vorschlag, künftig in der 
Durlacher Station nur Erdbeben zu registrieren, in der Frei¬ 
burger dagegen die feineren Beobachtungen über Deformation 
der Erdrinde und den Einfluß von Sonne und Mond anstellen zu 
lassen, da hierfür sowohl die Apparate als der Aufstellungsort 
besser geeignet wären und sich zugleich eine Verminderung der 
Betriebskosten dadurch erzielen ließe. Ferner teilte er mit, die 
Hauptstation wäre bereit, im Interesse der Sache die Reduktion 
der Registrierungen und die Ableitung der Ergebnisse vorzu¬ 
nehmen, was nur von besonders Erfahrenen besorgt werden könne. 
Der Vereinsvorstand erklärte sich damit einverstanden, vorbehalt¬ 
lich der Zustimmung der aus den Herren Näbauer (Vorsitzender), 
Engler, Lehmann und Schwarzmann bestehenden Erdbeben¬ 
kommission. 

An Geschenken erhielt der Verein von Frau Maria Gröner, 
philosophische Schriftstellerin in Milland bei Brixen in Südtirol 
zwei ihrer Schriften, nämlich: 

1. Wie ist die Darstellung von Schopenhauers Leben, 
Charakter und Lehre durch Kuno Fischer im 9. Bande seiner 
Geschichte der neueren Philosophie zu beurteilen ? (Gekrönte Preis¬ 
schrift der Schopenhauer-Gesellschaft 1918.) 

2. Rabindranath Tagore, Abhandlung im Archiv für syste¬ 
matische Philosophie von L. Stein, 1916. 

Ferner zwei Bücher des philosophischen Schriftstellers G. 
Wagner in Achern, nämlich: 

1. Hamlet und seine Gemütskrankheit, Heidelberg, Verlag 
G. Weiß 1809. 

2. Enzyklopädisches Register zu Schopenhauers Werken, 
Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag 1909. 



Si tzungsberichte. 


9* 

Ich habe den Dank des Vereins ausgesprochen und die Werke 
der Bibliothek der Technischen Hochschule für unsere Vereins¬ 
bibliothek überwiesen, wo sie eingesehen werden können. 

Veranlassung zu dieser Schenkung gab eine andere Schen¬ 
kung, nämlich ein Legat seitens des Verfassers der letztge¬ 
nannten Werke, des Herrn Gustav Fr. Wagner, welcher am 
i. November 1917 in Achern starb und dem Verein die Summe 
von 12 000 Mark in badischen Staatspapieren vermachte mit der 
Bestimmung, daß alle drei bis vier Jahre aus den aufgelaufenen 
Zinsen entweder ein Reisestipendium verliehen oder eine wissen¬ 
schaftliche Arbeit unterstützt oder eine Preisaufgabe gestellt werden 
soll. Frau Maria Gröner hat als Testamentsvollstreckerin die 
Papiere auf unser Konto an die Badische Bank überwiesen und 
der Verein hat die fällige Erbschaftssteuer, nämlich 5% Reichs¬ 
und 25% Landeszuschlagsteuer im Betrage von 667 Mark (nach 
vergeblichen Versuchen unter Vermittelung des Unterrichts¬ 
ministeriums einen Nachlaß zu erhalten) bezahlt. 

Bezüglich der Verwendung der ersten Zinsen der Wagner¬ 
stiftung, die hiernach am 1. November 1920 oder 1921 fällig sind, 
hat der Vorstand in seiner Sitzung vom 15. Juli 1918 auf meinen 
Antrag beschlossen, dieselben mir für Fortsetzung meiner Unter¬ 
suchungen über flüssige Kristalle zur Verfügung zu stellen, wo¬ 
für ich meinen Dank ausspreche. 

Jedenfalls werden wir stets dem hochherzigen Stifter, der, 
wie ich erfuhr, zusammen mit Herrn Geh. Oberbaurat Engesser 
studierte und ein besonderer Freund Sr. Exzellenz des Herrn 
Steuerdirektors Seubert war, ein dankbares und ehrendes Gedenken 
bewahren, umsomehr als in der heutigen trostlosen Zeit, die 
infolge der Teuerung die Ausführung experimenteller Forschungs¬ 
arbeiten fast unmöglich macht, solche Stiftungen zur Erhaltung 
der deutschen Wissenschaft hochwillkommen sind. 

Es folgte nun der angekündigte Vortrag des Herrn Prof. 
Dr. Drews über »Schopenhauer als Naturphilosoph«. 

1919. 

813. Sitzung am 9. Februar im großen Hörsaal des physi¬ 
kalischen Instituts der Technischen Hochschule. Herr Professor 
Dr. Otto Roller sprach über »Die Kinderehe im deutschen 
Mittelalter und deren Einfluß auf das Lebensalter der 
Bevölkerung;. 



IO 


Sitzungsberichte. 


814. Sitzung auf Einladung seitens der »Vereinigung tech- 
nischer Vereine« im großen Saal des Rathauses am 10. Februar. 
Herr Oberbaurat Dr. R. Fuchs sprach über »Die Stellung 
des Technikers in der öffentlichen Verwaltung«; 
daran anschließend die Herren Oberingenieur Büggeln aus Stutt¬ 
gart, Tiefbauinspektor Bronner und Architekt Schneider. 

815. Sitzung. Montag den 3. März im großen Hörsaal des 
elektrotechnischen Instituts der Technischen Hochschule auf Ein¬ 
ladung des Karlsruher Bezirksvereins deutscher Ingenieure. Herr 
Oberingenieur Droescher berichtete über »Eindrücke aus 
den rumänischen Erdölfeldern«. 

816. Sitzung auf Einladung desselben Vereins im gleichen 
Hörsaal brachte einen Vortrag des Herrn Obergewerbearztes 
Dr. Holtzmann über »Psvchotechn ik der gewerblichen 
Arbeit«. 

Die Einladung des Oberrh. Elektrotechnischen Vereins auf 
Montag den 28. April in den Konkordiensaal des Moninger zu 
einem Vortrag des Herrn Wilhelm Briese über »Maschinen¬ 
versicherung« konnte leider den meisten Mitgliedern nicht mehr 
rechtzeitig mitgeteilt werden. 

817. Sitzung am 15. Mai auf Einladung des Karlsruher Be¬ 
zirksvereins deutscher Ingenieure im großen Hörsaale des elektro¬ 
technischen Instituts. Herr Oberingenieur Böhm berichtete über 
»Elektrotechnik an der Fronte 

818. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirksvereins 
deutscher Ingenieure. Herr Dipl.-Ing. R. Eisenlohr hielt 
einen Lichtbildervortrag über »Der statische Aufbau der 
Flugzeuge Donnerstag den 5. Juni, abends 8 Uhr, im großen 
Hörsaal des elektrotechnischen Instituts der Technischen Hochschule. 

8x9. Sitzung am 13. Juni gleichfalls auf Einladung desselben 
Vereins und im gleichen Hörsaal. Herr Professor Dr. Eberle 
hielt einen Vortrag über Fortschritte in der Wärmeaus¬ 
nutzung der Dampf er zeugung« mit Lichtbildervorführung. 

820. Sitzung. Mitglieder-Hauptversammlung im 
großen Hörsaal des physikalischen Instituts der Technischen Hoch¬ 
schule am 11. Juli. Der Vorsitzende O. Lehmann gab bezüg- 



Sitzungsberichte. 


I 1* 

lieh der Mitgliederbewegung bekannt: Im verflossenen 
Vereinsjahr verlor der Verein durch Ableben die Mitglieder 
Henning, v. Göler, Föhlich und Schnebel. Ausgetreten sind die 
Herren Ludw. Klein, E. Schmidt, v. Babo und Scheele; eingetreten 
die Herren Friedr. Wolf und Biel. Zu Weihnachten 1918 feierte, 
wie der von Karlsruhe damals abwesende Vorsitzende erst nach¬ 
träglich erfuhr, der stellvertretende Vorsitzende Herr Geheimrat 
Dr.-Ing. h. c. Professor Dr. Hans Bunte seinen 70. Geburtstag. 
Bei der Feier, welche sich nach den Berichten zu einer schönen 
Kundgebung der Verehrung, Dankbarkeit und Anerkennung für 
den Altmeister der chemischen Technologie und des Gasfaches 
gestaltete, konnte aus dem angegebenen Grunde der Vorsitzende 
leider nicht auch die Glückwünsche des Naturwissenschaftlichen 
Vereins zum Ausdruck bringen; er nahm deshalb Veranlassung, 
bei dieser Gelegenheit auszusprechen, wie sehr der Verein die 
Lebensarbeit des nun in den Ruhestand tretenden Jubilars schätzt, 
wie sehr er sich zu Dank verpflichtet fühlt für sein Interesse für 
den Verein und daß er ihm aufs herzlichste einen schönen 
Lebensabend wünscht. 

Bezüglich der Bibliothek berichtete Herr Bibliotheks¬ 
direktor Schmidt: »Der Bestand der in den Besitz der Haupt¬ 
bibliothek übergegangenen Bibliothek des Naturwissenschaftlichen 
Vereins wurde, soweit er nicht schon in den Bestand unserer 
Bibliothek eingearbeitet ist, von mir im Frühjahr d. J. gesichtet 
und die vorhandenen Schriften, soweit möglich, nach dem Sitze 
der Vereine geordnet, so daß eine rasche Auffindung gesichert 
ist. Das Einbinden und Einreihen abgeschlossener Serien wurde 
fortgesetzt und wird, wie ich hoffe, künftig in beschleunigterem 
Tempo vor sich gehen können, soweit es die Geschäfte der 
Hauptbibliothek und deren Personalstand erlauben. Seit Über¬ 
nahme der Bibliothek des Naturwissenschaftlichen Vereins wurde 
eine große Anzahl von Bänden katalogisiert, gebunden und ein¬ 
gereiht. Die einzeln eingehenden Heften werden auf Fortsetzungs¬ 
zetteln verzeichnet und deren rechtzeitiger Eingang von uns 
durch etwaige Reklamationen überwacht. Etwaige Dubletten 
werden mit den in unseren Beständen vorhandenen verglichen, 
ehe sie ausgeschieden werden. Vorläufig ist davon eine große 
Reihe zurück gestellt; ferner wurden einige Dubletten-Bände an 
die Landesbibliothek zur Vervollständigung ihrer Bestände abge- 



Sitzungsberichte. 


12* 

geben. Neue Verluste wurden bis jetzt nicht festgestellt. Die 
bei früheren Benutzungen hervorgetretenen Mißstände werden durch 
die Neuaufstellung wohl gehoben sein. Der Zugang der Schriften 
wird auch in einem besonderen Inventar gebucht«. 

Bezüglich der Erdbebenstationen teilte deren Vorstand 
Herr Prof. Dr. Näbauer mit, daß die Heckerschen Horizontal¬ 
pendel der Freiburger Warte anfangs Februar 1918 ausgebaut 
und nebst Zubehör an die Hauptstation in Straßburg geschickt 
wurden. Nachdem inzwischen Straßburg von den Franzosen be¬ 
setzt wurde und eine Reklamation der Apparate durch Vermitt¬ 
lung der Waffenstillstandskommissioh ohne Erfolg war, dürfte 
wenig Hoffnung bestehen, dieselben zurückzuerhalten. Herr 
Näbauer wird nach Friedensschluß und Herstellung geordneter 
Beziehungen zu Frankreich weitere Schritte hierzu unternehmen. 

Im Dezember 1918 fand eine Sitzung des auf Betreiben des 
Herrn Herzog, Chefredakteur der Badischen Presse, gebildeten 
>Rates geistiger Arbeiter« im Rathaus statt, zu welcher 
auch der Vorsitzende unseres Vereins eingeladen wurde. 

Herr Professor Dr. A. Peppier hielt sodann einen Vortrag 
über »Stromlinien und Luftbahnen, ihre Bedeutung 
für Luftfahrt und Wettervorhersage«. 

82 1. Sitzung. V om Karlsruher Bezirks verein deutscher Ingenieu re 
wurden wir eingeladen zum Vortrag von Frl. Dr. Siq uet, Gewerbe¬ 
inspektorin hier, über »Die Frau als gewerbliche Ar¬ 
beiterin«, Donnerstag den 2. Oktober 1919, abends 8 Uhr, im 
großen Hörsaal des elektrotechnischen Instituts der Technischen 
Hochschule. 

822. Sitzung. Der Vorsitzende O. Lehmann eröffnete diese 
erste Sitzung des Wintersemesters am 7. November im geologischen 
Hörsaal der Technischen Hochschule mit einem kurzen Nachruf 
für den inzwischen verstorbenen Rechnungsführer des Vereins, 
Herrn Bankdirektor Gau. Dieser war seit 14 Jahren Mitglied 
des Vereins und seit Kriegsbeginn Mitglied des Vorstandes. Im 
Dienste der Rheinischen Kreditbank stand er seit 1885. Im 
Jahre 1914 wurde er als Direktor in deren Leitung berufen. 
Durch einen Herzschlag w T urde er am 22. September 1919 nachts 
11 Uhr, nachdem er zuvor noch einer Sitzung angewohnt hatte, 
plötzlich mitten aus seiner reichen Tätigkeit abberufen zur größten 



Sitzungsberichte. 


Bestürzung seiner Familie, seiner Kollegen und unseres Vereins, 
der seiner großen Sorgfalt in der Geschäftsführung zu außer¬ 
ordentlichem Danke verpflichtet ist. Direktion und Beamte der 
Rheinischen Kreditbank, Filiale Karlsruhe, rühmen in einem 
öffentlichen Nachruf wie er in vorbildlicher Weise seine ganze 
schöpferische Kraft in den Dienst des Bankinstituts gestellt hat, 
und wie er durch seinen aufrichtigen und lauteren Charakter 
und seine persönliche Liebenswürdigkeit in den Herzen aller die 
ihn kannten, sich ein ehrendes Andenken erworben hatte. In 
ganz demselben Sinn äußerte sich der Vorsitzende des Vereins bei 
der Beerdigung, bei welcher er im Namen des Vereins einen 
Kranz niederlegte. 

Außer Herrn Gau verlor der Verein seit seiner letzten Sitzung 
ein weiteres geschätztes Mitglied, Herrn EduardDolletscheck, 
der in früheren Jahren den Sitzungen häufig anwohnte und durch 
seine Projektionskunst die Interessen des Vereins förderte. Er 
war geboren den 29. April 1839 ' n Wehr als einziges Kind des 
staatlichen Eisenhütten Verwalters. Vorgebildet am Gymnasium 
in Konstanz besuchte er die Maschinenbauabteilung der hiesigen 
polytechnischen Schule und fand dann Anstellung als Münzkon¬ 
trolleur in der Großh. Münze hier, als welcher er bei Einführung 
des neuen Münz-, Maß- und Gewichtsystems hervorragend tätig 
war. Vorübergehend war er auch Probeingenieur in der Metall¬ 
patronenfabrik. Auf dringenden Wunsch seines Schwiegervaters 
Simon Model trat er alsdann in dessen Geschäft als Kaufmann 
ein, beschäftigte sich aber in seiner freien Zeit mit allen möglichen 
feinmechanischen Arbeiten, wozu er sich eine vorzüglich ausge¬ 
stattete Werkstatt einrichtete, z. B. mit der Konstruktion feiner 
Uhrwerke, Automaten, Rechenmaschinen usw. Ganz besonders 
aber widmete er sich der Ausgestaltung der Projektionskunst 
hinsichtlich der Verbesserung der Lichtquellen, der Apparate und 
der Lichtbilder. In die Kunst des Photographierens war er durch 
den bekannten Hofopernsänger Josef Staudigl eingeführt worden, 
über dessen intensive Tätigkeit auf diesem und anderen Gebieten 
schon früher bei dessen Ableben berichtet worden ist, da er eben¬ 
falls langjähriges Mitglied unseres Vereins war. In selbstloser 
liebenswürdiger Weise stellte er sein Wissen und Können der 
Allgemeinheit zur Verfügung und bei den meisten früheren Licht¬ 
bildervorträgen war es gewöhnlich Dolletscheck, der mit eigenem 



14 


Sitzungsberichte. 


Apparat die Vorführungen besorgte. Von seinem Vater hatte 
er auch eine besondere Vorliebe für Musik geerbt. Er verstand 
fast sämtliche Blas- und Saiteninstrumente zu spielen und war 
Mitglied des Kuratoriums des Konservatoriums für Musik. Daß 
ihm bei so vielseitiger erfolgreicher Tätigkeit Anerkennung in 
reichlichem Maße in verschiedenen Formen zuteil wurde, ist 
natürlich, obschon er sie in seiner Bescheidenheit nicht suchte. 
In den letzten Jahren war seine Tätigkeit durch Krankheit stark 
beeinträchtigt, doch konnte er noch in vollkommener geistiger 
Frische seinen 80. Geburtstag feiern. Am 13. Juli beschäftigte er 
sich noch mit Reparatur einer Uhr, am 16. Juli entschlief er sanft, 
um nicht wieder zu erwachen. 

Nunmehr hielt Herr Ingenieur Dr.Heinrich Franke einen 
Vortrag über »Vom Euphrat zum Bosporus, eine Reise 
durch verlorenes Land« unter Vorführung von 130 an Ort 
und Stelle selbsthergestellten Lichtbildern. 

823. Sitzung. Vom Oberrh.Elektrotechnischen Verein wurden 
wir eingeladen zum Vortrag des Herrn Professor Dr. J. Teich¬ 
müller über Die Raumwinkel- und Lichtstromkugel und 
ihre Anwendung beim Entwerfen von Beleuchtungsan¬ 
lagen am 24. Oktober 8 Uhr abends im großen Hörsaal des 
elektrotechnischen Instituts der Technischen Hochschule. 

824. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirksvereins 
deutscher Ingenieure zum Vortrag des Herrn Regierungsrat 
Bucerius über »Einrichtung einer technologischen Samm¬ 
lung beim Landesgewerbeamt« am 11. Dezember 8 Uhr im 
Klubzimmer des Friedrichshof. 

825. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Geschiclits- und 
Altertumsvereins zum Vortrag des Herrn Professor A. Kistner 
über Luftfahrten in Alt-Karlsruhe« (mit Lichtbildern) am 
17. Dezember 8 Uhr im Saal der Vier Jahreszeiten«. 

1920. 

826. Sitzung am 23. Januar im geologischen Ilörsaal der 
Technischen Hochschule. Der Vorsitzende O. Lehmann er- 
öffnetc diese erste Sitzung des neuen Jahres mit dem Hinweis 
auf den schmerzlichen Verlust, den der Verein erlitten hat. Durch 



Sitzungsberichte. 


15* 


das Hinscheiden des Herrn Geheimerat Professor Dr. Haid, welcher 
dem Verein 37 Jahre hindurch als Mitglied, zeitweise auch als 
Vorstandsmitglied angehörte und sich nicht nur durch Vorträge 
aus seinem Fachgebiet verdient machte, sondern durch Einrichtung 
und Betrieb der Erdbebenstationen in Durlach und Freiburg sich 
ganz besondere Verdienste um die Forschungstätigkeit des Vereins 
erworben hat. Er war 1853 in Speyer geboren, wo er auch im 
66ten Lebensjahre verstarb, heimgesucht von einer langwierigen 
Krankheit, die ihn seit 1917 an der Ausübung seines Berufes 
hinderte. Nach Ablegung der Staatsprüfung im Bauingenieurfach 
war er zunächst als Assistent und Privatdozent tätig, wurde dann 
1S82 als außerordentlicher Professor der Geodäsie an unsere 
Hochschule berufen und 1894 zum Ordinarius und Direktor des 
geodätischen Instituts ernannt. Im folgenden Jahre wurde er 
weiter Mitglied des Obereichungsamts und 1900 außerordentliches 
Mitglied der Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaues. Zwei¬ 
mal, nämlich 1894/9,5 und 1901/02 bekleidete er das Amt des 
Rektors und längere Zeit war er amtlich in Griechenland mit 
Neuordnung der dortigen Grundbuchverhältnisse beschäftigt. Seine 
wissenschaftlichen Arbeiten bezogen sich außer auf Geodäsie auf 
Erforschung der Intensität der Schwerkraft mittels des Pendels, 
um auf diesem Wege Massendefekte im Innern der Erdkruste 
aufzufinden, auf die Änderungen der Richtung der Erdachse und 
zuletzt auf die Fortpflanzung von Erdbeben wellen, um auf diesem 
Wege nähere Auskunft über das Innere der Erde zu erhalten. 

Herr Professor Dr. M. Henglein hielt sodann einen Vortrag 
über »Die Geologie der deutschen Kohlenlager- mit 
Lichtbildern. 

827. Sitzung auf Einladung des Oberrh. Elektrotechnischen 
Vereins zum Vortrag des Herrn Professor Dr.H. Hausrath über 

Die Elektronenröhren und ihre Verwendung in der 
Fernmeldetechnik« am 30. Januar 8 Uhr im großen Hörsaal 
des elektrotechnischen Instituts der Technischen Hochschule. 

828. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirksvereins 
deutscher Ingenieure zum Vortrag des Herrn Dipl.-Ing.L.’ Zipper er 
über »Technische Durchbildung der starren Luftschiffe« 
am 2. Februar im großen Hörsaal der Maschinenbauabteilung der 
Technischen Hochschule. 



Sitzungsberichte. 


l6* 


82g. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirks Vereins 
deutscher Ingenieure zum Vortrag des Herrn Professor Dr.-Ing. 
Schwaiger über »Hochspannungsisolatoren« am 19.Februar 
8 Uhr .im großen Hörsaal des elektrotechnischen Instituts der 
Technischen Hochschule. 

830. Sitzung auf Einladung desselben Vereins zum Vortrag 
des Herrn Maschineninspektor Th. Haas über »Technische 
Leistungen der Eisenbahntruppen im Weltkriege« mit 
Lichtbildern am 4. März 8 Uhr im großen Hörsaal des chemisch¬ 
technischen Instituts der Technischen Hochschule. 

831. Sitzung auf Einladung desselben Vereins zum Vortrag 
des Herrn Oberingenieur Sieber über »Neuerungen an 
Kältemaschinen« mit Lichtbildern am 26. März 8 Ubr im 
gleichen Hörsaal. 

832. Sitzung auf Einladung desselben Vereins zum Vortrag 
des Herrn Gewerbeinspektor Emele über »Die technische 
Messe in Leipzig« am 15. April 8 Uhr ebenfalls im gleichen 
Hörsaal. 

833. Sitzung auf Einladung des Oberrh. Elektrotechnischen 
Vereins zum Vortrag des Herrn Dipl.-Ing. E. Besag Über 
den neuesten Stand der Überstromschutzfrage in 
Überlandanlagen mit Vorführung von Apparaten, Modellen 
und Bildern am 30. April 8 Uhr im großen Hörsaal des elektro¬ 
technischen Instituts der Technischen Hochschule. 

834. Sitzung auf Einladung des Badischen Architekten- und 
Ingenieurvereins zum Vortrag des Herrn Dr.-Ing. Gab er über 
»Wiederaufbau unseres Wirtschaftslebens durch 
Selbsthilfe« vom 3. Mai 8 Uhr im Hörsal für Geologie der 
Technischen Hochschule. 

835. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirks Vereins 
deutscher Ingenieure zum Vortrag des Herrn Oberbauinspektor 
Schüler über »Murgwerk, erster Ausbau und Betrieb 
mit Lichtbildern am 6. Mai 8 Uhr im großen Hörsaal der 
Masehinenbauabteilung der Technischen Hochschule. Daran an¬ 
schließend fand am Samstag den 8. Mai eine Besichtigung des 
Murgwerks unter Führung der Herrn Oberbauinspektor Schüler 
und Professor Eberle statt. 



Sitzungsberichte. 


17 * 

836. Sitzung am 18. Juni im geologischen Hörsaal der Tech¬ 
nischen Hochschule 8 Uhr abends. Der Vorsitzende O. Lehmann 
brachte zunächst den schweren Verlust in Erinnerung, den der 
Verein seit seiner letzten Sitzung durch den Tod seines Ehren¬ 
mitgliedes des Wirklichen Geheimen Rates Dr. Ernst Wagner 
erlitten hat. Er führte etwa folgendes aus: Die älteren Mitglieder 
unseres Vereins werden in guter Erinnerung haben, wie häufig 
der Verstorbene an unseren Sitzungen teilnahm und mit welchem 
Interesse er sich bei wissenschaftlichen Diskussionen beteiligte. 
Er war am 5. April 1832 als Sohn des Stadtpfarrers und Direktors 
der Kgl. württembergischen Taubstummen- und Blindenanstalt 
in Schwäbisch-Gmünd, Hermann Wagner, geboren. Nachdem er 
das Stuttgarter Gymnasium besucht hatte, bezog er die Universität 
Tübingen zum Studium der Theologie, Philologie und der Natur¬ 
wissenschaften. Im Jahre 1858 erwarb er sich den Dr/phil. mit 
Auszeichnung, den die Universität Tübingen im Jahre 1906 er¬ 
neuerte. Von 1857 bis 1860 wirkte er als I.ehrer am theologischen 
Seminar in Schönthal und begab sich sodann zur Erweiterung 
seiner pädagogischen Kenntnisse nach England, wo er als Haus¬ 
lehrer eines Ministers wirkte und die Einrichtung der englischen 
Schulen studierte. Die Ergebnisse dieser Studien stellte er dar 
in den Schriften: »Das Volksschulwesen in Englands 1864 und 
»Tom Brown’s Schuljahre« 1867. Von 1864 bis 1875 war er als 
Leiter der Friedrichs-Prinzenschule tätig und als Erzieher 
des Erbgroßherzogs bis zu dessen Volljährigkeit. Sodann 
wurde er als ordentliches Mitglied in den Oberschulrat berufen 
mit dem Titel Geh. Hofrat und zugleich zum Konservator der 
vaterländischen Altertümer ernannt. 1882 wurde er auch Kon¬ 
servator der Baudenkmale und im folgenden Jahre Mitglied der 
Badischen historischen Kommission, iqr 1 erfolgte seine Ernennung 
zum Direktor der vereinigten Sammlungen. Unter seinen zahl¬ 
reichen Schriften sind besonders zu erwähnen: »Hügelgräber und 
Urnenfriedhöfe in Baden mit besonderer Berücksichtigung ihrer 
Tongefäße« und »Fundstücke und Funde aus vorgeschichtlicher 
römischer und alemannisch-fränkischer Zeit in Baden«. 39 Jahre 
hindurch war er das eifrigste Mitglied des von ihm gegründeten 
blühenden Karlsruher Geschichts- und Altertumsvereins, Jahrzehnte 
lang war er ferner Mitglied des Verwaltungsrats des Germanischen 
Nationalmuseums in Nürnberg und des Römisch-Germanischen 
Zentralmuseums in Mainz. 



Sitzungsberichte. 


I 8 * 


Die Vielseitigkeit seiner Tätigkeit beeinträchtigte nicht im 
mindesten die Heiterkeit seines Wesens und seine Liebenswürdig¬ 
keit im Verkehr. Gestützt durch ein ausgezeichnetes Gedächtnis, 
durch Geschick in Behandlung der Menschen, durch Schlag¬ 
fertigkeit und Veranlagung für Witz und Scherz, wußte er in 
allen Lagen sich zurechtzufinden und zahlreiche Freunde und 
Verehrer zu gewinnen. Er machte den Eindruck einer durchaus 
harmonischen Erscheinung und zählte zu den hervorragendsten 
und angesehensten Karlsruher Persönlichkeiten. Ein Schlaganfall 
am 7. März kurz vor seinem 89. Geburtstag machte seiner 
reichen Tätigkeit ein rasches Ende, obschon er bis zuletzt seine 
Rüstigkeit und Geistesfrische bewahrt hatte. 

Hierauf hielt Herr Professor Dr. M. A u e r b a c h einen Vortrag 
über Die neue Anstalt für Bodenseeforschung der 
Stadt Konstanz . 

837. Sitzung auf Einladung des Oberrh. Elektrotechnischen 
Vereins zum Vortrag des Herrn Obermaschineninspektors 
Beutler über »Das Fernsprechselbstanschlußamt der 
Eisenbahngeneraldirektion« am Mittwoch den 30. Juni 
abends 8 Uhr im großen Hörsaal des elektrotechnischen Instituts 
der Technischen Hochschule. Daran anschließend fand am 
Donnerstag den 1. Juli nachmittags 3 Uhr eine Besichtigung 
dieser Anlage unter Führung des Herrn Beutler statt. 

838. Sitzung. Haupt - Mitgliederversammlung im 
großen Hörsaal der Maschinenbauabteilung der Technischen Hoch¬ 
schule am 9. Juli 8 Uhr abends. Der Vorsitzende O. Lehmann 
berichtete bezüglich der Mitgliederbewegung: Durch Ab¬ 
leben verlor der Verein im verflossenen Vereinsjahr die Herren 
E. Dolletscheck, E. Gau, E. Diemer, M. Haid, E. Wagner; aus¬ 
getreten sind die Herren E. Rebmann, K. Fajans, K. Ens, E. Köhler. 
11 . W. Clauß, I.. Graebener, v. Babo, v. Bezold, H. Hausrath, M. 
Helbig, K. Schultz, W. Steinkopf; eingetreten sind die Herren 
A. Peppier, K. Schmidt, II. Gramer, Lauterborn, W. Schachen¬ 
meier, M. Länger, H. Rott, 11 . Franke, E. Ungerer, W. Gaede. 
Zum Vorstand wurden weiter zugezogen die Herren Auerbach 
1 Schriftführer', Gramer, Mayer und Ungerer. An Stelle des ver¬ 
storbenen Herrn Gau hat Herr Bankdirektor Galette die Rech¬ 
nungsführung des Vereins übernommen. 



Sitzungsberichte. 


*9* 

Bezüglich des Standes der Bibliothek berichtet Herr Bib¬ 
liotheksdirektor Dr. Schmidt: Das Katalogisieren, Binden und Ein¬ 
reihen der Werke des Naturwissenschaftlichen Vereins wurde auch 
im verflossenen Jahre in befriedigender Weise fortgesetzt. Von 
den der Bibliothek vom Ministerium für Einband des Bücher¬ 
bestandes des Vereins zur Verfügung gestellten außerordentlichen 
Zuschüssen zum Bibliotheksaversum wurden bis zum März d. J. 
verbraucht: 

Der Rest aus dem Jahre 1917 . . . . M. 288.14 

Der im Juli 1918 verwilligte Zuschuß . » 1000.— 

Summe M. 1288.14 

Außerdem wurden noch Mark S1.66 aus dem Avcrsum der 
Bibliothek verausgabt. Im abgelaufenen Berichtsjahre wurden 
etwa 50 Bände von Dozenten und Assistenten unserer Hochschule 
benutzt. Neue Verluste wurden nicht festgestellt. 

Bezüglich der Erdbebenstationen wurde durch Erlaß 
des Ministeriums des Kultus und Unterrichts vom 16. Februar 1920 
Nr. A 2286 mitgeteilt: »Von den im Staatsvoranschlag für 1918/19 
unter III Titel IV A, § 12 Ziffer 20 vorgesehenen Mitteln für die 
Erdbebenforschung ist zur Bestreitung der Kosten des Betriebs 
der beiden Erdbebenstationen für Rechnung des Naturwissen¬ 
schaftlichen Vereins in Karlsruhe der Betrag von 2000 M. an 
die Verrechnung der Technischen Hochschule zur Verfügung 
des Herrn Prof. Dr. Näbauer zu zahlen und unter R. A.II U. A. 
164, Ziffer 20 (Erdbebenforschung) zu buchen.« Weiter wird 
mitgeteilt: »Wir genehmigen die Anweisung der beantragten ein¬ 
maligen Vergütungen von je 250 M. an die Geometer Merkel 
und Herrmann für ihre Mitwirkung bei der Wiedereinrichtung 
der Station Durlach sowie die Verwilligung einer monatlichen 
Vergütung von 50 M. an den Assistenten des geodätischen In¬ 
stituts Geometer Merkel für die Bedienung der Station Durlach 
mit Wirkung vom 1. Januar d. J. ab auf den oben bewilligten 
Zuschuß.« Die Übernahme der auf 950 M. veranschlagten Kosten 
der elektrischen Beleuchtungsanlage in der Station Durlach auf 
obigen Zuschuß wird ebenfalls genehmigt. ... Im Staatsvoranschlag 
für 1920 haben wir für die Erdbebenforschung den Betrag von 
3000 M. vorgesehen. 

Bezüglich des Drucks des 27. Bandes der Verhandlungen 
des Vereins wurde beschlossen, dem Anträge des Vorstandes 



Sitzungsberichte. 


20 * 

gemäß außer der bereits gesetzten kleinen Abhandlung des 
Herrn Geh. Oberregierungsrats Dr. Groos, »Die deutsche 
Siedlung Tovar in Venezuela« auch die Abhandlung des 
Herrn Professors Dr. Schachenmeier, welche er als Habili¬ 
tationsschrift einreichte, aufzunehmen, vorbehaltlich Regelung des 
Kostenpunkts. 

Hierauf hielt Herr Professor F. Schmidt einen Vortrag 
über »Farbenphotographie« mit Lichtbildern. 

839. Sitzung auf Einladung der Karlsruher chemischen Ge¬ 
sellschaft am Freitag den 16. Juli im großen Hörsaal des chemischen 
Instituts, 5—7 Uhr und Fortsetzung 87 z Uhr abends. Herr Pro¬ 
fessor Dr. Trautz aus Heidelberg hielt einen Vortrag über 

Das Wesen der chemischen Reaktion«. 

840. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirks Vereins 
deutscher Ingenieure zum Lichtbildervortrag des Herrn Direktors 
Seitz über »Die maschinellen Einrichtungen des Karls¬ 
ruher Rheinhafens« am Donnerstag den 21. Oktober abends 
S Uhr im großen Maschinenbausaal der Technischen Hochschule 
mit nachfolgender Besichtigung des Karlsruher Rheinhafens am 
Samstag den 23. Oktober z l j 2 Uhr. 

841. Sitzung. Außerordentliche Hauptmi tglieder- 
versammlung am Freitag den 29. Oktober abends 8 1 ] 2 Uhr 
im geologischen Hörsaal der Technischen Hochschule. Tages¬ 
ordnung: Neuwahl des Vorstandes. Der Vorsitzende O. Leh¬ 
mann erstattete folgenden Bericht: 

Satzungsgemäß ist alle zwei Jahre eine Neuwahl des Vor¬ 
standes vorzunehmen, und nach der Vorschrift für eingetragene 
Vereine muß die Neuwahl des Vorsitzenden dem hiesigen Amts¬ 
gericht zur Eintragung in das Vereinsregister alsbald mitgeteilt 
werden. Da die letzte Wahl vor 1 1 / 2 Jahren stattgefunden hat, 
hätten wir zur Vornahme der Neuwahl noch 1 j 2 Jahr Zeit, bis 
gegen Schluß des Sommersemesters. Ich habe aber den Vorstand 
gebeten, die Wa:il schon auf heute anzuberaumen, da ich mich 
außerstande fühle, das Amt des Vorsitzenden, welches ich seit 
nunmehr 10 Jahren innehabe, weiterhin beizubehalten. 

Bei Besprechung der Angelegenheit im Vorstand wurde be¬ 
züglich dieser Wahl betont, man sollte von der bisherigen Ge- 
pfl ogenheit einen Hochschullehrer zu wählen — die bisherigen 



Sitzungsberichte. 


2 I * 

Vorsitzenden waren: Eisenlohr, Grashof, Wiener, Engler, Leh¬ 
mann — abgehen, in Anbetracht, daß diese nur etwa ein Viertel 
der ganzen Mitgliederzahl ausmachen (allerdings einen weit 
größeren Bruchteil der Vortragenden) auch aus dem anderen 
Grunde, weil sich die Hochschullehrer mit steigender Entwicklung 
der Wissenschaft immer mehr spezialisieren, während wünschens¬ 
wert ist, die Leitung des Vereins in eine Hand zu legen, die mit 
den verschiedensten Kreisen Fühlung hat, um Vortragende aus 
diesen heranzuziehen und eine gleichmäßige Tätigkeit des Vereins 
auf allen Gebieten der Naturwissenschaften in Fluß zu bringen. 
In solcher Hinsicht kämen vor allem Herren von der Mittel¬ 
schule in Betracht und schon bei meiner Wahl mag dieser Ge¬ 
sichtspunkt wesentlich mitgewirkt haben, da ich in früherer Zeit 
7 Jahre als Lehrer einer Mittelschule beschäftigt gewesen war in 
gleicher Weise auf den Gebieten der Mathematik und Physik 
wie auf den der Chemie und Biologie, Geologie und Geographie. 
So kam der Vorstand zu dem Beschlüsse, Ihnen vorzuschlagen, als 
neuen Vorsitzenden Herrn Direktor Rob. Burger am Humboldt- 
Real-Gymnasium zu wählen, welcher seit langen Jahren in Karls¬ 
ruhe tätig und eifriges Mitglied unseres Vereins ist. Eine Ver¬ 
größerung des Vorstandes ist durch seine Wahl nicht bedingt, 
da gleichzeitig Herr Prof. Dr. Peppier, welcher zu sehr durch die 
Einrichtung des neuen meteorologischen Instituts in Anspruch 
genommen ist, auf seinen Wunsch ausscheidet. 

Da keine Gegenvorschläge gemacht wurden, erfolgte die 
Wahl des Herrn Direktor Burger einstimmig durch Akklamation 
und der bisherige Vorsitzende führte ihn sofort in sein Amt ein. 

Die Neuwahl des Vorstandes führte zur Wiederwahl der bis¬ 
herigen Mitglieder und folgender Verteilung der Ämter: 

i. Vorsitzender Direktor Robert Burger. 2. Vorsitzender 
Geh. Hofrat Professor Dr. L. Klein. 1. Schriftführer Professor Dr. 
M. Auerbach. 2. Schriftführer Augenarzt Dr. R. Spuler. Rechner 
Bankdirektor A. Galette. Geh. Rat Professor Dr. H. Bunte. 
Direktor Professor Dr. H. Cramer. Geh. Hofrat Dr. Doll. Wirkl. 
Geh. Rat Dr. C. Engler. Geh. Rat Professor Dr. O. Lehmann. 
Direktor Professor Dr. P. Mayer. Professor Dr. W. Paulcke. 
Privatdozent Dr. E. Ungerer. 

Hierauf hielt Herr Geh. Hofrat Prof. Dr. I.. Klein einen 
Vortrag über »Giftpilze, Pilzgifte und Pilzvergiftungen« 



Sitzungsberichte. 


22 * 

unter Vorführung zahlreicher Lichtbilder, direkt nach der Natur 
photographierter Pilze möglichst naturgetreu koloriert. 

842. Sitzung, Freitag, 12. November, abends 8 l / 2 Uhr im 
»Krokodil«. Vortrag von Herrn Prof. Paul Mayer: »Einsteins 
Relativitätslehre I. Längen- und Zeitmessung nach 
Newton und Einstein . 

843. Sitzung, Freitag, 26 . November, abends 8 Uhr im »Krokodih. 
Vortrag von Herrn Prof. Paul Mayer: »Einsteins R e 1 a t i v i - 
tätslehre II. Physikalische Grundlagen und Folge¬ 
rungen des Einstein-Prinzips«. 

844 Sitzung, Freitag, 10. Dezember, abends 8‘/ 2 Uhr im Hör¬ 
saal des chemisch-technischen Instituts der Technischen Hoch¬ 
schule. Vortrag von Prof. Dr. Eitner: Über die Veredelung 
von Kohle«. 

1921. 

845. Sitzung, Freitag, 21. Januar, abends 8'/ 2 Uhr im Krokodil«. 
Vortrag von Prof. Dr. Göhringer: »Geologisch-historische 
Entwicklung der Donau und des Neckars«. 

846. Sitzung, Freitag, 4. Februar, abends 8 1 /, Uhr im »Krokodil«. 
Vortrag von Prof. Dr. Auerbach: »Hydrographisches und Bio¬ 
logisches aus dem Bodensee«. 

847. Sitzung, Freitag, 18. Februar, abends 8*/ 2 Uhr im »Krokodil«. 
Referat von Prof. Dr. Henglein: Über die Wünschelrute 
mit anschließender Aussprache. 

848. Sitzung, Freitag, 4. März, abends S ‘/ 2 Uhr im »Krokodih. 
Vortrag von Herrn Dr. Frentzen: »Der Keuper Badens und 
seine fossile Flora«. 

849. Sitzung, Freitag. 29. April, abends <S Uhr im Krokodil«. 

Ordentliche Hauptversammlung. 

Anwesend 29 Mitglieder, 8 Gäste. 

Nach Verlesen des Protokolls der letzten außerordentlichen 
Hauptversammlung, desjenigen der 848. Sitzung und der Vor¬ 
standssitzung vom 5. November 1920 durch den 1. Schriftführer 
und nach Genehmigung derselben, tritt der 1. Vorsitzende in die 
Tagesordnung ein. 



Sitzungsberichte. 


Es erfolgt zunächst der Jahresbericht, aus dem hervorgeht, 
daß seit der letzten außerordentlichen Hauptversammlung 9 
Sitzungen mit 9 Vorträgen und eine außerordentliche Hauptver¬ 
sammlung und 3 Vorstandssitzungen abgehalten wurden. 

Der Stand der Mitglieder beträgt am 29. April 1921 in 
Karlsruhe 175, Auswärtige 19. 

Im Laufe des Jahres 1920 starben 2 Mitglieder: Medizinalrat 
Gustav Döll und Geheimer Oberforstrat Xaver Siefert, zu deren 
Ehrung und Andenken sich die Anwesenden von ihren Sitzen 
erhoben. 

Ausgetreten sind 11 Mitglieder, dafür wurden 24 neuaufge- 
nommen, so daß ein Zuwachs von 11 Mitgliedern zu verzeichnen ist. 

Hierauf wurden die Berichte über die Erdbebenwarten und 
den Stand der Kasse verlesen. (Im Anschluß an unsere Mit¬ 
teilungen geben wir als Anhang je einen Bericht über die »Rech¬ 
nungsführung für die Jahre 1915—1921« und «Über den 
Betrieb der seismischen Stationen Durlach und Freiburg 
für die Zeit von August 1914 bis März 1921) 

Die Kasse wurde von Herrn Dr. Spuler geprüft und richtig 
gefunden, darauf wird dem Kassier Entlastung erteilt. 

Der Vorschlag, den Mitgliederbeitrag von 6 Mark auf 12 
Mark zu erhöhen, wird einstimmig angenommen; ebenso der 
Vorschlag, die jetzt fertig vorliegenden Bogen der »Verhandlungen 
abzuschließen und zu veröffentlichen. 

Auf Antrag des Vorstandes werden die Herren: Geheimer 
Rat Professor Dr. Bunte und Geheimer Rat Professor Dr. Leh¬ 
mann einstimmig zu Ehrenmitgliedern ernannt. 

Nach Schluß des geschäftlichen Teils ergreift der 1 Vor¬ 
sitzende das Wort zu seinem Vortrag: »Sc hulfragen von heute«. 



Rechnungsführung. 


24* 

Rechnungsführung 

für die Jahre 1915—1921. 


Einnahmen: 


Kassen Vorrat. 

M. 

5 656.75 



Mitgliederbeiträge 1915/21 . . . . 

Beiträge des Ministeriums des Kultus 

» 

5 524 - 4 ° 



und des Unterrichts für 1916/20 . 

Beiträge zu den Kosten des Vortrags 


1 500.— 



des Herrn Geh. Rat Lummer 1915/17 
Anteil des Herrn Dr. Schachenmeier 

>> 

185.-- 



an den Druckkosten des Bandes der 
»Verhandlungen«. 


699.IO 



Verkaufte Drucksachen usw. 1915/17 

» 

5»-25 



Verloste Wertpapiere 1915/21 . . . 

» 

6 297 - 5 ° 



Zinsen aus Wertpapieren 1915/21 

» 

6 96S.85 



Zinsen aus Konto-Korrent 1915/21 . 


616.82 

M. 

27 499-67 

Ausgaben 





Drucksachen, Gebühren, Porti 1915/21 

M. 

2 442.9 1 



Verhandlung, u. Sonderdrucke 1915/21 


3 370-5 * 



Gekaufte Wertpapiere 1915/21 . . . 


12 795.90 



Vortragskosten 1915/18. 

X> 

455 - 5 ° 



Kriegsspenden 1915/18. 

Erbschaftssteuer für das Vermächtnis 

» 

300.— 



des Herrn Gustav Wagner, Achern 


667.— 



Gekaufter Vervielfältigungsapparat . 

» 

393.85 

M. 20433.07 

Kassenrest am 9. April 1921 . . 


. 

M. 

7 066.— 

Das Vermögen beträgt am 9. April 1921: 



in Wertpapieren .... 

M. 32 686.20 



in bar. 

» 

7 066.— 

M. 

39752.20 

Das Vermögen betrug am 10. Dezember 1915 


24 001.80 

mithin Zunahme . . 

M. 

15 75° 4° 

Der verstorbene Herr Gustav Wagner in Achern wandte 


dem Verein ein Vermächtnis in festverzinslichen Wertpapieren 
im Betrage von M. 12 000 zu. Infolgedessen hat sich das Vereins- 
Vermögen erhöht. 







Bericht 

über den Betrieb der seismischen Stationen Durlach und Freiburg 
für die Zeit von August 1914 bis März 1921. 

Gleich zu Beginn des Krieges entstanden durch die Heran¬ 
ziehung des Bedienungspersonals zum Heeresdienste Unregel¬ 
mäßigkeiten im Betriebe der Station Durlach, die späterhin 
teilweise wieder behoben werden konnten. Für die Jahre 
1914—1916 liegen daher nur lückenhafte Registrierungen der 
Heckerschen Horizontalpendel vor. Im Jahre 1917 veranlaßte 
der Naturwissenschafdiche Verein zu Karlsruhe den vollständigen 
Abbau der unterirdischen Station, da es infolge Personenmangels 
und der bestehenden örtlichen Schwierigkeiten nicht möglich war, 
die Pendel dauernd und befriedigend in Tätigkeit zu halten und 
befürchtet werden mußte, daß die Instrumente bei weiterem Ver¬ 
bleib in dem sehr feuchten unterirdischen Raum ohne die 
nötige Aufsicht notleiden würden. 

Die im Sommer 1914 in Durlach aufgestellten großen 
Mainkaschen bifilaren Kegelpendel lieferten gleichfalls nur bis 
Ende 1916 Aufzeichnungen, die teilweise durch die besonderen 
Zeitverhältnisse unterbrochen sind, aber auch für mehrere Beben 
gute Ergebnisse zeigten. Von Januar 1917 ab mußten auch 
diese Apparate ganz außer Betrieb gesetzt werden. Nach Kriegs¬ 
ende wurde zunächst für die Zeitübermittlung das Telephon 
wieder eingeführt und die Uhr einer gründlichen Reinigung und 
Reparatur unterzogen. Seit Ende 1919 sind die Instrumente 
wieder dauernd in Tätigkeit. Die große Feuchtigkeit der Station 
und die ungeschützte Aufstellung der Pendel bereitet aber einer 
ununterbrochenen, zuverlässigen Registrierung Schwierigkeiten. 
Aus finanziellen Gründen war es bis jetzt noch nicht möglich 
zur Beseitigung dieser Mißstände die Grube, in welcher die 
Apparate aufgestellt sind, durch einen gut isolierenden Verschlag 



26* Bericht iilx*: den Hcirieh der seismischen Stationen Durlach und Kreiburg. 

von der Umgebung abzuschließen. Das kleine Mainkasche Pendel 
im Keller des Aulabaues der Technischen Hochschule 
Karlsruhe, welches während des Krieges ebenfalls zeitweise 
ganz still lag, wurde sofort nach Kriegsende wieder in Gang 
gesetzt und ist seitdem fast ununterbrochen mit gutem Erfolg 
in Betrieb. Der gesamte Zeitdienst (auch mit der Sternwarte 
Heidelberg) wurde nach Vornahme kleinerer Reparaturen im 
Frühjahr 191g wieder aufgenommen. Die in Durlach aufgestellte 
Uhr wird wie früher allwöchentlich mit der Normaluhr des 
Geodätischen Instituts in Karlsruhe auf telegraphischem Wege 
verglichen. 

Die seismische Station Frei bürg war fast ohne Unter¬ 
brechung bis August 1915 in Betrieb und lieferte ein gutes Be¬ 
obachtungsmaterial. Von genanntem Zeitpunkte ab mußte die 
Station vollständig still gelegt werden, da der mit der Besorgung 
der Station beauftragte Beamte zum Heeresdienst herangezogen 
wurde und ein geeigneter Ersatz nicht zu beschaffen war. Im 
Jahre 1917 machte die Kaiserliche Hauptstation für Erdbeben¬ 
forschung in Straßburg dem Naturwissenschaftlichen Verein zu 
Karlsruhe den Vorschlag, die Heckerschen Pendel der Station 
F'reiburg gegen eine neuere bessere Konstruktion umzutauschen. 
Da hiermit der Naturwissenschaftliche Verein einverstanden war, 
wurden im Februar 19iS die Instrumente abgebaut und nach 
Straßburg geschickt. 

Infolge der Ereignisse im Jahre igiS kam es nicht zu der 
versprochenen Gegenleistung, und die Freiburger Pendel mußten 
in Straßburg zurückgelassen werden. Die zur Wiedererlangung 
der Instrumente unternommenen Schritte sind bis jetzt ohne Erfolg 
geblieben. Sollte es nicht möglich sein, die Apparate wieder zu 
erhalten, so ist beabsichtigt, die früher in Durlach befindlichen 
Ilorizontalpendel in Freiburg aufzustellen, da sich hier der Be¬ 
obachtungsraum in jeder Hinsicht als günstig erwiesen hat. 



Die deutsehe Siedelung Tovar in Venezuela 
als Stützpunkt für botanische, meteorologische und klima- 
tologisehe Forschungen und Beobachtungen. 

Von Dr. W. Groos und Dr. Fr. Gautier. 

Der Weltkrieg hat unsere Verbindungen mit Übersee bis 
jetzt abgeschnitten oder doch wenigstens stark beschnitten; er 
hat uns dagegen wieder Beziehungen mit Deutschen draußen 
gebracht, welche die Fühlung mit Heimat und Vaterland all¬ 
mählich verloren hatten und hier beinahe verschollen waren. — 
Unvergessen soll allen Volksgenossen über den Grenzen bleiben, 
was sie in diesen schweren Tagen für unser Volk getan und 
noch tun: Viele Tausende im waffenfähigen Alter, gleichviel, ob 
noch im Besitz deutscher Staatsangehörigkeit oder nicht mehr, 
trieb es unter den unglaublichsten Schwierigkeiten und Ge¬ 
fahren heim zur Verteidigung des teueren deutschen Bodens, und 
viele Millionen steuerten die Deutschen draußen, die jenes nicht 
konnten, für unsere Kriegshilfe und zur Aufklärung der öffent¬ 
lichen Meinung in den am Kriege nicht selbst beteiligten Ländern. 
— Erst die Zukunft wird uns voll zeigen, wie weit- und tief¬ 
gehend unser Ringen gegen eine Welt in Waffen unter der Asche 
glimmendes Feuer deutscher Vaterlandsliebe wieder angefacht 
hat. — Ein Beispiel hier für viele! aus einem Lande, in dem 
Deutsche nur in kleiner Zahl, dauernd nur in einer ganz abseits 
im Urwald gelegenen bescheidenen Siedelung wohnen: die nur 
12 —1500 Deutschen in Venezuela haben bis jetzt für das Vater¬ 
land über eine Viertelmillion Mark aufgebracht, darunter die geld¬ 
armen paar hundert Bauern der Kolonie Tovar rund 800 Mark neben 
außerordentlichen Opfern für das Deutschtum der eigenen Ge¬ 
meinde. — Für dieses in der alten Heimat mich einsetzend, habe 
ich mich der Erfahrung erfreuen dürfen, daß selbst ein so kleiner 

Verhandlungen 27. B<1. 1 



Di. \V. (iroos u. Di. Fr. GaiUicr 


Splitter unseres Volkstums neben der allgemeinen seine beson¬ 
dere Bedeutung für uns haben kann, hier eint. 1 wissenschaftliche*, 
und hierin seinerseits eine weitere Stütze zu seiner Erhaltung 
finden wird, wenn wir daheim dazu mithelfen. 

Die Siedelung ist 1843 auf einem von dem Venezolaner 
Tovar-Ponte zur Verfügung gestellten Landstrich von einigen 
70 Auswandererfamilien (mit rund 400 Köpfen) aus dem badi¬ 
schen Breisgau gegründet worden, die ein aus dortiger Gegend 
stammender Kupferstecher des venezolanischen Kartographen. 
Oberst Codazzi geworben hatte. — an den Quellen des Rio Tuy 
in beinahe 2000 m Meereshöhe, in einem Hochtal am Südhang 
des Küstengebirges, gegen 100 km westlich von der Hauptstadt 
(aracas und 70 km nördlich von der Stadt La Victoria, an 
welcher jetzt die von der Diskontogesellschaft in Berlin erbaute 
Eisenbahn Caracas—Valencia vorbeiführt. Für die Breisgauer 
Bauern war die Lage der Siedelung eine ungünstige, ungeeignet 
wegen des feuchten Klimas sowohl für den Weinbau, wie für den 
Weizen und selbst für Kartoffeln. Am meisten lohnt nun der Anbau 
von Kaffee und Kakao, eine Haupteinnahmequellc für Venezuela. 
Es hat viel Schweiß und Opfer, auch von Menschenleben ge¬ 
kostet, bis die Siedelung, welche viele schon bald wieder ver¬ 
lassen hatten, sich allmählich zu einem auskömmlichen Dasein 
emporgearbeitet hat, mit nicht viel mehr Einwohnern, als zur 
Zeit der Gründung. Die ganz vereinsamte deutsche Gemeinde 
hat aber nicht nur Heimattreue gehalten in Wahrung ihrer ale¬ 
mannischen Sitte und Mundart, sondern auch, obwohl des alten 
Staatsbürgerrechts verlustig, sich echt deutschen Geistes erwiesen, 
gerade im jetzigen Weltkrieg durch die bei ihren Verhältnissen 
nicht hoch genug anzuerkennende Sammlung für das deutsche 
Kote Kreuz und durch Errichtung einer deutschen Schule, die 
ihr bis dahin gefehlt hatte. Schon früher war auf eine solche 
als Llauptmittcl zur Erhaltung des Deutschtums hingewiesen 
worden, von einem deutschen Xaturwissenschafter. dem Konser¬ 
vator des Botanischen Museums, Brof. Dr. Goebel in München, 
wie zuvor von den Vertretern des Deutschen Reiches in ('aracas 
-- wobei ersterer einen deutschen Lehrer gewünscht hatte, der 
auch einigermaßen naturwissenschaftlich geschult sei. Was da¬ 
mals den Bemühungen der badischen Unterrichtsvorwaltung und 
des Landesverbandes Baden des Vereins für das Deutschtum im 



Die deutsche Sicdcluiij' i<»\ar in Venezuela 


Ausland nicht gelungen war — der Lehrer muß alemannisch 
und auch spanisch verstehen —, heute ist es gerade durch den 
Weltkrieg Tatsache geworden: Lehrer Eugen G all er von der 
deutschen Schule in Caracas. Oberelsässer und selbst alemannisch 
sprechend, übernimmt die neue deutsche Schule in Tovar, durch 
welche die allmählich aussterbende Kenntnis der hochdeutschen 
Gemeinsprache den Nachkommen der Auswanderer wieder ver¬ 
mittelt werden wird, und wenn auch vielleicht nicht naturwissen¬ 
schaftlich gerade besonders geschult, wird er und der von den 
Engländern aus Trinidad ausgewiesene Pfarrer Busert, ein Rhein¬ 
länder, für botanische Bezüge und Forschungen, vielleicht auch 
für sonstige wissenschaftliche Beobachtungen doch wenigstens 
den Anknüpfungspunkt bieten, welchen ein im allgemeinen ge¬ 
bildeter Mann für solche und ähnliche Zwecke geben kann. 

Dr. Goebel, welcher 1800/91 eine wissenschaftliche Reise 
durch Venezuela und Britisch-Guayana gemacht und u. a. auch für 
den Botanischen Garten und das Botanische Museum in Karls¬ 
ruhe tropische Pflanzen und Sämereien, von Tovar im beson¬ 
deren seltene Farne» mitgebracht hatte, hat in einem Beibericht 
auf letzteres besonders abgehoben: 

»Tovar liegt an einem für Vermehrung naturwissen¬ 
schaftlicher Sammlungen außerordentlich günstig 
gelogenen Punkte der venezolanischen Küstcnkordillere. 
Die botanischen Gärten und Sammlungen können von dort 
aus mit geringen Kosten sehr bereichert werden. Unter¬ 
zeichneter hat auf seinen Reisen in Indien, Java, Süd¬ 
amerika, Australien, Neuseeland kaum einen anderen Ort 
kennen gelernt, der für einen naturwissenschaftlirhen 
Sammler so günstige Aussichten bietet, wie Tovar.« 

Zu der Frage aber, ob diese deutsche Siedelung nicht als 
von vornherein wegen dos Klimas und der Tage unter den Tropen 
verfehlt und deshalb als aussichtslos für alle Zeit betrachtet wer¬ 
den müsse, gibt der nachstehende, auf Krsuchen mir entgegen¬ 
kommend erstattete Bericht eines Fachmannes, Dr. Gautier — 
auch eines Landsmannes der Tovarer den Xichtfachmann 
überraschende und den Deutschen erfreuende Aufschlüsse. 


Dr. \V. (i roos- Karlsruhe. 



Di. \Y. Groos u. Di. Fr. Gauticr 


[ 


Die Lage der Kolonie Tovar an den oberen Hängen eines 
Hochtals unmittelbar unter der Nordkette des Karibischen Ge¬ 
birges 1 , wo sich dasselbe zu Höhen von 2000 -2500 m empor¬ 
türmt, hat schon frühe die Aufmerksamkeit von Meteorologen auf 
sich gezogen, zumal Höhenstationen in weiterer Umgebung nicht 
vorhanden waren. Zwar ist die Lage der Beobachtungsstelle 
dort nicht genau bekannt und nur nach barometrischen Messungen 
eine ungefähre Höhe zwischen iyoo und 2050 m festzustellen*, 
auch sind die Beobachtungen etwas dürftig, da sie wenigen und 
dazu älteren Jahrgängen entstammen, doch sind die meisten 
Angaben — nach dem Urteil von Fachmännern — vertrauens¬ 
würdig. Bereits 1844 fanden wissenschaftliche Aufzeichnungen 
statt a , 1854 und 1855 und fortlaufend von 1856—58 beobachtete 
der Amerikaner Fendi er, der sich zu Studienzwecken mehrere 
Jahre in der Kolonie aufhielt; neuere Daten finden sich in Hann's 
Klimatologie. 

Auf Grund dieser Beobachtungen nimmt Hann eine jähr¬ 
liche Mittelwärme von 14,4' C für Tovar an, von der sich 
auch die monatlichen Mittelwerte nur wenig entfernen (Januar 
J2,7°, April und September 15,1°). Die tägliche Temperatur¬ 
schwankung ist im Jahresdurchschnitt folgende: 



Jahresmittel 

April 

Januar 

Morgens 7 11 

1 3*5 

14,6° 

I I, 2 C 

Mittags 2 11 

1 7 * 3 “ 

1 S, 5 ° 

i 6 , 3 c 

Abends o 1 ' 

1 20 

1 4 - 1 ° 

1 1.2- 


1 Fendi er beschreibt sie in dem Annual Report of ihe buard of Regents oi 
the Smithsonian Institution for the year 1857, Washington : The colony is surroundet 
I>v mountains ridges, crowned by several pc.iks (S. 180). 

" Nach Fcndler 0500 engl. Fuß, nach Kuntzc, Thai und, Met. Zeiischriil. 
Jahrg. 1894, S. 150ff. 1914 m, nach Hann. Handb. d. Klimatologie, 2040 m. Geogr- 
l'rrite: 10 2o\ \\e>il. Lange 07 20'. 

Hohiin Ae- li t l\*\.u. s. p p\ w .du'•elu inlu h >on eim-m D« -tuschen. 



Die deutsche Siedelung l'ovar in Venezuela 


Dieselbe entspricht etwa der eines bald mehr kühlen, bald 
mehr schwülen Maitages unserer oberrheinischen Tiefebene, 
wie überhaupt die Witterung in der Kolonie mit der eines etwas 
feuchten, verregneten Maimonats in Deutschland am besten 
zu vergleichen wäre. 

Für die bedeutende Höhenlage (Gipfellage) der Kolonie ist 
das Klima auffallend kühl; der Ort an der Grenze der sogenann¬ 
ten tierra templada -des gemäßigten Landes« und der tierra 
fria, »des kalten Landes«, gelegen, ist im Vergleich mit Beob¬ 
achtungsstationen wie Quezaltenango 1 in Guatemala und Bogota 
in Bolivien entschieden unternormal warm. Die genannten 
Orte haben etwa die gleiche Mitteltemperatur, liegen aber je 
300 und 600 m höher. Für einen unter den Tropen gelegenen 
Ort bedeutet aber dieser Wärmemangel, sobald es sich um eine 
Ansiedlung von Europäern handelt, eher einen Vorzug. 

Um uns ein Bild des Witterungsverlaufs innerhalb eines 
klimatischen Jahres vorzuführen, tun wir am besten, den Schil¬ 
derungen Humboldt’s, der sozusagen als erster neuzeitlicher 
Gelehrter die benachbarten Gegenden bereist hat, zu folgen. 

Zur Zeit unseres deutschen Winters herrscht in Tovar die 
trockene Jahreszeit mit vielen heiteren Tagen, die nur zur 
Mittagszeit stärkere Bewölkung und zeitweisen Niederschlag auf¬ 
weisen. Die Regenmenge ist meistens gering, die Zahl der Tage 
mit Regenfall erreicht nur selten die Hälfte derjenigen in der 
Regenzeit. Bis in den März hinein bleibt der Charakter der 
Witterung so ziemlich derselbe, die mittlere Wärme nimmt lang¬ 
sam etwas zu, die Morgen sind meist frisch (selten unter io°)'-\ 
die Mittage mäßig warm (Maximum ca. 25 °). Mit der zu¬ 
nehmenden Jahreszeit beschreibt aber die Sonne steilere und 
immer steilere Bögen und erreicht schließlich um Mitte 

April den Zenitstand. Damit ist in den Tropen der Beginn 

der Regenzeit angekündigt. Allmählich wird das vordem 
so klare Himmelsblau gedämpfter, eine Dunstschicht scheint 

die oberen Lufträume zu erfüllen, ein stärkeres nächtliches 

Flimmern der Sterne deutet auf zunehmende Feuchtigkeit in 
diesen Sphären. Immer mächtigere Wolkenmassen türmen sich 

1 E. Lottermoser: Die Ergebnisse der Temperaturbeobachtungen m Salvador 
uml Süd-Guatemala. Hamburg 1909. 

Xui l iumal, Winter 1855 50, wuulc in Tovar, nach l rndkr, R» if beolmchirt. 



I)r. W\ (tiih» u. L>i. Kr. (lautier 


fi 

an den südlichen Gebirgsketten auf, lagern in den benachbarten 
Hochtälern, bis endlich meist um die Wende von April zu Mai 
unter gelegentlichen Gewittererscheinungen die ersten schweren 
Tropenregen der nassen Jahreshälfte niedergehen. Aber die nun 
kommende Jahreszeit stellt durchaus nicht eine fortdauernde 
Regenperiode dar; vielmehr treten des öftern klare Morgen und 
Abende, auch völlig regenfreie Abschnitte auf, und etwa um die 
Mitte des Sommers stellt sich als sog. veranito di San Juan 
(‘ine Reihe von schöneren Tagen ein. die allerdings keine regel¬ 
mäßige Erscheinung ist. Im September und Oktober steigert 
sich nach dem abermaligen Zenitstande der Sonne die Xieder- 
schlagstätigkeit wieder. bis dann im November, in manchen Jahren 
auch erst auf Jahresschluß, die kürzere schöne Periode ihren An¬ 
fang nimmt. 

Wie Hettner 1 ausführt, ist das Klima in den nördlichen Aus¬ 
läufern der Kordilleren auch noch gekennzeichnet durch den Wech¬ 
sel von Tal- und Bergwinden, von denen erstere die feuchte Luft 
des Tieflands in höhere Schichten bringen und damit die Konden¬ 
sation der großen in ihr enthaltenen Mengen Wasserdampfes her¬ 
beiführen. Auf diese Weise kommt es zu örtlicher Wolken¬ 
bildung, Nebeln und Niederschlägen, die meist in der Form von 
Rieselregen Paramitos - fallen, im Tieflande aber fast fehlen. 
Die schon an und für sich bedeutenden Niederschlags¬ 
mengen werden hierdurch noch erhöht. Nach Pendler ist die 
Zahl der Tage mit Niederschlag (Ergebnisse von 2 Jahren) in 
ihrer Verteilung auf die trockene und nasse Jahreszeit folgende: 



Regenmenge 1 

Kotnntai»e 
in nun ** 

Feuchtigkeit 
in 0 

Bewölkung 
(icwilto . * 

in Zehnt ein < irr 

im Monat 

HunnioMlachi- 

Trockenzeit . 

November—April 

iS 50 0“ 


I 5.0 

Regenzeit . . 

IO jo inj 

SS 

3 7 * 2 

Mai—< Oktober 





Summe: isö Regentage im Jahr. 


1 11 dl not, I)i< Korüilloio v«»n Bo^mü. in iVtei mann«* Miteii^. is«j.\ SuncUi- 
Koti Nr. 104 . 

- ITc11 ih 1 . S. ~ 2 . 

Beobachtung n von iS|j. Bolctin d< l.i < ol»»nia T<*s.u. Nr. 

S. |i p. 


Nom 1. Januar 




Die deutsche Siedelung Tmar in Veno/wla 


Die Menge des Niederschlags ebenso wie seine Ver¬ 
teilung über das Jahr wechselt übrigens außerordentlich; 
während einige Reisende* die trockene Jahreszeit von Anfang 
November bis Ende April zählen, rechnet Fendi er noch die 
Monate November und Dezember zur Regenzeit. Außerordent¬ 
liche Regenmengen und eine Ausdehnung der Regenperiode 
über fast die ganze trockene Zeit beobachtete Sievers auf seinen 
Reisen in den Jahren 1892—93 \ 

Entsprechend der Häufigkeit von Niederschlägen und Nebeln 
ist auch die durchschnittliche Größe der Bewölkung eine recht 
bedeutende; auf ziemlich klare Morgen folgen meist neblige oder 
trübe Mittage, während es gegen Abend wieder aufhellt 2 . Die 
beigegebene Tabelle zeigt den täglichen Verlauf der Bewölkung 
und des Niederschlags: 


Bewölkung in Zehnteln 
der Himmelsflache 


Dauer des Regen falls 
in Stunden im Jahr: 


Morgens 7 h 54 

Mittags 1 11 s.2 

Abends </’ 14 


•4 

von 

7- ■«" 

morgens 

b<> 

von 

2 - 3 h 

mittags 

4 

von 

0 - 1 ( V' 

abends 


Im Vergleich mit den benachbarten Gebieten ist die Ge¬ 
witterhäufigkeit eine geringe 1 . 

Von einiger Bedeutung sind unter den übrigen klimatischen 
Faktoren nur noch die Winde, die in der Kolonie höchstens in 
mäßiger Stärke auftreten und vielfach lokalen Charakter tragen 
( Berg- und Talwindei. 

Im allgemeinen steht die Gegend ebenso wie die angrenzen¬ 
den Landesteile unter dem ständigen Einfluß der östlichen Passat¬ 
strömung. Ost- und Südostwinde herrschen vor; um die Zeit 
des Eintritts der Regen im April und Mai sind gelegentlich 

1 Sievers >Zweite Krise in Venezuela-.' in den Jahren 1892 <13. Mitteil. d. <icogr. 
Oes. in Hamburg 1896. 

■ Kendler beobachtete im Laufe eines Jahres nur einen einzigen völlig klaren 
Mittag gegen 133 ganz trübe; dagegen waren wieder SS Abende vollständig klar fS. 21h). 

: Siehe Tabelle auf S. b. 




s 


T)r. \V. Gmos 11. I)r. Fr. <imitier 


auch südliche Luftströmungen häufiger, während im Winter ab 
und zu auch schwächere, mit den mexikanischen »Nortes* zu¬ 
sammenhängende Nordwinde wahrgenommen werden. Allerdings 
sind sie ungleich jenen, welche als Boten des nordamerikanischen 
Winters dort so verrufen sind, nur von einer angenehmen Ab¬ 
kühlung begleitet 1 . 

Dr. Fr. (lautier. 


1 Einer der besten Kenner des Landes, Codazzi, erwähnt sie bereits in seinem 
> Resumen de la Geografia de Venezuela . Paris 1841, S. 363. 



Ober Struktur, optisches und mechanisches 
Verhalten der als Myelinformen bezeiehneten 
flüssigen Kristalle 
sowie über Plastizität im allgemeinen. 

Von R. Schachenmeier. 

Die Physik betrachtet die Materie entweder als Konti¬ 
nuum oder als Zusammenlagerung von Molekülen; letztere 
einerseits in regelloser Anordnung (amorphe Körper), anderer¬ 
seits zu Raumgitterstruktur (Kristalle). Auch im Falle der 
Annahme dieser Molekulartheorie konnte bisher für die 
Rechnung ein chemisch einheitlicher Stoff alß kontinuierlich 
behandelt werden, denn man nahm an, chemische Homo- 
geneität (gleiche Beschaffenheit aller Moleküle) bedinge not¬ 
wendig auch physikalische Homogeneität, alle Punkte müßten 
einander gleichwertig sein und ebenso edle parallelen Rich¬ 
tungen, gleichgültig ob der Körper amorph oder kristallisiert 
ist. Nach O. Lehmanns Entdeckung der Existenz chemisch 
homogener flüssiger Kristalle 1 ) trifft dies nicht zu. Beispiels¬ 
weise ist bei einer Säule von Ammoniumoleatmonohydrat, 
welche sich in einer Kapillarröhre befindet, eine Achse aus¬ 
gezeichnet, und nur Punkte von konachsialen Zylinderflächen 
sowie der Achse parallele Richtungen auf diesen sind gleich¬ 
wertig. Trotz der Beweglichkeit der Moleküle ist diese An¬ 
ordnung derselben eine stabile; man kann die Flüssigkeit 
in Strömung versetzen, ohne die durch die Interferenzstreifen 
zwischen gekreuzten Nicols sich kundgebende Struktur zu 
stören 2 ). Das Gesetz der Molekularkräfte muß also ein 

J ) O. Lehmann, Zeitschr. f. physik. Chem. 4, 462, 1889. Flüssige Kri¬ 
stalle, Lpz., Engelmann, 1904. Die neue Welt der flüssigen Kristalle, Lpz., 
Akad. Verlagsges. 1911. Prometheus 25, 2 u. 20, 1913. Comptes rendus 
158, 389. 1914* Die Lehre von den flüssigen Kristallen, Wiesbaden 1918. 
Physik. Zeitschr. ig, 73, 1918. 

2 ) Derselbe, Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. 1911, Nr. 22, S. 17. Ann. 
d. Phys. 56, 321, 57, 244, 1918. 

Verhandlungen, 27. Ikl. 2 



IO 


R. Schachenmeier 


derartiges sein, daß es stabile Gleichgewichte dieser Art er¬ 
möglicht; und die O. Lehmannsche Annahme, die Mole¬ 
küle übten außer den bekannten Zentralkräften, welche bei 
nicht kristallinischen Flüssigkeiten allein in Erscheinung 
treten, auch gegenseitige Richtkräfte aus wie astatische 
Magnetsysteme'), dürfte bei exakter mathematischer Durch¬ 
arbeitung wohl den Nachweis der Möglichkeit jener Gleich¬ 
gewichte erbringen können. Vom Standpunkte der An¬ 
nahme, die Materie sei kontinuierlich, ist dagegen die frag¬ 
liche Verteilung der Werte der Eigenschaften nicht ver¬ 
ständlich. 

Die Existenz flüssiger Kristalle erscheint somit als Be¬ 
weis für die Molekularstruktur der Materie und läßt 
zugleich erkennen, daß die besonders für technische Zwecke 
nützliche vereinfachende Annahme der Kontinuität im all¬ 
gemeinen nicht zulässig ist, daß jede exakte physikalische 
Theorie die Körper als Molekularaggregate betrachten muß, 
soweit nicht der Beweis erbracht werden kann, daß die 
einfachere Annahme zu gleichem Ergebnis führt. 

Man hat früher auch umgekehrt geschlossen, ein physi¬ 
kalisch homogener Körper müsse notwendig chemisch homogen 
sein und war so gezwungen anzunehmen, die Moleküle 
eines Kristalls seien alle gleichartig, Einmischung einer 
fremden Substanz sei nur in die Moleküle selbst möglich, 
also nur im Fall des Isomorphismus, so daß auch die ge¬ 
änderten Moleküle alle gleichartig beschaffen wären. Im 
Gegensatz hierzu führten O. Lehmanns Beobachtungen 
über Mischkristalle nicht isomorpher Stoffe (sogen, anormale 
Mischkristalle) zu dem Ergebnis, daß Zwischenlagerung 
fremder Moleküle zu einem Aggregat möglich ist, welches 
hinsichtlich der physikalischen Homogcneität einer physika¬ 
lischen Lösung vergleichbar ist. Bei flüssigen Kristallen 
sind solche Mischungen in besonders hohem Maße möglich. 
So kann sich z. B. das flüssig-kristallinische Ammonium- 

») i). Lehmann, Physik. Zeitschr. io f 553, 1909. Die neue Welt diT 
flüssigen Kristalle 1911, S. 347. Verhandl. d. D. plus. Ges. 16, 443, 1914. 



Einleitung. 


1 I 

oleatmonohydrat in beliebigem Verhältnis mischen mit den 
chemisch ganz anders beschaffenen flüssig-kristallinischen 
Modifikationen von Lecithin, Phrenosin, Kerasin usw. 1 ), auf¬ 
fallenderweise auch mit der wasserreicheren Verbindung des 
Ammoniumoleats, die kurz als Ammoniumoleatdihydrat be¬ 
zeichnet werden soll, obschon bis jetzt eine chemische Ana¬ 
lyse des Wassergehalts nicht vorliegt. Diese Beimischung, 
welche in beschränktem Maße möglich ist, bewirkt Störung 
der physikalischen Homogeneität durch Gruppierung der 
Moleküle um eine Achse, wie sie sonst durch den Einfluß 
der Glaswände einer Kapillare hervorgebracht wird, d. h. 
Entstehung von Myelinformen 2 ), welche also flüssige Misch¬ 
kristalle sind. 

Zweck der vorliegenden Arbeit ist, näher zu prüfen, 
ob die von O. Lehmann angenommene Struktur der Myelin¬ 
formen wirklich die tatsächlich beobachteten Erscheinungen 
ergibt und zwar einerseits auf dem Gebiet des optischen, 
andererseits dem des mechanischen Verhaltens, und welche 
Folgerungen sich daraus ergeben hinsichtlich der Plastizität 
im allgemeinen. 

In Teil I, A wird zunächst der Verlauf des ordentlichen, 
dann der des außerordentlichen Strahles in einem Myelin¬ 
kristall konstruiert und angegeben, welche Erscheinungen 
im Mikroskop durch diesen Strahlengang bedingt sind. Es 
wird eine Formel aufgestellt, welche gestattet, durch mikro¬ 
skopische Ausmessung der Lichtverteilung bei Myelinformen 
den Brechungsindex des ordentlichen Strahles zu bestimmen. 
Die Messungen ergeben einen quantitativen Zusammenhang 
desselben mit dem Mischungsverhältnis der beiden Hydrate 
des Ammoniumoleats. Um dieses in einfacher Weise be¬ 
stimmen zu können, wird in B eine Methode ausgearbeitet, 
welche gestattet, den Wassergehalt einer Myelinform aus 
einer Messung der inneren Reibung des wasserhaltigen 


x ) O. Lehmann, Ann. d. Phvs. 43, 123, 1914. 

2 ) Derselbe, Heidelb. Sitzungsber. 1913, Nr. 13, S. 17. Physik. Zeitschr 
19, 18, 1918. Ann. d. Pkys. 57, 246, 1918. 


. 2 



12 


R. Schachenmcier 


Ammoniumoleats zu finden, da sich diese mit dem Wasser¬ 
gehalt in auffälliger Weise ändert. 

Die Untersuchungen von O. Lehmann haben zu der 
Auffassung geführt, daß nicht nur fremdartige Stoffe, wie 
es zwei verschiedenartige Hydrate des Ammoniumoleats 
sind, Mischkristalle miteinander bilden können, daß man 
vielmehr annehmen muß, auch verschiedene polymorphe 
Modifikationen oder sogenannte Aggregatzustände desselben 
Stoffes könnten Mischkristalle miteinander bilden, dies sei 
sogar die Regel in der Nähe eines Umwandlungspunktes, 
welcher aufzufassen sei als Sättigungspunkt der Lösung der 
einen Modifikation in der andern. In diesem Fall ist das 
Mischungsverhältnis nicht beliebig wählbar sondern durch 
die Gesetze des chemischen Gleichgewichts bestimmt. Bei¬ 
spielsweise findet nach seiner Auffassung beim Erwärmen 
von Eis bis zum Schmelzpunkt in steigendem Maße eine 
Dissoziation von Eismolekülen in Wassermoleküle statt, wie 
sich durch die auffallende Plastizität in der Nähe des Schmelz¬ 
punktes kundgibt. Letzterer ist der Sättigungspunkt der 
Lösung von Wasser in Eis, so wie umgekehrt der Erstar¬ 
rungspunkt der Sättigungspunkt der Lösung von Eis in 
Wasser ist. Kühlt man die Myelinformen des Ammonium¬ 
oleats unter —4 0 ab, so entsteht eine zähere Modifikation 
unter plötzlicher Geradestreckung der Myelinformen. Beim 
Wiedererwärmen findet bei derselben Temperatur Rückum¬ 
wandlung statt, wobei die Form wieder die frühere wird. 
Auch in diesem Fall ist die zähere Modifikation in der 
Mischung der beiden Hydrate mit sinkender Temperatur in 
steigendem Maße gelöst anzunehmen, wie sich durch die 
Erhöhung der inneren Reibung kundgibt, bis bei —4 0 der 
Sättigungspunkt erreicht wird 1 ). 

Ganz wie in anderen Fällen ist anzunehmen, daß ein 
derartiges inneres Gleichgewicht nicht nur durch die Tem¬ 
peratur, sondern auch durch den Druck bestimmt werde. 
An Stelle von —4 0 wird man bei höherem Druck eine der 


*) O. Lehmann, Ann. d. Phys. 43, 112, 1914. 



I. Die Optik der Myelinformen. 


13 


Volumenveränderung bei der Umwandlungstemperatur ent¬ 
sprechende andere Umwandlungstemperatur finden 1 ). Weiter 
folgt aus O. Lehmanns Versuchen aber auch eine Ab¬ 
hängigkeit des inneren Gleichgewichts von Schubspannungen 
(einseitigem Druck 2 ). Direkt nachgewiesen ist bis jetzt aller¬ 
dings nur, daß Störung des inneren Gleichgewichts durch 
Temperaturänderung Schubspannungen hervorrufen kann, 
welche Umsetzung von chemischer Energie in mechanische 
Arbeit bedingen 3 ). Doch ist der Vorgang augenscheinlich 
reversibel, so daß Änderung der Schubspannungen Ände¬ 
rung des chemischen Gleichgewichts bedingen muß. Dem¬ 
gemäß wird in Teil II untersucht, in welcher Weise in der 
Nähe des Umwandlungspunktes mit molekularen Um¬ 
setzungen verbundene Plastizität möglich ist. Im Anschluß 
hieran wird die ohne Störung der Beschaffenheit der Mole¬ 
küle verlaufende Plastizität betrachtet, bei welcher von der 
gegenseitigen Konfiguration der Molekeln abhängige »ver¬ 
borgene Koordinaten« des Gitters mitspielen. Plastizität 
amorpher und quasiisotroper Stoffe, plastische Deformationen 
von einfachen Kristallindividuen, die ohne Störung des 
Raumgitters (Gleitflächen usw.) und solche, die mit Störung 
desselben verlaufen, lassen sich unter diesen Gesichtspunkten 
behandeln. 


I. Die Optik der Myelinformen. 

A. Verhalten der Myelinformen in polarisiertem 
und natürlichem Licht. 

§ 1. Nach O. Lehmanns Ergebnissen 4 ) ist das optische 
Verhalten der zylindrischen myelinartigen flüssigen Kristalle 
ein solches, wie wenn sie aus molekularen Plättchen zu- 

T ) O. Lehmann, Zeitschr. f. Kristallogr., i, 97, 1877. 

2 ) Ann, d. Phys. 50, 555, 1916. 

3) Derselbe, Wied, Ann. 25, 173, 1885. Ann. d. Phys. 21, 381, 190b. 
Die neue Welt d. flüss. Krist. 

4 ) Derselbe, Sitzungsbericht d. Heidelb. Akad. 1813, Nr. 13. 



•4 


R. Schachenmeier 


sammengesetzt wären, die überall der Oberfläche also auch 
der Längsachse parallel sind, so daß die optische Achse 
allenthalben radial zur Längsachse gerichtet ist, da im Falle 
der Aggregation der Plättchen zu normalen Kristallen die 
optische Achse senkrecht zur Plättchenebene angenommen 
werden muß. 

Man könnte sich somit einen zylindrischen Myelinkristall 
in optischer Hinsicht vorstellen als ein Aggregat flacher 
Keile aus optisch einachsiger Substanz, die mit ihren 
Schneiden in der Zylinderachse Zusammenstößen und kri- 
stallographisch so orientiert sind, daß die optische Achse 
jedes Keils radial gerichtet ist. 

Im Falle kugelförmiger Myelinformen, bei denen die 
Längsachse auf einen Punkt reduziert ist, sind die Plättchen¬ 
moleküle ebenfalls der Oberfläche parallel also die optischen 
Achsen identisch mit den Kugelradien. Im Querschnitt ist 
somit im Falle zylindrischer wie kugeliger Myelinkristalle 
die Anordnung der optischen Achsen dieselbe, nämlich die 
der Kreisradien, und das vollständige Bild entsteht daraus 
durch Verschieben entlang der Längsachse bezw. durch Ro¬ 
tieren um einen Durchmesser. 

Läßt man paralleles Licht einfallen und beobachtet das 
durchgehende, indem man es ins Mikroskop eintreten läßt, 
so tritt infolge der beschriebenen Struktur bereits in natür¬ 
lichem Licht eine eigenartige Schattierung auf, die man aus 
dem in einem Querschnitt allein verlaufenden Vorgang ab¬ 
leiten kann. Zu dem Zweck überdeckt man die Erscheinung 
für Licht, welches parallel dem Querschnitt polarisiert ist, 
mit der, welche sich zeigt bei solchem, dessen Polarisations¬ 
ebene zum Querschnitt senkrecht steht, insofern man sich 
das natürliche Licht aus zwei derart beschaffenen Kompo¬ 
nenten zusammengesetzt denken kann. 

§ 2. Läßt man parallel der Einfallsebene (d. h. parallel 
dem Querschnitt) polarisiertes Licht einfallen, so verhalten 
sich die gebrochenen Strahlen als ordentliche. 

Ist das umgebende Medium Wasser, so verhält sich der 
Myelinkristall genau so wie eine Zylinderlinse. Das ein- 



I. Die Optik der Myelinformen. 


15 


fallende parallele Strahlenbündel muß also nach Passieren 
der Myelinform die Erscheinung der sphärischen Aberration 
zeigen, d. h. die Strahlen hüllen eine kaustische Fläche ein, 
auf welcher die Helligkeit am größten ist. Um zu unter¬ 
suchen, welche Erscheinungen die ins Mikroskop eintreten¬ 
den Strahlen erzeugen, ist zu beachten, daß das Mikro¬ 
skop ähnliche Abbildung von Objekten durch weitgeöffnete 
Bündel vermittelt und für ein aplanatisches Punktepaar 
korrigiert ist. Nur solche Strahlenbündel werden nach 
Passieren des Mikroskops wieder in einem Punkt, dem Bild¬ 
punkt, vereinigt, welche selbst von den Punkten eines un¬ 
endlich kleinen Flächenelements ausgehen, das im apla- 
natischen Punkt senkrecht zur Mikroskop-Achse steht. Nun 
wird dieses Flächenelement durchsetzt von den von der 
Kaustik herkommenden Strahlen. Die Dimensionen dieses 
Querschnitts der Kaustik sind kleiner als der Durchmesser 
der Myelin form selbst, und dieser (rund -- mm) ist ge¬ 

wiß klein gegen die Eintrittspupille des Mikroskops. Die Be¬ 
dingung, daß es sich um sehr kleine Flächenelemente handelt, 
ist somit erfüllt. Da die Richtung der das Flächenelement 
durchsetzenden Strahlen stetig wechselt, so ist jeder Punkt 
desselben Ausgangspunkt eines unendlich schmalen Strahlen¬ 
bündels, welches nach Passieren des Mikroskops wieder in 
einem Punkt vereinigt wird, also den betreffenden Punkt 
des Flächenelements abbildet. Somit wird der Querschnitt 
der Kaustik ähnlich abgebildet d. h. genau so, als wäre die 
Kaustik auf einem Schirm aufgefangen und vergrößert. Das 
entstehende Bild ist somit aus der Lehre von den Erschei¬ 
nungen an Kaustiken bekannt 1 ): Man sieht zwei helle 
Streifen, wenn der aplanatische Punkt A außerhalb der 
Strecke BC (Fig. i) 2 ) liegt (wobei B der Vereinigungspunkt 
der Randstrahlen, C der Zentralstrahlen ist), dagegen einen 
einzigen hellen Streifen, wenn A zwischen B und C liegt. 

Diese theoretische Folgerung wurde zunächst an Glas¬ 
fäden (von ca. ~ mm Durchmesser) geprüft. Es traten die 


l ) Vgl.z.B.Müller-Pouillet, Lthrb.d. Phys., 10. Aufl.,Bd. 2. 2 )s.S.65/66. 



i6 


R. Schachenmeier 


oben beschriebenen Streifen auf. Wird der Tubus von oben 
nach unten verschoben, so nähern sich die beiden hellen 
Streifen einander, berühren sich und entfernen sich wieder 
voneinander entsprechend den verschiedenen Lagen des 
aplanatischen Punktes A zu den Vereinigungspunkten ß 
und C (Fig. i). Diese charakteristische Variation der Streifen 
mit der Tubusstellung kann stets als Beweis dafür dienen, 
daß die Erscheinung von einer Kaustik herrührt. 

Die Prüfung an Myelinformen fällt ebenso aus, wenn 
inan parallel zum Querschnitt polarisiertes Licht einfallen 
läßt. Vor allem tritt genau die eben beschriebene Variation 
der Streifen mit der Tubusstellung auf. 

Die Gestalt der Kaustik und damit Lage und Breite 
der hellen Streifen sind eindeutig bestimmt durch Radius R 
und Brechungsindex n der zylindrischen Myelinform. Man 
kann also, wenn der Radius derselben bekannt ist, durch 
Ausmessen der Streifenbreite gewisse Rückschlüsse auf den 
Brechungsindex ziehen. Fällt der aplanatische Punkt A 
in den Hauptbrennpunkt C, so gilt für die halbe Streifen¬ 
breite R', wenn y die halbe Breite des einfallenden parallelen 
Bündels und n der Brechungsindex der Zylinderlinse ist 1 ): 


(i) 


R' =- 


2 A’ -' I 


2 ( n - — I) I 2 \ • 

ri s tr n 1 


Im Falle mikroskopischer Beobachtung ist y = R zu setzen. 
Man begeht mit Anwendung dieser Formel (i) einen Fehler, 
der zu vernachlässigen ist, wenn der Brechungsindex n 
nahezu = i ist. Sind R und R f gemessen, so kann in diesem 
Falle n nach (i) berechnet werden aus 


Ist die Voraussetzung bezüglich n nicht erfüllt, so gibt 
(2) doch auf alle Fälle richtig an, welcher Brechungsindex 
von zwei verschiedenen Zylinderlinsen der größere ist. Dies 
wird im folgenden verwertet. 

! ) Chwolson, Lehrb. d. Pliys. 1904, Bd. 2, S. 350. 



I. Die Optik der Myelinformen. 


17 


Setzt man in dem Klammerausdruck von (2) n = 1 e, 
entwickelt nach e und vernachlässigt höhere Potenzen von f, 
so wird derselbe = 1, und es ist: 


< 3 ) 




2 R' 


n 



Zur Messung von R und R' diente ein Okularmikro¬ 
meter. R' wurde nicht direkt gemessen durch Einstellung 
auf den Hauptbrennpunkt C (Fig. 1), sondern es wurde so 
eingestellt, daß der helle Streifen am schmälsten erscheint, 
wobei er am deutlichsten ist. Ist b die halbe Breite dieser 
engsten Einschnürung, so ist 2 ) 


( 4 ) 

folglich: 

( 5 ) 


R' =4 b 



Nach dieser Formel sind die Werte der folgenden Tabellen 
berechnet. 

Um die Methode auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen, 
wurden zunächst b und R an Glasfäden von verschiedener 
Dicke aber aus demselben Glas gemessen. Die Längen¬ 
angaben sind in Skalenteilen des Okularmikrometers ohne 
Umrechnung auf die wirklichen Maße gemacht. Die Glas¬ 
fäden waren in Wasser gelegt, die Werte von n beziehen 
sich also auf Wasser. 


Tab. 1. 


2 R 

2 b 


2,1 

0,5 

00 

9 

2,2 

00 

12 1 

! 2,85 

1,37 

22 

5,2 

1,38 


2 ) Vgl. z. B. A. Gleichen, Lehrb. d. geom. Optik. (Tcubner, 1902.) S. 123. 



18 


R. Schachenmeier 


Die Werte für den Brechungsindex des Glases sind, 
wie nach dem oben Gesagten zu erwarten war, zu groß, 
stimmen aber untereinander gut überein, was im folgenden 
allein wesentlich ist. 

Nach eben dieser Methode wurde nun auch der Brechungs¬ 
index des ordentlichen Strahles bei einer Reihe von Myelin¬ 
formen des Ammoniumoleats bestimmt. Die in der folgen¬ 
den Tabelle angegebenen Zahlen gelten für den Brechungs¬ 
index gegen Wasser. 

Tab. 2 



2 b 

11 

m 

! ■ 

D 3 

1,7 

0,1 

2 s 

1 «9 

1,6 

0,1 

3 6 

G 92 

D 52 

1 0,1 

4 6,5 

D 93 

D 5 

1 0,1 j 

5 r *5 

2,56 

>ö 

1 1 

; 0,1 

() , s 

2,2 

1.39 

0,1 1 

! r 10 

2,6 

1.42 

0.1 

| » 13 

3*2 

1.38 

0,2 1 

! 9 15 

3*5 

1.30 

O,! 

10 15 

CN 

',3 

0,1 

11 5 

1,0 

D 24 

0,1 ! 

1 1 - 

- i 

1.38 

1,20 

0,1 

1 13 8 

D 3 

D >3 

— 1 

14 11 

Do 

1,128 

0,1 

i 1 3 *2 

D 9 

1,128 

0.1 

I 6 I (> 

2,6 

M2 | 

1 

0,1 1 

i T , 18 j 

2,0 | 

I,06 

0,1 


*) Die Größe t wird in § 3 erklärt und verwertet. 








I. Die Optik der Myelinformen. 


1 9 


Die Tabelle 2 zeigt, daß der Brechungsindex von 
Myelinformen nicht konstant ist. Dieses Resultat war auf 
Grund der O. Lehmannschen Resultate über Myelinformen 
vorauszusehen. Ihnen gemäß 1 ) ist die Dicke der zylindrischen 
Myelinform bedingt durch das Mischungsverhältnis der beiden 
Molekülarten 2 ), und außerdem zeigt die Mischung der beiden 
flüssig-kristallinen Hydrate des Ammoniumoleats, welche 
hier in Betracht kommen, um so kleineren Brechungsindex, 
je mehr sie von dem wasserreicheren Hydrat enthalten 3 ). 
Demnach müssen Myelinformen von verschiedener Dicke 
auch verschiedene Brechungsindizes zeigen. Die Angaben 
der Tabelle 2 sind nach fallenden Werten des Brechungs¬ 
index geordnet. Es ist auffällig, daß die zugehörigen Radien 
der Myelinkristalle nicht in gleichem Sinne abnehmen, 
sondern etwa bei R=i5 ein Maximum aufweisen. Hierauf 
sowie auf die Berechnung der Absolutwerte des Brechungs¬ 
index n wird in § 7 —10 näher eingegangen werden. 

§ 3. Um den Verlauf der senkrecht zur Querschnitts¬ 
ebene polarisierten, außerordentlichen Strahlen zu kon¬ 
struieren, zerlegen wir den Querschnitt, wie in § 1 ange¬ 
geben, in ein Aggregat von Keilen und zwar so, daß in 
jedem einzelnen Keil die optische Achse parallel dem einen 
Schenkel des brechenden Winkels gerichtet ist. Da somit 
alle optischen Achsen in einer Ebene liegen, so folgt aus 
der Huyghensschen Konstruktion, daß jeder außerordent¬ 
liche Strahl, von dem ein beliebig kleines Stück in der 
Querschnittsebene verläuft, nach beliebiger Brechung niemals 
aus derselben heraustreten kann. 

Da ferner die Richtung der optischen Achse von Punkt 
zu Punkt sich stetig ändert, so muß auch die Geschwindig¬ 
keit des außerordentlichen Strahls von Punkt zu Punkt 
stetig wechseln. Mithin muß er eine stetige und stetig 
gekrümmte Kurve beschreiben Seien q der Radius Vektor 

x ) O. Lehmann, Phys. Zeitschr. 14, 1132, 1913. Prometheus 1913, 
Jahry. XXV, I, 2, Nr. 1249, 1250. 

2 ) S. a. § 5 u. Verh. d. d. phys. Ges. 16, 443, 1914. 

3 ) O. Lehmann, Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. 1913, Nr. 13, S. 21/22. 



20 


R. Schachenmcier 


und o) der (von einer beliebigen Nullage ab gerechnete) 
Winkel eines Polarkoordinatensystems, das den Querschnitts¬ 
mittelpunkt zum Anfangspunkt hat, so kann diese Kurve 
dargestellt werden durch die Gleichung: 

(0 q=/ H- 

Dabei ist f{(o) eine stetige und differenzierbare Funktion. Sie 
besitzt also für einen Winkel co 0 ein Minimum o 0 =/(oj 0 ), wobei 



ist. Die Tangente der Kurve steht daher in diesem Punkte 
(o Q (»ö) senkrecht zum Radius Vektor und damit auch zur 
optischen Achse. Um den Verlauf des außerordentlichen 
Strahls genauer zu analysieren, beginnen wir die Unter¬ 
suchung mit dem Keil, dessen optische Achse das Azimut 
o ) 0 hat. Der außerordentliche Strahl verläuft also in zur 
optischen Achse senkrechter Richtung. Trifft er nun auf 
die Grenzfläche des anstoßenden Prismas, so tritt er in ein 
Medium mit anders orientierter Schnittellipse ein. Die 
Iluyghenssche Konstruktion ergibt, daß er dabei dem 
Finfallslote zugebrochen wird. 

Dieselbe beruht auf dem Prinzip, daß die Elementar¬ 
welle, welche vom Punkt P aus (Fig. 2) in das zweite 
Medium eintritt, stets kongruent sein muß der vom Punkt 
Q im ersten Medium ausgehenden, da die optischen Kon¬ 
stanten der Substanz in beiden Fällen die gleichen sind. 
Dagegen erscheinen die Hauptachsen der Elementarwelle 
im zweiten Medium gegen die im ersten gedreht, da dies 
mit den optischen Achsen A t bezw. A 2 der Fall ist. Die 
Welle, welche im ersten Medium von Q nach R gelangt 
ist, ist also um P als Mittelpunkt im zweiten Medium mit 
der neuen optischen Achse A . 2 als Richtung der kleinen 
Halbachse zu beschreiben. Die Tangente von R an diese 
Ellipse P gibt die Wellencbene im zweiten Medium. 

Für die Richtung des gebrochenen Strahles PS sind 
nun 3 Fälle möglich: 1. Fällt auf A 2 die kleine Halbachse der 



I. Die Optik der Myelin formen. 


2 I 

Ellipse P (negative Doppelbrechung), so wird PS dem Ein¬ 
fallslot zugebrochen. 2. Fällt auf A 2 die große Halbachse 
(positive Doppelbrechung), so wird PS vom Einfallslot weg¬ 
gebrochen. 3. Sind beide Halbachsen einander gleich, so 
behält PS die Richtung des einfallenden Strahles. An der 
Grenzfläche jedes weiteren Keils liefert die nämliche Kon¬ 
struktion wieder dieselbe Unterscheidung (Fig. 3). Es gilt 
somit die folgende Regel: 

Verfolgt man den außerordentlichen Strahl vom Punkt 
größter Annäherung an den Mittelpunkt aus nach beiden 
Richtungen, so wird er in negativer Substanz bei jedem 
Eintritt in ein neues Prisma dem Lote zugebrochen, in 
positiver Substanz dagegen vom Lote weggebrochen. Seine 
Krümmung erfolgt also stets in einem und demselben Sinne. 
Er ist überdies eine monoton gekrümmte Kurve: Die 
Krümmung in einem Punkte des Strahls ist um so kleiner, 
je weiter derselbe vom Mittelpunkt entfernt ist. Der Punkt 
größter Annäherung an den Mittelpunkt soll Scheitel ge¬ 
nannt werden. Liegen die Scheitel zweier Strahlen auf 
einem Radius, so sind die beiden Winkel, unter denen sie 
einen beliebigen andern Radius schneiden, stets einander 
gleich, wie aus der Konstruktion desselben folgt. D. h. alle 
Strahlen, deren Scheitel auf einem Radius liegen, sind ein¬ 
ander ähnlich und ähnlich gelegen (Fig. 4). 

Tritt nun der außerordentliche Strahl wieder aus dem 
Myelinkristall aus, so folgt aus den Stetigkeitseigenschaften 
seines Verlaufs im Kristall, daß seine Richtung nach dem 
Austritt eine stetige und differenzierbare Funktion des Ein¬ 
fallswinkels auf der Vorderseite der Zylinderlinse sein muß. 
Läßt man paralleles Licht einfallen, so bedeutet dies, daß 
die austretenden Strahlen eine Enveloppe, d. h. eine Kaustik, 
einhüllen müssen. Ist die Substanz negativ doppelbrechend, 
so muß die Spitze derselben, d. h. der Hauptbrennpunkt 
des austretenden Bündels, näher bei der Myelinform liegen 
als der Hauptbrennpunkt der ordentlichen Strahlen, wie aus 
der Krümmung der außerordentlichen Strahlen folgt. Nach 
dem in § 2 Gesagten muß diese Kaustik im Mikroskop 



R. Schachcnmeier 


wieder je nach der Tubusstellung zwei bezw. einen hellen 
Streifen erzeugen. In der Tat zeigt eine Myelinform in 
senkrecht zum Querschnitt polarisiertem Licht wieder die 
beiden mit der Tubusstellung variierenden hellen Streifen, 
und zwar ist die Tubusstellung tiefer als beim ordentlichen 
Strahl. 

Es sind nun noch (in negativer Substanz) diejenigen 
außerordentlichen Strahlen zu berücksichtigen, welche im 
Innern total reflektiert werden 1 ). Sei a der Einfallswinkel 
auf der Vorderseite, ß derjenige auf der Rückseite der 
Myelinform, dann ist infolge der Stetigkeitseigenschaften des 
außerordentlichen Strahls ß eine stetige und differenzierbare 
Eunktion von a: 

(i) f! = F («). 

ß besitzt also im Intervall (o, *) ein Maximum ß 0 bei einem 

Winkel a Q . Wenn nun ß 0 großer ist als der Grenzwinkel 
der totalen Reflexion, so läßt sich zu beiden Seiten des 
Strahls mit dem Einfallswinkel n 0 ein Bündel abgrenzen, 
innerhalb dessen alle Strahlen an der Rückseite der Myelin¬ 
form total reflektiert werden. 

Ein total reflektierter Strahl verläuft nun nach der 
Reflexion genau symmetrisch zu seinem Weg vor der¬ 
selben. Symmetrieachse ist der durch den Umkehrpunkt 
gehende Radius (Eig. 5). Daraus folgt, daß eine zweite 
totale Reflexion unmöglich ist, und der Strahl unter einem 
Brechungswinkel austritt, der seinem Einfallswinkel a gleich 
i^t. Die nach einmaliger totaler Reflexion austretenden 
Strahlen ändern daher wiederum stetig ihre Richtung mit 
dem Einfallswinkel u; sie hüllen daher nach der obigen 
Überlegung ihrerseits eine Kaustik ein. 


x j Totale Reflexion kann eintreten, wenn der Punkt J/ t , nach welchem 
die optischen Achsen radial gerichtet sind, nicht genau zusammen füllt mit dem 
Mittelpunkt M des kreisförmigen Querschnitts der Myelinform (Fig. 5) oder, 
wenn der Querschnitt schwach elliptisch ist. 



I. Die Optik der Myelinformen. 


2 3 


Alan beobachtet bei manchen Myelinformen im Mikroskop 
zwei feine helle Linien, deren gegenseitige Lage in der 
charakteristischen Weise von der Tubusstellung abhängt; 
sie rühren also von einer Kaustik her. Ihr Licht ist außer¬ 
dem vollkommen polarisiert senkrecht zum Querschnitt, kann 
also nur von außerordentlichen Strahlen herstammen. Da 
aber in dieser Polarisationsrichtung schon zwei andere, 
breitere Streifen auftraten (bei höherer Tubusstellung), so 
muß angenommen werden, daß diese den direkten, jene 
den total reflektierten außerordentlichen Strahlen zugehören. 

Es kann Vorkommen, daß die feine helle Linie von 
einem eingeschlossenen Faden isotroper Mutterlauge her- 
rührt 1 ), ist aber dann nicht polarisiert. Zuweilen können 
sich auch beide Erscheinungen überdecken. Da die feine 
Linie sehr scharf hervortritt, so kann sie als bequemes Hilfs¬ 
mittel dienen, um die Schwingungsrichtung des Polarisators 
senkrecht oder parallel zur Querschnittsebene einzustellen. 

Die außerordentlichen Strahlen sind einander ähnliche 
Kurven (Fig. 4). Die Breite des einfallenden Bündels, 
welches total reflektiert wird, ist daher proportional dem 
Radius des Querschnitts. Stellt man auf den Hauptbrenn- 
punkt der zugehörigen Kaustik ein, so muß folglich auch 
die halbe Streifenbreite t proportional dem Radius sein, d. h. 

t 

(2) = const. 

Diese Beziehung bestätigt sich nicht. Es ist vielmehr l bei 
dicken Myelinformen nicht größer als bei dünnen (vgl. Tab. 2 
S. 12). Daraus folgt, daß die Doppelbrechung bei Myelin¬ 
formen von verschiedener Dicke verschieden sein muß in 
Übereinstimmung mit dem in § 2 gefundenen. 

§ 4. Die Überlagerung der dem ordentlichen bezw. 
außerordentlichen Strahl zugehörigen Erscheinungen läßt in 
natürlichem Licht helle und dunkle Streifen auftreten, deren 


J ) O. Lehmann» Sitzungsber. d. Heidelb. Akad., 1911, Nr. 22, p. 24; 
1913, Nr. 13, p. 22. Prometheus, 1 . c. *Die Neue Welt«, p. 264, 265. 



-4 


R. Schachenmeier 


Zahl, Lage und Schattierung mit der Tubusstellung variiert. 
Man kann an ein und demselben Myelinkristall bei immer 
tieferer Tubusstellung der Reihe nach alle drei im vorigen 
besprochenen Kaustiken mit ihren charakteristisch variieren¬ 
den hellen Streifen zur Erscheinung bringen (vgl. auch Fig. 6). 
Dabei findet man, daß die Hauptbrennweite der außerordent¬ 
lichen Strahlen kleiner ist als die der ordentlichen. Nach 
i; 3 ist dies bei negativ doppeltbrechenden Substanzen der 
Fall; die Myelinformen des Ammoniumoleats sind also negativ. 


B Zusammenhang der optischen und mechanischen 
Konstanten von M\ r elin kristallen mit dem Mischungs¬ 
verhältnis ihrer Komponenten. 

§ 5. Wie bereits oben S. 5 angegeben, sind die Myelin¬ 
formen des Ammoniumoleats Mischkristalle. O. Lehmann 1 ) 
nimmt nämlich in denselben zwei Hydrate des Ammonium¬ 
oleats an. In der Richtung der Längsachse der Myelinform 
wirkt nach seiner Ansicht eine Kraft, welcher der durch die 
halbkugeligen Enden ausgeübte Kapillardruck das Gleich¬ 
gewicht hält und aufzufassen ist als Wirkung der Expansiv¬ 
kraft, der Turgorkraft und der molekularen Richtkraft. Ihre 
Größe ist eindeutig bestimmt durch das Mischungsverhältnis 
der beiden Hydrate und muß sich aus demselben nach den 
thermodynamischen Hauptsätzen berechnen lassen. 

Ist das gegenseitige Größenverhältnis von Wassergehalt 
und Längskraft gefunden, so wird es möglich, durch L T nter- 
suehung des mechanischen Verhaltens der Myelinformen ihr 
Mischungsverhältnis zu bestimmen. Es kann also dann 
Ammoniumoleat mit demselben Wasserzusatz versehen und 
daran nach gebräuchlichen Methoden Bestimmung der 
optischen Konstanten vorgenommen werden. 


*) O. Leb mann, Ann. d. Phys., 43, 118, 1914 und 47, 832, 48, 182, 1QI 5. 
1 *einer: Die Delire von den flüssigen Kristallen und ihre Beziehung zu den 
Problemen der Biologie. Sonderabdruck aus den »Ergebnissen der Physiologie 
\"\\ D. Ashcr u. K. Spiro, Bd. 16, 482, 1917. 



I. Die Oplik der Myelinformen. 


25 


§ 6. Zu der gesuchten numerischen Beziehung zwi¬ 
schen Wassergehalt und der aus Expansivkraft und mole¬ 
kularer Richtkraft resultierenden Längskraft führen die 
thermodynamischen Potentiale. Wir denken uns einen gerad- 
zylindrischen Myelinkristall aus Ammoniumoleat allseitig 
von Wasser umgeben. Er sei an beiden Enden frei, d. h. 
halbkugelig abgerundet. 

Das so definierte System enthält drei Molekülarten, 
nämlich die beiden Hydrate des Ammoniumoleats und 
Wasser, deren Mengen der Reihe nach mit w t , ;// 2 , /// 8 be¬ 
zeichnet werden sollen. Das System zerfällt außerdem in zwei 
Phasen: den Myelinkristall und das umgebende Wasser. 

Demnach zerlegen sich die Energie £/, die Entropie S 
und das erste thermodynamische Potential f des Systems 
jeweils in zwei den einzelnen Phasen zugehörige Glieder: 

in U= U' + U ”, S = S’ -h S\ $ = f' -4-. 

Die eiuf den Myelinkristall bezogene Funktion £' ist daher 
definiert als: 


(21 ? = U’-S'T, 

wo T die absolute Temperatur des Systems ist. 

Bei irgend einem unendlich kleinen Prozeß unseres 
Systems vermag sich der Energieinhalt U ' des Myelin¬ 
kristalls auf drei verschiedene Arten zu ändern: 

1. Es wird die mechanische Arbeit da geleistet. Die¬ 
selbe soll positiv oder negativ gerechnet werden, je nach¬ 
dem sie von den am Myelinkristall angreifenden äußeren 
Kräften 1 ) oder gegen dieselben geleistet ward. 

2. Es wird vom Myelinkristall die Wärmemenge dQ 1 
aufgenommen oder abgegeben. Im ersten Fall soll dQ' 
positiv, im zweiten negativ gerechnet werden. 


l ) Als solche sind die Kapillarkräfte oder auch (orientierende) Adhäsions¬ 
kräfte des Glases zu behandeln. 


Verhandlungen, 27. Bd. 



26 


R. Schachenmeier 


3. Infolge von Umwandlung von Molekülen des einen 
Hydrats in solche des anderen wird die Wärmemenge dlJ 
gebunden oder frei. Im ersten Fall ist dll positiv, im 
zweiten negativ. 

Demnach gilt allgemein: 

(3) dU' = da-k-dQ' + dll. 

Nach (2) ist ferner: 

(4) d >' = dU' - TdS' - S' dT. 

Gemäß der Definition der Entropie S' ist 

(5) TdS' = dQ' = dU' -da-dU , 
also: 

(6) d? = dU' - dU' Wen- dH-S'dT , 

(7) di' = du-t-dll—S'dT. 

Da dH von der Änderung der Molekülzahlen m\, ///' 2 
abhängt, so kann gesetzt werden 

(8) dü = M x dm\ M 2 dm'.,. 

Als äußere Kräfte kommen nur der vom umgebenden 
Wasser ausgeübte hydrostatische Druck P und die von 
den halbkugeligen Enden in der Längsrichtung erfolgende 
Kapillarkraft p in Betracht. Ist / die Länge, V das Volumen 
der Myelinform, so ist darnach die äußere Arbeit da: 

(9) da = pdl-*-PdV 
Nach (7) ist also 

(1 o) d‘' = pdl+ Pd V-+- M x dm\ -h M t dm\ - S'dT. 

Die Funktion £' hängt also von den Variablen ab: 


(11) 


m\, m' it T, P, p, V, l. 



I. Die Optik der Myelinformen. 


27 


Die Funktion £" hängt, da sie sich auf das umgebende 
Wasser bezieht, nur ab von 

(12) <3, T y 1 \ 

Das Potential £ = £'-+- £" des vorgelegten Systems enthält 
somit die Parameter: 

(13) m\, m' 2 , m" r>% T, P % p, V y l. 

Führt man das zweite thermodynamische Potential £ 
ein nach 1 ) 

(14) c = I — pl— P V, 

so enthält es dieselben Variablen (13). Dies sind also die 
den thermodynamischen Zustand bestimmenden Parameter 
des Systems. 

Es sind nun die unabhängigen Parameter zu bestimmen 
d. h. diejenigen, welche, wenn willkürlich vorgeschrieben, die 
Werte der übrigen, also den gesamten thermodynamischen 
Zustand eindeutig bestimmen. 

Der allseitige Druck P kann bei allen Beobachtungen 
als konstant gelten, scheidet also als Parameter aus. 

Von den drei Variablen /, /V ist eine durch die beiden 
andern bestimmt. Denn wenn R der Zylinderradius und 
a die Kapillarkonstante von wässerigem Ammoniumoleat 
gegen Wasser bedeuten, so ist 

(■ 5 ) 

ferner 

(16) 
also 

(17) 


') Voigt: Thermodynamik Bd. I Göschen, Sammlung Schubert XXXIX, 
S. 295. 


p = 2 71 a R 


V = R- n l 


v= A 1 -. 

4 <7 VT 



28 


R. Sehachenmcier 


Durch die Variablen 

(iS) m\, m\, T, p, l 

sind also gewiß alle übrigen Parameter bestimmt. 

Offenbar besteht unser System nur aus zwei unab¬ 
hängigen Bestandteilen. Denn ist beispielsweise die in der 
Myelinform vorhandene Menge des ersten Hydrats in\ sowie 
des Wassers m' a bekannt, so ist dadurch auch die Menge 
des zweiten Hydrats m\, bestimmt. Seien vi ”,, w" 2 , ///"., 
die in der zweiten Phase (dem Wasser) enthaltenen Sub¬ 
stanzmengen (so daß 7 /iP == m* = o; m\ = w/ 2 , w 2 " = o; 
viP -+- vij — m 3 ), und sei das zweite thermodynamische 
Potential 4 in seine den beiden Phasen zugehörigen Glieder 
zerlegt £ = £' -4-£". Dann gelten für 2 Komponenten in 
2 Phasen die Bedingungsglcichungen ’): 

_ <C” </;•' _ 

^ dm x ’ t/mp' t/m.p 

Die Zahl der noch willkürlichen Parameter (18) wird 
durch dieselben auf 4 eingeschränkt. Es können als solche 
dienen 

( 20 ) Vl\ , 7 ’, p. 

Es seien nun dm\, d/v'a, d'T , dp die bei irgend einer 
Verschiebung des Gleichgewichts eintretenden Parameter¬ 
änderungen. Ferner seien Q, s bei einer virtuellen Zu¬ 
standsänderung (unter konstanten T, p) das Verhältnis der 
von außen zugeführten Wärme bezw. der Längenänderung 
der Myelinform zur ausgetretenen Menge Wasser, ferner 

<! = Daml « ilt2 ^ 

( 2 .) ( j.,dT— y.dp 

oder abgekürzt: 

( 22 ) f,dr 

M Planck: Veil. üIkt Thermodynamik, 3. AufI., 1911, § 20!. 

*••) l'lanc k, I. c., Kap. 3. 




— S ■ dp — dw'v> = O , 



I. Die Optik der Myelinformen. 


29 


Wird die Temperatur konstant gehalten, so ist, wenn 
w/3 = w zur Abkürzung eingeführt wird: 

(23) i. dp = — xp dw. 

Die Längskraft p' ist entgegengesetzt gleich dem Ka¬ 
pillardruck p, der von den halbkugeligen Enden ausgeübt 
wird. Somit ist die Beziehung gewonnen, welche zwischen 
dem Mischungsverhältnis 7v und der Längskraft /' ver¬ 
schiedener Myelinformen bestehen muß: 

(24) -dp' = v- dzv. 

Vergleicht man die Längskraft p'i eines Myelinkristalls vom 
Wassergehalt zv-i mit der entsprechenden Größe p\ eines 
andern Myelinkristalls vom Wassergehalt zv, so ist 

(25) p'i —p\ = -’f (tpj — a-j) 

(falls die Differenz zv-j — zvi nicht sehr groß ist, so daß <p y 
in diesem Intervall als konstant betrachtet werden darf). Für 
einen weiteren Myelinkristall gilt 


(26) 

folglich 

P'i—fl = V -y(wa— 7 t>-S) 


(27) 

(P's— P'i)-. (p'i— p'i) = (tc 3 — zv >):: 

W -2 — 7 t' t) 


oder mit den Abkürzungen 

(28) - p\ = J jp', p\ — p\ = !,/>', -.er., - = A.,-.u , a’j - w, = J 2 7 t-, 

(29) J >p'Aip' = J >7V.Ji7V . 

Anstelle von p' kann nach (15) der Radius des Myelin 
kristalls eingeführt werden, so daß 


( 30 ) 


A>R\A\R = A-izo:AiZO . 



30 


R. Scliachemneier 


Es ist also möglich, durch Messung der Dicke den 
Wassergehalt einer Myelinform zu bestimmen, allerdings 
nur relativ zu einem willkürlichen Vergleichskristall. Die 
Berechnung wird in § 9 an den in Tabelle 2 S. 12 an¬ 
gegebenen Werten ausgeführt werden, nachdem zuvor noch 
eine Methode gewonnen ist, um über den absoluten Wert 
des Mischungsverhältnisses w Aufschluß zu erhalten. 

§ 7. Wasserhaltiges Ammoniumoleat unterscheidet sich 
von einem Myelinkristall (vorausgesetzt, daß der Wasser¬ 
gehalt gerade gleich sei) nur dadurch, daß die für Myelin¬ 
kristalle charakteristische regelmäßige Anordnung der Mole¬ 
küle fehlt. Während dort der Expansivkraft, Turgorkraft 
und molekularen Richtkraft das Gleichgewicht gehalten 
wird durch den Kapillardruck, so haben wir hier nach 
O. Lehmanns Untersuchungen über die Struktur flüssiger 
Kristalle 1 ) die Moleküle der Substanz unter der Wirkung 
gegenseitig aufeinander ausgeübter Kräfte in stabilen Gleich¬ 
gewichtslagen zu denken nach Art, wie sie bei astatischen 
Magnetsystemen auftreten würden 2 ). Die mannigfachen 
stabilen Anordnungen der Moleküle, die so möglich sind 
(z. B. Fächerstrukturen, konische Störungen usw.), sind von 
O. Lehmann angegeben. 

Wir betrachten nun ein Volumelement in Gestalt eines 
Parallelepipeds. Die infolge der eben genannten Kraft¬ 
wirkungen an demselben angreifenden Kräfte lassen sich 
zerlegen in die 6 Komponenten eines Spannungstensors: 

( 1) A , , Ay , A s , I y , -I s ) 1 

die wir auch der Reihe nach als 

(2) Ai, A •_>, Aa, A'i , A5, AI; 

schreiben. 

x ) Sitzun^sber. d. Heidelb. Akad., 1913, Nr. 13, S. 16 17. Prometheus, 
1 . c. »Die neue Welt-, S. i 7 — 29. 

2 ) »Die neue Welt , S. 343—367. 



I. Die Optik der Myelinformen. 


31 


Werden von den Spannungen (2) alle konstant gehalten 
bis auf eine, X,-, so liefert eine der im vorigen § 6 analoge 
Ableitung die zu (23) § 6 entsprechende Beziehung zwischen 
der Spannung AT, und dem Wassergehalt m ' 3 = 7v 

(3) S - f dXi — — y'dio . 

Dabei sind s', y' analog definiert wie die Größen s, y> 
in (23) § 6, haben aber andere Werte. Wird also die 
kristalline Flüssigkeit infolge äußerer Kräfte in Strömung 
versetzt 1 ), so muß damit auch eine molekulare Veränderung 
einhergehen (die mit Aufhören der Kraft natürlich rück¬ 
gängig wird). 

Nehmen wir nun zunächst an, es sei auf irgend eine 
Art bewirkt, daß bei der Strömung keinerlei Änderung des 
Wassergehaltes w eintrete, dann ist das am Volumelement 
angreifende Spannungssystem ohne thermodynamische Be¬ 
deutung und rein nach den Regeln der Hydrodynamik zu 
bezeichnen. Lassen wir andererseits auch molekulare Ver¬ 
änderungen zu, so sind die Komponenten des Spannungs¬ 
tensors zugleich auch thermodynamische Parameter. 

Die wirklich eintretende Strömungsbewegung ist somit 
eine Superposition aus zwei Bewegungen. Die Parameter 
der einen dieser Bewegungen haben keinerlei Beziehung 
zum thermodynamischen Zustand, dagegen sind die der 
zweiten Art wirklich thermodynamische Zustandsvariable. 

Seien die Spannungskomponenten 

(4) Xx', X y ', A 7 , Yy\ 17 , X' 

Parameter der ersten Strömungsart, ferner 
(. 5 ) U, V, 70 

die Geschwindigkeitskomponenten der wirklich vorhandenen 
Strömung. Dann gilt 2 ) für A',-', X y ' und analog für die 
übrigen Größen (4) 

>) Siche O. Lehmann, Ann. d. Phys., 56, 321; 57, 244, 1918. 

2 ) Vgl. z. B. Enz. d. math. Wiss., IV, 15. Hydrodynamik, Nr. 12. 



32 


R. Schachenmeier 


(6) Xx = — p — 0 + 2v^,u. 2 weitere Gl. f. iy, Z z \ 

( 7 ) X; = + u. 2 weitere Gl. f. X'. Y ', 

wobei / der Druck und v der Reibungskoeffizient ist, ferner 



0 = 

Öu Ö 7 ’ Ö 7 v 

öx ov dz 


Seien weiterhin 




Y " 

vr » 

V" 

" ‘ V » 

Y " V' * 1 ' * 

1 ; » 1 y » z » 

Z," 


die Spannungen, welche Parameter der zweiten Strömungs¬ 
art sind. Dann gilt: 

(i o) X ” = / 0 2 A' ~ , usw. 



wobei jetzt A, wesentlich von der molekularen Struktur 
und dem Wassergehalt abhängen. 

Die bei der Strömung u, v, xv wirklich auftretenden 
Spannungen 

I 2 j c , , -.1 2 , 1 , , 1 ; , j 


müssen sich sowohl aus (io), (i i) als aus (6), (7) zusammen¬ 
setzen, da die Bewegung eine Superposition aus zweien ist. 
Demgemäß ist 

(13) X, = A 7 -+-X/', usw. 


und nach (10), (11), (6), (7) 


(« 4 ) 




+• A j 0 ■+• 2 {v -+- A') 

du\ 

ävj ’ USW - 


usw. 



I. Die Optik der Myelin formen. 


33 


Hieraus folgen die Bewegungsgleichungen (Im Falle 
stationärer Bewegung und kleiner Geschwindigkeiten) 1 ): 


(15) 


1 1 

+ 

fl 



dy 

\ 

M 1 ^- 

+ 

+ X + X’] 

s die Dichte ist und 

Au = 

d-u d 1 

ö.v 3 ~ l ~ 67* d 


dx 


-4- (>' /') Au s X = o 

1 / ' # , « f\ 4 T 

d V ■*- 1V + X ) lv -*- s} = 0 


du dv 

(y = - -h y- 

d.v dy 


(h.- 
(b * 


Bei den hier besonders in Betracht kommenden Strö¬ 
mungen durch Kapillarröhren ist & in der ganzen Kapillare 
öS 

konstant = o, also , =0, usw. Wird ferner die x -Achse 

dx 

in die Richtung der Kapillare verlegt, so reduzieren sich die 
Bewegungsgleichungen (15) auf 


(16) 


(V - 4 - k f ) 


d 2 u 

dx 2 


1 dp 
s dx 


Wird also nach der Poisseuilleschen Methode der Reibungs¬ 
koeffizient von Hydraten des Ammoniumoleats bestimmt 
(vgl. den folgenden § 8), so erhält man die Größe t] = v + 2 ', 
in welcher das Glied X' vom Wassergehalt w abhängig ist. 
Für die drei Mischungsverhältnisse rci, «’•_>, re» erhält man 
die Werte 


(17) t]i = V ■+■ X\ )] > = >’-+- /'•_> »/;•} = V -+- 7 .';! 

also 2 ) 

(18) Ji>; = JtA' , J, >) = J_>/' . 

Sind W" 1 . W,"), X,' 2 ' die Spannungen, welche bei den drei 
verschiedenen Mischungsverhältnissen denselben Strömungs- 

1 ) Enz. d. math. Wiss., 1 . c. 

2 ) Bezüglich der Abkürzung usw. vgl. § 6. 



34 


R. Schachenmeicr 


zustand aufrecht erhalten, so ist wegen (14), wo & = o zu 
setzen ist: 

i 1' i du 

(ig) ,Ji A, = h >} ■ d ~ , usw. 

Also gilt z. B. für die in der Längsrichtung des Klementar- 
parallelepipedons wirkende Spannung JV|: 

(20) . 1| Aj : i» Ai = 11 >] : . fj . 

Nach (3) ist auch 

(21) .f 1 A1 : ,L A1 = . Ii ze : . l-jzu . 

Wählt man die Werte zui , z v ». zcj gleich den in (30) £ 6, so 
gilt nach (30) § 6 

(22) J_> R : Jj R = . I.) i] : Ai i) . 

Bestimmt man also für wasserhaltiges Ammoniumoleat 
von verschiedenem Wassergehalt Wi , zu», zu 3 die Reibungs¬ 
koeffizienten rji, i]2, , so kann man aus dieser Gleichung 

die Radien R\ , R>, R A der Myelinformen von gleichem 
Wassergehalt zv\, zu», zu A und Brechungsindex berechnen, 
vorausgesetzt, daß der Radius Ro der Myelinform vom 
Mischungsverhältnis zuo bekannt ist. Man hat also nur das 
Mischungsverhältnis bezw. den Brechungsindex einer Mye- 
linform auf direktem Weg zu bestimmen. Um dies auszu¬ 
führen benützt man die Tatsache, daß die in Tab. 2 § 2 
eingetragenen und nach Formel (5) § 2 berechneten Werte 
von n dann den Brechungsindex der betreffenden Myelin¬ 
form richtig angeben, wenn n nahezu gleich 1 ist. Demnach 
hat die Myelinform vom Radius 18 den Brechungsexponent 
1.06. Man setzt nun zu wasserfreiem Ammoniumoleat soviel 
Wasser, daß der Brechungsindex 1 ) der gleiche wird und hat 
in dem so gefundenen Wassergehalt den Wert zu für die 
Myelinform. 


*) Derselbe wurde bestimmt mit dem Ab besehen Totalreflektometer. 



I. Die Optik der Myelinformen. 


35 


§ 8. Die nach dem vorigen nötigen Messungen wurden 
folgendermaßen ausgeführt: 

Man verreibt eine gewogene Menge wasserfreien 
Ammoniumoleats 1 ) mit Wasser (das mit Ammoniak gesättigt 
ist) und wägt das entstandene Produkt wieder, woraus sich der 
Wassergehalt w berechnen läßt. Der Brechungsindex wird 
mit Hilfe eines Abbe sehen Totalreflektometers bestimmt. 
Zur Bestimmung des Reibungskoeffizienten bringt man in 
eine dickwandige Kapillare einen Faden der Substanz und 
treibt denselben vermittelst angesetzter Pumpe vom einen 
Ende zum andern. Die Zeit, welche er braucht, um den 
Weg zwischen zwei an der Kapillare angebrachten Marken 
zurückzulegen, wird mittels einer Stechuhr gemessen. 

Diese Methode gestattet, mit sehr geringen Substanz¬ 
mengen zu arbeiten. Andere, bei gewöhnlichen Flüssig¬ 
keiten üblichen Methoden, bei welchen etwa aus einem 
weiteren Gefäß die Flüssigkeit in die Kapillare eintritt, leiden 
an erheblichen Fehlerquellen, wenn flüssig-kristalline Sub¬ 
stanzen von verhältnismäßig großer Zähigkeit untersucht wer¬ 
den sollen: Es bleiben nämlich Teile derselben an den Wän¬ 
den des Gefäßes haften, wodurch die Durchflußzeit gefälscht 
wird. Diese Fehlerquellen können bei der »Fadenmethode* 
genau kontrolliert und ausgeschaltet werden. Daß dieselbe 
einwandfreie Resultate liefert, wurde erprobt an Wasser .und 
Alkohol, deren Reibungskoeffizienten sich auf 4 Dezimalen 
übereinstimmend mit den aus den »Phys.-chem. Tabellen« 
von Landolt-Börnstein entnommenen Werten ergaben. 

Ist r der Radius der Kapillare, p der Druck, / die 
Länge des Fadens, L der Abstand zwischen den beiden 
Marken und t die Zeit von dem Moment, wo das hintere 
Ende des Fadens die erste Marke passiert, bis das vordere 
Ende zur zweiten Marke gelangt, dann ist der Vorgang 
derselbe, als ob aus einer Kapillare von der Länge l das 
Flüssigkeitsvolumen 

(1) v — [L — /) r-ji 

l ) Hergestellt durch Einleiten von Ammoniak in Ölsäure bei ca. 50°. 



36 R. Schachenmeier 

ausgeflossen wäre. Dasselbe ist aber nach Poisseuille') 


(=) 


I Ti r 


V 8 


/ P x ' 


worin ?/ der Reibungskoeffizient ist. Aus (i), (2) folgt: 

r-/>r 


( 3 ) 


8 ,, = 


KI- - i) 


Die Durchflußzeit t ist zu Anfang des Versuchs 
zu hoch, weil die Wände der Kapillare sich zuerst mit 
einer Flüssigkeitsschicht überziehen müssen, bevor der 
Poisseuille sehe Strömungszustand eintritt. Nach mehr¬ 
maligem Hin- und Herschieben des Fadens nimmt r kon¬ 
stante Werte an. Was jetzt noch an Schwankungen auf- 
tritt, hat einerseits Änderungen der Fadenlänge zur Ursache 
durch Haftenbleiben von Substanz an der Glaswand, die aber 
beim Zurückschieben wieder aufgenommen wird. Es wird da¬ 
her für jede Durchflußzeit auch das zugehörige / gemessen. 
Andererseits rühren kleine Schwankungen in der Durch¬ 
flußzeit auch von Änderungen in der Struktur der kristallinen 
Flüssigkeit her. Es wird daher stets ein Mittelwert aus 
zahlreichen Beobachtungen benützt. 

Die Radien der Kapillaren wurden mittels Lupe und 
Glasmaßstab, der Druck in cm Quecksilbersäule gemessen. 

Die Zahlenwerte der nachfolgenden Tabelle sind nicht 
auf absolute Einheiten umgerechnet, haben also nur relative 
Bedeutung. 

Der Gang der Bestimmung soll an dem Beispiel der 
Nr. 5 Tab. 4 (S. 31) ausgeführt werden: 


7V = 0,3407 . 


L — 10. p — 18. r = 1. 


») Vgl. t. B. Kohl rausch, Prakt. Phys., 12. Aufl., 1914, S. 264. 



I. Die Optik der Myelinformen. 


37 


Tab. 3. 


Nr. der 
Messung 

Jpadenlänge 

Durchfluß- 

zeit 

Nr. der 
Messung 

j Faden länge 

Durchfluß- i 
zeit 

1 

1 4’9 

1 

- - n 

:o 

7 

4-4 

4/ 

2 

i 

1 44 

1 

55 " 

8 

44 

49" 

3 

44 

50" 

9 

44 

4 (> -5" I 

4 

44 

5 3 " 

IO 

44 

48 " 

5 

44 

52" 

1 1 

44 

45" 

6 

44 

1 52" 



i 1 


Mittel aus den Messungen Nr. 4—11: 

r — 49" / = 44 


S>, 


18-49 

4,4 • 54 


= 35.3 


Tab. 4. 


M 

1 

J 7* 

. 

8 *1 

I 

O 

M65 

50 i 

2 

0,140 

1,1015 

20 

3 

0,299 

~ 

6,9 

4 

0,310 

I,O 05 

7,2 | 

5 

0.341 

1,1015 

'«ri 

00 

6 

0,404 

1,0895 

123 


0,616 

1,082 

«5 

8 

0,625 

1 ,08 I 2 

" j 

9 

o ,733 

1,0737 

174 ! 

IO 

! 1,248 

1,05 

»3 

n 1 

* < 5,3 | 

| 1,006 

oö 







R. Schachenmeier 


3 s 


§ 9. An den Werten der Tab. 4 § 8 wurde nun die in 
£ 7 angegebene Berechnung ausgeführt. Nr. 11, 10 Tab. 4 
haben annähernd gleichen Brechungsindex und Wasser¬ 
gehalt wie Nr. 17, 16 Tab. 2 S. 12. 

Bildet man somit aus Nr. 11, 10, 9 Tab. 4 die Werte 

= 12,5 ij >] = 4.3 

und aus Xr. 17, 16 Tab. 2 den Wert 

Ji R = — 2 und setzt Io R = x , 

so ist wegen (22) § 7 

J i ij : Jo = .J, R : x , 

■* = — 0,7 . 

Die Myelinform vom Radius 

R,\ = /vj -fr- JoAo = 16 — OJ = I 5 o 
hat somit nach Tab. 4 Xr. 9 den Brechungsindex 

w = 1,0737 . 

Aus Xr. 10, 9, 8, Tab. 4 folgt in derselben Weise 

Jo }} : J ; * ij = 7\ : jt' 

jv = — 1 

A^ = A3 -4- I3 R = 15,3 — 1 = 14,3. 

Die Myelinform vom Radius 14,3 hat nach Tab. 4 Xr. 8 den 
Brechungsindex 

n — 1,0812 . 

§ 10. Trägt man den Wassergehalt 7 o des Ammonium- 
oleats als Abszisse, den zugehörigen Reibungskoeffizienten 
als Ordinate nach Tab. 4 § 8 in einem Koordinatens) r stem auf, 
so zeigt die entstehende Kurve etwa bei :v == 0,404, 8 t] = 123 
eine Spitze (Fig. 7). Wegen der Beziehung (22) § 7 zwischen 



II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 


39 


Reibungskoeffizient und Radius R der Myelinform von 
gleichem Wassergehalt (bezw. Brechungsindex) muß auch die 
Kurve eine Spitze aufweisen, welche durch Aufträgen von 
Brechungsindex einer Myelinform und zugehörigem Radius 
entsteht. Die Kurve 8 ist aus den Werten der Tab. 2 § 2 
gebildet und zeigt in der Tat diese Anomalie. 

Nach (15) (23) § 6 ist nun 

(1) dR = - dra 

2.-1 as 

also 

(2) R = — / ' r 7 d 7 v = /(re). 

J ix«! 

Wenn die Kurve 

13) R = /(«') 

eine Spitze zeigt, so folgt daraus notwendig, daß in diesem 
Punkt der Integrand von (2): 


sein Vorzeichen wechselt. Nach S. 22 ist bei einer virtuellen 
Zustandsänderung s das Verhältnis der Längenänderung zur 
ausgetretenen Menge Wasser. Wenn nun s bei bestimmtem 
Wassergehalt sein Vorzeichen wechselt, so heißt das, daß 
die eben definierte virtuelle Längenänderung bei niedrigerem 
Wassergehalt eine Verkürzung, bei höherem eine Verlängerung 
bedeutet (oder umgekehrt). 


II. Plastizität 

von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 

§ 11. O. Lehmanns 1 ) Beobachtungen an Paraazo- 
phenetol, Chinondihydroparadicarbonsäureester und besonders 
Protokatechusäure lehren, daß Schubkraft chemische Um¬ 
wandlung bewirken kann und umgekehrt. Schubkraft kann 
also das thermodynamische Gleichgewicht beeinflussen. 

i) »Die neue Welt«, S. 333, Ann. d. Phys., 50, 555, 1916. 



4 o 


R. Schachenmeier 


Dieses Ergebnis an den genannten Stoffen läßt es als 
möglich erscheinen, daß auch das Mischungsverhältnis der 
Komponenten der Myelinformen des Ammoniumoleats, näm¬ 
lich das der beiden Hydrate, etwa durch Abspaltung von 
Wasser, insbesondere aber das der über und unter —4 0 
beständigen Modifikationen, welche sich in innerem che¬ 
mischem Gleichgewicht befinden, durch die Schubkraft bei 
mechanischen Deformationen gestört werde, so daß die 
innere Reibung nicht als konstant betrachtet werden kann, 
wie bei einer Substanz mit unveränderlichen Molekülen, 
sondern mit fortschreitender Stärke der deformierenden 
Kraft sich ändern muß. Am einfachsten liegt der Fall, 
wenn nur-enantiotrope Modifikationen, die sich reversibel in 
einander umwandeln, in Betracht kommen. Dieser Fall 
liegt nach O. Lehmann vor bei amorphen Stoffen, in 
welchen sich Moleküle verschiedener Modifikationen in einem 
von der Temperatur abhängigen Gleichgewicht befinden 
oder einem solchen zustreben. Gerade hier muß sich also 
der Einfluß einer chemischen Änderung durch mechanischen 
Zwang ganz besonders geltend machen. Der Fall ist auch 
deshalb zur Betrachtung bequem, weil auf molekulare Richt¬ 
kräfte und Anisotropie der Stoffe keine Rücksicht zu 
nehmen ist. Dasselbe gilt bei sog quasiisotropen Stoffen, 
die aus sehr kleinen Kristallindividuen vollkommen regellos 
aufgebaut sind. Die Gesamtwirkung der letzteren verwischt 
jeden Unterschied zwischen einzelnen Richtungen, so daß 
die Anisotropie gar nicht zur Geltung kommt. Diese Eigen¬ 
schaft kommt z. B. Marmor oder auch Metallen zu, doch 
kann hier durch die Deformation selbst Anisotropie hervor¬ 
gerufen werden. 

§ 12. Wir untersuchen die Änderung des Mischungs¬ 
verhältnisses der Komponenten durch Schubkräfte und die 
mit solchen molekularen Umlagerungen verbundene Plasti¬ 
zität. Um nur homogene Deformationen zu erhalten, legen 
wir dem Körper prismatische Gestalt bei. 

Da viele Substanzen in mehr als zwei Modifikationen 
Vorkommen, also ebenso viele verschiedene Molekülarten 



II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 


41 


anzunehmen sind, so ist auch der Fall zu berücksichtigen, 
daß in einem Körper nicht bloß zwei sondern mehrere 
Molekülarten nebeneinander vorhanden sind. Dies ist nach 
O. Lehmann 1 ) vor allem bei amorphen Körpern der Fall. 
Die nachfolgenden Deduktionen sind ohne weiteres auf 
denselben übertragbar. Doch sollen der Klarheit halber 
nur zwei Molekülarten behandelt werden. 

Die chemische Analyse unterscheidet nicht zwischen den 
beiden Molekülarten. Das Mengenverhältnis der chemischen 
Elemente ist also in beiden dasselbe. Ferner gelingt es 
nicht, bei Temperaturen unterhalb des Umwandlungspunktes 
die beiden Molekülarten voneinander zu trennen. Die Sub¬ 
stanz kann nicht in zwei mechanisch voneinander trennbare 
Bestandteile zerlegt werden, so daß jeder derselben nur 
eine Molekülart enthielte. Mit dem Auftreten der einen ist 
vielmehr auch das Vorhandensein der andern notwendig 
verbunden. Diese beiden Tatsachen legen die Auffassung 
nahe, daß das betrachtete System im Sinne der Gibbssehen 
Phasenlehre eine aus nur einem unabhängigen Bestandteil 
gebildete Phase darstellt. Der thermodynamische Zustand 
dieses Systems hängt dann ab von den Variablen 

<0 P, p, T, V, f i. 

Dabei ist 

P der allseitige Druck, 

p die in der Längsrichtung auf das Prisma wirkende 
Zug- oder Druckspannung, 

V das Volumen, 

«1 die Zahl der in der Masseneinheit enthaltenen Mole¬ 
küle erster Art (z. B. der »festen« Moleküle), 
n-i die Zahl der Moleküle zweiter Art (z. B. der »flüssi¬ 
gen«) pro Masseneinheit, 
n — Jiy n-2 die Gesamtzahl der Moleküle, 

Iu = der Dissoziationsgrad 2 ). 

1 ) »Die neue Welte, S. 119/120. 

2 ) da es sich wohl um Dissoziation handelt bei Umwandlung von Mole¬ 
külen verschiedener Modifikationen» vgl. O. Lehmann, Molekularphysik, Bd. II. 
S. 409. FUiss. Kristalle, 1904, S. 189 — 232. 

Verhandlungen, 27 IM. 


4 



42 


R. Schachenmeier 


Wir nehmen an, daß die Anzahl der einen Molekülart 
sehr viel größer sei als die der beigemischten zweiten Mole¬ 
külart. Das System stellt daher eine verdünnte Lösung dar, 
es ist also nahezu 

(2) n x = n , u = " 2 . 

n 

Der auf die Mantelfläche des Prismas wirkende allseitige 
Druck P soll stets konstant angenommen werden. Wir 
wählen außerdem das Prisma so lang, daß bei den in Be¬ 
tracht kommenden Längenänderungen die Änderung des 
Querschnitts nicht in Betracht kommt. Sei ferner der Quer¬ 
schnitt gleich der Flächeneinheit, dann ist die Länge / = V 
und dl= dV zu setzen. Aus (t) kommen also als Zustands¬ 
variable in Betracht 

(3) A A V, fi . 

§ 13. Da unser System eine Komponente in einer 
Phase darstellt, so hängt der Zustand desselben von zwei 
Parametern ab. Werden dieselben irgendwie gegeben, so 
ist der thermodynamische Zustand des Systems eindeutig 
festgelegt. Als willkürliche Parameter können irgend zwei 
aus (3) § 12 gewählt werden. Die übrigen Variablen (3) § 12 
sind dann durch die Werte der beiden willkürlichen völlig- 
bestimmt. 

Seien .r, y zwei beliebige Parameter aus (3) § 12, dann 
ist bei einer durch Variieren derselben bewirkten Zustands¬ 
änderung die aufgenommene, bezw. abgegebene Wärme 

(i) dQ = Xdx •+■ Ydy , 

wo X, Y Funktionen von x, y sind. Nach dem ersten 
Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie ist ferner, wenn 
U die innere Energie des Körpers und dQ in mechanischem 
Maß gegeben ist 


(2) 


dQ = dU — / d V , 



II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 


43 


und nach dem zweiten Hauptsatz gilt für die Entropie S' 


( 3 ) 



Durch Kombination der beiden Gleichungen (1), (3) folgt die 
allgemeine Formel 1 ) 



Die Umwandlung der »festen« Moleküle in »flüssige« 
geschieht in bestimmtem Zahlen Verhältnis, so daß etwa v > 
»Flüssigkeitsmoleküle« aus v\ »festen« Molekülen entstehen 
und umgekehrt. Sind dann bei einer virtuellen Zustands¬ 
änderung unter konstantem p und T dti \, < 5 «•> die Änderungen 
der beiden Molekülzahlen, so gilt 

(5) < 5 «i : $«2 = )’i : v< . 

Da das System eine verdünnte Lösung darstellt, so gilt ferner 


( 6 ) 


r 2 dfi 1 r, r 

/7 d t == A* 7 ’ J ’ 


wobei r die zur Dissoziation eines Moleküls erster Art in 
Moleküle zweiter Art unter konstanter Temperatur T und 
Spannung p erforderliche Wärmezufuhr ist 3 ). 

§ 14. Um die bei einer adiabatischen Änderung des 
Parameters/ auftretende Temperaturänderung zu bestimmen, 
ist in § 13 x = T, y = /, X = Cp zu setzen, wo Cp die 
Wärmekapazität des Körpers bei konstanter Spannung p ist. 
Aus (1) und (4) § 13 folgt dann'’): 



x ) Vgl. Chwolson, Lehrb. d. Physik, Bd. III, 1905, S. 506. 


2 ) Das Zeichen 



bedeutet, daß bei der Differentiation y konstant zu 


halten ist, usw. 

3 ) Für die Anwendbarkeit dieser Formel auf den Fall einseitiger 
Spannung vgl. § 23. 

4 ) Chwolson, 1 . c. S. 564. 


4 -' 




44 


R. Schachenmeier 


Bei dieser Zustandsänderung ist der Parameter [x voll¬ 
ständig durch p und T bestimmt, also auch dfi durch dp 
und dT. Wenn wir aber annehmen, daß bei der adiabatischen 
Spannungsänderung zunächst /t konstant bleibt und / um 
dp sich ändert, dann p-\- dp konstant bleibt und /* um du 
variiert, so ist der Endzustand nach diesen beiden Teilvor¬ 
gängen derselbe, wie wenn u von vornherein variabel 
gewesen wäre, da es sich um unendlich kleine Änderungen 
der Parameter handelt. 

Wird der Vorgang als so verlaufend angesehen, so 
lassen wir damit zu, daß der Dissoziationsgrad /x zeitweise 
nicht eindeutig bestimmt sei durch p und T im Gegensatz 
zu dem eben angeführten Satz der Phasenlehre. Jedoch 
gilt letzterer nur im Falle des Gleichgewichts, während die 
beiden fingierten Teilvorgänge Abweichungen vom Gleich¬ 
gewicht darstellen, so daß kein Widerspruch gegen die 
Phasenlehre besteht 1 ). 

Die beschriebene Zerlegung des bei adiabatischer 
Spannungsänderung eintretenden Vorganges in zwei ge¬ 
stattet nun aber, die auftretende Änderung d/x des Para¬ 
meters il zu berechnen. 

§ 15. Zu dem Zweck betrachten wir zunächst den 
ersten Teilvorgang und berechnen die dabei unter der Be¬ 
dingung jti = const. auftretende Temperaturänderung. In 
§ 13 ist zu setzen x = T, y — ft, ferner: 

(1) dQ — c, t dT ■+■ Yd/t . 

r,, ist die Wärmekapazität bei konstantem /i. 

Y ist die Wärmezufuhr, welche nötig ist, um bei kon¬ 
stanter Temperatur den Dissoziationsgrad /1 um 1 zu erhöhen. 
Wir setzen Y = o, so daß 

(2) dQ = c„ dl'-+■ q du . 


Gleichung (4) § 13 wird nun: 



■ ) Dieser Nachweis wird ausführlicher in einem allgemeinen Fall, der 
auch den vorliegenden umfaßt, gegeben in Ann. d. Phvs. 46, S. 393 ff, 1915 , § 5 . 



II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 


45 


Hieraus folgt: 

( 4 ) 

oder: 

(5) 

Dies ist die beim ersten Teilvorgang auftretende Temperatur¬ 
änderung. 

Bezeichnen c tfl , die spezifische Wärme und die 

Volumausdehnung bei konstantem p und fx , so gibt Formel 
(1) § 14 für denselben Vorgang 



/ 1 ‘ 


dieser Wert (6) muß also mit (5) identisch sein. 

Wenn wirklich, wie oben angedeutet, der Parameter /i 
zwar durch p und T bestimmt ist, aber infolge eines trägeren 
Verlaufs der Vorgänge im festen Körper Abweichungen 
von dieser Regel eintreten können, dann ist die Möglichkeit 
nicht ausgeschlossen, daß man bei der experimentellen Be¬ 
stimmung von Cp und in Wirklichkeit die Werte Cp„ 

und erhält. Hiermit hängt vielleicht der auffällige 

Umstand zusammen, daß Edlund 1 ) bei der experimentellen 
Prüfung der Formel (1) § 14 an Ag, Cu, Messing, Stahl 
nicht nur keine Übereinstimmung, sondern systematische 
Abweichungen fand. Da die experimentell bestimmten 
Werte für dT ihrem absoluten Betrag nach sämtlich zu 
klein waren, so liegt die Vermutung sehr nahe, daß die¬ 
selben sich nach (5), (6) bestimmen, während die Berechnung 
nach (1) § 14 ausgeführt wurde, welche Formel nicht das- 

x ) Pogg. Ann. 114» 13, 1861. 

Verhandlungen, 27. Bd. 5 




46 


R. Schachenmeier 


selbe Resultat gibt wie (5) § 15. Eine sorgfältige Bestim¬ 
mung der Konstanten und £>, bei welchen verzögertes 

Konstantbleiben des fi ausgeschaltet wird, müßte dann den 
Unterschied zwischen (1) § 14 und (6) § 15 zum Verschwinden 
bringen. In der Tat erhielt Haga 1 ) vollkommene Über¬ 
einstimmung des Experiments mit Formel (1) § 14. 

Nach § 14 bewirkt der zweite Teilvorgang die Ände¬ 
rung des beim ersten Schritt konstant gehaltenen Para¬ 
meters fi, während der Druck p +- dp konstant bleibt. In¬ 
folge der Konstanthaltung von fi ergab (5) § 15 einen von 
(1) § 14 verschiedenen Wert für dT. Es muß daher gerade 
die Differenz ö T beider Werte die Änderung des Parameters 
fi im zweiten Schritt bestimmen. 

Wir können nämlich nach § 1 das System als verdünnte 
Lösung ansehen. Für dieselbe gilt die Formel (6) § 13, welche 
die Größe 6 T mit der unbekannten dfi verknüpft. Nach (5) 
§ 15 und (1) § 14 ist: 



Nach (6) § 13 ist somit: 



Betrachten wir nun fi und T als unabhängige Para¬ 
meter, so ist der neue Zustand der aus einer Komponente 
gebildeten Phase vollkommen festgelegt durch die Werte 
(5) § 15 und (8; § 15 für dT und dfi. Da der Vorgang 
adiabatisch erfolgen soll, so ist nach (2) § 13 

(0) pdV — dU , 

d. h. die geleistete mechanische Arbeit wird in innere Energie 
verwandelt. 


1) Wied. Ann. 15, 1, 1882. 



II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 


47 


Die Phase kann keinerlei Änderung ihres Energieinhaltes 
bei festgehaltenen Parametern T, /x erleiden. Daher ist der 
Wert der inneren Energie dU eindeutig bestimmt durch die 
Parameteränderungen dT und d/x nach (5) § 12 und (8) § 15. 

Wird, wie bei Belastungen unter der Elastizitätsgrenze, 
die innere Energie wieder rückwärts in mechanische Arbeit 
verwandelt, so ist also die elastische Formenergie eindeutig 
bestiihmt durch die Werte dT und d/x. Das gilt auch für 
Körper, die elastische Nachwirkung zeigen. Die innere 
Energie dU wird auch bei den letzteren wieder in mecha¬ 
nische Arbeit zurückverwandelt. Nur ist der zeitliche Ver¬ 
lauf dieser Arbeitsleistung ein anderer. 

§ 16. Wenn in dem betrachteten Körper aus irgend 
einer Ursache die Parameter /x und T ohne Wärmeaustausch 
mit der Umgebung variieren, so ist in § 13 x — T, y = /x, 
X = c fl zu setzen. Aus (4) § 13 folgt 


(i) 



Einsetzen in (1) § 13 gibt, da kein Wärmeaustausch mit 
der Umgebung erfolgt: 


(2) 

oder: 



( 3 ) 


da — 



dT . 


Eine Temperaturerhöhung ohne Wärmeaustausch mit der 
Umgebung tritt nun nach Formel (1) § 14 bei unserer adia¬ 
batischen Spannungsänderung wirklich ein. Ihr entspricht 
daher nach (3) eine Änderung d/x des Parameters /x: 



5 * 



4 8 


R. Schachenmeier 


Diese Änderung von fi tritt zur Änderung (8) § 15 
hinzu. 

Es ist nun möglich, daß diese beiden Werte einander 
gerade kompensieren, so daß das Endresultat gar keine 
Änderung des Parameters n ergibt. Dies tritt ein (falls 
Wärmeleitung ausgeschlossen ist), wenn 



q ist der Größenordnung nach vergleichbar mit der 
latenten Schmelzwärme, usw. mit thermischen Aus¬ 

dehnungskoeffizienten, denen gegenüber q groß ist. Daher 
kann das erste Glied der Klammer links vernachlässigt 
werden, so daß 

( 6 ) =__. 

T> r^i rin _f d o f d .n 

U/JrU T)u 

Infolge adiabatischer Spannungsänderung treten nach 
(ö) § *5 und (8) § 15 die Parameteränderungen dT, d/i auf. 
Ist aber die Bedingung (5) erfüllt, so tritt infolge dieser 
Parameteränderungen Rückbildung der (in andere Lagen 
gebrachten) Moleküle ein, nach deren Ablauf dT und dju 
wieder gleich Null geworden sind, T und ju also ihre ur¬ 
sprünglichen Werte haben. Da die Reaktionsgeschwindigkeit 
endlich ist, so tritt dieser Zustand erst nach einer gewissen 
Zeit ein. Die Deformationsarbeit pdV wird dabei zunächst 
in die innere Energie dU verwandelt: 




II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 


49 


in welchem Ausdruck die Werte (5) § 15, (8) § 15 einzusetzen 
sind. Nachdem T, p ihre anfänglichen Werte wieder an¬ 
genommen haben, kann nach § 15 auch keine innere Energie 
dU mehr vorhanden sein. Da bei diesem Prozeß keine 
mechanische Arbeit geleistet wird, so muß dU als Wärme 
frei geworden sein. 

Dieser Vorgang ist natürlich als sich ständig wieder¬ 
holend zu denken, wenn die äußere Kraft p stetig wirkt. 

§ 17. Erfüllen die physikalischen Konstanten eines 
Körpers die Bedingung (5) § 16 nicht, so tritt infolge der 
Parameteränderungen dT, dp [(5) § 15, (8) § 15] eine Reaktion 
gegen die äußere Kraft auf, welche O. Lehmann als 
'chemische Elastizität« bezeichnet hat. 1 ) 

Die in (5) § 16 auftretenden physikalischen Konstanten 
des Körpers: 



sind mit Temperatur T und Spannung p veränderlich. Bei 
festgehaltener Temperatur T wird daher (5) § 16 erfüllt sein, 
wenn p über einer gewissen Grenze liegt, dagegen nicht 
erfüllt sein, wenn p unter dieser Grenze liegt. Man kann 
also auch im Falle der chemischen Elastizität von einer 
Elastizitätsgrenze sprechen, insofern bei Belastung unter der¬ 
selben die Verschiebung mit Nachlassen der Kraft wieder 
völlig zurückgeht, über derselben wegen (5) § 16 jedoch 
bleibende Deformation eintritt. Wirkt die Belastung über 
der Elastizitätsgrenze stetig, so findet fortgesetzte Umwand¬ 
lung und Rückbildung der Moleküle nach § 16 unter Ent¬ 
wicklung von Wärme statt. 

Diese anormale Plastizität macht sich ihrer Natur nach 
bei Körpern in der Nähe des Schmelzpunkts geltend. Z. B. 
zeigt nach O. Lehmann 2 ) Eis in der Nähe von o° eine 
rasche Zunahme der Plastizität als Folge der bereits vor- 


*) »Die neue Welt*, S. 333. 
2 ) »Die Neue Welt«, S. 150. 



50 


R. Schachenmeier 


handenen Wassermoleküle. 1 ) Die meisten Metalle, ebenso 
Steinsalz, werden ebenfalls bedeutend plastischer in der Nähe 
ihres Schmelzpunkts. Die Plastizität nimmt mit der Tem¬ 
peratur noch rascher zu bei amorphen Stoffen, z. B. Marine¬ 
leim, infolge der größeren Zahl von verschiedenen Molekül¬ 
arten. 

Die Bedingung (6) § 16 vereinfacht sich, wenn sie auf 
Körper in der Nähe des Schmelzpunktes angewendet wird. 
Änderung des Dissoziationsgrades ft bewirkt beim Schmelz¬ 
punkt eine unstetige Änderung des Volumens. Dies macht 
es wahrscheinlich, daß schon unterhalb des Schmelzpunktes, 

aber in der Nähe desselben, sehr groß wird. Be¬ 

dingung (6) § 16 wird daher 



Damit diese Bedingung erfüllt sein kann, müssen not¬ 
wendig und gleiches Vorzeichen haben. Da tt 

und r kleine Größen und j ^ groß sind, so stehen in diesem 

Fall auf beiden Seiten von (2) kleine Größen, so daß die 

Gleichung annähernd erfüllt ist. Beim Eis ist 

und < o , wie aus dem Schmelzvorgang za schließen 

ist. Es ist aber auch möglich, daß Körper plastisch sind, 
welche beim Schmelzen Volumzunahme zeigen, falls dann 

nur (d/i> o5st - 

§ 18. In den erwähnten Fällen ist die anormale, auf 
Umwandlung und Rückbildung der Moleküle beruhende 

*) Wir setzen hier voraus, daß außer der Schmelzpunktserniedrigung durch 
Druck und außer den G leitflachen bei Eis auch noch wahre, von Störung des 
Raumgitters begleitete Plastizität vorhanden sei. S. a. O. Lehmann, »Flüss. 
Krist.*, 1904, S. 14, Ann. d. Phys. 50, 555, 1916. — Die Gleitflächen werden 
in Ann. d. Phys. 46, 393 » 1915 behandelt. 




II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. sj I 

Plastizität nur beobachtbar als Überlagerung über eine schon 
vorhandene normale Plastizität, welche als Gleiten der Mo¬ 
leküle ohne Umwandlung zu deuten ist. Es ist daher erforder¬ 
lich, auch diese letztere Art zu behandeln. 

Wird ein Körper unter Störung seines Raumgitters 
deformiert, ohne daß nach Aufhören der äußeren Kraft die 
Deformation zurückgeht, so müssen die Molekeln in der 
neuen Raumgitteranordnung sich wiederum in stabilen 
Gleichgewichtslagen befinden. Nach O. Lehmann 1 ) sind 
die Kräfte, welche bei solcher Störung des Raumgitters 
geweckt werden, zum Teil Zentralkräfte, zum Teil moleku¬ 
lare Richtkräfte. Aufgabe der Theorie ist es nun nachzu¬ 
weisen, daß unter dieser Annahme wirklich nach Störung 
des Raumgitters neue stabile Gleichgewichtslagen möglich 
sind. 

Betrachtet man die Materie als Kontinuum, so ist die 
allgemeinste Deformation vollständig zu beschreiben durch 
die 6 Deformationsgrößen 

(1) x x , Xy , x z , y y , y x , z z = Xi, x 2 , x 3 , x 4 , x 5 , x 6 . 

Die Störung des Raumgitters selbst ist aber durch die¬ 
selben noch nicht eindeutig festgelegt. Es müssen nach 
W. Voigt 2 ) 3 weitere Parameter hinzukommen, wenn die 
Störung des Raumgitters vollständig beschrieben werden 
soll. Wir deuten diese »verborgenen Koordinaten« des 
Gitters als Verdrehung des Moleküls gegen das Volum¬ 
element; sie seien mit 

(2) Ol , 02 , O3 

bezeichnet. Wir behandeln im folgenden den einfachsten 
Fall, daß nur einer von diesen drei Parametern (2) zu be¬ 
rücksichtigen sei. Derselbe werde mit o bezeichnet. Falls 
alle Parameter (2) in Betracht kommen, so sind die nach¬ 
folgenden Rechnungen ohne weiteres übertragbar. 


1) .Die Neue Welt«, III u. XL. 

2 ) Kristallpkysik, VII. Kap., II. Abschn. 



52 


R. Schachen meier 


§ 19. Solange a klein ist, führt die Anwendung der 
beiden thermodynamischen Hauptsätze auf unser System 
formal zu denselben Rechnungen wie in § 13 —16. An 
Stelle des Parameters ju ist hier die Verdrehung a zu setzen. 
Wir können daher die dort erhaltenen Resultate benützen. 
Hat der Körper wieder prismatische Gestalt, so bewirkt 
eine adiabatische Spannungsänderung dp nach (5) § 15 die 
Temperaturerhöhung x ): 



und analog zu (8) § 15 eine Änderung des Parameters o'j: 



Solange diese Änderungen bestehen, sind die Moleküle 
des Raumgitters aus ihren Gleichgewichtslagen entfernt und 
haben das Bestreben, in dieselben zurückzukehren. Dies 
macht sich geltend als elastische Reaktion gegen die 
äußere Kraft. Die aufgespeicherte, von der geleisteten 
Arbeit herrührende, elastische Formenergie ist 


( 3 ) 


dU = 


dU dU 

d r do 


da , 


worin die Werte (1), (2) einzusetzen sind. 

Die durch dT, da (1), (2) definierte neue Lage der 
Molekeln des Raumgitters kann nun aber wieder eine 
Gleichgewichtslage sein, wenn nämlich analog zu § 16 


+ rT\ 

(5f)r (£), 

/-\ 

1 

1 

cT 


1 ''IßMr-ßM. 


*) Die zur Ableitung dieser Formel nötigen prinzipiellen Erwägungen 
s. Ann. d. Phys. 46, S. 393 ff., 1915, insbes. § 6. c ist das molekulare Dreh¬ 
moment, welches die Verdrehung 0= 1 hervorruft. 




II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 


53 


In diesem Fall kompensieren sich dT und da gegen¬ 
seitig, so daß am Ende des Prozesses die Parameter ihre 
ursprünglichen Werte wiedererlangt haben, der Zustand des 
Raumgitters also dem ursprünglichen gleichwertig, d. h. 
eine Gleichgewichtslage ist. Die von den äußeren Kräften 
geleistete Arbeit wird dabei als Wärme frei. 

Der Vorgang ist anschaulich so zu deuten, daß infolge 
der Störung des Raumgitters die Moleküle zunächst aus 
ihren Gleichgewichtslagen abgelenkt werden. Sic schnellen 
nun aber in neue Gleichgewichtslagen, geraten dabei in 
Schwingungen 1 ), was als frei werdende Reibungswärme in 
Erscheinung tritt. 

Wirkt die äußere Kraft stetig, so gelangen die Moleküle 
fortgesetzt in immer andere Gleichgewichtslagen. 

§ 20. Die Einführung des Parameters o ermöglicht es, 
die molekularen Richtkräfte in den rechnerischen Ansatz 
einzusetzen. Daher kommen dieselben auch in der Be¬ 
dingung (4) § 19 vor in Gestalt der spezifischen Wärme c n , 

der Volumänderungen ] . der Spannungsänderungen 

(do)r’ (dr) unc * c ' Gr inneren Arbeit r. Außerdem tritt o 
selbst in (4) § 19 auf. 

Die in (4) § 19 auftretenden Größen sind variabel mit 
T und p. Ist die Gleichung (bei festgehaltener Temperatur) 
schon für p = o erfüllt, so ist die Elastizitätsgrenze gleich Null. 
Ist die Elastizitätsgrenze = p 0 o, so ist (4) § 19 erst für p=p 0 
und für höhere Werte erfüllt, o hängt ebenfalls von p, T 
ab und ist gleich Null, wenn p — o (da die Moleküle eines Kör¬ 
pers im spannungslosen Zustand auch nicht gegeneinander 
verdreht sind). Wenn also (4) § 19 für 0 = 0 erfüllt ist, so 
ist die Elastizitätsgrenze der Substanz gleich Null. 

Ist r = o, so sind beliebige Verdrehungen der Moleküle 
bei konstanter Temperatur T und Spannung p möglich ohne 
Arbeitsleistung. Die Köordinate a kann daher auch nicht 


*) O. Lehmann, »Neue Welt«, S. 358. 



54 


R. Schachenmeier 


durch Volumänderungen beeinflußt werden, da bei diesen 
Arbeit geleistet wird, o ist also unabhängig von V, d. h. 


(0 



oder 



T 


00 . 


Die Bedingung (4) § 19 kann aber jetzt nur noch erfüllt 
sein, wenn auch 0 — 0, d. h. wenn die Elastizitätsgrenze Null 
ist. Es ist damit gezeigt, daß in unseren Formeln auch der 
Spezialfall von Flüssigkeiten enthalten ist. Als solche sind 
leichtflüssige Substanzen wie Wasser zu betrachten, deren 
Moleküle keine molekularen Richtkräfte aufeinander aus¬ 
üben (r = o), und deren Elastizitätsgrenze gleich o ist. Ist die 
innere, zur Verdrehung der Moleküle bei konstanten T, p 
nötige, Arbeit r von Null verschieden, aber (4) § 19 erfüllt, 
wenn 0=0 ist, so weist die Substanz ebenfalls keine Ver¬ 
schiebungselastizität auf, ist also als Flüssigkeit zu bezeichnen. 
Aber die Moleküle üben gegenseitig Richtkräfte aufeinander 
aus, wodurch innere Grenzen verschieden orientierter Ge¬ 
biete, spontane Homöotropie usw. zustande kommen. Dies 
ist der Fall bei den kristallinen Flüssigkeiten. (Um unsere 
unter der Voraussetzung der Isotropie gewonnenen Formeln 
auf dieselben anwenden zu können, müssen wir annehmen, 
daß durch Fächerstrukturen, Zwillingsstellungen, konische 
u. a. Strukturstörungen die Anisotropie der Substanz für 
größere Bereiche verwischt wird. Die Anisotropie wird be¬ 
rücksichtigt im Anhang, § 9.) 

Andere Stoffe schließlich erfüllen die Gleichung (4) § 19 
erst, wenn a einen bestimmten endlichen (wenn auch kleinen) 
Wert erlangt hat und bei noch höheren Werten. Die Mo¬ 
leküle müssen hier etwa bis zu einer gewissen Grenzlage 
gedreht werden, bevor Gleiten derselben eintreten kann. 
Die Kraft, welche notwendig ist, um die Moleküle gerade in 
die Grenzlage zu bringen, ist die Elastizitätsgrenze 1 ). Plastische 
Deformation durch Belastung über der Elastizitätsgrenze ist 
eine bei sehr vielen Stoffen (namentlich auch Metallen, 
heißem Glas, Siegellack, Pech) beobachtbare Erscheinung. 


*) Unter derselben ist die Elastizität nach dem in § 15 Gesagten voll¬ 
kommen. 



II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 


55 


Wenn die Konstanten in (4) § 19 mit wachsender Tem¬ 
peratur verhältnismäßig geringe Änderungen zeigen, so ist 
diese Gleichung schon bei kleineren Werten a erfüllt. D. h. 
die Elastizitätsgrenze sinkt mit steigender Temperatur. Hier¬ 
auf beruht wohl zum Teil die außerordentliche Zunahme der 
Plastizität, wie sie z. B. manche Metalle und namentlich 
amorphe Körper mit steigender Temperatur aufweisen. 

Die Werte (5), (8) § 15 für dT und da bedeuten eine 
gewisse Abweichung des Raumgitters vom Gleichgewichts¬ 
zustand, welcher erst wieder erreicht wird, wenn T, o ihre 
ursprünglichen Werte erlangt haben. Diese Drehung der 
Moleküle aus einer Gleichgewichtslage in die andere braucht 
stets eine gewisse Zeit. Bei sehr kurz andauernden Bean¬ 
spruchungen kann daher ein Körper, der Bedingung (4) § 19 
erfüllt, unvollkommene Elastizität zeigen. Dies ist z. B. bei 
Marineleim der Fall. Ist die momentane Belastung zu groß, 
so daß die Umlagerung der Moleküle nicht folgen kann, so 
tritt kein Fließen sondern Zerbrechen ein (Marineleim, der 
unter der Wirkung seiner eigenen Schwere fließt wie eine 
zähe Flüssigkeit, splittert unter Hammerschlägen wie Glas 1 ). 
Eis läßt sich nach Reu sch mit dem Diamant schneiden 
wie Glas 2 ). 

§ 21. Durch die Betrachtungen der §§ 12—20 ist die 
homogene Deformation eines Prismas bei Belastung über 
der Elastizitätsgrenze erklärt. Unter der Wirkung beliebiger 
äußerer Kräfte kommen jedoch komplizierte Strömungen zu¬ 
stande. Besonders bemerkenswert sind die Torsionsversuche, 
welche O. Lehmann mit Marineleim vorgenommen hat 3 ). 
Die Substanz strömt dabei ebenso wie eine zähe Flüssigkeit. 
Insbesondere haben die Stromlinien dieselbe Gestalt. Es ist 
zu zeigen, daß die im vorigen gegebene Theorie diesen 
Tatsachen gerecht werden kann. 

Wir betrachten zu dem Zweck einen Würfel aus der 
betreffenden Substanz und lassen so kleine Normalspannungen 

*) Vgl. O. Lehmann-Frick, Pbysikal. Technik, I, 2, S. 779. 

2 ) Vgl. O. Lehmann, »Flüss. Krist.«, 1904, S. 11. 

3 ) Phys. Zeitschr. 8, 386. 1907. »Die Neue Welt«, S. 24 ff. 



-6 R. Schachenmeier 

/>i . pi , pi auf dessen Seitenflächen wirken, daß die Größen 



mit p \, pi , pi nicht variieren, so daß 



Ist nun die Bedingung (4) § 19, bezw. (5) § 16 für diese 
Konstanten (1), (2) erfüllt, so rufen die Spannungen pi , /_>, 
/;i plastische Deformation des Würfels hervor. 

Wirken auf ein beliebig gestaltetes Stück dieser Sub¬ 
stanz irgend welche äußere Kräfte, die klein von der Ord¬ 
nung der Pi , pi , pi sind, so wirken auch auf jeden Elemen¬ 
tarwürfel, der an irgend einer Stelle herausgeschnitten gedacht 
wird, kleine Kräfte. Wir denken uns die Würfelkanten 
parallel den Hauptspannungen orientiert. Auf die Seiten¬ 
flächen wirken dann gewisse Normalspannungen pi , p >, 

Da (5) § 16 oder (4) § 19 erfüllt sein soll für die Konstanten 
(1) so wird jeder Elementarwürfel unter der Wirkung der 
Normalspannungen p \, /_>, p,\ dauernd deformiert: Der ganze 
Körper »fließt« unter dem Einfluß der äußeren Kräfte. 

Infolge der deformierenden Kräfte tritt nach (1), (2) § 19 
zunächst eine Verdrehung der Moleküle (bzw. eine Änderung 
des Dissoziationsgrades /t nach (5) § 15, (4) § 16) ein, die bewirkt, 
daß dieselben in neue Gleichgewichtslagen einschnappen 
(bezw. Rückbildung eintritt). Die (gewöhnlich) kleine hierzu 
nötige Relaxationszeit« sei t. Während derselben leistet 
der Körper elastische Reaktion. Ist X die Kraftkomponente 
in der .r-Richtung und sind u, v, w die Verschiebungs¬ 
komponenten, so gilt daher 

(3) k' Au -»- (/. -+- k') dj* + = o , 

wo s die Dichte und 


14 ) 



du d'u 
öy ! " l " d z 1 ’ 


& 


du dv d ü- 
— “H "f* - 
d v ^ dy dz ’ 


ferner die elastischen Konstanten des Materials sind. 



II. Plastizität von amorphen und mikroktistallinen Stoffen. 


57 


Da die Kraft X stetig wirkt, so wiederholt sich der 
molekulare Vorgang beständig. — Nun können wir r als 
Zeiteinheit wählen. Dann sind die u, v, w Verschiebungs¬ 
komponenten in der Zeiteinheit, d. h. die Geschwindigkeits¬ 
komponenten, und (3) stellt die Bewegungsgleichung des 
resultierenden Strömungsvorgangs dar. Für die Kraftkom¬ 
ponenten Y, Z ergibt sich analog 

(5) VAv -+- (/ -t- /') -t- sY = o , 

(6) VA iv -+•(/-+- V) -1- s Z — o . 

Die gemäß diesen Gleichungen (3), (5), (6) bestimmten 
Geschwindigkeitskomponenten u, v , w sind nicht von der 
Zeit t abhängig, da wir die äußeren Kräfte als konstant 
ansehen. Die Bewegung ist also stationär. 

Sind u, v, w aus diesen Gleichungen bestimmt, so er¬ 
hält man die Bahnlinie irgend eines Teilchens durch Inte¬ 
gration der Differentialgleichungen 

^ dx _ dy _ dz 

U V TV 


Die von der phänomenologischen Hydromechanik auf¬ 
gestellten Gleichungen der Flüssigkeitsbewegung lauten 


( 3 ) 


, 1 d 0 v 

vAu-\ - v 3—»- sA = o 

3 dx 

1 I Ö&) -Wf 

vAv H- V X- - ■+■ sY = o 

3 dy 

. 1 d& „ 

vAw - v x — h s Z = o , 

3 dz 


wo X, Y, Z die äußere Kraft und v den Reibungskoeffi¬ 
zienten darstellen. 

Bei den in Betracht kommenden Experimenten ist die 
Volumendilatation 0 in allen Punkten dieselbe, also in ( 8 ) 

sowohl wie in (3), (5), (6) , ~, = o zu setzen. Daher 

lauten (3), (5), (6): 

(9) VAu -+- sX = o , VAv -+- jI' = o , VAw ■+■ s Z = o . 



5* 


R. Schachenmeicr 


und ( 8 ): 

(io) v \u sX = o , v.\v + xF=o , vAw •+• s Z = o , 

haben also genau gleiche Form. Nach (7) folgt hieraus, 
daß auch die Stromlinien bei Marineleim genau dieselbe 
Gestalt haben müssen, wie wenn die tordierte Platte aus 
einer beliebigen anderen Flüssigkeit bestände. Dies zeigt 
sich auch bei den O. Lehmann sehen Versuchen. 

Aus den Gleichungen (q) berechnet sich auch die Be¬ 
wegung der Substanz, wenn sie aus einer Öffnung unter 
Druck 1 ) ausgepreßt wird. Da (q) mit (10) der Gestalt nach 
übereinstimmt, für (10) aber die Strömungsgesetze durch 
enge Röhren bereits aufgestellt sind, so müssen für (9) die 
selben gelten, nämlich das Poisseuillesche Gesetz. Die 
Versuche von Glaser, Reiger, Ladenburg haben nun 
wirklich ergeben, daß die Ausflußgeschwindigkeit dem 
Poisseuilleschen Gesetz folgt 2 ). 

§ 22. Plastische Deformation an einfachen Kristall¬ 
individuen kann ohne Störung der Raumgitterordnung ver¬ 
laufen, wie dies bei Translation nach Gleitflächen und künst¬ 
licher Zwillingsbildung der Fall ist 5 ). Andererseits ist auch 
mit Störung des Raumgitters verbundene Plastizität ein¬ 
facher Kristallindividuen möglich. Dieselbe wurde entdeckt 
von O. Lehmann an Gips und Ammoniumnitrat 4 ). Diese 
Kristalle lassen sich wie weiche amorphe Körper unter 
Störung des Raumgitters biegen. Derartige Plastizität wurde 
später auch nachgewiesen von Mi Ich 5 ) und Ritzel 6 ) an 
Steinsalz. Uber 200° lassen sich Steinsalzkristalle beliebig 
deformieren, ohne ausgezeichnete Gleitrichtungen zu zeigen. 


J ) In Form eines festen Strahls. 

2 ) Vgl. Kurnakuw u. Zcmc£u2ny, Jahrb. tl. Rad. u. EI. II, 1914, p. 4. 

3 ) C). Lehmann, »Die neue Welt«, S. 43 — 45. Ann. d. Phys. 50, 
555 , 1916. 

i) Derselbe, Zeitschr. f. Krist. I, I IO, 1S77. — »Fluss. Krist.«, 1904, S. 20. 
5 ) Milch, Neues Jahrb. f. Mineralogie I, 72, 1909. 
ü ) Ritzel, Zeitschr. f. Krist. 53, 127, 1913. 



II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 


59 


Endlich fand O. Lehmann unter den flüssigen Kristallen 
Substanzen, die als vollkommene Flüssigkeiten anzuspre¬ 
chen sind. 

In »Theoretisches über Gleitflächen und Kristall¬ 
plastizität im allgemeinen« T ) wird die Plastizität einfacher 
Kristallindividuen mit und ohne Erhaltung der Raum¬ 
gitterstruktur untersucht. Ist Deformation eines Kristalls 
mit Verdrehung seiner Moleküle (relativ zum Volumelement) 
verbunden, so sind außer den 6 Deformationsgrößen X/, 
di — i, 2, 3, 4, 5, 6) noch die Komponenten oi, 02, 03 der re¬ 
lativen Verdrehung der Molekeln gegen das Volumelement 
notwendig, um die ganze Raumgitterstörung zu beschreiben. 
Enthält der Kristall (insbesondere in der Nähe der Um¬ 
wandlungstemperatur) Moleküle einer anderen Modifikation, 
so ist nach dem früher (S. 6/7) gesagten die Störung des 
Gleichgewichts zwischen den beiden Molekülarten infolge 
der Deformation zu berücksichtigen und das Verhältnis /u 
der beiden Molekülarten neben den Deformationsgrößen x A 
di = 1, 2, 3, 4, 5, 6) wesentlich für den thermodynamischen Zu¬ 
stand des Volumelements. Im folgenden wird der einfachste 
Fall zugrunde gelegt, daß neben den Xh [h — 1, 2, 3, 4, 5, 6) 
nur einer von den Parametern /t oder o \, a >, 03 in Betracht 
kommt. 

§ 23. In dem Fall, wo der Kristall Moleküle einer 
anderen Modifikation enthält, stellt er einen Mischkristall 
aus physikalisch molekular-isomeren Molekülen dar und ge¬ 
stattet daher eine besondere thermodynamische Behandlung. 

Eine beliebige Zustandsänderung kann nämlich berechnet 
werden, wenn man dieses System als verdünnte Lösung 
betrachtet. In der Tat hat O. Lehmann nachgewiesen, daß 
die Bildung von Mischkristallen große Verwandtschaft zeigt 
mit gewöhnlichen Mischungsvorgängen bei isomorphen wie 
bei nicht isomorphen Stoffen 2 ). Da die Zahl der beigemischten 

1) Ann. d. Phys. 46, 393, 1915. 

2 ) O. Lehmann, Wied. Ann. d. Phys., 24, 1, 1885; 38, 398, 1889. 
Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. 1902, Nr. 13. Die Lehre von den flüssigen 
Kristallen. Wiesbaden 1918. 



6o 


R. Schachenmeier 


Moleküle der zweiten Modifikation gering ist im Vergleich 
zur Anzahl der Moleküle erster Art, so ist man berechtigt, 
die Lösung als verdünnt anzusehen. 

Bei einer verdünnten Lösung lassen sich zwei bestimmte 
Angaben machen über die Art der Abhängigkeit, welche 
zwischen der Energie U und den Molekülzahlen n .\, «2 be¬ 
steht, ebenso über die Abhängigkeit zwischen den Defor¬ 
mationsgrößen Xh und den Molekülzahlen. 

Für Xh folgt der Ansatz 

(1) Xh = ft[ Xh l) ■+■ »2 x* } , 

worin x'h , x'h von den Molekülzahlen unabhängig sind, 
aus der Annahme, daß eine weitere »Verdünnung« keine 
spezifische Deformation des Mischkristalls bewirkt, d. h. daß 
die aus zwei aufeinanderfolgenden Verdünnungen folgenden 
Deformationen sich einfach addieren. 

Für die Energie U wird der entsprechende Ansatz 

(2) V = ;/i -+- «2 i rC) 


dadurch gerechtfertigt, daß eine weitere Verdünnung auch 
keine spezifische Wärmetönung hervorruft. 

Für eine Änderung der Entropie S bei konstanten , 
«2 gilt nun 


(3) 


dS = 


dU - 2/, x, t d.\j 
T 


wobei 


x , x, x ., 1;, z t = x, x 2 . x 3 , x it Xu x, 


die Komponenten des am Volumelement an greifen len 
Spannungstensors sind, also wegen (1), (2) 


(- 1 ) 


dS = 


dt”' 


tt 1 


2V, X h d.X 




dl”-' - 2V -V 
T 


h i{ x h 


Da die Größen , U' : - ) , xy, x'h wohl von T, X ), , nicht 
aber von ;/ t , n> abhängen, so müssen in (4) die Koeffizienten 
von «1. auch einzeln vollständige Differenziale sein: 



II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 


6l 


(5) = 


dU (V) - Xa X. dx { " 


dS, = 


dU {1] - Xa X. dxj) 


T 


d. h. also 

( 6 ) dS = «i dS\ -+- v > dS’i , 


und hieraus 

(y) .S — + llo ».S-j + C . 

Die Konstante C kann nicht von Xa , T, dagegen von 
«i, «2 abhängen. Um dieselbe zu berechnen, benützen wir 
den der Theorie der verdünnten Lösungen entnommenen 
Gedanken, wonach durch gehörige Steigerung der Tempe¬ 
ratur und Verringerung der Spannungen das System in ein 
Gemisch idealer Gase übergehen muß. Daß diese Annahme 
unter allen Umständen berechtigt ist, trotzdem der Vorgang 
nicht realisierbar zu sein braucht, ist begründet bei Planck, 
Thermodynamik, 3. Aufl. 1911 § 254. Da die Konstante C 
unabhängig von T , Xh ist, so hat sie in diesem Zustand 
denselben Wert und ist aus der Thermodynamik idealer Gase 
bekannt: 


( 3 ) C = — Rlog - -h n-2 ^2 — Älog ) • 

ki , £2 sind konstant und X die Gaskonstante. Setzen wir 


so wird 

(10) S = ti\ (ß\ -t- ki — R log c{j n-2 (S2 ■+■ ki — Alog ci) 
Setzt man schließlich 


(11) 


— .Si — ki 

— < 5*2 — ki ■+• 


U [ " - Xa x. r 


( 1 ) 


A ■' A 


T 


= n 


U { - ] -Sa X kX \ 


(2> 

h _ 



62 


R. Schachenmeier 


und führt die bekannten thermodynamischen Potentiale ein'): 

k = U— TS 
C = £ + ix* X k 

h = 1 



so folgt 

< 12) 0 = y. = -t- ^?logri) -+- ?i >((p2 ■+■ AMogr_>) . 

Nehmen wir nun an, es sei in unserem System eine 
Zustandsänderung bei konstanten T, X* (h = i, 2, . . , 6) 
möglich derart, daß sich die Molekülzahlen n\ , um < 5 »i, 
d«2 ändern, wobei nach (5) § 13 

(13) Sni: dn > = n:v-2 . 

Dann besteht ihr gegenüber Gleichgewicht, wenn bei 
konstanten T, Xm 

(14) < 5 <Z> = o oder <5£ = o 
also nach (12), wenn 

( 1 5 ) (01 ■+■ Zv 1 log ri) < 5 «! (t\> ■+■ R log <:•_>) d»2 

-4- «1 < 5 (t?i -4- R log c{) -4- «2 (7 2 •+■ A! log rj) = o 

ist. Nun sind die Größen (11) nur von T, A* abhängig, 
also ist 

( 16 ) <5<7>i = <5 (p> = o . 

Ferner ist nach (9) 

(17) «i< 51 ogCi -+- « 2 < 51 ogtj = («1 - 4 - «L>) ('5 <'1 -4- öco) . 

Es ist aber außerdem 

(18) <4 + <•)=• h- -■ = 1 , also bc\ -4- <5co = o . 

' - n, + n, + n. 

*) Vgl. Ann. d. Plivs. 46. 393 ff. 1915, § 2. 



II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. 


63 


Somit ist auch 


(19) 


ny d log cy ■+• n± d log c 2 = o . 


(15) lautet*jetzt mit Hilfe von (13): 

(20) Vy log Cy H- V 2 log C) = — {viTi •+“ V 2 (p'i) . 

Die rechts stehende Größe ist nur von T , X h abhängig; wir 
setzen sie 

(2 1) — ' A , ()-! 9 , -+- V. 2 Cf'.,) = log K . 


Die Abhängigkeit zwischen K und T ergibt sich aus 


(22) 


d log K 
dT 



d<r v 

dT 


V-y 


drA 

dT) • 


Wir machen nun das System zu einem zweiparametrigen, 
indem w T ir alle Kräfte X h (A = 1, 2, . . , 6) außer einer, X, t 
festhalten. Wegen (11) ist dann bei irgend einer unendlich 
kleinen Änderung von T und X t (während alle Xh {h /) 
konstant gehalten werden): 


3 ) dcpi = — dSy -+- 


äü {l} - (Xk x h Jx 


JX; U {) - (Za X m x 'J>) 


T- 


dT 


dl 7 ' 2 ' - (Za X, dxf) - .vf JX U ( ' 2) - (Za X, 

4) d T2 = - dS> -+- -- ----‘- — d- d T 


T 


T 1 


0) _ v 7 . r. v a> ,, . 1 /( 2 ) _ V. V// v £) 


Also gilt wegen (5): 

Daher folgt nach (22), (23), (24) 

(*« ( d 7 / : ). Vi . = 






64 


R. Schachenmeier 


Wegen (i) ist vix^ ■+■ Vox*' 2 '' die Änderung der Defor- 
mationsgröße x* und wegen (2) n [/ {1) ■+• v 2 U (2 ' die Änderung 
der Energie U, beide im Falle die Variation (13) bei kon¬ 
stanten T, Xi vor sich geht Die bei diesejn Prozeß von 
außen zugeführte Wärme q ist demnach 

(27) U w + v> U {2) - 2 * X A ( n A'i 11 v 2 x?) , 

und bei Dissoziation eines Moleküls erster Art ist die nötige 
Wärmezufuhr 


(28) r = - -+- v 2 ü t{2} ) 

V l 


Xh ( 


n 


J.2)\ 

r-2 Xh ) • 


Somit wird (22): 



Da das System eine verdünnte Lösung ist, so ist 
fi = - nahezu == 1, also in (20) logr L zu vernachlässigen. 

n { + w 

Die Gleichung lautet also 

(30) v> log c 2 = log K , 

und wegen (29) ist 



Da nach (9) nahezu ft = c± , so gilt 


(32) 
oder 

(33) 



r 

RT' S 


du = 


r, r f t 

r 2 Rn 


dT . 


Diese Gleichung wurde schon in (6) £ 13 benützt. 










Die Hypothese von Prout über das Urelement . 1 

Von Max E. Lembert. 

(Einleitung — geschichtlicher Rückblick — das periodische 
System — die Radioaktivität — die Atomistik — Schluß.) 

So weit wir den menschlichen Forschungsgeist geschichtlich 
zurück verfolgen können, finden wir ihn in allen Kulturperioden 
bemüht, die verwirrende Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf 
einen gemeinsamen Urgrund, auf wenige oder einen einzigen 
Urstoff als Baustein aller Materie zurückzuführen. Wenn man 
von den rein mystischen Ansichten der primitiven Völker absieht, 
denen das Feuer oder das Wasser als dieser Urstoff erschien, so 
sieht man gerade von den ersten Anfängen naturwissen¬ 
schaftlicher Erkenntnis, etwa von Anaximander und Empedok- 
les an, dieses Bedürfnis nach einer ordnenden Einheit der Materie kla¬ 
rer hervortreten, das sich bei Platon zu der Annahme verdichtete, daß 
eine prima materia, eine Tiocort] idrj y das gemeinsame Substrat aller 
Elemente und Verbindungen bilde. Auch Aristoteles und die 
spätere jonische Schule haben ihre vier Elemente ausdrücklich als 
die nur verschieden kombinierten Eigenschaften (kalt, warm, feucht 
trocken) einer einzigen Ursubstanz beschrieben. Seitdem ist durch 
alle Fortschritte und Irrtümer hindurch, durch die alexandrinischen 
und arabischen Alchimisten, durch die Jugendjahre der wissen¬ 
schaftlichen Chemie bis auf den heutigen Tag jene Forderung nach 
einem „Prothyl“ aller Materie wie eine Verheißung mitgewandert, 
weil man nur von ihr einen klärenden Lichtstrahl in chemische 
Vorgänge erhoffen konnte. 

1 Habilitationsvortrag, gehalten am 5. Juni 1920 an der Techn. Hochschule in 
Kailsruhe. 



68 


Max E. Lembert. 


Die letzten Zusammenhänge der Stoffe miteinander sind der 
chemischen Kenntnis freilich auch heute noch recht verborgen; 
für sie blieb das Atom der einzelnen Elemente der unentbehr¬ 
liche, unantastbare Baustein. Erst durch die letzten Erfolge der 
Forschung dürfen wir uns an der Schwelle zu neuen Einblicken 
fühlen, die auch der Chemie bereits Neuland zu erobern beginnen. 
Freilich haften auch diesen modernen Vorstellungen noch ver¬ 
schiedene Hypothesen an, die immer wieder auf das Urelement 
hinauslaufen. 

Seit den etwa 150 Jahren, in denen wir von Chemie als einer 
exakten Wissenschaft reden können, knüpft sich der geschicht¬ 
liche Faden des Urstoffproblems an den Namen des Engländers 
Pr out, welcher die uns bekannteste Hypothese über das Prothyl 
aufstellte, und zwar in folgender Form: 

Setzt man das Verbindungsgewicht 2 des leichtesten Elements 
unserer Erdkruste, des Wasserstoffs (H), willkürlich gleich 1 und 
bezieht die Verbindungsgewichte der anderen Elemente auf ihn 
als Einheit, so erhält man nahezu ganze Zahlen. Darnach könnten 
die Elemente Vielfache (Polymere) des Wasserstoffs und dieser 
selbst etwa jene Urmaterie vorstellen. Diese kühne Hypothese 
können wir nun, da wir seitdem über 100 Jahre lang Erfahrungen 
sammeln konnten, an diesen prüfen, ergänzen und mit unseren 
jüngsten Hypothesen vergleichen. Wir werden dabei sehen, daß 
die Proutsche Hypothese, wohl zehnmal zum Tode verurteilt, 
doch immer wieder ihre Ansprüche erhob und soviel gesunden 
Kern enthalt, daß sie fortbestand und heute, in einer kleinen 
Abänderung, sogar als glänzend gerechtfertigt gelten kann. 

Um die Kühnheit von Prouts Hypothese und deren Wirkung 
auf die Zeitgenossen verstehen zu können, muß man sich jenes 
Zeitalter chemischer Forschung kurz vergegenwärtigen. 

Die Phlogiston-Hypothese war durch Lavoisier eben erst 
zur Strecke gebracht worden, und Daltons Atomtheorie kämpfte 
um ihre Anerkennung. Nun hatte zwar Dalton selbst, der seinen 
Atomen verschiedenes Gewicht und Größe zuschrieb, deren Ver¬ 
bindungsgewichte ebenfalls auf Wasserstoff als Einheit bezogen, ohne 
indessen zu Beginn seiner Arbeiten die Atomgewichte (A.G.) der 

- Das Vcrhimlungsgewicht (V.G.) bezeichnet hier die kleinste Gewichtsmenge 
eines Elementes, die sich mit einem Gramm-Atom Wasserstoff verbindet. 



Die Hypothese von Prout über das Urelement. 


69 


schwereren Elemente als Vielfache des kleinsten zu betrachten. Seine 
erste Tabelle vom Jahre 1804 (Tabelle 1) gibt für das V.G. von Sauer- 


Tabelle 1. 


Element 

V.G. 

Wasserstoff. 


Kohlenstoff. 

5 ; 

Stickstoff. 

5 

Sauerstoff. 

6.5 


stoff einen Dezimalbruch an. Später hat er alle V.G. als ganze 
Zahlen angeführt, ohne sich jedoch darüber auszusprechen, ob dies 
in bestimmter Absicht oder mit Rücksicht auf die Ungenauigkeit 
seiner Werte geschehen war. In jener Zeit war das Interesse 
am Zahlenwert der stöchiometrischen Verbindungsgewichte und 
deren ganzen Vielfachen viel lebhafter als das an den Beziehungen 
der A.G. zueinander. 

Dank den gediegenen Arbeiten eines Wollaston und beson¬ 
ders des großen Berzelius kannte man um das Jahr 1815 die Ver¬ 
bindungsgewichte von etwa 36 Elementen, die keineswegs alle 
ganzzahlige Vielfache des Wasserstoffs waren. Da erschienen in 
diesem und im folgenden Jahre zwei anonyme Veröffentlichungen, 
in deren erster an Hand einiger Verbindungsgewichte (Tabelle 2) 
die Behauptung aufgestellt wurde, die Atomgewichte der Ele¬ 
mente seien, auf H = i bezogen, durch ganze Zahlen ausdrückbar, 
d. h. Vielfache vom A.G. des leichtesten Elementes. In der folgen- 


Tabelle 2. 


Element 

Dichte 

Verbindungs¬ 

gewicht 

Element 

Dichte 

Verbindungs- ' 
gewicht 

H 

, 

, 

Na 

24 

24 

C 

6 

6 

Fe 

28 

28 

N 


>4 

Zn 

32 

32 

P 

»4 

14 

CI 

36 

36 

O 

16 

8 

K 

40 

40 

S 

16 

16 

Ba 

70 

70 

Ca 

20 

20 

J 

124 

124 


den Arbeit findet sich dann der bedeutsame Satz: „Wenn die 
mitgeteilte Ansicht richtig ist, so können wir fast das xooni] t'bj 
der Alten als durch den Wasserstoff verwirklicht annehmen eine 
übrigens gar nicht neue Ansicht.“ 








70 


Max E. Lemhert. 


Als Verfasser dieser Aufsehen erregenden Schriften bekannte 
sich später ein englischer Arzt, W. Prout. Er verbindet 
seine Hypothese bewußt mit denen der erwähnten Alchimisten 
und Neuplatoniker, jedoch ist er der erste, welcher ein chemisch 
definiertes Element zur prima materia erhebt. 

Seine Hypothese besteht, wie ihre Veröffentlichung, aus zwei 
Teilen, die auch im folgenden getrennt betrachtet werden, nämlich: 

1. Ganzzahligkeit der auf H=i bezogenen AG, 
aller Elemente, 

2. Wasserstoff als der Baustein der schwereren 
Atome. 

Als Prout diese Hypothesen aufstellte, besaß er nicht einmal 
zur ersten eigenes Versuchsmaterial, sondern entlehnte es, z. T. 
recht willkürlich, den Ergebnissen Gay-Lussacs. In den meisten 
Darstellungen der Geschichte der Chemie wird Prout deshalb als 
ungründlich hingestellt, und seine Hypothese mehr als literarisches 
denn wissenschaftliches Ereignis gewertet. Die Gerechtigkeit 
muß ihm aber zubilligen, daß er später viele, wenn auch mangel¬ 
hafte Versuche angestellt hat, um seine Behauptungen zu stützen. 

Verschiedene namhafte Chemiker, vor allen der ältere Thom¬ 
son, nahmen sich der Hypothese an. Diesem allerdings wurde sie 
zum Verhängnis, indem er, dessen frühere Versuche nicht für eine 
Ganzzahligkeit der A.G. sprachen, aus Begeisterung für die Hypo¬ 
these in ihr ein Naturgesetz vermutete und sie durch zahlreiche, 
aber nicht vorurteilsfreie A.G.-Bestimmungen zu beweisen suchte. 
Auch L. Gmelin neigte der Proutschen Hypothese zu und besprach 
sie in seinem Handbuche günstig, führte auch die „Mischungs¬ 
gewichte“ der Elemente möglichst ganzzahlig an, wozu er 1827 
nach den Ergebnissen von Berzelius nicht mehr berechtigt war 
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß der Deutsche 
Meinecke, offenbar unabhängig von Prout, zwei Jahre nach diesem 
eine ähnliche Anschauung vertrat, ohne sie indes näher zu be¬ 
gründen. 

Der blinde Eifer von Prouts Anhängern schadete der Hypo¬ 
these mehr als er sie förderte. Berzelius, damals die oberste 
Instanz aller chemischen Fragen, unternahm vorurteilsfrei eine 
besonders gründliche Bestimmung des V.G. des Kohlenstoffs, 
wobei er allerdings den zu hohen Wert 6,12 statt 6,0 erhielt, aber 



Die Hypothese von Prout über das Urelement. 


7 > 


auch spätere Versuche führten ihn zu einer immer entschiedeneren 
Ablehnung der Proutschen Ansicht. 

Um dieselbe Zeit verblaßte auch in ihrem Vaterlande ihr 
Stern durch die sorgfältige Analytik Turners, der sie 1832 als 
mit den besten Analysen unvereinbar erklärte. Somit schien ihr 
Schicksal schon damals besiegelt, als um 1840 Dumas in Bestä¬ 
tigung Liebigscher Versuche für Kohlenstoff das V.G. 6,00 und 
bald darauf für Stickstoff 14,00 und Sauerstoff 16,00, alle auf 
H = 1 bezogen, fand. Freilich ergaben dieselben genauen Me¬ 
thoden, vor allem später in den Händen von Marignac und Stas, 
für andere Elemente mit gleicher Schärfe Werte, die nicht ganz¬ 
zahlig waren. Und nach einigen schwachen Versuchen, die Einheit 
des Urelements auf 0,5 oder 0,25 zu erniedrigen (wodurch nur die 
Wahrscheinlichkeit der Zahlenbeziehungen, aber nicht die Glaub¬ 
würdigkeit der Hypothese wuchs), sprach Stas 1867 die all¬ 
gemeine Ansicht aus, wenn er sagte: „Somit hielt ich die Proutsche 
Hypothese für eine reine Einbildung und betrachtete alle für 
unzerlegbar geltenden Körper als voneinander verschiedene Wesen, 
die keine einfachen Gewichtsbeziehungen zeigten.“ 

Damit schien eigentlich mit dem ersten Teil der Hypothese 
sie selbst erledigt. Zwar tauchte sie, besonders in ihrem zweiten 
Teil, hier und da in spekulativen Köpfen wieder auf, aber solange 
keine neue Idee hinzukam, die neue Experimente verlangte, blieb 
sie selbst durch das Experiment widerlegt. Drei Ideen haben 
im Laufe der letzten 50 Jahre befruchtend und entscheidend auf 
die Hypothese Prouts eingewirkt, das periodische oder natür¬ 
liche System der Elemente, die Theorie des radioaktiven 
Zerfalls und neuerdings die Atomistik. 

Hatten bisher die Anhänger Prouts nur für den ersten 
Teil der Hypothese Material liefern können, so kam durch die 
Aufstellung des periodischen Systems (P.S.) um das Jahr 1865 ein 
ganz neuer Lichtstrahl auf ihren zweiten Teil, den Aufbau der 
schwereren Elemente aus Wasserstoff, da dieses auf die nachbar¬ 
lichen und verwandtschaftlichen Beziehungen in den Eigen¬ 
schaften chemischer Elemente hin wies. 

Die Aufstellung des P.S. durch New lands, Lothar Meyer und 
besonders Mendelejeff geschah rein auf Grund der fortlaufenden 
A.G., ohne deren zahlenmäßiges Verhältnis in verwandten Gruppen 



72 


Max E. Lembert. 


auszuwerten, wie dies etwa Döbereiner versucht hatte. Zunächst 
schien somit keine unmittelbare Beziehung zur Proutschen Hypo¬ 
these gegeben. Indessen kann man sich beim Studium der un¬ 
geheuren Literatur über das P.S. von den ersten Arbeiten an nicht 
dem Eindruck verschließen, daß fast alle Autoren, wenn auch nur 
verblümt oder stillschweigend, aus seinen Gesetzmäßigkeiten die 
Folgerung gezogen haben, die Elemente hätten sich in der Reihen¬ 
folge ihrer Atomgewichte oder sonstwie aus- oder nacheinander 
entwickelt. So sagt W. Ostwald einmal: „Wenn die Eigenschaften 
der Elemente sich als Funktionen der A.G. erweisen, so liegt es 
nahe, in diesen auch die Ursachen jener zu suchen, und daher 
läßt sich die Vorstellung von einer einheitlichen Urmaterie nicht 
von der Hand weisen.“ 

So enge indessen dieses Problem der „Evolution der Materie“ 
mit der Proutschen Hypothese zusammenhängt, so stellt es doch 
eine wesentliche Verallgemeinerung derselben dar und kommt für 
uns nur soweit in Betracht, als der Wasserstoff als Urmaterie 
darin waltet . 8 Diese unsere Hypothese im engeren Sinne zog aus 
dem P.S. reichlich Nahrung, denn dieses brachte gerade den 
Wasserstoff zu besonderem Ansehen. Zunächst war er nämlich, 
und nur er, im P.S. der üblichen' Anordnung nicht oder nur 
gewaltsam unterzubringen. Mendelejeff stellte ihn über die 
Alkalimetalle, da er, wie diese, streng einwertig war und analoge 
Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen aufwies. Man findet ihn 
bald über der Untergruppe Ia oder Ib, bald unentschieden in 
der Mitte. Masson u. a. stellten ihn über die Halogene, was in 
neuerer Zeit verschiedene Fürsprecher gefunden hat wegen der 
Analogie der Hydride mit den Halogeniden .’ 1 

3 So muß von den geistreichen Ausführungen eines Crookes über die Entwick¬ 
lung der chemischen Elemente aus einem Urstoff und gewissen Metaelementen ab¬ 
gesehen werden; ebenso von denen Preyers, der die Elemente der ersten Horizontal- 
reihe im P.S. als erste Generation eines Stammbaumes betrachtete, der die schwereren 
verwandten Elemente erzeugt; daß) diese ersten Generationen selbst aus Wasserstoff 

verdichtet“ sein könnten, wird nur gestreift. Die eigenartigste und bis heute noch 
nicht gerichtete Annahme dieser Art stammt von Nicholson, der neben bezw. an¬ 
statt Wasserstoff sechs andere Elemente, wie Xebuliunv Coronium, Archonium und 
Protowasserstoff zum Aufbau der schwereren Atome verwendet. Er vermochte sogar 
ihre Spektrallinien zu berechnen, deren Wellenlängen sich für das in der Sonnencorona 
nachgewiesene Coronium überraschend genau bestätigten. 

4 Vgl. jedes Lehrbuch der Chemie. 

•’ Vgl. z. B. Nernst, Z. f. Elektroch. 26, 323 (1920). 



Die Hypothese von Prout über das Urelement. 


73 


L. Meyer und Retgers ließen den Wasserstoff ganz weg, letz¬ 
terer, wie er sagte, „bequemlichkeitshalber“, ersterer mit tieferem 
Verständnis: „weil er eine Ausnahmestellung zu beanspruchen 
scheint“. Jetzt steht er meist einsam über oder neben dem eigent¬ 
lichen System wie ein nicht geladener Gast. 

Seine Sonderstellung hat aber auch noch andere Gründe. Zu¬ 
fällig war er von Dalton zur Einheit gewählt worden, weil er 
das kleinste bekannte A.G. besaß. Dies hat er auch heute noch. 
Chemisch läßt sich seine Eigenart etwa dadurch kennzeichnen, 
daß er ausgesprochen metallische Eigenschaften mit fast ebenso 
stark ausgesprochenen nichtmetallischen vereinigt, m. a. W., daß er 
sich sowohl elektropositiv wie elektronegativ zu betätigen vermag. 

Eine sehr eigenartige Begründung hat Sir Lockyer vor etwa 
40 Jahren gegeben. Die Spektren der heißesten Sterne scheinen 
darauf hinzudeuten, daß sie hauptsächlich aus Wasserstoff bestehen, 
während weniger heiße die H-Linien nur geschwächt und von denen 
anderer Elemente begleitet ausstrahlen. Daraus entnahm Lockyer, 
daß alle Elemente bei sehr hohen Temperaturen in Wasserstoff zer¬ 
fallen. Diese Idee wurde von Mills und neuerdings von C. Schmidt 
u. a. aufgegriffen, die den Wasserstoff als Überbleibsel einer abgelau¬ 
fenen Entwicklungsperiode betrachten, „als kosmischen Fremdling 
unter den irdischen Elementen“. In neuester Zeit ist freilich diese 
Hypothese recht unwahrscheinlich geworden.® 

Alle diese und ähnliche Hypothesen beschäftigten sich nur 
mit dem zweiten Teil der Proutschen Hypothese ohne die Ganz- 
zahligkeit der auf Wasserstoff bezogenen A.G. der Elemente zu 
berücksichtigen. Hierüber sind von sehr zahlreichen anderen For¬ 
schern Deutungs- und Vermittlungsversuche gemacht worden, die 
immer wieder von der unleugbaren Tatsache ausgingen, daß für 
die Basis O = 16 ganze Zahlen in den A.G. auffällig häufig sind. 
Die verschiedenen Autoren rechnen dabei oft recht willkürlich und 
kommen zu Formeln, die durch keine rechte Vorstellung erklär¬ 
lich werden, wie z. B. die von 

Mills A.G. = m • 15 — 15 

Stoney A.G. = 0,785 • log (/// • a) (log« = 1,986). 

J. Thomson A.G. = m-\-n ■ a (0 = 0,012). und neuerdings 
Bilecki A.G. = 1,86 • m , 

Vgl. J. Eggert, Phys. Zeitschr. 20, 570 (1919). 



74 


Max K. I.embert. 


worin m und n ganze Zahlen bedeuten. Wir werden aber später 
sehen, daß diese Formeln alle nur zufällige Treffer geben können, 
weshalb wir nicht näher darauf einzugehen brauchen. 

Lothar Meyer, dessen W ort uns hier besonders viel gilt, schreibt 
in seinem letzten Werk (1896), es sei denkbar, daß die Atome der 
Kleinente aus einer Urmaterie, vielleicht Wasserstoff, zusammen¬ 
gesetzt seien, daß aber ihre Gewichte deshalb nicht als Vielfache 
voneinander erscheinen, weil außer diesen Teilchen noch größere 
oder geringere Mengen der vielleicht nicht gewichtlosen Materie 
mit eingehen, die den Weltraum erfüllt und gewöhnlich Äther ge¬ 
nannt wird. Wir werden bald sehen, daß Meyer hiermit einen 
wirklichen Grund für die Abweichungen der A.G. von ganzen Zah¬ 
len geahnt hat, den uns erst das Relativitätsprinzip von Einstein 
aufgeklärt hat. 

Einen wirklich neuen Gesichtspunkt zur Klärung dieser Zahlen¬ 
beziehungen verdanken wir Rydberg; nachdem schon Lorenz 1896 
in seiner sog. Zwillingsregel zum Ausdruck brachte, daß die Ele¬ 
mente die Neigung besitzen, sich in benachbarten Paaren über die 
A.G.-Reihe zu verteilen, w’ie BC, F Ne, Na Mg ,A 1 Si, PS usw.. 
zeigte der jüngst verstorbene Rydberg, daß sich die ganzen Zahlen 
der AG. besonders häufig den beiden Formeln 4 n und 4 // — 1 nähern, 
worin n ganze Zahlen sind. Man erhält so in Abständen von je 
4 Einheiten des AG. 2 Reihen von Elementen, wobei die mit 
geradzahligen A.G. bei He, die ungeraden bei Li beginnen 
( Tabelle 3). Die dort statt der Zahlen 4 71 und 4//— 1 erscheinenden 


Tabelle 3. 


■ 

OZ. 


Differenz 


| 







Hc 


4.00 

4.00 

0.00 

Li 

3 

7.00 

6.94 

—0.06 

He 

4 

8.00 

0.1 

+ 1.1 

B 

5 

11.00 

11.0 

0.0 1 

r 

6 

12 00 

12.00 

0.00 

N 

7 

15.00 

14.01 

—1.0 | 

< ) 

8 

i(> 00 

1 1)00 

0.00 

F 

9 

19.00 

KLO 

0.0 [ 

X( 

IO 

20.00 

(20 2) 

<+0.2) 

Na 

11 

23.00 

23.0° 

0.00 

-Mk' 

1 2 

24.00 

24.32 

+0.32 

Al 

«5 

27.00 

27.1 

+0.1 

Si 

1 4 

28.00 

2»-3 

+ 0-3 

P 

*7 

3 » °° 

3 1 °4 

+0 04 

s 

iG 

32.no 

32 OG 

+0.06 




1 

1 



Zahlenreihen, in denen n = \‘ 2 zu setzen ist, ergeben die sog. Ord- 
nungszahlen O.Z., welche hier vorerst lediglich die Zahl bedeuten. 







Die Hypothese von Prout über das Urelement. 


75 


die jedem Element zukommt, wenn es von H = i an nach steigen¬ 
dem A.G. fortlaufend numeriert wird. Harkins und Wilson, die 
sich auch mit dieser Regelmäßigkeit beschäftigten, schlugen neuer¬ 
dings ohne Kenntnis der Rydbergschen Formel eine gemeinsame 
Formel vor, in welcher der Klammerausdruck für gerade n ver¬ 
schwindet: 

A.G. = 4 // — { x / 2 -h [(— 1)" - 1 • r / 2 ]j. 

Strutt und andere Forscher verglichen die Wahrscheinlichkeit der 
ganzen Zahlen mit ihrer praktischen Häufigkeit und fanden die 
letztere viel größer als die berechnete. Selbst mit modernsten 
mathematischen Methoden findet v. Mises die Wahrscheinlich¬ 
keitsdichte der Ganzzahligkeit mehr als 9 mal so groß als den be¬ 
treffenden Durchschnittswert. 

Zusammenfassend läßt sich über den ersten Teil der Prout- 
schen Hypothese im Hinblick auf das von allen Deutungen be¬ 
freite Zahlenmaterial etwa folgendes sagen: 

1. Die Häufigkeit ganzer Zahlen überwiegt die Wahrschein¬ 
lichkeit, 

2. die ganzen Zahlen nähern sich auffällig den Werten 4// 
und 4 n — 1. 

Für diese zwei empirisch gefundenen Angaben werden sich 
von anderer Seite her kräftige Stützen ergeben. — 

Die Entdeckung Ramsays von der Heliumerzeugung radio¬ 
aktiver Stoffe hat nicht nur das Axiom von der Unzerstörbarkeit 
der Elemente ins Wanken gebracht, sondern gleichzeitig den Be¬ 
weis für Rutherfords Theorie radioaktiver Zerfallsprozesse gelie¬ 
fert, nach welcher bekanntlich aus einem Element unter Strahlenaus- 
sendung ein anderes entstehen sollte. Nun lag es auch für den, 
der Prouts Hypothese fernstand, m<^hr als nahe, diesen selbsttätigen 
und nachweislichen Abbau schwerer Elemente zu leichteren in 
eine Theorie des Aufbaues leichterer zu schwereren Elementen 
umzukehren und in den Abbauprodukten nach einer Urmaterie 
zu suchen. Die einfachsten nachweisbaren Bausteine waren die 
beim Zerfall ausgeschleuderten a-Strahlen (doppelt positiv geladene 
Heliumatome) und die /J-Strahlen (negative Elektronen). Letztere 
konnten infolge ihrer sehr geringen Masse, besonders aber wegen 
ihrer negativen Ladung nicht die ausschließlichen Bestandteile der 



Max E. Lembert. 


7 fr 

neutralen Atome sein. Das Hauptaugenmerk wandte sich daher 
dem Helium zu, das man allgemein als Bestandteil schwererer Atome 
in deren Innerem fertig vorgebildet annahm. Bei seiner Aus¬ 
schleuderung aus einem Atom (z. B. Radium) mußte dieses einen 
Massenverlust von 4 Einheiten des A.G. erleiden, die so ent¬ 
standene Radiumemanation durch a-Strahlung wiederum 4 Ein¬ 
heiten, usw. Dies wirft ein sehr überraschendes Licht auf die 
zwei Elementenreihcn unserer Tabelle 4, deren A.G. ja um je 4 Ein¬ 
heiten abgestuft sind. 

Noch klarer, und zu einer Extrapolation auf die leichteren 
Elemente verlockend, kam dies zum Ausdruck, als es 1913 Eajans 
und Soddy gelang, sogen. Verschiebungssätze aufzustellen, ver¬ 
möge deren die Einreihung der Radioelemente in das RS. gelang. 
Diese lassen sich so ausdrücken, daß bei einer radioaktiven Um¬ 
wandlung eines Elementes, die unter a-Strahlung erfolgt, seine Ord¬ 
nungszahl sich um zwei Einheiten verringert, die Stelle im RS. 
sich also um zwei nach links in eine Horizontalreihe verschiebt. 
So entsteht aus Ionium (IV. Gruppe; das Radium (II. Gruppe) und 
aus diesem Ra-Emanation (0. Gruppe) (vergl. Tabelle 4). Bei einer 


Tabelle 4. 


B 

0 

I | 11 

III IV 

V ; VI VII 

1 1 I 

**1 

218 

(AcEm) 




218 

220 

Th Em 




220 

1 222 

Ra Eni 

(Ac X) 



222 

224 


Th X 



224 

226 


— Ra 

(Ac) (Ra Ac) 

— 

226 I 

228 


Ms Th I 

MsThl Ra Th 


228 1 

230 



Io (UY) 

(Pa) 

230 1 

232 



Th 


232 

234 



U X I 

U XII , U II 

234 

236 





236 

238 




u 1 

238 


/?-StralilenumWandlung dagegen entspricht die Änderung des chemi¬ 
schen Charakters eines Elementes einer Verschiebung um eine 
Stelle nach rechts in einer Horizontalreihe, die Ordnungszahl 
erhöht sich also um eine Einheit, während das A.G. praktisch 
unverändert bleibt. Diese ganz unbeabsichtigte Übereinstimmung 




Die Hypothese von Prout über das Urelement. yy 

mit Rydbergs empirischer Formel forderte fast dazu heraus, zwei 
genetische Reihen von Elementen anzunehmen, die sich aus He- 
Atomen aufbauen, wobei die eine (geradzahlige) Reihe das Helium 
selbst zum Stammvater habe. 

Obwohl hier die Proutsche Hypothese vom Wasserstoff auf 
das Helium übertragen erscheint, so kann doch letzeres nicht das 
einzige Bauelement sein, denn das Lithium (Li = 6,94) kann sich 
nicht wohl allein aus He aufbauen. Wieder greift man hier zu 
dem leichtesten Element zurück und damit in den Kreis der 
Proutschen Hypothese. Kann Wasserstoff das Anfangsglied der 
Elementenreihe mit ungeraden A.G. sein, und hängen die beiden 
Reihen genetisch zusammen? Gibt es eine Wasserstoffumwandlung, 
und welcher Verschiebungsatz wäre bei ihr zu erwarten? Diese 
Fragen können wir heute noch nicht klar beantworten; immerhin 
würde die Wasserstoffumwandlung einen Massenverlust von einer 
Einheit des A.G. im Gefolge haben, und da die Ordnungszahl des 
H auch 1 ist, würde sich eine Verschiebung der Stelle im P.S. um 
eins nach links in einer Horizontalreihe ergeben, umgekehrt 
wie bei einer /?-Strahlenum Wandlung. Die beiden Reihen 4 n und 
4« — i könnten somit durch eine solche H-Umwandlung mitein¬ 
ander verknüpft sein, doch muß dies bis jetzt noch als recht hypo¬ 
thetisch gelten. 7 

Die Radioaktivität leistet aber auch für den ersten Teil unse¬ 
rer Hypothese wertvolle Aufschlüsse. Ordnet man mit Hilfe der 
genannten Verschiebungssätze die Radioelemente, angefangen mit 
Uran I und Thorium, in das P.S. ein, so zeigt es sich, daß man 
an Stelle eines Elementes ganze Gruppen — Plejaden nennt man 
sie — von Elementen bekommt, die alle ihrem chemischen Ver¬ 
halten nach diesen Platz beanspruchen und dabei doch Unter¬ 
schiede im A.G. bis zu 8 Einheiten sowie in ihren radioaktiven 
Eigenschaften aufweisen. Tabelle 4 zeigt die unterste Horizontal¬ 
reihe des P.S. nach Unterbringung der zu ihr gehörigen Radio¬ 
elemente. Eine solche Gruppe von gleichstelligen oder isotopen 
Elementen muß dem Chemiker bei allen Reaktionen wie ein Ele¬ 
ment erscheinen, da er sie ja nicht trennen kann, und das A.G. einer 

7 Einen entfernten experimentellen Hinweis auf eine Wasserstoffumwandlung kann 
man mit Fajans in dem Befund Ramsays erblicken, der in vielen Mineralien der sel¬ 
tenen Erdelemente Wasserstoffgas gefunden hat. Ferner konnten Mars den und 
Lautsberry die Bildung von Wasserstoff bei radioaktiven Vorgängen nach weisen. 



78 


Max E. Lembert. 


solchen Gruppe, z. B. der Thorplejade, muß einen Mittelwert ergeben, 
der den vorhandenen Mengenverhältnissen der isotopen Bestandteile 
entspricht. 

Schon 1913 hatte Fajans bei der Entdeckung der Isotopie auf 
die Möglichkeit hingewiesen, daß man die Abweichungen der A.G. 
von ganzen Zahlen auf das Vorhandensein von Isotopengemischen 
zurückführen könne. Dies ist auch tatsächlich für einige Glieder 
der Blei- und der Thorplejade experimentell festgestellt worden. 
Und neuerdings konnten Thomson und Aston mittels ihrer Kanal¬ 
strahlen-Analyse bei fünf anderen Elementen den Nachweis, oder 
wenigstens hohe Wahrscheinlichkeit erhalten, daß sie komplexe 
Gemische von mindestens 2 Isotopen sind, nämlich 

Neon 20,2 aus 0,9 Neon (20) und 0,1 Metaneon (22), 

Chlor 35,46 aus 0,75 Chlor (35) und 0,25 Metachlor (37), 
Krypton 82,9 aus mehreren Isotopen mit A.G. zwischen 78 und 86, 
Xenon 130,2 aus mehreren Isotopen mit A.G. zwischen 128U. 135, 
Quecksilber 200,6 aus mehreren Isotopen um das A.G. 200. 
Die Isotopie läßt sich also ‘sehr wohl für die groben Ab¬ 
weichungen der A.G. von Prouts erster Hypothese verantwortlich 
machen. Gerade das Chlor hatte bisher immer den schlagendsten 
Gegengrund gegen jene Forderung der Ganzzaliligkeit gebildet. 

Die zweite aus der Radioaktivität sich ergebende Folgerung 
ist von etwas feinerer Größenordnung. Der Massenverlust eines 
Atoms bei Aussendung eines «-Teilchens wurde vorhin zu 4,00 
Einheiten, dem A.G. des He, angenommen. Das ist nicht ganz 
richtig. Dieses a-Teilchen fliegt mit einer sehr großen Energie aus 
dem Atom heraus, wobei dieses also auch noch die von jenem 
fortgeführte Energiemenge verliert. Nach der relativistischen An¬ 
schauung Einsteins stellt nun jede Energieform E auch eine 

E 

gewisse Masse dar, und zwar - r ; worin c die Lichtgeschwindig¬ 
keit bezeichnet; für die a-Strahlenenergie berechnet, pro Um¬ 
wandlung nicht ganz 0,01 AG.-Einheiten. Dieser Massenverlust 
durch die Energieabgabe bei radioaktiven Vorgängen, auf den 
zuerst Swinne aufmerksam machte, ist also für die Abweichung 
der A.G. von ganzen Zahlen ebenfalls von Belang. So ist das 
A.G. des aus Ra entstehenden Bleies nicht 225,97 — 5 X 4,00 (5 a- 
Teilchen) = 205.97, sondern es sind noch 0,03 Einheiten für die 
durch die Energie der «-Strahlen entführte Masse abzuziehen. 



Die Hypothese von Piout über das Urelement. 


79 


Die Radioaktivität hat somit im allgemeinen eine wesentliche 
Bestärkung der Prout’schen Hypothese geliefert. Sie hat deren 
ersten Teil der ganzzahligen A.G. in ein neues Licht gerückt 
durch Isotopie und energetischen Massenverlust; sie hat ferner 
einfache Bausteine schwerer Atome teils aufgedeckt— das Helium, 
— teils angedeutet — den Wasserstoff. Aber gerade diese letzte 
und eigentliche Frage zu beantworten, verblieb den allerjüngsten 
Forschungen und Theorien über den inneren Aufbau der Atome. — 

Ist vielleicht das He selbst aus H aufgebaut? Wir erinnern 
uns an die vorhin erwähnte Ordnungszahl, die den Platz eines 
Elementes im P.S. bestimmt. Diese vertieft ihre ursprünglich for¬ 
male Bedeutung zu einem ganz entscheidenden Merkmal des 
Elements, wenn wir sie mit dem Bilde vereinigen, das wir uns 
heute von dem Aufbau der Atome machen. 

Hiermit begeben wir uns für kurze Zeit von dem Boden 
fester Tatsachen auf hypothetisches Gebiet, werden aber zu jenem 
zurückkehren ohne mehr als anschauliche Vorstellungen mitzu¬ 
nehmen. Nach dem heute wahrscheinlichsten Atommodell von 
Rutherford-Bohr besteht jedes Elementaratom aus einem positiv 
geladenen Kern von äußerst kleinen Dimensionen, der praktisch 
alle Masse des Atoms darstellt, und aus einer Anzahl von 
Elektronen, die um jenen Kern in bestimmten Bahnen kreisen, 
also ähnlich der Anordnung, die wir im großen vom Planeten¬ 
system her kennen. Die Zahl der kreisenden negativen Elektronen 
muß im neutralen Atom gleich der Zahl der positiven Elementar¬ 
ladungen des Kernes sein. Nun ist kaum mehr zu bezweifeln, 
daß diese Kernladungszahl (= Elektronenzahl) gleich ist der Ord¬ 
nungszahl des Elements im P.S. Die Kernladungszahl ist dem Ver¬ 
such zugänglich, da Moseley und später Barkla gezeigt haben, 
daß sie in einer sehr einfachen Beziehung zu den charakteristischen 
Röntgenspektren der Elemente stehen. 

Das einfachste Modell eines Atoms wäre dann nach Bohr das 
des H mit der O.Z. i, das man sich als einen einfach positiv ge¬ 
ladenen Kern vorstellt, den ein Elektron umkreist. Verliert er 
das Elektron, so wird er zum Wasserstoffion, welches somit aus 
einem H-Kern besteht. Mit der O.Z. 2 hätte das He einen Kern 
mit doppelt positiver Ladung und 2 ihn umkreisenden Elektronen. 
Das a-Teilchen stellt den reinen He-Kern darund ist, wie Geiger 



8o 


Max E. Lembert. 


zeigte, wirklich doppelt positiv geladen. Das Li bestünde dann 
aus dreifach positiv geladenem Kern und 3 Elektronen usw. bis 
zum Uran, dessen Kernladung zu 92 angenommen wird. 

Wie verhält sich aber nun all dies zu unseren Atomgewichten ? 
Wir lernen in der O.Z. ein neues beherrschendes Prinzip des P.S. 
kennen. Das A.G. hat seine Herrschaft in der Chemie an diese 
O.Z. verloren und behält nur in zweiter Linie Bedeutung, indem 
es zwar die Kernmasse, aber nicht das gesamte Wesen eines 
Elements und dessen Platz im PS. kennzeichnet, wie schon die 
Tatsache der Isotopie beweist. Wir sehen auch, daß wir die Er¬ 
gebnisse der Radioaktivität daraufhin nachprüfen müssen. Nicht 
Helium als neutrales Atom wird der im a-Strahl nachgewiesene 
Baustein sein, sondern der He-Kern bildet diesen. 

Nun finden wir auch wieder zu der Proutschen Hypothese 
zurück, die wir für kurze Zeit scheinbar außer acht ließen: Ist 
der Hcliumkern selbst aus Wasserstoffkernen auf¬ 
gebaut? Sind m. a. W. die Kerne aller Atome aus denselben 
positiven Elementarbestandteilen zusammengesetzt, die wir schon 
im H-Modell vorfinden? 

Den Zusammentritt von solchen Kernen gleicher I^adung, die 
nach den elektrostatischen Gesetzen einander abstoßen müssen, 
zu einem größeren Kern wird nur möglich, wenn man negative 
Ladungsträger hinzuzieht, durch die erstere sozusagen verkittet 
werden. Die Kernladungszahl wird hierdurch einfach zum alge¬ 
braischen Überschuß der positiven Ladungen über die negativen 
und bleibt im übrigen unverändert. Nähme man an, daß der 
He-Kern sich aus 2 H-Kernen und einem Elektron bildet, so be¬ 
käme man für He dieselbe O.Z. 1 wie für H. Man muß also 
mindestens 3 H-Kerne -+- 1 Elektron oder 4 H-Kerne -+• 2 Elek¬ 
tronen zum Aufbau des He-Kernes verwenden. Nur das letztere 
Schema führt zu der Masse 4 des Heliums. 

Aber nicht ganz genau. Treten vier H mit den Massen 
1.0078 zu He zusammen, so ergibt sich unter Vernachlässigung 
der beiden (an Masse sehr geringen) Elektronen 4* 1,0078 = 4,031. 
während das A.G. des He den genauen Wert 4,002 hat. Die 
4 H-Kerne scheinen also beim Zusammentritt zu einem He-Kern 
einen Massen Verlust von 0,03 Einheiten oder 0,77% des A.G. 
zu erleiden, eine Art „Packwirkung“ (Harkins und Wilson). Nach 
def genannten Forderung des Relativitätsprinzips entspricht nun 



Die Hypothese von Prout über das Urelement. 


81 


dieser Massenverlust — ganz wie beim Verlust eines a- oder ß- 
Teilchens — einer Einbuße am Energieinhalt, und zwar pro Gramm¬ 
atom He 0,03 c-, worin c wieder die Lichtgeschwindigkeit be¬ 
deutet. Um also einen solchen He-Kern wieder in H-Kerne zu 
zersprengen, müßte mindestens ebensoviel Energie zugeführt wer¬ 
den. Dies ist aber mit allen uns zugänglichen Hilfsquellen, selbst 
mit den stärksten a-Strahlen nicht möglich. Diese besitzen besten¬ 
falls nur eine kinetische Energie von 0,009 f2 . und der He-Kern, 
mit ihm das He-Atom, erscheint somit als genügend stabil für 
alle irdischen Angriffe. 

Wir können somit verstehen, warum das He, obwohl es als 
selbständiger Baustein der Materie in den radioaktiven Vorgängen 
auftritt, trotzdem ein Aggregat von weiteren Bausteinen, H- 
Kernen plus Elektronen, sein kann, das wir nur nicht imstande 
sind zu zerlegen. 

Aber wir dürfen sogar noch weiter extrapolieren. Wir haben 
nicht nur das He aus H-Kernen und die schwereren Atome aus 
He-Kernen — und vielleicht H-Kernen aufgebaut zu denken, 
sondern wir besitzen starke Anhaltspunkte, um die Kerne aller 
Elemente als aus H-Kernen zusammengesetzt anzunehmen. Auf 
Grund der modernsten A.G.-Werte haben Harkins und Wilson 
die Packwirkung für die ersten 27 Elemente zusammengestellt. 
(Tab. 5). Nimmt man mit Prout den Wasserstoff H = 1,000, also 
nicht unsere Sauerstoffbasis 0 = 16,000 als Einheit für die A.G.- 
Werte an, so berechnen sich diese nach Spalte 2; die Differenz 
gegen die nächste ganze Zahl ist absolut in Spalte 4, prozentual in 
Spalte 5 angegeben. Es zeigt sich hier, daß die obige Berech¬ 
nung einer Massenabnahme von o,77°/ 0 sich auffallend häufig 
wiederholt. Abweichungen sind freilich vorhanden, so bei Mg, Si, 
Ne, CI; indes geben uns gerade die Fälle des Neon und des 
Chlor, welche als Isotopengemisch ganzzahliger Elemente ziem¬ 
lich sicher nachgewiesen sind, ein Recht, derartige sichtlich ver¬ 
einzelte Abweichungen zu Lasten der Isotopie zu buchen. Es 
bleibt eher auffällig, daß trotz dieser Komplexität vieler Elemente 
die Berechnung so gut stimmt. Beim Beryllium ist die Pack¬ 
wirkung nicht angegeben, da sein A.G. nur ungenau bekannt ist, 
bei Ne und CI aus den obengenannten Gründen. 

Natürlich bekommt man mit der Wasserstoffbasis H = 1 
keine ganzzahligen A.G., da die Packwirkung dieselben immer 

Verhandlungen, 27 . B<1. 7 



82 


Max E. Lembert. 


wieder prozentual verkleinert. Wohl aber erklärt sich für unsere 
gewöhnliche Sauerstoffbasis die Häufigkeit ganzer Zahlen in den 
A.G., da in O = 16,000 schon diese Packwirkung einbezogen ist: 
16 • 1.007 8 = 16,125 = 1 6,000 -+- 0,7 7 %. 

Tabelle 5. 


Element 

Atomgewicht 

H = 1 

Fehler der 

A.G.-Best. 

Differenz gegen 
ganze Zahl 

Prozen tige Abwei¬ 
chung von ganzer 
Zahl 

1 

2 

3 

4 

5 

H 

1.000 

_ 

_ 

_ 

He 

3969 

±0.002 

-0.031 

-0.77 

Li 

6.89 

O.OI 

—0.11 

— 1.62 

Bj 

9.03 

O.I 

— 

— 

B 

10.91 

0.05 

—0.09 

K 

6 

1 

C 

11.91 

0.005 

—0.09 

-0.77 

N 

13.90 

0.005 

— 0.10 

0 

ts 

d 

1 

O 

15.88 

0.002 

—0.12 

-0.77 

F 

18.85 

0.05 

-0.15 

-0.77 

! Ne 

20.2 

? 

-- 

— 

Na 

22.82 

O.OI 

—0.18 

-0.77 

Mg 

24.13 

0.03 

+0.13 

+0.55 

Al 

26.89 

O.I 

— O.I I 

—0.40 

Si 

28.08 

O.I 

±0.08 

+0.31 

P 

30.78 

O.OI 

-0.22 

-0.71 

S 

31.82 

O.OI 

—0.18 

—0.56 

CI 

3524 

? 

— 

— 

A 

39-57 

0.02 

-<M 3 

-1.07 

K 

38.80 

O.OI 

—0.20 

-0.52 

Ca 

39-76 

0.03 

—0.24 

—0.60 

Sc 

4376 

0.2 

—0.24 

-0.55 

Ti 

47-73 

O. I 

—0.27 

-0.57 

V 

3O.6I 

0.1 

-039 

-0.77 j 

Cr 

51.60 

O.05 

—0.40 

r>. 

d 

1 

Mn 

54 - 5 ° 

0.05 

-0.50 

- 0.90 1 

Fe 

55 - 4 ' 

0.03 

-0.59 

— 1.06 

Co 

58-51 

0.02 

-0.49 

-0.83 


21 Elemente tohne Bt;\ Mg, Si, CI) im Mittel — 0,77 °. 0 „Packwirkung“. 


Somit haben wir mit dieser Basis einen für die Proutsche 
Hypothese besonders glücklichen Griff getan, indem wir den sich 
(in Tabelle 5) normal verhaltenden Sauerstoff und somit jene letzte 
Einheit der Materie zugrunde legten, den Wasserst off kern, der 
auch den richtigen Kern in Prouts gewagter Hypothese darstellt. 













Die Hypothese von Prout über das Urelement. 83 

Diese Hypothese können wir somit nach dem heutigen Stande 
unseres Wissens umformen zu der dualistischen Gestalt: 

Es ist wahrscheinlich, daß sich alle Materie aus 
Wasserstoff kernen und aus Elektronen aufbaut. 

Aber wir haben sogar mehr als eine bloße Wahrscheinlich¬ 
keit, nämlich etwas, das einem Beweis schon recht nahekommt. 
Es wurde vorhin die Stabilität des He-Kernes berechnet, der sich 
aus 4 H-Kemen zusammenfügt, und keine weitere Annahme über 
Struktur oder sonstiges dabei vorausgesetzt. Rechnet man mit 
Sommerfeld auf dieselbeWeise die Stabilität der anderen Elemente 
durch, so bekommt man aus dem Kohlenstoff mit 12,002 plus 2 H- 
Kernen für Stickstoff den A.G.-Wert 14,017, während der Stickstoff 
in Wirklichkeit ein A.G. von nur 14,008 besitzt. Der Unterschied 
in der Masse beträgt —0,009 Einheiten, was einen Energieverlust 
von 0,009 c 2 bedeutet. Dies ist aber genau dieselbe Zahl, die 
wir vorhin (S. 81) für die Energie der schnellsten a-Strahlen er¬ 
hielten. 

Nun hat Rutherford (in anderer Absicht) den Stickstoff 
mit den stärksten a-Strahlen bombardiert und Ergebnisse erhalten, 
die nicht wohl anders zu deuten sind, als daß aus dem Kern des 
Stickstoffatoms tatsächlich leichte Teilchen von der Masse 1 heraus¬ 
geschleudert, -geschossen werden. Wenn hier also zum ersten 
Male nicht Helium, sondern Wasserstoff als Baustein eines Atoms 
aufzutreten scheint, so wäre damit Prouts Hypothese vom Ur¬ 
element Wasserstoff experimentell bewiesen, und wir hätten gleich¬ 
zeitig den Fall einer Atomzerlegung auf künstlichem Wege vor 
uns, wie es die Alchimisten geträumt hatten. 

Wir haben nun die Wege und Irrwege der Proutschen Hypo¬ 
these durch die Wissenschaft der letzten 100 Jahre verfolgt und 
sehen sie heute von der Chemie Abschied nehmen, um in dem Atom¬ 
kern, dem Bereich der Physik, zu verschwinden. Wir können ihr 
bei ihrem Scheiden für manche Anregung danken, denn sie hat, 
gerade durch ihre Hartnäckigkeit, die Wissenschaft immer wieder 
auf ihr letztes Ziel, den Zusammenhang und das innerste Wesen 
aller Materie hingewiesen, und die Forschung angefeuert, immer 
neue Tatsachen zum großen Lehrgebäude heranzutragen, wohl 
der schönste Erfolg, den eine Hypothese zeitigen kann. 



Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich. 

Habilitationsvortrag, gehalten am 13. Dezember 1919 im Chemischen Institute der 
technischen Hochschule in Karlsruhe in Baden, 

von Helmut W. Klever. 

In den letzten Jahren sind eine Anzahl Arbeiten über das 
Kohlebitumen veröffentlicht worden, welche unsere Kenntnis über 
diese Substanz erweitert haben. Diese Arbeiten sind insbesondere 
mit den Namen A. Pictet 1 und F. Fischer 2 und ihren Mit¬ 
arbeitern verknüpft. 

Da man aus diesen Arbeiten Schlüsse auf die Zusammen¬ 
setzung und die Bildung des Kohlebitumens in der Natur ziehen 
kann, so liegt es nahe, diese Schlüsse mit demjenigen, was bisher 
über die Natur des Erdölbitumens bekannt geworden ist, zu ver¬ 
gleichen und von neuem die Frage zu erörtern, ob Erdöl aus 
Kohle in der Natur allgemein entstanden ist. 

Vor der Gegenüberstellung der beiden Arten Bitumina werde 
ich zunächst ganz kurz auf die Theorie der Polymerisation und 
Depolymerisation hindeuten, soweit sie für die Bildung des Bi¬ 
tumens in Betracht kommt. Ich benutze dabei die von A. Kron¬ 
stein 3 eingeführte Nomenklatur. 


1 Bcr. chem. Ges. 44 (1911), S. 2486 9;; ebenda 46 (1913), S. 3342 53; 
ebenda 48 (1915), S. 929; Compt. rend 163 (1916), S. 358/61 (Chem. Centr. 1917, 
II, S. 787); Aun. de Chim. [9] 10 (1918), S. 249/330 (('hem. Centr. 1919, HI, 
S. 2 20/22) ; Helv. Chim. Acta 2 (1919), S. 1.88/195 (Chem. Centr. 1919, I, S. 1005); 
ebenda 2 (1919), S. 501 (Chem. Centr. 1920, I, S. 456); ebenda 2 (1919), 
S. 698/703 (Chem. Centr. 1920, I, S. 653). 

2 Ges. Abhandlungen zur Kenntnis der Kohle, Berlin, Borntraeger, Bd. 1—3, 
1917, 1918, 1919. 

* Bor. chem. Ges. 53 (1902). S 4150 u. P53 u. ebenda 49 (1916), S. 732, 
ferner Kn gl er-II öf er ,,l)as Kidöl“, Bd. I, S. 28, S. 393, S. 420 ff. 



Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich. 


85 


Hierauf möchte ich Ihnen über die Entstehung des Erdöl¬ 
bitumens berichten, und zwar summarisch, denn diese Materie ist 
Ihnen meistenteils bekannt. 

Daran anschließend werde ich an Hand der neueren Arbeiten 
die Bildung des Kohlebitumens ausführlicher auseinandersetzen 
und schließlich den Vergleich zwischen beiden Bitumina bringen. 

Die im Bitumen sich abspielenden Polymerisations- und De- 
polymerisationsvorgänge verlaufen im Sinne der sogen, „meso- 
morphen Polymerisation ünd Depolymerisation." 

Das Schema dieses Vorganges ist folgendes: 

Das monomere Ausgangsprodukt polymerisiert unter dem 
Einfluß von Wärme oder Katalysatoren oder unter der Wirkung 
beider Einflüße zu einem mesomorphen Zwischenprodukt, welches 
einen definierten, höher molekularen Körper vorstellt. Dies 
Zwischenprodukt ist gesättigter und schwerer löslich in Lösungs¬ 
mitteln geworden. Durch weitere Einwirkung von Wärme und 
Katalysatoren kann es so hoch polymerisieren, daß es gesättigt und 
in Lösungsmitteln unlöslich oder darin höchstens kolloidal löslich 
wird. Es wird dann zum „mesomorphen unlöslichen Endprodukt“, 
welches das Endprodukt der Polymerisation vorstellt. Dies End. 
produkt läßt sich bei Anwendung noch höherer Temperaturen 
spalten, abbauen, aber nicht oder nur zu sehr geringem Teil in 
das monomere Ausgangsprodukt zurückverwandeln. Die Spaltung 
verläuft in anderer Richtung. 

Im Gegensatz zur mesomorphen Polymerisation erhält man 
aus dem Endprodukte der sogen, „euthymorphen Polymeri¬ 
sation“ beim Erhitzen das monomere Ausgangsprodukt zurück. 
Ich erinnere an das Beispiel Formaldehyd-Paraformaldehyd, Cyclo- 
pentad ien-Pol ycyclopentadien usw. 

Ein Beispiel für die mesomorphe Polymerisation ist die Harz¬ 
bildung aus Terpenen. Ein mesomorphes Zwischenprodukt in der 
Natur ist z. B. der in Lösungsmitteln lösliche Anteil des Bern¬ 
steins. Ein mesomorphes Endprodukt ist das Kopalharz. 

Die Spaltung des Endproduktes bei der Depolymerisation 
verläuft so, daß ein gesättigtes und ein ungesättigtes Spaltstück 
erhalten wird. 

Ein Reaktionsschema hierfür habe ich Ihnen in Tabelle I 
wiedergegeben. Dasselbe ist im Prinzip mit dem Schema, welches 
Thorpe und Young im Jahre 1872 aufgestellt haben, identisch. 

Verhandlungen, 27. Bd. 8 



86 


Helmut W. Klever. 


Tabelle i. 

(Modifiziertes Reaktionsschema nach Thorpe & Young 1872). 

dl, • (CH 2 )„ • CH, • CH 2 • C« . (CH 2 ) m • CH, 

| Spaltreaktion 

CH, • (CH 2 )„ • CH, h- CH 2 = CH • (CH 2 ) ro • CH, 

gesättigtes ungesättigtes Spaltstück 

CH, • (CH 2 )„ • CH 2 • C^ • cJJ • CH, 

J, Krakreaktion 

CH, • (CH 2 ) n • CH, CH 2 = CH • CH, 

hochmolekulares ungesättigtes gasförmiges 

gesättigtes Spaltstück (Propylen) 

Spaltstück 


Ein hochmolekularer Paraffinkohlenwasserstoff wird gespalten. 
Dies kann in zweierlei Weise geschehen: in milder Form, bei 
massiger Wärmezufuhr, z. B. bei 300°, oder mit energischerem 
Eingriff in das Molekül, — bei höherer Temperatur, z. B. ober¬ 
halb 400°, — unter Abspaltung von Gasen. In dem ersteren 
Falle, wenn hochsiedende Spaltstücke resultieren, spricht man von 
Spaltreaktionen, in dem letzeren, wenn Gase resultieren, von 
Krakreaktionen. 

Ich möchte daran erinnern, daß während der Polymerisation 
und Depolymerisation lsomerisationen stattfinden können, wie 
O. Aschan 4 und C. Engler und O. Routala 5 festgestellt 
haben.. Olefin-Kohlenwasserstoffe können in gesättigte, ring¬ 
förmige Naphten kohlen Wasserstoffe übergehen. Diese ihrerseits 
können unter Dehydrierung Benzolkohlenwasserstoffe bilden. 
Hexylen geht z. B. unter der Einwirkung von Hitze — auch 
ohne Katalysatoren — in Hexanaphten über. Dies kann nach 
dem Vorgang von Sabatier 6 unter der Einwirkung von Eisen¬ 
oxyd dehydriert werden zu Benzol. 

So ist cs von Wichtigkeit, daß Katalysatoren, die in der 
Yatur häufig Vorkommen, und auf die Bitumina gewirkt haben 

4 Lieb. Anm. 324 (1902) S. I. 

’■ Her. chcm. (res. 42 (190D), S. 4613 und 4620. Diss. O. Routala, Karls- 
iuhe, IH09. 

' Kn^lcr-Höfer „Das Krdöl“, Ud. I, S. 324; ßd. II, S. 65. 





Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich. 


«7 

können, auch im Laboratorium als starke Polymerisations-, Depoly- 
merisations- nnd Isomerisationskatalysatoren erkannt worden sind, 
z. B. Quarzsand, Metalloxyde, Metalle, Tonerde, das erwähnte 
Eisenoxyd usw. 

Die genannten Reaktionen spielen für die Bildung der Bitu- 
mina eine Rolle. Dabei ist zu beachten, daß sie meistens neben¬ 
einander wirken. Findet das Bitumen in der Natur z. B. Bedin¬ 
gungen, die seine Polymerisation veranlassen, so kann gleichzeitig 
nebenher Dcpolymerisation eines Anteiles des Bitumens eintreten. 
Umgekehrt kann seine Dcpolymerisation teilweise von Polymeri¬ 
sation begleitet werden. Wenn also im folgenden von Polymeri¬ 
sation oder Depolymerisation des Bitumens die Rede ist, so ist in diese 
Begriffe ein nebenher möglicher umgekehrt erfolgender Rcaktions- 
verlauf oder Isomerisation stets mit eingeschlossen, ohne daß hierauf 
noch einmal hingewiesen wird. Ich will nämlich mit diesen Begriffen 
nur die hauptsächlich sich abspielenden Reaktionen charak¬ 
terisieren. 

Sie sehen aus dieser Auseinandersetzung von vornherein, wie 
komplizierter Art die Bildung des Bitumens und wie kompliziert 
seine Zusammensetzung ist. 

Zwei Ausgangsmaterialien kommen nach H. Potonie 7 haupt¬ 
sächlich als Substrat für die Bildung des Bitumens in Betracht: 

1. Der Faulschlamm stehender Gewässer, z. B. der Schlick 
von Binnenseen, Strandlinien und Wattenmeeren, von 
Potonie genannt Sapropel (d. i. Faulschlamm). — Dieses 
Produkt ist der hauptsächlichste Bildner von Erdöl. 

2. Die Pflanzenwelt der Moore. Sie ist der Bildner der 

Humusgesteine, der Kohlen. 

Wir wollen nun die Bildung des Erdöles aus Faulschlamm 
gesondert von der Entstehung der Kohle aus Humussubstanzen 
betrachten. 

Im Sapropel finden wir als typische Bestandteile Fett- und 
Eiweißreste der abgestorbenen Tier- und Pflanzenwelt. In Um¬ 
wandlung begriffene Zellulose und Pflanzenharze treten darin 
zurück. — Fett und Eiweiß stammen hauptsächlich nach Potonie’s s 
Feststellungen aus der Tierwelt und zwar sowohl von Makro- 

7 H. Potonie „Die Entstehung der Steinkohle und der Kaustobiolithe über¬ 
haupt“, Bornträger, 1910, S. 15 —18. 

^ Potonie 1. c. 

8 * 



Helmut W. Klever. 


88 


fauna, also Fischen, Mollusken usw. als auch von Mikrofauna 
der Gewässer her. Auch ölführende Algen sind Fettbildner. 

Diese Substanzen sind durch überlagerndes Wasser von dem 
Sauerstoff der Luft abgeschnitten. Sie unterliegen dem 
sogenannten Fäulnisprozeß. Anaerobe Bakterien bedingen z. T. 
die hierbei auftretenden Reaktionen, z. B. die Fäulnis des Ei¬ 
weißes. Aus dem Sapropel entwickelt sich Methan, Kohlensäure, 
Ammoniak. Die Fette werden während des Versinkens des Faul¬ 
schlammes in tiefere Erdschichten verseift; das Glyzerin wird durch 
Lösung in Wasser fortgeführt. Insbesondere werden die Fett¬ 
säuren, wahrscheinlich durch Bakterienwirkung, in höhermolekulare 
Fettsäuren, in Wachssäuren umgewandelt. Es bildet sich im Sap¬ 
ropel das sogenannte Leichenwachs. 

Die Mengen Leichenwachs im Schlick sind verhältnismäßig 
große. In der Mark Brandenburg wurde in den 90er Jahren des 
vorigen Jahrhunderts ein See trocken gelegt, der Ahlbecker See. 
Der See ist etwa 900 ha groß. Die Schlickschicht ist etwa 
7—14 m dick. G. Krämer und A. Spilker 9 untersuchten den 
Schlick auf seinen Wachsgehalt und berechneten, daß in dem 
Gesamtschlick etwa 2 000000 Meterzentner (1 Meterzentner = 100 kg; 
Leichenwachs vorhanden waren. Dies Wachs war nach Potonies 10 
Untersuchung hauptsächlich der Rest einer abgestorbenen Mikro¬ 
fauna. Diese scheint also einer der Hauptbildner des Erdöls zu sein. 

Bei der weiteren Schilderung der Umwandlung des Sapro- 
pels in den Erdschichten wende ich der Übersichtlichkeit halber 
im folgenden in den Grundzügen die Engler’sche Nomen¬ 
klatur" an. 

Engler bezeichnet die Wachsbildung aus dem Fette der 
Tier- und Pflanzenreste als den Anfang der Bituminierung. 
Das Wachs nennt er „Anabitumen“ von „ava“ = hinauf. 

Das Anabitumen wird nun von geologisch jüngeren Schichten 
überdeckt. Es wird der Wirkung von Wärme und Katalysatoren, 
z. B. Sand, Thon, Kalkgestein ausgesetzt. Unter diesen Einflüßen 
wird aus dem Wachs allmählich Kohlensäure abgespalten. Dies 


H Ber. chem. Ges. 32 (1899), S. 2941. 

10 H. Potonie, Jahrbuch der königl. preul>. geolog. Landesanstalt und Bergaka¬ 
demie 25 (1904), S. 345. 

11 Engler-Höfer „Das Erdöl“, Bd. i, S. 35 ff. 



Erdölbilumen und Kohlebitumen, ein Vergleich. 


89 


geschieht gemäß dem Vorgänge, den En gier 12 in seinen grund¬ 
legenden Versuchen experimentell sichergcstellt hat. Die Wachs¬ 
säuren werden in Kohlenwasserstoffe umgewandelt. Diese letzteren 
unterliegen dann der Polymerisation und Isomerisation. 

Die Polymerisation schreitet häufig vor bis zur Bildung des 
unlöslichen Endproduktes. Dieses nennt Engler „Polybitumen“. 
Ein Beispiel für letzteres ist das Bitumen des Württembergischen 
Liasschiefers. Dies Bitumen ist in Lösungsmitteln sozusagen unlös¬ 
lich. Erst nachdem man den Schiefer eine Zeit lang erhitzt hat, 
ihn, wie es heißt, „aufgeschlossen“ hat, ist das Bitumen löslich 
geworden. Es wurde dabei in das lösliche mesomorphe Zwischen¬ 
produkt umgewandelt. 

Nun wird das Polybitumen bei weiterem Versinken in noch 
größere Erdtiefen weiteren Umwandlungen ausgesetzt. Es wird 
gespalten, gekrakt. Dabei entsteht nach Engler ein Zwischen¬ 
produkt zwischen Polybitumen und Erdöl. Er nennt dasselbe 
„Katabitumen“ von „xard“ = hinab. 

Der beinahe schwefelfreie Bergteer von Wels 13 in Tirol ist 
ein solches Katabitumen. Er hat durchaus Schmierölcharakter. 
Benzine und leichtsiedende Kohlenwasserstoffe enthält er nicht. 
Er ist also noch nicht zur Bildung leichtsiedender Kohlenwasser¬ 
stoffe entpolymerisiert. Als solches Katabitumen wird auch der 
Asphalt eines Asphaltvorkommens in der Schweiz, im Val de 
Travers 11 , aufgefaßt. Hier liegt ein Produkt nicht von Schmieröl-, 
sondern von Asphalteigenschaften vor, weil das Bitumen sehr 
schwefelhaltig geworden ist und daher harzige Konsistenz er¬ 
halten hat. 

Durch weitergehende Spaltung entsteht nun aus dem Kata¬ 
bitumen das Erdöl. Dieses kann je nach der Zusammensetzung 
des ursprünglichen Sapropels, nach Art der Einwirkung von 
Wärme, Katalysatoren usw. durchaus verschiedene Zusammen¬ 
setzung haben. Insbesondere wird der Schwefel und die Anwesen¬ 
heit von Schwefelverbindungen im Erdöl bei den chemischen Um¬ 
wandlungen wichtigen Einfluß gehabt haben. 

12 Ber. chem. Ges. 21 (1888), S. 1816. Jahrbuch der königl. preuß. geolog. 
Landesanstalt und Bergakademie 25 (1904), S. 347. 

13 Engler-Hofer, Bd. I, S. 31 und 807: Diss. J. Tausz, Karlsruhe 1911. 

14 Ebenda, Bd. II, S. 158. 



Helmut W. Klever. 


90 


Ich möchte nebenher erwähnen, daß der Schwefel im Erdöl 
aus verschiedenen Quellen stammen kann: Schon das Leichen¬ 
wachs im Sapropel ist stets schwefelhaltig. Der Schwefel ist hier 
in gebundener Form vorhanden. Er stammt ohne Zweifel von 
abgestorbenen Resten von Schwefelbakterien. 15 Insbesondere 
wird aber wohl Berührung mit den in der Natur weitverbreiteten 
Sulfaten 10 , welche von den Kohlenwasserstoffen reduziert werden, 
und mit Pyriten 17 Ursache der S-Aufnahme im Erdöl sein. 

So sind die Erdöle verschieden zusammengesetzt. Die dem 
Devon entstammenden Erdöle von Pennsylvanien enthalten meist 
Paraffin-, die dem Mesozoikum und Tertiär entstammenden 
kaukasischen meist NaphtenkohlenWasserstoffe. In den galizischen, 
rumänischen, den Erdölen von Borneo, Kalifornien befinden sich 
reichliche Mengen aromatischer Kohlenwasserstoffe, außerdem in 
mäßiger Menge Phenole, Produkte, die dem Erdöle einen stein- 
kohlenteerähnlichen Habitus geben. 

Diese Ähnlichkeit ist mehrfach zur Stützung der Hypothese 
herangezogen worden, daß das Erdöl ganz allgemein oder wenigstens 
in vielen Fällen aus der Steinkohle 18 entstanden sei. 

Bevor ich hierauf näher eingehe, möchte ich noch die Weiter¬ 
entwicklung des Erdölbitumens verfolgen. 

Infolge des Auftretens von Gasen steht das Erdöl sehr häufig 
im Erdinnern unter Druck. Es wird oft bis zur Erdoberfläche 
hinaufgetrieben und kommt nun in höheren Schichten mit Luft 
in Berührung. Der Sauerstoff löst Autoxydations- und Poly- 
merisationsprozesse aus, insbesondere in stark schwefelhaltigen 
Erdölen. Dabei entsteht Asphalt. So kommt es, daß Ober¬ 
flächenlagerstätten von Erdöl meist von Asphaltlagern überdeckt 
sind. 

Diesen Asphalt, das Endprodukt der Entwicklung des Bitumens, 
nennt Engler „Oxy bi turnen“. 

i:> (i. Krämer u. A. Spilker, Ber. them. Ges. 32 (1899), S. 2940; 33 (1902), 
S. 1212; Engler-Höf er, „Das Erdöl“, Bd. I, S. 34 und (>77. 

«•' Englcr-Höfer, „Das Erdöl“, Bd. I, S. 677; Bd. II. S. 30. 

17 Engler-IIöfer, „Das Erdöl 4 , Bd. I, S. 330: \V. Steinkopf, Cliem. Ztg. 
1911, S. ioo«S. 

ls Ycrgl. z. B. A. Bietet, Ann. de Chim. [oj 10 (1918), S. 249 330 (Chem. 
< >ntr. 19I'). III, S. 220 22t. 



Erdölbitumen und Kohlcbkumen, ein Vergleich. 


QI 


Ich kehre zurück zu dem Zusammenhänge zwischen Erdül- 
und Steinkohlebitumen und möchte Ihnen nun insbesondere an 
Hand der neueren Arbeiten zeigen, was Steinkohlebitumen ist. 
Wir wollen den Entwickelungsgang desselben verfolgen, wie den 
des Erdölbitumens und dann den Vergleich ziehen. 

Als Substrat für die Bildung der Steinkohle kommt höchstens 
in untergeordnetem Maße Sapropel, in der Hauptsache vielmehr 
die Humussubstanz, also Pflanzensubstanz in Betracht. 

So haben wir uns mit der Bildung der Torfmoore und mit 
ihren Anhäufungen von Pflanzensubstanz zu beschäftigen. 

Der Hauptbestandteil für die Bildung des Humus in den 
Mooren ist das Holz. Es 19 besteht im Durchschnitt aus etwa: 

Tabelle 2. 

50—6o°/„ Zellulose, 

10—20% Hemizellulosen, darunter Dextrin-Arten 
und Stärke, 

20—30% Lignin, 

3— 5 % Harz und Fett, 
etwa 1 % Proteine. 

Da Rinde mit zur Vertorfung kommt, so sind noch die Kork¬ 
substanzen' hinzuzurechnen. 

Was Zellulose ist, ist Ihnen bekannt. Es ist ein hoch¬ 
molekulares Kondensationsprodukt von Zuckerarten. Die Hemi¬ 
zellulosen sind ähnlicher Natur, aber niedriger molekular. Teil¬ 
weise sind sie wasserlösliche Substanzen, welche auf der Holz¬ 
faser eine leimende, kittende Wirkung ausüben. Teilweise be¬ 
stehen sie aus Reservestoffen, aus Stärke. Das Lignin ist ein 
hochmolekulares Kondensationsprodukt von Harzalkoholen. Es 
ist mit der Zellulose vergesellschaftet. Es steht entweder in 
ätherartiger Bindung mit ihr, oder bildet mit ihr eine Adsorptions¬ 
verbindung. Es dient der Festigung der Holzfaser. Es enthält 
Methoxylgruppen, im Gegensätze zur Zellulose, die keine solchen 
enthält. Diese Eigenschaft des Lignins ist für seine Erkennung 
von Wichtigkeit. Die Korksubstanz der Rinde besteht aus einem 
hochmolekularen Polymerisationsprodukt von Fettsäure-Anhydri- 


19 C. Schwalbe, „DieChemie der Zellulose“, Berlin, Borntraegcr, 191 1, S.441. 



9 *' 


Helmut VV. Klever. 


den. '-’ 0 Sie ist ein wachsartiger Körper, der mit Zellulose ähnlich 
vergesellschaftet ist, wie das Lignin. 

Diese Substanzen, einschließlich dem Fette und dem Harze 
des Holzes, machen in den Torfmooren zunächst einen „Ver¬ 
moderungsprozeß“ durch. Unter Vermoderung versteht man 
eine Zersetzung bei Gegenwart von Luft und Feuchtigkeit. 
Dieser Prozeß wird später, wenn die abgestorbenen Pflanzenreste 
überwuchert werden, von dem Prozesse der Vertorfung — bei 
Zutritt von wenig Luft —, abgelöst. In größeren Tiefen der 
Torfsubstanz wirkt endlich dieser Prozeß bei Gegenwart von 
sehr wenig oder ohne Sauerstoff. 

Diese Vorgänge sind in den oberen Schichten durch die 
Wirkung des Sauerstoffes charakterisiert. Aus den Kohlehydraten 
wird Wasser wegoxydiert. Sie werden kohlenstoffreicher und 
wasserstoffärmer. Mit zunehmender Tiefe verlangsamt sich diese 
Zersetzung. Aus Tabelle Nr. 3 ersehen Sie die Kohlenstoffzu¬ 
nahme und die Wasserstoffabnahme der Holzfaser, zunächst 
während des Vertorfungsprozesses und später, während der 
Fortsetzung desselben, während des sogen. Inkohlungsprozesses, 
der über Braunkohle und Steinkohle bis zur Bildung von 
Anthrazit, dem Endprodukte der Inkohlung, fortschreitet. 


Tabelle 3. 



Kojilenstoff 

Wassersoff 

Sauerstoff 
+ Stickstoff 

Holzfaser . . . 

50% | 

6 % 

44 % 

Torf. 

59 °/o 

6 % 

35 % 

Braunkohle . . . 

69 °/o 

5*5 % 

i 2 5 o io 

Steinkohle . . . 

81 % 

°/ 

0 /o 

T A O ! 

14 / 0 

Anthrazit . . 

95 °o J 

2 O / 0 

^ - 0 ! 

2 o ,0 


Diese Vorgänge sind im Laboratorium nachgeahmt worden. 
Als erster ist hier vorgegangen Cagniard de la Tour. 21 Später 
haben in dieser Richtung gearbeitet Stein--, Klason-’* und 

7 " Ebenda, S. 482. 

21 Jahresbericht über die Fortschritte der Chemie 3 (1850), S. 540. 

• 2 Chcm. Centr. iqoi, II, S. 950. 

21 Zeitschr. f. angew. Chemie 22 (1909), S. 1205; 23 (1910), S. 1252. 





Erdölbitumen und Kohlcbitumcri, ein Vergleich. 


93 


Bergius 21 . Es gelang durch Erhitzen von Holz mit Wasser unter 
Druck auf Temperaturen von 300-350° zunächst Torfsubstanz, 
dann Braunkohle, hierauf Steinkohle, endlich Anthrazitkohle dar¬ 
zustellen. Die erhaltenen Substanzen stimmten in der Elementar¬ 
zusammensetzung mit den entsprechenden natürlichen Kohlen in 
den Hauptzügen überein. Natürlich besteht keine vollkommene 
Identität zwischen den natürlichen und künstlichen Kohlen, denn 
die Zusammensetzung der Pflanzen des Tertiärs und des Carbons 
ist eine ganz andere gewesen, als die unserer heutigen. Außer¬ 
dem kommen in der Natur außer Holz noch eine Reihe anderer 
Substanzen, insbesondere derjenigen der Rinde, Blätter und Früchte 
und außerdem noch geringe Mengen von Sapropel mit zur In¬ 
kohlung. Infolgedessen unterscheiden sich die natürlichen Kohlen 
von den künstlichen z. B. durch ihren höheren Stickstoffgehalt. 
Natürlich bewirkt die Berührung mit aus mineralischen Quellen 
stammendem Schwefel den Schwefelgehalt der natürlichen Kohlen 
im Gegensätze zur Abwesenheit desselben in den künstlichen. 

Dieser Anschauung steht die Ansicht von E. Donath 2 ' 1 ent¬ 
gegen, die wohl die Bildungsreihe Holz — Torf — Braunkohle 
als bestehend anerkennt, nicht aber den Übergang von Braun¬ 
kohle zu Steinkohle und Anthrazit. Donath begründet dieselbe 
mit dem Hinweise auf das Vorhandensein von Methoxylgruppen, 
also von Ligninsubstanz in Holz, Torf und Braunkohle, und im 
Gegensatz dazu auf ihr Fehlen in der Steinkohle. Diese Ansicht 
ist aber nicht stichhaltig. Denn der Methoxylgehalt nimmt von 
Holz über Torf zur Braunkohle ab 2(i . Es ist daher zu erwarten, 
daß er mit noch weiterschreitender Inkohlung ganz verschwindet; 
und dieser Zustand ist eben in Steinkohle und Anthrazit erreicht. 
Ferner folgert Donath* 7 aus dem homogenen muscheligen Bruch 
und Glasglanz der Steinkohle, daß diese im Erdinnern unter dem 
Gebirgsdrucke einen Zustand der Erhitzung unter Weichwerden 
durchgemacht habe, und er behauptet, nur da, wo Holz diese 
Druckerhitzung erfahren habe, könne Steinkohle entstanden sein. 


24 F. Bergiu?, „Die Anwendung hoher Drucke bei chem. Vorgängen und eine 
Nachbildung des Entstehungsprozesses der Steinkohle“, Halle (Knapp) 1913. 

Zeitschr. angew. Chemie 1906, S. 657/68. 

-* J Vgl. Benedikt und Bambcrger, Monatsb. f. Chem. 11 (1890), S. 264; 
ferner Ges. Abh. zur Kenntnis der Kohle, 1 . c., Bd. IT, S. 152; Bd. III, S. 331. 
< >sterr. Z. f. B. 11. H. 50 (1902), S. 15/17, 29 43, 46/49. 



94 


Helmut \V. Klever. 


Dieser Ansicht läßt sich entgegenhalten, daß natürlich auch Braun¬ 
kohle derartige Umwandlungsbedingungen gefunden hat und dabei 
in Steinkohle übergegangen ist. Dieser Vorgang wurde, wie schon 
erwähnt, im Laboratorium durch die Versuche von Stein, Klason, 
Bergius u. a. nachgeahmt. — 

Bei der Vermoderung in der Natur bilden sich aus der Zellu¬ 
lose vorwiegend Humussäuren, braune Substanzen, welche sich in 
Wasser kolloid lösen und die braune Farbe der Moorwässer ver¬ 
anlassen. Leichter als in Wasser lösen sich diese Substanzen in ver¬ 
dünnter Natronlauge und können aus der Lösung mit Mineral¬ 
säuren ausgefällt werden. Diese Eigenschaft hat veranlaßt, daß 
man die Substanzen „Säuren“ genannt hat. Wahrscheinlich han¬ 
delt es sich jedoch bei dieser Lösung und Fällung nur um Dispersion 
und Ausflockung von Kolloiden. 

Außer diesen löslichen Kolloiden entstehen aus der Zellulose 
auch noch unlösliche Substanzen. Diese sind gemischt mit Lignin- 
Substanz, Korksubstanz, Fettsubstanz und Harz. Das unlösliche 
Produkt heißt Humin-Substanz. 

Darin sind auch tierische Reste enthalten, Fett- und Eiwei߬ 
reste, die aber eine untergeordnete Rolle bei der Vertorfung spielen. 

Die Fettsubstanzen machen denselben Prozeß durch, wie auch 
im Sapropel. Sie werden zu Wachs bituminiert. Die Harze 
polymerisieren sich; sie verlieren ihren sauren Charakter. Sie 
werden außerdem hydriert. So tritt im Torf der gesättigte Kohlen¬ 
wasserstoff Fichtelit 2 - auf, der aus dem Harzkohlenwasserstoff 
Oktohydroreten entstanden ist. Auf diese Weise üben die Harze 
bei dem Vertorfungsvorgange eine allmähliche dehydrierende 
Wirkung aus. 

Der Torf ist nach dem vorigen sehr kompliziert zusammen¬ 
gesetzt. Er besteht, um es nochmals zu wiederholen, aus Humus¬ 
säuren und aus Huminsubstanz, in der ausser Celluloseresten, 
Lignin-, Harz-, Wachs- und Eiweißreste enthalten sind. 

Die Harz-, Wachs- und Eiweißreste stellen nichts anderes 
vor, wie Bitumen, und zwar nach Engler’s Nomenklatur: Ana- 
bi tu men. In demselben befinden sich allerdings im Gegensätze 
zum Anabitumen des Sapropels von vornherein sehr hochpolymere 
Körper, nämlich das Lignin und das Korkwachs. 

vs Vgl. A. Tschirch „Die Harze und die Harzbehälter“, Leipzig, Horntracger, 
i»lot», S. bJSo, 703. 



Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich. 


95 


Man kann das Bitumen dem Torf durch Extraktion entziehen. 
Die Ausbeute beträgt etwa 4—5% davon. 

D. Holde ”' hat nun die Ausbeute dadurch erhöht, daß er die 
Extraktion bei erhöhter Temperatur unter Druck unternahm. Er 
hat in seiner Untersuchung zum erstenmale das Prinzip der Druck¬ 
extraktion des Bitumens angewandt. Dieser interessante Vorgang 
ist wohl so zu deuten, daß ein Abbau höherpolymerer Substanz 
— vielleicht von unlöslichem Harz und Korkwachs — zum lös¬ 
lichen Zwischenprodukt stattfindet. 

Wir verlassen nunmehr den Vertorfungsprozeß und wenden 
uns der Inkohlung zu! 

Die Inkohlung beginnt, sobald der Torf in tiefere Erdschichten 
gelangt und von anderen geologischen Schichten überlagert wird. 
Er verwandelt sich dabei zunächst in Braunkohle. 

Wird Braunkohle untersucht, so bekommt man von den Be¬ 
standteilen ein ähnliches Bild, wie auch von denen des Torfes. 

Denn die Braunkohlen enthalten wechselnde Mengen an 
Humussäuren, oder wie sie auch genannt werden „Huminsäuren“. 

Die Ligninsubstanz ist darin durch Prüfung auf Methoxyl- 
gruppen nachweisbar. 

Durch Extraktion wird der Braunkohle Wachs, sogen. Mon¬ 
tanwachs, und Harz, sogen. Montanharz, entzogen. Das Montan¬ 
wachs enthält die Montansäure, eine Wachssäure mit einer Kette 
von 28 Kohlenstoff-Atomen im Molekül. Diese Säure ist teilweise 
mit Wachsalkoholen verestert, teilweise frei vorhanden. 

Wird die mit Benzol unter Kochen extrahierte Braunkohle 
nach dem Vor gange von Holde bei höherer Temperatur, also 
unter Druck extrahiert, — eine Arbeit, die F. Fischer 80 aus¬ 
geführt hat —, so wird eine bedeutend erhöhte Ausbeute an 
Wachs-Harz-Gemisch erhalten. Sie ist je nach der Herkunft der 
Braunkohle verschieden. Bei rheinischer Braunkohle werden etwa 
.5—7°/ 0 Extrakte erhalten. Sächsische Braunkohle liefert bei der 
Kochextraktion etwa 12%, bei der nachfolgenden Druckextraktion 
nochmals 12—13% an Bitumen. Die rheinische Braunkohle 
würde also in ihrer Zusammensetzung etwa dem Torfe der heutigen 
Torfmoore entsprechen. Die Braunkohlen wälder der säch- 

Mitt. K. Materialprüf.-Amt Groß-Lichterfelde West 27 {10091, S. 23—24. 

30 Ges. Abhandlungen zur Kenntnis der Kohle, Bd. 1 , S. 54. 



Helmut W. Klever. 


96 

sisehen Braunkohle müssen im Gegensatz dazu mit Pflanzen 
von sehr hohem Wachs- und Harzgehalt bestanden gewesen sein. 

Das Bitumen der Braunkohle ist nach der En gl ersehen 
Nomenklatur noch als Anabitumen aufzufassen, denn bei der Koch- 
und Druckextraktion werden keine prinzipiell verschiedenen Re¬ 
sultate gegenüber der Torfextraktion erhalten. 

Bei der in der Technik in großem Maßstabe ausgeführten 
Schwelung, d. i. Verkokung der Braunkohle wird dies Anabi¬ 
tumen mit der darin enthaltenen unlöslichen Lignin- und Kork¬ 
wachssubstanz unter Spaltung und Kraken zersetzt und liefert 
den bekannten Braunkohlenteer. 

Geschieht die Schwelung bei etwa 8oo°, so resultiert ein Teer, 
der mehr Erdöleigenschaften hat als Steinkohlen-Koksteer. Es sind 
Paraffine, Olefine, hydroaromatische und wenig aromatische Kohlen¬ 
wasserstoffe darin enthalten, ferner Phenole und Pyridinbasen. 

Wird die Braunkohle im Gegensätze zum Vorigen, wie E. 
Börnstein 81 zuerst ausführte, bei etwa 450°, also bei tiefer 
Temperatur geschwelt, so erhält man einen sogen. Tieftemperatur¬ 
teer mit bedeutend höherem Wasserstoffgehalt. Die aromatischen 
Kohlenwasserstoffe verschwinden. Mehr Paraffin- und gesättigte 
Naphtenkohlenwasserstoffe treten auf. Es sind aber noch be¬ 
trächtliche Mengen an hydroaromatischen und harzigen Kohlen¬ 
wasserstoffen, außerdem ein hoher Prozentsatz an Phenolen vor¬ 
handen. Der Phenolgehalt ist bedeutend höher als im Schwelteer. 

Hierüber haben F. Fischer 32 und Mitarbeiter, insbesondere 
W. Gluud und W. Schneider, umfangreiche Arbeiten durch¬ 
geführt und mehrfach veröffentlicht. 

Es erhob sich nun die Frage, welchen Bestandteilen der 
Braunkohle wichtige Teeranteile, wie Paraffin und Phenole ent¬ 
stammen. Hierüber gibt eine Arbeit von W. Schneider 83 Auf¬ 
schluß, die im Kohlenforschungsinstitut in Mülheim a. d. Ruhr aus¬ 
geführt worden ist. deren Bedeutung für die Umwandlung des 
Bitumens in der Natur und für die Teerbildung bisher aber nicht 
genügend hervorgehoben wurde, die ich daher ausführlicher be¬ 
sprechen will. 

il Journal f. Gasbeleuchtung 4«) (i<>ob), S. 627, 648, 667. 

;ta 1. c. 

Ges. Abhandlungen zur Kenntnis der Kohle, Bd. Hl, S. 325. 



Erdölbitnmen und Kohlebitumen, ein Vergleich. 


97 


Zunächst trennte Schneider die Braunkohle durch Koch- 
utid Druckextraktion folgendermassen: 


Tabelle 4. 

Benzolkochextrakt. 

(bestehend aus: 2% Montanharz 
und 13% Montanwachs) 

Benzoldruckextrakt. 

(Wachs -4- Harz) 

Huminsäuren.etwa 

organischer Natur 
(polym. Lignin u. Korkwachs 
usw.).etwa 


Unlöslicher 

Rückstand 


Unlöslicher 

Rückstand 

Verlust 


Asche 


rund 

etwa 


» 5 >°°o 

8,0% 

53 >o°/ 0 


10 , 0 % 

13.°% 


I 00,0 °j o 


Als Benzolkochextrakt erhielt er 15% der Braunkohle. 
Diesen trennte er in Montanwachs (13%) und in Montanharz (2%). 

Als Benzoldruckextrakt erhielt er weitere 8% der Kohle an 
einem Wachs-Harz-Gemisch, das er nicht trennte. 

Den Kohlerückstand kochte er erschöpfend mit verdünnter 
Natronlauge und erhielt etwa 53,0% Huminsäuren. 

Der nun verbleibende Rückstand enthielt 10% organische 
Substanz, die m. E. in der Hauptsache aus hochpolymerer Lignin¬ 
substanz besteht und polymeres Korkwachs, Harz, Protein usw. 
enthalten kann, und 8,4% Asche. (% berechnet auf Kohle). 

Diese Extrakte hat Schneider u. a. auf Methoxylgehalt und 
N-Gehalt geprüft. Ferner hat er die Substanzen in der Glas¬ 
retorte geschwelt. Die erhaltenen Resultate sind in Tabelle 5 
zusammengestellt. (S. Tabelle 5.) 

Vergleichen wir in Tabelle 5, 1. Vertikalreihe, die Methyl¬ 
zahlen, so sehen wir, daß das noch montanwachshaltige Montan¬ 
harz und das noch montanharzhaltige Montanwachs des Benzol- 
Kochextraktes an sich die höchsten Methylzahlen liefern. Das 
Gemisch Montanwachs •+■ -Harz des Benzol-Druckextraktes gibt 
eine etwas niedrigere Methylzahl, dagegen die unlösl. organische 
Substanz wieder eine höhere und die Huminsäuren ihrerseits eine 
verschwindend geringe Methylzahl. 








Q.s 


Helmut W. Klever. 


Tabelle 5. 


1 

Methylzahlen Stickstoffgehalii Teerausbeute 


ber. auf die ange¬ 
wandte Sbst. 


Montanharz 

Montanwachs 

Druckextrakt 

Huminsäuren 

Unlösl. organ. 

Substanz(polym. 


34 

2,0 

1,2 

0,1 


Lignin + Kork- 
wachs usw.). 

Ursprüngl. 
Kohle . . . 




1,98 


ber. „entspre- her. auf die an- 1 
chend der Menge, .gewandte Sbst- j 
mit der die Sub- 1 
stanzen an der Zu¬ 
sammensetzung 
der Kohle betei¬ 
ligt sind.“ 


0,068 

0,26 

0,096 


M 


Spuren 


hoch 


etwao,7% ! fast kein 
Teer 


°» 47 % hoch 
0,6 °/ 0 i 


-* o 


Es fragt sich nun zunächst, welcher Quelle die die Methyl¬ 
zahl liefernden Methoxylgruppen in den einzelnen Substanzen ent¬ 
stammen. Daß die natürlichen Harze 34 , wie man sie auch in den 
Koniferenwäldern des Tertiärs als vorhanden gewesen annehmen 
kann, oft Methoxylgruppen enthalten, ist bekannt. Man kann 
daher ihr Vorhandensein in den Substanzen der Extrakte auf 
diese Quelle zurückführen. Der Methoxylgehalt der unlöslichen 
organischen Substanz wird ohne Zweifel durch Gegenwart von 
Ligninrest verursacht, welcher als von vornherein im Bitumen 
eingeschlossenes hochpolymeres, unlösliches Polymerisationsprodukt 
in der Braunkohle noch vorhanden ist. Natürlich kann letzteres 
auch zum polymeren Endprodukte umgcwandeltes Harz neben 
Korkwachsresten usw. enthalten. Die kleine Methylzahl der 
Huminsäuren deutet wohl auf von dieser adsorbierte Ligninsub¬ 
stanz hin. 

Die Prozentzahlen für Methoxylgehalt in der 2. Vcrtikalreihe 
der Tabelle 5 geben den Prozentsatz wieder, mit dem die einzelnen 
Substanzen, die die Braunkohle zusammensetzen, an dem Gesamt- 


:!l Tschirch, 1 . c. P>< 1 . I, S 54 55. 






Erdülbitumcn und Kohlebitumen, ein Vergleich. 


99 


methoxylgehalt der Kohle beteiligt sind. Wir sehen hier, daß die 
Extrakte (das Harz) nur einen verhältnismäßig geringen, dagegen 
die unlösliche organische Substanz weitaus den größten Anteil 
an dem Gesamtmethoxylgehalt besitzen. Dieser Befund ist von 
besonderem Interesse, denn er gestattet die Annahme, daß die¬ 
selbe unlösliche Lignin Substanz, die dem Holze den Methoxyl¬ 
gehalt gibt, in der Braunkohle, wenn auch in umgewandelter 
Form, ebenfalls noch vorhanden ist. 

Der Stickstoffgehalt (3. Vertikalreihe) der Braunkohle, ein 
Abbauprodukt von hochpolymerem Eiweißrest, ist natürlich in der 
unlöslichen organischen Substanz enthalten. Teilweise wird die 
Stickstoff-Substanz von den Huminsäuren adsorbiert worden sein. 
Sonst wären diese nicht stickstoffhaltig. 

Die Teerausbeute (4. Vertikalreihe) aus Wachs, Harz und der 
unlöslichen Substanz ist hoch, und zwar 60—70% derselben. Die 
Huminsäuren liefern fast keinen Teer. So sehen wir, daß die 
Muttersubstanz des Teeres in der Kohle das Bitumen ist. 

Es war nun von Interesse, die Zusammensetzung der aus den 
einzelnen Bitumenbestandteilen geschwelten Teere zu untersuchen. 

Tabelle 6 gibt hierüber Aufschluß: 


Tabelle 6. 


% berechnet auf Teer 


Teer des (der) 


Montanharzes enthält 
Montanwachses „ 
Druckextraktes ,, 
Huminsäuren „ 
Unlöslichen 
organ. Substanz „ 


Paraffin 


o.5 % 

38°/« 

-9% 


Phenole 


>°/ 


3°/ 


O 




o / 

io 


6 « 


i ° 


Das Paraffin entstammt der Wachssubstanz. Das Montan¬ 
harz lieferte ein wenig Paraffin, weil es noch etwas wachshaltig 
ist. Die unlösliche organische Substanz kann Paraffin aus der 
Korksubstanz oder aus schon entstandenem Wachs-Polybitumen 
liefern. 











1 oo 


Helmut W. Klever. 


Die Phenole entstammen dem Montanharz in den Extrakten 
und der Eigninsubstanz in dem Unlöslichen. Das Montanwachs 
konnte Phenole geben, da cs harzhaltig war. So ist die Fest¬ 
stellung von Wichtigkeit, daß die Phenole bei der Teerbildung 
hauptsächlich aus harzartigen Körpern entstehen. 

Die Huminsäuren sind zur Bildung von Paraffin und Phenolen 
nicht befähigt. 

Wir wollen damit unsere Betrachtung über die Zusammen¬ 
setzung der Braunkohle abschließen und uns der Steinkohle 
zuwenden. 

Die Steinkohle unterscheidet sich von der Braunkohle in ver¬ 
schiedener Hinsicht: 

Huminsäuren können mit verdünnter Natronlauge selbst bei 
2oo° unter Druck nur mit verschwindender Ausbeute gewonnen 
werden, wie F. Fischer * 5 neuerdings festgestcllt hat. Die Lignin¬ 
substanz ist in der Steinkohle durch Methoxylbestimmung oder 
durch andere Methoden nicht mehr nachweisbar. 

Harz- und Wachsrest sind zum Polybitumen geworden. Sie 
sind als unlösliches Endprodukt vorhanden. Zum Teil hat sich 
das Polybitumen in Katabitumen umgewandelt. Denn mit 
Lösungsmitteln lassen sich bis zu i % (berechnet auf Kohle) an 
Kohlenwasserstoffen extrahieren. Das beste Lösungsmittel ist, 
wie F. Fischer gefunden hat, flüssige S 0 2 , die etwa i% eines 
balsamartigen rötlichen Öles auszieht. Bei diesem Prozesse ver¬ 
liert die Kohle ihre Festigkeit und zerfällt zu Pulver. Die 
Extrakte sind vorwiegend ungesättigter Natur. Sie enthalten 
hydroaromatische und Naphtenkohlenwasserstoffe. Pictet 36 fand 
in einem Benzolkochextrakt Hexahydrofluoren, Hexahydrodurol, 
Uexahydromesitylen und außerdem Melen, einen festen, weißen, 
gesättigten, äußerlich paraffinartigen Naphtenkohlenwasserstoff. 
der schon im Jahre 1849 von Brodic 37 bei der trockenen Destil¬ 
lation von Bienenwachs im Destillat erhalten wurde, also bei der 
Vakuum Verkokung der Steinkohle wahrscheinlich aus Wachsrest 
entstanden ist. 


Ges. Abhandlungen zur Kenntnis der Kohle, Bd. III, S. 243. 

Bei. Chem. Ges. 44 S. 24<»4 : Ber. chem. Ges. 48 (1915), S. 928 u. <133. 

B. ('. Brodic, Lieb. Ann. 71 (184«)), S. 159. 



Erdölbitumen und Kohlebiturnen, ein Vergleich. 


IOI 


Die Benzoldruckextraktion der Steinkohle hat zuerst Rau w 
in Anwendung gebracht. Er extrahierte bei 200 0 und 14 Atmo¬ 
sphären und erhielt 1 bis 1 % % Extrakt. 

F. Fischer 35 ' extrahierte dann bei 250 270° und 50 Atmo¬ 

sphären Druck. Er erzielte 6,5% Druckextrakt. Von diesem 
waren nur 1 % (berechnet auf Kohle) in Ligroin löslich. Der Haupt¬ 
anteil des Druckextraktes, 5,5% der Kohle, ist ein Harz. 

Diese Untersuchungen deuten darauf hin, daß das Stein¬ 
kohlebitumen vorwiegend aus Harzrest besteht, wie dies auch 
von Picett 40 angenommen wird. 

Dies wird durch die Resultate der Koksteer- und der Tief¬ 
temperaturverkokung bestätigt: 

Der Koksteer enthält kein Paraffin, höchstens Spuren davon, 
vorwiegend aromatische, und, wie ich festgestellt habe, in sehr 
beträchtlicher Menge (etwa 12 — 13% des Teers) hochmolekulare, 
rote harzige Kohlenwasserstoffe, außerdem etwa 5 —10% Phenole 
und in geringerer Menge Pyridinbasen. 

Die Tieftemperaturverkokung liefert quantitativ ein anderes 
Resultat. Sie wurde zuerst von Börnste in 41 in wissenschaft¬ 
licher Form durchgeführt. Die Methode wurde von R. V. 
Wheeler 4 - und von Pictet 13 weiter ausgebildet. Der letztere 
destillierte Kohle bei 450° und 30 mm Druck und erhielt „Vakuum¬ 
teer“. F. Fischer 14 destillierte bei ähnlicher Temperatur in 
einem Trommelofen mit einem leichten Unterdrücke. 

Das Ergebnis ist folgendes: Die Paraffin-Ausbeute wächst. 
Sie beträgt etwa 1 % des Teeres. Insbesondere steigt die Phenol¬ 
ausbeute außerordentlich an, und zwar auf 30—50% des Teeres 
Die aromatischen Kohlenwasserstoffe verschwinden und werden 


18 Stahl und Eisen, 1910, S. 123b. 

™ I. c. 

40 Ann. de Chemie (9) 10 (1918), S. 249—330. 

41 1. c. 

42 „Die flüchtigen Bestandteile der Kohle“, I, Journ. Chein. Soc. London 9; 
(1910), S. 1917/35; dto ebenda 99 (191J), S. 0 49 b“; ferner ,,Die Zusammensetzung 
der Kohle“, Journ. Soc. Chem. Ind. 36 (1917), Suppl. S. 5. 

4; ‘ Ber. chem. Ges. 46 (1913), S. 3343- 
44 1 . c. Bd. II, S. 83 



102 


Von Helmut W. Klever. 


durch hydroaromatische, zum geringen Teil durch Naphtenkohlen- 
wasserstoffe ersetzt. 

Die Bildung der nicht großen Menge Paraffin bei der Tief¬ 
temperaturverkokung beweist den verhältnismäßig geringen Gehalt 
der Steinkohle an Wachsrest. (Der letztere wird bei der hohen 
Temperatur des Koksofens zerstört). 

Die übrigen Bestandteile des Tieftemperaturteeres stammen 
hauptsächlich aus Harzresten. Dies ist insbesondere für die 
Phenole, auch für die hochmolekularen, wahrscheinlich. Denn 
ich habe gemeinsam mit W. Forschner 45 und A. Eisenhut 4,; 
nachgewiesen, daß die höhermolekularen Phenole des Tieftem¬ 
peraturteeres hydroaromatische einwertige Phenole sind. Wir 
konnten nachweisen, daß sich dieselben durch Erhitzung auf 
höhere Temperatur teilweise weiter dehydrieren und depolymeri- 
sieren, und daß sic dabei in geringer Menge in aromatische 
bekannte Phenole übergehen. Es gelang so, für den Übergang 
von Harzalkoholen zu den aromatischen Phenolen während der 
Verkokung einen Beweis zu bringen. Dies Resultat steht in 
Zusammenhang mit dem Befunde von Pictet 47 , der feststellte, daß 
Vakuumteer, direkt nach der Darstellung nur wenig Phenole und 
statt deren hydroaromatische Alkohole enthält, welche allmählich 
in hydroaromatische Phenole übergehen, und zwar durch spon¬ 
tane Aufspaltung des Alkoholmoleküls. Pictet hat die niedriger- 
molekularen Anteile dieser Alkohole und Phenole näher unter¬ 
sucht. Sie stimmen in Elementarzusammensetzung und Eigen¬ 
schaften mit den von uns untersuchten hochmolekularen Phenolen 
des Tieftemperaturteeres so weit überein, daß in beiden Fällen 
sehr nahe verwandte Körper vorzuliegen scheinen. 

Im weiteren Verlaufe unserer Arbeiten wurde noch fcstge- 
stellt, daß dieselben hydroaromatischen Phenole in verhältnismäßig 
geringer Menge auch im Koksteer vorhanden sind, und ferner¬ 
hin, daß derartige Phenole (auch solche anderer Teere, wie Braun- 
kohlenteer) bei starker Erhitzung unter Ätherifizierung und Poly¬ 
merisation in äußerlich asphaltähnliche Kolloide übergehen. 


Vergl. Dissertation W. Kürschner Karlsruhe i. B., 1919. 

4ti Vergl. Dissertation A. Eisenhut Karlsruhe i. B. 1918. 

47 Compt. rend. 1(15 (1917) S. 113/116 (Chem. Centr. 1917, II., S. 787). 



Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich. 103 

von denen ein Anteil sehr große Ähnlichkeit mit dem im Koks¬ 
teer kolloid gelöst vorhandenen und durch Zugabe von Lösungs¬ 
mitteln ausfällbaren sogenannten „freien Kohlenstoff“ besitzt. 
Da der Tieftemperaturteer diese letztere Substanz nur in sehr 
geringer Menge enthält, so steht hoher Phenol- und geringer 
Kolloidgehalt im Tieftemperaturteer geringem Phenol- und hohem 
Kolloidgehalt im Koksteer gegenüber. Aus der Art der Ent¬ 
stehung derartiger Kolloide zog ich den Schluß, daß bei der 
niedrigeren Temperatur des Tieftemperaturofens die Phenole er¬ 
halten geblieben sind, daß sie dagegen bei der hohen Tempera¬ 
tur des Koksofens unter Bildung von Kolloiden und noch weiter¬ 
gehender Dehydrierung umgewandelt, resp. z. T. zerstört worden 
sind. Diese Reaktionen erklären auch das Vorhandensein des 
höheren Phenolgehaltes im Braunkohlentieftemperaturteer gegen¬ 
über dem niedrigeren im Braunkohlenschwelteer. 

Ähnlich wie die Bildung der Phenole ist auch die der hydro¬ 
aromatischen und aromatischen Kohlenwasserstoffe auf die Zer¬ 
setzung von Harzresten zurückzuführen. Denn auch die trockene 
Destillation rezenter Harze 48 liefert derartige Kohlenwasserstoff¬ 
gemische. So ist z. B. das aus dem Koksteer isolierte Reten 4M 
auch ein Produkt der trockenen Destillation des Colophoniums usw. 

Nach diesen Gegenüberstellungen wollen wir nun die Eigen¬ 
schaften des Steinkohlen- und des Braunkohlentieftemperaturteeres 
mit einander vergleichen! 

Die Übersicht ist in Tabelle 7 gegeben. 


Tabelle 7. 



°/o berechnet auf 

T eer 


Paraffin Phenole, Na P h ‘ 1 hydroaromat. 


| tene | 

Kohlenw. 

Braunkohlen- 

Tieftemperaturteer . 
Steinkohlen- 

! 

10-30% 5-10% wenig 

| 

wenig 

Tieftemperaturteer . 

t % 30-50%! wenig 

sehr viel 


48 A. Tschirch !. c. S. 254'255, S. 267, S. (>96 und S. 572/573. 

19 G. Lunge und H. Köhler „Die Industrie des Steinkohlentcers und 
Ammoniaks“, V. Aull., 1912, Bd. I, S. 269; ferner A. Tschirch 1 . c. S. 697. 






Von Helmut W. Klever. 


104 


Man sieht, der Braunkohlenteer enthält bedeutend mehr ge¬ 
sättigte Kohlenwasserstoffe und weniger Phenole. Er ist daher 
technisch der wertvollere. 

Benzin, Leuchtöl und Schmierölfraktion des Braunkohlenteers 
stehen dem Mineralöl bedeutend näher als die Fraktionen des 
Steinkohlenteers. Die höchstsiedenden Fraktionen des Braun¬ 
kohlenteers sind als Naßdampfzylinderöle brauchbar. Ob die ent¬ 
sprechenden Steinkohlenteerfraktioncn dazu verwendbar sind, muß 
noch durch Dauerversuche erwiesen werden. 

Für die Zusammensetzung des Steinkohlebitumens zeigt auch 
dieser Vergleich, daß es hauptsächlich Harz- und nur wenig Wachs¬ 
rest enthält, im Gegensatz zum Braunkohlebitumen, in dem sich 
bedeutend mehr Wachsrest befindet. Die Pflanzen der Carbonzeit 
müssen also außerordentlich harzreich gewesen sein. 

Ich möchte nun zum Anthrazit übergehen. 

Der Anthrazit stellt das Endprodukt des Inkohlungsprozesses 
vor. Er enthält kdn verschwelbares Bitumen mehr. Man nimmt 
an, daß dasselbe bei dem Inkohlungsprozesse mit inkohlt und unter 
Kohlebildung und Grubengasentwicklung vergast worden ist. 
Derartige Kohle heißt entgaste Kohle. 

Mit diesen Ausführungen habe ich Ihnen den Werdegang 
des Inkohlungsprozesses und die Veränderungen, die das Bitumen 
in diesem Prozesse erleidet, beschrieben. 

Wenn wir nun den Zustand dieses Bitumens mit dem des 
Erdöies vergleichen, so finden wir, daß ein direkter Vergleich 
nicht möglich ist. Denn Braunkohlebitumen ist Anabitumen, Stein¬ 
kohlebitumen Polybitumen, das Erdöl dagegen umgewandeltes 
Katabitumen. An dieser Verschiedenheit ändert die Tatsache 
nichts, daß Mabery 50 aus kanadischem Erdöl und Pictet 51 aus 
dem Vakuumteer der Kohle je drei höchst wahrscheinlich iden¬ 
tische Naphtenkohlenwasserstoffe isoliert haben. Denn bei der 
Depolymerisation der Wachs- und Harzreste in der Natur und 
im Laboratorium können natürlich dieselben Körper entstehen. 

,0 C. V. Mabery, Anier. ('hem. J. 19 (1897), S. 419 82 (Chem. Centr. 1897, 
II, S. 258 5<>; ebenda 33 U905) S. 251 <>2 (Chem. Centr. 1905, I. S. 1348/50). 

' ,l Her. chem. lies. 40 <1913), S. 3342/53; ebenda 48 (1915), S. 929. 



Erdc'ilbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich. 


105 


Gleichwohl wäre es möglich, daß Steinkohlebitumen sich ge¬ 
spalten hätte und in Erdöl übergegangen wäre. Es soll zuge¬ 
standen werden, daß dies in Ausnahmefällen 52 vorgekommen 
sein kann. Wenn aber allgemein Erdöl aus Kohle entstanden wäre, 
dann müßten Anthrazit- und Erdöllager regelmäßig miteinauder 
vergesellschaftet sein. In der Regel müßte immer eines in der 
Nähe des anderen Vorkommen. Davon aber ist keine Rede. 

Nun könnte man annehmen, daß das Erdöl außerordentlich 
große Strecken durchwandert und sich von den Kohleflözen weit 
entfernt hätte. Dem widersprechen jedoch die geologischen Tat¬ 
sachen auf das Entschiedenste. 

Die Idee, daß Erdöl auch aus der Humussubstanz der Kohle 
entstanden sei, und daß deswegen überhaupt kein Anthrazitrück¬ 
stand geblieben wäre, ist gänzlich unhaltbar und heute verlassen. 
Prinzipiell ist freilich der Übergang der Humussubstanz in 
Erdölkohlenwasserstoffe möglich. Schon M. Berthelot :>:} hat durch 
Hydrierung mit Jodwasserstoffsäure und Phosphor Steinkohle zu 
80% ihres Gewichtes in eine erdölartige Flüssigkeit verwandelt. 
Bergius 54 hat später bei Anwendung der Hochdruckhydrierung 
(200 Atm., 400°) ein ähnliches Resultat erhalten. Aber derartige 
Hydrierungsmittel sind natürlich in der Erde nicht vorhanden. So 
ist auch die Bildung des Erdöles aus Humussubstanz der Kohle 
ausgeschlossen. 

Ein Hinweis auf den Gehalt mancher Erdöle an Phenolen 
kann auch nicht beweisend für Herkunft des Erdöles aus Stein¬ 
kohle sein. Denn die Phenole entstehen durch Dehydrierung von 
Harzalkoholen. Derartige Harze können aber im Faulschlamm 
vorhanden gewesen sein und bei der weiteren Umwandlung des 
Bitumens die Phenole geliefert haben. 

Ich bin am Schlüsse meiner Ausführungen und möchte noch 
einmal kurz zusammenfassen: 


r.2 v c ,g]. E. Donath, Zcitschr. f. Petrol. 12 (1916/17), S. 364/65. 
r>: ‘ Ann. Cliim. Phys. XX. (1870), S. 530. M. Berthelot: .,Les carbures d’hydro- 
gene“ III, Paris 1901, Gau thicr-V illars, S. 276—285. 

51 Bergius und Billwiller, D. R. P. Nr. 304348 (Chem. Centr. 1919, IV, 
S. 940); D. R. P. Nr. 301 231 (Chem. Centr. 1920, II., S. 374); D. R. P. Nr. 303893 
(Chem. Centr. 1920, 11 , S 615). 

Verhandlungen, 27. Bd. 


9 



io6 


Helmut \V. Klever. 


Die Substrate des Erdöl- und Kohlebitumens sind ähnlicher 
Natur. Sie bestehen hauptsächlich aus Fett- und Harzsubstanzen 
in wechselnder Zusammensetzung und Mischung. Aber beide 
Substrate haben ganz andere Bedingungen gefunden, unter denen 
sie sich im Laufe der geologischen Epochen umgewandelt haben. 

Sie sind nicht zwei Äste an demselben Baume, vielmehr zwei 
Bäume, die in ähnlichem Boden wurzeln, aber verschiedene Ent- 
wicklungsbedingungen gefunden und daher durchaus verschiedene 
Formen angenommen haben.