Verhandlungen
des
Naturwissenschaftlichen
Vereins
IN KARLSRUHE
26. Band. 1912-1916.
Mit 34 Textfiguren, 1 Bildnis und 1 Karte.
KARLSRUHE i. B.
Druck der G. Braunschen Hofbuohdruckerei
1916.
Inhaltsverzeichnis.
Jahresbericht. Seite
Tätigkeitsbericht. V*
Fest des 50jährigen Bestehens.VI*
Tätigkeit der Erdbebenkoni in ission.VI*
Rechnungsführung ..VII*
Bewegung unter den Mitgliedern.IX*
Vorstand. X*
Mitglieder-Verzeichnis.XI*
Sitzungsberichte.
749. Sitzung am 25. Oktober 1912.. 1*
G, Fuchs: Die wissenschaftlichen Ergebnisse einer Sommerreise ins
Engadin. 1912.
750. Sitzung am 8. November 1912. 2*
Lehmann: Die Sichtbarmachung der Molekularstruklur von Kristallen
durch Röntgenstrahlen.
751. Sitzung am 22. November 1912. 6*
Vorsitzender: 70. Geburtstag von Dr. Ammon.
Auerbach: Unsere Pelze, ihre Lieferanten und deren Verbreitung.
752. Sitzung am 6. Dezember 1912. 7*
Naumann: Das Rettungswesen im Beigbau.
753. Sitzung am 20. Dezemher 1912. 8+
Haid: Gezeiten und physikalische Konstitution des Erdkörpers.
754. Sitzung am 17. Januar 1913. 8*
Sieveking: Die elektromagnetische Lichttheorie.
Schuster • Beziehungen der 18,6jährigen Periode der Mondknoten,
des sog. Mondzirkels, zu einer Periode der Sonnenflecken und
einer solchen der Kometenbewegung.
755. Sitzung am 31. Januar 1913. 12*
Engter , Ebler (Heidelberg), Skita: Bericht über den 8. internatio¬
nalen Kongreß für angewandte Chemie in New-York.
756. Sitzung am 14. Februar 1913. 12*
Reis: Die neuere Entwicklung unserer Kenntnis der Flammen.
Verhandlungen. 26. Band.
II
Inhaltsverzeichnis.
IV*
757. Sitzung am 28. Februar 1913. 13*
Wilser: I. Der kluge Hund von Mannheim.
„ : 2. Die Steinzeitvölker von Schweden und Dänemark.
„ .• 3. Der Fund vormenschlicher Gebeine in Piitdown in Sussex.
758. Sitzung am 25. April 1913. 16"
Klein: Dendrologischc Merkwürdigkeiten von Karlsruhe und dessen
nächster Umgebung.
759. Sitzung am 9. Mai 1913 . .. 16*
Vogt: Geometrie und Ökonomie der Bienenzelle.
Hausrath: Über die Schüttekrankheit der Kiefer.
Lehmann: Künstliche Edelsteine.
760. Sitzung am 23. Mai 1913. 18*
Fajans: Das periodische System im Lichte der radioaktiven Um¬
wandlungen.
761. Sitzung am 6. Juni 1913. 19*
Mitglieder-Hauptversammlung.
Beil: Zur Geschichte der Karlsruher Gartenanlagen.
762. Sitzung am 20. Juni 1913. 19*
Hausrath: Drahtlose Telegraphie.
763. Sitzung am 18. Juli 1913. 21*
Engler: Die neue Thermalquelle bei Krozingen.
, t .* Vorlage von Manganknollen aus der Umgebung von Baden-
Baden.
May: Neuere Arbeiten über Goethe als Naturforscher.
764. Sitzung am 24. Oktober 1913. 23*
Wilser: Neues vom klugen Hund von Mannheim und von den eng¬
lischen Knochenfunden.
Schachenmeier: Über den direkten Naclnveis von Elektronen und
Atomen.
765. Sitzung am 7. November 1913. 28*
Lehmann: Die Umwandlung elektrischer Energie in mechanische
Arbeit.
766. Sitzung am 21. November 1913. 30*
Lehmann: Alte und neue Luftpumpen und die Tezla'sche Dampf¬
turbine.
767. Sitzung am 5. Dezember 1913. 33*
Kupp: Weingärung und Weinkrankheiten.
768. Sitzung am 19. Dezember 1913. 33*
Auerbach: Bericht über meine Tiefsec-Expedition in den Atlantischen
Ozean mit dem Motorschiff »Armauer Hansenc.
769. Sitzung am 6. Februar 1914. 33*
G. Fuchs: Parasitische und andere Nematoden bei Borkenkäfern und
bei Hylobius abietis L., sowie einige andere Parasiten und deren
Einwirkung auf die Biologie dieser Käfer.
Inhaltsverzeichnis.
V*
770. Sitzung am 20. Februar 1914.. . . 35*
P. Mayer; Kreiselwirkungen: Kreiselkompaß und Einschienenbahn.
771. Sitzung am 6. März 1914. 36*
Festsitzung zur Feier des 50 jährigen Bestehens des Vereins.
Lehmann: Festvortrag.
772. Sitzung am 1. Mai 1914. 39*
Paulcke: Wanderungen in Nordamerika, insbesondere im Yellowstone.
773. Sitzung am 15. Mai 1914. 39*
Sieveking: Die wissenschaftlichen Grundlagen des Flugwesens.
774. Sitzung am 12. Juni 1914.39*
Lembke: Experimentelles und
Fajans: Theoretisches über die verschiedenen Atomgewichte des
radioaktiv entstandenen und des gewöhnlichen Bleies.
775. Sitzung am 19. Juni 1914. 39*
Bürgin: Über Stereophotogrammetrie und ihre Anwendung bei topo¬
graphischen Aufnahmen.
776. Sitzung am 3. Juli 1914. 40*
M itglieder* Hauptversammlung.
Schwarzmann: Goldwäschen im Rhein.
777. Sitzung am 25. November 1914.42*
Lehmann: Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer.
778. Sitzung am 11. Dezember 1914.45*
fVilser: Über die neuesten Fossilmenschenfunde in Deutschland.
„ .* Der Mannheimer kluge Hund und seine Familie.
Teichmülter: Ein neuer Leitungsdraht.
Schultheiß: Hörbarkeit des Kanonendonners.
77 9 - Sitzung am 22. Januar 1915. 48*
Askenasy: Allgemeines zur Stickstoff frage.
780. Sitzung am 19. Februar 1915. 49*
Thieme: Funkentelegraphie.
781. Sitzung am 5. März 1915. 50*
Lehmann: Zum 70. Geburtstag von W. C. von Röntgen.
782. Sitzung am 12. Mai 1915.53*
Dinessen: Unsere Flotte (Großkampfschiffe, Torpedo- und Untersee¬
boote).
783. Sitzung am 17. Dezember 1915 . 53*
Lehmann: Neuere Ergebnisse bezüglich der Struktur kristallinischer
Flüssigkeiten.
784. Sitzung am 20. Januar 1916.55*
Schnebel: Die Anwendung von Detektoren und Verstärkungsröhren
in der drahtlosen Telegraphie.
II*
VI* Inhaltsverzeichnis.
785. Sitzung am 11. Februar 1916. 55*
Mitglieder-Hauptversammlung.
Rehbock: Die Hochwasserkatastrophe vom 14. Januar 1916 in Nord¬
holland.
786. Sitzung am 14. Februar 1916.. . . . 58*
Lum?ner: Die Verflüssigung der Kohle und die Herstellung der
Sonnentemperatur.
Abhandlungen.
O. Lehmann: Feier des 50jährigen Bestehens des Naturwissenschaftlichen Vereins
und des 25jährigen Jubiläums der Hertz’schen Entdeckungen. (Mit
22 Textfiguren und I Bildnis). I
M. Auerbach: Bericht über die Expedition des ~ Armauer Hansen*. (Mit 10 Text¬
figuren und I Karte). 3
Fr. Gautier: Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe auf Grundlage lang¬
jähriger Beobachtungen. (Mit 2 Textfiguren). 55
O. Lehmann: Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer. 83
„ », •' Zum 70. Geburtstag von W. C. von Röntgen.105
,, ,, .• Nullpunktsenergie und Gravitation. 130
Jahresbericht.
Infolge des Kriegsausbruches, der auch den neu gewählten
Schriftleiter der Vereinsverhandlungen zu den Fahnen rief, war
es nicht möglich, der bisherigen Übung entsprechend, den vor¬
liegenden 26. Band, der teilweise schon im Druck war, im Jahr
1914 erscheinen zu lassen. Um die Drucklegung nicht länger zu
verzögern, hat im Frühjahr 1916 der Vorstand den bisherigen
Schriftleiter beauftragt, sie wieder zu besorgen. Der vorliegende
Band enthält zugleich die Tätigkeitsberichte über die Vereins¬
jahre 1912/13, 1913/14 und 1914/16.
Die in den Sitzungen gehaltenen Vorträge sind aus den
Sitzungsberichten und aus dem Inhaltsverzeichnis zu ersehen.
Das bisherige Versammlungslokal mußte aufgegeben werden, da
das Haus der Gesellschaft Museum, in dem es sich befand, einem
durchgreifenden Umbau unterzogen wurde. Die Vorträge wurden
vom Winter 1912/13 an meist in Hörsälen der Technischen Hoch¬
schule oder im sog. Konkordienzimmer des Moninger abgehalten.
Mehrfach wurden die Vereinsmitglieder zu Vorträgen in be¬
freundeten Vereinen, vom Karlsruher Bezirksverein Deutscher
Ingenieure, dem Bad. Architekten- und Ingenieurverein, der Ab¬
teilung Karlsruhe der Deutschen Kolonialgesellschaft und dem
Alpenverein eingeladen. Die Städtebauausstellung, die im De¬
zember 1913 im kleinen Festhallensaal stattgefunden hat, ist den
Vereinsmitgliedern durch Herrn Regierungsbaumeister Langen
erklärt worden.
Die Bücherei des Vereins war bisher in einem vom Senat
der Technischen Hochschule zur Verfügung gestellten Raum
untergebracht; da ihre Benützung erschwert und da auch ihre
Verwaltung mit Schwierigkeiten verknüpft war, so mußte vor
allem, um sie den Vereinsmitgliedern leichter zugänglich zu
machen, eine andere Aufstellung angestrebt werden. Mit Geneh-
VIII*
Jahresbericht.
migung des Großh. Ministeriums des Kultus und des Unterrichtes
und des Senates der Technischen Hochschule hat die Bibliothek¬
verwaltung der Hochschule im Frühjahr 1914 die Büchersamm¬
lung des Vereins übernommen und sich zugleich in dankenswerter
Weise bereit erklärt, die Registrierung und Einordnung der Ein¬
läufe zu besorgen.
Im März 1914 konnte der Verein das Fest seines 50-jährigen
Bestehens in der Aula der Technischen Hochschule begehen
worüber im Bericht über die 771. Sitzung näheres mitgeteilt ist.
Eine große Anzahl von brieflich und in Telegrammen zum Aus¬
druck gebrachten Glückwünschen von Akademien und wissen¬
schaftlichen Vereinen des In- und Auslandes gab ein erfreuliches
Zeugnis der Wertschätzung und Anerkennung der Tätigkeit des
Vereins.
Tätigkeit der Erdbebenkommission.
Nach Vollendung des Erweiterungsbaues und Aufstellung
eines neuen Registrierapparates im Dezember 1912 war die seis¬
mische Station Durlach nahezu ununterbrochen bis zum Ausbruch
des Krieges in Tätigkeit. Leider entstanden jedoch von Anfang
August 1914 ab durch die Heranziehung des Bedienungsperso¬
nals zum Heeresdienst Unregelmäßigkeiten im Betrieb der Station,
so daß für Durlach keine lückenlose Registrierungen während des
Krieges erhalten werden konnten.
Im Sommer 1914 wurden in Durlach zwei neue Mainka’sche
bifilare Kegelpendel mit einer stationären Masse von 2000 kg
aufgestellt. Wie zu erwarten traten nach Aufstellung der beiden
Instrumente auf die Beobachtungspfeiler große Verlagerungen
ein. Erst seit dem großen italienischen Beben vom 13. Januar
1915, welches beide Komponenten gut aufzeichneten, sind die
Ergebnisse befriedigend. Die zur vollständigen Einrichtung der
Station notwendige Anschaffung und Aufstellung eines Vertikal¬
seismographen ist durch den Aushruch des Krieges auf ungewisse
Zeit verschoben worden. Eine eingehendere Beschreibung der
neuen Seismographen und der Einrichtung der Station muß daher
einem späteren Bericht Vorbehalten bleiben.
Die seismische Station Freiburg war fast ohne Unterbrechung
bis August 1915 in Betrieb und lieferte ein vorzügliches Beob-
achtungsmatcrial. Von genanntem Zeitpunkt ab mußte die Station
Jahresbericht.
IX-
jedoch vollständig stillgelegt werden, da der die Station besorgende
Institutsdiener an der Freiburger Universität zum Heeresdienst
herangezogen wurde und ein geeigneter Ersatz nicht zu be¬
schaffen war.
In dem gesamten Zeitdienst traten keine wesentliche Ände¬
rungen ein. Die in den Stationen aufgestellten Uhren wurden
wie bisher allwöchentlich auf telegraphischem Weg mit der
Normaluhr des Geodätischen Instituts in Karlsruhe verglichen.
Die Bearbeitung des Beobachtungsmaterials für die Defor¬
mationsuntersuchungen wurde auch in den Jahren 1913 und 1914
fortgesetzt; seit Kriegsbeginn mußte dieselbe unterbleiben.
Wertvolle Dienste leistete der kleine Mainka’sche Seismograph
im geodätischen Institut der Technischen Hochschule, welcher be¬
ständig im Betriebe war und eine Reihe sehr schöner Seismo-
gramme lieferte. Bei der Bearbeitung der großen mitteleuropä¬
ischen Beben vom 16. November 1911 und 20. Juli 1913 durch
das Zentralbureau der internationalen seismologischen Assoziation
konnten die Ergebnisse von Karlsruhe, Durlach und Freiburg
mehrfach Verwendung finden.
Rechnungsführung
1912/13-
Einnahmen.
Kassenvorrat.M. 2370.13
Mitgliederbeiträge.» 1 524.—
Beitrag des Ministeriums des Kultus
und des Unterrichts.» 300.—
Verkaufte Vereinszeitschriften ... » 117.60
Zinsen aus Wertpapieren . . . . » 1 061.50
Zinsen aus Konto-Korrent .... » 60.89
- M.
5 434- 12
Ausgaben.
Lokalmiete, Steuern, Drucksachen,
Porto.M. 842.20
Verhandlungen und Sonderdrucke . » 2529.31
An Arnold-Stiftung.» 100.—
- M. 3 471 -51
Kassenrest am 30. Juni 1913
M. 1962.61
X*
Jahresbericht.
Bestand der Handkasse . . .
M.
I 22 .ÖI
Guthaben bei der Bad. Bank . .
»
1 840.—
M.
I 962.61
Das Vermögen hat am 30. Juni 1913 betragen:
in Wertpapieren.
M.
22 600.—
in bar.
*
I 962.61
M.
24 562.61
am 11. Juni 1912.
• •
. . .
24970.13
mithin Abnahme . .
M.
407-52
1913/14.
Einnahmen.
Kassenvorrat.
M.
I 962.6l
Mitgliederbeiträge.
Regelmäßiger Beitrag d. Ministeriums
»
1 524.- -
des Kultus u. des Unterrichts . .
»
300.—
Verkaufte Schriften.
y>
IO.5O
Zinsen aus Wertpapieren . . . .
»
540-50
Zinsen aus Konto-Korrent . . . .
35-20
M.
4 372.S1
Ausgaben.
Steuern, Drucksachen, Porto . . .
M.
855 -I 7
Verhandlungen.
—
1 619.73
M.
2 474.90
Kassenrest am 8. Juni 1914 . . .
.
. . .
M.
1897.91
Bestand der Handkasse . . .
M.
77.01
Guthaben bei der Beui. Bank . .
»
1 820.90
m 7
1 897.91
Das Vermögen hat am 8. Juni 1914
betragen:
in Wertpapieren.
M.
22 ÖOO. —
in bar .
'>
1897.91
M.
24497.91
am 30. Juni 1913.
• •
. . .
y>
24 562.6 I
mithin Abnahme . . M.
64.70
Jahresbericht. XI*
1 9 1 4 / 1 5 -
Einnahmen.
Kassenvorrat.
M.
O
r-
O
CO
Mitgliederbeiträge.
Beitrag des Ministeriums des Kultus
y>
I 278.—
und des Unterrichts für 1914 . .
600.—
Ausgeloste Wertpapiere.
Beitrag des Ministeriums des Kultus
200.—
und des Unterrichts für 1915 . .
»
ÖOO.—
Zinsen aus Wertpapieren . . . .
> 193 —
Zinsen aus Konto-Korrent . . . .
* 6,5.05
M.
5 933-96
Ausgaben.
Steuern, Drucksachen, Porto . . .
M.
277.21
M.
277.2 1
Kassenrest am 10. Dezember 1915 .
. . .
M.
5656.75
Bestand der Handkasse . . .
M.
12 i -75
Guthaben bei der Bad. Bank . .
5 535 -—
M.
5 656.75
Das Vermögen hat am 10. Dezember
1915
betragen:
in Wertpapieren.
M.
'« 345-05
in bar.
7 )
5 656.75
M.
24 001.80
am 8. Juni 1914.
. . .
£
24497.91
mithin Abnahme . .
M.
496.1 I
Bisher war es Übung, die Wertpapiere zu ihrem Nennwert
aufzunehmen. Bei der Ausrechnung des Vereinsvermögens auf
den 10. Dezember 1 q 15 sind die Wertpapiere erstmals mit ihrem
Kurswert eingesetzt worden.
Bewegung unter den Mitgliedern.
Durch den Tod hat der Verein im Jahr 1912/13 verloren
die Herren: Prof. Asal, Oberst Fiebig, prakt. Arzt Netz, Kauf¬
mann Renz, Dr. Steude, Forstrat Thilo, Geh. Hofrat Treutlein;
im Jahr 1913/14 die Herren: Prof. Grashof u. Ingenieur de Millas
XII
Jahresbericht.
und bis zum Schluß des Vereinsjahres 1914/16 die Herren:
Dr. Ammon, Dr. Berberich, Exzellenz Minister Dr. Böhm,
Bibliotheksdirektor Brodmann, Geheimerat Hart, Graf von Hennin,
Geh. Oberpostrat Heß, Prof. Dr. Käst, Maschineninspektor Leis
(gefallen auf dem Feld der Ehre), Geh. Oberforstrat Mayerhöffer,
Privatmann Meeß, Oberst Röder v. Diersburg, Apotheker Schoch
und Prof. Dr. Sieveking.
Neu eingetreten sind 1912/13 die Herren: Dr. Fajans,
Dr. Franzen, Prof. Dr. Götz, Dr. König, Assistent Lautenschläger,
Dipl.-Ing. Müller, Dr. Reis, Prof. Richter, Assistent Dr. Schachen¬
meier, Prof. Dr. Schilling, Dipt.-Ing. Schmidt, Prof. Dr. Ubbelohde,
Dr. Wundt; 1913/14 die Herren: E. Diemer, Direktor Döderlein,
Dr. Eisenlohr, Hauptmann von Göler, Betriebschemiker Mikuschka,
Frl. de Millas, Topograph Dr. Müller, Stabsveterinär Dr. Pätz,
Corpsstabsveterinär Scholtz, Kammersänger Staudigl, Privatdozent
Dr. Wömle; 1914/16 die Herren: Prof. A. Kistner und Haupt¬
lehrer Schnebel in Ziegelhausen.
Ausgetreten sind, meist infolge von Wegzug, im Vereins¬
jahr 1912/13 die Herren: Oberst Bußler, Dr. Frankenstein,
Apotheker Ganzloser, Bankdirektor van der Kors, Oberveterinär
Krack, Oberleutnant Pleger, Prof. Dr. Staudinger, Dr. Sternberg
und Dr. Wolfke; 1913/14 die Herren: Oberamtsrichter Bartning,
Landgerichtsrat Benckiser, Forstrat Fels, Privatdozent Dr. Hallo,
Privatdozent Dr. Just, Prof. Karle, Oberreallehrer Knauer, Ingen.
Mandelbaum, Privatdozent Dr. Mohrmann, Geh. Hofrat Nüßlin,
Ingenieur Öhmichen, Architekt Peter, Kaufmann Sachs, Dipl.-
Ing. Schumann, Prof. Dr. Skita, Bergrat Thürach, Privatdozent
Dr. Vogt; 1914/16 die Herren: Zahnarzt Förderer, Obermaschinen¬
inspektor Joos, Fürst von Kotschoubey, Diplomingenieur v. Pahlen.
Am Schluß des Vereinsjahres 1914/16 haben dem Verein
226 Mitglieder angehört.
Vorstand.
Der Vorstand hat am Schluß des Vereinsjahres 1915/16
bestanden aus den Herren:
1. Geh. Hofrat Dr. Lehmann, als Vorsitzender,
2. Geheimerat Dr. Bunte, als dessen Stellvertreter,
3. Hofrat Dr. Doll,
Jahresbericht.
XIII*
4. Geh. Hofrat Dr. Klein,
5. Prof. Dr. Paulcke, als Schriftleiter,
6. Prof. Dr. Schultheiß, als Schriftführer u. Bibliothekar,
7. Dr. Spuler, als Rechner.
In der Mitglieder-Hauptversammlung vom 11. Februar 1916
wurde noch Herr Bankdirektor Gau hinzugewählt und ihm das
Amt des Rechners übertragen.
M itglieder-Verzeichnis
(nach dem Stand am I. März 1916).
A. Ehrenvorsitzender:
Geheimerat Dr. K. En gl er, Exzellenz.
B. Ehrenmitglied:
Geheimerat Dr. E. Wagner, Exzellenz.
C. Korrespondierendes Mitglied:
R. Temple, Schriftsteller in Budapest.
D. Mitglieder.*
Acker, Dr., Chemiker (1910).
Alberti, Dr., Augenarzt (1902).
Arnold, Prof. Dr. Em., Laboratoriumsvorstand an der chemisch-
techn. Prüfungs- und Versuchsanstalt der Techn. Hochschule
(1903)-
Askenasy, Prof. Dr. P., Privatdozent für technische Elektro¬
chemie an der Techn. Hochschule (1909).
Auerbach, Prof. Dr., Kustos für Zoologie am Großh. Naturalien¬
kabinett und Privatdozent an der Techn. Hochschule (1903).
Babo, Ferd., Freiherr von, Oberbaurat (1902).
Babo, Dr. Hugo, Freiherr von, Exzellenz, Vorstand des Großh.
Geheimen Kabinetts (1910).
Babo, Dr. Ludw., Freiherr von, prakt. Arzt (1906).
Bartning, Dr. Hans, Regierungsrat (1908).
Battlehner, Dr. Th., Bezirksassistenzarzt (1898).
Baumann, Dr., prakt. Arzt in München (1906).
Beck, Dr., Prof, von, Direktor des Städt. Krankenhauses (1906).
Die beigefügten Zahlen bedeuten das Jahr der Aufnahme.
XIV*
Jahiesbericht.
Be hm, O., Mechaniker (1889).
Benckiser, Dr. A., Geh. Hofrat, prakt. Arzt (1890).
Benoit, G., Geh. Hofrat, Professor des Maschinenbaues an der
Technischen Hochschule (1902).
Beutler, J., Maschineninspektor (1907).
Bezold, Alb. von, Hauptmann (1908).
Bittmann, Dr. K., Oberregierungsrat, Vorstand des Gewerbe¬
aufsichtsamts (1906).
Bodman, H„ Freih. von und zu, Exzellenz, Minister des Innern (1907).
Bongartz, Dr. A., prakt. Arzt (1896).
Br an, Dr. Fr., Verlagsbuchhändler (1907).
Brauer, E., Geh. Hofrat, Professor der theoretischen Maschinen¬
lehre an der Techn. Hochschule (1893).
Bredig, Dr. Georg, Professor der physik. Chemie und Elektro¬
chemie an der Technischen Hochschule (1911).
Brian, Dr. E., Medizinalrat (1896).
Buchmüller, Dr., prakt. Arzt (1905).
Bunte, Dr. H., Geheimerat, Professor der chemischen Techno¬
logie an der Techn. Hochschule (1888).
Burger, Realschuldi rektor (1911).
Bürgin, Dr. J., Obergeometer an der Techn. Hochschule (1894).
Buri, Theod., Professor an der Realschule in Mannheim (1903).
Carl, Dr. Siegfr., Städt. Obertierarzt (1901).
Clauß, Dr. H. W., prakt. Arzt (1898).
Deimling, Fr., Privatmann (1904).
Di eckhoff, Dr. E., a. o. Professor der Chemie an der Techn.
Hochschule (1880).
Diemer, Erw., Privatmann (1913).
Dinner, Dr. H., Professor am Realgymnasium (1904).
Doll, Dr. K., Geh. Hofrat, prakt. Arzt (1890).
Dö d er lei n ,Dr.-Ing., Direktor der Maschinenbau-Gesellschaft(i913).
Doll, G., Medizinalrat (1875).
Dolletschek, Ed., Ingenieur (1877).
Dörr. J„ Professor an der Realschule (189,5).
Dreßler, Dr., Geh. Ilofrat, prakt. Arzt (1910).
Dünckel, W., Chemiker (1909).
Eberle, Dr. G., Medizinalrat, Bezirksarzt (1904).
Eisendecher, K. von, Exzellenz, K. preuß. Gesandter (1906).
Eisenlohr, Dr., prakt. Arzt (1914).
Jahresbericht.
XV*
Eitel, Dr. K. H., Privatmann und Stadtrat (1897).
Eitner, Prof. Dr. P., Vorstand der chemisch-technischen Prüfungs¬
und Versuchsanstalt (1901).
Elsas, M., Kaufmann (1906).
En gl er, Dr. K., Exzellenz, Professor der Chemie an der Techn.
Hochschule und Direktor des chemischen Instituts (1876).
Ens, K., Oberforstrat (1908).
Eppenich, H., Zivilingenieur (;902).
Fajans, Dr. Kas., Privatdozent der Chemie an der Techn. Hoch¬
schule (1912).
Fischbach, Dr. E., prakt. Arzt (1895).
Fischer, Otto, Hoflieferant (1901).
P'öhlisch, Dr. E., Regierungsrat, Fabrikinspektor (1900).
Franzen, Dr. Hartw., a. o. Professor der Chemie an der Techn.
Hochschule (1912).
Freydorf, Rud. von, Major (1908).
Fuchs, Dr. Gilbert, Privatdozent für Zoologie an der Techn.
Hochschule (1910).
Fuchs, Dr. Rud., Oberbaurat (1904).
Galette, Arn., Bankdirektor (1904).
Gau, E., Bankdirektor (1905).
Genter, Dr. Karl, prakt. Arzt (1902).
Gierke, Prof. Dr. Edg. von, Vorstand der Prosektur und des
pathol. - bakteriologischen Instituts des städtischen Kranken¬
hauses (1909).
Glöckner, E., Exzellenz, Präsident der Oberrechnungskammer
(1878).
Goedecker, E., Ingenieur in Frankfurt (1899).
Göler, Eberhard, Freiherr von, Hauptmann (1914).
Götz, Prof. Dr. Paul (1912).
Gräbener, L., Hofgartendirektor (1880).
Gräfenhan, Dr. P., Professor am Kadettenhaus (1897).
Graßmann, R„ Geh. Hofrat, Professor des Maschinenbaues an
der Technischen Hochschule (1904).
Gretsch, Eug., Oberforstrat (1903)
Grund, Jul., Fabrikant (1904).
Gutmann, Dr. K., Medizinalrat, prakt. Arzt (1894).
Gut sch, Dr. L., Medizinalrat, Spezialarzt für Chirurgie (1893).
Hafner, Dr. Fr., Oberregierungsrat im Ministerium des Innern (1886).
XVI
Jahresbericht.
Haid, Dr. M., Geh. Hofrat, Professor der Geodäsie an der Techn.
Hochschule (1882).
Hammer, Dr. Bernh., Oberstabsarzt (igo8).
Händel, Wilh., Rechtsanwalt (1905).
Hauser, Dr. W., Obermedizinalrat (1898).
Hausrath, Dr. H., Professor der Forstwissenschaft an der Techn.
Hochschule (1897).
Heintze, Dr. W., Geh. Legationsrat (1901).
Hel big, Dr. M., a. o. Professor für Bodenkunde an der Techn.
Hochschule (1903).
Helbing, Dr. P., prakt. Arzt (1896).
Hellpach, Prof. Dr. W., Nervenarzt, Privatdozent an der Techn.
Hochschule (1906).
Hemberger, H., Oberbauinspektor in Bruchsal (1904).
Henglein, Dr. Mart., Privatdozent für Mineralogie a. d. Techn.
Hochschule (1910).
Henning, Dr.-Ing. Th., Kommerzienrat (1896).
Hoffmann, Dr. H., Medizinalrat, prakt. Arzt (1881).
Hoffmann, K., Major a. D. (1897).
Holderer, Dr.J.,Geh. Regierungsrat, Oberamtmann in Kehl (1905).
Holz mann, A., Regierungsrat im Ministerium des Kultus und
Unterrichts (1893).
Homburger, Dr. Th., prakt. Arzt (1899).
Höpfner, Friedr. jun., Kaufmann (1907).
Huber, Dr. Ernst, prakt. Arzt (1910).
Hutt, J., Zahnarzt (1904).
Jahraus, W., Buchhändler in Straßburg (1899).
Ihm, Dr. E., Frauenarzt (1907).
Jourdan, Dr. J., prakt. Arzt (1894).
Kaiser, Dr. F., Medizinalrat (1889).
Katz, Dr., Augenarzt (1905).
Kistner, A., Professor am Gymnasium (1916).
Klein, Dr. L., Geh. Hofrat, Professor der Botanik an der Techn.
Hochschule (1895).
Klein, L., I. Assistent an der chemisch-technischen Prüfungs¬
und Versuchsanstalt (1897).
Kneucker, A„ Hauptlehrer (1902).
Knittel, Dr. A., Buclidruckereibcsitzer (1902).
Knittel, Dr. R., Verlagsbuchhändler (1895).
Jahresbericht.
XVII
Köhler, Eug., Oberbauinspektor (1910).
Köhler, Alb., Forstmeister in Bruchsal (1903).
Kohlhepp, Fr., Veterinärrat (1886).
König, Dr.-Ing. Ad., Privatdozent der Chemie an der Techn.
Hochschule (1912).
Krems, Dr. K.. Geheimerat, Direktor des Wasser- und Straßen¬
baues (1907).
Kreßmann, A. Th., Major a. D. (1875).
Kronstein, Dr. A., Chemiker (1896).
Krumm, Dr. F., Medizinalrat, Spezialarzt für Chirurgie (1897).
Kunkel, K., Schulkommissär in Mannheim (1902).
Kux, Dr. H., Chemiker (1899).
Lang, Dr. A., Professor am Realgymnasium (1897).
Lautenschläger, Dr.-Ing., Apotheker, Assistent am Cheni. Institut
der Techn. Hochschule (1913).
Lay, Dr. Aug., Oberreallehrer (1903).
Lehmann, Dr. O., Geh. Hofrat, Professor der Physik an der
Techn. Hochschule (1890).
Leutz, H., Professor am Realgymnasium (1896).
Levinger, Dr. F., prakt. Arzt (1895).
Loös, H., Rechtsanwalt (1908).
Lorenz, Dr.-Ing. W., Kommerzienrat (1879).
Massinger, R., Professor an der Oberrealschule (1894).
Mayer, Paul, Prof, am Realgymnasium (1904).
Mayer, Rud., Photograph (1893).
Merkel, Dr. E., Reallehrer (1911).
Merton, Gutsbesitzer, Rittnerthaus bei Durlach (1908).
Mikuschka, Viktor, Betriebschemiker in Durlach (1914).
Millas-de-Urech, Frau Anna, Locarno (1913).
Molitor, Dr. E., prakt. Arzt (1894).
Müller, Dr. Eb., Laboratoriumsvorstand der chem.-techn. Prü-
fungs- und Versuchsanstalt (1900).
Müller, Dr. H., Dipl.-Ing. (1913).
Müller, Dr. L., Medizinalrat, prakt. Arzt (1896).
Müller, Dr. U., Professor der Forstwissenschaft an der Techn.
Hochschule (1893).
Muth, Dr., Oppenheim (1902).
Näher, R., Oberbaurat (1893).
Naumann, Er., Bergrat (1904).
XVIII*
Jahresbeiicht.
Nesselhauf, R., Oberbauinspektor in Tiengen (1906).
Neumann, Dr. M., prakt. Arzt (1901).
Nied, Professor am Lehrerseminar II (1910).
Nopper, Herrn., Professor am Mädchengymnasium (1910).
Oechelhaeuser, Dr. A. von. Geh. Hofrat, Professor der Kunst¬
geschichte an der Techn. Hochschule (1898).
Oppenheimer, Sal., Rechtsanwalt (1907).
Ordenstein, H., Hofrat, Direktor des Konservatoriums (1903).
Paravicini, Dr. R., Regierungsrat, Hilfsarbeiter im Ministerium
des Innern (1903).
Pätz, Dr., Stabsveterinär (1913).
Paulcke, W., Professor der Mineralogie und Geologie an der
Techn. Hochschule (1905).
Pauli, Dr. H., prakt. Arzt (1898).
Pertz, Dr. Art., Spezialarzt für Chirurgie (1908).
Pezoldt, O., Buchhändler (1903).
Pfützner, H., Geh. Hofrat, Prof, für Heizungs- und Lüftungs¬
anlagen an der Techn. Hochschule (1908).
Racknitz, Freiherr von, Major (1910).
Rebmann, E., Geh. Hofrat, Direktor des Realgymnasiums (1902).
Rehbock, Th., Oberbaurat, Professor des Wasserbaues an der
Techn. Hochschule (1900).
Reichard, Fr., Stadtbaurat a. D. (1892).
Reinach, M., Geh. Finanzrat (1907).
Reinfurth, Th., Schulkommissär (1903).
R eis, Dr. Alfr., Privatdozent der Chemie an der Techn. Hoch¬
schule (1912).
Resch, Dr. A., prakt. Arzt (1888).
Richter, Dr. Rud., Professor (1913).
Richter, Prof. Dr. M., Fabrikdirektor (1903).
Riehrn. Ph., Verbandsdirektor (1903).
Riffel, Dr. A., prakt. Arzt, a. o. Professor für Hygiene an der
Techn. I lochschule (1 870).
Risse, Dr. II., prakt. Arzt (1899).
Roller, Prof. Dr., wiss. Hilfsarbeiter am Münzkabinet (1911).
Rösch, Dr. Friedr., Direktor der Turnlehrerbildungsanstalt (1908).
Rosen borg, Dr. M., prakt. Arzt (1898).
Roth, Dr. K., prakt. Arzt (1897).
Jahresbericht.
XIX
Rupp, G., Professor und Regierungsrat, Vorstand der Großh.
Lebensmittelprüfungsstation (1899).
Sandei, Dr. K., Chemiker (1909).
Sanden, Konr. von, Oberst a. D. (1908).
Schachenmeier, Dr., Assistent der Physik an der Technischen
Hochschule (1913).
Scheele, Apotheker (1908).
Schellenberg, R., Geh. Finanzrat, Ministerialdirektor im Finanz¬
ministerium (1899).
Scheurer, K., Hofmechaniker und Optiker (1877).
Schiller, Dr. Arn., prakt. Arzt (1909).
Schilling, Dr. Karl, Professor (1913).
Schleiermacher, Dr. A., Geh. Hofrat, Professor der theoretischen
Physik an der Techn. Hochschule (1881).
Sch midie, W., Direktor der Oberrealschule in Konstanz (1908).
Schmidt, Emil, Ingenieur (1912).
Schmidt, Fr., Professor der wissenschaftlichen Photographie an
der Techn. Hochschule (1892).
Schmidt, W., Vorsteher des Pädagogiums (1910).
Schnebel, Ludw., Lehrer in Ziegelhausen (1915).
Scholtz, K., Corpsstabsveterinär (1905).
Schultheiß, Professor Dr. Ch., Großh. Meteorolog und Dozent
an der Techn. Hochschule (1886).
Schwab, Dr. Th., prakt. Arzt (1905).
Schwaiger, Professor Dr.-Ing. Anton, a. o. Professor der Elektro¬
technik (1911).
Schwarzmann, Professor Dr. M., Privatdozent für Mineralogie
an der techn. Hochschule und Vorstand der mineral.-geolog.
Abteilung des Naturalienkabinettes (1901).
Schwörer, V., Geh. Oberregierungsrat, Ministerialrat im Mini¬
sterium des Kultus und Unterrichts (1912).
Siefert, X., Geh. Oberforstrat, Professor der Forstwissenschaft
an der Techn. Hochschule (1895).
Sprenger, A. E„ Geh. Oberregierungsrat (1878).
Spuler, Dr. A., a. o. Professor der Anatomie in Erlangen (1897).
Spuler, Dr. R., Augenarzt (1903).
Stark, F., Professor an der Oberrealschule (1895).
Staudigl, Jos., Kammersänger (1913).
Steiner, Dr. A., prakt. Arzt (1896).
XX-
Jahresbericht.
Stein köpf, Prof. Dr. W„ Privatdozent für Chemie an der Techn.
Hochschule (1909).
Stöbe, Prof, an der Realschule in Bretten (1909t
Stoll, Dr. Herrn., Oberförster in Forbach (1902).
Ströbe, Dr. F., Privatmann (1905).
Stutz, Ludw., Großh. Obervermessungsinspektor (1905).
Teichmüller, Dr. J., a. o. Professor der Elektrotechnik an der
Techn. Hochschule (1899).
Thoma, Dr., Professor in Ettlingen (1911).
Tolle, M., Hofrat, Privatdozent für Maschinenbau an der Techn.
Hochschule (1906).
Troß, Dr. O., Hofrat, prakt. Arzt (1893).
Türk, W., Dipl.-Ing. (1909).
Ubbelohde, Dr. Leo, a. o. Prof, der Chemie an der Technischen
Hochschule (1912).
Vogel, Dr. Jul., Chemiker (1904).
Volz, H., Professor an der Akademie der bildenden Künste (1892).
Wagner, Dr. E., Exzellenz, Konservator der Altertümer (1864).
Wagner, G., Privatmann in Achern (1876).
Wagner, Leop., Prokurist (1899).
Wild, Dr. Lehramtspraktikant (1912).
Williard, A., Baurat a. D. und Stadtrat (1895).
Wilser, Dr. L., Privatgelehrter in Heidelberg (1881).
Wimmer, Dr. Em., Forstamtmann, a. o. Prof, an der Techn.
Hochschule (1904).
Wohnlich, Dr. Em., Assistent an der Lebensmittelprüfungsstation
(1909).
Wörnle, Dr., Privatdozent des Maschinenbaues an der Techn,
Hochschule (1914}.
Wunderlich, Dr. H., Hofrat, prakt. Arzt (1896).
Wundt, Dr. Emil, Chemiker (1912).
Zartmann, Dr. F., Privatmann (1899).
Zepf, Kas., Professor an der Baugewerkschule (1912).
Ziegler, A., Geh. Hofrat (1903).
Ziegler, Dr. V., prakt. Arzt (1899).
Schriftleitung: Prof. Dr. Schultheiss.
Sitzungsberichte.
(Autoren-Referate.)
749. Sitzung am 25. Oktober 1912.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 46 Mitglieder.
Herr Privatdozent Dr. G. Fuchs hielt einen Vortrag über
»Die wissenschaftlichen Ergebnisse einer Sommerreise
ins Engadin 1912«.
Vortragender schildert erst die geographischen, orographischen
und kurz die geologischen Verhältnisse des Engadin, erörtert
sodann seine klimatischen Besonderheiten, die es mit dem Wallis
gemein hat, deren Gesamtwirkung insbesondere in dem hohen
Hinaufsteigen der Wald- und Baumgrenze bis zu 2200 ja 2400 Meter
über dem Meer zum Ausdruck komme. Dies Ineinanderwirken
der geschilderten Verhältnisse bedinge besondere floristische und
faunistischeErscheinungen. Eine der merkwürdigen Erscheinungen,
die das Engadin in der Schweiz noch mit dem Wallis gemein
habe und sich besonders durch die klimatischen Besonderheiten
erklären lasse, seien die immer wieder auftretenden Massen¬
vermehrungen des grauen Lärchenwicklers, der auch im Sommer
1912 wieder in starker Vermehrung aufgetreten sei und mit dem
Wind auch die hohen Bergwände mit Höhen von über 3000 Meter
überfliege, und sich so in andere Täler verbreite.
Des weiteren schildert Vortragender das Vorkommen einer
großen Anzahl von Spechtringelbäumen um St. Jon bei Schuls
und erläutert, wie es komme, daß der Specht manche Bäume, hier
nur Föhren, ringele, daß anzunehmen sei, daß die Spechte, vor¬
nehmlich der große Buntspecht, die Bäume mit ringelnden Hieben
bedecke, um deren Saft zu lecken und dies im Frühjahr zur
Brunstzeit.
Verhandlungen. 26. Band.
I
Sitzungsberichte.
2*
Sodann trägt Vortragender noch die Ergebnisse seiner
Forschungen über die dort lebenden Borkenkäfer vor. Er beschreibt
zu dem Zweck erst die Waldverhältnisse um Schuls (1200 Meter)
und um Scarl (1814 Meter) und stellt fest, daß die Käfer aus der
Gattung Ips, welche die Lärche und die, welche die Arve bewohnen,
verschiedenen Arten angehören, trotz der Ansicht von Professor
Keller aus Zürich, der beide in einer Art vereinigt hatte. Außer¬
dem wird von der Auffindung einer neuen Art an der Fichte
dort berichtet. Vortragender zeigt sodann eine Anzahl Lichtbilder
aus dortiger Gegend, welche teils Spechtringelbäume darstellen,
teils Waldbilder, teils Bilder der Gegend und Hochgebirgsauf-
nahmen.
Herr Professor Paulcke ergänzte die Ausführungen des
Vortragenden noch dadurch, daß er eine Erklärung für den in
das Bergeil am Malajopaß erfolgenden Steilabsturz gab und
Herr Professor Schultheiß erläuterte die eigentümliche Trocken¬
heit des Engadins und den Malajawind, der entgegengesetzt zum
Verhalten der Lokalwinde in anderen Alpentälem untertag tal¬
abwärts anstatt aufwärts weht und der seine Entstehung der starken
Auflockerung der Luft in dem heißen Bergeil verdankt.
750. Sitzung am 8. November 1912.
Vorsitzender: Herr Geh. Hof rat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 200 Mitglieder.
Herr Geh. Hofrat Dr. O. Lehmann hielt einen Experimental-
Vortrag über »Die Sichtbarmachung der Molekular¬
struktur von Kristallen durch Röntgenstrahlen«.
Wieder hat die Physik einen sehr wesentlichen Fortschritt
zu verzeichnen! Herrn M. Laue in München (jetzt Zürich) ist
geglückt, den Aufbau klar durchsichtiger Kristalle aus gleich¬
artigen regelmäßig zusammen gelagerten winzigen Partikelchen
(Molekülen), deren Durchmesser nur etwa 1 j lo eines Milliontel
Millimeters beträgt, gewissermaßen direkt zur Anschauung zu
bringen mit Hilfe hindurchgesandter Röntgenstrahlen.
Zur Annahme einer solchen inneren Struktur auch der voll¬
kommensten, wasserklaren Kristalle werden wir genötigt durch
deren physikalisches Verhalten, doch fällt nicht nur dem Laien,
sondern auch denjenigen, der sich eingehend mit Physik befaßt
Sitzungsberichte.
3*
hat, schwer, an diese völlig unsichtbare Struktur zu glauben, trotz
aller Gründe, die dafür sprechen, denn nur das, was wir unmittel¬
bar sehen können, pflegt völlig überzeugend zu wirken.
Es gibt etwa ein Viertelhundert strenger Beweise dafür, daß
ein Kilogramm eines Körpers etwa 640/M Quadrillionen Moleküle
enthalten muß, wenn M dessen Molekulargewicht ist, d. h. die Zahl,
welche maßgebend dafür ist, in welchem Gewichtsverhältnis der
Stoff sich mit andern chemisch verbindet. Nichtsdestoweniger
spricht der vorsichtige Physiker immer nur von einer Molekular¬
hypothese, und sucht dieser Hypothese auszuweichen, wo immer
nur möglich. Viel sympathischer wäre ihm, er könnte alle Stoffe,
so wie sie uns unmittelbar erscheinen, als durchaus zusammen¬
hängende Medien ohne Poren (d. h. intermolekulare leere Zwischen¬
räume) betrachten, doch muß er sich auch sagen, daß, wenn die
Moleküle wirklich existieren, es verfehlt wäre, auf jener Annahme
zu beharren; denn auch sie ist nur eine Hypothese und ihr Wert
ist praktisch sehr gering einzuschätzen, denn sie ermöglicht ihm
häufig nicht einmal die einfache Beschreibung der natürlichen
Vorgänge, geschweige denn die Lösung seiner eigentlichen Auf¬
gabe, die Vorausberechnung des Verhaltens der Stoffe in solcher
Weise, wie sie der Techniker gebraucht, um darnach seine Ma¬
schinen und Anlagen aller Art so bauen zu können, daß sie sicher
das leisten, was wir von ihnen erwarten.
Genau wie die Berechnung der Leistung einer Maschine
genaueste Kenntnis aller ihrer Teile zur Voraussetzung hat, so
bedarf auch der Physiker notwendig genauer Kenntnis der Mole¬
kularstruktur der Körper, vor allem der Kristalle, denn weitaus
die meisten festen Körper sind nur Aggregate winziger, erst bei
starken mikroskopischen Vergrößerungen sichtbarer Kriställchen.
Sollte es nun nicht möglich sein, mittelst des Mikroskops
auch die Moleküle zur Anschauung zu bringen? Einen Stoff
1000 mal vergrößert zu sehen, ist mit Hilfe eines modernen
Mikroskops eine Kleinigkeit; aber ein Molekül hat bei solcher
Vergrößerung erst einen scheinbaren Durchmesser von einem
zehntausendstel Millimeter, es entzieht sich somit noch immer
völlig der Wahrnehmung. Vielleicht wäre aber die Technik im¬
stande, noch stärker vergrößernde Mikroskope zu bauen. Tat¬
sächlich stellt die Erfindung des Ultramikroskops einen Fortschritt
in dieser Richtung dar, doch genügt es ebenfalls noch nicht, auch
1 »
Sitzungsberichte.
4*
gibt es keine richtigen Bilder und zwar aus einem eigentümlichen
Grunde. Auch das Licht hat eine Struktur, so wenig wir davon
unter gewöhnlichen Umständen wahrnehmen. Ein Lichtstrahl
besteht aus abwechselnd entgegengesetzt gerichteten, in Ab¬
ständen von etwa einem halben Tausendstel Millimeter auf ein¬
ander folgenden elektrischen und magnetischen Feldern, welche
mit einer Geschwindigkeit von 300 Millionen Metern pro Sekunde
im Raume forteilen und nur da, wo sie auf Moleküle auftreffen
eine Störung erleiden, die uns das Vorhandensein dieser Moleküle,
d. h. eben der Körper, die sie bilden, erkennen läßt.
Richtige Bilder der Körper können wir nur erhalten, wenn
diese bedeutend größer sind als die genannten Abstände der
elektrischen Felder im Lichtstrahl, die sog. Wellenlänge des
Lichtes. Für gewöhnliche mikroskopische Objekte trifft dies
noch zu, keineswegs aber für die Moleküle, die bedeutend kleiner
sind als Lichtwellen. Die moderne Physik hat nun eine Menge
anderer Strahlenarten zutage gefördert, wie z. B. die Kathoden¬
strahlen, welche die Moleküle, auf die sie auftreffen, zum Leuchten
bringen können. Würden wir beispielsweise Luft mit einer guten
Luftpumpe so stark verdünnen, daß der mittlere Abstand der
Moleküle etwa ein Zentimeter wäre, so müßte sie beim Durch¬
gang eines Bündels Kathodenstrahlen im finstern Raum aus
winzigen leuchtenden Sternchen zu bestehen scheinen, in durch¬
schnittlichen Abständen von je einem Zentimeter. Tatsächlich
trifft dies nicht zu, denn die Luftmoleküle bewegen sich immer¬
fort und zwar mit einer Schnelligkeit, die der Geschwindigkeit
von Flintenkugeln gleich kommt. Sowenig wir eine solche im
Fluge sehen können, können wir die besprochenen leuchtenden
Luftmoleküle einzeln wahrnehmen, wir sehen nur einen phos-
phorisch leuchtenden Nebel.
Mehr Erfolg könnte scheinbar die Verwendung von Röntgen¬
strahlen haben. Sie sind den Lichtstrahlen verwandt und haben
den neuesten Untersuchungen von A. Sommerfeld in München
zufolge, soweit überhaupt von einer Wellennatur gesprochen
werden kann, eine Wellenlänge, die noch kleiner ist als der
Durchmesser eines Moleküls. Im Prinzip wäre also wohl mög¬
lich, damit vergrößerte Bilder von Molekülen herzustellen; aber
gerade wegen ihrer kleinen Wellenlänge erleiden sie beim Durch¬
gang durch Linsen keine Brechung, wie sie zur Erzeugung eines
Sitzungsberichte.
5*
vergrößerten Bildes notwendig ist, die ganze Optik des Mikroskops
versagt, selbst wenn wir Linsen aus dem das Licht am stärksten
brechenden Medium, aus Diamant, verwenden. Die Bilder würden
auch, eben weil die Wellenlänge nicht wesentlich kleiner ist als
der Molekular-Durchmesser, durchaus unrichtig werden, minde¬
stens so unrichtig wie die des Ultramikroskops, da sich in solchem
Falle sogenannte Beugungserscheinungen einstellen.
Versucht man z. B. mittelst eines dünnen Lichtstrahls ein
Schattenbild einer Nähnadel auf einem Schirm zu erzeugen, so
findet man häufig gerade in der Mitte des Schattens, wo derselbe
am dunkelsten sein sollte, eine helle Linie. Die Lichtstrahlen
gehen nicht geradlinig an den Rändern der Nadel vorbei, sondern
werden gebeugt. Verwendet man ein ganzes Gitter aus parallelen,
gleichweit abstehenden Nadeln, so erhält man zu beiden Seiten
des durch das durchgehende Licht veranlaßten Lichtflecks auf
dem Schirm noch ziemlich weit abgebeugte seitliche Lichtflecke.
Bei zwei rechtwinklig gekreuzten Gittern sind es Lichtpunkte
und bei mehreren parallel hintereinandergestellten Kreuzgittern
bleiben nur vereinzelte, dafür aber um so hellere Punkte übrig, die
annähernd in Kreisringen um den zentralen Lichtfleck gruppiert
sind. Aus ihrer Entfernung läßt sich der Abstand der Gitter¬
kreuzpunkte berechnen, falls er nicht durch direkte Messung be¬
kannt ist, und eine Probe ergibt leicht die Richtigkeit der
Rechnung. Die Molekularstruktur eines Kristalls stellt nun ein
ähnliches, nur feineres Raumgitter dar und somit ist zu erwarten,
beim Durchgang eines Bündels Röntgenstrahlen werde eine ähn¬
liche Beugungserscheinung auftreten, obschon die Kristall platte
völlig klar und durchsichtig ist und keine Anzeichen das Vor¬
handensein einer Gitterstruktur ohne weiteres ahnen läßt.
Das ist nun die wichtige Entdeckung von Laue und seiner
Mitarbeiter, daß die vermutete Beugungserscheinung tatsächlich
auftritt und daß die daraus berechneten Abstände der Moleküle
(*/} Milliontel Millimeter) sich in vollkommener Übereinstimmung
befinden mit dem früheren Ergebnis, daß auf i Kilogramm
640/M Quadrillionen Moleküle gehen, falls M das Molekulargewicht
der betreffenden Substanz bedeutet, woraus man z. B. weiter
schließen kann, daß ein Wasserstoffmolekül i 1 / 2 Tausendstel von
einem Quadrilliontel Kilogramm wiegt, ein Molekül Sauerstoff
i6mal soviel.
6*
Sitzungsberichte.
751. Sitzung am 22. November 1912
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 59 Mitglieder.
Vor Eintritt in die Tagesordnung beglückwünschte der Vor¬
sitzende den anwesenden Herrn Dr. Otto Ammon mit freund¬
lichen Worten zu seinem bevorstehenden 70. Geburtstag, wobei
er erwähnte, daß der Jubilar, der als Vereinsmitglied beinahe in
keiner Sitzung fehle, für seinen Eifer, sowie seine Beteiligung an
den Erörterungen und seine regelmäßigen Sitzungsberichte in der
Presse die Anerkennung des Vereins verdiene, was allgemeine
Zustimmung fand. Für die warmen Wünsche ferneren Wohl¬
ergehens dankte der Gefeierte mit kurzen herzlichen Worten: In
dieser zwanglosen Weise nehme er die Beglückwünschung gerne
entgegen; er habe nur nicht gewollt, daß sich seinetwegen jemand
besonders bemühe.
Herr Professor Dr. Auerbach hielt sodann einen Vortrag
über das Thema: »Unsere Pelze, ihre Lieferanten und
deren Verbreitung.«
Nach einer kurzen historischen Einleitung, aus der hervor¬
ging, daß das Kürschnergewerbe eines der ältesten auf der Erde
ist, schilderte der Vortragende in knapper Form den Bau der
Haut und der Haare, sowie den Einfluß, den Umgebung und
Klima auf die Ausbildung des Haarkleides haben. Durch diese
Schilderung lernen wir verstehen, warum die kostbarsten Pelze
und die geschätzten Pelztiere fast ausschließlich in den kalten
Regionen Vorkommen, wenn uns auch die heißen oder doch
gemäßigten Zonen einige Pelzlieferanten stellen, wie Skunks,
Schweifbiber (Nutria), Opossum u. a.
Den Hauptteil des Vortrags machte die Besprechung der
hauptsächlichsten Pelztiere und deren Verbreitung auf der Erde
aus. An Hand eines reichen Materials, das in liebenswürdiger
Weise von der Firma Lindenlaub zur Verfügung gestellt worden
war, konnte der Vortragende die einzelnen Felle beschreiben, ihren
Wert und die Zahl der jährlich durchschnittlich in den Handel
kommenden Exemplare angeben. Eine Aufzählung der be¬
sprochenen Tiere kann hier natürlich nicht gegeben werden; wir
wollen nur einige der wichtigsten hervorheben: Rotfuchs, Kreuz¬
fuchs, Silber- und Schwarzfuchs, Polar- und Blaufuchs; Skunks,
Waschbär, Marder, Zobel, Nörz, Hermelin, Sealskin, Fisch- und
Seeotter; Biber, Nutria, Chinchilla, Persianer, Breitschwanz und
Sitzungsberichte.
7*
Astrachan. Ferner wurden auf die Imitation wie Seal-Bisam,
Seal-Kanin, Zobel-Murmel usw. kurz hingewiesen und angegeben,
wie man mit Hilfe des Mikroskopes auf den ersten Blick diese
Nachahmungen von den echten Pelzen unterscheiden kann, selbst
wenn nur ein einziges Haar untersucht wird. Daß in neuester
Zeit die wertvollsten Pelztiere wie Silberfuchs, Blaufuchs, Zobel,
Skunks u. a. vom Menschen zur Pelzgewinnung künstlich gezüchtet
werden, wurde vom Vortragenden ebenfalls erwähnt.
Den Schluß der Ausführungen bildeten einige Hinweise auf
die Aufbewahrungsarten der Pelze im Sommer und die Mittel,
dieselben vor dem Angriff der Raubinsekten, wie Motten usw.
zu schützen.
752. Sitzung am 6. Dezember 19x2.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 37 Mitglieder.
Herr Bergrat Naumann trug über »Das Rettungs¬
wesen im Bergbau« vor.
Der durch Lichtbilder unterstützte Vortrag nahm von der
Unfallgefahr im Bergbau und zwar besonders von der Schlag¬
wettergefahr seinen Ausgang. Die verschiedenen Entstehungs¬
ursachen der Schlagwetterexplosionen wurden einer Betrachtung
unterzogen, und die verhängnisvollen Wirkungen der hierbei
gebildeten Nachschwaden besonders hervorgehoben. Die Entfer¬
nung der betäubten Personen aus diesen giftigen Gasen, wie sie
auch bei Flötzbränden auftreten, neben der Beseitigung mecha¬
nischer Hindernisse, die den Gefährdeten den Fluchtweg ab¬
schneiden, wurde als eine der wichtigsten Aufgaben im bergbau¬
lichen Rettungsdienst bezeichnet. Als weitere Aufgabe der
Rettungsmannschaften wurde auch die vorbeugende, verhütende
Tätigkeit, wie beispielsweise das Setzen von Branddämmen,
erwähnt.
Redner behandelte weiter die Ausrüstung des Rettungsmanns,
vor allem die verschiedenen Arten von Apparaten, die ihm den
Aufenthalt in unatembaren Gasen gestatten: Die Schlauchapparate,
die Behälterapparate mit flüssiger Luft, die Regenerationsapparate
der Drägerwerke in Lübeck und der Westfalia in Gelsenkirchen,
wie auch die Pneumatogene kamen zur Darstellung. Ferner
wurden auch die Vorrichtungen zum Transport Betäubter (Schleif-
8*
Sitzungsberichte.
bretter mit Sauerstoffapparaten) wie auch die Wiederbelebungs¬
apparate behandelt. Schließlich nahm die Organisation des
Rettungswesens im Rahmen des Vortrags einen größeren Raum
in Anspruch. Die oberschlesische Zentrale für Rettungswesen
in Beuthen wurde besonders ausführlich besprochen, der Wert
der Rettungsübungen eingehend gewürdigt. Mit einem Blick
auf die Einrichtungen des Auslands und einigen Bildern amerika¬
nischer Rettungsübungen wurde der Vortrag geschlossen.
753. Sitzung am 20. Dezember 1912.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend: 28 Mitglieder.
Herr Geh. Hofrat Dr. Haid hielt einen Vortrag über: Gezei¬
ten und physikalische Konstitution des Erdkörpers.
754. Sitzung am 17. Januar 1913.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 58 Mitglieder.
Herr Professor Dr. S i e v e k i n g hielt zunächst einen Vortrag
über die elektromagnetische Lichttheorie. Der Vortragende ent¬
wickelte die Grundgleichungen des elektromagnetischen Feldes und
gab eine genaue Darstellung der modernen Anschauungen über die
Vorgänge, die eine elektromagnetische Störung begleiten. Der Vor¬
trag war gedacht als eine Einleitung zu der Theorie bewegter Sy¬
steme. Hier reichen die Hertz-Maxwellschen Vorstellungen nicht
mehr aus. Die quantitative Dissonanz der beobachteten Effekte mit
der Theorie zwingt zu Modifikationen, die zuerst von H. A. Lorentz
entwickelt wurden. Die neuere Relativitätstheorie löst einige der
Widersprüche, doch sind in letzter Zeit schwerwiegende Argumente
gegen diese bekannt geworden. Darüber zu sprechen, soll einem
zweiten Vortrag Vorbehalten bleiben.
Oberstleutnant a. D. Schuster sprach über Beziehungen der
18.6jährigen Periode der Mondknoten, des sog. Mondzirkels, zu
einer Periode der Sonnenflecken und einer solchen der Kometen¬
bewegung.
An eine kurze Einleitung über die Sonnenflecken und ihre ver¬
schiedenen Perioden knüpfte er die Bemerkung: Es beständen zwar
verschiedene Beziehungen zwischen letzteren Perioden und perio¬
dischen Erscheinungen auf unserer Erde, z. B. dem Erdmagnetismus
und den Nordlichtern, doch seien diese, soweit ihm bekannt, rein sta-
Sitzungsberichte.
9*
tistischer Natur. Im Lauf seiner Mondarbeiten sei er nun auf die
im Thema benannten Beziehungen gekommen, welche, wie er be¬
stimmt glaube, uns Aufschluß über die Vorgänge im Welträume
geben können.
Nach Erklärung der komplizierten, wenig bekannten Bewegung
der Mondbahnebene im Mondzirkel zeigte er an Mittelkurven, wie
diese Bewegung im Lauf von 18.6 Jahren eine auffallende Vier¬
schwankung in den Jahresmitteln des Luftdruckes, der Temperatur,
der Regenmenge und entsprechend im Wasserstand der Ströme, zur
Folge habe.
Durch den Physiker Professor Dr. J. Schneider-Darmstadt auf
eine Arbeit von Professor P. Reis: „Die periodische Wiederkehr von
Wassernot und Wassermangel im Zusammenhänge mit den Sonnen¬
flecken, den Nordlichtern und dem Erdmagnetismus“ aufmerksam
gemacht, sei der Gedanke nahe gelegen, daß, wenn ein Zusammen¬
hang bestehe zwischen den auffallenden Perioden der Regenmengen
und denen der Sonnenflecken nach P. Reis einerseits, andererseits
aber, nach seinen Untersuchungen, mit der 18.6jährigen Periode des
Deklinationswechsels der Mondbahnebene, daß dann auch, in An¬
lehnung an den bekannten Satz: Sind zwei Größen einer Dritten
gleich, so sind sie sich selber gleich, — soweit er eben auf sinnliche
Wahrnehmungen zutreffen könne — ein Zusammenhang zwischen
den Perioden der Sonnenflecken und der 18.6jährigen Mondsperiode
wahrscheinlich sein. Und ein direkter Vergleich der nach Professor
Wolfs Relativzahlen aufgetragenen Kurve der Sonnenflecken mit
einer, der 18.6jährigen Mondsperiode entsprechenden Wellenlinie er¬
gab in der Tat eine in die Augen springende Übereinstimmung bei¬
der Perioden vom Anfang um 1735 bis etwa 1783, dann ein Anwach¬
sen der Periodenlänge bei den Sonnenflecken bis zum Jahre 1810,
eine Wiederabnahme derselben bis etwa 1833, worauf sich nochmals
die ursprüngliche Übereinstimmung einstellt.
Die Annahme des Vortragenden, es könnten in der Zeit von
1783 bis 1833, vielleicht durch Interferenzwirkung anderer Wellen¬
systeme, zwei Fleckenperioden ausgemerzt worden sein, wurde spä¬
ter gestützt, als ihn ein privater Mondforscher, Apotheker Schwindt-
Bremen, auf die von der K. K. Akademie der Wissenschaften in
Wien veröffentlichten Arbeiten des Bürgerschuldirektors Unter-
weger aufmerksam machte, nach welchem sich aus der Anzahl der
in einem Jahr die Sonnennähe passierenden Kometen und dem Nei-
Sitzungsberichte.
IO*
gungswinkel deren Bahnebene eine Funktion berechnen läßt, welche,
angetragen, zwar, wie Unterweger behauptete, eine große Verwandt¬
schaft mit dem periodischen Gang der Sonnenflecken zeigt, aber in
weit höherem Maß als diese die 18.6jährige Mondsperiode befolgt,
so daß sich in der betreffenden Kurve auch die bei den Sonnenflek¬
ken vermißten beiden Wellen deutlich vorfinden.
Das hierauf aus den fast einen Zeitraum von 160 Jahren um¬
fassende Sonnenflecken- und Kometenfunktionszahlen mit 18.6jäh¬
riger Periodenlänge gebildete Hauptmittel ergab dann auch in beiden
Fällen Doppelperioden von bemerkenswerter Regelmäßigkeit.
Weitere Kurvenbilder ließen noch ersehen, wie die Sonnen-
flecken-Relativzahlen eine kontinuierliche Reihe von Perioden, von
der 8.5jährigen bis zur 11 jährigen ergeben, welche von der 9.3jäh-
rigen Periode ab an Bestimmtheit zunimmt und unmittelbar nach
der 11 jährigen Periode erlischt.
Die entsprechende Reihe von Mitteln aus der sog. Kometen¬
funktion zeigt in der 9.3jährigen Periode, also der 18*6jährigen
Doppelperiode, die beste Rgelmäßigkeit.
Aus der ganzen Untersuchung leitete der Vortragende folgen¬
des ab: Wenn der Mond, wie deutlich nachgewiesen, die verschie¬
densten Wellensysteme erzeugt, welche, abgesehen von denen, aus
anderen Ursachen, sich so rein erhalten, daß sie theoretisch zu tren¬
nen und nachzuweisen sind, — wovon die Tatsache eine Vorstel-
lung geben kann, daß ein starker elektrischer Wellenstoß durch das
atmosphärische Gewirre auf tausende von Kilometern dringt und
seine Eigenart behält, so daß er dort, eben vermöge dieser Eigenart,
die Arbeit des Telegraphierens verrichten kann — so muß, schon
im Hinblick auf das Energiegesetz, angenommen werden, daß auch
die Erde auf den Mond, durch den Raum hindurch, eine Resonanz¬
wirkung ausübt, die natürlich einen der Schwingung fähigen Äther
voraussetzt. Besteht aber zwischen dem Mond und der Erde ein
solches Wechselverhältnis, so ist es zwischen allen Weltkörpern ganz
natürlich.
Die Übereinstimmung im Hauptmittel der Kometenfunktion
mit der 18.6jährigen Mondperiode bedeute dann, daß die Bewegung
der Weltkörper in ihrem periodischen Erscheinen und der Neigung
ihrer Bahnebene, die Einwirkung eines großen Gesetzes, des der At¬
traktion, durch Wellenstöße verschiedener Stärke ausgeübt, verrate,
welche Stöße diese Körper wieder nach der Sonne zurückgeben müs-
Sitzungsberichte.
I I*
sen und den bildlichen Ausdruck für diese Vorgänge sehe er in den
Sonnenflecken.
Wenn er hier eine Ansicht vertreten hat, von welcher sich bis¬
her kaum ein Sterblicher hätte etwas träumen lassen, so wage er
dies, weil er auf ganz anderem Wege ebenfalls zur Erkenntnis ge¬
kommen sei, daß das Wesen der Massenanziehung durch den Raum
hindurch nur unter der Voraussetzung eines der Schwingung fähi¬
gen, also materiellen Äthers verständlich gemacht werden könne.
Der Vorsitzene, Geheimer Hofrat O. Lehmann, dankte dem
Vortragenden für seine Mitteilung und der Mühe, die er sich zur
Feststellung der vermuteten Beziehungen gegeben hat, mit Hinweis
darauf, daß das Aufsuchen von Zusammenhängen auf empirischem
Wege, wie das Beispiel Keplers beweist, dessen Erforschung der
Planetenbewegung zur Erkenntnis des Gravitationsgesetzes führte,
für die Wissenschaft von großem Werte sein kann. Wie gerade die¬
ses Beispiel zeigt, erlangen die Resultate aber eben erst dann wirk¬
lichen Wert, wenn auf Grund der so erhaltenen Hypothesen Voraus¬
berechnung der Erscheinungen möglich wird; denn diese eben ist
die eigentliche Aufgabe der Wissenschaft. Man muß sich auch hü¬
ten, aus quantitativen Beziehungen sofort auf kausale Zusammen¬
hänge zu schließen. So kann man z. B. aus den verschiedenartigsten
Erscheinungen, die in gar keiner inneren Beziehung stehen, wie in
einem der letzten Vorträge gezeigt wurde, mathematische Ausdrücke
für die Molekülzahl pro Kilogramm ableiten. Indem man alle Aus¬
drücke einander gleich setzt, erhält man quantitative Beziehungen
zwischen jenen Erscheinungen, denen kein direkter kausaler Zusam¬
menhang entspricht. Ein wesentliches Erfordernis wissenschaft¬
licher Behandlung ist ferner das, daß nicht Anschauungen, die die
Wissenschaft längst als irrig verworfen hat, wie z. B. die Existenz
mechanischer Wellen im Äther, wie sie die alte Undulationstheorie
des Lichtes annahm, ohne Gegenbeweis und ohne Hinweis auf die
bestehende Literatur ohne weiteres als zulässig vorausgesetzt wer¬
den. Ebensowenig gestattet wissenschaftliche Behandlung die Au¬
ßerachtlassung der neuen Forschung auf dem betreffenden Gebiet.
Beispielsweise liegen über die Gravitation eine Menge Arbeiten aus
letzter Zeit vor, in welchen nicht nur Hypothesen aufgestellt, sondern
quantitativer Prüfung an den Tatsachen unterworfen werden* Solche,
den Anforderungen der Wissenschaft entsprechende, mit großer
Sorgfalt durchgeführte Arbeiten dürfen nicht einfach als nicht vor-
Sitzungsberichte.
12*
handen betrachtet oder als unwesentlich übergangen werden. Ver¬
mutlich sind sie dem Herrn Vortragenden nicht bekannt geworden.
Die kurze zur Verfügung stehende Zeit würde allerdings ein Ein¬
gehen auf deren Inhalt unmöglich machen.
755. Sitzung am 31. Januar 1913.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend sehr viele Mitglieder.
In Anwesenheit Seiner Königlichen Hoheit des Großherzogs be¬
richteten die Herren Geheimerat Dr. E n g 1 e r , Professor Dr. E b-
1 e r (Heidelberg) und Professor Dr. S k i t a über den 8. internatio¬
nalen Kongreß für angewandte Chemie.
756. Sitzung am 14. Februar 1913.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 53 Mitglieder.
Herr Dr. Reis sprach: Über die neuere Ent wicklung
unserer Kenntnis der Flammen. An die Untersuchung
der Verbrennungsvorgänge, die zu Ende des 18. Jahrhunderts von
Scheele, Priestley, Lavoisier unternommen wurde,
knüpft sich der Beginn einer wissenschaftlichen Chemie. In Flam¬
men spielen sich heftige chemische Vorgänge zwischen Gasen ab, die
gewöhnlich zu starker Erhitzung und zum Leuchten führen. Der
chemische Vorgang ist in den üblichen Flammen die Oxydation
brennbarer Stoffe durch elementaren Sauerstoff- Andere Flammen
(z. B. Chlorflammen) haben keine allgemeinere Bedeutung erlangt.
Die wichtigsten Schritte in der Erforschung der Flammen waren:
die Messung der V erbrennungswärmen durch Berthe-
1 o t und durch Julius Thomsen, die Einführung des Bunsen¬
brenners, der ein fertiges, gleichförmiges Gas-Luftgemisch der
Verbrennung zuführt, die Ausbildung von Messungsmetho¬
den für hohe Temperaturen (Thermoelemente, optische
Pyrometer) die Messung der Drucke, die bei Explosionen in ge¬
schlossenen Gefäßen auftreten, die Untersuchung der Unvoll-
»tändigkeit der Verbrennung bei hohen Temperaturen. Ubei
alle diese Fragen sind wir heute in befriedigender Weise unterrich¬
tet. Dagegen ist über den Mechanismus des Verbrennungsvorgan¬
ges und über die Geschwindigkeit seines Verlaufes nur unzureichen¬
des bekannt. Wichtige Beiträge zur Kenntnis dieser Fragen liefer¬
ten die Untersuchungen über Entzündungstemperatu-
Sitzungsberichte.
13*
ren, Explösionsgrenzen (Eitner), Fortpflan¬
zungsgeschwindigkeit von Explosionen. Beson¬
ders interessant sind die Versuche, die durch Druckerhöhung
das Gas auf die Entzündungstemperatur erwärmen.
Sicher sind nicht alle Tatsachen aus Temperatur und Zusam¬
mensetzung der verbrennenden Gase abzuleiten, vielmehr herrschen
in Flammen besondere „nicht thermische“ Einflüsse. Dar¬
über ist durch Habers Arbeiten über den Innenkegel der
Bunsenflamme einiges bekannt geworden. Dieser übertrifft bei wei¬
tem an Leuchtkraft (Chemilumineszenz) elektrischer
Leitfähigkeit und hoher chemischer Reaktionsge¬
schwindigkeit das aus ihm entströmende Gas. Die Ähnlich¬
keit zwischen Flammen und elektrischen Entladungen tritt in Habers
Arbeiten sehr deutlich hervor. Die Haber sehen Methoden sind
noch weiterer Anwendung fähig, besonders zur Lösung von Proble¬
men der chemischen Spektroskopie.
757. Sitzung am 28. Februar 1913.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 34 Mitglieder.
Herr Dr. W i 1 s e r (Heidelberg) machte verschiedene inter¬
essante Mitteilungen; er sprach zunächst über „Den klugen
HundvonMannhei m“, ein Beitrag zum Verständnis der Tier¬
seele. Die auffallenden geistigen Fähigkeit dieses Tieres, eines
zweijährigen Terriers, das einem Bekannten des Vortragenden ge¬
hört, wurden ganz zufällig, während einer Rechenstunde der Kinder,
entdeckt. Ein besonderer Unterricht hat nicht stattgefunden; nach
und nach hat ihm seine Herrin, die durch ein Leiden an den Rollstuhl
gefesselt ist, immer schwierigere Aufgaben gestellt. Durch einen
glücklichen Zufall war bei der ohne jede Voreingenommenheit und
mit größtmöglicher Sorgfalt vorgenommenen Prüfung des Hundes
auch Herr Krall, der Besitzer der vielbesprochenen Elberfelder
Pferde, zugegen, dessen Mitteilungen über die ähnlichen Leistungen
seiner eigenen Zöglinge sehr wertvoll waren. Wenn auch der Vor¬
tragende als Verteidiger einer von jeder Übertreibung und Einsei¬
tigkeit freien Entwicklungslehre von jeher der Ansicht war, daß
sich der tierische von dem menschlichen Verstände nicht dem Wesen,
sondern nur dem Maße nach unterscheidet, so mußte er doch,
nach der Bekanntschaft mit dem alle Erwartungen weit übertreffen¬
den Hund „Rolf“ gestehen, daß er früher die Kluft zwischen Men-
Sitzungsberichte.
14 *
schengeist und Tierseele für viel weiter und tiefer gehalten hatte.
Es wurden nun einige der erstaunlichen Leistungen des klugen Tieres
mitgeteilt, dabei aber auf das Selbstbeobachtete das größte Gewicht
gelegt. Zur Beantwortung der Fragen dient eine von der Frau des
Hauses in gemeinsamer Arbeit mit ihrem gelehrigen Schüler auf¬
gestellte Buchstabiertafel, mit einer bestimmten Zahl für jeden Buch¬
staben, die durch Pfotenschläge, Zehner und Einer für sich, ange¬
geben wird; für häufig vorkommende Wörter, wie „ja‘ und „nein“
sind besondere Zahlen, 2 und 3, vereinbart. Vorgesprochene Wör¬
ter, z. B. die Namen Krall und W i 1 s e r, gibt der Hund richtig
wieder, wobei allerdings verwandte Laute manchmal verwechselt und
Vokale ausgelassen werden. Geldstücke unterscheidet er mit Sicher¬
heit und gibt das Metall des einzelnen, sowie ihren Gesamtwert an,
in unserem Falle 11 Mark und 11 Pfennige durch vier Pfotenschläge,
je einen für dieZehner undEiner der Mark, je einen für die derPfen-
nige. Allerlei Gegenstände, wie Fleischstückchen auf einem Teller,
verschiedenfarbige Blumen in einem Strauß, werden richtig gezählt.
Das Überraschendste aber sind die — offen gestanden unerklär¬
lichen — Lösungen schwieriger Rechenaufgaben, wie Quadrat- und
Kubikwurzeln. Auf die Frage: „Was sagst du den Herrn zum Ab¬
schied?“ buchstabierte Rolf: ad, auf die andere, ob ihm seine neueste
Photographie gefalle, antwortete er mit „nein“, warum nicht?
Frau: das kluge Tier vermißt die Farbe. Daß solche Erfahrungen
dem Seelenforscher neue Rätsel aufgeben, wird niemand bestreiten.
Die Steinzeitvölker Schwedens und Däne¬
marks hat W i 1 s e r schon vor 10 Jahren besprochen in seinem
Vortrag über „Die Rasse des schwedischen Volkes“, damals haupt¬
sächlich auf die nach Inhalt und Ausstattung die Bezeichnung
„Prachtwerk“ verdienenden „Crania suecica antiqua“ von R e t z i u s
sich stützend. Seitdem sind in Schweden neue Funde gemacht, die
dänischen übersichtlicher zusammengestellt und besser beschrieben
worden. (N i 1 s e n, Beiträge und Weitere Beiträge zur Anthropo¬
logie Dänemarks in der Steinzeit, Jahrb. 1906 und 11). Die scnwe-
dischen Knochenfunde, aus den drei südlichen Landschaften Schonen,
Bohuslän und Westgotland, sowie von den Inseln Öland und Gotland
stammend, sind von Profesor F ü r s t in Lund, dem Mitarbeiter von
R e t z i u s, in mustergültiger Weise abgebildet und beurteilt wor¬
den. (Zur Kraniologie der schwedischen Steinzeit, Verh. d. K. Schw.
Ak. 49, 1). Es handelt sich um Überbleibsel von etwa 120 Men-
Sitzungsberichte.
sehen jeden Alters und Geschlechts, darunter 28 meßbare Schädel,
wozu die 42 von Retz ius beschriebenen und 158 dänische kom¬
men. Mehr als 1 / 9 der altschwedischen Schädel haben einen Index
von 74—76, von welcher Mitte die Zahlen nach beiden Seiten, aber
nach oben schneller als nach unten, abfallen: die Langschädeligkeit
springt in die Augen. Demgegenüber lassen die Schädel von den
dänischen Eilanden (kein einziger stammt aus Jütland) eine bedeu¬
tend stärkere Beimengung von Rundköpfen (26, bezw. 8 v. H.) er¬
kennen; schlägt man aber die südlichste schwedische Landschaft,
Schonen, zu Dänemark, so "ändert sich das Verhältnis für dieses
kaum; ein deutliches Zeichen, von woher die rundköpfige Menschen¬
art (Homo brachycephalus) gekommen ist. Sehr bemerkenswert ist
der Umstand, daß in der Eisenzeit (aus der Bronzezeit sind wegen
der damals üblichen Leichenverbrennung nur wenige Schädel erhal¬
ten) die Langköpfe weit mehr überwogen, und zwar in Dänemark
noch auffallender als in Schweden. Ich kann darin, im Gegensatz zu
Fürst, kein Zeichen eines Rassenwechsels, einer „Veränderung“
der Steinzeitvölker erblicken, auch keine andere Auslese der Be¬
statteten, sondern erkläre mir die Tatsache so, daß in dieser Zeit, die
in der Hauptsache ja mit der der indogermanischen Wanderungen
zusammenfällt, die nordische Rasse (H. europaeus) wegen starker
Vermehrung von einem wichtigen Ausdehnungsdrang ergriffen war
und gerade durch die unablässig von ihr ausgehenden Wanderscharen
ihr Blut reiner als sonst erhielt- In der Steinzeit sind die Rund¬
köpfe in Dänemark wieder viel zahlreicher als in Schweden (33
gegen 13 v. H.). In Schonen (Hoellinge) wie auf Seeland findet sich
der „Borreby-Typus“, hochgewachsen, aber rundköpfig, offenbar
einer Kreuzung von H. europaeus mit brachycephalus entstammend-
Die nordischen Anthropologen gebrauchen leider immer noch den
durch einen Fundort näher bezeichneten Ausdruck „Typus“ statt der
naturwissenschaftlich allein richtigen lateinischen Doppelnamen. Auch
verschiedene Verletzungen, bezw. chirurgische Eingriffe sind fest¬
gestellt, so unter den dänischen Funden mehrere Trepanationen,
unter den schwedischen ein gut geheilter Schenkelbruch, ebenso Mi߬
bildungen, wie ein Auswuchs des obersten Halswirbels, der eine
falsche Gelenkfläche ins Hinterhauptsbein eingeschliffen, ein offen
gebliebenes Kreuzbein (Spina bifida ossis sacri) und dergl.
Die Entdeckung vormenschlicher Gebeine in
England (bei Piltdown in Sussex) war für den Vortragenden
Sitzungsberichte.
l6*
nicht überraschend, denn er hatte ja stets darauf hingewiesen, daß
dieses ursprünglich die verbindende Brücke zwischen der nordi¬
schen Urheimat des Menschengeschlechts und dem europäischen Ver¬
breitungsgebiet des Urmenschen (H. primigenius) bildende Land
noch bedeutsame Aufschlüsse über unsere Vorgeschichte liefern
würde. In der Tat haben die letzten anderthalb Jahre zwei hochwich¬
tige derartige Funde gebracht, der von Ipswich, ein Gerippe einer
schon höher entwickelten Menschenart (H.mediterraneus foß.), das
aber unter dem Geschiebelehm (bouldon clav) der größten Eiszeit
lag, und der von Piltdown, die rechte flälfte eines Unterkiefers, die
linke eines Schädels, von so altertümlicher Bildung, daß sie nach des
Vortragenden Ansicht nicht mehr zur entwicklungsgeschichtlich äl¬
testen Menschenart (H. primigenius) gehören, sondern einer euro¬
päischen Art der Gattung ,,Vormensch“ (Proanthropus europaeus)
zugeschrieben werden müssen.
An diese Vorträge schloß sich eine rege Besprechung an, die
hauptsächlich die geistigen Eigenschaften an Tieren zum Gegenstand
hatten.
758. Sitzung am 25. April 1913.
Vorsitzender: Herr Geh. Hof rat Dr. Lehmann. Anwesend 49 Mitglieder.
Im großen Hörsaal des Chemischen Insitutes der Technischen
Hochschule hielt Herr Geh- Hofrat Dr. L. Klein einen durch zahl¬
reiche Lichtbilder anschaulich gemachten Vortrag über: Dendro-
logische Merkwürdigkeiten von Karlsruhe und dessen nächster Um¬
gebung.
75g. Sitzung am 9. Mai 1913.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 2" Mitglieder.
Herr Privatdozent Dr. Vogt hielt zuerst einen Vortrag über
„Bau und Ökonomie der B i e n e n z e 1 1 e“. Der Bau der
Honigbiene hat von je die Phantasie der Naturfreunde, die Gedan¬
ken der Naturforscher und Geometer auf sich gelenkt. Dem Wunsch
der theologischen Naturauffassung, hinter der einzelnen Er¬
scheinung eine zweckvolle Intelligenz zu finden, nicht der exakten
Beobachtung entspringt im Anfang des 18. Jahrhunderts ein Mythus
über die Genauigkeit und Zweckmäßigkeit des Bienenbaues, der noch
Sitzungsberichte.
17*
heute populäre und vielfach auch wissenschaftliche Bücher beherrscht.
Die Form der Bienenzelle wird auf Grund angeblicher Messungen
des Astronomen Maraldi und auf Grund einer Berechnung des Ma¬
thematikers König für diejenige gehalten, welche bei größtem Inhalt
die kleinste Oberfläche benutzt; die Bienen haben als Bauprinzip die
möglichste Wachsersparnis und haben diesen Zweck in der Form der
Zelle bestehend aus einer sechsseitigen prismatischen Säule und
einem dem Rhombendodekaeder entnommenen pyramidalen Ab¬
schnitt aufs genaueste erreicht. Mit dieser Meinung, an die sich eine
ganze Legende knüpft, räumt ein Büchlein, H. Vogt, Geometrie und
Ökonomie der Bienenzelle, Breslau 1910, gründlich auf, das durch
wirliche Messungen die tatsächlichen Schwankungen an den Bienen¬
zellen nachweist — der Winkel der Pyramidenebenen schwankt um
20 Grad —, und zeigt, daß das Mittel nicht bei den von Maraldi
geforderten 120 Grad, sondern bei 114 Grad liegt. Die Königsche
Berechnung fällt hin, denn die Wanddicken sind ungleich, die Kan¬
ten sind verstärkt. Diejenige Zellform, welche unter Berücksichti¬
gung dieser Verhältnisse das meiste Wachs sparen würde, ist von der
wirklichen Zellform noch weiter entfernt als die von Maraldi ge¬
wünschte, und überdies würde selbst bei Ausführung dieser Form
die geringe .'Wachsersparnis verschwinden gegenüber dem sonst
durch Unregelmäßigkeiten vergeudeten Wachs. Gibt man dennoch
zu, was aus phylogenetischen Gründen wahrscheinlich erscheint, daß
die Bienen dem Maraldischen Typus, bei dem nur Ebenenwinkel von
120 Grad auftreten, zustreben, so erscheint es möglich, aus dem
Grade der Genauigkeit, mit welcher der Typus erreicht wird,
Schlüsse auf die Gesetzmäsigkeit zwischen Reiz- und Empfindungs¬
unterschiede der Biene zu ziehen, wie es für Tierseelen selten möglich
sein wird.
Darauf berichtet Herr Profesor Dr. H. Hausrath über ei¬
nige Versuche, die er zur Aufklärung der Schüttekrankheit
der Kiefer ausgeführt hat. Bei dieser Krankheit vertrocknen
die Nadeln, wobei sie sich lebhaft rot färben. In der neuesten Zeit
war in der Literatur von dem verstorbenen Münchener Forscher
Mayr und anderen die Ansicht vertreten worden, daß die Schütte
immer nur durch einen Pilz — Hysterium pinastri — hervorgerufen
wurde- Dem Vortragenden ist es gelungen, durch Einsetzen von
Pflanzen in eine Gefrierkiste bei gleichzeitiger Steigerung der Ver¬
dunstung typische Schütteerscheinungen unter Ausschluß von Pilz-
Verhandlungen. 26. Band.
II
Sitzungsberichte.
18 *
infektion zu erzielen. Damit ist erwiesen, daß es neben der viel ge¬
fährlicheren Pilzschütte auch eine Vertrocknungsschütte gibt, die, wie
Ebermayer schon vor 40 Jahren ausführte, dann auftritt, wenn der
Boden gefroren ist, die Nadeln aber durch intensive Besonnung zu
starker Verdunstung angeregt werden. Es entsteht dann ein Mi߬
verhältnis zwischen Wasseraufnahme durch die Wurzeln und Ver¬
dunstung, infolge dessen die Nadeln vertrocknen.
Zum Schluß berichtete Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann
„Über künstliche Edelstein e“. Künstliche Edelsteine
werden hauptsächlich aus reiner, aus Alaun und Ammoniak gewon¬
nenen Tonerde hergestellt. Das feine Pulver wird durch ein auf
elektrischem Wege beständig geschütteltes Sieb in eine Knallgas¬
flamme eingeführt, in welcher die Teilchen schmelzen. Die Flamme
ist gegen einen bleistiftdicken Tonstift gerichtet, an welchen sich die
Tröpfchen ansetzen und zu einem einzigen Kristall vereinigen, der mit
der Zeit immer größer wird. So erhält man farblosen Saphir. Wird
etwas Chromoxyd zugesetzt, so entsteht roter Rubin. Gelber Saphir
wird durch Zusatz von Nickel erhalten, blauer durch Zusatz von Ei¬
senoxyd und Titansäure, blauer Spinell durch Färbung mit Kobalt
und Alexandrit mit Vanadin. Die Methode ist von Verneuil 1891
ersonnen und wird heute vielfach angewendet, bei uns namentlich in
Idar und Bitterfeld. Jeder Apparat liefert pro Tag einen Kristall
im Gewicht von 1—5 Gramm (5—25 Karat), doch lassen sich auch
solche bis 15 Gramm herstellen. Die besten sind von natürlichen
nicht zu unterscheiden und werden zu Schmucksachen verwendet,
die weniger schönen finden ausgedehnte Anwendung in der Uhren¬
industrie und Elektrotechnik. Die Preise sind bedeutend niedriger
als die der natürlichen Steine. Im kleineren kostet das Karat (5
Gramm) etwa 8 Mark.
760. Sitzung am 23. Mai 1913.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 36 Mitglieder.
Herr Privatdozent Dr. K. F a j an s hielt einen Vortrag über:
„DasperiodischeSystemimLichtderradioaktiven
Umwandlungen“, in dem er eine neue von ihm entwickelte
Theorie auseinandersetzte. Den Ausgangspunkt bildet die vor Kur¬
zem gelungene Einreihung der radioaktiven Elemente in das perio¬
dische System. Es zeigte sich dabei, daß, was uns chemisch als ein
Sitzungsberichte.
19*
Element erscheint, in Wirklichkeit ein Gemisch von mehreren Ele¬
menten darstellt, die zwar chemisch nicht zu unterscheiden sind, aber
durch ihre radioaktiven Eigenschaften wie die Strahlung und vor
allem die verschiedene Lebensdauer als verschiedene Individuen cha¬
rakterisiert werden. Da solche chemisch ähnliche Elemente ein ver¬
schiedenes Atomgewicht besitzen, stellt das Atomgewicht des Ge¬
misches einen Mittelwert vor. Es ist nun nicht unwahrscheinlich,
daß dasselbe für alle Elemente gilt, d. h. daß auch sie Gemische von
mehreren chemisch sehr ähnlichen Elementen mit verschiedenem
Atomgewicht sind, so daß die Atomgewichte der gewöhnlichen Ele¬
mente vielleicht nur Mittelwerte darstellen. Auf Grund dieser An¬
nahme lassen sich viele Schwierigkeiten, die die Deutung des perio¬
dischen Systems bis jetzt bot, leicht überwinden.
761. Sitzung am 6. Juni 1913.
Mitglieder-Haupt Versammlung.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 200 Mitglieder.
Der Schriftführer erstattete zuerst den Tätigkeitsbericht über
das abgelaufene Vereinsjahr, danach gab der Rechner den Kassen¬
bericht. Nachdem beiden durch den Vorsitzenden der Dank des
Vereins für ihre Mühewaltung ausgesprochen war, wurde ihnen Ent¬
lastung erteilt.
Herr Kaufmann Beil hielt darauf einen Lichtbildervortrag über:
,,Die Geschichte der Karlsruher Gartenanlagen“.
762. Sitzung am 20. Juni 1913.
Vorsitzende»: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 115 Mitglieder.
Herr Prof. Dr. Hausrath hielt einen Vortrag über: „Draht¬
lose Telegraphie“.
Der Vortragende erläuterte zuerst den physikalischen Vorgang
im elektrischen Schwingungskreis, wobei er besonders auf den we¬
sentlichen Unterschied zwischen dem geschlossenen Schwingungs¬
kreis (Kondensatorkreis) und dem offenen (Hertzschen Oszillator
und Resonator) hinwies. Der erstere ist geeignet, intensive elek¬
trische Schwingungen von schwacher Dämpfung zu erzeugen, ver¬
mag aber nicht elektrische Energie in den Raum auszustrahlen oder
11»
Sitzungsberich te.
20 *
aus ihm aufzunehmen, der letztere ist hierfür besonders geeignet,
kann aber für sich allein nicht in geeigneten Schwingungszustand
versetzt werden. Hieraus ergibt sich der Vorteil des Braunschen
Systems, bei dem ein geschlossener Kreis als Schwingungserzeuger
mit einem offenen, der Antenne, als Strahler verbunden („gekop¬
pelt“) wird, während Marconi im Anschluß an die Hertzschen La¬
boratoriumsversuche beide Vorgänge in der Antenne vereinigte.
Die Kopplung zweier Kreise gibt aber zu Schwebungen Anlaß,
indem die Energie zwischen den gekoppelten Kreisen hin- und her¬
pendelt und sich dabei hauptsächlich im Funken des Kondensator¬
kreises nutzlos verzehrt. Außerdem hat sie zur Folge, daß die An¬
tenne gleichzeitig zwei Wellen von verschiedener Länge aussendet.
Die Länge dieser Wellen ändert sich mit der Stärke der Kopplung
und wegen der scharfen Resonanz, die zwischen der Eigenschwin¬
gung der Empfangskreise und den durch die Wellen in ihnen erreg¬
ten Kräften hergestellt werden muß, um große Empfindlichkeit und
Störungsfreiheit des Empfangssystems zu erzielen, kommt immer
nur eine im Empfänger zur Wirkung.
Dieser Nachteil wird durch Verwendung der sogenannten Lösch¬
funkenstrecken beseitigt, die in dem Moment auslöschen, wo die
Energie zum ersten Mal aus dem Kondensatorkreis in den Antennen¬
kreis hinübergeschwungen ist und den ersteren dadurch abkoppeln.
So wird ein Zurückpendeln der Energie verhindert, die nun in der
Antenne eine einwellige, im wesentlichen nur durch die erwünschte
Wellenaussendung gedämpfte Schwingung erzeugt. Ein weiterer
Vorteil der Löschfunkenstrecken besteht darin, daß die in der Se¬
kunde übergehende Funkenzahl und damit, abgesehen von einer Ver¬
mehrung der Sdhwingungsenergie, die Höhe des Tons, den der Be¬
obachter auf der Empfangsstation vernimmt, von ca. 30 auf ca. 1000
gesteigert werden konnte. Der charakteristische Ton, der so ent¬
steht, ermöglicht eine deutliche Unterscheidung selbst schwacher
Zeichen von den durch atmosphärische Störungen bedingten Geräu¬
schen und eine weitere Selektion der Zeichen der korrespondierenden
Station gegenüber gleichzeitig hörbaren fremden Stationen. Diese
Vorteile werden besonders in dem modernen Vieltonsystem ausge¬
nützt, bei dem viele Töne durch eine Klaviatur erzeugt und so ver¬
abredete musikalische Signale gegeben werden können.
Die Erscheinungen wurden durch Demonstrationen erläutert
und das Wesentliche auch denjenigen, die derart komplizierte elek-
Sitzungsberichte.
2 1*
trische Vorgänge nicht verstehen können, durch mechanische
Schwingungsmodelle wenigstens im Gleichnis vorgeführt. Die Mo¬
delle selbst sind vom Vortragenden konstruiert und bisher noch
nicht veröffentlicht worden.
763. Sitzung am 18. Juli 1913.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 46 Mitglieder.
Herr Geheimerat Dr. E n g 1 e r berichtete über die in der Nähe
des Bahnhofs Krozingen erbohrte Thermalquelle.
Schon im Jahr 1909 war im Elsaß in einer Tiefe von 938 Metern
eine sehr starke, durchschnittlich 66 Grad heiße Springquelle von
nachhaltiger Ergiebigkeit erbohrt worden. Am 26. November 1911
sprang auch aus einem nach dem Vorschläge von Bergrat Thürach bei
Krozingen erstellten Bohrloch bei 561 Meter Tiefe ein gewaltiger
Wasserstrahl hervor. Man war auf eine 1,25 Meter tiefe, wahr¬
scheinlich mit einer großen Verwerfungsspalte kommunizierende
Kluft gestoßen, aus welcher das Wasser durch das Bohrloch mit
solcher Gewalt, Schlamm und Steine mit sich führend, ausgewor¬
fen wurde, daß die Weiterarbeit anfänglich unmöglich war. Als
man später, um Verstopfungen zu beseitigen, weiter bohrte, brach
bei 565 Meter Tiefe der Bohrer und alle Bemühungen, denselben
wieder auszubringen, waren erfolglos. Trotzdem sprudelte die
Quelle seitdem bei einer Temperatur von 40—41 Grad mit ziem¬
lich konstanter Ergiebigkeit von 80 Liter in der Sekunde, nachdem
sie anfänglich allerdings schwankend war und bis über 120 Sekun¬
denliter lieferte, manchmal aber auch ganz nachließ. Ebenso war
anfänglich die Temperatur einige Grad höher. Schon in einem
früheren Bohrstadium war man bei 424 Meter Tiefe auf eine klei¬
nere, 31 Grad warme Quelle gestoßen, deren Wasser nach der Ana¬
lyse von Professor D i 11 r i c h in Heidelberg im Kilogramm 8,7
Gramm Salze enthielt, also mehr als das Doppelte der jetzigen
Springquelle. Die Einzelbestandteile dieser ersten Quelle waren
in der Hauptsache gleicher Art (schwefelsaure, kohlensaure und
Chlorsalze von Kalk, Magnesia, Natron und Kali) w r ie diejenigen,
welche später auch Professor Ru pp in der jetzt noch sprudelnden
Quelle gefunden hat, worüber unlängst berichtet wurde. In dem
Wasser beider Quellen fällt der hohe Gehalt an Gips und an Kali-
Sitzungsberichte.
2 2*
salzen auf; letzteres läßt auf irgend einen Zusammenhang mit dem
neuerdings in dortiger Gegend entdeckten Kalisalzlager schließen.
Sehr merkwürdig verhielt sich das Wasser der Quelle in bezug
auf den Gehalt an Radium-Emanation. Während dasselbe wenige
Tage nach Erschließung der Quelle starke Radioaktivität zeigte, ging
diese schon nach einigen Tagen rasch zurück. Sie betrug nach Mes¬
sungen teils von Professor S i e v e k i n g, teils von Dr. Lauten-
schläger am 3. Dezember 1911 über 8 Mache-Einheiten, am
16 Dez., je nach Entnahme des Wassers, noch 4—5 Mache-Ein¬
heiten, am 19. Dezember nur noch 3 Mache-Einheiten, so daß ein
völliges oder doch fast völliges Verschwinden zu befürchten war. In
der Tat ergab eine Messung am 23. Juni d. J. so viel wie gar keinen
Emanationsgehalt mehr. Man wird bei Neuerbohrungen von Quellen
mit dieser Erscheinung zu rechnen haben, zumal da auch bei der in
Donaueschingen neuerbohrten Solquelle ein ebensolches Schwinden
der Radioaktivität beobachtet worden ist.
Die Befürchtung, daß die Thermalquelle von Badenweiler durch
die aus der Krozinger Quelle ausgeworfenen gewaltigen Wasser¬
massen in ihrer Ergiebigkeit beeinträchtigt werden könnte, hat sich
bei genauen Kontrollbestimmungen der von der Badenweiler Therme
gelieferten Wassermenge als unbegründet erwiesen.
Derselbe Vortragende legte darauf noch einige sogenannte
M a n g a n k n o 11 e n aus dem mittleren Buntsandstein der Um¬
gebung von Baden-Baden vor. Gegenüber einer etwas sensationell
gehaltenen Zeitungsnachricht, wonach es sich hierbei um stark ra¬
dioaktives Material handle, wurde betont, daß sich bis jetzt nur zwei
solche Knollen von der Höhe Urberg-Badener Höhe fanden, die eine
geringe Radioaktivität erkennen lassen. Alle anderen Stücke, die
aus verschiedenen Gegenden des Landes stammten, erwiesen sich als
im gewöhnlichen Sinn nicht aktiv.
Über die geologischen Verhältnisse der Krozinger Quelle machte
Herr Bergrat T h ü r a c h noch interessante Mitteilungen.
Herr Professor M a y besprach in einem Vortrag drei neuere
Arbeiten über Goethe als Naturforscher: Hansen,
„Goethes Metamorphose der Pflanzen“; Kohlbrugge, „Historisch-
kritische Studien über Goethe als Naturforscher“ und Chamberlain,
„Goethe, der Naturforscher“. An die kurze Inhaltsübersicht dieser
Werke knüpfte der Vortragende kritische Betrachtungen über den
Sitzungsberichte.
23*
vielumstrittenen Sinn der Pflanzenmetamorphose bei Goethe, um zu
zeigen, daß die Akten über Goethe als Naturforscher noch lange
nicht geschlossen sind.
764. Sitzung am 24. Oktober 1913.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 87 Mitglieder.
Her Dr. W i 1 s e r, Heidelberg, berichtete zunächst „N e u e s
vom klugen Hund und von den englischen Kno¬
chenfunde n“. Der schon am 28. Februar besprochene Hund in
Mannheim ist seitdem berühmt geworden und wird von Gelehrten
des In- und Auslandes besucht. In Gesellschaft eines italienischen
Psychologen hat ihn auch der Vortragende am 19. September wieder¬
gesehen und seine geistige Entwicklung, seine erstaunlichen Fort¬
schritte bewundert. Das Wundertier — so darf man es nennen — hat
ein vorzügliches Gedächtnis und eine gute Beobachtungsgabe, ver¬
steht die menschliche Sprache, denkt und urteilt selbständig, kann
rechnen und lesen, verfügt über einen umfangreichen Wortschatz,
darunter auch abgeleitete Begriffe, und antwortet nicht bloß auf Fra¬
gen, sondern teilt auch aus eigenem Antrieb seine Gedanken und Ge¬
fühle mit. Zur Bekräftigung dessen wird eine Reihe z. T. amtlich
beglaubigter Protokolle verlesen und erläutert. Bewußte oder unbe¬
wußte Täuschung ist ausgeschlossen; es handelt sich um Tatsachen,
vor denen der Naturforscher sich beugen muß. Gewiß ist eine so
hohe Begabung bei einem Tier ein höcht seltener Ausnahmefall und
kehrt in dieser Weise vielleicht niemals wieder. Daß wir aber im all¬
gemeinen die geistigen Fähigkeiten der höheren Tiere etwas höher
einschätzen müssen als bisher, zeigen z. B. die Elberfelder Pferde
und ein anderer Zögling von Frau M- ein % jähriges Kätzchen, das,
wenn bei guter Laune, auch leichte Rechenaufgaben löst und ein¬
fache Fragen beantwortet. — Wie oft in ähnlichen Fällen, ist auch
um die im vorigen Jahre bei Piltdown in Sussex gefundenen ur-
menschlichen oder besser vormenschlichen Gebeine ein lebhafter Ge¬
lehrtenstreit entbrannt. Im Gegensatz zu der früheren Zusammen¬
setzung und Ergänzung der Bruchstücke haben Ke i t h und Wil¬
liams eine andere angefertigt, bei der die Kieferbildung viel
menschlicher und ein Schädelraum von 1500 statt nur 1000 ccm her¬
auskommt. Neuerdings ist jedoch am gleichen Ort noch ein kleines,
Sitzungsberichte.
24 *
aber wichtiges Knochenstückchen gefunden worden, nämlich ein
Eckzahn, der die ursprüngliche Auffassung von Smith Wood¬
ward zu bestätigen scheint, wie auch eine genauere Vergleichung
und Zusammenstellung mit dem entsprechenden Schimpansenknochen
für eine ungemein tierähnliche, noch unter der des Fundstücks
von Mauer stehende Kiefergestalt spricht. Nach dem Entwicklungs¬
gesetz der Wechselbeziehung kann aber ein solcher Kiefer nur mit
einem kleinen und engen Schädel vereinigt gewesen sein. Somit
ist der vom Vortragenden schon seit Jahren theoretisch vorausge¬
setzte und in den Stammbaum des Menschengeschlechts eingezeich¬
nete „europäische Vormensch (Proanthropus europaeus)“ nun auch
paläontologisch belegt. Der von dem englischen Forscher vorge¬
schlagene Name Eoanthropus besagt dasselbe, stellt aber unnötiger¬
weise eine neue Gattung auf. Noch ein anderer für die menschliche
Vorgeschichte wichtiger Fund ist vor kurzem jenseits des Ärmel¬
meers bei Halling in Kent gemacht worden. Ein ziemlich wohler¬
haltenes und vollständiges Gerippe lag in unberührter Schicht, deren
Alter von den Sachverständigen übereinstimmend auf 15 000 Jahre
geschätzt wird. Dem entspricht auch Schädelbildung und Knochen¬
bau, die ganz neuzeitlich sind und, nach dem Urteil der Engländer,
„einem von unseres Gleichen“ angehört haben müssen, d. h. dem
„Lößmenschen“ (Homo mediterraneus fossilis), dem urgeschicht-
lichen Vorgänger der noch heute in England stark vertretenen Mit¬
telmeerrasse. Dieser, wenn auch vielleicht auf einer tieferen Entwick¬
lungsstufe, gehört auch das Skelett von Ipswich an, das unter dem
Geschiebelehm (boulder clay), einem Erzeugnis der Eiszeit, ruht
und demnach ein viel höheres urgeschichtliches Alter haben muß-
Daß eine verhältnismäßig so hochstehende Menschenart so früh in
unserem Weltteil, und zwar in dessen Norden auftritt, läßt sich nur
durch einen nördlichen Ursprung und eine nordsüdliche Ausbreitung
unserer Gattung erklären. — Seiner schönen, schon früher vorgeleg¬
ten Abhandlung „Zur Kraniologie der schwedischen Steinzeit“ hat
der Lunder Anthropologe Fürst einen wertvollen Nachtrag über
„Trepanierte schwedische Schädel aus älterer
Zeit“ folgen lassen. Die Schädelöffnung oder Trepanation ist die
ältestbekannte Operation, die teils aus Aberglauben, teils wegen Ge¬
hirnkrankheiten oder Schädelverletzungen ausgeführt wurde und
sich in Frankreich und Dänemark bis in die Steinzeit zurückverfol¬
gen läßt. Aus Schweden sind jetzt 8 der älteren Eisenzeit ange-
Sitzungsberichte.
25 *
hörende Fälle bekannt, darunter 3 wegen Schädelverletzung mit 2
Heilungen.
Herr Dr. Schachenmeier trug sodann „U ber den di¬
rekten Nachweis von Atomen und Elektronen“
vor. Die Atomhypothese ist das Fundament unseres physikalischen
Weltbildes. Wenn aber die Physik über die Richtigkeit derselben
wie bei jeder anderen Hypothese Rechenschaft geben soll, durch
Prüfung an der Erfahrung, so stößt sie auf fast unüberwindliche
Schwierigkeiten. Alles, was sie über die Atome, ihre Anzahl, Größe,
ihren Bewegungszustand aussagen kann, ist nur auf Umwegen in¬
direkt erschlossen und es haftet ihm immer etwas Hypothetisches an.
Ein direkter Nachweis der Atome scheint deshalb endgültig
ausgeschlossen zu sein, weil auch in dem kleinsten Stück Materie,
das wir zu isolieren vermögen, ihre Anzahl noch so groß ist, daß wir
niemals zur Beobachtung einzelner Atome gelangen können. Selbst
in 1 ccm eines (einatomigen) Gases sind noch (bei o Grad und 1
Atmosphäre Druck) 27 Trillionen Atome enthalten.
Alle Vorgänge, welche wir an den Körpern unserer Umgebung
beobachten können, sind daher das Resultat zahlloser Einzelwirkun¬
gen seitens der Atome. Wir konstatieren nur statistische Mittel¬
werte. Diese Mittelwerte lassen sich aber größtenteils auch unter
der Annahme erklären, daß die Materie ein Kontinuum sei. Es
gründet sich hierauf eine skeptische Schule, welche den Atombegriff
als unnötig und irreführend gänzlich aus der Wissenschaft eliminie¬
ren wollte.
Trotz dieser Ausichtslosigkeit, die Atomhypothese sicherer zu
begründen, wurde dieselbe mit den neueren Entdeckungen immer
unentbehrlicher. Es sei nur an die Erscheinungen in Crookesschen
Röhren und an die radioaktiven Substanzen erinnert. Das Aller¬
merkwürdigste aber ist, daß gemäß diesen Resultaten auch die Elek¬
trizität atomistisch, nämlich aus Elektronen, den Elementarquanten
der Elektrizität, aufgebaut sein muß.
Aus dem Gesagten geht hervor, welch enorme Bedeutung den
allerneuesten Experimenten beizulegen ist, die tatsächlich viel un¬
mittelbarer, als man je für möglich gehalten hatte, über die Existenz
der Atome und Elektronen sowie über ihr Verhalten Aufschluß
geben.
Eine Methode, Elektronen einzeln zu studieren, beruht auf der
Tatsache, daß ionisierte Luft stets positiv und negativ geladene
26 *
Sitzungsberichte.
Teilchen (Ionen) enthält, welche gerade das elektrische Elementar¬
quantum tragen- Schweben nun in der Luft kleine Tröpfchen z. B.
aus öl, so tritt immer der Fall ein, daß sich ein einzelnes oder nach
und nach mehrere Ionen an dasselbe ansetzen. M i 11 i k a n beob¬
achtet ein derartiges Tröpfchen zwischen den Platten eines Konden¬
sators durch ein Mikroskop, indem er es von der Seite intensiv be¬
leuchtet. Durch abwechselndes Laden und Entladen des Konden¬
sators kann er dasselbe beliebig lange auf- und abwärts verfolgen
und die eingefangenen Ionen kontrollieren. Aus der beobachteten
Geschwindigkeit und der treibenden Kraft des Feldes läßt sich seine
Ladung berechnen. M i 1 1 i k a n fand nun niemals Ladungen, die
kleiner waren als das Elementarquantum, ferner größere Ladungen,
die aber immer nur ein ganzzahliges Vielfaches des Elementarquan¬
tums betrugen. Gegenüber gewissen Zweifeln, die an der Existenz
eines Elementarquantums der Elektrizität laut geworden waren, lie¬
fern M i 11 i k an s Versuche die zuverlässigste Stütze für die Elek¬
tronenhypothese. Der nach dieser Methode bestimmte Wert des Ele¬
mentarquantums beansprucht schon große Genauigkeit; er beträgt
4,77.io: 10 elektrostatische Einheiten in guter Übereinstimmung mit
den auf andere Weise gefundenen Werten.
Die Millikansche Versuchsanordnung stellt zugleich die
feinste Wage dar, die wir kennen. Wird schließlich der Raum zwi¬
schen den beiden Kondensatorplatten mit Salmiaknebel erfüllt, so
wird jedes Nebelteilchen, das ein Ion eingefangen hat, nach einer
der beiden Platten wandern, und man beobachtet die Entstehung
zierlicher Dendriten.
Für materielle Atome sind die Schwierigkeiten des direkten
Nachweises bedeutend größer als bei Elektronen. Nur eine glück¬
liche Entdeckung, nämlich die der radioaktiven Substanzen, gab
uns hierzu brauchbare Hilfsmittel an die Hand. Radioaktive Prä¬
parate senden Strahlen aus, welche man in drei verschiedene Klas¬
sen einordnet, die a-, ß- und y-Strahlen. Die a-Strahlen sind erwie¬
senermaßen Helium-Atome, welche beim Zerfall der Atome der ra¬
dioaktiven Substanz ausgeschleudert werden. /ß-Strahlen sind aus¬
geschleuderte negative Elektronen. Was nun diese Strahlen so ge¬
eignet macht für unseren Zweck des direkten Nachweises materieller
Atome, ist ihre ungeheuere Geschwindigkeit. Das Heliumatom eines
a-Strahles wird mit einer Geschwindigkeit von 20000 km pro
Sekunde ausgeschleudert. Die kinetische Energie eines solchen n-
Sitzungsberichte.
27*
Teilchens ist daher trotz seiner geringen Masse so groß, daß seine
Wirkung einzeln nachgewiesen werden kann. Um diese Tatsache
auszunützen, sind eine Reihe geistreicher Methoden ausgearbeitet
worden.
Rutherford ließ die a-P.irtikel auf einen Sidot-Schirm
aufprallen, welcher bei jedem Teilchen aufleuchtet-
Die meisten anderen Experimentatoren benützen jedoch die Ei¬
genschaft der a-Strahlen, die Luft zu ionisieren, wodurch dieselbe
leitend wird; ein geladenes Elektroskop verliert seine Ladung in der
Nähe eines radioaktiven Präparats. Die Versuchsanordnung kann
nun so empfindlich gemacht werden, daß das Elektroskop jeden Ioni¬
sationsstoß anzeigt, der durch ein vorbeifliegendes «-Teilchen er¬
zeugt wird. Wir erwähnen nur die neuesten Versuche von Gei¬
ger. Bei diesen steht das Elektroskop in Verbindung mit einer
Spitze, welche in den von den a-Teilchen jeweils ionisierten Luftraum
hineinragt. Jedes a-Teilchen löst eine Spitzenentladung aus, bei wel¬
cher ganz beträchtliche, vom Elektroskop bequem registrierbare,
Elektrizitätsmengen übertreten.
Größere Vielseitigkeit als die erwähnten Versuche, welche alle
auf den Zweck, die a-Teilchen zu zählen (Aktivitätsmessung) zuge¬
schnitten sind, zeichnet die Versuche von Wilson aus. Wilson
macht nämlich die Bahn des a-Teilchens selbst sichtbar. Luftionen
haben die Eigenschaft, übersättigten Wasserdampf zu kondensieren,
der sich in kleinen Tröpfchen um die Ionen ansammelt. Läßt man
also die zu untersuchenden Strahlen in eine Kammer eintreten, in
welcher mit Wasserdampf übersättigte Luft sich befindet, so hinter¬
läßt jedes durchgegangene a-Partikel als Spur eine Reihe von feinen
Wassertröpfchen. Intensive seitliche Beleuchtung ermöglicht ihre
photographische Aufnahme. Ein sinnreicher Mechanismus bewirkt
die Kondensation des Wasserdampfes an den Ionen möglichst un¬
mittelbar nach ihrer Entstehung und dann auch sofort Momentanbe¬
leuchtung.
Der Anblick der Wilsonschen Photographien gewährt
einen ungemeinen Reiz. Glaubt man doch unmittelbar in ein Gewirr
von Molekülen und Atome hineinzublicken. Man kann an denselben
die Zahl der vom a-Strahl gebildeten Ionen studieren, es sind 20 bis
30 000 pro Zentimeter, ferner seine Reichweite, die Streuung, den
Rückstoß beim Zerfall der Emanation usw.
28*
Sitzungsberichte.
Wilson macht auch die Bahnen der ausgeschleuderten Elek¬
tronen sichtbar, die sogenannten /J-Strahlen, welche für die vorhin
besprochenen Methoden noch nicht ganz leicht zugänglich sind.
Schließlich gelingt es ihm, auch die ionisierende Wirkung der Rönt¬
genstrahlen photographisch zu registrieren.
Die beschriebenen Experimente sind durchweg so einfach und
erfordern zu ihrem Verständnis so wenig Vorkenntnisse aus ande¬
ren Gebieten der Physik, daß sie geradezu handgreifliche Demon¬
strationen atomistischer Vorgänge vorstellen. Kein Skeptiker kann
bei deren Anblick leugnen, daß wir aus der Welt des unendlich Klei¬
nen unumstößliche Erkenntnisse gewonnen haben.
Zwar lehren sie nichts wesentlich Neues, was nicht schon
aus anderen Arbeiten bekannt gewesen wäre, jedoch besteht be¬
gründete Hoffnung, daß diese direkten Methoden noch wuchtige bis
jetzt ungelöste Probleme aufklären werden.
765. Sitzung am 7. November 1913.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 85 Mitglieder.
Herr Geheimer Hofrat Dr. O. Lehmann hielt einen Ex¬
perimentalvortrag über: „Die Umwandlung elektrischer Energie in
mechanische Arbeit“.
An der Hand zahlreicher experimenteller Demonstrationen, die
sich in Kürze nicht beschreiben lassen, erläuterte der Vortragende
den Übergang elektrischer Energie in Bewegungsenergie durch die
Wirkung elektrostatischer und elektrodynamischer Kräfte. Den
Schluß bildete die Darlegung, wie auch hier das Relativitätsprinzip
ein Hauptsatz der neueren Physik trotz scheinbarer Widersprüche
sich glänzend bewährt, jenes Prinzip, gemäß welchem wir auf keine
Weise den absoluten Bewegungszustand eines Körpers erfahren kön¬
nen. Beispielsweise stoßen sich zwei ruhende gleichartig elektrisch
geladene Körper, z. B. zwei geriebene Siegellackstangen, gegenseitig
ab. Macht man diesen Versuch in einem Eisenbahnwaggon, derart,
daß die Verbindungsebene der beiden Siegellackstangen senkrecht
zur Fahrrichtung ist, so möchte man zufolge des Satzes, daß gleich¬
sinnig bewegte gleichartige Elektrizitäten eine anziehende elektro¬
dynamische Kraft aufeinander ausüben, glauben, daß mit zuneh¬
mender Fahrgeschwindigkeit die ursprüngliche elektrostatische Ab-
Sitzungsberichte.
29*
stoßungskraft, welche man sich als unveränderlich vorzustellen ge¬
wohnt ist (da sie nach dem Coulombschen Gesetze vollkommen durch
die Größe der Ladungen und ihren Abstand bestimmt ist), schlie߬
lich von der elektrodynamischen Anziehung übertroffen werde, so
daß man durch Messung der Kraftwirkung etwa mittelst einer Fe¬
derwage imstande wäre, den absoluten Eetrag der Fahrgeschwin¬
digkeit zu ermitteln. Natürlich steht dieser in keiner Beziehung zu
der relativen Geschwindigkeit etwa zu der Ausgangsstation des Ei¬
senbahnzuges, die wir mit Leichtigkeit messen können, es ist viel¬
mehr zu berücksichtigen, daß sich diese z. B. mit der ganzen Erde
mit der Geschwindigkeit von 30 000 Meter um die Sonne bewegt,
die Sonne selbst wieder samt der Erde mit einer ganz unschätz
baren Geschwindigkeit um einen entfernten Fixstern usw. Tatsäch¬
lich können wir auch auf dem genannten Wege die absolute Ge¬
schwindigkeit nicht erfahren, denn die elektrostatische Kraft bleibt
bei der Bewegung der Körper keineswegs unverändert, sie erleidet
vielmehr stets solche Änderungen, daß die auftretende elektrodyna¬
mische Kraft gerade eben kompensiert wird* Die Abstoßung der
gleichartig elektrischen Siegellackstangen bleibt somit immer genau
dieselbe, wie schnell auch der Eisenbahnzug, in welchem das Experi¬
ment ausgeführt wird, sich bewegen möge. Absolute Geschwindig
keit ist überhaupt ein nicht zu fassender Begriff. Er hätte nur einen
Sinn, wenn es etwas absolut Festes im unendlichen Raume gäbe. Län¬
gere Zeit glaubte man einen den ganzen Raum erfüllenden, absolut
ruhenden Äther, als den Träger der elektrischen und magnetischen
Kräfte, sowie der Lichtstrahlung und verwandter Strahlungen an¬
nehmen zu sollen, sö daß absolute Geschwindigkeit die relative Ge¬
schwindigkeit zu diesem Äther wäre. Das Relativitätsprinzip will
sich aber mit dessen Existenz nicht vereinigen lassen, so daß viele
heute den Raum als absolut leer annehmen, oder Äther nur da, wo
sich Kräfte genannter Art oder Strahlungen zeigen.
Scheinbar widerspricht der Kompensation der elektrodynami¬
schen Kraft durch die Änderung der elektrostatischen die erwähnte
Anziehung gleichgerichteter elektrischer Ströme, die sofern sie in
metallischen Leitern fließen, nichts anderes als Ströme von Elektro¬
nen sind, d. h. der kleinsten nicht weiter teilbaren Partikelchen, aus
welchen die Elektrizität besteht. In Wirklichkeit ist der Wider¬
spruch nur scheinbar, denn in diesem Fall wird die elektrostatische
Kraft der negativen Elektronen stets vollkommen kompensiert durch
Sitzungsberichte.
30*
die gleichgroße entgegengesetzt wirkende Kraft der in gleicher
Menge im Metall vorhandenen positiven Atomreste.
Gleiches gilt für einen elektrolytischen Leiter, in welchem
letztere nicht am Orte bleiben, wo sie sind, sondern in entgegenge¬
setzter Richtung wandern, wie die negativen Teilchen, die sich hier
nicht frei bewegen können, sondern nur verbunden mit Atomen zu
Ionen, wie sich aus Faradavs Gesetz der Proportionalität der Zer¬
setzungsprodukte mit der Stromstärke ergibt.
766. Sitzung am 21. November 1913.
Vorsitzender: Heu Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 180 Mitglieder.
Herr Geh. Hofrat Dr. O. Lehmann hielt einen Experimen¬
talvortrag über „Alte und neue Luftpumpe n“. Während
vor etwa 40 Jahren das Auspumpen der Luft aus einem Behälter
noch eine sehr anstrengende Arbeit mit unvollkommenem Erfolg war,
ist in neuerer Zeit mit Hilfe der von Professor Gaede in Freiburg
im Breisgau erfundenen Luftpumpen das Ziel mit Leichtigkeit und
in vollkommenster Weise zu erreichen. An Hand zahlreicher Ex¬
perimente und Lichtbilder demonstrierte der Vortragende die Ent¬
wicklung der Luftpumpe seit ihrer Erfindung durch den Magdebur¬
ger Bürgermeister Otto v. Guericke, welcher 1654 ihre Wirkung dem
Reichstag in Regensburg vorführte und hierdurch die allgemeine
Aufmerksamkeit darauf lenkte, bis zur neuesten Form, der Diffu¬
sionspumpe von Gaede, die sogar in wissenschaftlichen Kreisen noch
wenig bekannt ist und das non plus ultra darstellt, insofern sie keiner
mechanischen Betriebskraft bedarf, sondern lediglich der Heizung
durch eine Gasflamme, und welche nichtsdestoweniger rasch und in
vollkommenster Weise evakuiert.
In ältester Zeit konnte die Wirkung einer Säugpumpe nicht ver¬
standen werden, da man die Luft für gewichtlos hielt, weil ein auf¬
geblähter luftdichter Sack nicht mehr wiegt als wenn er leer ist.
Erst Torricelli, ein Schüler Galileis, erkannte, daß bei diesem Ex¬
periment vergessen worden war, den Auftrieb in Betracht zu ziehen,
welcher eben das Gewicht der Luft gerade kompensiert. Richtig
schloß er aus der Tatsache, daß Wasser nur auf ca. 10 Meter Höhe
aufgesaugt werden kann, der Druck der Luft müsse einer Wasser-
Sitzungsberichte.
3 «*
säule von dieser Höhe das Gleichgewicht halten- Guericke gelang
es durch Auspumpen eines auf der Wage tarierten Ballons näher
festzustellen, daß i Kubikmeter Luft etwas mehr als i Kilogramm
wiegt. Seine Luftpumpe und ebenso deren erste Verbesserungen
hatten noch eine große Unvollkommenheit, den sog. schädlichen
Raum, aus welchem verdichtete Luft und Feuchtigkeit nicht aus¬
getrieben werden konnten. Bei den Quecksilberluftpumpen, welche
auf Grund von Torricellis Versuchen konstruiert wurden, fehlte die¬
ser, doch waren sie sehr zerbrechlich, auch mußte die Feuchtigkeit
durch Trockenapparate fern gehalten werden.
Schließlich gelang es, die Guerickesche Luftpumpe von dem Ein¬
fluß des schädlichen Raumes zu befreien, indem man diesen mit öl
ausfüllte (Ölluftpumpen) und bei der neuesten Verbesserung
durch Gaede ist dafür gesorgt, daß auch angesammelte Feuchtigkeit
selbsttätig durch das öl entfernt, also ein Trockenapparat entbehr¬
lich gemacht wird.
Das Streben, die unbequeme Hin- und Herbewegung des Kol¬
bens zu vermeiden, führte zur Konstruktion rotierender Luftpum¬
pen, Spiralpumpen, unter welchen wieder Gaedes Quecksilber¬
luftpumpe die vollkommenste darstellt. Sie gleicht etwa einer Gasuhr,
bei welcher das Wasser durch Quecksilber ersetzt ist. Die Trommel
wird gedreht und saugt infolgedessen Luft ein »während sie bei der
Gasuhr durch das eingepreßte Gas gedreht wird.
Ein Ventilator saugt ebenfalls Luft ein, selbst wenn der rotie¬
rende Teil nur eine Scheibe ist, in letzterem Fall, weil die Luft von
der Scheibe durch Reibung mitgerissen wird. Gäbe es keine Mole¬
küle, wäre die Luft ein zusammenhängender Stoff, wie die alte
Lehre von der Luftbewegung annimmt, so müßte immerhin eine
'derartige Schleuderluftpumpe um so besser funktionieren, je rascher
die Scheibe rotiert. In Übereinstimmung mit der Molekulartheorie
ergibt sich aber in Wirklichkeit eine Grenzleistung, die durch Stei¬
gerung der Geschwindigkeit nicht überschritten werden kann und zu
gering für praktische Verwertung ist, selbst wenn mehrere solche
Pumpen hintereinander geschaltet werden, wobei zweckmäßig die
Scheiben in geringem Abstand auf dieselbe Welle gesetzt werden.
Bringt man aber nach Gaede zwischen je zwei solchen Scheiben einen
am Gehäuse befestigten Vorsprung an, welcher die mitgerissene Luft
aufhält und sie zwingt zu einer Öffnung des Gehäuses zu entweichen,
so bildet sich auf der entgegengesetzten Seite des Vorsprunges ein
Sitzungsberichte.
32 *
Vakuum, in welches man durch eine zweite Öffnung im Gehäuse Luft
aus einem evakuierenden Behälter einsaugen lassen kann. Der
alten Theorie zufolge könnte auch auf diese Weise kein absolutes
Vakuum erzielt werden- Die Molekulartheorie ergibt aber, daß, falls
die Geschwindigkeit der Scheiben größer als Molekulargeschwindig¬
keit wird, alle Gasmoleküle mitgerissen und aus der Pumpe heraus¬
geschleudert werden, ja selbst Wasserdampfmoleküle, so daß also
nicht einmal eine Trockenvorrichtung nötig ist, um ein praktisch ab¬
solutes Vakuum, in welchem der Luftdruck auf etwa ein Tausend¬
stel von einem Millionstel seines anfänglichen Wertes reduziert ist,
zu erhalten. Nach diesem Prinzip wirkt Gaedes Molekular¬
luftpumpe. Damit ihre Leistung voll zur Geltung komme, müs¬
sen weite kurze Röhren zur Verbindung mit dem Rezipienten ge¬
wählt werden, da sich die hochverdünnte Luft nur sehr träge be¬
wegt.
Bei Gaedes Diffusionspumpe wird in einem eisernen
Behälter Quecksilber zum Verdampfen gebracht. Derselbe ist mit
einem feinen Schlitz versehen, durch welchen die Quecksilberdampf¬
moleküle nicht herauszudringen vermögen, welcher aber Luftmole¬
külen den Eintritt gestattet- Infolge der molekularen Bewegung
wird also, falls sich an den Schlitz das Verbindungsrohr zu dem zu
entleerenden Behälter anschließt, aus letzterem beständig Luft in
den Quecksilberdampf eindringen und mit diesem durch ein Ansatz¬
rohr entweichen. Dieses Rohr wird aber gekühlt, so daß das Queck¬
silber in Tropfen zurückfällt und die Luft allein wirklich entweicht.
Ein interessantes Nebenresultat der Studien Gaedes ist das, daß
sich die Temperatur der Sternschnuppen aus ihrer Geschwindigkeit
und Höhe berechnen läßt. Von etwa 70 bis 200 Kilometer Höhe
besteht, wie die Meteorologen nachgewiesen haben, die Atmosphäre?
vorherrschend aus Wasserstoffgas, welches in den unteren Schichten
fast völlig fehlt. Ein diese Wasserstoffatmosphäre durchdringender
Würfel von geringer Wärmeleitungsfähigkeit, welcher sich wie
Sternschnuppen mit einer Geschwindigkeit von ca. 60 Kilometer pro
Sekunde bewegt, erwärmt sich auf der Vorderfläche auf Sonnen¬
temperatur (ca. 6900°), auf den Seitenflächen bleibt die Tempera¬
tur dagegen tief unter dem Gefrierpunkt (ca. —50 °) und auf der
Rückfläche ist sie absolut Null, d. h. —273 °. Rotiert der Würfel,
so nimmt er eine mittlere Temperatur von ca 4300 0 an, erhitzt sich
also stärker als die Kohlenspitzen einer Bogenlampe und strahlt
Sitzungsberichte.
33*
dementsprechend sehr helles Licht aus, obschon die hohe Temperatur
wegen der Kürze der Fallzeit nicht in die Tiefe dringen kann, wie
auch daraus folgt, daß Meteoriten nur eine dünne geschmolzene
Rinde aufweisen.
767. Sitzung am 5. Dezember 1913.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 35 Mitglieder.
Herr Professor Rupp hielt einen Vortrag über „Weingärung
und Weinkrankheiten“.
768. Sitzung am ig. Dezember igi3.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 86 Mitglieder.
Herr Professor Dr. Auerbach gab einen durch Lichtbilder
anschaulich gemachten Bericht über seine „Tiefsee-Expedition in den
Atlantischen Ozean mit dem Motorschiff Armauer Hansen“. Der
Vortrag ist unter den Abhandlungen des vorliegenden Bandes ab¬
gedruckt.
769. Sitzung am 6. Februar 1914.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 17 Mitglieder.
Herr Privatdozent Dr. G. Fuchs hielt einen Vortrag „Uber
parasitische und andere Nematoden bei Borkenkäfern und bei Hylo-
bius abietis L., sowie einige andere Parasiten und deren Einwirkung
auf die Biologie dieser Käfer“ mit Lichtbildern.
Vortragender bespricht in kurzer Weise die Ergebnisse seiner
nun 6 Jahre dauernden Arbeiten auf diesem ganz neuen Gebiet.
Nach einer kurzen Darstellung der Lebensweise der Borkenkäfer,
speziell des Ips typographus L., erwähnt er insbesondere deren
Nachfraß, der zu viel Meinungswechsel unter den Forschern gegeben.
Vom Studium dieses ausgehend, erwähnt Vortragender, wie er durch
die Untersuchung lebender Käfer gelegentlich von Zuchtversuchen
zum Studium der Parasiten gelangt sei. Parasitischer Nematoden
gebe es bei Ips typographus L. zwei Arten: Tylenchus contortus ty-
pographi und Tylenchus disper typographi, welche Autor beschrieb,
Verhandlungen. 26. Band.
III
Sitzungsberichte.
34*
sowie deren Larvenentwicklung zur freibleibenden Generation dar¬
legte. Die Untersuchungen gestalteten sich deshalb so schwierig,
weil nebst der ungeheueren Zahl der Nematoden diese in vielfältigen
Formen und Arten Vorkommen- Diese mußten erst genau studiert
werden, bevor die Zusammenhänge festgestellt werden konnten. Ne¬
ben den Parasiten kommen bei genanntem Borkenkäfer noch Nema¬
toden vor, welche Vortragender „Wohnungseinmieter“ nannte, da
sie, ohne Parasiten zu sein, die Wohnung des Käfers beleben und
sich vom nahrungsreichen Mulm ernähren, die zum Zwecke des
Transports durch den Käfer besonders angepaßte Larvenformen ent¬
wickelten, welche teils unter den Flügeldecken eingehüllt in eine
Fetthülle, teils im Enddarm lebten. Solche Wohnungseinmieter
seien Rhabditis obtusa typographi, Diplogaster Bütschlii, Rhabdito-
laimus Hallerie, Tylenchus major und macrogaster. Als Parasiten
fanden sich noch Gregarina typographi, Telosporidium typographi
und Diplochis omnivorus, eine Schlupfwespe.
Die Einwirkung der Parasiten gehe dahin, daß in erster Linie
die Fruchtbarkeit merkbar eingeschränkt werde, dann daß der Tod
bei Jungkäfern oft eintrete und schließlich die Fähigkeit, Geschwi¬
sterbruten anzulegen, unterbunden werde. Das Telosporidium und
die Schlupfwespe führten unbedingt den Tod herbei, die übrigen
Parasiten unter Umständen. Im ganzen dürften ungefähr die
Hälfte aller Käfer den Parasiten zum Opfer fallen.
Im Telosporidium typographi sei ein Parasit gefunden, mit dem
man vielleicht die Käfer durch Infektion vertilgen könne.
Die Untersuchung der Nematoden einer Reihe weiterer Borken¬
käfer veranlaßte den Vortragenden, 6 formulierte Sätze aufzustel¬
len, in welchen deren phyletische Abstammung und ihr Verhältnis
zu den Borkenkäfern dargestellt wird.
Ganz ähnliche Verhältnisse in bezug auf Parasiten finden sich
bei Hylobius abietis L.. Vortragender berichtigt den biologischen
Irrtum Leuckarts in bezug auf die freilebende Generation des Al-
lantonema mirabile und meint, daß nun die Ansicht von einer Rhab-
ditistheorie beseitigt sei. Er führt dann auch hier Wohnungsein¬
mieter und ihre Entwicklung vor: Rhabditolaimus Leuckarti, Diplo¬
gaster Aylobii und lineatus, und beschreibt eine große Gregarine;
faßt schließlich die Ergebnisse in einigen Punkten zusammen, teils
rein zoologischer Natur, teils von forstzoologischem, also angewandt
zoologischem Interesse.
Sitzungsberichte.
770. Sitzung am 20. Februar 1914.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 93 Mitglieder.
Herr Professor Paul Mayer hielt einen Vortrag über „Kreisel¬
wirkungen: Kreiselkompaß und Einschienenbahn“. Der Kreiselkompaß
ist eine Konstruktion von Anschütz-Kaempfe in Kiel, die den Magnet¬
kompaß, welcher durch die großen Eisenmassen auf Kriegsschiffen
immer weniger brauchbar wird, als Richtungsweiser ersetzen soll.
Seit 1911 ist die Konstruktion soweit vollendet, daß sich in Praxis
keine Anstände mehr ergeben haben- Die Vorteile des Kreiselkom¬
passes sind so groß, daß er jetzt trotz der sehr viel höheren Kosten
auch in Handelsschiffe eingebaut wird. — Im Gegensatz zu dieser
abgeschlossenen Konstruktion ist der 1909 von Scherl und Brennan
vorgeschlagene Einschienenwagen noch nicht über das Modellsta¬
dium hinausgekommen. Einer Weiterbildung scheinen keine prin¬
zipiellen Bedenken entgegen zu stehen; ein praktisches Bedürfnis
nach dem Wagen existiert zurzeit jedoch nicht.
Beide Konstruktionen beruhen auf der Eigenschaft des Krei¬
sels, daß ein dauerndes Kippen seiner Achse nur dann eintreten
kann, wenn ein sowohl zur Rotationsachse als zur Kippung senk¬
rechtes äußeres Drehmoment vorhanden ist. Dieses Kreiselgesetz
wurde aus den Trägheitseigenschaften der Masse abgeleitet, und der
Ansatz, der die Berechnung der auftretenden Bewegungen erlaubt,
gegeben.
Von beiden Konstruktionen wurden Modelle gezeigt. Der
Kreiselkompaß besteht im wesentlichen aus einem elektrisch ange¬
triebenen Kreisel, dessen Achse durch die Schwere eine horizontale
Lage aufgezwungen wird. Ein solches System muß sich infolge der
Erddrehung von selbst in die Süd-Nordrichtung einstellen; um¬
gekehrt ist die Tatsache, daß der Kreiselkompaß funktioniert, ein ex¬
perimenteller Beweis der Rotation der Erde. Eine ältere Kreisel¬
kompaßkonstruktion von Anschütz hat bei Fahrten, die nicht in einer
der vier Hauptrichtungen der Windrose verliefen, Mißweisungen,
ergeben. Es hat langer Versuche bedurft, bis der Grund dieser Ab¬
weichungen klargestellt war; er ist in periodischen Erschütterungen
des Schiffes zu suchen, die sich nur dann, wenn der Kreisel nicht in
symmetrischer Lage zu der Erschütterungsebene steht, geltend zu
machen vermögen. Durch Einbau von drei Kreiseln, die in Abhän¬
gigkeit von einander stehen, in einen Kompaß ist jetzt dieser Fehler
behoben.
jii*
36*
Sitzungsberichte.
Bei der Demonstration der Einschienenbahn wurde erwähnt, daß
die Konstruktion nach der Berechnung nur dann stabil ist, wenn der
Koeffizient, der die Reibung des Rahmens der Kreiselaufhängung
mißt, negativ ist. Dies ist technisch durch einen Hilfsmotor zu er¬
reichen, der in dem Moment, in welchem die Reibung einsetzen
würde, eingeschaltet wird und den Kreiselrahmen beschleunigt. Dem
Kreisel fallen demnach zwei Aufgaben zu: einmal muß er durch
seine rotierende Masse den Widerstand abgeben, an dem sich der aus
dem Gleichgewicht gekommene Wagen wieder aufrichten kann, zum
andern hat er im richtigen Moment den Hilfsmotor einzuschalten;
eine Tätigkeit, die etwa der eines Steuermanns zu vergleichen ist.
Wichtig ist ferner, daß eine Stabilität bei der Scherl- und Bren-
nanschen Anordnung nur möglich ist, wenn der Wagen auf der
Schiene ein bestimmtes Maß Reibung hat. Diese Bedingung wird
sich bei einer Ausführung im Großen wohl von selbst erfüllen, bei
dem vorliegenden kleinen Modell haben sich infolge der wechselnden
Reibung gelegentlich Störungen ergeben.
771. Sitzung am 6. Marz 1914.
Vorsitzender: Herr Geh. Hof rat Dr. Lehmann.
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturwissenschaftlichen Ver¬
eins und der Hertzschen Entdeckungen bei Anwesenheit Ihrer Kö¬
niglichen Hoheiten des Großherzogs und der Großherzogin und eines
großen Kreises geladener Gäste in der Aula der Technischen Hoch¬
schule.
Der Vorsitzende, Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann hielt da¬
bei den Festvortrag, dessen Inhalt in Kürze der folgende war. 1
Die Gründung des Naturwissenschaftlichen Vereins, dessen
„Verhandlungen“ 25 Bände füllen mit Berichten über rund 750
Sitzungen und sehr zahlreichen Abhandlungen über die Ergebnisse
heimischer Forschungstätigkeit, ist zurückzu führen auf einen
Wunsch des höchstseligen Großherzogs Friedrich, es möge den ge¬
bildeten Kreisen von Karlsruhe fortlaufend von den für die Entwick¬
lung der Technik und damit für die Hebung der Kultur so außer¬
ordentlich wichtigen Fortschritten auf dem Gebiete der Naturwissen¬
schaften in gemeinverständlicher Weise Kenntnis gegeben werden.
Unter Leitung von Eisenlohr, Grashof, Wiener, Eng-
1 Der Vortrag ist vor den Abhandlungen, S. III, abgedruckt.
Sitzungsberichte.
37*
1 e r und dem gegenwärtigen Vorsitzenden in Verbindung mit der
opferwilligen Tätigkeit der Sekretäre, unter welchen besonders
M e i d i n g e r hervorzuheben ist, der 30 Jahre lang dieses Amt be¬
kleidete, hat der Naturwissenschaftliche Verein sein Ziel zu erreichen
versucht und durch Tauschverkehr mit mehr als 100 andern natur¬
wissenschaftlichen Vereinen der ganzen Welt seinen Mitgliedern Ge¬
legenheit geboten, auch über die wissenschaftliche Tätigkeit an an¬
dern Orten leichtverständliche Berichte zu erhalten. Da sich in kur¬
zen Worten ein Gesamtbild der Leistungen des Vereins nicht geben
läßt, greift der Vortragende den Bericht heraus, den gerade vor
25 Jahren der damalige Physiker der Technischen Hochschule Hein¬
rich Hertz über seine kurz zuvor gemachten Entdeckungen
dem Verein gegeben hat, Entdeckungen, die nicht nur auf dem Ge¬
biet der Elektrizitätslehre und Optik eine völlige Umwälzung her¬
vorbrachten, sondern zu einer Menge neuer wichtiger Entdeckungen,
zu welchen im Grunde auch die der Röntgenstrahlen und Radium¬
strahlen zu rechnen sind, führten und namentlich zur Erfindung der
heute von so großer Wichtigkeit gewordenen drahtlosen Tele¬
graphie.
Die Anregung zu seinen Untersuchungen hatte Hertz durch H.
v. Helmholtz erhalten, dessen Schüler und späterer Assistent
er gewesen war. Schon in seiner berühmten Schrift „Die Er¬
haltung der Energie“ hatte sich Helmholtz dahin ausgesprochen, daß
bei elektrischer Entladung, d. h. beim Ausgleich von Überschuß und
Mangel an Elektrizität ganz ähnlich wie beim Uberströmen von Was¬
ser aus einem vollen in ein leeres Gefäß sich Schwingungen ausbil¬
den, daß die Elektrizität zunächst zwischen den beiden Leitern
hin- und herpendle. Das erwies sich auch als richtig, dagegen
war fraglich, ob das beobachtete Hinausschießen der Elektrizität
über das Ziel wie beim Wasser eine Folge von Trägheit war oder,
wie die Faradav-Maxwellsche Theorie behauptete, eine Folge von
fortgesetzer Umwandlung von elektrischer in magnetische Energie
und umgekehrt. Während die alte Theorie überall da, wo sich elek¬
trische und magnetische Kräfte oder Energien zeigten, Elektrizität
oder Magnetismus als Ursache dieser Kräfte annahm, sollten der
neuen Theorie zufolge solche Kräfte und Energien losgelöst von
elektrischen und magnetischen Körpern existieren und ganz unab¬
hängig von diesen mit der gleichmäßigen Geschwindigkeit von 300
Millionen Metern im leeren Raume fortschreiten können. Direkte
38*
Sitzungsberichte.
Fernwirkung eines elektrischen oder magnetischen Körpers, wie sie
die alte Theorie als selbstverständlich voraussetzte, gab es nach der
neuen Theorie überhaupt nicht; eine Wirkung auf einen entfernten
Körper war auch ihr nur möglich, wenn dieser von sich ausbreiten¬
den oder fortwandernden „Kraftfäden“, die sich an ihn anhefteten,
getroffen wurde, da diese substanzlosen Kraftfäden das Bestreben
haben sollten, sich der Länge nach zusammenzuziehen und der
Quere nach auszudehnen. All dies erschien wenig glaubhaft und
Hertz setzte sich nun zunächst das Ziel, zu ermitteln, ob wirklich elek¬
trische und magnetische Kräfte sich mit der genannten Geschwin¬
digkeit im Raume ausbreiten. Das Problem mußte sich lösen lassen,
wenn es gelang, hinreichend rasche elektrische Schwingungen zu er¬
zeugen, denn dann mußten im Raume fortschreitende Wellen elek¬
trischer Kraft oder Strahlen elektrischer Energie auftreten, ganz
ebenso wie, wenn die Oberfläche eines ruhigen Teiches an einer
Stelle in Schwingungen versetzt wird, von da aus ein System ringför¬
miger Wellen sich längs der Wasseroberfläche ausbreitet. Da die
Länge einer Welle während der Dauer einer Schwingung zurück¬
gelegt wird, ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Quotient von
Wellenlänge und Schwingungsdauer. Es gelang Hertz in der Tat, ge¬
nügend rasche elektrische Schwingungen zu erzielen und mit Exakt¬
heit zu beweisen, daß es wirklich Strahlen elektrischer und mag¬
netischer Kraft oder Energie gibt, die sich mit der genannten Ge¬
schwindigkeit im leeren Raume wie Lichtstrahlen, [deren Geschwin¬
digkeit dieselbe ist], ausbreiten; daß diese elektromagnetischen Strah¬
len sich in jeder Hinsicht wie das Licht verhalten und sich von dem¬
selben nur dadurch unterscheiden, daß sie etwa eine Million mal
größere Wellenlänge haben. Treffen die Strahlen auf geeignete Lei¬
ter, so erregen sie darin Ströme, die zur telegraphischen Zeichen¬
gebung verwendet werden können. Bekanntlich hat zuerst Marconi
praktische Apparate konstruiert, die dies ermöglichen und heute kön¬
nen Telegramme ohne Draht direkt über den ganzen Ozean gesandt
werden. Die hierzu benutzten elektromagnetischen Wellen sind bis
ioooo mal so groß als die Hertzschen Wellen, zu ihrer Erregung
gehören mächtige Maschinen von Hunderten von Pferdestärken.
Diese großen Energiemengen können unsichtbar den leeren Raum
durchdringen, es sind in sich zurücklaufende elektrische und mag¬
netische Kraftfäden, die kein Ende besitzen, welches an einen elek¬
trischen beziehungsweise magnetischen Körper angeheftet w'äre. Die
Sitzungsberichte.
39*
Faraday-Maxwellsche Theorie der elektromagnetischen Vorgänge
sowie des Lichtes hat also durch die Hertzschen Versuche eine glän¬
zende Bestätigung gefunden. Wie man sich aber im Raume frei
fortschreitende Kräfte vorstellen soll, macht noch heute viel Kopfzer¬
brechen, denn wir verstehen eine Kraftwirkung nur dann, wenn wir
ein Wesen kennen, welches die Kraft ausübt. Gewöhnlich wird ein
jeden Raum erfüllender Äther als Träger der Kraft betrachtet, doch
begegnet auch diese Annahme großen Schwierigkeiten.
772. Sitzung am 1. Mai 1914.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 150 Mitglieder.
Herr Professor Dr. P a u 1 c k e hielt einen Vortrag mit zahl¬
reichen Lichtbildern über seine „W anderungen in Nord¬
amerika, insbesonders im Yellowstone“.
773. Sitzung am 15. Mai 1914.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 45 Mitglieder.
Herr Professor Dr. Sieveking hielt einen Vortrag über:
,,D ie wissenschaftlichen Grundlagen des Flug¬
wesen s“.
774. Sitzung am 12. Juni 1914.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann.
Die Herren L e m b k e und Privatdozent Dr. F a j a n s hielten
Vorträge über „Experimentelles und Theoretisches
überdieverschiedenen Atomgewichte des radio¬
aktiv gewonnenen und des gewöhnlichen Blei s“.
775. Sitzung am ig. Juni 1914.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 79 Mitglieder.
Herr Obergeometer Dr. Bürgin hielt einen Vortrag über
„Stereophotogrammetrie und ihre Anwendung
bei topographischen Aufnahme n“.
Sitzungsberichte.
40*
776. Sitzung am 3. Juli 1914.
Mitglieder-Hauptversammlung.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 30 Mitglieder.
Der Schriftführer gab zunächst den üblichen Tätigkeitsbericht,
der Rechner sodann den Kassenbericht; nachdem der Vorsitzende
beiden den Dank des Vereins ausgesprochen hatte, wurde ihnen von
der Versammlung Entlastung erteilt.
Der Vorsitzende machte dann die Mitteilung, daß einem
Wunsch des Schriftführers entsprechend, der bisher auch die Ge¬
schäfte des Bibliothekars und des Schriftleiters der Vereinsveröf¬
fentlichung besorgt und der um Entlastung gebeten hatte, durch eine
Vorstandssitzung eine Änderung in der Besetzung der Ämter be¬
schlossen worden sei- Die Geschäfte der Schriftleitung der Ver¬
handlungen habe Herr Professor Dr. Paulcke übernommen und die
Büchersammlung werde von jetzt ab mit Genehmigung des Großh.
Kultusministeriums und des Senates der Technischen Hochschule von
der Bibliothek der Technischen Hochschule verwaltet.
Herr Professor Dr. Schwarzmann hielt sodann einen Vor¬
trag über: „Goldwäschen im Rhei n“.
Der Vortragende hatte im Jahr 1910 auf Anregung des Herrn
Geheimerats Dr. Engler die sämtlichen durch Anfrage bei den Bür¬
germeisterämtern in Erfahrung gebrachten Goldwäscher im Gro߬
herzogtum Baden besucht, um zu einer Zeit, da die Goldwäscher tm
südlichen Teil von Baden schon hoch betagt waren, die in den ein¬
zelnen Gegenden geübten Verfahren festzustellen und in den Ver¬
handlungen des Vereins niederzulegen. Später gab sich ihm eben¬
falls durch Anregung des Herrn Geheimerats Engler sowie durch
Vermittlung der Rheinbauinspektion Mannheim Gelegenheit, das
Goldwäschen in der Ausführung in Philippsburg zu sehen und in
photographischen Aufnahmen das Verfahren festzulegen.
Der durch die Tätigkeit der Hochwasser besonders vor der
Ausführung der Regulierung abgelagerte goldführende Sand gab
sich dem Wäscher durch seine schwarze Farbe (verursacht durch
Magnet- und Titaneisenkörnchen) zu erkennen. Die Waschwürdig¬
keit wurde sodann durch eine Vorprobe auf der hölzernen rauhen
Schaufel festgestellt. Durch eine kreisende Bewegung der Schaufel¬
fläche in ihrer Ebene im Wasserspiegel lassen sich die leichteren
Teilchen wegspülen, und die schwereren, insbesondere die kleinen
Sitzungsberichte.
41 *
blechförmigen, scharfkantigen und deshalb leicht hängen bleibenden
Goldflitterchen werden für das Auge sichtbar.
Der Goldwäscher läßt nun drei Schaufeln Goldsand durch ein
Sieb (Gitter), das den Kies zurückhält auf ein geneigtes tuchüber¬
zogenes Brett, die Waschbank fallen. Durch aufgegossenes Wasser
wird der Sand weiter das Brett hinab gespült. Die tonigen und
quarzigen Teile verlassen am unteren Ende das Brett, die schwereren
Teile und die Goldplättchen bleiben auf dem Tuch liegen. Ist das
Tuch nach ständiger Wiederholung des Aufschüttens und Weiter-
schwemmens mit dem Goldsand reichlich beladen, so werden die Tü¬
cher in einen Kübel ausgeschwenkt, der den Sand aufnimmt. Das
leere Tuch kommt dann wieder auf die Waschbank zur erneuten
Sandaufnahme. Der schließlich im Kübel durch Ausschwenken noch¬
mals von tonigen und leichten Teilchen gereinigte Goldsand wird
dann in die Wohnung des Wäschers verbracht, wo die zweite Opera¬
tion vorgenommen wird: das Ausziehen des Goldes aus dem Sand
mit Hilfe von Quecksilber.
Das Quecksilber hat die Eigentümlichkeit mit Gold feste Le¬
gierungen „Goldamalgame“ zu bilden. Der Wäscher reibt den durch
Wasser dickbreiig gemachten Goldsand mit Quecksilber zusammen
in so gründlicher Weise, daß das Quecksilber überall im Sand fein
verteilt mit dem Gold zusammentrifft und sich mit diesem zu Gold¬
amalgam vereinigt. Nach Zusatz von mehr Wasser zu dem Sand
wird dieser leichter bewegbar und bei weiterem Reiben, Umschwen¬
ken der Schüssel und Eintauchen derselben in einen Kübel mit Was¬
ser gelingt es dem Goldwäscher, das Quecksilber, in welchem das
Goldamalgam verteilt ist, zu größer 'werdenden Kügelchen und
schließlich zu einer einzigen Flüssigkeit zu vereinigen-
Im südlichen Teil von Baden wird diese Amalgamation in einem
über anderthalb Meter langen Holzschiffchen vorgenommen, wie
überhaupt die Ausführung der Einzelheiten in verschiedenen Gegen¬
den abweicht.
Das schließlich wieder vereinigte Quecksilber wird durch ein
leinenes Tuch gepreßt, wobei das feste Goldamalgam, das vorher im
andern Quecksilber suspendiert war, als eine einheitliche Masse zu¬
rückbleibt. Das Amalgam von Philippsburg erhielt nach der Be¬
stimmung des Vortragenden etwa 30 % Gold, was sehr nahe einer
bestimmten chemischen Formel (AuHg.) entspricht. Durch Erhit-
Sitzungsberichte.
42*
zung entweicht das Quecksilber aus dem Amalgam und das Gold
bleibt zurück.
Der Vortragende sprach weiter über die Herkunft und die Be¬
gleitmineralien des Goldes, welche außer den genannten Erzen Edel¬
mineralien wie Granat, Zirkon u. a. sind und unter dem Mikroskop
z. T. ihre Kristallform vorzüglich zeigen, da ihre Härte eine Abrun¬
dung verhindert hat. Eine im Laboratorium ausgeführte Trennung
des Goldsandes nach dem Eigengewicht bewies, wie vorzüglich der
Goldwäscher die leichteren Teile aus dem Sand entfernt hatte.
777. Sitzung am 25. November 1914.
Gemeinsam mit dem Karlsruher Bezirksverein Deutscher Ingenieure.
Vorsitzender: Herr Geh. Hof rat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 200 Mitglieder.
Herr Geh. Hofrat Dr. O. Lehmann hielt einen Vortrag:
Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer.
Der Vortragende führte etwa folgendes aus: 1 Das Problem,
mit welchem sich Robert Mayer befaßt hat, und dessen glückliche
Lösung ihm gelungen ist durch Auffindung des Gesetzes der Er¬
haltung der Energie und der zahlenmäßigen Beziehung zwischen
Wärmeaufwand und Arbeitsleistung (z. B. bei Wärmekraftmaschi¬
nen), ist im Grunde so alt wie die Physik selbst. Ausgehend von
der stets gleichmäßigen Bewegung der Sterne gelangte schon Aristo¬
teles zu einem „Gesetz von der Erhaltung der kreisenden Bewegung“,
welches dann von Galilei durch sein Trägheitsgesetz, das „Gesetz
von der Erhaltung der geradlinigen Bewegung“ ersetzt wurde. Nur
eine Kraft, die gemessen wird durch das Produkt der Masse des
Körpers mit der Beschleunigung — wir nennen sie die „Galileische
Kraft“, kann die Bewegung stören.
Eine bewegte Kanonenkugel hat vermöge ihres Bewegungszu¬
standes auch eine Kraft, mit der sie Hindernisse überwinden kann,
Leibniz nannte sie „lebendige Kraft“; sie wird aber gemessen durch
das halbe Produkt von Masse mit dem Quadrat der Geschwindigkeit.
Diese Leibnizsche Kraft ist also etwas anderes als die Galileische
Kraft. Man kann das Gesetz der Trägheit auch das „Gesetz der Er¬
haltung der Leibnizschen Kraft“ nennen. Bei einer senkrecht empor¬
geschossenen Kugel, die schließlich in bestimmter Höhe zur Ruhe
kommt, ist die lebendige Kraft scheinbar tot geworden. Tn Wirk-
1 Der Vortrag ist unter den Abhandlungen abgedruckt, S. 83.
Sitzungsberichte.
43*
lichkeit hat sie sich nur gewissermaßen versteckt, denn sie kommt
wieder in vollem Betrage zum Vorschein, wenn die Kugel herunter¬
fällt. Die gehobene Kugel besitzt, wie Joh. Bernoulli im Jahre 1742
sich ausdrückte, Arbeitsfähigkeit. Durch Rädenverke wie bei
Uhren kann die Arbeitsfähigkeit, die gemessen wird durch Kraft
mal Zeithöhe auf andere Körper unverändert übertragen werden.
Es gibt also auch ein „Gesetz der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit“.
Bei einem schwingenden Pendel gehen Arbeitsfähigkeit und leben¬
dige Kraft immerfort wechselweise in einander über, es gilt ein
„Gesetz der Erhaltung der Summe von lebendiger Kraft und Ar¬
beitsfähigkeit oder der Energie“, welches Wort zuerst von Thomas
Young 1807 gebraucht wurde.
Die vielfachen vergeblichen Bemühungen, eine Maschine, die
Energie aus Nichts erzeugt, ein perpetuum mobile herzustellen, lie¬
ßen erkennen, daß das Gesetz streng gültig ist und doch schien es
Ausnahmen zu erleiden. Durch Stoß oder Reibung kann die leben¬
dige Kraft einer Kanonenkugel beispielsweise scheinbar vernichtet
werden. Der bayerische Kriegsminister Graf Rumford war der
erste, der im Jahre 1798 erkannte, daß sie auch in diesem Fall tat¬
sächlich nicht vernichtet ist; daß sie nur in anderer Form erscheint,
nämlich als Wärme. Auch die Wärme ist also eine Art Arbeits¬
fähigkeit, wie Rumford weiter dadurch beweisen konnte, daß eine
scharf geladene Kanone sich weniger erhitzt als eine blind geladene,
weil nämlich ein Teil der Verbrennungswärme des Pulvers in leben¬
dige Kraft der Kanonenkugel übergeht. Demgemäß war das „Gesetz
der Erhaltung der Kraft“ zu erweitern, man mußte auch die Wärme
als Kraft im Leibnizschen Sinne betrachten.
Bei einer Elektrisiermaschine entsteht nun aber durch Reibung
neben Wärme auch Elektrizität. Der Gedanke, auch diese sei eine
Kraft, ja auch Magnetismus, chemische Affinität usw-. seien Kräfte,
die ohne Änderung ihrer Quantität in einander übergehen können, so
daß das Gesetz der Erhaltung der Kraft eine ganz universelle Bedeu¬
tung habe und keine Ausnahme erleide, wurde zuerst 1837 von Fr.
Mohr, Professor der Pharmazie in Bonn, ausgesprochen. Die Be¬
griffe waren ihm aber nicht klar, er verwechselte Galileische und
Leibnizsche Kraft und so war seine Hypothese leicht zu widerlegen.
Um wirklich von einem allgemeingültigen Gesetz der Erhaltung
der Kraft, von einer Einheit aller Naturkräfte sprechen zu können,
mußte zunächst das gemeinsame Maß dieser Kräfte gefunden und
Sitzungsberichte.
44*
nachgewiesen werden, daß die Umwandlung in bestimmtem unab¬
änderlichem Zahlenverhältnis stattfindet, gleichgültig, welches die
Art des Vorganges ist.
Diesen Schritt nun hat zuerst Robert Mayer, Sohn eines Phar¬
mazeuten in Heilbronn, im Jahre 1841 getan. Als Schiffsarzt hatte
er Gelegenheit, Vorgänge kennen zu lernen, die nur durch eine Ver¬
wandlung von Wärme in lebendige Kraft und umgekehrt zu deuten
waren. In die Heimat zurückgekehrt, wo er sich als Arzt niederließ,
versuchte er in einer Abhandlung, die er an die Redaktionen der An¬
nalen der Physik sandte, seine Ideen zu allgemeiner Kenntnis zu
bringen. Die Arbeit wurde aber nicht aufgenommen, er erhielt nicht
einmal eine Antwort! Ursache war vielleicht, daß er damals auch
noch nicht klar zwischen Galileischer und Leibnizscher Kraft unter¬
schied; dann aber wohl namentlich der Umstand, daß einige Jahre
zuvor Arbeiten von Carnot und Clapeyron erschienen waren, in
welchen in exakter Weise bewiesen schien, daß die Wärme etwas un¬
veränderliches, ein Stoff ist und Arbeit aus Wärme nur in der Weise
gewonnen werden könne, daß sie von höherer Temperatur auf nie¬
drige herabsinkt, ganz wie bei einem Wasserrad nur Arbeit gewon¬
nen wird, wenn ein Wassergefälle zur Verfügung steht. Auch hier
ist es nicht das Wasser, welches sich in Arbeit umsetzt, denn dessen
Menge bleibt unverändert.
Wohl gelang es Robert Mayer, seine Entdeckung des richtigen
Gesetzes der Erhaltung der Kraft in einem kleinen Aufsatz in Lie-
bigs Annalen der Chemie darzulegen und 1845 in zwei größeren
Schriften, für die er aber keinen Verleger fand, so daß er sie auf
eigene Kosten drucken lassen mußte.
Die Physiker nahmen aber keine Notiz davon und selbst
Helmholtz, der 1847 den Gedanken weiterführte und ihn namentlich
auch auf elektrischem Gebiete in präzise Form brachte, erwähnt
weder in seiner Schrift noch als Berichterstatter der Zeitschrift
Fortschritte der Physik irgend etwas von Rob. Mayer, weil er, wie
er später angibt, nichts von dessen Arbeiten wußte. Der Umstand,
daß nun in rascher Folge verschiedene Arbeiten erschienen, in wel¬
chen ohne Rücksicht auf Mayers Priorität derselbe Gegenstand be¬
handelt wurde, daß sogar auf seine Reklamation ihm selbst jedes
Verdienst abgesprochen und nicht einmal eine Erwiderung gestattet
wurde, erzeugte bei ihm eine starke seelische Depression und nervöse
Erkrankung, infolge deren er einmal aus dem Fenster sprang und
Sitzungsberichte.
45*
sich eine schwere Verletzung zuzog. Einige Zeit wurde er deshalb
ins Irrenhaus gebracht. Schließlich wurde aber doch, auch von
Helmholtz und andern hervorragenden Physikern, sein Verdienst
anerkannt* Helmholtz sagte, es sei Tatsache, daß er unabhängig
und selbständig den Gedanken gefunden habe, der den größten neue¬
ren Fortschritt der Naturwissenschaft bedingte- Auf den heutigen
Tag war ein großer Festakt zur Jahrhundertfeier der Entdeckung
des Gesetzes der Erhaltung der Energie durch Robert Mayer an der
technischen Hochschule seines Heimatlandes in Verbindung mit dem
Verein deutscher Ingeneure geplant, bei welcher ganz besonders
darauf hingewiesen werden sollte, welche außerordentliche Förde¬
rung der Technik durch diese Entdeckung zuteil geworden ist. Die
Festschrift von Professor Dr. Weyrauch (betitelt: Robert Mayer, zur
Jahrhundertfeier seiner Geburt, Stuttgart bei K. Wittwer), welche
außerordentlich reiches Material enthält, auch eine lange Liste der
Ehrungen für Robert Mayer vor und nach seinem im Jahre 1878 er¬
folgten Tode, ist bereits erschienen; die Feier selbst, zu welcher zahl¬
reiche Einladungen an Auswärtige ergangen waren, konnte leider
des Krieges wegen nicht stattfinden. Das Denkmal, das sich Mayer
selbst durch seine jetzt allgemein anerkannte Entdeckung gesetzt
hat, machte aber besondere Ehrungen eigentlich entbehrlich.
778. Sitzung am 11. Dezember 1914.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 21 Mitglieder.
Herr Dr. Wilser berichtete zunächst „U ber die neuesten
Fossilmenschenfunde in Deutschland“. Zwei für
die Vorgeschichte der Menschheit wichtige Entdeckungen fallen ins
verflossene Jahr. Die durch die Zähne und Schädelstückchen von
Taubach, einer als Fundstätte fossiler Gebeine bekannter Ortschaft
bei Weimar, erweckten Hoffnungen haben sich erfüllt. In der näch¬
sten Umgebung, bei Ehringsdorf, wurde am 8. Mai in einem Stein¬
bruch, 12 Meter unter der Oberfläche ein Unterkiefer freigelegt,
dessen ganze Gestalt, insbesondere das fehlende Kinn und die Enge
des Kieferbogens, dem Sachverständigen auf den ersten Blick die
Zugehörigkeit zu einer tiefstehenden Menschenart bezeugte. Zur
weiteren Behandlung wurde das wertvolle Fundstück den bewähr¬
ten Händen des Straßburger Anthropologen Schwalb anvertraut,
der darüber im Anatomischen Anzeiger (XLVII 13) einen Vor-
Sitzungsberichte.
46 *
bericht erstattet hat. Mit vollem Recht schreibt dieser Gelehrte, man
dürfe den Knochen „wohl als Weimarer Unterkiefer“, nicht aber als
Teil eines Homo Weimariensis bezeichnen, da er zwar einige Ei¬
gentümlichkeiten aufweist, die sich „aber alle auf denselben Grund¬
typus (der der Urmenschen, H. primigenius) zurückführen lassen“.
Dazu gehört z. B- der Vorsprung des oberen, die Zahnhöhlen enthal¬
tenden Randes, eine sog. „alveolare Prognathie“. Von solchen Un¬
terkiefern kennen wir jetzt über ein Dutzend, und sie lehren, daß die
spärlichen und zerstreuten Horden des Urmenschen auf dem Weg
zu höherer Entwicklung bald in dem einen, bald in dem anderen
Merkmal vorausgeeilt waren. Wollten wir bloß die Enge des Bogens
berücksichtigen, so müßten wir dem Ehringsdorfer Kiefer die
„tiefste Stelle innerhalb der Spezies H. primigenius“ anweisen, eine
entschieden noch tiefere als dem Mauerkiefer. In anderer Hinsicht,
so z. B. in der Rückbildung der Weisheitszähne, steht er wieder
etwas höher. Sein Alter ist auf etwa 400 000 Jahre zu veranschla¬
gen; trotzdem war sein Träger, wie mitgefundene Feuerstein¬
geräte und Kohlenspuren beweisen, nicht aller Gesittung bar. Un¬
ter der gleichalterigen Tierwelt findet sich noch das gegen Ende
der Eiszeit bei uns ausgestorbene haarlose Nashorn (Rhinoceros
Merckii). — Wesentlich, vielleicht um 200 Jahrtausende, jünger sind
die am 18. Februar bei Oberkassel, auf dem rechten Rheinufer in
der Nähe von Bonn, gefundene Gebeine, zwei fast vollständige Ske¬
lette, und zwar verschiedenen Geschlechts, die der Vortragende am
23. Juni in einer Versammlung der Bonner Anthropologischen Ge¬
sellschaft selbst zu besichtigen Gelegenheit hatte. In dieser stark be¬
suchten Sitzung besprachen die dortigen Gelehrten Steinmann,
V e r w o r n und B o n n e t ausführlich den Fund von seiner zoolo¬
gischen, archäologischen und anatomischen Seite (Sitzungsbericht
in den „Naturwissenschaften“ II 27). Er gehört in die Renntierzeit,
als der Mensch schon kunstreiche Geräte aller Art aus Bein und
Horn zu schnitzen verstand. Zwei solcher Gegenstände, ein Pferde¬
kopf und eine zierliche Nadel, waren den Bestatteten beigegeben.
Diese sind von mittlerem und zierlichem Wuchs (155—160 cm),
wenn auch die männlichen Gebeine auf große Leibeskraft schließen
lassen. Die Schädel zeigen einen ausgesprochenen Langbau
(Ind. 70 und 74) und gut entwickelte Kinnvorsprünge, so daß die
Arten primigenius und brachicephalus ausgeschlossen sind. Am
zweckmäßigsten teilen wir daher den Fund den urgeschichtlichen
Sitzungsberichte.
47*
Vorfahren der heutigen Mittelmeervölker zu (H. mediterraneus fos-
silis), ebenso wie die lange nicht so vollständigen und wohl erhalte¬
nen Gebeine aus dem Höhlenfels bei Nürnberg. Die nach dem
männlichen Schädel ziemlich stark entwickelten Stirnwülste sind
wohl nur ein Zeichen großer Muskelkraft und brauchen nicht als Be¬
weis einer Kreuzung mit H. primigenius gedeutet zu werden. —
Schließlich erzählte der Vortragende noch einiges von dem klugen
Hund von Mannheim, den er nun seit zwei Jahren beobachtet
und vor kurzem wiedergesehen hat. Obwohl wegen schwerer Er¬
krankung seiner Herrin von einem regelrechten Unterricht keine
Rede mehr sein konnte, haben sich seine erstaunlichen Fähigkeiten
noch weiter entwickelt. Seine nun io Monate alten Jungen lassen
durchweg eine sehr gute Begabung erkennen und leisten zum Teil
schon Bemerkenswertes. Wenn die Dame, wie sie hofft, den Unter¬
richt wieder aufnehmen kann, werden einige von ihnen vielleicht den
Vater erreichen und dadurch den Beweis liefern, daß auch im Tier¬
reich die geistigen Eigenschaften sich wie die leiblichen vererben.
Herr Professor Dr. Teichmüller berichtete sodann über
einen neuen Leitungsdraht, der nach einem erst wenige Tage alten
Beschlüsse des Verbandes Deutscher Elektrotechniker für elektrische
Hausinstallationsleitungen hergestellt werden soll. Anlaß dazu hat
der Krieg gegeben, insofern die Elektrotechnik mit der Verwendung
der zur Herstellung von Kriegsmaterial brauchbaren Stoffe, Kupfer
und Gummi, sparsam umgehen will. Der neue Leitungsdraht besteht
aus Eisen mit stark getränkter Papierisolation, über die ein Eisen¬
mantel gefalzt ist; es ist also ein Rohrdraht, wie er, aus andern Stof¬
fen hergestellt, schon seit mehreren Jahren verwendet wird. Das
Eisen hat zwar einen fast acht mal so großen spezifischen Wider¬
stand als das Kupfer, die Querschnitte brauchen aber bei w'eitem
nicht acht mal so groß zu sein, weil die meisten Leitungen in unsern
Hausinstallationen mit Rücksicht auf mechanische Festigkeit min¬
destens i qmm stark genommen werden, während sie in einer Stärke
von Bruchteilen eines qmm den elektrotechnischen Ansprüchen, die
man an sie stellt, im allgemeinen weitaus genügen würden. Die Rech¬
nung hat z. B. ergeben, daß in einem dreistöckigen Mietshaus mit
drei Vierzimmerwohnungen für alle Leitungen in den Stockwerken
Eisendrähte von 1,5 qmm genügen, wenn für die Steigleitungen 4
und 6 qmm starke Leitungen verwendet werden. — Auch die Frei¬
leitungen sollen nach Möglichkeit in Eisen ausgeführt werden.
48*
Sitzungsberichte.
Herr Prof. Dr. Schultheiß macht zum Schluß einige Mitteilun¬
gen über die Hörbarkeit des Kanonendonners.
779. Sitzung am 22 . Januar 1915.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 36 Mitglieder.
Herr Professor Dr- P. Askenasy sprach über das Thema:
„A llgemeines zur Stickstofffrag e“- Der Vortragende
wies auf die große Bedeutung der Frage für unsere Ernährung hin.
Die Weltproduktion der stickstoffhaltigen Düngemittel stieg von 2,8
Millionen Tonnen im Jahre 1880 auf 4,5 Millionen 1913. Von
letzteren kamen als Chilesalpeter aus Chile 2,5 Millionen. Deutsch¬
land allein verbrauchte 19x3 0,8 Millionen Tonnen Salpeter. Da die
natürlichen Vorräte an Salpeter nicht unerschöpflich sind, da man
auch mit dem Guano und Algendünger, sowie mit den mit der at¬
mosphärischen Feuchtigkeit zur Erde wandernden assimilierbaren
Stickstoffmengen, die Arrhenius für die ganze Erdoberfläche auf 400
Millionen Tonnen jährlich berechnet, ferner auch mit den Stickstoff
bindenden Knöllchenbakterien der Leguminosen dem Boden nicht
genügend Stickstoffdünger zuführen kann, müssen wir uns auf eine
steigende Produktion an künstlichen Stickstoffdüngern ein¬
richten. Als solche kommen in Betracht:
1. Salpetersäure aus Luft. Sie ist nur mit Hilfe
billigster Wasserkräfte gewinnbar. Europa produziert zurzeit
130000 Tonnen Kalksalpeter auf diesem Wege. Die Produktion
wird voraussichtlich bald auf 600 000 Tonnen steigen.
2. Ammoniumsulfat. Es entstammt heute noch grö߬
tenteils den Kokereien und den Gasanstalten. Die Weltproduktion
betrug 1913 1,2 Millionen Tonnen, in Deutschland allein 0,5 Milio¬
nen. Da sie in den Kokereien nicht dem steigenden Bedarf entspre¬
chend ausdehnungsfähig ist, muß die chemische Synthese ein-
greifen. Auf diesem Gebiet hat unbestreitbar den größten Erfolg
das Verfahren der Vereinigung von Stickstoff und Wasserstoff auf
Basis der Erfindung von Professor F. Haber. Dieses jüngste Ver¬
fahren wird trotzdem schon in allergrößtem Maßstab ausgeführt.
Von welcher großer Bedeutung es auch gerade jetzt ist, wird erst
nach Beendigung des Krieges allgemeiner bekannt werden. — Die
Bedeutung des ebenfalls in Deutschland aus Kalziumkarbid erzeug
baren Kalkstickstoffes, der sich als Dünger bestens be-
Sitzungsberichte.
49*
währt hat, tritt in diesem Augenblick gegen das Haber- Verfah¬
ren etwas zurück, wennschon auch von Kalkstickstoff bereits über
iooooo Tonnen jährlich erzeugt werden. — Die wissenschaftliche
Bearbeitung aller dieser Methoden, auch die der Gewinnung von
Ammoniak aus Aluminiumnitrid, auf deren Zusammen¬
hang mit der Aluminiumindustrie der Vortragende hinwies, ist
größtenteils von den Chemikern der Karlsruher Hochschule ausge¬
führt worden. — An den Vortrag schloß sich eine lebhafte Dis¬
kussion.
Herr Geh. OberforstratSiefert schließt sich den Dankes¬
worten des Vorsitzenden an den Vortragenden an. Es ist die Stick¬
stoffrage für die Ernährung und Wehrhaftigkeit unseres Volkes
(Herstellung von Sprengstoffen) von größter Wichtigkeit. Nach
Meldungen der landwirtschaftlichen Presse ist die Errichtung von
drei Fabriken nach der Haberschen Erfindung in Angriff genom¬
men. Es wäre von Interesse zu hören, wo diese Gründungen statt¬
finden und ob sie durch den Staat oder die Privatindustrie erfolgen.
Bei dem Wegfall des unter den künstlichen Stickstoffdüngern an
erster Stelle benützten Chilesalpeters ist es dringend nötig, daß
nicht nur neue Stickstoffquellen erschlossen werden, sondern daß die
Preise für diese Düngemittel, die an sich schon sehr hoch sind
(i kg. Stickstoff kostet etwa 1,20 M.), nicht in die Höhe getrieben
werden, zumal eben neben der Stickstoffzufuhr nach dem Minimum¬
gesetz auch noch andere Düngemittel dem Boden gegeben werden
müssen, um gute Ernten zu erzielen. Leider verbietet in der Regel
der hohe Stickstoffpreis die Anwendung dieses Düngemittels auf den
Wiesen zur Steigerung der so nötigen Futtererträge. In der ge¬
genwärtigen, an sich teueren Zeit ist nach mancherlei Anzeichen zu
befürchten, daß besonders die kleineren Landwirte, die in Baden
weitaus vorwiegen, mit der Anschaffung von Düngemitteln zurück¬
halten, was gerade jetzt, wo die Erzielung größtmöglicher Ernten
durchaus nötig ist, im höchsten Grade bedenklich wäre.
780. Sitzung am ig. Februar 1915.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 43 Mitglieder.
Herr T h i e m e hielt einen Vortrag über Funkentelegra-
Vcrhandlungen. 26. Rand.
IV
5°'
Sitzungsberichte.
781. Sitzung am 5. März 1915.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 200 Mitglieder.
Herr Geh. Hofrat Dr- Lehmann hielt „Zum 70. G e b u r t s-
t a g von W. C. von Röntgen“ einen Vortrag, dessen Inhalt in
Kürze der folgende war: 1
Kaum bekannt geworden, hat die Entdeckung der Röntgenstrah¬
len sofort das lebhafteste Interesse der ganzen gebildeten Welt er¬
regt, nicht nur wegen der wunderbaren Eigenschaften dieser Strahlen,
sondern hauptsächlich wegen der Aussicht außerordentlich nützlicher
Verwertung derselben auf ärztlichem Gebiete. Was man erwartete, ist
eingetroffen und gerade im jetzigen Kriege leisten die Röntgenauf¬
nahmen der Chirurgie die allergrößten Dienste. Wir sind stolz da¬
rauf, daß ein Deutscher der Welt eine so hervorragende Entdek-
kung geschenkt hat, daß diese Entdeckung hervorgegangen ist aus
den Forschungen deutscher Physiker (Hittorf, Hertz, Lenard), und
daß ihre praktische Verwertung hauptsächlich durch deutschen Fleiß
zur höchsten Vollendung gebracht wurde.
An der Hand zahlreicher Experimente, Lichtbilder, Wand¬
tafeln und ausgestellter Röntgenaufnahmen zeigte der Vortragende,
wie die theoretischen und experimentellen Forschungen über die
Vorgänge bei elektrischen Entladungen in verdünnten Gasen, ins¬
besondere über die Natur der Kathodenstrahlen, zunächst zur Auf¬
findung der Lenardstrahlen geführt haben. Er erörterte die ver¬
schiedenen Schwierigkeiten, die sich der Herstellung für den prak¬
tischen Gebrauch geeigneter Apparate zur Erzeugung der Röntgen-
strahlen entgegenstdlten und wie diese Schwierigkeiten der Reihe
nach überwunden wurden. Auch die neuesten Formen von Röntgen¬
röhren, die Coolidge- und Zehnder-Röhre, wurden besprochen und
gezeigt, wie es wieder rein wissenschaftliche Untersuchungen (über
das Freiwerden von Elektronen aus weißglühendem Wolfram und
über die Beseitigung der letzten Gasreste aus Elektroden und Röh¬
ren waren, die zu diesen wesentlichen technischen Fortschritten ge¬
führt haben, welche allerdings noch nicht in die Röntgenpraxis Ein¬
gang gefunden haben, da die neueren Röhren im Handel noch nicht
zu haben sind.
Noch wunderbarer als die medizinische Röntgentechnik und in
ihren Folgen unabsehbar ist die durch M. v. Laues Entdeckung der
1 Der Vortrag ist abgedruckt unter den Verhandlungen, S. 105 .
Sitzungsberichte.
5 •*
Interferenz von Röntgenstrahlen beim Durchgang durch Kristalle
in allerneuester Zeit ermöglichte Erforschung der Molekularstruktur
der Kristalle mit Hilfe der Röntgenstrahlen. Diese Entdeckung lie¬
fert zugleich den Beweis, daß die Röntgenstrahlen im Grunde nichts
anderes sind als ultraviolette Lichtstrahlen, deren Wellenlänge aber
außerordentlich viel kleiner ist, als die der kürzesten bis jetzt be¬
kannten Wellen. Die Lenardstrahlen, welche Ströme negativer Elek¬
trizität sind und demgemäß von einem Magneten abgelenkt werden,
sind dagegen, trotz ähnlicher Eigenschaften, keine Lichtstrahlen.
Es gibt verschiedenartige Röntgenstrahlen, so wie es verschie¬
denartige Lichtstrahlen gibt, nämlich langwellige oder weiche
Röntgenstrahlen, die nur geringes Durchdringungsvermögen haben,
und kurzwellige oder harte Strahlen, die selbst sehr dicke Körper
durchdringen können, ohne merklich absorbiert zu werden. Die ge¬
wöhnlich gebrauchten Röntgenstrahlen sind ein Gemisch verschieden
harter Strahlen, ähnlich wie das gewöhnliche weiße Licht ein Gemisch
verschiedenfarbiger Lichtstrahlen (d- h. von Strahlen verschiedener
Wellenlänge) ist. Die Wellenlänge mittelharter Röntgenstrahlen ist
rund ioooo mal kleiner als die der äußersten ultravioletten Strahlen.
Sie entstehen ähnlich wie die Lichtstrahlen durch Wiedervereinigung
von Elektronen mit dem Atomrest, von welchem die Elektronen
beim Durchgang von Kathodenstrahlen oder von anderen Röntgen¬
strahlen (d. h. beim Durchgang starker elektrischer und magne¬
tischer Felder) abgetrennt wurden. Die Wiedervereinigung erfolgt
unter pendelnden Schwingungen, deren Zahl pro Sekunde im ge¬
nannten Fall etwa 30 Trillionen beträgt. Dabei werden elektrische und
magnetische Felder, deren Dicke nur etwa 2 / 10 von der Dicke
eines Atoms beträgt, in den Raum hinausgesandt, welche pro Se¬
kunde wie die des Lichtes eine Strecke von 300 Milionen Meter zu¬
rücklegen. Die Wellenlänge dieser Röntgenstrahlen, d. h. die Dicke
dieser elektrischen und magnetischen Felder (ein positives und ein
negatives zusammengerechnet) ist umgekehrt proportional der Span¬
nungsdifferenz der Elektroden der Röntgenröhre, die selbst wieder
abhängt von der Güte des Vakuums in der Röhre und mit dieser
wächst. Je größer die Spannungsdifferenz der Elektroden, um so
größer ist nämlich die Geschwindigkeit der Kathodenstrahlen, durch
welche die Röntgenstrahlen erzeugt werden, um so heftiger also der
Zusammenstoß, der in den Kathodenstrahlen fortbewegten Elektro¬
nen mit den Molekülen. Ist die Geschwindigkeit kleiner als 2 Mil-
iv*
Sitzungsberichte.
5 2 *
lionen Meter pro Sekunde, so ist der Anprall zu schwach, um
Elektronen aus den Molekülen auszutreiben, so daß auch keine Rönt¬
genstrahlen entstehen. Die Spannungsdifferenz, welche der genann¬
ten Geschwindigkeit entspricht, beträgt nur n Volt. Mit zuneh¬
mender Spannungsdifferenz entstehen zunächst sehr weiche Röntgen¬
strahlen, die nicht einmal imstande sind, die Glaswand der Röhre
zu durchdringen. Für ärztliche Durchleuchtungen werden Span¬
nungen von 50 000 bis 200 000 Volt gebraucht. Bei dem überaus
raschen Wechsel der Richtung der elektrischen und magnetischen
Kräfte der Röntgenstrahlen, d. h. bei der außerordentlich großen
Schwingungszahl derselben, können die Elektronen der getroffenen
Atome im allgemeinen nicht in Mitschwingung versetzt werden.
Die Röntgenstrahlen werden deshalb nicht reflektiert und gebrochen
wie gewöhnliche Lichtstrahlen, wohl aber treten Beugungserschei¬
nungen auf, ganz wie bei Lichtstrahlen, die durch ein aus sehr
feinen Spalten bestehendes Gitter (Beugungsgitter) hindurchgehen.
Wie im genannten Falle sieht man auf dem auffangenden Schirme
den hellen Streifen, welchen das auf treffende Strahlenbündel erzeugt,
umgeben von anderen hellen Streifen, aus deren Abstand die Wellen¬
länge genau berechnet werden kann* Geeignete Gitter, deren Spal¬
ten der geringen Wellenlänge der Röntgenstrahlen entsprechend nicht
viel größer sein dürfen, als die Atomdurchmesser, finden sich bei
Kristallplatten, da in solchen die Moleküle zu regelmäßigen Raum¬
gittern geordnet sind. Man kann eine solche Platte auffassen als
ein System hintereinander aufgestellter Paare von gekreuzten Git¬
tern, wobei sich natürlich entsprechend kompliziertere Interferenz¬
erscheinungen ergeben, als bei einfachen Beugungsgittern* Man sieht
ein System von hellen Flecken auf dem Schirm, welche solche Lage
haben, als ob die Röntgenstrahlen von den Molekülschichten reflek¬
tiert würden, zwischen welche ihre Wellenlänge gewissermaßen hin¬
einpaßt, wie es bei Reflexion des Lichtes bei den Lippmannschen Far¬
benphotographien der Fall ist. Kennt man also die Wellenlänge der
Röntgenstrahlen, so kann man umgekehrt aus dem Interferenzbild
einen Schluß ziehen auf die Beschaffenheit des Raumgitters, d. h.
auf die Art der Anordnung der Moleküle. Beispielsweise findet
man beim Diamant eine Anordnung, wie sie nach den bisherigen
Ergebnissen der Chemie hinsichtlich der Art der Gruppierung der
Atome (nach Wertigkeiten) zu erwarten war, die aber unter den
bisherigen Raumgittersystemen der Kristallographie fehlte. Da eine
Sitzungsberichte.
53*
Gruppe von Atomen ein Molekül bildet, kann man im Prinzip auch
Aufschluß erhalten über die innere Konstitution eines Moleküls,
und über die Abstände der darin enthaltenen Atome, eines der wich¬
tigsten Probleme der Wissenschaft. So wie der Maschinenbauer
naturgemäß die Leistungen einer Maschine nur dann genau voraus¬
berechnen kann, wenn er deren Zusammensetzung genau kennt, so ist
(zur Vorausberechnung der Naturerscheinungen genaue Kenntnis
der verborgenen Zusammensetzung der Materie erforderlich. Selbst
bei Lebewesen spielt diese eine große Rolle und Übergänge zwischen
der einfachen Molekularanordnung der festen Kristalle und der sehr
komplizierten bei Lebewesen sind in den flüssigen Kristallen ge¬
geben. Auch diese sind bereits nicht ohne Erfolg mit Röntgenstrah¬
len untersucht worden, doch müßte, um weitere Fortschritte zu er¬
zielen, weil die Objekte, ähnlich wie Bakterien, organische Zellen
usw. sehr klein sind, erst noch eine Art Röntgenstrahlen-Mikroskop
erfunden werden, was wohl durch die neueren Verbesserungen von
Röntgenröhren möglich werden wird.
782. Sitzung am 12. Mai 1915.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 150 Mitglieder.
Herr Ingenieur D i n e s s e n hielt einen Lichtbildervortrag
über: Unsere Flotte (Großkampfschiffe, Torpedo- und Unter¬
seeboote.
783. Sitzung am 17. Dezember 1915.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 15 Mitglieder.
Der Vorsitzende Herr Geh. Hofrat Dr- O. Lehmann ge¬
dachte zunächst des Ablebens zweier langjähriger Mitglieder des
Vereins, des Wirklichen Geheimen Oberpostrats Joh. Friedr.
Hess und des AJt-Stadtrats Adolf Meess, die beide der Tä¬
tigkeit des Vereins stets reges Interesse entgegenbrachten und von
welchen besonders der letztere mehrfach seine Arbeitskraft und sein
tiefgehendes Wissen auf dem Gebiete der Schmetterlingskunde in
den Dienst des Vereins gestellt hat. Sodann berichtete er über die
neuesten Forschungsergebnisse bezüglich der
Struktur kristallinischer Flüssigkeiten Man
Sitzungsberichte.
54*
kann drei Arien solcher unterscheiden. Die zähflüssigen
Kristalle haben dieselbe Struktur wie die festen. Die Moleküle
sind zu regelmäßigen Raumgittern zusammengelagert, wie durch das
Verfahren von v. Laue durch Röntgenstrahlen nachgewiesen werden
kann. Beim Fließen wird das Raumgitter gestört, was aber keine Än¬
derung der Eigenschaften bedingt, wie sie nach der althergebrachten
Theorie der Aggregatzustände der Polymorphie und der Amorphie
eintreten müßte. Diese Theorie ist somit unrichtig. Die Ände¬
rung des Raumgitters erfolgt so, daß sich die Moleküle in die Stel¬
lung geringsten Widerstands gegen den ausgeübten Zwang zu be¬
geben suchen, ähnlich wie die Lenkrollen an einer Rollkarre beim
Verschieben derselben sich so einstellen, daß ihre Achse senkrecht
zur Richtung der Verschiebung wird, wobei sich letztere mit gering¬
ster Kraft vollzieht. Die zweite Klasse ist die der schleimig-
flüssigen Kristalle. Deren Moleküle ordnen sich immer in
geradlinige Reihen, aufeinandergeschichteten Tellern ver¬
gleichbar. Im Normalzustand sind diese Molekülreihen parallel-
Er stellt einen Übergang zur Raumgitterstruktur der festen und
zähflüssigen Kristalle dar, unterscheidet sich aber von dieser da¬
durch, daß die Moleküle um die Achse der Reihen beliebig gegen
einander verdreht sein können (Halbisotropie). Beim Fließen ver¬
drehen sich die Molekülreihen gegeneinander ohne ihre grad-
linigeGestaltzu verlieren. Sie gehen dabei stets von Punkten
einer Unstetigkeitslinie aus und endigen an Punkte einer zweiten.
Gewöhnlich sind diese Unstetigkeitslinien Basisrand und Achse eines
Doppelkegels, doch können es auch z. B. zwei zu einander senkrechte
sich nicht schneidende gerade Linien sein oder Ellipsen, die wie
Kettenglieder mit einander verschränkt sind usw- Außerdem verkür¬
zen oder verlängern sich die Molekulreihen beim Fließen immer so,
daß die Anzahl der Moleküle in der Raumeinheit, d. h. die Dichte
der Substanz, dieselbe bleibt. Ganz wie im Fall einer Säule aufein¬
ander geschichteter Teller sind die beiden Enden einer Molekül¬
reihe ungleichwertig, so daß man den Molekülen geradezu teller-
oder schalenförmige Gestalt zuschreiben muß. Kommen zwei ho¬
mogene schleimig-flüssige Kristalle in übereinstimmender Stellung,
d. h. so daß die konkaven Enden der Molekülreihen nach derselben
Seite gerichtet sind, in Berührung, so fließen sie — ebenso wie zwei
Wassertropfen in Berührung kommend, sich zu einem Tropfen ver¬
einigen —, zu einem Kristallindividuum von normaler Struktur zu-
Sitzungsberichte.
55*
sammen. Ist aber ihre Stellung entgegengesetzt, so bleiben die Mo¬
lekülreihen nicht parallel, es entstehen Strukturstörungen, der ge¬
nannten Art, die sich durch ihre eigentümliche Lichtbrechung ver¬
raten. In einer größeren Masse schleimig-kristallinischer Flüssig¬
keit wird durch die zahlreichen Strukturstörungen eine Trübung
bedingt, wie wenn die Substanz durch eingebrachten feinen Staub
verunreinigt wäre. Wird eine solche Masse zum Fließen gebracht,
so kann die Zahl der Strukturstörungen und damit die Trübung
sowohl zunehmen wie abnehmen, denn wie bei den zähflüssigen Kri¬
stallen macht sich ein Bestreben der Moleküle geltend, die Stellung
geringsten Widerstandes anzunehmen. Auch die molekularen Kräfte,
welche von den Gefäßwandungen ausgehen, kommen zur Geltung
und ganz besonders merkwürdige Gebilde und Strukturen entstehen,
wenn fremde Stoffe von der kristallinischen Flüssigkeit aufgelöst
werden. Das Grundgesetz bleibt aber immer bestehen; sowohl im
Ruhezustand wie während des Strömens, selbst wenn dieses ein
wirbelartiges ist, bleiben die Molekülreihen stets geradlinig, sie än¬
dern nur ihre Richtung und ihre Länge. Dieses Gesetz gilt nicht
für die tropfbar -flüssigen Kristalle, welche freischwe¬
bend die Form kugeliger Tropfen annehmen und wie solche zusam¬
menfließen. Die Erscheinungen sind hier so verwickelt, daß sie sich
nicht mit kurzen Worten beschreiben lassen. Der Vortrag wurde
begleitet von Vorführung zahlreicher meist farbiger Lichtbilder.
784. Sitzung am 20. Januar 1916.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend 25 Mitglieder.
Herr Lehrer S c h n e b e 1 hielt einen Vortrag über: „D ie An¬
wendung von Detektoren und Verstärkungsröh¬
ren in der drahtlosen Telegraphi e“.
785. Sitzung am 11. Februar igi6.
Mitglieder-Hauptversammlung.
Vorsitzender: Herr Geh. Hofrat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 150 Mitglieder.
Herr Oberbaurat R e h b o c k sprach über die Hochwasserkata¬
strophe in Holland am 13./14. Januar 1916. Der Redner wies ein¬
leitend auf die geschichtliche Entwicklung der Niederlande hin,
5 6 *
Sitzungsberichte.
deren Gestalt zum Teil von seinen Bewohnern im Kampf mit dem
Wasser festgelegt worden ist, indem große Gebiete dem
Meere durch Eindeichung abgewonnen wurden- Heute ist das ganze
Landgebiet, soweit es nicht durch Dünen geschützt ist, durch Deiche
gegen die Angriffe des Meeres gesichert. Hinter diesen Deichen
liegen ausgedehnte Landflächen in einer Größe von etwa 7700 Qua¬
dratkilometer, d. h. von der halben Größe des Großherzogtums Ba¬
den, unter der mittleren Höhe des Meeresspiegels. Diese mit dem
Namen „Polderland“ bezeichneten Bodenflächen werden durch dau¬
erndes Auspumpen des Niederschlagwassers mit Pumpwerken trok-
ken gehalten. Sie finden in sehr ausgedehntem Maß für eine sehr
gewinnbringende Viehzucht Verwendung als Grasland. Die Sicher¬
heit des Polderlandes beruht auf der Festigkeit der Deiche, die meist
durch Deichgenossenschaften unterhalten werden. In früheren Jahr¬
hunderten waren Deichbrüche an der Tagesordnung. Sie führten
vielfach zur Überschwemmung ausgedehnter Landflächen, nament¬
lich in den bis 4 Meter unter dem Meeresspiegel liegenden Gebieten
um die Zuidersee herum. Zum letztenmal hat eine große Sturmflut
am 4-/5. Februar 1825 sehr umfangreiche Gebiete der Provinzen
Nordholland, Friesland und Oberysel unter Wasser gesetzt. Seit
jener Zeit aber galten die Poldergebiete der Niederlande als sicher.
Eine gewaltige, durch einen schweren Nordweststurm hervor¬
gerufene Sturmflut hat in der Nacht vom 13- zum 14. Januar d. J.
das Wasser der Zuidersee bis zu einer vorher noch nie erreichten
Höhe ansteigen lassen und eine Hochwasserkatastrophe veranlaßt,
wie sie die jetzt lebende Generation noch nicht gesehen hat. Um die
ganze Zuidersee herum haben die Deiche schwer gelitten, an zahl¬
reichen Stellen sind sie gebrochen, so daß sich die Fluten des Meeres
weithin über die tiefliegenden Landgebiete ergießen konnten. Die
schwersten Überschwemmungen sind in der Provinz Nordholland
nördlich des Amsterdamer Seekanals eingetreten, wo im äußersten
Norden beim Helder 3000 Hektar des Anna-Paulowna-Polders unter
Wasser liefen, vor allem aber weiter südlich, wo gegenüber der auch
selbst überfluteten Insel Marken die Zuidersee-Deiche an vielen Stel¬
len durchbrochen wurden. Hier gerieten sehr ausgedehnte Gebiete
von zusammen 13000 Hektar, sowie die Städte Edam, Purmerend,
Zaandam und eine große Anzahl kleinerer Ortschaften unter Was¬
ser. Ein ganz ungeheuerer Schaden wurde dabei angerichtet, weil
die salzigen Fluten das überschwemmte Gebiet vielleicht auf Jahre
Sitzungsberichte.
c
5 /
hinaus der vollen Nutzung entziehen werden. Zahlreiche Häuser
wurden zerstört und große Mengen Vieh kamen ums Leben. Die
Gesamthöhe des Schaden läßt sich heute noch nicht übersehen, wird
aber auf Hunderte von Millionen Gulden geschätzt.
Der Redner besprach sodann eingehend die Mittel, die von hol¬
ländischen Ingenieuren zur möglichst schnellen Trockenlegung des
Überschwemmungsgebietes vorgeschlagen wurden. Durch Eingrei¬
fen des Militärs ist es zunächst gelungen, die das noch nicht über¬
flutete Gebiet schützenden Zwischendeiche in aller Eile aufzuhöhen
und dadurch eine weitere Ausdehnung der Überschwemmung zu ver¬
hindern. Zur weiteren Sicherung der gefährdeten Gebiete wurde
unter Mitverwendung des vorhandenen Eisenbahndeiches ein neuer
Schutzdeich von Zaandam bis Edam ausgeführt. Die Wiederher¬
stellung der Seedeiche selbst dürfte aber noch wenigstens zwei Mo¬
nate in Anspruch nehmen. Erst dann kann mit dem Auspumpen
des Überflutungswassers begonnen werden. Hierzu können auch die
starken Pumpwerke bei Amsterdam und unter Umständen sogar die
50 Kilometer vom Uberflutungsgebiet entfernten Pumpwerke bei
Gouda und Katwyk Verwendung finden.
Um eine Wiederholung einer solchen Hochwasserkatastrophe
sicher zu verhindern, werde zurzeit in Holland die Verwirklichung
des Projektes zur Trockenlegung der Zuidersee ernstlich in Erwä¬
gung gezogen. Es ist zu erwarten, daß das eingetretene schwere
Unglück die schon seit über 20 Jahren verfolgten Arbeiten zur Er¬
reichung dieses Zieles fördern wird. Der Redner ging dann noch
auf die Einzelheiten des im Jahre 1891 vom jetzigen Wasserbaumi¬
nister Dr. Lely aufgestellten Entwurfs der „Zuidersee-Vereinigung“
näher ein, nach dem die Zuidersee durch einen über die Insel Wierin¬
gen führenden Seedeich von der Nordsee abgetrennt und in einen
Süßwassersee verwandelt werden soll. Im Laufe der Zeit sollen von
der Fläche dieses Sees allmählich 194000 Hektar trocken gelegt
werden, auf welchem neu gewonnenen Gebiet dann etwa Vt Mil¬
lion Menschen ihr Auskommen finden könnten.
Der Vortrag wurde durch eine große Anzahl interessanter
Lichtbilder erläutert, die in anschaulicher Weise die gewaltigen Zer¬
störungen der Fluten an Deichen, Häusern und Schiffen erkennen
ließen.
Nach dem Vortrag fand die Mitgliederhauptver-
Sammlung statt, die schon ein Jahr zuvor hätte abgehalten wer-
5 8*
Sitzungsberichte.
den sollen; wegen der kriegerischen Ereignisse und der Schwierig¬
keiten der Rechnungsprüfung hat sie verschoben werden müssen.
Der Schriftführer gab den üblichen Bericht über die Vereins¬
tätigkeit im abgelaufenen Vereinsjahr, der Rechner den Kassenbe¬
richt; beiden wurde der Dank des Vereins durch den Vorsitzenden
ausgesprochen und dann Entlastung erteilt.
Der Vorstand wurde durch Zuruf wiedergewählt; außerdem
noch Herr Bankdirektor Gau, dem das Amt des Rechners übertra¬
gen wurde.
786. Sitzung am 14. Februar 1916.
Vorsitzender: Herr Geh. H' Trat Dr. Lehmann. Anwesend ca. 200 Zuhörer.
Gemeinsame Sitzung mit dem Karlsruher Bezirksverein Deut¬
scher Ingenieure, der Chemischen Gesellschaft des Badischen Ar¬
chitekten- und Ingenieurvereins und des Elektrotechnischen Vereins
der auch S. K. Hoheit der Großherzog anwohnte. Herr Geheime¬
rat Dr. Lummer von der Universität Breslau hielt einen Vor¬
trag über „D ieVerflüssigungderKohleunddieHer-
stellung der Sonnentemperatu r“. Herr Professor
Dr. Lummer begann seinen lebensprühenden, mit Witz und Laune
gewürzten Vortrag mit Betrachtungen über die Grenzen des Natur-
erkennens und über die Möglichkeit, die einmal zu Ende gehende
Kohlenergie zu ersetzen, um hierauf die verschiedenen Methoden zu
entwickeln, sehr hohe Temperaturen aus der Strahlung der Körper
zu bestimmen.
Als wichtigstes Ergebnis der mit dem Lummerschen Interfe¬
renzphoto- und Pyrometer und nach der Lummer-Pringsheimschen
Methode der logarithmischen Isochromaten angestellten Versuche ist
die Tatsache hervorzuheben, daß die wahre Temperatur des posi¬
tiven Kohlenkraters der in freier Luft brennenden Bogenlampe von
Stromstärke und Bogenlänge unabhängig ist und rund 4200 abs. be¬
trägt. Wenn alle früheren Versuche (Desprez, Moissan u. a.) durch
Steigerung der Energiezufuhr die Kohle der Bodenlampe zum
Schmelzen zu bringen, mißlungen sind, so daß seither der Satz: d i e
reine Kohle ist unschmelzbar und geht bei hoher Tem¬
peratur unmittelbar aus dem flüssigen in den gasförmigen Zustand
über — als unumstößlicher Lehrsatz galt, so war der Anreiz, für den
Forscher um so größer, die Versuche zum Schmelzen des Kohlen-
Sitzungsberichte.
59*
Stoffs unter veränderten Bedingungen wieder aufzunehmen. Durch
Verminderung des Drucks auf ^Atmosphäre und Anwendung ver¬
hältnismäßig kleiner Stromstärke ist es in der Tat dem Vortragen¬
den gelungen, einen Zustand des positiven Kraters herbeizuführen,
der allen Anzweiflungen zum Trotz sich als flüssiger Zustand des
reinen Kohlenstoffs erwies. Schwer zu beschreiben ist der wunder¬
bare Anblick des in starker Vergrößerung projizierten Kohlenflusses,
auf dessen dunklem Hintergrund, Eisschollen vergleichbar, unge¬
mein helle fünf- bis sechseckige Körper, sog. „Fische“, mit fabel¬
hafter Schnelligkeit sich hin- und herbewegen, während ein waben¬
ähnliches Netz warscheinlich kristallisierten Kohlenstoffs von mitt¬
lerer Helligkeit die auf die Waben passenden Fische auffängt, wo¬
rauf sie von der Mitte her wieder geschmolzen werden. Die Fische
sind wahrscheinlich Graphitkristalle, wie ebenso die wieder erstarrte
Kohlenflüssigkeit sich als Graphit nachweisen läßt. Ausdrücklich
weist der Vortragende die Annahme zurück, daß seine Versuche
mit der Herstellung künstlerischer Diamanten in unmittelbarem Zu¬
sammenhang stehen. Dagegen zeigt er durch den Versuch, daß auch
andere Kohlensorten, insbesondere glasklare Diamanten, geschmol¬
zen werden können und ebenfalls den oben geschilderten Anblick
darbieten, ferner, daß das Schmelzen der Kohle auch bei anderen
Drucken, von V# bis 2 Atmosphären, gelingt. Die Konstanz der
Temperatur der aus festem Zustand verdampfenden Kohle ließ ver¬
muten, daß diese Temperatur durch Druckverminderung erniedrigt,
durch Drucksteigerung erhöht werden kann.
Die Schwierigkeit, welche sich bei den hierauf bezüglichen Ver¬
suchen einstellte und darin bestand, daß die Bogenlampe bei er¬
höhtem Druck nicht brennen wollte, mußte durch besondere Kunst¬
griffe überwunden werden. So gelang es, den Lichtbogen bei Druck
bis zu 23 Atmosphären zu erzeugen und dadurch Temperaturen her¬
zustellen, die bis zu 8000 Grad gehen, während die Temperatur der
mit Platinstrahlung strahlenden Sonne zu etwa 6000 Grad angenom¬
men werden kann. Würde es möglich sein, den Lichtbogen bei noch
viel höheren Drucken von 500 bis 600 Atmosphären zustande zu
bringen, so müßte er der Berechnung nach eine Temperatur von
200 000 Grad haben- Eine Gegenüberstellung zweier Bogenlampen,
die unter x bezw. 2 Atmosphären Druck brannten, gab den unmittel¬
baren Beweis, daß der höhere Druck eine Erhöhung der Temperatur
und damit eine noch viel stärkere Steigerung der Gesamthelligkeit
6o*
Sitzungsberichte.
zur Folge hat. Es ist ohne weiteres ersichtlich, wie diese Versuchs¬
ergebnisse ztir Erreichung einer besseren Wirtschaftlichkeit der
Lichtquellen Verwendung finden können.
Am Schluß seines Vortrages ging der Redner noch auf einen
phantastisch erscheinenden, von Pringsheim als „blödsinnig“ be-
zeichneten Gedanken ein: die immer noch ungewisse Sonnentem¬
peratur aus dem Bau des menschlichen Auges zu bestimmen. Wenn
aber der allgemeine Schluß richtig ist, daß die Organe der lebenden
Wesen sich den natürlichen Bedingungen anpassen, dann liegt auch
der Schluß nicht ferne, daß das Höchstmaß der Empfindlichkeit
des Sehorgans dem Höchstmaß der Helligkeit des Son¬
nenlichts entsprechen muß. Um diesen Gedanken durchzuführen,
erinnert der Redner auf die von ihm entdeckten merkwürdigen Seh¬
empfindungen, die auf der Verschiedenheit der beiden wichtigsten
Netzhautbestandteile, der Zapfen und Stäbchen, beruhen. Die Zap¬
fen, in nächster Nähe der Sehnervendigung gelegen, treten in Wirk¬
samkeit beim Tage und beim direkten Sehen, beim Fixieren, wäh¬
rend die Stäbchen das indirekte Sehen und das Sehen im Dunkeln
vermitteln. Das Merkwürdigste ist nun, wie durch überraschende
Versuche veranschaulicht wurde, daß nur die Zapfen färben empfind¬
lich sind, während die Stäbchen alles Helle grau oder weiß sehen.
Ferner verschwindet für die Stäbchen der Lichteindruck beim Fixie¬
ren, der Gegenstand scheint auszuweichen, weil in der direkten Seh¬
richtung keine Stäbchen sich befinden. Es lassen sich auf diese
Weise auffallende Gesichtsempfindungen und Gespensterercheinun-
gen auf höchst natürliche Weise erklären.
Doch der Fülle des Gebotenen war zuviel, und so konnte die
Darlegung, wie sich aus dem Bau des Auges die Sonnentemperatur
ermitteln läßt, nicht mehr durchgeführt werden; der Vortragende
sah sich der begrenzten Zeit wegen veranlaßt, abzubrechen. Zum
Schluß wurde noch einmal das Bild des flüssigen Kohlenstoffs in
vergrößerter Projektion vorgeführt.
Der Vorsitzende gedachte, indem er dem Vortragenden den
Dank der Zuhörer aussprach, des hohen wissenschaftlichen und
technischen Wertes der Lummerschen Arbeiten, die einen Triumph
deutscher Forschungen darstellen.
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturwissen¬
schaftlichen Vereins und des 25jährigen Jubi¬
läums der Hertzsehen Entdeckungen. 1
Königliche Hoheiten! Hochgeehrte Anwesende!
Vor 50 Jahren erschien das erste Heft der Verhandlungen
unseres Naturwissenschaftlichen Vereins. Heute liegt die stattliche
Zahl von 25 Bänden vor, enthaltend Berichte über die Vorträge
in rund 800 Sitzungen und überdies eine sehr große Zahl ein¬
gehender Abhandlungen über die Ergebnisse unserer heimischen
Karlsruher Forschungstätigkeit. Dank vor allem den vielen, die
in uneigennütziger Weise zu solchem Erfolg beigetragen haben!
Ins Leben gerufen wurde der Verein durch das lebendige
Interesse unseres höchstseligen Großherzogs an dem Gedeihen der
Naturwissenschaften, deren hohe Bedeutung für die Entwicklung
der Kultur er klar erkannte. Den besonderen Anlaß gab die Ver-
1 Experimental-Vortrag von O. Lehmann in der Aula der Technischen
Hochschule in Anwesenheit Ihrer Königlichen Hoheiten des Großherzogs und der
Großherzogin, sowie zahlreicher Gäste. Da die vorhandenen Plätze nicht zureichten,
fand am folgenden Tage eine Wiederholung des Vortrags ebenfalls vor zahlreicher
Zuhörerschaft statt.
IV
O. Lehmann
Sammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Karlsruhe 1858,
welcher besonderer Glanz verliehen war durch Vorführung eines
neuen Apparates, des Rühmkorffschen Funkeninduktors durchseinen
Erfinder, in Verbindung mit den ebenfalls zu dieser Zeit erfun¬
denen Geißlerschen Röhren. Durch die Fürsorge des Großherzogs
ist das physikalische Institut in den Besitz dieses Apparates ge¬
kommen, den Sie hier in Funktion sehen. Bei den Untersuchungen
von H. Hertz sollte er später noch eine große Rolle spielen.
Am Schluß der Versammlung drückte Seine Königliche Hoheit
dem Geschäftsführer der Versammlung, dem Physiker Wilhelm
Eisenlohr (den Sie hier im Bilde (Fig. 1) sehen;, den Wunsch
aus, es möchte doch fortlaufend dem Kreise der Gebildeten in
Karlsruhe von den so außerordentlich wichtigen und interessanten
Fortschritten der Naturwissenschaften in gemeinverständlicherWeise
Kenntnis gegeben werden.
Das war nun wohl bereits früher geschehen seitens eines
Vereins, den Eisenlohr 16 Jahre hindurch geleitet hatte; doch hatten
politische Wirren der Tätigkeit dieses Vereins ein Ende bereitet.
Der Wunsch des Großherzogs wirkte Wunder! Alsbald entstand
(wieder unter Eisenlohrs Leitung) ein neuer Verein. Gut besuchte
Vorträge gegen Eintrittsgeld wurden in größerer Zahl geheilten
und in wenigen Jahren vermochte sich der Verein sogar ein an¬
sehnliches Vermögen zu sammeln.
Ganz entsprach er aber nicht den Bedürfnissen. Die Zuhörer
wollten nicht einfach durch einen unnahbaren Kanzelredner be¬
lehrt sein, sie wollten die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen
und sich über den Gegenstand gemütlich zu unterhalten. So ent¬
stand denn bald neben dem ersten neuen Verein ein zweiter, zu¬
nächst gleichfalls unter Vorsitz Eisenlohrs 1 , unser heutiger Natur¬
wissenschaftlicher Verein, der größeren Beifall fand und
schließlich Erbe des andern wurde, der sich nach einigen Jahren
auf löste. Das ererbte Vermögen in Verbindung mit einem Zuschuß
seitens Großh. Regierung ermöglichte die Herstellung eines Tausch¬
verkehrs mit mehr als hundert anderen naturwissenschaftlichen
Vereinen der ganzen Welt. Welchen Wert diese auf die Tätigkeit
des Karlsruher Vereins legen, geht hervor aus den zahlreichen uns
1 Unter Mitwirkung von Alex. Braun und Fr. A. Wal ebner. Mitgliederzahl
bei der Gründung 62.
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw.
V
zum heutigen Feste zugegangenen, sehr herzlich gehaltenen Gratu¬
lationen ! .
Das persönliche Interesse des höchstseligen Großherzogs ist
dem Verein stets erhalten geblieben und mit besonderem Danke
dürfen wir berichten, daß auch Seine Königliche Hoheit unser
regierender Großherzog, dem Verein seine Gunst zugewendet hat
und ihm wiederholt die hohe Ehre seines Besuches bei den Sitzungen
zuteil werden ließ.
Daß der Verein auch von privater Seite gefördert wurde, in¬
dem er das Recht erhielt, bei Verleihung der von Kettnerschen
Stiftung für wissenschaftliche Forschungsreisen mitzuwirken und
durch die Bohmsche Stiftung nebst andren, sowie einen Zuschuß
Großh.-Regierung in die Lage versetzt wurde, eine eigene Erd¬
bebenwarte in Durlach einzurichten, die unter Leitung von Herrn
Geh. Hofrat Haid bereits interessante Ergebnisse erzielt hat, kann
ich nur flüchtig berühren.
Im Jahre 1872 sah sich Eisenlohr durch Krankheit, von welcher
ihn bald der Tod erlöste, genötigt, vom Vorsitz des Vereins zu¬
rückzutreten. Fast ein Vierteljahrhundert hindurch trat nunmehr
an seine Stelle der Vertreter der technischen Maschinenlehre
Grashof 1 2 (Fig. 2), dessen Denkmal in der Kriegstraße mich eines
besonderen Hinweises auf seine bedeutungsvolle Tätigkeit enthebt.
Treu stand ihm zur Seite der Vertreter der technischen Physik
und Direktor der Landesgewerbehalle Meidinger 3 , der 30 Jahre
hindurch das mühevolle Amt des Schriftführers verwaltete. Auf
Grashof folgte der Mathematiker Wiener (Fig. 3) als Leiter des
Vereins, auf diesen, und zwar für die lange Zeit von 14 Jahren,
der Direktor des chemischen Instituts, unser jetziger Ehrenpräsident,
1 Solche sind eingelaufen von den in dem Tausch verkehr-Verzeichnis näher ange¬
gebenen Vereinen und Akademien in Augsburg, Basel, Bonn (2 Vereine), Breslau, Brünn,
Charlottenburg, Danzig, Dresden, Dürkheim, Frankfurt a. M., Frankfurt a. O., Frei-
buig i. Br., St. Gallen, Gießen, Graz, Halle a. S„ Hamburg, Hanau, Hannover, Innsbruck,
Kassel, Kiel, Königsberg, Kolozsvar, Magdeburg, München, Nürnberg, Philadelphia,
Prag, Rom, Stuttgart, Wien, Wiesbaden, Upsala. Diesen wissenschaftlichen Gesell¬
schaften spricht der Naturwissenschaftliche Verein Karlsruhe hiermit seinen herzlichen
Dank aus.
2 Seit 1856 auch Vorsitzender des Karlsruher Bezirksvereins Deutscher Ingenieure.
3 Photographie siehe diese Verhandlungen Bd. 19, 135, 1906 (O. Lehmann, Heinrich
Meidinger).
VI
O. Lehmann
unter dessen Leitung der Verein ganz besonderen Aufschwung
nahm x .
In wenig Worten die Tätigkeit des Vereins zu schildern, ist
unmöglich. Unter den vielen greife ich deshalb einen Vortrag
heraus, den, in welchem gerade vor 25 Jahren der Physiker der
Technischen Hochschule Heinrich Hertz 2 dem Verein über seine
kurz zuvor gemachten Entdeckungen berichtete, Entdeckungen, die
in kürzester Zeit das größte Aufsehen in der ganzen Welt erregen
sollten.
Hertz (dessen Büste hier aufgestellt ist) war und blieb ein
einfacher bescheidener Gelehrter, obschon er sehr gut die große
Wichtigkeit seiner Entdeckungen zu schätzen wußte. Erstaunt
würde er immerhin sein, wenn er heute sehen könnte, welche
Umwälzungen in der Physik er veranlaßt hat und von wie hoher
Bedeutung die praktische Anwendung seiner Entdeckungen zur
drahtlosen Telegraphie geworden ist.
Leider war ihm nicht vergönnt, selbst wesentlich an dem
weiteren Ausbau des von ihm erschlossenen Wissensgebietes mit¬
zuarbeiten; schon nach drei Jahren wurde er in Bonn, wohin er
einen ehrenhaften Ruf erhalten hatte, von einer sehr schmerzhaften
Krankheit befallen, und nur 36 Jahre alt, wurde er den Seinen
entrissen, tief betrauert von den Physikern aller Nationen.
So sind wir heute nicht in der Lage, ihm unsere Glückwünsche
zu dem Jubiläum zu übermitteln, wir freuen uns aber, wenigstens
Frau Hertz und der einen seiner beiden Töchter, die sich heute
hier in unserer Mitte befinden, Gelegenheit geben zu können, sich
von der Bewunderung, die wir für die Arbeiten des Verewigten
hegen, zu überzeugen.
Das ursprüngliche Ziel dieser Arbeiten war Prüfung einer
in England entstandenen neuen Theorie der elektrischen
Kraft. Was die Wirkung dieser Kraft ist, weiß jeder, der z. B.
das Sträuben und die gegenseitige Anziehung von Papierbüscheln
1 Näheres über die Geschichte des Vereins siehe Birnbaum, diese Ver¬
handlungen 1873, lieft 6 , S. 5. Von ausgezeichneten Sitzungen waren die 100. am
10. Febr. 1872 (Mitgliederzahl 101, anwesend 38), die 200. am 28. Nov. 1877 (M. 118,
a. 34), die 300. am 14. März 1884 (Teilnahme d. Großherzogs, M. 122, a. 27), die
400. am 5. Dez. 1890 (M. 135, a. 27), die 500. am 7. Mai 1897 (M. 161, a. 56), die
600. am 10. Juli 1903 (M. 211, a. 62), die 700. am 16. Juli 1909 (M. 267).
? Photographie siehe diese Verhandlungen Bd. 15, 19, 1902 (A. Schleiermachei,
Heinrich Hertz). Vgl. ferner Bd. II, S. 355, 1896 (M. Doll, H. Hertz).
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw.
VII
die mit den Konduktoren einer Elektrisiermaschine verbunden
sind, gesehen hat. Um eine Kraftwirkung zu verstehen, müssen
wir sie aber in Gedanken nachmachen können; wir müssen somit
ein Wesen kennen, ebenso unteilbar wie unser Ich, ein Individuum
oder Atom, das die Kraft ausübt, an dessen Stelle wir in unserer
Phantasie die eigene Person gesetzt denken können. So kam
man dazu, anzunehmen, die elektrische Kraft werde ausgeübt von
einem unsichtbaren und, da Elektrisierung die Körper nicht
schwerer macht, auch unwägbaren feinem Fluidum, der Elek¬
trizität, welche als Aggregat gleichartiger nicht weiter teilbarer
Partikelchen, der Elektronen, aufzufassen ist. Indem wir die
Elektrisiermaschine betätigen, erzeugen wir im einen Konduktor
Überschuß, im andern Mangel an Elektronen, ganz wie z. B.
eine Pumpe, wie sie
hier aufgestellt ist
(Fig. 4), Wasser aus
dem einen Behälter
heraus und in den an¬
dern hineinpumpt,
im ersten Mangel,
im zweiten Über¬
schuß erzeugt.
Versuchen wir
auf Grund dieser
Vorstellung zu ver¬
stehen, weshalb z. B.
Metallkugeln, die
auf kleine Wagen
aufgesetzt und ent¬
gegengesetzt elek¬
trisch gemacht sind
(Fig. 5), sich anzie-
hen, so treffen wir
immerhin auf erheb¬
liche Schwierigkei¬
ten. Unsere Kraft
kann nur durch Be¬
rührung wirken;
hier soll die Kraft
VIII
O. Lehmann
Fig. 5
sogar durch den luftleeren Raum hindurch in die Ferne wirken!
Und weshalb ist die Kraft, mit der der Konduktor den, Über¬
schuß an Elektronen enthält, den andern gegen sich heranzieht,
ebensogroß wie die Kraft, die der Konduktor ausübt, in welchem
Mangel an Elektronen vorhanden ist?
Hierüber dachte zuerst Faraday in London (den Sie hier
im Bilde sehen) zu Anfang des vorigen Jahrhunderts nach. Er
kam zu dem Schluß, die alte Auffassung muß falsch sein! Das
Ding, welches die Kraft ausübt, ist nicht in, sondern zwischen
den Metallkugeln. Wie durch gespannte Fäden oder Spiralfedern,
die an ihnen angeheftet sind, werden sie gegen einander gezogen.
Der ganze Zwischenraum, das ganze Dielektrikum ist mit solchen
Kraftfäden erfüllt zu denken, die sich nicht durchdringen
können und deshalb gegeneinander drücken, wie es auch Gummi¬
fäden tun würden. Die Gestaltung wird uns ungefähr angedeutet
durch die Streifen der gesträubten und sich anziehenden Papier¬
büschel. Genauer ist der Verlauf für ein durch eine Kugel ab¬
gegrenztes Gebiet dargestellt durch das Modell (Fig. 6). Würden
wir zwei solche Gebilde in übereinstimmender Stellung auf ein¬
ander zu bewegen, so würden wir infolge des Kraftfadendrucks
auf einen Widerstand treffen, wie beim Zusammenpressen zweier
Gummibälle. So erklärt sich nach Faraday die gegenseitige Ab¬
stoßung gleichartig elektrischer Körper.
Noch ein anderer Grund war es, durch welchen er in der
Annahme der Existenz derartiger Kraftfäden im Dielektrikum be¬
stärkt wurde. Wir verstehen ihn am besten, indem wir das
Gleichnis des Wasserpumpwerks nochmals beiziehen. Der Höhen¬
unterschied der Wasserspiegel bedingt eine Kraft, die wir zum
Betrieb eines Wasserrades ausnützen können. Diese Kraft allein
ist es aber nicht, welche die Arbeit, die Energie des Wasser-
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw.
IX
rades bedingt, es kommt auch auf die Menge des Wassers an.
Nach dem Gesetz der Erhaltung der Energie muß man sich vor¬
stellen, die Energie sei in den beiden Wasserbehältern gewisser¬
maßen aufgespeichert und komme bei Tätigkeit des Wasserrades
in anderer Form, als Bewegungsenergie, aum Vorschein.
Ganz ebenso, wenn wir zwischen die entgegengesetzten elek¬
trischen Konduktoren ein sogenanntes elektrisches Rad, einen
statischen Elektromotor (Fig. 7) bringen. Die Arbeit, die dieses
Rad leistet, indem es getrieben durch die elektrische Kraft sich
bewegt, entstammt der in den Konduktoren aufgespeicherten elek¬
trischen Energie. Freilich die aufgespeicherte Wasserenergie
können wir nach der Menge des Wassers, nach dem Wasserstand
beurteilen, die Elektrizität ist aber unsichtbar. Eine bessere
Analogie scheint deshalb eine Druckluftanlage (Fig. 8) zu
bieten, bestehend aus zwei Kesseln, in welchen durch eine Pumpe
Über- beziehungsweise Unterdrück hergestellt wird, deren Dif¬
ferenz die Arbeitsleistung eines zwischengeschalteten Druckluft¬
motors bestimmt. Die Luft ist unsichtbar und ihre Menge ist
abhängig von dem angewandten Druck.
Fig. 6
X
O. Lehmann
Wie Faraday erkannt hat, ist die Art der Aufspeicherung
der elektrischen Energie aber doch eine wesentlich andere. Würden
wir beispielsweise die Kessel mit Sand ausfüllen, so wäre die Ener-
Fig- 7
gieaufspeicherung unmöglich; im Fall der elektrischen Kugeln, die
innen hohl sind, hätte dies nicht den geringsten Einfluß. Von
wesentlichem Einfluß wäre dagegen, wenn wir die Kugeln mit Sand
umgeben würden, während bei den Luftkesseln dies für die Leistung
des Motors durchaus gleichgültig wäre. Hieraus zog Faraday den
wichtigen Schluß: Der Sitz der aufgespeicherten Energie ist nicht
das Innere der elektrischen Konduktoren, sondern das isolierende
Medium, welches sie umgibt, das Dielektrikum. Dieses ist, wie
gezeigt, von Kraftfäden erfüllt, in ihnen ist die Energie aufge¬
speichert. Ist das Dielektrikum wie hier Luft, so erstrecken sich
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw.
XI
Fig. 8
die Kraftfäden von Molekül zu Molekül (Modell), wie aus der
Abhängigkeit der Energieaufspeicherung von der Natur dieses
Dielektrikums zu schließen ist; sie verbinden entgegengesetzte
Pole der Moleküle und veranlassen diese, sich nach ihrem Ver¬
laufe zu richten. So entsteht dielektrische Polarisation, wie
sie in den beiden Tafeln 1 durch einseitige Schattierung angedeu¬
tet ist. Man kann sich vorstellen, in den einzelnen Molekülen
werde auf einer Seite Überschuß, auf der andern Mangel an Elek¬
tronen erzeugt. Daß aber nicht hierin allein die Aufspeicherung
1 Siehe Frick, physik. Technik 7. Aufl. Bd. II. (1) Taf. I. Fig. 5 und 8.
XII
O. Lehmann
elektrischer Energie beruht, geht daraus hervor, daß sich diese
kaum erheblich ändert, wenn man die Luft wegpumpt, so daß
nur Äther bleibt, in welchem solche Polarisation nicht vorhan¬
den ist. Die elektrische Energie ist hier sicher lediglich
durch das Vorhandensein der Kraftfäden bedingt.
Zur Erklärung aller Erscheinungen, speziell der Beziehungen
zu den magnetischen Kräften, reicht ohne weiteres auch die neue
Theorie nicht aus. Von einem
Körper, der weit von ent¬
gegen gesetz t elek tr ische n
entfernt ist, z. B. von einem
frei im Raume schwebenden
Elektron, strahlen die Kraft¬
fäden gleichmäßig nach allen
Richtungen scheinbar ins
Unendliche aus (Modell Fig.
9); bewegen sich aber Elek¬
tronen in einer gewöhnlichen
elektrischen Leitung, so be¬
gegnen sie immerfort ent¬
gegen gese t z t el ek t r i sch e n
Molekülen (solchen mit Mangel an Elektronen), von welchen ihre
Kraftfäden gewissermaßen abgefangen und am Austritt aus dem
Draht gehindert werden.
Demgemäß sollte man erwarten, zwei stromdurchflossene
Leiter oder zwei Teile desselben stromdurchflossenen Drahtes
könnten keine Kraft aufeinander ausüben. Der Versuch, den ich
hier ausführe, zeigt merkwürdigerweise das Gegenteil. Lasse ich
die an einer Feder aufgehängte Drahtspirale und die weitere
darunter fest aufgestellte hintereinander von einem Strom durch¬
fließen, so tritt, wie zu sehen, sofort kräftige Anziehung zwischen
beiden ein.
Zur Erklärung dieser Kraftwirkung muß angenommen werden,
daß, wenn Elektronen sich bewegen, zu der elektrischen Kraft
eine völlig neue Kraft hinzutritt, die wieder verschwindet, wenn
die Bewegung aufhört. Diese von der elektrischen verschiedene
Kraft bezeichnet man als magnetische Kraft.
Aus ihrem Auftreten kann man immer auf das Vorhanden¬
sein bewegter Elektronen schließen. Bringe ich eine Draht-
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw.
Xllf
spule über eiserne Nägel und schicke einen Strom durch sie,
so werden die Nägel (wie Sie sehen) plötzlich magnetisch an¬
gezogen und ziehen sich auch gegenseitig an, demgemäß ist an¬
zunehmen, in ihren Molekülen befänden sich kreisende Elektronen,
deren Bahnen sich unter Einfluß des Stromes in der Spule pa¬
rallel richten. Stahlstäbe werden so zu Magneten, die Parallel¬
richtung der molekularen Ströme wird eine bleibende und die
Stäbe wirken nun wie stromdurchflossene Spulen aufeinander ein.
Gleichartige Enden stoßen sich ab (wie der Versuch zeigt), un¬
gleichartige ziehen sich an.
Wie die elektrische Kraft kann man sich nach Faraday auch
diese magnetische Kraft hervorgebracht denken durch Kraftfäden,
welche an entgegengesetzten Polen endigen, im leeren Raum (im
Äther) zusammenhängend sind, in magnetisch polarisierten
Medien aber, d. h. solchen, deren molekulare Ströme sich parallel
gerichtet haben, von Molekül zu Molekül gehen. Die Ent¬
stehung magnetischer Kraftfäden bedingt Anhäufung
magnetischer Energie auch im reinen Äther, der keine
kreisenden Elektronen enthält, in gleicher Weise, wie Entstehung
elektrischer Kraftfäden Anhäufung elektrischer Energie. Bei
elektromagnetischen Motoren (wie einen solchen das Modell hier
zeigt) wird fortgesetzt die zugeleitete elektrische Energie in
magnetische Energie umgesetzt und aus dieser wieder Bewegungs¬
energie erzeugt.
Die Faradayschen Vorstellungen sind durch Maxwell (den
Sie hier im Bilde sehen ! ), in exakte mathematische Form gebracht
worden. Einige Modelle mögen dies erläu¬
tern. Ein ringförmiger elektrischer Strom oder
eine stromdurchflossene Spule erzeugt mag¬
netische Kraftfäden in seiner Achse; ein ge¬
rader, in diese Richtung gebrachter Eisenstab
wird deshalb zum Magneten (Elektromag¬
neten), solange der Strom dauert. Ein gerader
Strom (auch ein einziges geradlinig bewegtes
Elektron) erzeugt ringförmige magnetische
Kraftfäden in Ebenen senkrecht zu seiner
Richtung (Fig. 10). Nach der alten Theorie
1 Aus Meyers Gr. Konversationslexikon. 6. Aufl. Bd. 15, Tafel Physiker, S. 844.
XIV
O. Lehmann
wären solche in sich zurücklaufende Kraftfäden, die nicht an Polen
endigen, unmöglich. Wir haben hier, wenigstens im Äther, der
keine magnetisch polarisierte Moleküle enthält, magnetische
Kraft ohne Magnetismus! Gerade Linien senkrecht zur Rich¬
tung der elektrischen und magnetischen Kraft bestimmen die
Richtung des Energiestroms.
Bereits Faraday hatte nun die sehr wichtige Entdeckung ge¬
macht, daß die Vorgänge auch umgekehrt verlaufen können. Be¬
wegt sich ein Magnetpol in gerader Bahn, so entstehen ringförmige,
zu dieser senkrechte elektrische Kraftfäden, nach der alten Theorie
wieder etwas Unmögliches, denn sie stellen elektrische Kraft
ohne Elektrizität dar, sofern die Kraftfäden im leeren Raum,
im reinen Äther verlaufen, welcher ja keine Elektronen enthält.
Ein im Kreise bewegter Magnetpol weckt entsprechend eine
elektrische Kraft in der Achse des Kreises 1 .
Wird im ersten Fall an die Stelle, wo ein ringförmiger Kraft¬
faden auftritt, ein Drahtring gebracht, so bricht der Kraftfaden
auf, heftet sich an Elektronen und der Elektronen beraubte Moleküle
an, so daß die Kraft einen in sich zurücklaufenden Elektronen¬
strom, den Induktionsstrom, erzeugt. Der Nachweis ist einfach.
Ich schiebe eine durch eine gewöhnliche Glühlampe geschlossene
Drahtspule über den Pol eines Elektromagneten und sofort zeigt
1 Voraussetzung ist in beiden Fällen anscheinend, daß der Äther relativ zur An-
fangslage ruht. Würde er sich mitbewegen, so wäre nicht verständlich, weshalb die
elektrischen Kraftfäden entstehen können. Man erkennt hier eine große Schwierigkeit.
Die Anfangslage kann selbst eine bewegte sein, z. B. bewegt sich die Erde mit allem,
was darauf ist, ohne daß wir es bemerken, mit 30 000 Meter pro Sekunde Geschwin¬
digkeit um die Sonne. Ein relativ zur Anfangslage ruhender Äther wäre also relativ
zur Sonne in Bewegung. Dies müßte sich bei Versuchen, bei welchen sich der Beob¬
achter nicht mitbewegt, zu erkennen geben. Ist der Äther in absoluter Ruhe, so müßte
möglich sein, die absolute Geschwindigkeit eines Körpers zu bestimmen, was dem Re¬
lativitätsprinzip, welches eben diese Unmöglichkeit behauptet und sich immer bewährt
hat, widerspricht. Die Existenz des Äthers ist somit eine sehr problematische. (Siehe
O. Lehmann, diese Verhandlungen Bd. 23, 51, 1910, und Aus der Natur 7, 705, 1911,
sowie die große Literatur hierüber in wissenschaftlichen Zeitschriften.) Die von A.
Einstein 1905 aufgestellte Relativitätstheorie verzichtet auf Veranschaulichung durch Bei¬
ziehung des Äthers und stellt nur Gleichungssysteme auf, die sie so wählt, daß sie
sog. Lorentztransformationen gegenüber kovariant sind, was eben die Unabhängigkeit
aller Phänomene von der Absolutgeschwindigkeit bedeutet. Ponderomotorische Kraft
und elektromagnetisches Feld haben dabei keine absolute, d. h. von Bewegungszustande
des Bezugssystems unabhängige Existenz.
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw.
XV
uns das Aufleuchten der Lampe das Entstehen des Induktions¬
stromes an. Das Contraktionsbestreben der Kraftfäden erklärt
ihn aber nicht.
Es ist nicht einmal nötig, die Spule oder den Magneten zu
bewegen, um diese Wirkung hervorzubringen; es genügt schon,
den den Elektromagneten erregenden Strom zu schließen oder zu
öffnen, denn auch hierdurch entsteht oder verschwindet ein Bündel
magnetischer Kraftfäden in der Achse der Spule.
Die Linien senkrecht zur Richtung der elektrischen und mag¬
netischen Kraft geben auch im Fall der Induktion die Richtung des
Energiestromes an. Fehlt der Drahtring und ist nur Äther vor-
handen.so tritt An häuf ung elektrischer Energie oh neElek-
trizität, lediglich durch Bildung geschlossener Kraftfäden
ein, wieder entgegen der alten Theorie. Wäre der Magnetpol nicht
vorhanden, so würde das Verschwinden dieser elektrischen Energie in
ebenso rätselhafter Weise Bildung magnetischer Energie ohne
Magnetismus bedingen. Umgekehrt würde beim Verschwinden
magnetischer Energie an deren Stelle elektrische auftreten.
Wie Maxwell zeigte, geht hieraus hervor, daß sich die Kraft¬
fäden, also auch elektrische und magnetische Kraft mit
endlicher Geschwindigkeit im Raume ausbreiten muß. (Die
Rechnung ergibt eine Geschwindigkeit von 300 Millionen
Metern pro Se¬
kunde.) Denkt
man sich z. B.
einen geraden
Strom entste¬
hend, so bilden
sich, wie wir
wissen, rings¬
herum ringför¬
mige magneti¬
sche Kraftfä¬
den, angedeu¬
tet durch den
Drahtring (Fig.
.11). Das Auf¬
treten dieser be¬
dingt aber wie-
Fig. n
XVI
O. Lehmann
der das Auftreten neuer, sie ringförmig umschließender elektrischer
Kraftfäden, diese erzeugen wieder neue magnetische, und so gelangt
dann die Energie, die Kraftfädenanhäufung, erst allmählich in
größere Entfernung. Nach der alten Theorie kann von einer sol¬
chen Geschwindigkeit der Kraftausbreitung keine Rede sein, da
es sich nach dieser um eine unmittelbare Wirkung in die
Ferne handeln sollte,- also, wenn überhaupt Elektronen oder Mag-
netonen (kreisende Elektronen) vorhanden sind, überall im Raume
auch deren Kraft wirkt, ohne daß eine Ausbreitung derselben
stattfindet.
Es ist natürlich, daß sich für diese Vorgänge besonders der¬
jenige interessierte, der zum erstenmal das Gesetz der Erhaltung
der Energie in präziser Weise im Gesamtgebiet der Physik be¬
wiesen hat, der scharfe Denker H. v. Helm holt z (dessen Büste hier
aufgestellt ist).
Der einfachste Fall des Verschwindens elektrischer Energie
ist der der Entladung. Bei genügend hoher Spannung kann
plötzlich ein Elektronenstrom durch die Luft hindurch stattfinden,
wobei die elektrische Energie in Wärme und Licht übergeht, d. h.
die Elektronenbahn als elektrischer Funke 1 oder Lichtbogen sicht¬
bar wird. Die alte Meinung, dabei finde einfach ein Ausgleich
von Elektronenüberschuß gegen Mangel statt, kann, wie Helm-
holtz bereits im Jahre 1847 entdeckte 2 , nicht aufrecht erhalten
werden. Auch wenn ein voller Wasserbehälter mit einem leeren
verbunden wird, stellt sich nicht sofort gleichmäßiger Wasserstand
her, sondern vermöge seiner Trägheit schießt das Wasser auf
größere Höhe hinauf, um dann alsbald wieder zurückzuströmen,
so daß andauernde Schwingungen entstehen. Für elektrische Ent¬
ladungen, z. B. zwischen den hier aufgestellten Leydener Flaschen,
gilt ganz dasselbe, die Funken, welche Sie sehen, erscheinen des¬
halb so hell, weil sie aus einer außerordentlich großen Zähl äußerst
rasch aufeinander folgender Funken bestehen, indem die Elektrizität
vielleicht 100000 mal pro Sekunde zwischen den beiden Flaschen
hin- und herströmt.
Es gibt verschiedene Methoden, diese elektrischen Schwin¬
gungen nachzuweisen. Wenn ich den Draht, der die äußeren
1 Demonstriert mittels einer KlingelfuBschcn Induktors, Funkenlänge = I Meter.
‘ llelmholtz, Die Erhaltung der Kraft, Ostwalds Klassiker, Leipzig, W. Engel¬
mann 1889 S* 33.
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins «sw.
XVII
Belegungen der beiden Flaschen verbindet, zu einer Spule gestalte
und eine zweite Spule nähere, die durch eine Glühlampe ge¬
schlossen ist, so verrät deren, wie Sie sehen, anscheinend gleich¬
mäßiges Leuchten, daß Induktion stattfindet derart, daß mag¬
netische Kraftfäden in außerordentlich raschem Wechsel in die
Spule hinein und wieder daraus herausgehen, wie es bei ent¬
sprechend rasch ihre Richtung wechselnden Strömen der Fall
sein muß.
Verbinde ich die beiden Flaschen nur durch einen U-förmig
gebogenen Draht, welcher an einzelnen Stellen durch Glühlampen
überbrückt ist, so leuchten diese auf, was bei gleichmäßigem Strom
nicht möglich wäre. Woher rühren nun diese elektrischen
Schwingungen? Besitzt die Elektrizität Trägheit wie das Was¬
ser, wie die alte ursprünglich auch von Helmholtz angenommene
Theorie vorauszusetzen genötigt war, oder handelt es sich nach
Faraday-Maxwells Theorie um fortgesetzte Umwandlung von
elektrischer Energie in magnetische und umgekehrt?
Um einen stromdurchflossenen Leiter müssen sich auf Kosten
elektrischer Energie magnetische Kraftfädenringe bilden, deren
Verschwinden bei Vollendung des Ausgleichs von Überschuß
und Mangel der Konduktoren, welche der Leiter verbindet, einen
Induktionsstrom (von gleicher Richtung wie der frühere) veranlas¬
sen muß, welcher umgekehrte Ladung der Konduktoren bedingt,
worauf sich das Spiel wiederholt, so daß beständiges Hin- und
Herströmen der Elektronen in regelmäßigem Takte stattfinden
muß. Helmholtz konnte keine exakte Lösung des Problems, ob
die alte oder neue Theorie zutrifft, finden und regte deshalb seinen
hochbegabten Schüler und Assistenten Heinrich Hertz, den
fähigsten unter den jüngeren Physikern, den einzigen Mann, der
in gleicher Weise die abstraktesten mathematischen Theorien und
die Kunst der experimentellen Forschung beherrscht, wie er sich
gelegentlich ausdrückte, an, seine Bemühungen in dieser Richtung
fortzusetzen.
Das Charakteristikum der Faraday-Maxwellschen Theorie
war, daß sich die Kraftfäden im Äther, annähernd auch in Luft
mit der Geschwindigkeit von 300 Millionen Meter pro Sekunde
ausbreiten sollten. Wie aber eine so enorme Geschwindigkeit
messen? Das schien völlig aussichtslos; doch Helmholtz hatte
sich nicht getäuscht, Hertz glückte der große Wurf in verhält-
XVIII
O. Lehmann
nismäßig kurzer Zeit und zwar hier in Karlsruhe im Auditorium
des physikalischen Instituts der Technischen Hochschule.
Den Gedankengang verstehen wir am besten, wenn wir wie¬
der zur Bewegung des Wassers zurückkehren. Ich habe hier ein
System mit einander verbundener halb mit Wasser gefüllter senk-
Fig. 12
rechter Röhren. Drücke ich im ersten den Wasserspiegel hin¬
unter, so steigt er in den übrigen, beim Heben ist das Umgekehrte
der Fall. Folgen Senkungen und Hebungen in rascher Folge,
so bildet sich, da zu weit fortgeschrittene Niveauänderungen
keine Zeit zum Ausgleich haben, ein fortschreitender Wellen¬
zug aus (P'ig 12), und aus der Länge der Wellen und der Zahl
der Schwingungen pro Sekunde ergibt sich in einfacher Weise
die Fortpflanzungsgeschwindigkeit; sie ist gleich der Länge einer
Welle dividiert durch die Zeit ihrer Bildung, d. h. die Schwingungs¬
dauer. Durch Reflexion des Wellenzuges am Ende ergibt sich
eine stehende Wellenbewegung (Fig. 13), wobei einzelne Punkte,
die Knoten immer in Ruhe bleiben. Ihr Abstand ist gerade eine
halbe Wellenlänge, so daß sich also diese mit aller Präzision
messen läßt. Auch die Bestimmung der Schwingungszahl pro
Sekunde bereitet keine Schwierigkeit,
Lim nach diesem Prinzip elektrische Schwingungen zu be¬
nutzen zur Messung der Ausbreitungsgeschwindigkeit elektrischer
und magnetischer Kraftfäden, müßte man ein Mittel haben, solche
Schwingungen von noch weit größerer Schnelligkeit zu erzielen,
als sie bei der besprochenen Flaschenentladung auftreten. Durch
Verkleinerung des Apparates ist das im Prinzip möglich, doch
Fig. 13
Feier des 50 jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw.
XIX
läßt sich von vornherein erwarten, daß die in solchen kleinen
Apparaten angehäuften Energiemengen so gering sein werden,
daß man überhaupt nichts mehr beobachten kann.
Zu seiner Überraschung fand nun Hertz bei einem Vorlesungs¬
versuch über Induktion durch oscillatorische Entladung mittels
zweier gleichgestalteter Spulen 1 , wie er sie in der Sammlung vor¬
fand (ich habe sie hier aufgestellt), daß das durchaus nicht der
Fall war und alsbald erkannte er auch den Grund. Bei gleicher
Beschaffenheit der Spulen mußte der Effekt eintreten, den man
in der Akustik Resonanz nennt: fortgesetzte Verstärkung der
Schwingungen durch Übereinanderlagerung, weil sie in beiden
Spulen gleichzeitig in gleichem Takte erfolgen.
Damit war das Prinzip für die Konstruktion eines brauch¬
baren Apparates, bestehend aus Oscillator 2 und Resonator von
gleicher Beschaffenheit gegeben. Beide bestehen aus metallenen
Kugeln, verbunden durch einen Draht, der in der Mitte eine
kleine Funkenstrecke hat*. DasRühmkorffsche Induktorium diente
zur Ladung der Kugeln des Oscillators. Daß wirklich äußerst
rasche Schwingungen beim Überschlagen eines Funkens in der
Unterbrechungsstelle in der Mitte entstanden, ließ sich, ganz ’wie
ich es bei den Leydener Flaschen mit Glühlampen demonstrierte,
daran erkennen, daß Überbrückung der Funkenstrecke
durch einen Drahtbügel die Funken nicht zum Ver¬
schwinden brachte und daß in der Funkenstrecke des Resona¬
tors induzierte Funken auftreten. Das System der Kraftfäden bei
solchen elektrischen Schwingungen besteht (in einem bestimmten
Momente, wie das Modell Fig. 5 darstellt), aus elektrischen Kraft¬
fäden, die die beiden Kugeln verbinden, und magnetischen, welche
ringförmig den verbindenden Draht umschließen.
Läßt man die Kugeln fort, so funktioniert der Apparat immer
noch, die Schwingungen erfolgen nur noch rascher. Es genügt,
auch, nur ein Ende des Resonators einem Ende des Oscillators
1 Vgl. Frick, phys. Technik. 7. Aufl. Bd. II (1) S. 708.
2 Siehe A. Schleiermacher, diese Verhandl. 15, 28, Taf. II, 1902.
;1 Die Kugeln sind nicht durchaus nötig, es könnten auch einfache Stäbe sein,
wie unten in Fig. 14 angedeutet. Die. elektrischen Schwingungen sind hier durch die
darüber befindlichen Modelle, welche die Schwankungen der elektrischen Spannung wie
in Fig. 13 andeuten, dargestellt. Man müßte sich den Resonator nicht neben, sondern
vor oder hinter den Oscillator gesetzt denken.
XX
O. Lehmann
zu nähern (wie bei Fig. 14).
Man kann ferner eine ganze
Anzahl Resonatoren zu ei¬
nem zusammenhängenden
Draht aneinanderreihen, wo¬
bei sich das System der elek¬
trischen und magnetischen
Kraftlinien, wie es durch das
Modell (Fig. 5) dargestellt
war, mehrfach wiederholt
(Fig. 15). Hier haben wir,
was wir suchten, stehende
Wellen elektrischer
Kraft, und es erübrigt nur die Schwingungszahl zu bestimmen, die
sich leicht aus den Dimensionen des Oscillators berechnen läßt und den
Abstand der Knotenpunkte zu messen. Ganz einfach kann letzteres
geschehen, wie später Lecher gefunden hat, indem man zwei parallele
Reihen solcher Resonatoren verwendet, jede von einem Pole des Os¬
cillators beeinflußt, so daß die Spannungszustände in ihnen überall ent¬
gegengesetzt sind. Kurzschluß an Knotenstellen durch übergelegte
Drähte (Fig. iö) stört dann den Vorgang nicht, wohl aber Kurz¬
schluß an anderen Stellen, so daß man die Lage der Knoten mit
aller Schärfe bestimmen kann.
Durch diese Hertzschen Versuche war die Richtigkeit der
Faraday-Maxwellschen Theorie, wenigstens soweit Ströme in
Drähten in Betracht kamen, erwiesen, die alte Theorie endgültig
abgetan. Aber die neue Theorie lehrte, daß nicht nur an Drähten
die Fortpflanzungsgeschwindigkeit elektrischer und magnetischer
Fig 15
i
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw.
XXI
Fig. 16
Kräfte eine endliche ist, sondern auch im freien Raume, ja sogar im
luftleeren Raume, in dem sogenannten Äther. Während bei den elek¬
trischen Wellen in Drähten immer noch Elektronen als Träger der
elektrischen Kraft in Frage kommen, Enden der Kraftfäden, die an
den Draht gebunden waren, sollte nach Faraday-Maxwells Theorie
Ablösung der elektrischen Kraftf äden von den Elektronen
möglich sein, es sollte im leeren Raume elektrische und magnetische
Kraft auftreten, obschon doch der leere Raum nichts enthalten kann,
was eine solche Kraft nach der alten Vorstellungsweise ausüben
könnte, denn der Äther enthält weder Elektronen noch Magnetonen.
Hätte Hertz seinen Oscillator ganz nach Art der alten Schwingungs¬
kreise, wie sie bei unseren Versuchen über elektrische Schwingungen
verwendet wurden und auch bei dem besprochenen Vorbild den
Induktionsscheiben, so wäre ihm die Lösung dieses II. Teils des
Problems nicht geglückt; denn die Kraftfäden bleiben auch hier
immer in der Nähe der Leiter, breiten sich nicht merklich in den
Raum aus. Er verwandte aber, wie gezeigt, nicht einen ge¬
schlossenen Schwingungskreis, die Kugeln seines Oscillators
waren einander nicht gegenüber, sondern an den entgegengesetzten
Enden des sie verbindenden Drahtes, so daß die Kraftfäden not¬
wendig zum großen Teil durch entfernte Gebiete des Raumes
hindurchgehen mußten.
In der Tat gelang ihm, mittels dieser offenen Oscillatoren
zu beweisen, daß tatsächlich Ablösung ringförmig in sich
zurücklaufender elektrischer und magnetischer Kraft¬
fäden von dem Oscillator möglich ist, welche selbstän-
XXII
O. Lehmann
dig, unbekümmert um die weiteren Vorgänge im Oscil-
lator, mit der ihnen eigentümlichen Geschwindigkeit
in den Raum hinauseilen und ihre Existenz nur dadurch ver¬
raten, daß sie, wenn sie auf einen gleichgestalteten Resonator auf¬
treffen, in dessen Unterbrechungsstelle ein Funkenspiel wecken,
indem sie im Resonator aufbrechen, sich an die in dem Metall
vorhandenen Elektronen anheften und diese nun in entsprechende,
äußerst rasche hin- und hergehende Bewegung versetzen.
Die Figuren (17a—h) zeigen die aufeinander folgenden Stadien
der Ablösung der elektrischen Kraftlinien, wobei die magnetischen
entsprechend dem Modell (Fig 5) immer senkreckt dazu zu denken
sind. In größerer Entfernung sind die Kraftfäden annähernd
geradlinig.
Die Fünkchen in der Unterbrechungsstelle des Resonators
sind aus der Entfernung nicht gut zu sehen. Man kann aber
deren Auftreten indirekt dadurch nachweisen, daß man die Unter¬
brechungsstelle nach dem Vorgang von Branly mit Feilspähnen
füllt, welche durch die Fünkchen verschweißt werden, so daß sie
z. B., wie der Versuch zeigt, den Strom eines galvanischen Ele¬
mentes, welches ein Galvanometer oder eine elektrische Klingel
betätigt, hindurchlassen, durch die Erschütterungen seitens der
letzteren aber alsbald wieder auseinander gebrochen werden.
Die Schwingungen im Resonator erzeugen natürlich ebenso
wie diejenigen im Oscillator eine elektromagnetische Strahlung.
Setzt man zwei, drei oder mehr Resonatoren der Reihe nach zu
einem Stab aneinander, so ist die Strahlung entsprechend kom¬
plizierter (Fig 18, 19), die Wellenlänge bleibt aber diesselbe. In
gleicher Weise erzeugt ein langer, der Oscillatorachse paralleler
Draht, welcher als Kette vieler Resonatoren (Fig 16) aufgefaßt
werden kann, eine derartige reflektierte Strahlung, noch bes¬
ser ein Gitter aus vielen parallelen Drähten. Bei Drehung um
90 0 erweist sich das Gitter natürlich wirkungslos. Zufügung
eines gekreuzten Gitters zum ersten ändert also die Wirkung
nicht, man kann sogar die beiden Gitter zu einer zusammenhän¬
genden Metallfläche, einem ebenen Spiegel vereinigen. Infolge
Interferenz der ankommenden und reflektierten Wellen bilden
sich Knotenpunkte, deren Abstand die Fortpflanzungsgeschwindig¬
keit der elektrischen Wellen im freien Raume ermitteln läßt.
Hertz fand, daß sie, wie es Faraday-Maxwells Theorie forderte.
XXIV
O. Lehmann
300 Millionen Meter pro Sekunde beträgt. Damit war das
Problem endgültig zugunsten dieser Theorie entschieden!
Die Geschwindigkeit ist ganz dieselbe wie die des Lichtes
und dies hatte bereits Maxwell veranlaßt, seine elektromag¬
netische Lichttheorie aufzustellen, welcher zufolge auch das
Licht nur aus elektrischen (und dazu senkrechten magnetischen)
Kraftfäden von regelmäßig abwechselnder Richtung besteht, welche
losgelöst von Elektronen frei im Raume fortschreiten.
In der Tat konnte Hertz nachweisen, daß die Analogie zwischen
den von ihm entdeckten elektromagnetischen Strahlen und den
Lichtstrahlen eine vollkommene ist. Das Reflexionsgesetz der
ersteren stimmt mit dem des Lichtes überein, deshalb können die
Hertz-Strahlen durch einen Hohlspiegel parallel gemacht und
in einem zweiten konzentriert werden, wie der Versuch zeigt.
Verdrehe ich den einen Hohlspiegel, so daß das Strahlenbündel
nicht in den anderen hineingelangt, so spricht der darin enthaltene
Resonator nicht an; durch Zwischenschaltung eines ebenen Spie¬
gels kann aber dem Strahl wieder die richtige Richtung gegeben
werden.
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw. XXV
i
Fig. 19
Die Analogie mit dem Licht bewährte sich auch beim Durch¬
gang durch ein Prisma 1 , welches natürlich für Lichtstrahlen nicht
durchsichtig zu sein braucht. Auch Interferenzversuche lassen
sich in beiden Fällen in gleicher Weise anstellen. Durch die
Öffnung in einem Metallschirm (Fig. 20) tritt ein geradliniger
Strahl heraus, da der Energiestrom immer senkrecht zur elektri¬
schen und magnetischen Kraft sein muß, gewissermaßen aus ab¬
geschnittenen Kraftfäden bestehend, doch lehren die Beugungs¬
erscheinungen, daß deren Enden verbunden sind. Von einem
Lichtstrahl unterscheidet sich ein solcher magnetischer Strahl
im wesentlichen nur durch die Wellenlänge, welche für das Licht
etwa eine Million mal kleiner ist Die Wellenlänge des gelben
Lichtes beispielsweise beträgt rund ein halbes Tausendstel Milli¬
meter. Da die Länge des Oscillators der Abstand zwischen zw T ei
Schwingungsbäuchen, also die halbe Wellenlänge ist, folgt, daß
die Oscillatoren, welche das Licht erzeugen, einzelne Atome sein
müssen, das Licht also seine Entstehung Schwingungen der Elek¬
tronen in den Atomen verdankt. So wurde durch die Hertzschen
Siehe A. Schleiermacher a. a. O. Taf. I.
XXVI
O. Lehmann
Versuche eine sichere
Basis für das große
Gebiet der physikali¬
schen Optik und der
Strahlungstheorie ge¬
wonnen.
Marconi gelang
es, auch eine hochwich¬
tige praktische Ver¬
wendung der Hertz-
schen Strahlen zu er¬
sinnen , nämlich die
drahtlose Telegra-
phie. Wir haben nur
nötig, bei unserem Ap¬
parat die Klingel durch
einen gewöhnlichen
Morsetelegraphen zu
ersetzen, um sofort
auf einige Entfernung,
selbst durch Wände
hindurch ohne Drahtleitung telegraphieren zu können. Für weitere
Entfernungen ist die Energiemenge der kleinen Hertzschen Oscil-
latoren aber nicht ausreichend, man muß größere nehmen: Drähte
an hohen Masten emporgeführt, sogenannte Antennen, welche
Wellen bis zu einer Länge von 10 Kilometern erzeugen. Die
eine Hälfte von Oscillator und Resonator kann man sparen, denn
falls man die Antennen unten mit der Erde verbindet, wird dieses
Ende von selbst zum Knotenpunkt. Die Figur 21 zeigt die von
einem solchen halben Oscillator ausgehenden Wellen, wobei die
Kraftlinien an der Erdoberfläche endigen. Die Antenne kann
auch andere Form haben, z. B. T-Form, wie die Antenne des
Dampfers »Imperator , welche ermöglicht, mit Wellen von 1,8 km
Länge mitten auf dem atlantischen Ozean immer Verbindung mit
dem Lande (d. h. bis auf 3800 km Entfernung) zu unterhalten, so
daß jeden Morgen eine Bordzeitung mit den neuesten Nachrichten
erscheinen kann. (Die projizierten Bilder zeigten Antenne, Auf¬
nahmeapparat und ein Exemplar der Bordzeitung.) Neuerdings
ist sogar eine direkte drahtlose telegraphische Verbindung zwischen
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw.
XXVII
Berlin und Newyork hergestellt worden. (Die Bilder zeigten Auf¬
nahme- und Empfangsstation.)
Zur Speisung solcher großer Oscillatoren gehören natürlich
ganz andere Energiemengen als bei den Hertzschen Versuchen.
Nach dem Vorgänge von Braun wird hierzu das Resonanzprinzip
benutzt. Wie Tesla gezeigt hat, erfordert Resonanz bei elek¬
trischen Schwingungen nicht notwendig Gleichheit der induzie¬
renden und induzierten Spule wie bei den alten Induktionsscheiben,
es muß nur Übereinstimmung der Schwingungsdauer vorhanden
sein. So sehen wir bei dem Apparate hier 1 bei wesentlich ver¬
schiedener Beschaffenheit der beiden Spulen so kräftige Resonanz
auftreten, daß große Büschel von Elektronenströmen in die Luft
austreten. Würden wir eine Antenne anschließen, so würde die
1 Siehe Fr ick, Phys. Technik, 7. Aufl. Bd. II, (I) Seite 715.
XXVIII
O. Lehmann
Energie genügen, viele kilometerweit zu telegraphieren. Bei
größeren funkentelegraphischen Stationen gehören Maschinen
von Hunderten von Pferdestärken dazu, die nötige Energie
zu liefern.
Anfänglich bereitete große Schwierigkeiten die Rückwirkung
der induzierten Spule, an welche die Antenne angesetzt ist, auf
den induzierenden Schwingungskreis. Heute ist durch die Methode
der Stoßfunken von Max Wien (zahlreiche sehr kleine gut ge¬
kühlte hindereinander geschaltete Funkenstrecken), d. h. Funken,
die sofort erlöschen, wenn die Schwingungen der Antenne erregt
sind, so daß der induzierende Schwingungskreis, weil er unter¬
brochen ist, durch letztere nicht beeinflußt werden kann, auch
diese Schwierigkeit behoben; man kann Wellen von genau be¬
stimmter Länge hersteilen, die nur auf einen besonders darauf
abgestimmten Resonator ein wirken.
Größte Bedeutung hat die drahtlose Telegraphie für die
Schiffahrt erlangt, nicht nur zur Verständigung bei Gefahr,
sondern auch zu genauer Zeitbestimmung, die nötig ist für
exakte Ortsbestimmung.- Ersetzt man den telegraphischen Emp¬
fangsapparat durch eine elektrische Zündvorrichtung, so können
aus der Ferne Minen entzündet werden; ersetzt man sie durch
einen Elektromotor, der das Steuerruder betätigt, so kann ein
Schiff aus der Ferne gesteuert werden und anderes mehr.
Soweit es sich nur um telegraphische Verständigfung handelt,
wird an Stelle des gewöhnlichen Morsetelegraphen das weit emp¬
findlichere Telephon benutzt, wobei durch regelmäßige im Takte
von Schallschwingungen bewirkte Unterbrechung der elektrischen
Schwingungen dafür gesorgt werden muß, daß hörbare Töne ent¬
stehen (tönende Funken). Indem man nicht einfach Unterbre¬
chungen wirken läßt, sondern die Stromschwankungen in einem
Mikrophon, in welches hineingesprochen wird, ist drahtlose
Telephonie auf große Entfernung bis 600 Kilometer möglich
Voraussichtlich wird möglich sein, die Methode unter Benutzung
der Lieben-Röhr e, die 40 fache Verstärkung eines Lautes er¬
möglicht, noch zu verbessern.
Auch diese Erfindung der Liebenröhre beruht auf einer von
Hertz bei seinen Versuchen gemachten Entdeckung, daß, wie
später Hall wachs näher erforscht hat, das Licht den Austritt von
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw.
XXIX
Elektronen aus Konduktoren, welche solche im Überschuß ent¬
halten, bewirken kann, wie sich z. B. zeigt, wenn man eine
blanke negativ geladene Zinkplatte belichtet. Ein gespreizter,
damit verbundener Papierbüschel fällt sofort zusammen.
Fig. 22
Durch das genaue Studium der Lichterscheinungen beim
Durchgang der Elektrizität durch Gase, insbesondere des blauen
Lichts an der Kathode (der Stromzuführung, welche Elektronen
im Überschuß enthält), kam Hertz zu der interessanten Entdeckung,
daß diese sogenannten Kathodenstrahlen auch dünne Metall¬
schichten durchdringen können. Die Fortsetzung der Versuche
durch seinen Assistenten Lenard wurde Veranlassung der Ent¬
deckung der Röntgenstrahlen, deren hohe Bedeutung für die
medizinische Wissenschaft allbekannt ist, die neuerdings infolge
ihrer äußerst kleinen Wellenlänge auch Nachweis der Raumgitter¬
struktur von Kristallen ermöglicht haben, ganz besonders aber
XXX
O. Lehmann
Veranlassung wurden zur Entdeckung der Becquerelstrahlen
und des Atomzerfalls bei radioaktiven Substanzen. Ein unge¬
heueres neues Wissensgebiet wurde dadurch erschlossen.
Man fand, daß die Kathodenstrahlen nichts anderes sind, als
fortgeschleuderte Elektronen, daß ihre scheinbare Trägkeit, ver¬
möge deren sie sogar, wie Hertz gefunden hat, Blattgold durch¬
dringen können, nur eine scheinbare ist. Ein bewegtes Elektron
ist immer umgeben von ringförmigen magnetischen Kraftfäden
senkrecht zur Achse, so daß immerfort ein Energiestrom in Linien
senkrecht zur magnetischen und elektrischen Kraft (welche Rich¬
tungsänderung erfährt) stattfinden muß, indem die verschwin¬
denden magnetischen Kraftfäden fortgesetzt elektrische Kraft er¬
zeugen, die das Elektron in seiner geraden Bahn weitertreibt,
ohne aber seine Geschwindigkeit zu erhöhen, ganz wie die wahre
Trägheit die wägbare Materie. (Fig. 22).
Selbst der elektromagnetischen Strahlung kommt eine schein¬
bare Trägheit oder Masse zu. Zu Anfang wurde gezeigt, daß
zwei gleichgerichtete Kraftfädensysteme, wie sie von Oscillator
und Resonator ausgehen, einander genähert, die Erscheinung der
elektrischen Abstoßung zeigen, d. h. daß sie einen Druck aufein¬
ander ausüben, wie etwa gegeneinander gepreßte Gummibälle.
Dementsprechend muß ein Lichtstrahl, welcher einen
Spiegel trifft, einen Druck auf diesen ausüben und ein
Körper der einen Lichtstrahl aussendet, muß einen Rückstoß erfah¬
ren, ähnlich wie ein Gewehr, aus welchem eine Kugel abgeschossen
wird. Die Erde beispielsweise erfährt durch die Sonnenstrahlung
einen Druck von 74 Millionen Kilogramm; durch dieselbe Kraft wird
die Sonne gestoßen, indem sie die Strahlen in der Richtung der
Erde aussendet. Wirkung und Gegenwirkung sind aber nicht
wie sonst gleichzeitig, der Druck auf die Erde erfolgt erst 8
Minuten später, eben wenn die Strahlen die Erde erreichen. Das
gibt zu denken. Die Kraftfäden, welche in den leeren Raum
hinauseilen, verhalten sich anscheinend wie fortgestoßene Massen.
Ein Kubikmeter Sonnenlicht beispielsweise scheint eine Masse von
Sj Quadrilliontel Kilogramm zu haben. Um soviel müßte die
Masse eines schwarzen Körpers zunehmen, der ein Kubikmeter
Sonnenlicht aufnimmt. Ja, aus den Strahlungsgesetzen wäre zu
schließen, daß diese Masse gewissermaßen aus Atomen besteht.
Feier des 50jährigen Bestehens des Naturw. Vereins usw.
XXXI
Ein Atom gelbes Licht müßte eine Masse von 385 Billiontel
Kilogramm haben. Das erscheint uns nicht verständlich, denn
Strahlung ist, wie gezeigt, nur Kraft oder Energie, nicht Masse.
Selbst die Annahme, die Kraftfäden seien ein verborgener Be¬
wegungszustand des Äthers, welche ermöglichte, den Äther, der
übrigens kein Gewicht hat, als die stoßende oder fortgestoßene
Masse zu betrachten (denn Kraft ist Masse mal Beschleunigung),
begegnet den größten Schwierigkeiten. Ist überhaupt Bewegung
des Äthers möglich, so müßten entsprechende Störungen in der
Entstehung und Ausbreitung der elektrischen und magnetischen
Kraftfäden eintreten, von welchen sich nichts beobachten läßt.
Nur die Annahme, der Äther sei das absolut Ruhende in der
Welt scheint zulässig, wobei dann aber (vgl. S. XIV, Anm. 1) an¬
genommen werden muß, die Naturgesetze seien derart, daß nichts
destoweniger auf keine Weise die Bewegung eines Körpers
relativ zum Äther erkannt werden kann.
Rätsel häuft sich hier auf Rätsel und Hunderte von Physikern
aller Länder sind zurzeit bestrebt, diese Rätsel, die sich auf Grund
der Hertzschen Entdeckungen ergeben haben, zu lösen. Dabei
ergeben sich immer neue Lücken unserer bisherigen Naturkennt¬
nis, immer neue Entdeckungen und Erfindungen und das Ende
der Reihe ist nicht abzusehen.
Einen Forscher, der die Wissenschaft so sehr bereichert hat,
dessen Bild hier in der Aula der Technischen Hochschule mit
Recht unter die Bilder der größten Männer der Wissenschaft ein¬
gereiht ist, unter seinen Mitgliedern gehabt zu haben, ist der ganz
besondere Stolz des Karlsruher Naturwissenschaftlichen Vereins.
Ich möchte hoffen, daß mir gelungen wäre, durch meine Skizze,
die in Anbetracht der Kürze der Zeit naturgemäß nur eine sehr
flüchtige sein konnte, immerhin denjenigen unter Ihnen, die durch
Lebensstellung oder Beruf verhindert sind, sich eingehender mit
Naturwissenschaft zu beschäftigen, wenigstens einigermaßen die
Möglichkeit geboten zu haben, die hohe Wichtigkeit der Hertzschen
Arbeiten durch eigene Anschauung zu erkennen.
Hertz, ursprünglich als Ingenieur ausgebildet und durch seine
Gaben zu glänzender Lebensstellung berufen, hat hierauf verzichtet
und die dargelegte, überaus schwierige Tätigkeit auf dem Gebiet
der reinen Wissenschaft vorgezogen, in begeistertem Streben nach
XXXII
O. Lehmann
Erkenntnis der Wahrheit. Sein Werk ist geeignet, in weitesten
Kreisen ein Gefühl reiner Freude zu wecken über solchen Triumph
des menschlichen Geistes, zugleich aber auch hohe Bewunderung
des edlen Charakters seines Urhebers. Das Deutche Museum von
Meisterwerken der Naturwissenschaften und Technik in München
hat beschlossen, diesem in seinem Ehrensaal ein Denkmal zu er¬
richten; allen sichtbar und unvergänglich ist das Denkmal, das
ihm durch sein Werk selbst gesetzt ist.
Abhandlungen.
Bericht
über die Expedition des „Armauer Hansen“
in den Atlantischen Ozean im Jahre 1913.
Von Prof. Dr. M. Auerbach, Karlsruhe (Baden).
Als mir im August des Jahres 1911 mein Freund Dr.
B. Heiland Hansen, Direktor der Biolog. Station von Bergens
Museum, mitteilte, daß die Station jetzt ein seetüchtiges Forschungs¬
schiff erhielte, auf dem wir zusammen einmal eine Expedition zur
Förderung unserer Spezialstudien unternehmen könnten, dachte
ich nicht, daß dieser nur ganz kurz angedeutete Plan schon bald
zur Ausführung gelangen könnte. Um so angenehmer wurde
ich daher Ende 1912 durch einen Brief Heilands überrascht,
der mir mitteilte, das neue Schiff solle zum Frühjahr 1913 fertig
sein, und der Ausführung einer größeren Reise stände nichts
entgegen, falls ich mich beteiligen wolle. Die Hauptfrage war
hier wie überall die Beschaffung der nötigen Mittel, und nur
zögernd ging ich an die Aufgabe heran, den auf mich fallenden
Teil der Expeditionskosten zusammenzubringen, denn einmal
handelte es sich um eine ziemlich große Summe, und dann hatte
ich von unserem Badischen Ministerium des Kultus und Unterrichts
sowie vom Karlsruher Naturwissenschaftlichen Verein schon so
oft in bereitwilligster Weise Reiseunterstützungen erhalten, daß es
mir unbescheiden erschien, schon wieder mit neuen Forderungen
aufzutreten. Meine Bedenken wurden endlich nur durch die Über¬
zeugung besiegt, daß es sich dieses Mal um eine vielleicht nie
wiederkehrende günstige Gelegenheit handle und daß indirekt
die auf der Expedition gewonnenen Resultate auch unserem
Heimatorte von Nutzen sein könnten. So stellte ich dann schließlich
die nötigen Gesuche fertig, und wieder Erwarten fanden sie eine
günstige Aufnahme; die nötigen Mittel wurden mir bewilligt,
so daß Ende des Jahres 1912 ernstlich mit der Festlegung des
Reiseplanes usw. begonnen werden konnte.
4
Dr. M. Auerbach
Ehe ich nun an die Schilderung des Zweckes und des Ver¬
laufs unserer Expedition herangehe, muß es meine erste Pflicht
sein, auch an dieser Stelle unserem Ministerium des Kultus und
Unterrichts, sowie dem Naturwissenschaftlichen Verein zu Karlsruhe
meinen besten Dank abzustatten für die weitgehende finanzielle
Unterstützung, die mir eine Teilnahme an der Reise erst möglich
machte, sowie dem Ministerium noch für die Erteilung eines
vierteljährlichen Urlaubs für die Monate Mai bis August 1913.
Es ist vielleicht auch hier der geeignetste Platz kurz der
anderen Herren noch zu gedenken, denen ich Dank schulde.
Da steht an erster Linie mein Freund Heliand Hansen, der
Expeditionsleiter. Ihm danken wir den schönen, harmonischen
Verlauf der ganzen Reise, er ist stets mit unveränderlicher
Freundlichkeit bereit gewesen, alle meine Wünsche zu erfüllen
und durch seinen stets guten Humor hat er uns unser Schiff auf
der ganzen Fahrt zu einer lieben Heimat gemacht. Die Direktion
von Bergens Museum und an ihrer Spitze ihr Präsident, Herr
Oberarzt Claus Hansen in Bergen, ist mir während der langen
Wartezeit in Bergen in stets unveränderlicher Gastfreundschaft
entgegengekommen, so daß Ungeduld und Nervosität leicht besiegt
werden konnten, als sich die Fertigstellung der Ausrüstung Woche
um Woche hinzog. Zu danken habe ich auch dem Besitzer der
Segeljacht »Togo« Fischereikonsulent und Kapitän Iversen, der
uns sein tüchtiges kleines Schiff zur Vornahme kleiner Exkursionen
in die Fjorde zur Verfügung stellte und mir aus dem reichen
Schatz seiner langjährigen Erfahrungen immer bereitwilligst Rat¬
schläge erteilte.
Endlich gebührt herzlicher Dank allen wissenschaftlichen
Expeditionsteilnehmern und der wackeren Besatzung des Schiffes.
Während der ganzen langen Zeit ist von keiner Seite auch nur
die geringste Trübung des guten Einvernehmens an Bord vor¬
gekommen, und das ist nur dem guten Willen aller Beteiligten
zu verdanken. Mit den »Wissenschaftlern« verbindet mich jetzt
aufrichtige Freundschaft und der ganzen Besatzung, vor allem
Kapitän Wilhelmsen kann ich nur die höchste Bewunderung
zollen für die Art, wie sie unser kleines Schiff glücklich durch
alle Stürme hindurchführten, wie sie alle die komplizierten Apparate
handhabten und wie sie immer freundlich zu kleinen Dienstleistungen
bereit waren. Es ist nicht zu viel, wenn ich sage: »Mit einem
Bericht über die Expedition des »Annauer Hansen«
5
Schiffe wie Armauer Hansen und mit seiner Besatzung kann
man alles unternehmen; selbst die schwersten Aufgaben lassen
sich mit ihrer Hilfe lösen.« Drum sage ich allen hier nochmals
meinen herzlichsten Dank.
Da ich mich mit einer größeren Summe an der Expedition
beteiligt hatte, hielten wir es für richtig, schon von vornherein
die verschiedenen Ansprüche der Teilnehmer an dem wissen¬
schaftlichen Materiale festzulegen. Der biologischen Station ver¬
blieb alles ozeanographische und meteorologische Material; die
Ausbeute an wirbellosen Tieren fällt Bergens Museum zu, und
ich selbst erhalte die Ausbeute an Fischen, soweit es sich nicht
um Unika oder neue Spezies handelt, die nur in ganz wenigen
Exemplaren erbeutet wurden; diese verbleiben Bergens Museum.
Jeder Teil kann frei über das ihm zufallende Material verfügen;
die wissenschaftlichen Arbeiten, die über die Ergebnisse der
Expedition erscheinen, werden als Mitteilungen der betr. im
Besitze befindlichen Institute veröffentlicht; Arbeiten über die
Fischausbeute, soweit sie in meinem Besitz ist, erscheinen als
Mitteilungen aus dem Großh. Naturalien-Kabinett in Karlsruhe
und der biolog. Station in Bergen.
Nachdem die finanzielle Seite des Unternehmens sicher gestellt
war, hieß es nun, einen Plan des Reiseweges zu entwerfen. Es
mußte hierbei berücksichtigt werden, daß Armauer Hansen mög¬
lichst mit Hilfe der Segel zu fahren haben würde, um einen
möglichst großen Aktionsradius zu erhalten und möglichst an
Brennmaterial zu sparen. Infolgedessen war ursprünglich be¬
absichtigt, von Bergen aus südlich durch die Nordsee und den
Kanal zu gehen, den Busen von Biskaya zu kreuzen und nach
Lissabon zu gelangen. Von hier aus sollte die Route nach
den Azoren führen und von dort in nördlicher Richtung dem
großen Rücken folgen, der unterseeisch den Nordatlantik in ein
östliches und westliches Becken teilt. Zwischen 55—60 0 n. Br.
sollte dann der Kurs westlich gerichtet werden, um auf dem
Plateau von Rockall noch Untersuchungen zu ermöglichen,
endlich sollten Stationen noch in der Färoe-Shetland-Rinne ge¬
nommen werden. Nach 3 Monaten sollte dann die Expedition in
Bergen wieder ihren Abschluß finden.
Leider aber konnte dieser große Plan nicht zur Ausführung
gelangen. Die große Winde des Schiffes, die wir unbedingt zur
6
Dr. M. Auerbach
Vornahme unserer Fänge brauchten, wollte und wollte nicht
fertig werden, die Kettenübertragungen, welche den Antrieb der
Winde durch den Schiffsmotor ermöglichen, trafen mit öwöchiger
Verspätung aus Deutschland ein und erst i l / 2 Monat nach dem
ursprünglich festgesetzten Termin war das Schiff klar.
Es tauchte nun die Frage auf: »Was tun?« Die kostbare
Zeit war verstrichen; zum Anfang August mußten wir zurücksein;
an eine Durchführung des ursprünglichen Programms war nicht
zu denken. Sollten wir die Expedition für dieses Jahr ganz auf¬
geben oder sollten wir sehen, in der noch zur Verfügung stehenden
Zeit so viel wie möglich zu erreichen? Nach langen Beratungen
entschlossen wir uns zu letzterem. Von der Westküste Schott¬
lands nach Westen, etwa zwischen dem 55. und 60. 0 n. Br. er¬
streckt sich ein Gürtel des atlantischen Ozeans, der weder in
ozeanographischcr noch in zoologischer Hinsicht jemals genauer
untersucht worden ist, alle früheren Expeditionen hatten ihr
Arbeitsfeld entweder nördlicher oder südlicher gehabt. Es mußte
also von großem wissenschaftlichem Interesse sein, diese Lücke
möglichst auszufüllen, zumal es sich hier um ein Grenzgebiet
handelt, wo kalte und warme Strömungen Zusammentreffen. Als
dann Heliand Hansen mir auch noch in Aussicht stellen konnte,
daß mir von anderen Expeditionen auch Fischmaterial aus süd¬
licheren Teilen des Atlantik zugänglich gemacht werden solle,
gab ich zu dem neuen Plan meine Zustimmung. Darnach sollten
wir von Bergen aus zunächst über die Nordsee, zwischen den
Orkney und Färöer hindurch nach Stornoway auf den Hebriden,
von hier aus sollte dann versucht werden, so weit nach Westen
(mindestens 28 0 w. L.) zu kommen, wie Zeit und Proviant es
erlauben würden. Die weiteren Ausführungen werden zeigen,
daß dieses Programm genau durchgeführt werden konnte.
Was nun den Zweck und die wissenschaftlichen Ziele der
Expedition anbelangt, so lassen sich diese nicht gut in einigen
Sätzen zusammen fassen, da zu viele heterogene Dinge in Frage
kommen. Mir persönlich lag vor allen Dingen daran, Unter¬
suchungen über die Parasiten- und speziell die Myxosporidien-
fauna der pelagischen und Tiefseefische anzustellen. Alles was
wir bisher über letztere Schmarotzer wissen, bezieht sich auf
solche in Süßwasser- und in typischen Küstenfischen. Die Fische
der Hochsee, die rein pelagisch leben und diejenigen der Tiefsee
Bericht über die Expedition des -Armauer Hansen<
7
sind noch qje in bezug auf diese Parasitenfauna untersucht worden,
und daher muß jedes Resultat, falle es nun positiv oder negativ
aus, von großem Interesse sein.
Neben dieser Hauptfrage lassen sich natürlich noch sehr
viele andere Probleme studieren; so muß es von Interesse sein,
allein nur schon die Fischfauna jenes Meeresabschnittes kennen
zu lernen und mit den anderen Gebieten zu vergleichen. Auch eine
ganze Reihe biologischer Momente können untersucht werden,
da wir ja durch die zu gleicher Zeit vorgenommenen ozeano-
graphischen Arbeiten über die Zusammensetzung und die sonstigen
Bedingungen des betr. Meeresabschnittes unterrichtet sind. Welcher
Art die etwa resultierenden Arbeiten sein werden, kann sich
aber erst entscheiden, wenn das ganze Material zur wissen¬
schaftlichen Bearbeitung hergerichtet ist.
Wie wir schon sahen, geht das Material an wirbellosen Tieren
in den Besitz von Bergens Museum über; in welcher Art dasselbe
verwertet werden wird, kann ich natürlich nicht sagen; jedenfalls
aber wird es allein schon in zoogeographischem Sinne von großem
Interesse sein.
Auch über die ozeanographischen Aufgaben unserer Expe¬
dition steht mir als Zoologen kein Urteil zu; es ist das Sache
meines Freundes Heliand Hansen; ich kann hier nur andeuten,
daß es die Aufgabe unserer Ozeanographen war, die hydrogra¬
phischen Verhältnisse des von uns besuchten Meeresteiles in jeder
Hinsicht zu untersuchen. Besonderes Augenmerk sollte auf den
Golfstrom, seinen Verlauf und seine Grenzen gerichtet werden.
Es wurden zu diesem Zwecke vorgenommen: Strommessungen,
Bestimmungen der Temperaturen, des Salz- und Ionengehaltes
des Seewassers von der Oberfläche bis in die größten Tiefen;
ferner wurden natürlich Tiefseelotungen vorgenommen und Proben
des Meeresbodens zu späteren Studien aufgehoben. Während wir
Zoologen an Bord eigentlich nur die Sammlung unseres Materials
vornehmen konnten, um es dann später zu bearbeiten, waren die
Ozeanographen in der glücklichen Lage, schon einen großen Teil
ihrer Untersuchungen während der Fahrt zu vollenden, so daß sie
gleich definitive Resultate sahen. Welcher Art diese sind, kann
ich natürlich nicht veröffentlichen, nur so viel darf ich sagen, daß
dieser Teil unserer Expedition sehr zufriedenstellende Ergebnisse
gezeitigt hat.
8
Dr. M. Auerbach
Ehe ich nun an die Schilderung des Verlaufs unserer Reise
herantrete, dürfte es wohl geraten sein, einige Worte zu sagen
über das Expeditionsschiff, seine wissenschaftliche Ausrüstung,
die Verpflegung an Bord und über alle Teilnehmer an derselben.
Das wichtigste bei einer ozeanographischen Expedition ist ihr
Schiff; ist dieses für seinen Zweck geeignet gebaut und seetüchtig,
so kann ein Mißerfolg, falls nicht ganz unvorhergesehene unglück¬
liche Ereignisse eintreten, nur durch die Untüchtigkeit seiner
Besatzung und der wissenschaftlichen Teilnehmer erklärt werden:
Es war daher von vornherein Heiland Hansens Ziel, ein so
gutes Seeschiff wie nur irgend möglich zu erhalten.
Bei Erreichung dieses Zieles mußten nun verschiedene Gesichts¬
punkte berücksichtigt werden. Einmal standen keine unbegrenzten
Geldmittel zur Verfügung, so daß das Fahrzeug nicht zu teuer
werden durfte. Dann mußte man auch darauf sehen, den Betrieb
möglichst billig zu gestalten und dabei doch einen möglichst
großen Aktionsradius zu bekommen. So durfte vor allem das
Schiff nicht zu groß werden, denn es hätte sonst zu viel gekostet
und würde auch eine zu große Besatzung erfordert haben.
Aus diesem Grunde schon schied die Frage des Baues eines
Dampfers aus. Kleine Dampfer können im Verhältnis nur wenig
Kohlen mitnehmen, soll der sonstige Raum nicht zu sehr ein¬
geschränkt werden; dazu kommt dann noch, daß die Lage der
Maschinen im Schiffskörper sehr viel guten Platz wegnimmt.
Diese Nachteile hat ein reines Motorschiff nicht; der Motor kann
ganz ins Achterschiff gelegt werden; die Behälter für das Brenn¬
material lassen sich überall an solchen Stellen einbauen, die sonst
zu nichts zu brauchen sind, und dadurch kann die Anordnung
der Wohn- und Arbeitsräume eine sehr praktische werden. Aber
auch reine Motorschiffe haben ihre Nachteile. Die Motoren, und
seien sie noch so gut, haben ihre Launen, und diese machen sich
meist gerade dann geltend, wenn man sie am wenigsten brauchen
kann. Der Platz für das Brennmaterial (Öl, Petroleum u. a.) ist
natürlich auch nicht unbegrenzt, so daß auch hier der Aktionsradius
eine gewisse Grenze nicht überschreiten kann, und dann hat
endlich das reine Motorboot mit dem Dampfer das gemeinsam,
daß beide bei Seegang sehr unruhig im Wasser liegen und so
heftige Bewegungen ausführen, daß oft an Arbeiten nicht zu
denken ist.
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen
9
Aus diesen Gründen entschloß man sich, dem zu bauenden
Schiffe auch Segel zu geben, und zwar derart, daß es allein unter
Segel noch gute Fahrt machte und dabei doch leicht und von
wenigen Leuten zu manöverieren war.
Dieser Lösung nun schien sich von Anfang an ein schweres
Hindernis in den Weg zu stellen. Zum Einholen und Aussetzen
der Netze und sonstigen Instrumente müssen große und sehr starke
Winden an Bord sein. Diese wurden bisher stets mit Dampf oder
Elektrizität getrieben und es entstand die Frage, ob ein Antrieb
der Winden durch den Schiffsmotor möglich sein würde. Die zu
Rate gezogenen Ingenieure bejahten diese Frage, und so wurde
denn beschlossen, den Versuch zu wagen und das Schiff als erstes
mit Solchen vom Motor getriebenen großen Winden auszurüsten.
Man kann sich denken, mit welcher Spannung wir alle warteten,
als die große Winde zum ersten Male in Gang gesetzt wurde
und wie wir jubelten, als alles tadellos klappte; hing doch hiervon
das ganze Schicksal der Expedition und des Schiffes überhaupt
ab. Daß das Gelingen dieses Versuches in bezug auf den Bau
von Hochseefischereifahrzeugen von großer Bedeutung sein kann,
ist eine Frage für sich, die wir vielleicht noch zum Schlüsse einer
kleinen Betrachtung unterziehen können.
Nachdem also die Ingenieure die Ausführbarkeit der obigen
Frage bejaht hatten, wurden die Pläne des Schiffes hergestellt
und der Bau desselben ausgeschrieben. Die Ausführung wurde
dann der Werft von Lindstöl in Risör im Christianiafjord übertragen.
Der Rumpf ist ganz aus Eiche gebaut und außerordentlich
stark gehalten; seine Länge beträgt etwa 23 m, seine größte Breite
ca. 6 m, sein Tiefgang mit Last ca. 3 1 j 2 m. In Rücksicht auf die
Gewichtsverteilung (der Motor und die große Winde liegen hinten)
ist der Rumpf hinten sehr breit. Der Typ des Schiffes wird in
Norwegen als Schoite bezeichnet, ein Typ, der sich durch große
Seetüchtigkeit und gute Segeleigenschaften auszeichnet. Die
Takelung besteht aus 2 Masten, einem Großmast vorn und hinten
einem kleinen Besan. An Segeln werden geführt außer Fock
und Klüver ein Großsegel (Gaffelsegel) und ein Besan, bei gutem
Wetter am Großmast noch ein Topsegel. Die Gesamtsegelfläche
beträgt etwas über 200 Quadratmeter; alle Segel können von
wenigen Leuten von Deck aus bedient werden; bei günstigem Winde
und unter vollen Segeln läuft das Schiff (ohne Motor) 7—8 Knoten.
IO
Dr. M. Auerbach
Fig. i. »Armauer Hansen« im Sognefjord am 22. Juni 1913
Der Motor (Rohölmotor der A.-G. Bolinde) liefert bei normaler
Belastung 40 P.S., kann jedoch auf 46 und vorübergehend 52,6
P.S. gesteigert werden; er vermag das Schiff allein mit 6—S
Knoten Geschwindigkeit durch das Wasser zu treiben.
Von großer Wichtigkeit für ein ersprießliches Arbeiten ist
natürlich das Vorhandensein eines großen hellen Arbeitsraumes,
und auf diesen wurde daher auch die größte Sorgfalt verwendet.
Das Laboratorium liegt mittschiffs unter Deck und nimmt die
ganze Breite des Schiffes ein; in ihm liegt der Schwerpunkt des
Fahrzeuges, so daß in ihm die Bewegungen auch die geringsten
sind. Durch große Oberlichter ist für gute Beleuchtung gesorgt,
ein großer Arbeitstisch, gute Sitzgelegenheiten, große Schränke
für Instrumente und Reagentien geben Gewähr für gute Arbeits¬
möglichkeit; ferner sind noch vorhanden ein Waschtisch, ein Sopha
und Büchergestelle für eine reichhaltige wissenschaftliche und
Unterhaltungsbibliothek.
Nach vorn schließt sich an das Laboratorium ein hübscher
Salon an, der als Wohnraum und Speiseraum dient und zugleich
2 Wissenschaftler sehr bequem zum Schlafen auf nimmt; an Back¬
bord ist vom Salon noch eine Kabine mit 2 Kojen abgetrennt.
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen« I j
Auch im Laboratorium können 2 Personen sehr gut schlafen,
so daß in den 3 bisher geschilderten Räumen ein Stab von 6 wissen¬
schaftlichen Teilnehmern sehr bequem untergebracht werden kann.
Alle Wohnräume sind weiß gestrichen; die Möbel sind Natur-Eiche
gebeizt; der Boden ist mit Linoleum belegt.
Vor dem Salon an Steuerbord ist eine Kabine für Kapitän
und Steuermann, an Backbord findet sich die Küche und das
Klosett, während das Vorschiff 4 Matrosen aufnehmen kann.
Hinter dem Laboratorium befindet sich zunächst ein kleiner
Vorplatz mit einer Treppe zum Deck. Dahinter liegt der große
Lastraum, der auch vom Vorplatz aus durch eine Tür betreten
werden kann, dann folgt der Maschinenraum und endlich noch
eine Kabine für 2 Maschinisten.
Der ganze Kielraum unter dem Boden der Kajüten etc. ent¬
hält den Ballast und die Tanke für Trinkwasser und das Motoröl.
Fig. 2. Plan von »Armauer Hansen«. A. Decksplan; B. Plan unter Deck.
Fig. A. 1. Luke zum Kabelgatt; 2. Ankerwinde; 3. Luke zum Mannschaftsraum;
4. Niedergang zu den Wohnräumen; 5. Oberlicht des Laboratoriums; 6. Niedergang zum
Laboratorium; 7. Luke zum Lastraum ; 8. große Winde; 9. große Rolle; 10. seitlich verstell¬
bare Rollen; 11. Ozeanogr. Winde; 1 2. Ruderstuhl; 13. Lukas Lotmaschine; 14. Luke zur
Maschinistenkabine; 15.OberlichtdesMotorraums; 16.Steuerhaus; 17. Fockmast; i8.Bcsan-
mast. (Die punktierte Linie stelltden Verlauf der Stahltrosse bei Fängen mit den Netzen dar.)
Fig. B. I. Mannschaftskabinc; II. Gang; III. Kapitänskabine; IV. Klosett;
V. Salon; VI. Backbordkabine; VII. Laboratorium; VIII. Vorraum; IX. Lastraum;
X. Motorraum; XI. Maschinistenkabine; XII. Küche.
a. Sopha, zugleich unteres Bett: b. Rückenlehne desSophas, zugleich aufgeklappt oberes
Bett; c. Anrichten usw.; d. Waschtische; e. Schränke, Buffet usw.; f. Tische; g. Tanke.
12
Dr. M. Auerbach
Diese Behälter dienen zu gleicher Zeit als Ballast. Wenn das in
ihnen enthaltene Süßwasser aufgebraucht ist, werden sie mit See¬
wasser gefüllt. Alle Tanke sind so geräumig, daß bei einer
Teilnehmerzahl von 12 Mann für etwa 5—6 Wochen Süßwasser
zum Trinken und Kochen mitgenommen werden kann. Der Öl¬
vorrat reicht bei mittlerem Betrieb auch etwa für 4 Wochen aus;
befindet sich das Schiff aber oft nur unter Segel, so ist natürlich
eine viel längere Fahrtdauer möglich. Diese wenigen Angaben
genügen wohl, um zu zeigen, daß der Aktionsradius des Schiffes
ein sehr großer und dem eines bedeutend größeren Dampfers
um vieles überlegen ist.
Wichtig für leichtes und erfolgreiches Arbeiten sind auch die
Anordnungen an Deck. Hier war großes Gewicht darauf gelegt,
möglichst viel freien Raum zum Arbeiten zu haben, deshalb waren
die Decksaufbauten auch möglichst reduziert. Nur das Steuerhaus
achter vor dem Besanmast kann als eigentlicher Aufbau gelten;
die Luken, Oberlichter und Niedergänge sind nicht sehr hoch
und hindern die freien Bewegungen in keiner Weise. Alles Nähere
kann man aus den beiliegenden Plänen ersehen.
Neben dem Schiffe sind das Wichtigste die Apparate, die
dazu dienen die Ausbeute zu sammeln und an Bord zu bringen.
Armauer Hansen ist in dieser Beziehung sowohl in zoologischer
wie ozeanographischer Hinsicht vorzüglich ausgerüstet.
Um die Tiere und Pflanzen des Meeres zu erbeuten bedient
man sich in erster Linie der Netze. Kleinere Formen werden
mit den bekannten Planktonnetzen gefangen, deren Netzstoff aus
Müllerseide in verschiedener Maschenweite besteht. Von derartigen
Netzen führten wir eine große Zahl mit und waren mit ihren
Fängen außerordentlich zufrieden; die Tiere leiden in ihnen am
wenigsten und die schönsten ganz unbeschädigten Exemplare
haben wir mit ihnen gefangen. Züge mit Schließnetzen haben
wir nicht ausgeführt, sondern wir haben nach der Methode Dr.
Hjorts gearbeitet, die in seinem Werke über die Michael Sars-
Expedition geschildert ist.
Neben den Planktonnetzen wurden ferner mit gutem Erfolge
noch angewendet das sogen. Tobisvad oder Petersensche Jung¬
fischnetz und für größere Bodenfische das große Trawl (vergl. d.
Michael Sars-Expedition). Fast immer wurden in einem Zuge zu
gleicher Zeit in verschiedenen Tiefen verschiedene Netzarten aus-
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen
1 3
Fig. 3. Die große Winde.
Fig. 4 . Anordnung der großen Winde und Rolle für die zoolog. Fänge.
>4
Dr. M. Auerbach
gelassen, so daß mit einem Zuge eine große Wassermenge filtriert
wurde und zwar von der Oberfläche bis in große Tiefen.
Das Aussetzen und Einziehen der Netze ist natürlich eine
schwierige Arbeit und kann nur mit maschineller Hilfe geschehen.
Zu diesem Zwecke ist mittschiffs an Deck vor dem Steuerhause
eine große Winde eingebaut, die, wie wir schon sahen, vom Schiffs¬
motor angetrieben wird. Auf der Windentrommel befinden sich
5000 m einer etwa fingerdicken Stahltrosse, die Fänge bis zu
etwa 2500—3000 m Tiefe gestattet. Die Trosse läuft von der
Winde zunächst nach vorn um eine große Rolle (vergl. Decksplan)
und von dieser wieder nach hinten über eine zweite kleine Rolle
an der Steuerbordreeling.
Außer der Netzausrüstung besitzt das Schiff auch vollständiges
Geräte zum Fischen mit Langleine, eine Methode, die auf den
Bänken ein reiches Material von Bodenfischen liefern kann.
Daß endlich auch genügend Geräte zum Sortieren und Aus¬
suchen der Fänge, wie große Baljen, eine durch den Motor
getriebene Pumpe etc. vorhanden sind, ist selbstverständlich.
Wenn man die ozeanographischen Verhältnisse der Bergener
biologischen Station einigermaßen kennt, wird es nicht wunder
nehmen, daß die hydrographische Ausrüstung Armauer Hansens
in jeder Beziehung mustergültig ist. Wir finden neben einer
durch Motor und Hand zu treibenden großen Hydrographenwinde
hinten an Steuerbord (vergl. Decksplan) noch verschiedene kleine
Handwinden mit zusammen vielen tausend Metern Stahl- und
Bronceleine, eine Lukas’sche Lotmaschine, Meterräder, Strommesser,
Wasserschöpfer verschiedener Systeme in größerer Anzahl, Thermo¬
meter, Barographen usw. kurz alles, was zu den Untersuchungen
irgendwie notwendig ist; auch sind alle Apparate vorhanden, um
das Material, soweit möglich, sofort an Bord zu verarbeiten. Für
die Güte des Schiffes und seines Instrumentariums mag schon
allein der Umstand sprechen, daß auf der ganzen Expedition nicht
ein einziger Thermometer zerbrochen, kein Instrument ernstlich
beschädigt wurde, obgleich die Arbeit durch das stets herrschende
stürmische Wetter meist sehr erschwert war.
Die Stimmung der meisten Menschen hängt viel davon ab,
wie sie ernährt werden, und deshalb kann keine zu große Sorgfalt
auf die Verproviantierung gelegt werden. Ich kann hier natür¬
lich nicht auf die Küchenverhältnisse näher eingehen, und will
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen
*5
Fig. 5. Die ozeanographische Winde.
nur bemerken, daß möglichst für Abwechslung gesorgt war, wenn
auch durch die Krankheit unseres Koches, wie wir bei der Reise¬
schilderung sehen werden, gerade diese Frage eine etwas schwierige
war. Satt sind wir immer geworden, und geschmeckt hat es uns
auch immer, besonders wenn wir selber kochten. Auch mit
Getränken waren wir gut versehen, wenn auch unser Hauptgetränk
Kaffee, Tee und Schokolade war.
Zum Schlüsse meiner einleitenden Betrachtungen endlich
noch einige Worte über die Personen, die an der Expedition
teilnahmen. Dieselben sonderten sich in zwei Gruppen, auf der
einen Seite die wissenschaftlichen Teilnehmer und auf der andern
die Seeleute, zu denen auch der Koch und die Maschinisten zu
rechnen sind.
Dr. M. Auerbach
Fig. 6. Kontrolle eines Nansen'schcn Wasserschöpfers durch Heiland Hansen.
Leiter der Expedition war, wie ich schon verschiedentlich
erwähnte, Dr. Björn Heiland Hansen, nach dessen Ideen ja
auch das Schiff gebaut war; er war der Leiter der ozeanographischen
Arbeiten. Ihm stand zur Seite der Meteorologe cand. Birkeland,
der neben den meteorologischen Arbeiten auch an allen hydro¬
graphischen Untersuchungen teilnahm, da er an der nächstjährigen
Nordpolexpedition von Roald Amundsen als Meteorologe und
Hydrograph teilnehmen wird. Teils ozeanographisch teils zoologisch
war Herr Ludwig Ameln aus Bergen beschäftigt. Als Zoologen
endlich nahmen Teil, Herr cand. S. Johnsen, Kustos an Bergens
Museum und der Verfasser dieses Berichtes.
Natürlich war die Arbeit an Bord nicht streng nach den
verschiedenen Gebieten geteilt, man half sich vielmehr gegenseitig
Bericht über die Expedition des *Armauer Hansen«
17
Fig. 7. Das Tiefseeloot mit dem »Lukas«.
so viel wie irgend möglich. So verrichteten die Ozeanographien
oft zoologische Hilfsdienste, wie andererseits auch wir Zoologen
häufig bei hydrographischen und meteorologischen Beobachtungen
helfend mit einsprangen, Hilfeleistungen, die sicher für die Gesamt¬
bildung des Einzelnen nur von Vorteil sein konnten. Nebenbei
war es auch niemand verwehrt, sich nach Belieben sonst nützlich
zu machen; so betätigte ich mich persönlich so viel wie möglich
seemännisch, zeitweilig auch als Koch und als Scheuerfrau; doch
davon später.
Für das ganze Schiff und den seemännischen Teil der
Expedition verantwortlich war unser braver Kapitän Wilhelmsen,
der auch stets bei den wissenschaftlichen Untersuchungen die
Navigierung übernahm und seine Aufgabe stets in bewunderungs-
Verhandlungen 26. Bd. 2
i8
Dr. M. Auerbaeh
würdiger Weise löste. So ist es z. B. wahrlich keine Kleinigkeit,
bei starkem Wind und einer See von 5—6 m Höhe bei Vornahme
einer Lotung auf 3000 m das Fahrzeug so zu manöverieren, daß
die Lotleine immer genau senkrecht im Wasser steht.
Der zweite im Kommando war Steuermann Seiersted, ein
richtiger Seebär, der während der ganzen Dauer der Fahrt auch
nicht einen Schritt an Land getan hat.
Als Maschinisten waren an Bord der Mechaniker Lien und
der Mechaniker Olsen, beide hatten oft sehr schweren Dienst,
wenn sie bei hoher See den Motor und die Winden zu bedienen
hatten und oft Tag und Nacht nicht zur Ruhe kamen. Als Koch
war der Steward Brundland angestellt, der während der langen
Wartezeit in Bergen, auf der Probefahrt und auf den Fahrten mit
»Togo« viele Proben seiner Kunst gab; leider erkrankte er sofort
nach der Ausfahrt und mußte in Stornoway auf den Hebriden zurück-
gelassen werden, wo wir ihn erst am Ende der Reise wieder abholten.
Den eigentlichen Matrosendienst versahen die Seeleute Harald
Lund und Wilhelm Toft. Beide waren aber so geschickt, daß
sie eigentlich als »Mädchen für Alles« verwendet wurden; das eine
Mal funktionierten sie als Koch, dann spielten sie Waschfrau
usw., kurz gesagt, das ganze seemännische Personal war so vor¬
züglich zusammengesetzt, wie man es sich nur wünschen konnte.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen können wir nun dazu
übergehen, in großen Zügen den Verlauf der Reise zu schildern.
Wieder einmal, wie schon so oft, stand ich am Morgen des
1 o. Mai v. J. an der Kaimauer des Strandkai 19 im Hamburger
Hafen und schaute auf den kleinen norwegischen Postdampfer
herab, der mich nach Bergen bringen sollte. An Bord war cilles
in schönster Unordnung, wie das zu Ladung einnehmenden Schiffen
gehört, jedoch zeigte mir eine Besichtigung unter Deck, daß ich
auf »Kong Gudröd' gut aufgehoben sein würde, war das Schiff
doch noch ganz neu und alles peinlich sauber. Ein Blick in die
Passagierliste belehrte mich auch, daß mein Vater, der mich bis
Bergen begleiten wollte,, und ich fast die einzigen Passagiere
waren, ein Umstand, der nicht hoch genug einzuschätzen ist.
Nachts 12 Uhr Sollte das Schiff in See gehen. Wir hatten
unsere Kojen schon zeitig aufgesucht, denn die Ausfahrt war uns
nichts Neues. Pünktlich um 12 Uhr wurden wir denn auch durch
das Anschlägen der Maschinen und einige merkwürdige schräm-
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen«
»9
mende Geräusche geweckt, aber bald war wieder alles ruhig, und
wir schlossen daraus, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei.
Erst am Pfingstsonntag Morgen um 5 Uhr kam dann die Maschine
wieder in Gang, und dieses Mal wurde es ernst, wir fuhren ab.
Beim Frühstück erfuhren wir vom Kapitän, daß wir nachts
infolge großer Ladung und Ebbe auf Grund gesessen hatten
und erst mit eintretender Flut losgekommen waren. Da wir
nichts zu versäumen hatten, konnte uns diese Verzögerung nur
angenehm sein, hatten wir doch dadurch eine schöne Tagesfahrt
elbabwärts. Bei Brunsbüttel lag ein Teil unserer Hochseeflotte
verankert, wodurch wir Gelegenheit erhielten, einige unserer
schönen neuen Schlachtschiffe zu sehen, in erster Linie den großen
Panzerkreuzer »Moltke«. Aber noch eine andere Überraschung
stand uns bevor; vor Cuxhafen tauchte ein Schiffskoloß auf, der
sich bei näherem Zusehen als das größte Schiff der Erde, der
»Imperator« entpuppte; so hatten wir durch die Verspätung zwei
schöne Eindrücke gewonnen, die uns bei pünktlicher Abfahrt
verloren gegangen wären.
Über den weiteren Verlauf der Reise bis Bergen ist nicht
viel zu sagen; der Aufenthalt an Bord war sehr angenehm; das
Wetter war wechselnd und die See so glatt, daß selbst der
empfindlichste Magen keine Veranlassung zu Rebellionen gehabt
hätte. Montag vorm. 11 Uhr liefen wir in Christiansand ein und
blieben dort bis 2 I / 2 Uhr nachm, liegen; dann ging es weiter
mit dem üblichen Halten in Cleven-Mandal, Farsund, Flekkefjord,
Egersund nach Stavanger, wo wir gegen 11 Uhr vorm, am
Dienstag 11. Mai ankamen. Auch während dieses Teils der Fahrt
ereignete sich nichts, ebensowenig auf der Reise nach Bergen,
das wir am 13. vorm. 5 Uhr erreichten.
Es war für mich ein eigentümlich wohliges Gefühl, mit dem
Bewußtsein zu erwachen, daß ich jetzt im alten lieben Bergen
sei; es schien mir, als wäre ich nach Hause gekommen. An Land
begrüßte mich Wachtmeister Glimme, von der Biolog. Station,
der mir bei den Zollformalitäten behilflich war. Meine erste Frage
galt natürlich unserem Schiff, aber ach, die Auskunft war nicht
erfreulich. An Bord von »Armauer Hansen solle es aussehen
wie in einer Räuberhöhle; es werde mit Hochdruck an der
Fertigstellung gearbeitet, aber sicher würde noch einige Zeit ver¬
streichen, bis alles zur Abfahrt bereit wäre. Glücklicherweise
20
Dr. M. Auerbach
ahnten wir damals noch nicht, welche Geduldsprobe uns bevor¬
stand, die Enttäuschung wäre zu groß gewesen.
Nach Lage der Dinge war es unmöglich, auf »Armauer
Hansen« zu wohnen, und so nahmen wir Quartier im Smeby-Hotel,
wo ich wieder, wie immer, ausgezeichnet aufgehoben war. Lange
konnte ich es dort aber nicht aushalten; es trieb mich, meine
alten Freunde zu begrüßen und das Schiff zu sehen, dem wir uns
anvertrauen sollten. So brachen wir denn bald nach der Biologischen
Station auf und gingen von dort zur Werft, an der »Armauer«
lag. An Deck stand mein Freund Heliand Hansen, der uns
nach herzlicher Begrüßung überall herumführte. Eines sah ich
sofort, »Armauer« ist ein vorzügliches Seeschiff, irgend eine Gefahr
ist normaler Weise mit der Reise nicht verbunden; aber ich sah
auch mit Schrecken, daß wir nicht so bald fortkommen würden.
Unter Deck wurden die Tanke für Öl und Süßwasser eingebaut,
auf Deck wurden alle Nähte neu verpicht und an der Montierung
der Winden gearbeitet. Die Geduldsprobe konnte beginnen!
Für den Abend erhielten wir eine Einladung von dem Direktor
der zoolog. Abteilung von Bergens Museum, Herrn Dr. Brinkmann,
bei dem ich die Teilnehmer unserer Expedition kennen lernte.
Am 16. Mai fuhr mein Vater mit Bergens Bahn wieder nach
Hause, und ich war nun allein auf mich und meine Arbeiten
angewiesen. Ich kann nun hier nicht auf eine Schilderung der
langen Wartezeit in Bergen mit allem ihrem Ärger eingehen;
nur will ich erwähnen, daß alle Bekannten geradezu rührend sich
darin überboten, mir das Warten so angenehm wie möglich zu machen.
Vielleicht hat auch gerade die lange Verzögerung der Abfahrt
ihr Gutes gehabt. Ich hatte genug Zeit, mich in alle Einzelheiten
des Schiffes und seiner Einrichtungen zu vertiefen und mich aktiv
an allen Fragen der Expeditionsausrüstung zu beteiligen; das ist
nun aber für einen Zoologen, der ja viel reisen muß, wenn er
weiter kommen will, von allergrößtem Wert. Das Zustandekommen
und die Vorbereitungen der Expedition waren für mich so lehrreich,
daß ich jetzt jene Wartezeit nicht missen möchte; sie hat mich befähigt,
vielleicht später einmal selbst ähnliche Expeditionen auszurüsten.
Bald sahen wir, daß der Mai und ein Teil des Juni sicher noch
mit Reisevorbereitungen verstreichen würden und deshalb begrüßte
ich es mit Freuden, als Heiland vorschlug, die Zeit wenigstens
teilweise mit kleineren wissenschaftlichen Exkursionen auszufüllen.
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen« 2 i
Am 27. Mai schifften Heliand, Birkeland, Heliands Assi¬
stent Gaarder, Maler Lofthus und ich uns auf der Segeljacht
»Togo« ein, die Eigentum des früheren Kapitäns des »Michael
Sars« (norwegisches staatliches Forschungsschiff) und jetzigen
Fischereikonsulenten Iversen ist; Kapitän Iversen nahm selbst
an der Tour teil; das Ziel war der Mofjord, ein ganz enges und
landschaftlich wunderbarschönes Wasserbecken nördlich von Bergen;
dort sollten hydrographische und zoologfische Untersuchungen vor¬
genommen werden. Ich speziell hoffte, dort Larven von Gadus-
arten zu erhalten, die mir über den ersten Zeitpunkt der Infektion
mit Myxosporidien Auskunft geben konnten.
»Togo« ist ein merkwürdiges Schiff. Bei 11 m Länge und
3 i / 2 m Breite birgt es in sich einen Raum, der fast nicht ausgefüllt
werden kann. Mit der Besatzung waren wir 9 Mann an Bord!
und trotzdem hatten wir gemütlich Platz. Es muß vom Land aus
höchst erstaunlich ausgesehen haben, wenn aus der Luke ein
Mensch nach dem anderen auftauchte, bis die Zahl 9 erreicht war,
und dem Unbefangenen mag sich der Eindruck aufgedrängt
haben, daß es unter Deck etwa wie in einer gefüllten Herings¬
tonne zugehe; aber weit gefehlt; Mittagessen, Nachmittagskaffee,
Abendbrot und Frühstück vereinte uns alle in der winzigen
Kabine, und ich habe selten so gemütliche Stunden verlebt, wie
gerade hier. Selbst für »Kunstgenüsse« war gesorgt, denn
»Togo« besitzt auch ein Grammophon, und oft ertönte Carusos
Stimme über das Wasser hin, und abends gaben wir den am
Ufer versammelten Bewohnern der Dörfer Freikonzerte. Leider
verliefen die schönen Tage im Mo- und Osterfjorde nur zu schnell;
die zoologischen und hydrographischen Untersuchungen waren
beendet; die Ausbeute war befriedigend, hatte ich doch eine
ganze Anzahl Fischlarven bekommen. Am 29. Mai trafen wir
wieder in Bergen ein und hier erwartete uns eine freudige Über¬
raschung; »Armauer Hansen« war wenigstens in den Wohnräumen
fertig, so daß Heliand und ich sofort an Bord übersiedeln konnten.
Heiland bezog die Backbordkabine, während ich es mir im
Salon bequem machte und zwar in der oberen Koje; dies war
für mich wichtig, denn ich sollte diesen Platz für die ganze Dauer
der Reise behalten und zur See gilt der Grundsatz, immer mög¬
lichst hoch über anderen Personen sich aufzuhalten, damit nicht
unsichere Kantonisten einem eine »Bescherung von oben« bereiten
22
Dr. M. Auerbach
können. Die erste an Bord verbrachte Nacht zeigte uns, daß
die Betten sehr gut und bequem waren und man mit Ruhe in
die Zukunft blicken konnte. Ferner hatte die Fahrt mit »Togo«
uns einander schon näher gebracht; der Koch hatte seine Kunst
zu aller Befriedigung gezeigt, so daß wir in bezug auf unser leib¬
liches Wohl unbesorgt sein konnten; und als Wichtigstes fanden
wir, daß wir wissenschaftlichen Expeditionsteilnehmer gut zueinander
paßten. Dieses Resultat war sehr zu begrüßen, denn wenn man
viele Wochen auf einem kleinen Schiff nur auf sich und einige
wenige andere Menschen angewiesen ist. denen man in keiner
Minute aus dem Weg gehen kann, so ist es erste Bedingung,
daß alle miteinander harmonieren, sonst kann einem der Aufenthalt
an Bord zur Hölle werden, und die Arbeiten müssen unter solch
gespannten Verhältnissen natürlich leiden.
Woche auf Woche verstrich, wir lagen einmal an dieser, dann
an jener Werft; nach und nach wurde alles fertig und als dann
endlich auch die Ketten und Zahnräder zur großen Winde ein¬
trafen, war der spannende Augenblick nicht mehr fern, wo zum
ersten Male der Motor zum Treiben der großen Winde in Gang
gesetzt wurde. Alles wollte natürlich möglichst gut sehen, und
der Maschinenraum war voll Leute. Da sprach Lien, unser erster
Maschinist, ein Machtwort; einer nach dem andern wurde hinaus¬
geworfen, nur er blieb allein zurück; oben an Deck standen wir
alle um die Winde herum, während unter uns der leerlaufende
Motor rumorte; da, plötzlich ein stärkeres Rasseln und langsam
aber sicher setzt sich die große Trommel in Bewegung; die
schwerste Frage war gelöst, unserer Abfahrt stand nun nichts
mehr im Wege. Wer wird es uns verdenken, wenn wir dieses
Ereignis zusammen mit den Ingenieuren der Werft durch einige
Flaschen Champagner in festlicher Art würdig begingen. Wir
konnten jetzt den Tag unserer Abfahrt auf den 26. Juni festsetzen.
Vorher aber mußte noch eine größere Probefahrt unternommen
werden; um auch die neuen Winden bei der Arbeit zu erproben.
Da wir nicht wissen konnten, ob bei den Versuchen auch alles
glatt gehen würde, suchten wir uns als Ziel der Probefahrt einen
Platz aus, der bei genügender Wassertiefe ein ruhiges, durch
Witterung nicht beeinflußtes Arbeiten gestatten würde. Unsere
Wahl fiel auf den schönen Sognefjord, der von Bergen aus leicht
und schnell zu erreichen ist und im mittleren Teil Tiefen bis zu
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen'
23
etwa 1100 m aufweist, die für unsere Zwecke vollkommen genügten.
Verschönt wurde die Aussicht auf dieser Probefahrt noch dadurch,
daß Nansen, der sich für unser neues Schiff und seine Ein¬
richtungen sehr interessierte, an derselben Teil nehmen sollte.
Am 21. Juni nachmittags wurde das Schiff allmählich klar zur
Abfahrt; allerdings sah es an Deck noch sehr ungemütlich aus,
aber als wir dann um 7 Uhr loswarfen, und in den Fjord dampften,
war auch hier in überraschend kurzer Zeit Ordnung geschaffen.
Die wissenschaftlichen Teilnehmer dieser Probefahrt waren:
Heiland Hansen, Prof.Nansen,Birkeland, AssistentGaarder,
Ameln und ich selbst. Bei prachtvollem Wetter fuhren wir durch
die schönen Fjorde und blieben noch lange an Deck in gemüt¬
lichem Gespräche beieinander.
Der nächste Tag, ein Sonntag, fand uns im Sognefjord;
strahlende Sonne überflutete die Landschaft und spendete sommer¬
liche Wärme, die uns bald zwang unser Sonnensegel auszuspannen;
gegen Mittag kam Balholm in Sicht, und hier ankerten wir in
einer kleiner Bucht. In primitiver Weise wurde an Deck ein
Tisch aufgeschlagen und bald konnten wir uns an den Künsten
unseres Koches erlaben, der zur Feier des Tages ein ganz besonderes
Festmahl hergerichtet hatte. Den Nachmittag verbrachten wir mit
Spaziergängen an Land, einer kleinen Motorbootfahrt auf dem
Fjord und einem erfrischenden Bade, zu dem Nansen die An¬
regung gab.
Abends gegen 6 Uhr wurde mit der Arbeit begonnen. Vor
Balholm senkt sich der Boden des Fjords bis zu ca. 1100 m Tiefe
herab, und hier machten wir den ersten Versuch mit dem großen
Trawl. Das große, schwere Netz, das über den Grund hingleitet,
wurde mit 2000 m Stahltrosse ausgesetzt. Nach dem Nachtessen
wurde mit dem Einholen begonnen. Dabei zeigte es sich, daß
die große Winde ausgezeichnet arbeitete, daß aber noch einige
unbedeutende Veränderungen an ihr vorzunehmen sein würden.
Um */* 12 Uhr nachts kam das Trawl wieder an Deck; das Netz
war in Unordnung geraten, hatte aber doch gut gefangen; es
enthielt u. a. sehr viele Angehörige der Spezies Munida tenuimana,
einer Tiefseekrustacee mit schön leuchtenden Augen, eine ganze
Anzahl Holothurien (Stichopus tremulus), einige prachtvolle Quallen
(Periphyllia hyacinthina) und vieles andere mehr. Ich konservierte
den ganzen Fang in 4°/ 0 igem Formol und übergab ihn später
24
Dr. M. Auerbach
Bergens Museum. Hochbefriedigt von den Ergebnissen dieses
ersten Arbeitstages begaben wir uns endlich gegen i Uhr zur
Ruhe. Bei mir wollte allerdings der Schlaf nicht so bald kommen,
denn ein liebliches Schnarchquintett umgab mich. In der Kapitäns¬
kabine sägte der Steuermann mit rührendem Eifer knorriges
Eichenholz, unter mir bemühte sich Ameln, ihm in keiner Weise
nachzustehen; in der Backbordkabine lag Nansen, der zwar nach
seiner eigenen Aussage nie schnarcht, aber für diese Nacht, viel¬
leicht angesteckt durch das böse Beispiel, hiervon eine Ausnahme
machte, und aus dem Laboratorium endlich kam gleich noch der
Klang eines Duetts von Heiland und Birkeland! Wann wird
einmal ein sicheres Mittel gegen diese Tugend gefunden, ein
sicher wirkendes Antischnarchol! Ich besaß ein solches Mittel,
konnte es aber leider nicht immer anwenden.
Schon um 7 Uhr am anderen Morgen waren wir aus den
Federn. Heute sollten Versuche mit den Planktonnetzen und
den hydrographischen Apparaten angestellt werden. Es klappte
alles vorzüglich. Ein Planktonnetz brachte eine Unmenge
kleiner Rippenquallen (Ctenophoren) herauf, und die Ozeano-
graphen hatten alle Hände voll zu tun, so schnell lieferte die
neue Motorwinde das Material an Deck. Hier war die Haupt¬
frage die gewesen, ob sich die Winde beim Einholen der In¬
strumente genügend rasch würde stoppen lassen, denn das ist
von Wichtigkeit, einmal damit die Apparate nicht gegen den
Davit geschleudert werden, der das Motorrad trägt und dann,
damit bei hohem Seegang nicht eine anlaufende Welle die In¬
strumente im Augenblick, wenn sie aus dem Wasser kommen,
an der Bordwand zerschlägt. Wir fanden nun, daß bei geschickter
Handhabung die Winde augenblicklich still steht, und da Armauers
Freibord nur etwa 1 m beträgt, so ist die Gefahr nur sehr gering
im Vergleich zu einem größeren Schiff mit hochliegendem Deck.
Tatsächlich ist uns denn auch ein derartiger Unfall nie passiert,
trotzdem wir draußen im Ozean oft bei sehr schlechtem Wetter
arbeiten mußten.
Nachmittags gegen 4 L'hr lagen wir für kurze Zeit an der
Landungsbrücke von Baiholm und wurden dort natürlich sofort
von wissensdurstigen Touristen geentert. Besonders auf Nansen
war es abgesehen; aber der war verschwunden. Welcher Raum
des Schiffes ihn aufgenommen hatte, weiß ich bis heute noch nicht,
Bericht über die Expedition des >Armauer Hansen«
25
als wir dann aber um 5 Uhr abfuhren, war er plötzlich wieder
da. Der Himmel hatte sich mit schwarzen Wolken bezogen, und
es schien, als ob ein heftiges Gewitter im Anzuge sei; aber es
war falscher Alarm; bald klärte es sich wieder auf und abends
hatten wir wieder prachtvolles Wetter zur Heimfahrt. Die Probe¬
tour hatte ausgezeichnete Resultate geliefert und daher durften
wir uns auch abends einen ordentlichen Griff in unseren »Wein¬
keller« gestatten. Die Stimmung war glänzend und erst spät
begaben wir uns zur Ruhe.
»Ja, wollen denn die Herren den ganzen Tag schlafen?« war
das erste, was wir am kommenden Morgen so gegen 9 Uhr ver¬
nahmen. Die gewichtige Frage kam aus Nansens Mund, der
im tiefen Negligee in seiner Kabinentür stand und voll Staunen
auf uns andere Schläfer blickte. Bald waren wir alle munter, nur
unser »Generaldirektor« Heiland macht morgens immer einige
Mühe beim Wecken, denn da schläft er am besten und selbst
Segelmanöver direkt über seinem Kopfe, Hammerschläge gegen
die Bordwand direkt an seinem Ohr, sollen, wie böse Menschen
behaupten, oft keine Wirkung haben. Endlich saßen wir alle
beim Frühstück und gegen 10 Uhr warfen wir wieder in Bergen
Anker. Nansen reiste bald darauf wieder nach Kristiania und
uns blieb der Rest des 24. und der 25. und 26. Juni noch zu
Vorbereitungen für die eigentliche Expedition. Die Änderungen
an der großen Winde wurden zur richtigen Zeit fertig und so
konnten wir denn am 25. abends bei Heliands Freund Nordahl
Olsen Abschied feiern.
Der 26. Juni brachte noch gehörig Arbeit. Es galt, alle
Gegenstände im Laboratorium seetüchtig verstauen, denn daß
Armauer nicht immer ruhig und unbeweglich im Wasser liegen
würde, wußten wir schon. Endlich gegen Abend war alles klar,
mit Ausnahme des Ankers, der sich in der Kette eines anderen
verankerten Schiffes verwickelt hatte; nach einer Arbeit von 2
Stunden war auch endlich dieses Hindernis beseitigt, die große
Fahrt hatte begonnen. Vorläufig sah es allerdinge noch nicht sehr
ernst aus. Eine ganze Reihe guter Freunde war noch an Bord und
aß mit uns zu nacht; sie kehrten später mit dem Motorboot der
Station nach Bergen zurück und erst spät kamen wir zur Ruhe.
Nur kurzer Schlaf war uns beschieden. Der Morgen des
27. Juni nahte mit all seinen Schrecken. Ich erwache gegen 4
26
Dr. M. Auerbach
Uhr mit dem Gefühle, daß mich jemand mit Gewalt aus dem Bett
werfen will; zugleich hatte die Hölle alle ihre Wohlgerüche aus-
gespieen! Das Schiff ist aus dem Fjord ins freie Wasser hinaus¬
gekommen und ist gerade richtig in einen lieblichen Südweststurm
hineingelaufen. Durch die heftigen Schwankungen wird das
Bodenwasser, das sich in jedem Holzschiffe findet, aufgewühlt und
sendet seinen Fäulnisgestank durchs ganze Schiff. Wenn man
1000 faule Eier auf einmal in einem engen Raume zerschlagen
würde, hätte man doch nur annähernd einen Begriff von dem
Gestank an Bord, man muß sich noch den Duft von Petroleum,
Maschinenöl und sonstigem dazu denken. »Nein, das soll der
Teufel aushalten.« Ich turne mit Lebensgefahr aus meiner Koje
und werde nun beim Ankleiden wie bei einem Indianertanz im
ganzen Salon herumgewirbelt, Stiefel und Kleidungsstücke müssen
mit viel List eingefangen werden; endlich bin ich soweit fertig,
um einen Blick an Deck werfen zu können. Dabei interessiert
es mich merkwürdigerweise ganz besonders, wann ich nun see¬
krank werde, ein Zustand, den ich bisher nur vom Ansehen kannte.
Dieses Mal aber packt es mich doch auch, d. h. Neptun fordert
einige substanzielle Opfer, aber zu meinem Vergnügen merke
ich, daß ich über meinen Zustand ganz zufrieden philosophieren
kann und eigentlich gar keine nennenswerten Schmerzen habe.
An Deck ist es recht ungemütlich; an freies Stehen ist nicht zu
denken; man muß sich irgendwo festhalten, dazu kommt Spritz¬
wasser über und es regnet. Aber ein Vergnügen ist’s doch,
unser Schiff im Sturm zu sehen und deshalb halte ich auch 2
Stunden oben aus. Die schwersten Seen werden spielend von
Armauer genommen und keine einzige Sturzwelle kommt an Deck.
Der Motor ist gestoppt und wir fahren nur mit kleinen Segeln,
kommen aber doch gut vorwärts. Allmählich wird’s oben aber
doch zu ungemütlich, und so turne ich dann langsam wieder
hinunter. Der Gestank hat sich glücklicherweise verzogen; er
hält nie lange an. Ameln und Johnsen sind scheußlich seekrank,
Heiland und Birkeland sind schläfrig und rühren sich kaum.
Da unsere Arbeit erst hinter Stornoway beginnt, habe ich auch
nichts zu tun und besteige meine Koje wieder, nachdem ich einige
Vorsorge getroffen habe, daß ich nicht hinausfliegen kann. Darauf
bin ich eingeduselt und habe feist den ganzen Tag und die folgende
Nacht ohne Unterbrechung wie ein Dachs geschlafen, mit Ausnahme
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen«
27
einiger kleiner Episoden, die durch Opfer an Neptun ausgefüllt waren,
die mich aber nicht weiter behelligten. Ich konnte vielmehr mit
Vergnügen feststellen, daß meine Seekrankheit sich in gemütlicher
Weise äußerte und sich jedenfalls bei einigem Zwang zu Arbeit
bald verkrochen hätte.
Am 28. war das Wetter etwas besser, wenn auch die See
noch recht hoch ging. Heiland, Birkeland und ich sind
wohlauf und lassen uns das Frühstück prächtig schmecken. Von
unserem Steward ist nichts zu sehen und zu hören, Harald und
Wilhelm bemühen sich, unsere Mägen zu befriedigen; sie erzählen
uns auch, daß der Steward seekrank vorn im Mannschaftsraum
liegt. Um meinen Körper wieder ins richtige Gleichgewicht zu
bringen, übernehme ich von 10—12 Uhr den Dienst am Steuer;
das ist bei hoher See eine ganz hübsche Arbeit und ist etwa
mit einer gleichlangen gymnastischen Übung zu vergleichen, denn
jede See will das Fahrzeug aus dem Kurs werfen, und das darf
natürlich nicht sein; deshalb muß das Rad unaufhörlich bald nach
Backbord, bald nach Steuerbord gedreht werden.
In der Nacht vom 28. auf den 29. passieren wir Sumburgh-
head, die Südspitze der Shetland-Inseln; als wir gegen 10 Uhr
an Deck kommen liegt Fair Isle hinter uns; wir sind im atlantischen
Ozean angelangt. Das Wetter ist schön, aber es steht noch eine
ziemlich hohe Dünung; später passieren wir das Light Flash Feuer
auf den Orkney Inseln und setzen den Kurs W. S.W. auf die
Hebriden. Johnsen hat sich nun auch erholt, während Ameln
und der Steward noch immer krank sind; unsere beiden Matrosen
haben wahrhaftig viel zu tun, sie müssen die Seemannsarbeiten
verrichten und dazu auch noch kochen; aber sie sind ihrer Auf¬
gabe gewachsen und erfreuen uns durch eigenartige aber gute
Gerichte, wie z.B. süßen Haferschleim mit Apfelsaft, eine Spezialität
Haralds. Der Koch aber bekommt keine so guten Sachen;
Kapitän Wilhelmsen braut ihm einen Teufelstrank, der ihn
kurieren soll; ich will diese Medizin doch zum Nutzen anderer
Seekranker hier bekannt geben: Man nehme ein großes Wasser¬
glas und fülle es halb mit Rizinusöl; dann fülle man mit Kampher-
tropfen auf, mische etwas Petroleum bei und »versüße« das Ganze
mit Apfelsaft! Es ging das Gerücht, daß der Steward dieses Gemisch
erst nach langem und eindringlichem Zureden geschluckt habe; ge¬
holfen hat es ihm nicht, aber auch merkwürdigerweise nicht geschadet.
28
Dr. M. Auerbach
Fig. 8. Stornoway vom Hafen aus.
Das Wetter besserte sich nach und nach immer mehr, und
als wir am 30. vorm, an der schottischen Westküste hinfuhren,
war prachtvoller Sonnenschein und ruhige See, so daß auch die
armen Kranken endlich erschienen, allerdings nur noch als Schatten
früherer Blüte. Abends um 7 Uhr warfen wir im Hafen von
Stornoway auf den Hebriden Anker. Die Stadt, welche ein paar
tausend Einwohner zählt, macht einen typisch englischen Eindruck.
Besonders beliebt scheinen als Verzierung die Chimney-pots zu
sein, die an allen möglichen und unmöglichen Stellen angebracht
sind. Birkeland zählte deren an einem kleinen Hause über 20;
in ebenso großer Anzahl sind Kirchen vorhanden. Uns interes¬
sierte besonders die Flotte der Heringsfischer, die nachmittags
ausläuft und am darauffolgenden Vormittag zurückkommt. Der
Fang wird teils von F'ischdampfern und teils von eigentümlich
gebauten aber eleganten Segelbooten besorgt. Für alle hatte das Land
insofern Interesse, als wir hier Post von zu Hause vorfanden und
die letzten Nachrichten vor der großen Fahrt an unsere Ange¬
hörigen senden konnten. F'ür Ameln endlich hatte der Ort noch
weitere Bedeutung; er wurde hier zurückgelassen, um für mich
möglichst viele Küsten fische als Vergleichsobjekte zu meinem nor-
Bericht über die Expedition des Armauer Hansen'
2Q
wegischen Material zu sammeln. Irgend etwas von Bedeutung
erlebten wir an Land nicht. An Bord hingegen wurde noch eifrig
gearbeitet; die Maschinisten nahmen den Motor auseinander, um
ihn nochmals gründlich zu reinigen; im Raum wurde die Ladung
neu gestaut; endlich wurde noch möglichst viel frischer Proviant
eingenommen. Am Abend des 2. Juli wurde Armauer an den
Quai verholt, um die Tanke alle mit Süßwasser nachzufüllen.
Außer der Mannschaft waren nur noch Birkeland und ich an
Bord. Da kommt Kapitän Wilhelmsen verzweifelt ins Labora¬
torium, gefolgt vom englischen Quaiaufseher. Wilhelmsen spricht
nur norwegisch und der Aufseher nur englisch; da ist eine Ver¬
ständigung schwer, und deshalb wurden wir zu Hilfe gerufen.
Uns sowohl wie Wilhelmsen wird zunächst klar, daß der Mann
Durst hat, aber nicht nach Wasser; deshalb rückt Birkeland
gleich mit der Whisky- und ich mit einer echten Schwarzwälder
Kirschwasserflasche ins Gefecht. Das imponiert der hohen Behörde
gewaltig, und abwechselnd spenden wir unsere Genüsse. Was der
gute Mann aber sonst noch will, bleibt uns unklar; sein Englisch
ist Dialekt und wird durch vorher schon verstaute Alkoholika
noch schwieriger, uns versteht er gar nicht. Drum lassen wir
Fig. 9. Englischer Hcringsfischer in Stornoway.
30
Dr. M. Auerbach
ihn einfach trinken und sorgen dafür, daß alle Tanke gut mit
dem sogen. Trinkwasser gefüllt werden, einer Flüssigkeit, die in
natürlichem Zustande schon braun ist, wie starker Tee. Als
dieses Geschäft besorgt ist, wobei alle unsere Kabinen zu s/ 4 unter
Wasser gesetzt sind, regt sich auch unser Mann wieder und heischt
Bezahlung und zwar für mehr, als wir überhaupt Platz in den
Tanken haben. Wilhelmsen spricht norwegisch und wird auch
endlich mit ihm fertig; um */* i Uhr schließt dann diese denk¬
würdige Episode, und wir kommen ins Bett.
Die definitive Abfahrt ist auf den Vormittag des j.Juli festgesetzt.
Es ist auch alles bereit; Ameln hat sich verabschiedet und soll
an Land gesetzt werden; der Motor ist klar zum Anlaufen. Da
taucht der Steward aus der Küche auf und spricht einige Worte
mit Heliand, worauf dessen Gesicht lang und länger wird. Was
los ist, sollen wir bald erfahren. Unser guter Koch fühlt sich
noch nicht gesund genug, um die große Tour mitzumachen und
verlangt an Land ins Spital zu kommen. Allgemein großes Er¬
staunen und wenig Gegenliebe! Aber was hilft’s. Heliand und
Johnsen fahren mit an Land, um die Aufnahme ins Spital zu
veranlassen und nach Ersatz zu suchen.
Birkeland und ich bleiben an Bord zurück. Da sehr wenig
Aussicht ist, hier einen andern Koch zu finden, machen wir uns
schon mit dem Gedanken vertraut, allein auf uns selbst angewiesen
zu sein, und in dieser Voraussicht inspizieren wir die vorhandenen
Vorräte und stauen sie so, daß wir sie stets gut finden. Unsere
Befürchtung trifft zu; als Heliand und Johnsen nachm. 4 Uhr
endlich zurückkommen, erfahren wir, daß alle Versuche umsonst
waren, wir müssen unsere Reise ohne Koch und ohne Aufwärter
antreten, d. h. also: »Ade alle Bequemlichkeit; es gibt jetzt ein
Zigeunerleben !* Daß die Reise schon an und für sich für empfindsame
Naturen kein Vergnügen sein würde, wußten wir von Anfang an;
man muß auf so manches verzichten, das einem sonst unentbehr¬
lich erscheint. So ist allein schon die Frage des täglichen Waschens
schwierig. Wir müssen mit einer Abwesenheit von 4 Wochen
rechnen, es können im ungünstigsten Falle aber auch 6—8 Wochen
daraus werden. Da heißt es mit dem Süßwasser sparen und an
Waschen mit solchem ist nicht zu denken. Seewasser nimmt aber
bekanntlich den Schmutz nicht fort, selbst nicht bei Verwendung
sogen. Seewasserseife; die Wascherei ist also nur eine Illusion und
Bericht über die Expedition des »Armaucr Hansen«
3
wir haben sie oft ganz bleiben lassen. Zum Rasieren leisteten
sich einige von uns alle 8 Tage ein kleines Rasierbecken voll
Süßwasser, und dieses wurde dann nachher noch zum Waschen des
Gesichtes und der Hände benutzt; man sieht daraus schon, sauber
waren wir nicht gerade, aber es war eben nicht anders zu machen.
Zu diesen körperlichen Unbequemlichkeiten kam nun durch
die Abwesenheit unseres Stewards noch manches hinzu. Es war
bestimmt worden, daß Harald und Wilhelm kochen sollten;
würden diese uns nun für die ganze Zeit mit ihren Künsten ge¬
nügen? Durch diese neue Aufgabe waren aber beide jetzt so
sehr mit Arbeit versehen, daß sie unter keinen Umständen noch
mehr aufgebürdet bekommen konnten, und so blieb denn die Auf¬
gabe der Reinhaltung unserer Wohnräume, das Auf- und Abschlagen
der Betten usw. uns selbst überlassen. Man sieht, daß unsere
Aussichten nicht gerade glänzend waren; es winkte neben der
wissenschaftlichen Arbeit noch manche Pflicht, die nicht jeder¬
manns Sache ist, aber trotzdem war die Stimmung an Bord vor¬
züglich; wir alle waren froh, fortzukommen, und mit gutem Willen
und einigem Humor kann man, wenn auch nicht alles, so doch
vieles ertragen.
Nachmittags halb 5 Uhr des 3. Juli wurden endlich die Anker
gelichtet, und wir schickten uns an, dem Anblick des Landes für
einige Zeit Lebewohl zu sagen. Das Wetter hatte sich inzwischen
verschlechtert und bei strömendem Regen glitten wir aus dem
Hafen. Draußen im Kanal zwischen Schottland und den Hebriden
sichteten wir die dreieckige Rückenflosse eines Fisches, die sich
nur ganz langsam bewegte; bei näherer Besichtiguug stellten wir
die Diagnose auf einen Mondfisch (Orthagoriscus inola), ein eigen¬
tümliches Tier mit merkwürdig gebautem Körper. Leider hatten
wir keine Harpune an Bord, um den Fisch zu erbeuten. Da das
Wetter andauernd schlecht blieb, gingen wir bald unter Deck und
verbrachten den Abend mit Lesen, Plaudern und Kartenspielen.
Letzteres Spiel nahm unheimlich überhand, und leider muß ich
bekennen, daß ich der Urheber war. Die einzigen Spiele, die ich
kann, sind Sechsundsechzig und eine Patience. Ersteres Spiel
kannte Heliand auch, und oft vertrieben wir beide uns die Zeit
damit; die Patience aber wurde Gemeingut und Landplage und
häufig konnte man Heliand, Birkeland und mich (Johnsen
spielte nie sondern schlief) abends am Tische sitzen und eine
32
Dr. M. Auerbach
Patience nach der andern legen sehen; es wurden da merkwürdige
Dauerrekorde aufgestellt.
Wollte ich den weiteren Verlauf der Reise in gleicher Aus¬
führlichkeit weiter schildern, so würde dieser Bericht zu umfang¬
reich werden, ich muß mich daher begnügen, in großen Zügen
unsere Erlebnisse zu erzählen.
Am 5. Juli morgens kamen wir in Sicht von St. Kilda, einer
kleinen Gruppe von Felseninseln westlich der Hebriden. Hier
sollte nun die eigentliche Arbeit beginnen, und es wurden daher
einige Netze in 75 m und 50 m Tiefe ausgesetzt; das Resultat
des Fanges dieser Station Nr. 1 waren im wesentlichen Crustaceen.
Von St. Kilda setzten wir Kurs auf Rockall, einen kleinen Felsen,
der etwa 20 m aus dem Ozean herausragt; der Fels krönt ein
ausgedehntes Plateau, das teilweise nur wenige Meter unter dem
Wasserspiegel liegt und deshalb für die Schiffahrt gefährlich ist.
Nachts steigerte sich der Wind abwechslungsweise einmal wieder
zu einem kleinen Sturm, der uns zwang, nur mit gerefften Segeln
zu fahren (der Motor wurde in Zukunft fast nur bei den Arbeiten
gebraucht); das störte uns aber weiter nicht, nur insofern hatte er
Bedeutung, als mitten in der Nacht die Wanduhr im Salon mit
furchtbarem Krach heruntersprang und wie rasend im ganzen
Raum herumsauste; wollte ich Ruhe haben, so mußte ich auf die
Jagd gehen, und es gelang mir auch endlich, den Störenfried ein¬
zufangen; ich nahm ihn zur Sicherheit mit ins Bett, denn von
hier aus konnte er wenigstens keinen Schaden mehr anrichten.
Die folgenden Tage sollten Untersuchungen des Meeres über
dem Rockall-Plateau gewidmet sein. Am Vormittag des 7. Juli
wurden mit den Nansen’schen Wasserschöpfern aus verschiedenen
Tiefen Wasserproben zur chemischen Untersuchung heraufgeholt
und zugleich mit Umkippthermometern die Temperaturen gemessen.
Nachmittags wurde das Rettungsboot ausgesetzt und über einer
Tiefe von ca. 300 m vorn und achter mit 2 Stahltrossen verankert,
so daß es ganz fest lag; Heiland, Birkeland und Olsen be¬
fanden sich in demselben, um Strommessungen vorzunehmen.
Wir anderen beneideten sie nicht um diese Arbeit, denn sie sollten
ununterbrochen 24 Stunden im Boot bleiben, um alle Arbeiten
auszuführen. Das Wetter war nicht prima, die See leicht bewegt,
und das Boot leckte einigermaßen, so daß alle halbe Stunde das
eingedrungene Wasser ausgeschöpft werden mußte. Unser Schiff
Bericht über die Expedition des »Armaucr Hansen
33
kreuzte während dessen immer in Sicht des Bootes, jedoch war
dieses auch mit Proviant und Wasser für mehrere Tage ausge¬
rüstet für den Fall, daß wir den Zusammenhang mit ihm ver¬
lieren sollten.
Wir an Bord benutzten unterdessen die Zeit zu anderen
Arbeiten. Abends setzten wir in 300 m eine Langleine (Grund¬
angel) mit 400 mit konservierten Clupea sprattus geköderten Angel¬
haken aus, um Grundfische zur Untersuchung zu bekommen.
Die Lage der Leine wurde durch 2 Bojen gekennzeichnet. Abends
wurde das Wetter unfreundlicher, und wir gedachten der 3 draußen
im offenen Boot, froh, an Bord zu sein, und krochen gegen 11
Uhr in unsere Kojen.
Schon um 4 Uhr am nächsten Morgen wurden wir durch
großen Lärm an Deck geweckt. Es war inzwischen eine sehr
kräftige Brise aufgesprungen und ein weiteres Verbleiben im Boote
unmöglich. Hungrig, müde und bis auf die Haut durchnäßt, kamen
die Ozeanographen wieder aufs Schiff, stärkten sich mit etwas
Schiffszwieback und begaben sich dann zur Ruhe. Jetzt begann
für uns Zoologen die Arbeit. Nachdem mit großen Schwierig¬
keiten das Rettungsboot in dem hohen Seegang wieder geheißt
war, ging es auf die Suche nach unserer Leine, und nach einiger
Zeit waren wir auch so glücklich, die eine Boje zu sichten.
Angetan mit unserem Ölzeug standen wir an Deck um die
gefangenen Fische gleich in Empfang zu nehmen und zu ver¬
arbeiten. Die Ausbeute war gut; sie bestand aus 52 Acanthias
vulgaris, 19 Pristiurus melanostomus , 3 Molva vulgaris und 3
Brosmius brosme. Es kostete viele Mühe im Regen und bei sehr
stark schwankendem Schiffe aus diesen Fischen die Gallen- und
Harnblasen herauszupräparieren und sie auch sonst zu untersuchen.
Nach und nach stellte sich auch Hunger ein, denn wir waren
seit 4 Uhr morgens tätig, hatten noch nichts im Magen, und
inzwischen war es 3 Uhr nachmittags geworden. Endlich um 4
Uhr waren die Ozeanographen wieder munter und ein gutes
Mittagsmahl entschädigte uns für alle Strapazen. Die Unter¬
suchungen auf der Rockall-Bank wurden als Station Nr. 2 bezeichnet.
Da das Wetter andauernd schlecht und stürmisch blieb, war
hier an weitere Arbeiten nicht zu denken, und so setzten wir den
Kurs westlich. Der nächste Tag, der 9. Juli, fand uns auf 56°
41' n. B. und 17 0 8' w. L. Zur Feier des Geburtstages unseres Groß-
Verhandlungen 26. Bd 3
34
Dr. M. Auerbach
herzogs wusch ich mich morgens mit Süßwasser und rasierte mich;
das Schiff hatte Flaggenschmuck angelegt. Im übrigen hatten wir
unser gewöhnliches Wetter, Regen und Sturm, so daß wir nur
mit doppelt gerefftem Großsegel und einfach gereffter Fock und
Besan fahren konnten. In ähnlicher Weise ging es in den folgenden
Tagen weiter. Das ungünstige Wetter konnte uns allerdings am
Arbeiten nicht abhalten; am 9. Juli hatten wir Station 3, am 10.
Juli Station 4, die uns die ersten echten pelagischen Fische lieferten,
am 11. Juli Station 4a und vom 12. auf den 13. sollte bei Station 5
(ca. 55 0 38' n. B. und 22 0 w. L.) ein ganz großer zoologischer Fang
ausgeführt werden. Eine Lotung mit dem »Lukas« ergab 2807 m
Tiefe und es wurden nun ausgesetzt: mit 3500 m Leine ein
Tobisvad; mit 2000 m Leine ein Planktonnetz von 1 m Durch¬
messer, mit 1500 m Leine ein Tobisvad, mit 1000 m Leine wieder
ein Planktonnetz, mit 600 m Leine ein Tobisvad, mit 300 m Leine
und an der Oberfläche noch je ein Planktonnetz. Alle freuten
wir uns auf das Heraufkommen des interessanten Fanges, aber
Wilh. Busch sagt ja schon: »Dieses Mal, wie überhaupt, kommt
es anders als man glaubt.« Wir saßen im Salon beim Grog und
legten Patience. Heiland ging einige Minuten an Deck, um
nachzusehen, ob mit den Netzen alles in Ordnung wäre; da kommt
er aber auch schon ganz still wieder herunter und verkündet,
daß beim Auslassen der letzten 20 m Stahltrosse der Wirbel,
welcher die außenbords befindlichen 3500 m Trosse mit den letzten
1500 m auf der Trommel der großen Winde verband, gebrochen
ist, und damit diese 3500 m Stahltrosse mit allen Netzen in die
Tiefe gesunken und auf immer verloren sind. Das war ein harter
Schlag für uns. Abgesehen von dem finanziellen Verlust, der
immerhin einige tausend Kronen ausmachte, hatten wir damit die
Möglichkeit verloren, in sehr großen Tiefen zu fischen. Es blieben
uns nur noch 1500 ni Leine, die Fischzüge bis zu 12 oder 1300 m
gestatten würde. Die Ursache des Bruches muß in einem Fehler
des Wirbels gelegen haben, denn die liefernde Firma hatte für
eine viel größere Zugfestigkeit garantiert, als durch den Zug der
Netze verursacht worden war. L T nd bei allem hatten wir doch
noch Glück im Unglück! Die Trosse brach unter Wasser, im
Augenblick als Heiland an Deck stand; wäre der Bruch an Deck
erfolgt, so würde er jedenfalls durch das zurückschnellende lose
Ende totgeschlagen worden sein oder hätte doch wenigstens einige
Bericht über die Expedition des ^Armauer Hansen«
35
Knochenbrüche davongetragen. Traurig und niedergeschlagen
gingen wir an jenem Abend zu Bette; aber unsere Devise war:
>Ja nicht unterkriegen lassen«, und ihr treu hielten wir am nächsten
Morgen Kriegsrat, was jetzt weiter zu tun wäre. Wir hatten zu
unseren Fängen noch 1500 m Trosse, das große Trawl, 2 Tobisvad
und eine große Zahl Planktonnetze; mit diesem Material konnten
wir Weiterarbeiten und auch alle pelagischen Oberflächen- und
Tiefseefische erbeuten, da vom Boden bis ca, 600 m von der
Oberfläche die Fauna ziemlich gleichartig ist; nur die eigentlichen
Grundfische waren für uns nun nicht mehr erreichbar, aber diesen
Verlust konnten wir' verschmerzen, da die Boden-Fisch-Fauna nur
eine recht spärliche ist. Jedenfalls können wir auch mit unseren
Fangresultaten nach dem großen Unglück recht zufrieden sein.
Die Netzanordnung wurde in Zukunft so getroffen, daß wir in
1300 m ein Tobisvad, in 1000, 600, 150 und 10 m je ein Plankton¬
netz hatten. Das Aussetzen der Netze dauerte etwa 2 Stunden;
ebensoviel Zeit erforderte das Einholen; die Dauer des Schleppens
schwankte, meist betrug sie 6—8 Stunden; es wurden Tages¬
und Nachtfänge unternommen.
Noch ein Umstand machte sich durch den Verlust der Stahl¬
trosse bemerkbar, der unter Umständen hätte ungemütlich werden
können. Unsere Kompasse zeigten nicht mehr richtig. Sie waren
korrigiert worden, als alle Trosse an Bord war, und nun wurden
sie durch die Abwesenheit so großer Eisenmassen etwas toll; aber
dank der Geschicklichkeit von Kapitän und Steuermann erwuchs
uns auch hieraus keine Gefahr, und wir sind später ganz genau
wieder an unseren Ausgangspunkt, St. Kilda, zurückgekommen,
trotzdem wir während 8 Tagen keine astronomischen Beobachtungen
machen konnten.
So waren wir denn stets unter Segel bei meist schlechtem
Wetter immer weiter nach Westen gekommen, so viel wie mög¬
lich arbeitend und die Fänge konservierend; am 20. Juli hatten
wir einen schönen Tag mit Sonne, die uns eine Ortsbestimmung
gestattete, unsere Position war 31 0 7' w. L., 5,5 0 51' n. B.; wir waren
also schon weiter als ursprünglich bestimmt war; was sollten wir
nun tun? Mit Motor und Segel hätten wir in 3 Tagen bequem
Grönland erreichen können, und wir behandelten allen Ernstes
die Frage, ob wir hinfahren sollten. Zuletzt siegte aber doch die
Überlegung, daß wir wissenschaftlich davon nichts profitieren
36
Dr. M. Auerbach
könnten, denn zum intensiven Untersuchen der Meeresabschnitte
bis nach Grönland hätten wir doch nicht Zeit gehabt. Darum
beschlossen wir, umzukehren und den Kurs von nun an mehr
nordöstlich zu halten. Bestimmend bei diesem Entschlüsse waren
auch die Ernährungsverhältnisse an Bord. Bei dem mit geradezu
raffinierter Bosheit stets herrschenden schlechten Wetter hatten
unsere Seeleute einen sehr schweren Dienst, und Harald und
Wilhelm sollten dabei abwechselnd auch noch 3mal am Tage
kochen; daß dabei keine großen Festmahle zustande kamen, ist
klar, und nach und nach wurde uns die Kost etwas einförmig.
Da faßten wir denn einen großen Entschluß. Heliand und ich
übernahmen, teilweise wenigstens, die Küche. Ich glaube, daß
alle hierdurch gewannen. Heiland war geradezu ein Künstler;
aus nichts machte er die schönsten Gerichte; so fabrizierte er
eines Abends Eierkuchen ohne Eier nur aus Mehl, Wasser, Milch
und Zucker, und niemand würde gemerkt haben, daß der Haupt¬
bestandteil fehlte! Meine Spezialität waren Pommes frites, aber
im Verein brachten wir noch manche schöne andere Speise zustande.
So einfach war die Kocherei allerdings nicht. Die Küche
ist ein kleiner Raum von ca. 1,5 m Länge und 1 m Breite; gekocht
wurde nur auf Petroleum-Primus-Brennern, die in kardanischer
Aufhängung hingen. Ein Primus war Tag und Nacht konstant
von einem großen Kaffeetopf besetzt, denn Kaffee wurde stets
und zu jeder Zeit von allen, besonders aber vom Kapitän getrunken.
So blieb noch eine Flamme frei, und auf dieser mußte sich die
ganze Kocherei abwickeln; ich weiß noch, wie wir geschwitzt
haben, als wir eines Abends für das ganze Schiff 30 Pfannkuchen
backen mußten; abends um 1 l i S Uhr gings los und um 7 * 12 Uhr
kamen wir selbst zum Essen; von 5 zu 5 Kuchen lösten wir uns
ab, denn die Hitze und der Rauch waren ziemlich bedeutend.
Erschwert wurde die Kocherei noch durch die starken Bewegungen
des Schiffes bei dem fast anhaltenden Sturm. Mit den Füßen
und dem Rücken mußte man sich irgendwo festklammern, damit
man nicht hinausgeschleudert wurde, und mit den Händen konnte
man rühren und schaffen, wenn man nicht gerade damit das
Geschirr vor dem Hinunterfallen schützen mußte. Da ist mancher
Teller und manches Glas hinübergegangen, und oft bin ich beim
Kartoffelschälen zusammen mit dem Eimer und allen wild
gewordenen Kartoffeln auf dem Deck herum gekugelt, natürlich
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen«
37
unter dem brüllenden Gelächter der anderen Leckermäuler, die
wohl essen aber nicht kochen wollten. Ja, es war doch eine
schöne Zeit!
31 ° 7' w. L. war also unser äußerster Punkt; von hier an fuhren
wir in nordöstlicher Richtung. Während Heiland auf dieser west¬
lichsten Station Nr. io ozeanographische Untersuchungen voraahm,
hatten wir Zoologen eine interessante ornithologische Erscheinung
zu verzeichnen. Unsere einzigen tierischen Begleiter draußen auf
dem offenen Ozean waren bisher fast ausschließlich Sturmvögel der
Art Fulmarusglacialts und einige große Raubmöven gewesen, deren
genaue Artzugehörigkeit nicht festzustellen war; ich schoß zwar
eine derselben, konnte sie aber nicht an Bord holen, da momentan
kein Boot zu Wasser gelassen werden konnte. Hier nun, in einer
Entfernung von mindestens 20 Längengraden vom nächsten Lande,
umkreiste plötzlich ein Brachvogel (Numenius hudsonicus?)
einigemale unser Schiff, um dann in südwestlicher Richtung zu
verschwinden. Die Flügelschläge des Vogels waren regelmäßig
und kräftig; er schien also nicht ermüdet zu sein. Jedenfalls w T ar
das Tier mit den westlichen Winden von Amerika zu uns hinaus¬
gekommen. Die uns begleitenden Sturmvögel waren außerordentlich
vertraut; wenn wir auf den Stationen arbeitend still lagen, kamen
sie wie zahme Enten bis auf 1 m ans Schiff heran und gestatteten
mir so, einige gute photographische Aufnahmen von ihnen zu
machen. Ganz anders verhielten sich die gleichen Arten an der
Küste; hier umkreisten sie wohl in raschem Fluge das Fahrzeug,
ließen sich aber nie so nahe bei ihm auf dem Wasser nieder; sie
hatten wohl schon schlechte Erfahrungen gemacht.
Natürlich wurde der westlichste Punkt unserer Expedition
auch durch ein entsprechendes Festmahl und einer Flasche
Champagner gefeiert. Die Station 11 auf ca. 56° n. B. und 30'/ 4 °
w. L. am 21. Juli lieferte auch ausgezeichnete zoologische Aus¬
beute; wir bekamen hier eine ganze Reihe besonders schöner und
typischer pelagischer Fische; dabei war das Wetter sehr stürmisch
und das Bergen der Netze gestaltete sich sehr schwierig, ebenso
die Bearbeitung der Fänge. Als wir mit ausgesetzten Netzen
langsam fuhren, passierte uns in nicht sehr großer Entfernung
ein großer englischer Passagierdampfer, das dritte Schiff, welches
wir die ganze Zeit über in Sicht bekamen. Wir signalisierten
hinüber, um zu bitten, daß er auf drahtlosem Wege unser Wohl-
38
Dr. M. Auerbach
befinden nach Bergen berichten möge, aber da ja der Herr Eng¬
länder nichts von uns wollte, fuhr er ohne jede Antwort und ohne
seine Flagge zu zeigen, ruhig weiter. Inzwischen nahm der Sturm
immer mehr zu und gestaltete das Nachtessen sehr schwierig.
Mit dem Essen war es überhaupt stets so eine Sache. Ruhig
lag das Schiff ja nie, und wenn hoher Seegang war, wie meistens
und z. B. auch heute, so ging keine Mahlzeit, ohne Zwischenfälle
ab. Selbstverständlich war der Tisch stets mit Schlingervorrichtung
versehen, aber die Bewegungen waren doch oft so stark, daß
man kein Glas stehen lassen konnte; wir mußten stets sofort aus¬
trinken und das leere Glas dann hinlegen. Daß fast täglich die
Kaffee- oder Teekanne vom Tische sprang, und die halbe Suppe
und die Kartoffeln es sich auf unserem Schoß gemütlich machten,
waren so gewöhnliche Erscheinungen, daß wir sie gar nicht mehr
beachteten. Johnsen hatte es am schlimmsten; er saß in Lee
des Tisches auf einem nicht festgeschraubten Stuhle und hatte
nach und nach große Übung darin erlangt, sich mit den Knien
am Tische festzuklemmen und dadurch sicher zu verankern; aber
es ereignete sich doch häufig, daß er plötzlich verschwunden war,
und seinen Corpus in Heilands Kabine zusammensuchen konnte;
meist begleitete ihn dabei sein Teller, Messer und Gabel in treuer
Anhänglichkeit. Wer den Schaden hat, braucht für Spott nicht
zu sorgen! Aber einmal ging es selbst mir schlecht, der ich
Johnsen gegenüber auf dem Steuerbordsopha saß. Ich wollte
gerade Birkeland einen Aquavit einschänken, als eine plötzlich
anlaufende hohe See zunächst Johnsen unsichtbar machte und
zugleich mich vom Sopha unter den Tisch beförderte; geistesgegen¬
wärtig hielt ich wenigstens die Flasche und das gefüllte Glas in
die Höhe, so daß diese beiden Gegenstände im Verein mit meinen
Unterarmen und Händen das Einzige war, was meine Gegenwart
bezeugte. Mit rührender Sorgfalt retteten Heliand und Birke¬
land Flasche, Glas und Inhalt; wir armen Zoologen mußten
selbst sehen, wie wir wieder ans Tageslicht kamen.
Geradeso schwierig wie das Essen war auch das Schlafen.
Solange Armauer ruhig lag, ging es vorzüglich; anders wurde
es aber im Seegang. Natürlich bauten wir uns mit Brettern jeden
Abend eine Schutzwand, die uns vor dem Herausgeworfenwerden
bewahrte, aber das genügte oft nicht. Meine Koje lag in der
Längsrichtung des Schiffes, und wenn nun die See hochging, und
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen«
39
das Schiff schlingerte, so rollte ich in meinem Bett hin und her
wie eine Zigarre in einer leeren Kiste. Wenn daher Sturm war,
baute ich mir mit Brettern und Matratzen noch ein besonderes
Sturmbett, das so schmal war, daß ich fest eingeklemmt war und
nun ohne zu rollen wie in einer Wiege schlafen konnte. Birke¬
land und Johnsen lagen querschiffs. Sie haben sich zu Akro¬
baten anderer Art ausgebildet; einmal standen sie fast senkrecht
aufrecht, dann aber fanden sie sich in der nächsten Minute in
umgekehrter Stellung, d. h. die Füße waren oben. Die beigefügte
Zeichnung unserer Lage bei einer Neigung des Schiffes von 50°
zur Horizontalen wird diese Angaben am besten illustrieren.
Trotzdem haben wir immer gut geschlafen; nur wurde ich wenig¬
stens einmal in der Nacht geweckt, wenn beim Wachewechsel
Segelmanöver ausgeführt werden mußten, und 5 Menschen in
ihren schweren Seestiefeln unmittelbar über meinem Kopfe herum¬
trampelten; an dieses Geräusch habe ich mich nie ganz gewöhnt;
die anderen dagegen sind davon fast niemals aufgewacht!
Am 22. und 23. Juli hatten wir zur Abwechslung einmal
Nebel und damit auch eine neue schöne Musik, denn von 5 zu
5 Minuten wurde an Deck mit Liebe und Gefühl das Nebelhorn
geblasen. Wenn auch die Wahrscheinlichkeit, hier auf Schiffe zu
Fig. 10.
40
Dr. M. Auerbach
treffen, fast gleich o war, so mußte diese Vorsicht doch sein. Am
Nachmittag des 23. auf dem 57 0 58' n. B. und 25 0 35' w. L.
(Station 13) fiel der Barometer plötzlich sehr stark, und zugleich
nahm der Wind zu. Birkeland, unser Meteorologe, der im Pro¬
phezeien von Stürmen schon einige Übung erlangt hatte, kündete
diesmal einen Generalsturm an, und so kam es auch. Wir sind
mit unserem Schiff an diesem Abend und in der anschließenden
Nacht ganz gehörig umhergetanzt, aber trotzdem war es nicht
ungemütlich. Die Bewegungen unseres braven Armauer Hansen
waren bei allem doch so sanft, daß ein unbehagliches Gefühl gar
nicht aufkommen konnte, und ich erst an den Generalsturm
glaubte, als mich auch Kapitän Wilhelmsen hoch und heilig
versicherte, daß es wirklich so wäre. Stehen, liegen und sitzen
war schon so oft schwierig gewesen, daß es heute gar nicht be¬
sonders auffiel und als Heliand zum Nachtessen mit einem fa¬
mosen Kartoffelsalat auftauchte, war unsere einzige Sorge, uns
dieses herrliche Fabrikat auch möglichst ohne Verlust einzuverleiben.
Dann gingen wir ins Bett, weil wir da am ruhigsten lagen, lasen
noch einige Stunden und schliefen endlich sanft ein, die Sorge
um das Schiff unserer guten Mannschaft überlassend.
In diesem starken Sturm hat sich Armauer ganz vorzüglich
gehalten, wir sind die ganze Zeit über nur mit dem Sturmklüver
und doppelt gerefftem Großsegel gefahren und sind nur in der
Hundewache beigedreht, aber nicht etwa, weil Wind und See für
unser Schiff zu schwer wurden, sondern weil Wilhelmsen ruhig
schlafen wollte!
Am 24. flaute der Wind langsam ab, und am 25. hatten wir
einmal einigermaßen ordentliches Wetter; an diesem Tage befanden
wir uns auf ca. 5S 0 40' n. B. und 20° 55' w. L. und arbeiteten
auf Station 14. Die Ausbeute war eine sehr gute und ich zeigte
zum erstenmal die Güte und Brauchbarkeit unseres Laboratoriums
für feine anatomische Arbeiten (trotz Seegang), indem ich mit der
Präparierlupe von einer größeren Anzahl gefangener Cyclothone
microdon die Gallenblasen herauspräparierte. Der Leser dieser Zeilen
darf sich überhaupt aus den vorliegenden Schilderungen nicht etwa
vorstellen, daß wir uns an Bord die ganze Zeit über nur amüsiert hätten;
das war natürlich nicht der Fall; aber ich kann ja nicht immer
schreiben, daß wir die und diese Netze aussetzten und diese und jene
Fische bekamen und präparierten usw., das würde nur ermüden;
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen«
41
ich greife die Erlebnisse heraus, die allgemeines Interesse haben.
Die wissenschaftlichen Resultate werden an anderer Stelle ge¬
schildert.
Der 26. Juli brachte ebenfalls einigermaßen gutes Wetter und
am 27. mußten wir nach unser Berechnung wieder in der Nähe
von Rockall sein; die Position war nach Schätzung 58° 28' n. B.,
14 0 20' w. L. Eine Lotung mit »Lukas« bei Aufnahme der Station
16 gab bei 275 m Grund; damit wußten wir, daß wir uns über
dem Rockall-Plateau befanden; den Felsen selbst aber sichteten
wir nicht; da wir uns ihm von NW. her näherten war Vorsicht ge¬
boten, denn die Untiefen liegen im N. und NO., abends loteten
wir nochmals, fanden aber bei 500 m keinen Grund und eine um
io'/4 Uhr nachts vorgenommene Lotung ergab 1677 m. Jetzt war
die Frage: »Sind wir westlich oder östlich auf der Bank?« Im ersten
Falle ist die Situation etwas kritisch, weil die Untiefen noch vor
uns liegen; im letzten Falle dagegen ist keine Gefahr; wir haben
dann am Tage bei dem unsichtigen Wetter den Felsen schon im
NO. passiert. Astronomische Bestimmungen waren bei dem be¬
wölkten Himmel unmöglich, und so mußte uns das Lot helfen.
Bis 12 Uhr nachts nahmen wir rein östlichen Kurs; dann sollte
gelotet werden; hatte die Tiefe gegen früher sehr stark abge¬
nommen, so mußten wir uns dem Felsen nähern; blieb sie jedoch
ungefähr gleich oder nahm zu, so waren wir in der Rinne zwischen
Rockall und England. Um Mitternacht ging also das Lot hinab;
es ist klar, daß wir alle voll Spannung an Deck waren, 100 um
100 m rollten ab, und erst bei 1655 m fanden wir Grund. Damit
war unsere Position festgelegt; wir konnten ohne Gefahr den öst¬
lichen Kurs beibehalten. Zu unser aller Bedauern haben wir den
Felsen selbst nicht zu Gesicht bekommen, aber es lohnte sich
auch nicht, nach ihm zu suchen, und daher gingen wir weiter,
um den 28. noch den Untersuchungen in der Rockall-Rinne zu
widmen. (Stat. 17.) In der Nacht vom 28. auf den 29. sichteten wir
den ersten Fischdampfer seit 4 Wochen und wußten damit, daß wir
uns wieder bewohnten Gegenden näherten; am 29. wurde noch eine
kurze ozeanographische Station (Nr. 18) genommen und darnach
war die Devise: »Zurück nach Stornoway«. Im Laufe des Tages
mußte Land in Sicht kommen und derjenige, der es zuerst sich¬
tete, sollte Stoff zu einer neuen Hose bekommen. Alles schaute
voll Eifer aus mit Ausnahme von Wilheimsen, der schlief und
42
Dr. M. Auerbach
Kaffee trank. Ganz verschlafen kam er endlich an Deck und
erkundigte sich, wer denn nun die Hose habe. »Noch niemand«
war die Antwort; »nun, dann habe ich sie«, meinte er verschmitzt
lächelnd und deutete auf St. Kilda, das gerade groß und mächtig
aus dem Nebel auftauchte. Am 5. Juli waren wir von hier aus¬
gegangen und am 29. Juli kamen wir ganz programmäßig genau
an unseren Ausgangspunkt zurück! Die Navigation war also
keine schlechte gewesen.
Hier wurde noch eine kurze ozeanographische Station (Nr. 19)
genommen, und dann sollte es mit allen Segeln nach Stornoway
gehen. Aber auch jetzt kam es wieder anders, als wir glaubten.
In dem Augenblick, als gerade auch das Topsegel geheißt war,
flaute der Wind vollständig ab, und mit schlagenden Segeln lagen
wir unbeweglich fest. Unsere Hilfe mußte nun allein beim Motor
liegen, aber dessen Vorrat an Süßwasser war auf gebraucht, und
Seewasser durfte nicht verwendet werden. Glücklicherweise waren
wir mit unserem Trinkwasser sparsam gewesen, so daß wir von
diesem 2 Tanke an den Motor abtreten konnten. Nachdem das
Wasser umgefüllt war, kam denn auch die Maschine bald in
Gang, und fort gings gen Stornoway.
Man wird nun glauben, daß wir uns sehr nach dem Land
gesehnt hätten, dessen Anblick wir ja 4 Wochen entbehrt hatten.
Ich muß jedoch, für meine Person wenigstens bekennen, daß dies
nicht der Fall war. Das einzige, was mich an Land zog, war
das Verlangen, Nachricht von zu Hause zu erhalten, dorthin auch
von mir zu geben, ein möglichst heißes und ausgiebiges Bad zu
nehmen und einmal etwas anderes zu essen. Hätte ich das alles
an Bord haben können, ich hätte das Land mit keinem Schritte
betreten und wäre gern noch 4 Wochen lang draußen geblieben.
Unser Steuermann als echter Seebär hat denn auch von Bergen
bis Bergen den festen Boden nicht eine Sekunde betreten, selbst
nicht, als er auf der Rückreise in Stornoway eine neue Mütze
brauchte; diese ließ er sich von Harald, der den gleichen Kopf¬
umfang hatte, aus der Stadt mitbringen. Ich selbst bin auch nur
2 mal zu obigen Zwecken kurz in der Stadt gewesen.
Der nächste Tag (30. Juli) brachte uns bei gutem Wetter
abends gegen l ! 2 8 Uhr nach Stornoway. Vorher hatten wir uns
natürlich fein gemacht. Der Rest unseres Süßwassers machte
die zutage liegenden Teile unserer corpora blendend weiß, der
Bericht über die Expedition des -Armauer Hansen«
43
gewucherte Bart schwand unter dem Rasiermesser und unsere
guten Anzüge machten uns zu noblen Kerlen. Beim Ankern
wurden wir gleich von Ameln und dem wieder ganz hergestellten
Steward begrüßt, die uns auch gleich unsere Post aushändigten
und berichteten, was sonst in der Welt vorgefallen war. Abends
vereinigte uns ein Festmahl im Imperial-Hotel. Der nächste Tag
war der eigenen Reinigung und der des Schiffes und Motors
gewidmet; alles erstrahlte wieder in Schönheit und präsentierte
sich würdig den neugierigen Blicken der seekundigen Engländer,
die natürlich der Fahrt unseres winzigen Schiffchens hinaus in den
Ozean großes Interesse entgegengebracht hatten. Bezeichnend ist
dabei, daß Ameln während der ganzen Zeit seines Aufenthaltes
von der niederen Bevölkerung mit Mißtrauen beobachtet worden
war; er wurde für einen deutschen Spion gehalten, und die Kinder
riefen ihm das oft auf der Straße nach. Trotzdem aber hat er
die Zeit seines Landaufenthaltes großartig ausgenützt und für mich
ein prachtvolles Material von Küstenfischen (d. h. deren Gallen- und
Harnblasen) gesammelt.
Am i. August war Armauer wieder seeklar und nachmittags
4 Uhr verließen wir unter dem Tücherwinken der jungen Damen,
deren Bekanntschaft Ameln inzwischen gemacht hatte, den Hafen,
um möglichst rasch nach Bergen zu kommen. Zu Heilands
Entsetzen benahm sich unser Schiff wie ein alter Droschkengaul,
der den Stall wittert. Mit Motor und Segel kämen wir rasch
vorwärts, alles klappte immer; der Motor streikte nie und lief nie
warm, was früher manchmal vorgekommen war. So kam es denn
auch, daß wir unglaublich schnell die Nordsee überquerten und
schon am 4. August morgens um 1 / z 6 Uhr in Bergen vor der
biologischen Station Anker warfen. Niemand hatte uns erwartet,
und so war alles sehr erstaunt, uns wieder wohlbehalten zu Hause
zu sehen. Ich hatte die Zeit der Überfahrt benutzt, um meine
Instrumente etc. für die Heimfahrt zu packen, und das war gut;
denn auf dem Bureau der Dampfschiffrheederei erfuhr ich, daß
am gleichen Abend um 6 Uhr der Postdampfer »Sverre Sigurdssön«,
ein alter lieber Bekannter, nach Hamburg abgehen würde. Sofort
belegte ich einen Platz; allerdings war keine Kabine mehr frei,
und ich mußte mich mit einem Bett im Salon begnügen; aber
was wollte das nach unserer Tour besagen! Der an sich kleine
Dampfer erschien mir wie ein Koloß, und das Bewußtsein, für
44
Dr. M. Auerbach
gar nichts mehr sorgen zu müssen und sich nur bedienen lassen
zu können, war mir zunächst ganz befremdlich.
Rasch waren alle notwendigen Geschäfte abgewickelt, und
ein solennes Essen vereinigte uns alle noch einmal mittags im
Grand-Hotel. Dann gings ans Abschiednehmen. Auf Deck des
Dampfers schüttelten wir uns zum letzten Male die Hände und
langsam entschwand Bergen mit all seinen lieben Freunden meinen
Blicken. Über die Heimfahrt ist nichts mehr zu berichten; sie
verlief ohne jeden Unfall, und Donnerstags vormittags, 7. August,
konnte ich nach genau 3 monatlicher Abwesenheit gesund und
munter die Meinigen wieder zu Hause begrüßen.
Zusammenstellung
der durch die Expedition erlangten Resultate.
I. Zoologische Reiseausbeute.
Ich kann hier im wesentlichen nur eine Liste der von uns
gesammelten Fische geben, da die Verarbeitung der Wirbellosen
ziemlich lange Zeit beanspruchen wird; von ihnen werde ich deshalb
nur einige besonders interessante Stücke ganz kurz erwähnen.
Auch die Zusammenstellung der Fische kann nur eine provisorische
sein, da die Zeit zur definitiven Bearbeitung noch nicht ausreichte;
daher kann es auch möglich sein, daß da und dort noch einige
Änderungen vorgenommen werden müssen. Die Liste gibt nur
eine einfache systematische Aufzählung, da die Diskussion der
faunistischen und geographischen Fragen durch einen von uns
jedenfalls an anderem Orte geschehen wird. Der Kenner kann
jedoch aus meinen heutigen Angaben schon manches ersehen, das
auf die geographische Verbreitung der pelagischen und Boden¬
fische ein neues Licht wirft. Besonders wird er finden, daß viele
Arten von uns bedeutend nördlicher nachgewiesen werden konnten,
als man bisher annahm. Besonders sei auf die Parabrotula
plagiophthalmoidcs Zugmeier hingewiesen, die bisher nur einmal
gefangen und nur in einem einzigen Exemplare bekannt war.
Die Bestimmung der Fische geschah teils von mir teils von
Johnsen schon während der Reise an Bord. Dann hat Johnsen
das ganze Material in Bergen nochmals einer genauen Revision
unterzogen und die Arten bestimmt, die wir an Bord nicht iden-
Bericht über die Expedition des Armauer Hansen«
45
tifizieren konnten. Wenn man in Betracht zieht, daß wir im
ganzen nur 4 Wochen arbeiten konnten, stets von schlechtem
Wetter begleitet waren, durch Bruch der Stahltrosse und Verlust
vieler Netze einen empfindlichen Schaden erlitten und auch in
nur verhältnismäßig schwach bevölkerten Meeresabschnitten fischten,
so muß man zugeben, daß unsere Ausbeute eine sehr gute zu
nennen ist, besonders, wenn man sie mit den Ergebnissen vieler
anderer bedeutend größerer Expeditionen vergleicht* (z. B. »Valdivia«
von 1898—1899 in fast allen Meeren mit insgesamt 90 Gattungen
und 206 Arten).
a) Erbeutete Fische.
(Die genaue Herkunft usw. wird später in einer besonderen Arbeit gegeben.)
I. Elasmobranchii.
Ordnung Plagiostomi.
Unterordnung SelachiL
a) Scyllidae: 1. Pristiurus vielanostomus Bon.
b) Spinacidae: 1. Acanthias vulgaris Risso.
II. Teleostomi.
Ordnung Teleostei.
Unterordnung Malacopterygii.
a) Clupeidae: 1. Clupea harengus; 2. Clupea sprattus.
b) Salmonidae: 1. Argentina silus Nilss. juv.; 2. Bathytroctes sp.
juv.; 3. Bathylagus benedicti Goode und Bean.
c) Stomiatidae: 1 . Slomias boa Risso; 2. Chauliodes sloanei Bloch
und Schn.; 3. Astronestes sp.
d) Sternoptychidae: 1. Cyclothotte sign ata Garm.; 2 .Cycl.microdon
Günth.; 3. Cycl. m.pallida Brauer; 4 . Argyropelecus olfersi Cuv.;
5. Arg. hemigymnus Cocco.
Unterordnung Apodes.
a) Muraenidae: i. Leptocephalus Anguillae vulgaris .
b) Nemichthyidae: i. Serrivomer sector Garm.
Unterordnung Haplomi.
a) Scopelidae: \. Myclophum arcticum Lüth.; 2. M.glaciale Reinh.;
3. M. punctatuvi Raf.; 4. Lantpanyctus alatum? Goode u. Bean;
5. Lampadena nov. sp.?
* Besonders muß noch hervorgehoben werden, .daß ein großer Teil der von uns
gefangenen Fische sich durch die ganz vorzügliche Erhaltung auszeichnet.
4^
L)r. M. Auerbach
Unterordnung Catosteomi.
a ) Syngnathidae: i. Nerophis aequoreus L. juv.
Unterordnung Anacanthini.
a) Macruridae: i. Coryphaenoides (Macrurus) sp, juv. (2 — 3 Arten).
b) Gadidae: 1. Gadus callarias L.; 2. G. aeglefinus L.; 3. G, mer-
langus L.; 4. G. mtnulus; 5. Älolva rnolva L.; 6. Brosmius
b ros me Ascan.
c) Brotulidae: 1. Parabrotula plagiophthalmoidcs Zugm. (bisher
nur in einem einzigen Exemplar gefangen).
Unterordnung Acanthopterygii.
a) Berycidae: 1. Mclamphaesmizolepis Günth.; i.Af.viegalops Lüthk.
bjSparidae: 1. Pagellus centrodontus Cuv.
c) Scombridae: 1. Scomber scombrus .
d) Pleuronectidae: 1. Pleuronectes platessa .
e) Triglidae: 1. Trigla sp.
Das sind also im ganzen 26 Gattungen mit etwa 39 verschie¬
denen Arten; dazu kommt dann noch eine Anzahl Fischlarven,
die noch nicht bestimmt wurden*.
Gesehen haben wir dann ferner noch einen Mondfisch (Ortha -
goriscus mola L.) vor Stornoway und einen großen Hai, jedenfalls
einen Menschenhai (Care har ins glaucus L.) an der schottischen Küste.
b) Zusammenstellung einiger gefangener Wirbelloser.
Wie schon erwähnt, gebe ich hier nur eine ganz kleine willkürliche Auswahl aus dem
noch unbearbeiteten Material.
Medusae.
Pcriphyllia hyacinthina Steenstr.
Actiniae.
Arachnactis albt da M. Sars.
Vennes.
Verschiedene Species von Sagitta; verschiedene Nemertinen.
Crostacea.
Gigantocypns agassizii G. W. Müller; Phronima sp.; Eryoncicus
Sp.y usw. usw.
' Wenn man die erbeuteten Küstenfische nicht berücksichtigt, so bleiben uns
ib Gattungen mit 25 Arten, die wir in Zeit eines Monats in einem verhältnismäßig
kleinen Meeresabschnitte fingen (Vergl. damit das Material der *Yaldtvia*, gefangen
während 9 Monaten lind in fast allen Meeren, pag. 43).
Bericht Ober die Expedition des > Armauer Hansen -
47
Pteropoda.
Clio pyramidata L.; Clione limacina Phipps.
Cephalopoda.
Verschiedene Gattungen und Arten.
c) Aufführung einiger während der Fahrt beobachteter Vögel.
Die im Folgenden gegebene kurze Liste von Vögeln, die
unterwegs beobachtet wurden, macht durchaus keinen Anspruch
auf Vollständigkeit. Wir sahen viel mehr Arten, als ich hier an¬
gebe; da wir aber wegen des schlechten Wetters fast nie Boote
aussetzen konnten, um geschossene Exemplare an Bord zu holen,
unterblieb die Jagd auf dieselben fast ganz, und deshalb war sehr
oft auch eine genaue Bestimmung unmöglich.
In der Nähe der Küsten wurden beobachtet:
Somateria mollissima Leach.; Sula bassana Gray.; Phalacrocorax
carbo L.; Fulmarus glacialis Steph.; Pitffinus anglorum Temm.;
Lestris sp.; Larus argentatus Brünn.; L. marinus L.; L.fuscus L.;
Z. ridibundus L.; Kissa tridactyla Bp.; versch. Species der Gattung
Sterna; Frater cula arctica 111 .; Uria lonivia Brünn, und andere
Species von Uria.
Draußen auf dem Ozean sahen wir nur:
Fulmarus glacialis Steph., diesen allerdings stets in großer Menge,
in verschiedenen Altersstadien und ganz außerordentlich vertraut,
so daß die Tiere oft bis auf i m ans Schiff herankamen und sich
wie zahme Enten füttern ließen. Daneben beobachteten wir öfters
einige große Raubmöven und einmal auf 31 ° 7' w. L., 55 ° 51 ' n. B.
einen Numenius, den ich, weil wir Amerika bedeutend näher als
Europa waren und fast immer westliche Winde herrschten, für
N. hudsonicus halten möchte.
Größere Meersäugetiere, d. h. Wale, sahen wir nur recht
selten; was in unseren Gesichtskreis kam, waren nur kleinere
Formen, und nie kamen sie so nahe heran, daß wir sie hätten
bestimmen können.
II. Resultate und Erfahrungen in bezug auf das Expeditionsschiff.
Dr. J. Hjort hat in seinen Schilderungen der Expedition des
»Michael Sars« schon hervorgehoben, daß ein kleines Schiff ver¬
hältnismäßig leistungsfähiger sei in bezug auf derartige wissen-
4 8
Dr. M. Auerbach
schaftliche Expeditionen, als ein großes Fahrzeug, nur voraus¬
gesetzt, daß das Schiff auch seetüchtig ist. Nun ist »Michael
Sars« ein ziemlich kleiner Dampfer, dem die Mängel anhaften, die
wir bei Schilderung des Baues von »Armauer Hansen« kurz er¬
wähnten. Es kann also von vornherein erwartet werden, daß sich
unsere Expedition in mancher Hinsicht noch günstiger gestaltet
habe wie jene, und dem ist tatsächlich so.
Als besondere Vorzüge »Armauer Hansens« möchte ich hier
nochmals zusammenfassen: i. seine Seetüchtigkeit, 2. seine guten
Segeleigenschaften, 3. seine Kleinheit, 4. die Anordnung seiner
Wohn- und Arbeitsräume, 5. der Antrieb der Winden durch den
Schiffsmotor, 6. seine Billigkeit im Betrieb.
Über Punkt 1 und 2 ist nicht viel zu bemerken, es sind
Eigenschaften, die man von jedem guten Seeschiff, das Segel
führt, verlangen kann; Punkt 3 jedoch erscheint zunächst merk¬
würdig, trifft aber doch vollkommen zu. Wenn das Schiff so
klein ist, daß es nur auf einer der großen Ozeanwellen sitzt, so
wird es allerdings die Bewegungen dieser Wellen mitmachen, aber
es wird gleich einer schwimmenden Möve stets oben auf dem
Wasser bleiben; infolgedessen werden die Schwankungen auch
fast immer recht sanfte und gleichmäßige sein, so daß sie nicht un¬
angenehm empfunden werden. Ist dagegen das Schiff größer, so
muß es zu gleicher Zeit auf 2 oder mehr Wellen ruhen, und dar¬
aus entsteht dann leicht ein heftiges Stoßen und Rollen, begleitet
von der Übernahme von Sturzseen. Uns ist während der ganzen
Reise nicht eine einzige Sturzsee auf Deck gekommen; nur
leichte Schaumspritzer fanden ihren Weg dorthin. Eine Folge der
Kleinheit des Schiffes ist auch der geringe Freibord und damit
ein geringer Windfang durch das Fahrzeug. Beides ist aber bei
Vornahme der wissenschaftlichen Arbeiten von großem Werte.
Das Schiff wird durch den Wind nur wenig abgetrieben und läßt
sich infolgedessen auch sehr leicht mit dem Motor manöverieren;
man kann wohl sagen, daß es Kapitän Wilhelmsen möglich ist
»Armauer Hansen« für einige Zeit auch in schwerem Wetter fast
absolut auf der Stelle zu halten; dies wird bewiesen durch die
genau senkrechte Stellung der Lotleine auch bei Lotungen bis zu
3000 m Tiefe; wie vorteilhaft ein geringer Freibord beim Einholen
der Apparate ist. haben wir früher schon gesehen; das Wetter
muß) schon sehr schlecht sein, wenn alle Arbeit ruhen soll.
Bericht über die Expedition des -Armauer Hansen«
49
Punkt 4 ist ebenfalls früher schon kurz behandelt worden.
Bei Dampfern nimmt die Maschine mit den Kessel- und Heizungs¬
anlagen meistens den besten Platz fort, indem dieselben oft wenig¬
stens mittschiffs angebracht sind. Beim Typ von »Armauer Hansen
liegt hingegen das Laboratorium, welches am stabilsten sein
sollte, in der Mitte, und der Schwerpunkt des ganzen Schiffes
befindet sich in ihm; es ist daher klar, daß in diesem Raume die
Schwankungen auch am geringsten sein müssen, und die Mög¬
lichkeit zum Arbeiten auch bei Seegang denkbar günstig ist.
Punkt 5, Antrieb der Winden durch den Schiffsmotor bedarf
kaum noch weiterer Erklärung; dadurch daß die Aufstellung einer
extra Dampfwinde oder einer elektrisch getriebenen Winde weg¬
fällt, wird einmal direkt viel Raum gespart, und dann fällt auch
der Raum für Brennmaterialien fort, die sonst noch mit an Bord
sein müßten. Der ganze Betrieb wird auch viel sauberer, denn
das unangenehme Kohlentrimmern fällt ganz fort; das Füllen der
Tanke mit Rohöl erfolgt ohne jede Belästigung und ohne Schmutz.
Von allergrößter Wichtigkeit endlich ist Punkt 6, die Billig¬
keit des Betriebes. Wenn man sich eine Kostenberechnung der
früheren Expeditionen vornimmt und diese mit dem vergleicht, was
wir brauchten, so sind unsere Ausgaben fast verschwindend klein
zu nennen. Wenn wir das Schiff mit seiner ganzen seemännischen
und wissenschaftlichen Ausrüstung als vorhanden annehmen, so
werden sich die Kosten einer Expedition pro Monat auf ca. 5000 M.
stellen, wenn man dabei folgendes berücksichtigt: 1. Gehalt der
ganzen Besatzung; 2. Verpflegung von Mannschaft und Wissen¬
schaftlern; 3. Motoröl bei i2stündigem Gebrauch des Motors pro
Tag; 4. Verzinsung des Schiffes und seiner Apparate mit 5%
des Wertes; 5. Amortisation des angelegten Kapitals; 6. Versiche¬
rung des Schiffes; 7. Hafen- und Lotsengebühren, Verluste, Re¬
paraturen usw. usw. Zieht man in Betracht, daß alle diese Punkte
mit obiger Summe gedeckt sind, und daß man dafür ein voll¬
kommen wissenschaftlich ausgerüstetes Schiff mit Mannschaft und
voller Verpflegung zur Verfügung hat, so wird die Billigkeit der¬
artiger Expeditionen im Vergleich zu früheren Zeiten einleuchten.
Als Beweis für die Güte unseres Schiffes und die Zweck¬
mäßigkeit seiner Einrichtungen mag vielleicht auch noch die Tat¬
sache dienen, daß meines Wissens unsere Expedition, obgleich
eine der kleinsten, doch von allen mit am längsten ununterbrochen
Verhandlungen 26. Bd. 4
50
Dr. M. Auerbach
draußen auf dem Meere war, ohne Land anzulaufen (von Storno-
way bis Stomoway gerechnet), und daß wir ganz bequem auch
noch 2—3 Wochen hätten draußen bleiben können. Mit einem
großen Schiffe ist das natürlich keine Leistung; mit einem kleinen
Fahrzeug von 59 brutto Reg.-Tons ist das aber nur möglich,
wenn die ganze Anlage und Ausrüstung wohl durchdacht ist.
Diese angestellten Betrachtungen sind nun vielleicht auch
geeignet, noch eine praktische Seite zu berühren, die u. U. von
Wichtigkeit sein könnte, nämlich in bezug auf den Bau von Hoch¬
seefischereifahrzeugen. Bisher wird die Hochseefischerei zum
großen Teile von Dampfern betrieben, die in ihrem Typ und in
ihrer Größe etwa dem »Michael Sars« entsprechen. Wir haben
nun gezeigt, daß ein Fahrzeug wie »Armauer Hansen« fast genau
so gut wie ein Dampfer mit dem gleichen Erfolg all die Fischerei¬
geräte anwenden kann, wie sie auch auf den Fischdampfern ge¬
bräuchlich sind. Läßt man nun auf Armauer Hansen das Labo¬
ratorium, den Salon und den Vorraum zum Laboratorium nicht
ausbauen, so hat man hier einen sehr großen Raum zum Unter¬
bringen des Fanges in Eis. Das Fahrzeug ist seetüchtiger wie
die Fischdampfer, ist in seiner Anschaffung und im Betrieb viel
billiger und hat einen größeren Aktionsradius, alles Vorteile, die
die geringere Geschwindigkeit (7—8 Seemeilen pro Stunde) wohl
aufwiegen. Jedenfalls ist eine solche Frage wohl der Erwägung wert.
III. Persönliche Vorteile.
Über dieses Thema läßt sich hier natürlich nur sehr wenig
sagen, da die Vorteile, die jeder Naturforscher von derartigen
Reisen sowohl in wissenschaftlicher wie auch rein menschlicher
Beziehung haben wird, so unendlich mannigfaltig sind, daß man
sie gar nicht alle aufzählen kann. Ich füge zur Bekräftigung des
Gesagten vielleicht am besten das an, was Charles Darwin am
Ende seiner: »Reise eines Naturforschers um die Welt« in bezug
auf unser Thema sagt:
»Zum Schluß scheint mir es, als wenn nichts einen jungen
Naturforscher mehr fördern könne, als eine Reise in ferne Länder.
Sie schärft sowohl als mildert jenes Drängen und Verlangen,
welches, wie Sir J. Ilerschel bemerkt, ein Mensch empfindet,
wenn auch jeder körperliche Sinn vollständig befriedigt ist. Die
Bericht über die Expedition des »Armauer Hansen
5 1
Anregung durch die Neuheit der Gegenstände und die Möglich¬
keit eines Erfolges reizen ihn zu einer vermehrten Tätigkeit an. Da
überdies die bloße Anzahl isolierter Tatsachen bald uninteressant
wird, so führt die Gewohnheit der Vergleichung zur Verall¬
gemeinerung .« und weiter: »Ich habe aber die Reise mit
zu tief empfundenem Entzücken gemacht, als daß ich nicht jedem
Naturforscher empfehlen könnte (obschon er nicht erwarten darf,
so glücklich mit seinen Reisegenossen zu sein, wie ich es ge¬
wesen bin), unter allen Umständen die Gelegenheit zu ergreifen
und aufzubrechen, wenn möglich zu Landreisen, und ist es nicht
anders möglich, zu einer langen Seefahrt.«
Die Richtigkeit dieser Sätze habe ich Punkt für Punkt an
mir selber empfunden. Die Arbeit daheim im Laboratorium erhält
erst ihren richtigen Wert durch die eigenen Beobachtungen
draußen in der Natur; es drängen sich einem Probleme auf, auf
die man zu Hause niemals gekommen wäre.
Von welchem Werte ist allein schon die Kenntnis der ver¬
schiedenen Apparate und Instrumente, mit deren Hilfe unser
Arbeitsmaterial gesammelt wird, und welche Vorteile liegen schon
darin, diese Apparate nun auch selbständig richtig handhaben zu
lernen! Die Tatsache, wie hier Wissenschaft und reine Praxis
sich die Hand reichen, muß einen mit der höchsten Bewunderung
erfüllen und einem zeigen, wie auch hier kein Stand ohne den
anderen auskommt.
Dadurch ferner, daß man bei einer solchen Expedition auch
Kollegen ganz anderer Fächer mit der Tat aushilft, erhält man
tiefe Einblicke in ganz andere Wissensgebiete. Der Horizont
weitet sich, und man wird davor bewahrt, einseitig in einem
Spezialgebiete zu verknöchern.
Die rein menschlichen und persönlichen Gewinne auf einer
solchen Reise können und sollen hier nicht erörtert werden; sicher
aber sind sie nicht gering anzuschlagen.
Und so bin ich denn am Ende meines kurzen Berichtes
angelangt. Ich kann denselben nicht besser schließen, als daß
ich allen denen, die mir die Teilnahme an der Expedition ermög¬
lichten, nochmals aufs herzlichste danke. Unserem wackeren
»Armauer Hansen €, seiner Besatzung und seinen Wissenschaftlern
wünsche ich für die Zukunft stets eine gute Fahrt und ebenso schöne
oder noch bessere Erfolge, als wir sie auf der ersten Reise hatten.
4 *
52
Dr. M: Auerbach
Einige Bemerkungen über die Herstellung photo¬
graphischer Aufnahmen auf derartigen Expeditionen.
Im folgenden will ich noch ganz kurz einige Erfahrungen
mitteilen, die ich in bezug auf photographische Fragen unterwegs
machen konnte. Dieselben sind natürlich rein persönliche Ein¬
drücke und bezwecken nur, Kollegen, die in ähnliche Verhältnisse
kommen können, einige Winke zu geben.
Für weniger wertvolle Aufnahmen, d. h. also für rein unter¬
haltendes Material hatte ich meine kleine Taschenkamera aus
Metall im Format 4V2 X 6 mitgenommen. Das Objektiv war
ein gewöhnliches Detektiv-Aplanat F : 6,8. Zu den Aufnahmen
verwandte ich Packfilm von Herzog. Apparat und Film haben
mich nie im Stich gelassen; ich bin mit beiden sehr zufrieden
gewesen; die Film wurden erst zu Hause entwickelt; sie haben
durch das lange Liegen in der feuchten Luft nicht gelitten.
Zu den wertvollen Aufnahmen verwandte ich meine große
Voigtländer Spiegelreflexkamera 9X12 mit dem Collinear 2
(F : 5,4). Auch diese Kamera hat sich vorzüglich bewährt, jedoch
muß ich raten, wenn möglich ganz aus Metall gebaute Modelle
zu verwenden, denn meine noch aus Holz hergestellte Kamera
ist im Laufe der Zeit etwas gequollen, so daß häufig kleine Nach¬
hilfe am Spiegel und am Verschluß notwendig war. Im übrigen
aber hat eine Spiegelreflexkamera gerade an Bord, wo deren
Größe nicht hindert, so viele Vorteile, daß nicht weiter darüber
geredet zu werden braucht.
Endlich verwandten wir auch noch eine Einloch-Kino-
Kamera von Frnemann in Dresden, mit deren Resultaten wir
auch sehr zufrieden waren. Allerdings hatten wir dadurch viele
Schwierigkeiten, daß das Stativ bei dem hohen Seegang fest¬
gehalten oder festgebunden werden mußte, und daß oft ein
regelmäßiges Drehen der Kurbel dadurch unmöglich wurde,
daß man seinen eigenen Körper vor dem Überbordgehen schüt¬
zen mußte.
Als ganz vorzügliches Hilfsmittel erwies sich das Aktino-
photometcr von Heide. Nachdem ich mich mit demselben ein¬
gearbeitet hatte, ist mir keine einzige Aufnahme mißlungen; da¬
bei nimmt die Bestimmung der Expositionsdauer nur wenig Zeit
in Anspruch.
Bericht über die Expedition des Armauer Hansen«
53
Es muß von Wichtigkeit sein, die gemachten Aufnahmen
womöglich gleich an Bord entwickeln zu können, denn nur da¬
durch bewahrt man sich vor Enttäuschungen und ist in der Lage,
eine etwa mißglückte wertvolle Aufnahme nochmals zu machen.
Nun ist auf einem kleinen Schiffe der Einbau einer Dunkelkammer
fast unmöglich, und das Hantieren in einer solchen bei Seegang
ist fast nicht durchzuführen. Da hat mir denn meine Fokodose
die ausgezeichnetsten Dienste geleistet; ohne dieselbe wäre ein
sofortiges Entwickeln der Platten überhaupt nicht angegangen.
Das Fixieren der Platten habe ich in einer ähnlichen Dose aus
Glas vorgenommen; dadurch wurde immer ein sauberes und
sicheres Arbeiten ermöglicht und ich möchte daher auf Expedi¬
tionen diese Dose nicht missen.
Man weiß aus meinen früheren Schilderungen, daß wir mit
dem Süßwasser sehr sparsam umgehen mußten, deshalb war auch
an ein Auswässern der Negative in ihm nicht zu denken. Sü߬
wasser wurde nur zum Anmachen des Entwicklers und Fixier¬
bades verwandt. Das Auswaschen geschah in reinem, öfters ge¬
wechseltem Seewasser und nur zum Schluß wurde mit Süßwasser
nachgespült. Zu Hause habe ich dann die Negative nochmals gut
mit fließendem Süßwasser ausgelaugt und kann nun die Platten
von anderen regulär behandelten nicht mehr unterscheiden.
Gelegentlich habe ich sogar den Entwickler mit Seewasser ange¬
setzt und auch gute Bilder bekommen; die Negative sehen etwas
sonderbar aus, jedoch sind die Kopien tadellos.
Das Einlegen der Platten in die Kasetten und in die Foko¬
dose geschah in einem von mir selbst konstruierten einfachen
Wechselsack aus doppeltem schwerem Stoff, der sich schon auf
früheren Seereisen glänzend bewährt hat.
Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe
auf Grundlage langjähriger Beobachtungen.
von Dr. Friedrich Gautier.
Einleitung.
Von den langjährigen Temperaturbeobachtungen der Station
Karlsruhe ist bis jetzt nur ein geringer Bruchteil der Bear¬
beitung zugänglich gewesen, nämlich ausschließlich das seit Be¬
stehen eines amtlichen badischen Beobachtungsnetzes 1 gewonnene
Material; und selbst dieses wurde meist nur in beschränktem
Maße benützt, da die ersten Aufzeichnungen nicht mit derselben
Sorgfalt vorgenommen worden waren, wie die neueren. Zu einer
Verwertung des älteren Materials, das in feist ununterbrochener
Folge bis ins vorletzte Jahrhundert zurück vorhanden, ist es wohl
in früherer Zeit gelegentlich gekommen; die diesbezüglichen
Schriften von Wucherer, Eisenlohr 2 u. a., die das Klima von
Karlsruhe zum Gegenstand haben, besitzen aber heutzutage nur
mehr historischen Wert. Der Verfasser hat es nun unternommen,
diese Aufzeichnungen zu sammeln, auf ihre Brauchbarkeit zu
prüfen und einen größeren Teil derselben durch Umformung in
vergleichbare Werte zu verwandeln. Bei dieser Gelegenheit hat
er versucht, aus der Fülle des neu gewonnenen Materials weitere
Ergebnisse in klimatologischer Beziehung zu erhalten. Für die weit¬
gehende Förderung in meiner Arbeit, die mir von Seiten des
Leiters des hiesigen Zentralbureaus, Herrn Professor Dr. Ch.
Schultheiß zuteil geworden ist, möchte ich hier meine Erkennt¬
lichkeit ausdrücken, ferner auch Herrn Professor Dr. Brodmann,
1 Seit dem Jahre 1868.
2 Ein Verzeichnis dieser älteren Literatur findet sich im XIV. Jahresbericht der
Großherzoglich Badischen meteorologischen Centralstation Karlsruhe für das Jahr 1882.
Dr. Friedrich Gautier
5 6
dem Direktor der Bibliothek des Polytechnikums, dessen Freund¬
lichkeit mir die Auffindung und Benützung alten handschriftlichen
Materials sehr erleichtert hat, an dieser Stelle für seine Mühe¬
waltung danken.
Nach einer eingehenderen Übersicht über die der Gegenwart
überlieferten Aufzeichnungen soll in einem zweiten Abschnitte
die Art und Weise der Rekonstruktion von Mittelwerten aus
älteren Beobachtungen behandelt werden; diese korrigierten Werte
sind dann in Tabellen der Arbeit beigefügt. Einige weitere Ka¬
pitel werden die Ergebnisse enthalten, welche sich in klimato-
logischer Hinsicht boten: einzelne Schlußfolgerungen in bezug
auf den Gang der Wärmeschwankungen im Zeitraum eines Jahres
wie im Verlauf längerer Perioden (Klimaschwankungen) und hin¬
sichtlich der Darstellung monatlicher und jährlicher Extremwerte.
Das Beobachtungsmaterial.
Die in neuerer Zeit in Karlsruhe angestellten Beobachtungen
sind bereits in mehreren Werken — ich erwähne nur die von
Singer 1 , Schultheiß 1 — in bezug auf ihre Exaktheit und Gleich¬
artigkeit untersucht w’orden; es genügt deshalb, die zusammen¬
fassenden Bemerkungen der genannten Autoren, die bezüglich
der Page der Station und der Beurteilung des Materials von
Wichtigkeit sind, hier kurz anzuführen. Die erste Aufstellung
befand sich nach Weber 2 »in dem Westflügel der polytechnischen
Schule, an der ostnordöstlichen Grenze der Stadt, nur 78 m von
dem Saume des ausgedehnten Waldes entfernt, der Karlsruhe
auf der nördlichen Seite begrenzt. Das Barometer steht in einem
Zimmer der ersten Halbetage, das Psychrometergehäuse befindet
sich vor einem Fenster desselben Zimmers in reiner Nordlage
6 m über dem mit Gras bewachsenen und mit Bäumen bepflanzten
B«>den». :1 Singer 1 erwähnt die Verlegung der Station vom
= ■> Juli 1882 mit der Bemerkung, daß jetzt die Lage »zu wenig
frei sei. Schultheiß setzt die Beschreibung folgendermaßer fort:
1 Singer, K., Temperaturmittel für Süddeutschland. Dissert. München. 1889.
S. 53. Schultheiß, Ch., Die Temperaturverhältnissc im Großherzogtum Baden. Karls¬
ruhe, i<)oS.
- Dr. F. Weber im I. Jahresbericht für das meteorologische Jahr 1869. S. 270.
1 Benützt wurden bis auf Fünftelgrade geteilte Geißler’sche Normalthermometer,
dir gegen Strahlung durch ein luftiges Blechgehäuse geschützt waren.
Die Temperaturveihiiltnisse von Karlsruhe
57
Bis zum März 1895 war das Gehäuse vor einem Nordfenster des
nördlichen Seitenflüges des Gebäudes der technischen Hochschule
untergebracht. Durch zwei in etwa 1 m Entfernung seitwärts
angebrachte Holzwände sollte es vor Bestrahlung geschützt werden.
Seit dem Jahr 1895 sind die Thermometer im Hauptbau und
zwar bis zum Dezember 1898 8,3 m, von da an 12,1 m über dem
Boden angebracht; seit 1896 werden die Morgentemperaturen auf
einer von der Sonne nicht beschienenen Seite ermittelt. . . «*
Vor Gründung eines staatlichen badischen Beobachtungsnetzes
im Jahre 1868 sind meteorologische Beobachtungen von Seiten
des physikalischen Instituts unter Leitung von W. Eisenlohr
längere Jahre hindurch im damaligen Lyzeumgebäude, wo heut¬
zutage die Zentralanstalt für Meteorologie und Hydrographie
untergebracht ist, vorgenommen worden; als jenes mit Oktober
1865 in den Ostflügel des Polytechnikums verlegt ward, wurden
die Beobachtungen dort weitergeführt. Die Ablesungen geschahen die
ganze Zeit hindurch vom gleichen Beobachter, bzw. einem gelegent¬
lichen Stellvertreter desselben, dem Institutsmechaniker Heckmann,
der sie in zuverlässiger Weise besorgte, und enthalten keine
Lücken; es waren Doppelbeobachtungen 2 , auf der Hofseite des
Gebäudes in etwa 6 m Höhe über dem Pflaster vor einem
Korridorfenster, wo sich noch heute eine kleine Kontrollstation
befindet, und der entgegengesetzten Straßenseite gen Süden zu,
Die Lage der Station in einem verhältnismäßig engen Hofe, um¬
geben von massigen Bauwerken, deren Steinquader die sommer¬
liche Strahlung und winterliche Ausstrahlung noch verspätet
Wiedergaben, gegenüber der hohen Wand der evangelischen
Kirche, war bei weitem nicht frei genug; zudem war seit Jahr¬
zehnten die Bebauung nach der Peripherie der Stadt zu soweit
vorgeschritten, daß die Beobachtungsstelle sogenannte »Stadt¬
temperaturen« liefern mußte. Nach Verlegung der Station in
das Hochschulgebäude, das damals noch sehr frei stand, w r aren
die Bedingungen für die Beobachtungen fast ebenso günstige wie
nach Gründung der staatlichen Karlsruher Station; auch jetzt
fanden Doppelregistraturen statt, doch figurieren dieselben nur
mehr unter den Rubriken: »Nord- und Südseite ; tatsächliche Be-
1 Schultheiß, Die Temperaturverhältnisse im Großherzogtum Baden, Karls¬
ruhe 1908. S. 31 ff.
■ Zeitweise wurden auf der Hofseite an zwei Instrumenten Ablesungen vorgenommen.
Dr. Friedrich Gautier
5&
obachtungen sind jedenfalls nur an einer der Stellen vorgenommen
worden, da der Unterschied der beiden Ablesungen konstant i°
beträgt und als Durchschnittswert stets das arithmetische Mittel
angenommen wurde. Die betreffenden Zahlenwerte von der
Station im Lyzeum, wo das doppelte Journal durchaus nicht
immer ausgefüllt wurde, differieren um Beträge zwischen
o und 1 1 I 2 ° R. Die Ergebnisse der Beobachtungen dieser Reihe
sind nur in einzelnen, losen, gedruckten Blättern veröffentlicht;
ihr Verfasser ist Forstrat Dr. Klauprecht aus Karlsruhe, ein auch
auf forstlich-meteorologischem Gebiete bekannter Autor, der un¬
mittelbar nach Gründung der Zentralstation (1869) die älteren Auf¬
zeichnungen mit Parallelbeobachtungen im botanischen Garten
verglichen hat 1 — leider waren die Unterlagen dieser Arbeit nicht
mehr aufzufinden; wie auch von diesen Blättern selbst nur noch
ganz wenige Exemplare existieren 2 . Die von ihm berechneten
Mittelwerte sind bedeutend zu hoch angesetzt; auch hat der Ver¬
fasser, der mit dem Leiter der meteorologischen Beobachtungen
persönlich schlecht stand, diese nur zu einem Teile übernommen
(von 1857 ab). Die älteren Beobachtungen, die vielfach auf
Registrierungen im botanischen Garten gegründet sind, differieren,
wie Zusammenstellungen mit Vergleichsstationen ergaben, sehr
unterschiedlich mit den geprüften Werten jener Reihe.
Für die ersten Jahrgänge aus dem sechsten Jahrzehnt des
vergangenen Jahrhunderts fanden sich keine Aufzeichnungen im
Besitz des Institutes, dagegen sind für die vierziger Jahre wieder
ausführliche Journale vorhanden, die von dem damaligen Lehrer
für Mathematik und Naturwissenschaften am Lyzeum, Professor
Stieffel, einem sehr gewissenhaften Beobachter, persönlich geführt
worden. Dieselben schließen mit dem Jahre 1849 ab. Die Be¬
obachtungsstelle, zu dieser Zeit noch recht frei gelegen, befand
sich an einem Hause der Spitalstraße, etwa 4 1 / 2 m über dem
Straßenniveau. Der Verfasser fand eine Fortsetzung dieser Be¬
obachtungen in Bulletins der vom nämlichen Autor geleiteten
Monatsschrift »Zeus«, außerdem in täglichen Berichten der Karls¬
ruher Zeitung sowie in kleinen graphischen Darstellungen, die der
Autor wohl später gelegentlich herauszugeben beabsichtigt hatte,
1 Siche VIII. Jahresbericht der Grofiherzoglich Badischen meteorologischen Central-
station Karlsruhe 1877. S. 73 Anmerkung.
- Im Besitze des Instituts.
Die Tempemturverhältnisse von Karlsruhe
59
woran ihn jedoch sein früher Tod hinderte. Am ausführlichsten
sind die ununterbrochen bis zum August 1851 fortlaufenden
Zeitungsberichte; sie geben die Beobachtungen von 7h hm , 2 h p., 9 h p.,
tägliches Maximum und Minimum wieder. Die in recht kleinem
Maßstab gehaltenen Monatsblätter der erwähnten graphischen
Darstellungen sind im Formate von Sektoren einer Kreisfläche
angelegt, und zwar so, daß je 12 derselben, ein Jahrgang, zu
einer runden Tafel zusammengestellt werden können. Diesen Re¬
gistrierungen, die nur Maxima, Minima und Tagesmittel enthalten,
wurden die späteren Werte (8. 1851—7. 1852) entnommen, vielfach
kontrolliert durch die im »Zeus« überlieferten Monatsberichte. In
jener Zeitschrift wird auch häufig auf solche Darstellungen ver¬
wiesen und es ist darum nicht ohne Interesse zu wissen, welchem
Zwecke diese so sorgfältig, gar nicht unkünstlerisch ausgeführten
Zeichnungen gedient haben. 1 Hat doch selbst der Nichtfachmann
seine Freude an diesen Blättern, die mit ein paar Blicken den
Witterungsverlauf längerer Zeiträume übersehen lassen, wenn er
auch nicht alle die Details, die Stieffel noch anzubringen für nötig
fand, beachten wird. Dieselben bildeten das grundlegende Ma¬
terial für ausführliche Wetterprognosen, die der Verfasser anfangs
mit großem Vertrauen auf seine reichhaltige Sammlung von Be¬
obachtungen und Erfahrungen im »Zeus« veröffentlichte. Sie
stützten sich hauptsächlich auf die an und für sich nicht unrichtige
Wahrnehmung, daß der Witterungsverlauf gewisser Jahreszeiten
sich gelegentlich wiederholt, bzw. einen ähnlichen Charakter zeigt
— Beispiel: Kälterückfälle des Mai und Juni, Altweibersommer
September/Oktober —, und da der Gelehrte in langwieriger,
peinlicher Arbeit durch Aufzeichnung der täglichen und jähr¬
lichen Schwankungen der Temperatur, des Drucks, der Bewöl¬
kung und andere »Meteore« ein sehr reichhaltiges Material
zusammengestellt hatte, so glaubte er, mit Hilfe desselben weit¬
gehende Prognosen (über einen Monat) geben zu können. An¬
fänglich hatte er auch einigen Erfolg, aber bald enttäuschten die
sich mehrenden Fehlschläge sowie die umständliche und vielfach
recht schwer verständliche Formulierung der Prognosen die An¬
hänger seiner Theorie. Die Zeitschrift verlor ihre Abonnenten
1 Näheres in Treutlein, P., Der Karlsruher Meteorolog Ph. Fr. Stieffel,
( 1 797 —1852)«. Vorträge, gehalten im Naturwissenschaftlichen Verein zu Karlsruhe,
Karlsruhe 1892, S. 52 ff.
6o
Dr. Friedrich Gautier
und die letzten Jahre seines Lebens wurden dem Autor durch
mancherlei Schwierigkeiten, darunter auch solche finanzieller Art,
und die mißgünstige Aufnahme, die sein immerhin ein wenig
kühnes Unternehmen in einigen Kreisen fand, leider recht ver¬
bittert.
In denselben Jahren, in denen Professor Stieffel beobachtete,
bestand bereits in dem frei am Rand des ausgedehnten Hardt¬
waldes gelegenen botanischen Garten eine kleine Parallelstation
(Wetterwarte). Ihre im Original nicht mehr vorhandenen Auf¬
zeichnungen waren privatim von der Hofgärtnerei veranstaltet
und durch einen Gartenaufseher vorgenommen worden. Auszüge
davon sind regelmäßig im Karlsruher Tageblatt veröffentlicht
worden; der Verfasser hat dieselben für die in Frage kommende
Zeit, das erste Lustrum der 50er Jahre und einige Abschnitte aus
den folgenden Jahrgängen, gesammelt und mit den Parallelbeob¬
achtungen Heckmanns und Stieffels verglichen. Leider wurden
solche Zusammenstellungen durch einige Mängel erschwert. Ein¬
mal war die Beobachtungszeit, 6 h a., 12 h p. und 6 h p., eine wenig
günstige; andererseits auch die Aufstellung des Instruments eine
schlechte. Dasselbe befand sich in 1 'j 2 m Höhe über einem
Rasenbeet und war gegen Strahlung nur höchst ungenügend
durch einen kleinen schachtelartigen Bretterschirm gedeckt, der
von der Sonne selbst rach durchwärmt werden konnte und nur
in den Morgen- und frühen Nachmittagsstunden Schutz bot.
Wegen dieser mehrfachen nachteiligen Einflüsse wurde die Reihe
nur für jene wenigen Jahre benützt, in denen die übrigen Beob¬
achtungen eine Lücke aufwiesen: Aug. 1852—Dez. 1854.
Für die älteren Beobachtungen, die ein für speziellere Zwecke
nicht mehr recht brauchbares Material darstellen und mehr nur
zum Vergleich der Wärmeschwankungen über längere Zeiträume
hin hier mitgeteilt wurden *, genügt ein kurzer Hinweis.
Erhalten sind uns im Originale die Aufzeichnungen der Be¬
obachtungen der ersten drei Jahrzehnte des Jahrhunderts; von
denen des vierten sind die Jahrgänge 1835 —1840 wie die der
ersten fünfziger Jahre nur in täglichen Bulletins des Karlsruher
Tugblatts vorhanden. Die Beobachtungstermine waren keine
festen; dieselben schwankten zwischen 6 und 8a.m„ 1 und 3p.m.
1 Siche v Tdhelh-.
Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe
6 I
und 9 und 11 p.m.; doch lassen sie sich durchschnittlich etwa auf
7, 2, io h normieren, wie eine Reihe von Proben erwies 1 . Die
Beobachtungsstation befand sich die ersten drei Jahre in einem
Hause des inneren Zirkel (Nr. 9) unweit der heutigen Karl Friedrich-
Straße, von 1805 —1840 im Lyzeumgebäude in etwa 6 m Boden¬
höhe, durch den Bau selbst gegen Sonnenstrahlung einigermaßen
geschützt. Anfangs war die Lage eine günstigere als später,
nachdem die Bebauung der Umgebung fortgeschritten, und die
noch freie Ostseite des Hofes hinter der Anstalt durch einen
Flügelanbau abgeschlossen worden war 2 . Die Beobachtungen
leitete bis zum Mai 1821 E. W. Böckmann, Professor am Lyzeum
zu Karlsruhe, ein Sohn des Gründers der ersten badischen Wetter¬
warte (Ende der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts zu Karls¬
ruhe); nach seinem Tode Professor L. A. Seeber von Mai bis
Dez. 1821 und von Dez. 1821—Nov. 1834 sein Nachfolger, Pro¬
fessor Wucherer 3 , der bereits in Freiburg meteorologische Beob¬
achtungen vorgenommen hatte. Die folgenden Jahrgänge bis
zum Beginn der veröffentlichten Aufzeichnungen Stieffels, Jan.
1835—Sept. 1840, die wie erwähnt nur in Zeitungsberichten uns
erhalten sind, stammen von Seeber; die Werte für den Dez. 1834
sind bereits Stieffels Journalen entnommen.
Die Reduktion.
Die Reduktion der neueren Beobachtungen seit Errichtung
der badischen Zentralstation beruht auf Vergleichen des jährlichen
Wärmegangs der Beobachtungsstelle mit solchen Stationen, die
nachweislich längere Zeit keine Veränderung in der Aufstellung
ihrer Instrumente zeigten, und wo die lokalen Faktoren, die von
Einfluß auf den Temperaturgang, dieselben blieben. Bei einem
Vergleiche mit einigen badischen Stationen bestätigte sich die
Angabe Singers 4 , daß durch allmähliche Verbauung der anfänglich
1 Beispiel: Juli 1817. Morgentermin im Durchschnitt 6 h 40a. Mittagstermin
2 h 36p. Abendtermin io 1 * 10p.
2 Von 1807 ab. Siehe: Festgabe zum Jubiläum der 40. jähr. Regierung Sr.Kgl.
Hoheit des Großherzogs Friedrich von Baden,‘Karlsruhe 1892. Geschichte des phv-
sikal. Instituts der Technischen Hochschule Karlsruhe von O. Lehmann. Seite 231.
3 Unter Wucherer wechseln die Beobachtungstermine öfters; gelegentlich sind wie bei
seinen Vorgängern Ausschnitte aus der Tageschronik und phänologische Notizen beigefügt.
4 Singer, K., Temperaturmittel für Süddeutschland, München 185t). S. 54.
62
Dr. Friedrich Gautier
so günstigen Lage der Station eine Zunahme der jährlichen
Mitteltemperatur um etwa 0,3—0,5° stattgefunden habe. Es sind
nämlich die Differenzen mit
in Z e
Mannheim
i8;6-8o 1881—85 1886—90
Buchen
Donau-
eschingen 1
Basel
nach
Schultheiß 2
Wint. —0.2 0 —0.2 0 —o.o°
18 / 1 —75 +i- 9 °
+ 3 - 4 °
1886—94 I
Früh. -o.6° -0.5 0 -0.5 0
1876—80 +2.0°
+ 3 - 6 °
4-0.5° 1
Somm. —o.8° —o.;° —0.5 0
1881—83 4-2.1°
+ 37 °
• 895—98 :
Herbst -o.6° -0.3 0 -0.3 0
1886—90 4 - 2 .3°
+o. 3 ° 1
Jahr -0.55 0 -0.42 0 -0.32 0
1891—94 4 - 2 - 3 °
1895—98 4-2.1°
Die Korrektion wurde, da der Einfluß der zunehmenden Be¬
bauung sich nicht plötzlich, sondern allmählich zeigte, unter ziem¬
lich gleichmäßiger Verteilung ihrer Beträge auf den Zeitraum
1871 —1890 eingestellt, und die einzelnen Jahresmittel in folgender
Weise berichtigt:
Jahrgänge
1869—1875 um -»-0.2 0
1876—1879 „ -4-0,1°
1880—1881 „ —
1882—1885 „ —0.1°
1886—1895 März —o.2°
Belege für eine größere Abweichung des Wertes dieser
Korrektion in den einzelnen Jahreszeiten ergaben sich nicht; viel¬
mehr schwankten je nach dem Charakter der Witterung die
Differenzen um ganz kleine Beträge, und es erschien darum Tät¬
lich, an den Jahres-, Monats- und Pentadenmitteln stets die näm¬
lichen Verbesserungen anzubringen. Eine kleine Ausnahme glaubte
der Verfasser für die Sommermonate von 1882 ab bis 1895 ein-
treten lassen zu dürfen, da in dieser Zeit die späterhin eingeführte
Ablesung der Morgentemperaturen auf der nicht durch die
Sonnenstrahlung beeinflußten Westseite des Gebäudes mangelte,
und sich aus der Differenz der vor und nach 1895 eingesetzten
Werte der Morgentemperaturen mit den Tagesmitteln ergibt, daß
1 Schultheiß. Ch.. Die Temper,Tturverhnltnissr im (uoßherzogtum Baden. Karls-
iuhe 1908. S. 32.
Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe 63
die älteren knapp l / 2 ° zu hoch liegen. Korrektion für jeden der
Monate Mai bis August —o.i 01 .
Die Beobachtungen dieser Zeit sind im allgemeinen zuver¬
lässige gewesen, so daß die reduzierten Werte bis auf einige
Zehntelgrade den wirklichen Beträgen entsprechen werden. Aller¬
dings vermindert sich mit jedem weiteren Jahrzehnt, das man
zurückgeht, die Genauigkeit der Beobachtungen, aber es stellen
ja diese reduzierten Ziffern immer nur angenäherte Werte dar.
Nach Mitteilungen von Seiten des Leiters des badischen Wetter¬
dienstes, Professor Schultheiß, kann erst etwa seit dem zweiten
Lustrum der achtziger Jahre die völlige Zuverlässigkeit der Be¬
obachtungen verbürgt werden. Immerhin ist aber auch das ältere
Material, wie die mittleren Differenzen mit mehreren benachbarten
Stationen zeigen, so namentlich die Beobachtungsreihe von
Würtenberger, durchaus kein schlechtes, und es dürften höchstens
ein paar Werte aus den ersten siebziger Jahren, die etwas tief
zu liegen scheinen, eine kleine Ausnahme bilden; doch sind die
Fünfjahresmittel dadurch nicht weiter beeinflußt.
Die erwähnten ungünstigen Umstände verlangten immer ge¬
bieterischer ein Einschreiten; die anderweitige Unterbringung der
Station im Juli 1882 war ohne Wirkung geblieben, und erst die
Verlegung im März 1895 brachte gründliche Abhilfe. Vergleiche
zwischen den Wärmemitteln an den beiden Aufstellungen, die
allerdings nur zwei Monate hindurch vorgenommen werden
konnten) ergaben damals eine Temperaturerniedrigung von etwa
einem halben Grad. Nach Differenzen mit einigen badischen
Stationen dürfte dieser Betrag im Jahresmittel um ein geringes
zu hoch sein und 0.3 0 C wohl nicht übersteigen. Da die Mittel
der vorhergehenden Jahre um 0.2 0 zu hoch angenommen waren,
so mußte für die nächsten Jahre ein positiver Korrektionswert
von -4-0.1° eingesetzt werden.
Differenzen nach:
Buchen
Breiten
(bis 1897)
B a <1 e n
1891—94
-H2 - 35 °
- 4 - 1 . 2 °
4 - 0 . 6 °
1895—98
- 4 - 2.1 °
4 - 1 . 0 °
4 - 0 . 4 °
1899—02
4 - 2 . 2 ,5°
4 - 0 . 5 °
1 Siehe Tabelle IV. Anhang.
64
L'r. Friedrich Gautier
Im Oktober 1898 wurde die Station zum letzten Male ver¬
legt; diese Veränderung hatte gemäß obiger Tabelle wieder eine
geringe Erhöhung der Mittelwerte zur Folge, die auf o.i° be¬
stimmt wurde; von da an wird wohl trotz des weiteren An¬
wachsens der Stadt die mittlere Wärme ungefähr die gleiche
geblieben sein.
Korrektionsbeträge für:
April 1S95 bis Oktober 1898 -ho. 1 0
Juli 1882 bis August 1895
^ V _Q J °
Sommermonate Mai bis August
Die Reduktion der Heckmannschen Beobachtungen 1855 —
1868 geschah unter Benützung der Vergleichsstationen Basel,
Straßburg, Mannheim und Frankfurt 1 . Zunächst wurden die
Differenzen der Monatsmittel der genannten Stationen mit Karls¬
ruhe graphisch festgelegt. Schon aus dieser Darstellung ergab
sich, daß die Reihe eine nach Abschnitten getrennte Behandlung
verlange. Von Frühjahr 1860 ab ist nämlich der jährliche Ver¬
lauf der Differenzen ein abweichender; dieselben erreichen nicht
mehr jene hohen Werte, die die Sommermonate der letzten fünf¬
ziger Jahre ergaben, weisen dagegen eine umgekehrte Periode
mit Minimum in der wärmeren Jiihreszeit auf. Es liegt nun nahe,
jene Änderung auf Verbesserungen in der Aufstellung der In¬
strumente durch Anbringung von Schutzvorrichtungen gegen
Strahlung zurückzuführen-; denn während aus dem Gange der
Differenzen in den Wintermonaten Ungleichmäßigkeiten nicht zu
ersehen sind, werden nun die Wärmeüberschüsse der Sommer¬
monate um ein beträchtliches geringer als die der winter¬
lichen Jahreszeit. Die Einflüsse der * Stadtlage «9 die sich in einer
erhöhten Wintertemperatur geltend machen, fallen erst mit der
Verlegung der Beobachtungsstelle an die Stadtperipherie Oktober
1865 weg; im Sommer wird die stärkere Erwärmung des städtischen
Weichbildes nur bei größerer Ausdehnung desselben und an be¬
sonders heißen Tagen durch Erhöhung der Abendtemperaturen
stärker bemerkbar; da aber gerade Ende der fünfziger Jahre
warme» Sommer einander folgten, so worden die großen Diffe¬
renzen jener Monate zum Teil auch diesem Umstande zur Last
gelegt werden dürfen; es wurden deshalb für einzelne dieser Mo-
1 Das Klima von löankfiut am Main. Frankfurt 1901.
* Das Temprratcimiiu*! für </' p war vorher /11 hoch.
Die Temperaturverhältnissc von Karlsruhe
^5
nate noch besondere kleine Korrektionen beigefügt. Zwecks Be¬
seitigung all’ dieser Abweichungen wurden nun fünfjährige Diffe¬
renzen mit Frankfurt und Basel gebildet, zwei Beobachtungsorten,
die ziemlich gleich weit in entgegengesetzter Richtung von Karls¬
ruhe entfernt sind und bei nicht allzu verschiedener Lage einen
ähnlichen Gang der meteorologischen Elemente sowie zuverlässigere
Beobachtungen aufweisen. Mit dieser Reduktion verschwinden
denn auch die erwähnten *Stadttemperaturen«; denn wenn
auch die reduzierten Frankfurter Beobachtungen an demselben
Mangel leiden — sie zeigen für die in Betracht kommenden Jahre
1857—59 einen ähnlichen Wärmeverlauf wie Karlsruhe - , so
sind doch die Mittel von Basel (Beobachtungsstelle Domhof), die
mehrfachen Korrektionen unterzogen wurden, zum Ausgleiche
etwas zu niedrig angesetzt 1 .
Die Beträge, um welche die Wärmemittel der Heckmann sehen
Reihe ermäßigt werden mußten, sind, nach Jahresabschnitten
geordnet, folgende:
Jan. Fcb. Miirzj Apr. Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. NovJ Dez.
*857—
l8ÖO
1.2° ! 1.2°
, ,0 . -0
1 -3 io
i. 5 °
>• 5 “
; ‘- 5 °
' i,6°. 1.7 0 1.4 0 r.i° 1.1?
1 86 1 —
OC
C 7 '
'Ji
1.2°; 1 . 3 0
i.i° 0.9 0
o.8°
0
’ c >
0
o.6°
0.7° 0.9° 1.0° t.l° 1.1°
1866-
1868
o.o° i o.o° o.i° o.i°
1
0.1°
0.1°
|o-. c
|
| 0.1° 0.1° 0.1° 0.1° 0.0°
Was nun die Sorgfältigkeit anbelangt, mit der die Beob¬
achtungen vorgenommen wurden, so ist sie wohl dem Maßstab,
den man damals an dieselben legte, entsprechend. Die Re¬
gistrierungen der sechziger Jahre weisen noch recht gleichmäßige
Differenzen mit jenen der Wetterstellen von Straßburg, Mann¬
heim, Basel und Frankfurt auf. In den früheren Jahren sind aber
auch die Beobachtungen Heckmanns nicht mehr so sorgfältiger
Art, und einige Mittelwerte der Jahre 1855 und 1856 waren in
dieser Hinsicht zu beanstanden.
Die Vergleichung der Aufzeichnungen von 1866—1868 wurde
in ähnlicher Weise vorgenommen; als Abweichungen von den
normalen Werten ergaben sich hier nur unerhebliche Beträge.
Die Beobachtungsstelle, die sich von Oktober 1865 an bereits
1 Stark korrigierte Werte: Strub, W., Die Tcinpvrutiirvc-rhältnissc von Hasel.
Basel 1910. S. i6ff, S. 93.
Verhandlungen 20. Bd. D
66
Dr. Friedrich (iautier
im neuen Polytechnikumsgebäude befand, muß demnach unter
nicht viel weniger günstigen Bedingungen gestanden haben, als die
nach Gründung des badischen Beobachtungsnetzes eingerichtete;
sind doch die Differenzen zweier Monate, von denen Doppelbe¬
obachtungen vorliegen, minimale (o.i°;.
Die Beobachtungsreihe vom botanischen Garten wurde eben¬
falls nach Differenzen mit den Stationen Basel und Frankfurt aus¬
geglichen; die Reduktion der Stieffel’schen Beobachtungen er¬
folgte in der nämlichen Weise, jedoch unter der Modifikation,
daß die gewonnenen Werte gleichmäßig um einen bestimmten
Betrag erhöht wurden, der sich aus einem Vergleich mit den
Lustrenmittein weiterer Stationen ergab.
Die monatlichen Reduktionsbeträge waren folgende:
Stieffels Reihe, i. 1841 — 7. 1852
o.6° o.8° i,o° 1.1 0 1.2 0 1.3 0 1.4 0 1.5 0 1.4 0 1.1 0 o,8° o.6°
Bei der Reduktion der älteren Beobachtungen war es nur
möglich, angenäherte Werte zu bringen; denn wenngleich die
Aufzeichnungen lückenlose sind, meist in den besten Händen
lagen und die Beobachtungsstelle von 1805—1840 nicht wechselte,
so verhindert doch der Mangel völlig brauchbarer Vergleichs¬
stationen, das Nichteinhalten regelmäßiger Ablesetermine, die
späterhin nicht mehr kontrollierbaren Wirkungen von Strahlungs¬
einflüssen, gelegentlicher Einführung neuer Instrumente die Fest¬
stellung exakter Mittelwerte. Dieselben sind aus diesem Grunde
nur in ganzen Zahlen angegeben 1 . Zur Reduktion wurde die
Basler Reihe von 1831 — 1840 benützt:
monatliche Korrektionswerte:
0.4 0 o.6° 0.7 0 o.8° o.8° 0.7 0 0.7° 0.9 0 1.1 0 0.9 0 o.6° 0.4 0
Jahr: 0.7 0
1 Hat man doch erst in letzter Zeit recht erkannt, wie fragwürdig solche fiktiven
Werte aus älterer Zeit sind, und wie bereits geringfügige Änderungen in der Auf¬
stellung der Instrumente Unterschiede der Mittel von mehreren Zehntelgraden zur
Folge haben, ganz abgesehen von der oberflächlichen Handhabung des Wetterdienstes.
Aber selbst neuere Bearbeitungen, wie die über das Klima von Frankfurt und die
älteren Wärmemittel von Wien bringen noch auf Zehntelsgrade abgerundete Beträge,
die den wahren Weiten unmöglich entsprechen können.
Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe
&7
Die gewonnenen Beträge jedoch mit Rücksicht auf die freiere
I^age der Station in den ersten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts
um o. i° bis 0.4 0 ermäßigt. Die Tabelle zeigt die Art dieser
Reduktion, bringt Vergleiche mit älteren Reihen fremder Stationen
und die in Lustrenmitteln dargestellten Ergebnisse.
Temperaturextreme.
Die neu gewonnenen Mittelwerte liefern uns für die Extreme
der Wärmeschwankungen nicht unerhebliche Ergänzungen. So
brachte die Wärmeperiode der fünfziger und sechziger Jahre vor
allem für die Sommermonate Höchstwerte, welche, selbst wenn
man alle verfügbaren Aufzeichnungen bis ins vorletzte Jahrhundert
zurück in Betracht zieht, nicht übertroffen wurden. Vor Anbringung
der geprüften Korrektionen hielt man diese Wärmeanomalien für
noch weit beträchtlicher; nun können sie, aufs rechte Maß zu¬
rückgeführt, auch mit den offiziellen Beobachtungen der letzten
vierzig Jahre in Vergleich gebracht werden. Ein so extremer
Juli, wie beispielsweise der vom Jahre 1859, Monate wie der
April 1865, Mai 1868, Juni 1858 kommen im Laufe eines Jahr¬
hunderts wohl nur einmal vor. Die absoluten Werte übersteigen
die bisher bekannten Extreme seit dem Jahre 1869 um folgende
Beträge:
April
11
oj.
~l
O l<
i
rO |
II
um
i.i°
Mai J
1868 _
18.8°
um
2 - 5 (
I I 8 Ö 9
12,5"
1
, 1889
16.3°
Juni
1 ,S -58 _
= 2I - 5 °
um
i.6°
Juü j
i «59 _
23.0 01
um
i.i (
1 1877
’ i9-9°
1911
2 l.Q°
Dez.
( 1868 _
. 7 .i°
um
O
oc
0
Som. !
1^)9 =
20*7°
um
o.ö'
l 1880
<*• 3 °
1
1911
20.1°
Der Monat August des letztgenannten Jahres (1911) war da¬
gegen selbst der wärmste seit hundert Jahren.
Aus dem ältesten Beobachtungsmaterial, wie es uns in den
Aufzeichnungen der Mannheimer Ephemeriden (deren Werte auch
für Karlsruhe einsetzbar sind), der Karlsruher Tagebücher von
1 Die Hitzeperiode vom 15. Juli bis 15. August 1911 hatte ebenfalls ein Tcm
peraturmittel von über 23 C
68
Dr. Friedrich Gautier
Böckmann, Seeber und Wucherer vorliegt (übersichtlich zusammen¬
gestellt auf einzelnen gedruckten Blättern von Forstrat Professor
Klauprecht 1869), habe ich noch, soweit Reduktionen es zuließen,
weitere Extremwerte zum Vergleich gebracht 1 . Positive Ano¬
malien kommen hier weniger in Betracht; dagegen bringen uns
die kühleren Perioden zu linde des vorvergangenen und gegen
Mitte des 19. Jahrhunderts einige stärkere negative Abweichungen,
beispielsweise das Jahr 1816 den kältesten Sommer des Jahr¬
hunderts mit etwa 15.7 0 Durchschnitt (noch um über i° kälter
als die ungünstigen Sommer von 1913, 1909, 1888, 1882 und
1860). Der rauheste Winter war derjenige von 1829/30 (mit —5 0 ).
Die folgende Tabelle zeigt uns die im Laufe von etwa
anderthalb Jahrhunderten vorkommenden Extreme sowie die ab¬
soluten Schwankungen der Monats- und Jahresmittel 2 * * :
1 Absolutes
Maximum
Jan.
Feb.
März
Apr.
Mai
Juni
Juli
Aug. Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
6°
7 - 3 “
1 o°
13.6
18.8°
21 - 5 °
23.0°
21.8°
, „ „O
1 / O
• 3 °
9 °
7 - 1 ° |
1 Jahrg.änge
'834
1796
I 869
1822
1865
1868
1858
'859
1911
1807
1895
l8ll
1795
1852
1868
I Absolutes
1 Minimum
—8°
I-6.1 0
l -1 °
1 6 °
io- 5 °
14.2°
16 0
« 5 °
10.2°
p -°
5*5
-0.5°
— 8 - 5 °
Jahrgänge
1830
1 793
'895
1845
1812
1 77 1
I 1902
1871
1 9 1 3
1 1816
1844
1785
1912
rt*
00
K
1858
1879
1788
Winter 1829/1830 —5 0
» 1833/I834 ) o
1868/1869/ 5
Sommer
»
»
1816
1846 |
«859 j
-»-15.7 0
-•-20.7 0
Jahr 1829 -t-8.i°
Jahr 1822 -Hii.7 0
1 Siehe Tabelle III.
2 Einige Werte aus dem 18. Jahrhundert sind reduziert nach Mannheimer, Frank¬
furter und Pariser Beobachtungen, wie sie in den Mannheimer Flphemeriden 1781 bis
1792, dem 1902 in Frankfurt erschienenen Werk: Das Klima von Frankfurt a. Main
und den Annales du Bureau Central Meteorologiquc de France Annec 1887. ß. 2iiff.
wiedergegeben sind. Siche auch Tabelle VI.
Die Temperaturverhältnissc von Karlsruhe
69
Absolute Schwankungen.
Jan. Febr. März
14° 13.4 0 11°
April Mai Juni Juli Aug. Sept. Okt. Nov. Dez.
7.6° 8.3° 7-3° 7-o° 6.8° 7.3 0 7-5° 9-5° 15-6°
Winter Sommer Jahr
io 0 5 0 3.6°
Nach dieser Zusammenstellung erreichen die positiven Ab¬
weichungen ihr Maximum im Dezember, ihr Minimum im Früh¬
herbst, doch sind die einzelnen Beträge nicht sehr viel von
einander verschieden; die negativen Extreme übersteigen jedoch
in den Wintermonaten die sommerlichen Werte um das Doppelte.
Stellt man diese Anomalien in einer Kurve graphisch dar, so
zeigt sich, daß ein noch längerer Zeitraum von Beobachtungen
erforderlich wäre, damit überall den absoluten Werten möglichst
angenäherte Beträge gegeben werden können; namentlich weisen
April, Oktober und Novemher noch kleine Fehlbeträge auf; doch
wird die Kurve selbst bei Erfüllung dieser Voraussetzung keinen
völlig gleichmäßigen Verlauf aufweisen, da einzelne Unregelmäßig¬
keiten durch den jahreszeitlichen Witterungscharakter bedingt
sind. Gerade das anomale Verhalten der beiden Spätherbstmonate
ist darauf gegründet; während der Dezember unter Umständen
zu den strengsten Wintermonaten gehören kann, sind die Be¬
dingungen starker negativer Anomalien, Bildung einer dauernden
Schneedecke und anhaltende strenge Kälte, vorher fast ausge¬
schlossen; die spätherbstliche Witterung trägt ein ruhigeres Ge¬
präge, das in einer stetigeren Luftdruckverteilung und in einer
geringeren Veränderlichkeit der Temperaturmittel zum Ausdrucke
kommt.
Jährlicher Gang der Temperatur.
Die aus den Funftagesmitteln 1 gewonnene Jahreskurve der
Temperatur zeigt einige bemerkenswerte Eigenschaften. Unregel¬
mäßigkeiten im Verlauf derselben, die man als Zufälligkeiten an¬
sprechen mußte, wenn die Mittelwerte kürzeren Zeiträumen ent¬
nommen waren, treten in der längeren Periode von 60 Jahren
(1851—1910) deutlich ausgeprägt heraus. Vergleicht man ihren
1 Vgl. Tabelle V und VII.
70
Dr. Friedrich Gautier
wirklichen Verlauf mit dem einer normalen Jahreskurve, so treten
die Abweichungen am deutlichsten hervor. Nachdem die Kurve
ihren tiefsten Punkt gegen Mitte Januar erreicht hat, beginnt sie
allmählich anzusteigen, bis in der zweiten Dekade des Februar
ein Kälterückfall diese Bewegung unterbricht. Dieser ist jedoch
kein sehr auffälliges Phänomen; wenige kräftig einsetzende
Kälteperioden genügten ja bei der starken negativen Wärme¬
anomalie, die sie in dieser Jahreszeit mit sich bringen können,
bereits, auch ein langjähriges Mittel um den Betrag von einigen
Zehntelsgraden zu erniedrigen; und die Häufigkeit, mit der er
auftritt ist keine bedeutende. Gegen Mitte des März folgt ein
ähnlicher von andern Autoren ebenfalls erwähnter, etwas schwäche-
rerer Temperatur-Rückfall, nachdem das Ende des Februar und
die ersten Märztage bereits höhere Tagesmittel lieferten. Ende
des genannten Monats setzt eine ganz entschiedene Wärmezunahme
ein, die sich dann gegen die Monatswende zum Mai etwas ver¬
langsamt. Die Kälterückfälle dieses Monats, die unter dem Namen
der »Eisheiligen« bekannt sind, kommen infolge ihres zeitlich
wechselnden Auftretens in den Mittelwerten gar nicht zum Vor¬
schein, viel intensiver treten hingegen die im allgemeinen bedeu¬
tendschwächer empfundenen Wärmerückgänge von Mitte Juni hervor,
welche auf unserer Zeichnung die stärkste Störung der Kurve
darstellen.
Ausgeprägter als in manchen andern Reihen machen sich
die sommerlichen Wärme- bezw. Schönwetterperioden geltend
— die größeren positiven Abweichungen sind eben in dieser
Jahreszeit von der Stärke der Einstrahlung (Sonne) abhängig —.
In den hier untersuchten Fällen der letzten 20 Jahre ergab sich
denn auch — für alle hier in Betracht kommenden Perioden -—
eine auffallende Häufigkeit des Vorkommens; durchschnittlich war
ein Verhältnis von 2:3 festzustellen. Die erste der Perioden liegt
um die Monatswende Mai/Juni, sie zeigt als Gegenstück des folgen¬
den Wärmeausfalls die ausgeprägteste Form. Ende Juni ist wieder
ein kleiner Höhepunkt zu erkennen; bis zur dritten Julipentade
steigt von da an die Kurve kaum merklich. Um den 20. oder 23.
des Monats ist der Wendepunkt erreicht; doch hält sich dann die
Wärme bis etwa zum 20. August, der ebenfalls als bevorzugter
Termin gelten muß, auf ziemlich gleichem Stande; dann folgt die
erste stärkere Senkung; der Wärmerückschritt wird zu Beginn
Die Temperaturverhältni>se von Karlsruhe - i
des September wieder etwas aufgehalten (3. Wärmeperiode):
derselbe Vorgang wiederholt sich am Monatsschluß (4. Wärme¬
periode). Wegen der stärkeren Ausstrahlungswirkungen treten die
zuletzt erwähnten Perioden besserer Witterung, von denen die
zweite mit unserem »Alteweibersommer« identisch ist, weniger als
besonders warme Zeitabschnitte hervor; aber sie bewirken immer¬
hin eine Unterbrechung der Kurve auf ihrem absteigenden Aste.
Noch einmal verlangsamt sich der Rückgang der Temperatur
gegen Schluß des November; doch hat diese Störung keinen auf¬
fälligen Charakter.
Eine ganz bestimmte Drucklage läßt sich mit der Mehrzahl
dieser Wärmeperioden nicht in Verbindung bringen. Im Früh¬
sommer drängen sich Hochdruckgebiete häufig von Westen oder
Nordwesten in den Kontinent hinein und bedecken dann bald
mehr den zentralen bald mehr den nördlichen Teil desselben,
während im Spätjahr barometrische Maxima sich vielfach im Osten
des Erdteils konzentrieren, und dann die Erwärmung sich unter
Mithilfe südlicher Luftströmungen einstellt. Immerhin aber ist
stets eine größere Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß in diesen
Zeitabschnitten kräftigere Gebiete hohen Druckes über dem kon¬
tinentalen Europa zur Herrschaft kommen.
Klimaschwankungen.
Durch Vergleiche mit einer Anzahl möglichst ungestörter
Beobachtungsreihen benachbarter Stationen wie Frankfurt, Basel,
Stuttgart, Straßburg, Paris, wurde auch der Versuch gemacht, die
älteren nur mit Vorbehalt vergleichbaren Temperatur-Aufzeich¬
nungen von Böckmann, Wucherer und Seeber — die Stieffelsche
Reihe konnte wegen ihrer besseren Zuverlässigkeit ohne kom¬
pliziertere Korrektionen übernommen werden — auf richtige Mittel¬
werte (und zwar nur Lustrenmittel) zu reduzieren. Bei der Berech¬
nung erschien es vorteilhaft, stets den Unterschied von je zwei
aufeinander folgenden Fünfjahresmitteln der Korrektion zu Grunde
zu legen, in der Annahme, daß solche zeitlich benachbarten Ab¬
schnitte am ehesten noch die tatsächlichen Schwankungen der
Wärmemittel wiedergeben würden. Die nachfolgende Tabelle zeigt
die Ergebnisse dieser Berechnungen.
/
Dr. Friedrich Gautier
Differenz der Lustrenmittel gegen das nächstfolgende Lustrum:
bei
Lustrum
Basel
Frank¬
furt
Karlsruhe
n. Klau-
precht
Straß-
bürg
Paris
Karlsruhe!
korrigiert
— 5 S
Mittel
8.8
9.2
—
9.6
.0,3
9-3
I846-50
Diffe-
+ 2
+ 2
_
+5
+4
9.8
1841—45
1856—40
renz in
Zehn¬
tels-
— 0
- 3
~3
- 5
-5
+ 1
” 5
+I
9-3
9-4
183'—35
graden
+ 10
Regens-
+ S
+6
+9
97
1826—30
— 5
burg
_ 2
“5
"6
9-5
1821—25
+ 8
10.5
; l8l6 — 20
-8
— 12
9-4
l8l I— 15 1
— 1
+ 0
9-5
1806—IO
+ 2
9-9
l8oi—05
-3
- 2
9.6
Nach derselben lassen sich entsprechend den Resultaten der
Untersuchungen Brückners 2 zwei weitere warme Perioden um die
zwanziger Jahre des vergangenen und in den neunziger Jahren
des 18. Jahrhunderts festlegen. Die tiefsten Lustrenmittel fallen
zusammen mit den Zeiten, die als Not- und Teuerungsjahre bekannt
sind, so die von 1812—16 und von 1851 55. Diese Zusammen¬
stellung bestätigt aber auch wieder, daß die Brücknerschen
Schwankungen in ihrem Ausmaße ziemlich unterschiedlich sind
und eine Regelmäßigkeit nur in geringem Umfang erkennen
lassen. Mitten in die genannten warmen Perioden fallen bei¬
spielsweise in unserem Gebiete eine Anzahl abnorm kalter Winter
wie diejenigen von 1784 und 1789, von 1827 und 1830, welche
die betr. Lustrenmittel unter den normalen Wert erniedrigen; und
in die kalten Perioden zu Anfang des Jahrhunderts die warmen
Jahre 1806 und 1807 und der Sommer von 1S11, der die berühmte
Weinernte gezeitigt hat. Am besten stimmt hinsichtlich der Dauer
der Perioden die Zeiteinteilung, wie sie Richter in seiner Abhand¬
lung: »Geschichte der Schwankungen der Alpengletsch er« 2 für
den Ausfall der Weinernten angibt:
warme Zeit 1821 — 35
kalte * 1836—55
warme » 1856—75
kalte » 1876 ab
1 1812—1 (> +<).0°.
- Zeitschrift des deutschen und österreichischen Alpenvereins. Jahrg. 1891, S. 44.
Die Tempcraturverhältnisse von Karlsruhe
73
weniger gut eine Scheidung in Abschnitte entsprechend den Be¬
wegungen der Gletscher, wo ja mehr ein Wechsel in der Größe
der Niederschlagsmengen als Schwankungen der Temperatur in
Betracht kämen, und jede derartige Wirkung sich örtlich differen¬
ziert und sehr verspätet geltend macht. Die Tabelle II im Anhang
gibt sämtliche Perioden mit ihren Temperatur-Mittelwerten an.
Recht deutlich treten diese Schwankungen in einer Zusammen¬
stellung der Mitteltemperaturen von je fünf aufeinanderfolgenden
Wintern bezw. Sommern hervor, entsprechend einer Berechnung,
wie sie Strub 1 für Basel gegeben hat. Seit 1897 sind die Mittel
der Wintermonate andauernd übernormale, und während die letzte
warme Periode der sechziger Jahre nur 7 zu warme Winter brachte,
zeitigte die gegenwärtig zu Ende gehende bereits über 15. Zum
Ausgleiche sind dafür in der kälteren Gruppe der achtziger Jahre
wieder eine Anzahl milder Winter zu verzeichnen.
Ihrer Zeitdauer und Intensität nach sind die einzelnen Perio¬
den recht unterschiedlich. Den warmen Jahren zu Ausgang des
18. Jahrhunderts folgte eine kürzere kältere Periode; der ebenfalls
nur etwa 15 Jahre dauernden intensiveren der zwanziger Jahre
eine längere, mehrfach unterbrochene kältere Zeit, um die Mitte
des letzten Jahrhunderts, die, wenn man nur die Winter berück¬
sichtigen wollte, noch erheblich in die nächsten Wärmeperioden
eingreifen würde (kalte Winter noch im 2. Lustrum der zwanziger
Jahre und bis zum Anfang der sechziger Jahre). Die sich an¬
schließende wärmere Periode kulminierte in den sechziger Jahren
und reichte mit ihren heißen trockenen Sommern bis über die
Mitte der siebziger hinein, während die ihr der Länge nach ent¬
sprechende sie ablösende kältere Zeit anfangs nur unternormale
Winter, später bei milden Wintern sehr feuchte, kühle Sommer¬
monate aufwies. Mit dem Lustrum 1886/90, das ein Mittel von
nur 9 C° (—0.7° unter dem Durchschnitt) hat, ist ihr Höhepunkt
erreicht, doch greifen die kälteren Winter gerade wie bei der
vorhergehenden kühleren Periode noch ein gut Stück in die
wärmere hinein, die man etwa mit den Jahren 1892 oder 1893
beginnen lassen kann. Die folgenden Jahresgruppen zeitigten
verhältnismäßig geringere positive Abweichungen, jahreszeitlich
namentlich im Frühling und Sommer den Durchschnitt gerade
nur erreichend; dagegen stellten sich in feist ununterbrochener
1 Strub, \V., Die Temperaturverhältnisse von Basel, S. 125.
74
L)r. Friedrich Gautier
holge milde Winter ein, so daß beispielsweise von den vergange¬
nen 13 Sommern des 20. Jahrhunderts 6 zu den kühlen zu rech¬
nen sind (o.6° und mehr unterm Mittel), während nur 1 Winter,
der von 1901, um einen im Verhältnis entsprechenden Betrag
unternormal war.
Extreme Sommer und Winter seit 1856.
Sommer
Winter 1
mit 19 0
unter 17 3 4 ° 1
mit 2 x /a°
unter o.o°
I
Warme Periode
1857
1860
•859
1858
1858
1864
1863
1863
1856—1875
1859
1869
1866
1870
| warme
kalte
1861
1871
1867
1871
1865
1869
Sommer
. . 9
4
1868
1873
1873
1 Winter
. . 6
4
1874
1 8"5
2. Kalte Periode
1876
1882
1876
1876
1876—1893
1877
1886
1883
1880
1881
1888
1884
oc
00
I
j warme |
kalte
1887
1890
1885
1888
Sommer
4
5
189t
1889
1891
Winter
• • 4
7
'893
3
. Warme Periode
•893
1903
1898
1893
1893—1913?
1897
1907
1899
1901
1900
1909
1902
warme
kalte
1904
1910
1903
Sommer
. . j 6
6
1905
1912
1906
1911
1913
1910
Winter
• • 8
1912
«913
Die mit diesen Jahren zu Ende gehende warme Periode unter¬
scheidet sich demnach von der vergangenen durch das häufige
Auftreten sehr milder Winter, während warme Sommer, wie sie
in den letzten fünfziger, den sechziger und siebziger Jahren die Regel
bildeten, nur spärlich vertreten waren; ein Ergebnis, das auch in der
abnehmenden Häufigkeit guter Weinernten seine Parallele findet.
1 Zum Winter des bc/eichneten Jahrgangs wird stets der vorangehende Dezember¬
monat hin/ugcrechnet.
Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe
75
Lustrenmittel, io-, 30- und 60jährige 1 Temperaturmittel Tal». 1
Lustrum
Jan.
Febr.
März April
Mai
Juni
J-di
Aug. Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
Jahr
>851-55
1-4
0.7
3.8
8.8
13-3
17.0
19.0
18.4
14.0
10.2
4.2
qJ
9-3
1856—60
1.0
1.4
5 * 1
97
137
18.5
19.2
19.3
« 5-2
10.7
2.6
1.8
9 9
11861—65
-0.4
2.2
57
10.8
15.0
1 7*5
19.1
18.6
15.2
10.6
5-4
0.9'
10.0
1866—70
*•4
4.4
4*3
10.6
.5.0
1 77
I9.8
*77
1 5-4
8.9
4-5
i -3
IO.I
•8-1—75
*•5
L 3
5-9
IO.I
12.9
17.1
20.1
I 8.4
15.4
9.2
4-4
—0.0
97
1876—80
—0.0
3.6
9.8
12.7
17.8
18.6
I8.9
* 4-3
9.6
4.8
1.0
97
vr>
OO
J,
00
OC
0.6
3-8
5-5
9 4
13.8
17.2
19.2
17.5
14.1
8.7
5.7
2.1
9.8
1886-90
—0.0
-0.3
3-8
9.2
14*3
■ 7-5
• 8.3
17.6
14.0
83
5.0
-°\
1.4
9.0
1891—95
-2.3
1.2
5*0
10.5
14.0
• 7-3
I9.O
• 8.3
15.0
97
5-3
9-5
I896-OO
21
3-6
5-9
9-4
13.0
18.0
I9.O
.8.5
14.8
9.8
5-2
2.0 10.1
1901—05
0.6
2*3
6.3
97
« 3-5
177
20.1
18.0
1 4-5
9-2
4-3
2.0'
9-9
1906—IO
0.9
2.0
4.8
9.2
* 4-5
.7.2
17.9
18.0
14.0
10.9
47
2.6
9 7
Perioden
1851—60
1.2
LI
4.4
9.2
* 3-5
17.8
19.1
18.9
14.6
10.4
3.4
1 * 3 j
9.6
1861—70
°-5
3.3
5 o
10.7
15.0
11 7-6
« 9.4
18.2
15.3
9.8
4.9
i.ii
10.1
1871—80
0.7
2.4
5.8
10.0
128
* 7-4
19.4
18.7 14.8
9.4
4.6
0.5
97
1881—90
o -3
1.8
4.6
9-3
14.0
17.3
18.8
17.6
14.0
83
5.4
I.Oj
9-4
1891—00
— 0.7
24
5-4
10.0
1 3-5
177
19.0
18.4
14.9
5-2
«7
9.8
1901 —10
0.8
2.1
5-6
9.4
14.0
17.4
19.0
18.0
1 4*3
10.0
4-5
2.3
9.8
3oj;ihr. Pe¬
riode von
Hann u. ff.
00
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0.8
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13.8
17.6
19-3
18.6
14.9
9.9
4-3
1.0
9.8
1881-1910
03
21
5-2
9.6
138
17.5
18.9
18.0
1 4-4
9-4
5 °
«7
97
60 jährige*
Mittel
185I-I9IO
°-5
! 2.2
5-2
9.8
138
« 7.5
19.1
•8.3
147
9.6
4.6
I -4i|
975
J ahreszeiten- M ittel
Winter
Frühling
Sommer
Herbst
1851—60
1.2
9.0
18.6
9-5
1861—70
1.6
10.2
18.4
10.0
CO
*> 1
T
OC
0
1.2
9-5
18.;
9.6
1881—90
1.0
9-3
17.9
93
1891 — OO
«•3
9.6
18.4
10.0
I9OI — IO
1.7
97
18.1
9.6
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T
CO
0
«•3
9.6
18.5
97
I 1881 —1910
1 -4
9-5
182
9.6
0
O'
T
OO
1.4
9.6
18.3
9.6
1
1 Maxima fett, Minima kursiv Ziffern.
Dr. Friedrich Gautier
76
Tab. ii Jahres-, Winter- und Sommermittel. 1851 —1914
Jahr
Jahres¬
mittel
Sommer¬
mittel
Winter-
mittel
1
Jahr
Jahres¬
mittel
Sommer¬
mittel
Winter-
mittel
I 1851
9.4
18.2
2.2
1891
9.1
17.2
-1.9
I '852
10.5
18.6
2-4
1892
9-5
18.6
f .8
>853
8.6
18.1
3-3
>893
10.0
18.9
-0.4
'854
9.2
17.2
-i -3
1894
10.0
17.9
i *5
' »855
8.7
18.5
-0.4
'895
9.2
18.4
2.7
: '856
9-5
.8.5
1.2
1896
9-5
1 7-9
* 4
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10.3
19.7
1.1
1897
10.i
19.0
1 -9
! '858
93
1 9-3
-04
1898
10.4
18.1
-> —
- • / j
! 1859
11.2
20.7
3 °
1899
10.1
18.5
3-9
1860
9.1
16.9
0.9
1900
10.4
19.1
2.0 I
1861
9.9
19.4
0.4
1901
9-4
18.6
—0.1
1862
10.7
18.0
1.4
1902
9.6
17.8
3-0
1863
10.5
18.5
3 -o
*903
10.1
1 7-5
2-5
! 1864
8.7
17.4
0.4
1904
10.2
19.2
i -4
1865
10.4
18.9
—0.2
1905
10.0
' 9-8
2.0
i 1866
10.6
18.5
3-2
1906
.0.1
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2.6
186;
9-9
18.0
3-7
1907
10.0
17.6
0.4 ;
iS*.«
1i.o
19.4
1 *5
1908
9.1
18.2
i -5 1
1869
10.0
1 r-5
5.0
1909
9.3
I (>.9
0.1
| 1870
9-0
18.8
-0.4
1910
10.2
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; 1871
83
1 7-4
-1.6
1911
10.8
20.1
2.0 !
1872
10.7
17-9
0.2
1912
99
1 7*7
3-9 1
, i8 73
10.1
19.2
3 -o
1 9 1 3
10.4
167
3 0
i8; 4
96
18.9
1.6
1914
178
; i -3
1873
9-7
19.0
0.6
I87O
10.1
19 3
— 0.1
Mittlere Wärme der Klimaperioden
.8;;
10.2
19.1
4.9
Perioden- und Lustrenmittel
1878
9-9
18.0
2.2
| Warme
Kalte
I '879
8.3
17-9
1.2
1 7 7 5 — 1800
1801 — 1820
j l88()
10.1
18.0
- 3.0
circa
circa
1 l88l
9 5
19.0
2.0
Lustra: io° 9?
6 9? 6 io°
j?8 9°6 9°9 9°5 9-4
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9-9
16.7
1 -3
9 8
96
I 1883
9-8
17.9
3-3
1821 — 1835
1836—1855
l 1884
10.4
18.2
3 -<>
Lustra: 10? 5
9-5 9-7
9?4 9'
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1 1885
9-5
18.2
2.9
9:9
9?5
| 188<>
9-9
1 7*7
0-3
1856-1873
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1 1887
8.3
1 18.9
1
| 0.0
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9-7 9-7
9-8 9 “ 9°5
1888
8.6
17.0
—0.2
9-9
9-5
1881)
9.0
18.4
! -<M I
1896
- 1910
1800
9 0
1 7 1
0 8
j
Lustra: io r .'1
9 ? 9 9 ? 7
1 i
1 1
9.9
Die Tempcraturveihültnisse von Karlsruhe
/ /
Tabelle III
Monats- und Jahresmittel der Temperatur in C°. 1
1851 — 1914
Jahr-
gänge
Jan.
Febr.
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
|i
Dez. ;
r
Jahr
1851
27
i -9
5-5
10.7
11.6
18.5
177
18.5
1 2.2
I 1.0
2.1
|!
0.6 !
9-4
1852
3-6
3 -i
2.8
7.8
15.2
I6.5
21.2
18.2
1 4-3
8.1)
9.0
6.0
10.6
1853
4.0
—0.2
1.0
7 o
13.0
17.0
19.2
18.2
14.2
9.8
4.0
- 3-8
8.6 :
•»54
—0.0
—O.I
5 * 1
9-7
1 4*4
15-4
18.8
17.4
* 4-3
10.2
2.6
3 *
9.2
1855
-3.3
— 1.1
4.4
8.4
12.1
17.8
l8.1
l 9*7
*4 9
11.6
3-5
—2.0
«• 7 ,
I856
1.6
4 * 1
3-6
10.4
11.7
>8.3
i 7-3
20.0
*3 4
9-9
*•3
2 -5
9 5
1857
0.4
0.4
4.8
8.7
14.4
1 7*7
20.9
20.5
16.6
11.5
5-0
2 4 1
10.3
I858
-2.4
—1.1
4-3
IO.I
12.4
21.5
18.1
18.3
* 7-3
10.5
-0.5
9-3
1859
1.8
4-7
8.6
10.6
* 4-5
18.0
23.0
21.0
*4 9
12.2
4-5
—0.0
11.2
1860
3-6
—1.0
4.1
8.6
15.6
17.0
16.8
16.9
1 3*9
9.2
2.6
*0 :
9 *
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- 4 .b
4.2
6.4
8.7
13-2
19.0
I8.9
20.3
15.0
11.4
5-8
1.0
9-9
1862
O.9
2-3
8.3
12.2
16.2
16.8
I 8.9
18.2
15.8
11.2
5-3
2.8
10.7
I863
3-3
2.8
5*6
10.6
* 4*5
> 7 -i
>8.3
20.1
13.6
10.9
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10.3
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- 3-5
1.2
6.9
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> 3-8
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.8.5
16.8
* 4-5
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3*9
1
—2.; 1 1
3 1
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*•9
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1.4
13.6
1 7-5
1 7 9
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17.8
* 7-3
10.8
6.5
-04
10.4
1866
4-5
5-5
5.0
11.1
11.9
* 9-3
18.9
16.9
15.6
8.1
5-8
1 4.0
10.6
1867
1.2
6.0
4.9 |
10.0
14.9
*7 5
17.6
19.0
15.8
89
3*5
—O.I
9-9
1868
O.I
4.6
4.8 ;
9.0
18.8
18.8
* 9-9
19.4
16.4
9.9
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1 1.1
1869
0.6
7.3
30,
»2.5
14.7
14.8
20.8
16.9
16.4
7.8
5-4
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10.0
1870
0.8
- 1-5
3 -^
10.4
1 4-9
18.2
21.7
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* 2.9
9.6
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9.0
18; 1
- 3-7
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14.2
19.2
18.9
16.1
6.4
*■9
— 4-4
8-3
.872
1.8
3-2
6.5
10.8
13.8
16.8
19.9
17.0
15.8
10.6
/ • /
4.1
10.7
1873
3.6
1.4
7-3 :
8-5
115
17.8
20-8
19.1
13.6
10.8
5-3
*•5
10.1
1874
2.5
0.8
5-4 1
11.5
11.1
17.8
22.0
16.9
16.1
,
94
2-3
—0.0
9-7
1875
3-5
j-i -7
3 - 6 ;
9.8
1 5-7
18.7
18.4
1 9*9
* S -4
8.8
5 °
-1.2
9-7
1876
“ 2 *5
33
6.5 |
10.6
11.4
18.1
; *9-9
19.8
* 3-9
11.8
3-8
5 -*
IO.I j
1877
4.2
5-4
4 -*
9 * 1
| 11.8
19.9
>8.5
19.0
S 11.8
7-9
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2 ,s;
10.2
1878
0.8
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10.5
1 5-3
1 / *3
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* 5 - *
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4.6
-0.3
9-9
! 1879
O.I
3-7
8.2
11 -5
1 7 *7
16.6
* 9-3
15.2
8.5
2-3
-8 5
8.3
1880
-2.8
2.4
7 -i
10.4
13 4
16.2
19.9
18.0
1 5-5
9-3
5-4
9.3
IO.I
1 Die zugrunde liegenden Tagesmiltel sind nach der Formel [■''a. in. + 2 h p. in.
+ 2 (9 h p. m.)] : 4 gebildet.
Dr. Friedrich Gauder
Noch Tabelle III
Jahr¬
gänge
Jan.
j
Febr. ( März
i
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez.
Jahr
1
1881
-3 0
2.8
6.8
8.6
> 3*7
17.8
21.1
18.2
» 3*4
6.0
7.6
i *5
9*5
1882
0-5
2.0
7.8
10.0
14.2
l6.l
> 7-4
16.5
>37
10.7
6-5
3 *i
9*9
1883
2.0
4-9
13
8.9
■ 4-7
18.2
17.8
17.6
14.4
9.2
6.1
2.0
9.8
1884
4.8
40
7 -i
8.3
14.8
15.0
20.6
18.9
» 5 »
9.0
3-3
3*5
10.4
1885
— 1.1
5-5
4.6
11.0
11.7
I 9 .I
18.9
16.5
14.0
8.7
4.9
0.6
9*5
1886
0.8
-0.5
3-5
11.1
14.2
! 5*4
19.0
18.7
16.7
11.0
6.4
2.6
9*9
1887
-2.9
0.4
2.6
9-3
« 1-3
,7.8
21.1
17.8
12.6
6-3
4 * 1
0.6
8.5
1888
— 1.0
—0.1
4.4
7.8
> 4-4
18.2
16.1
16.6
I4.0
7.0
3*8
0.1
8.6
1889
-0.7
—0.6
2.6
9.0
16.3
19.7
18.2
17.2
12.7
9.2
3*7
-0.4
90
1890
3-7
—0.8
6.0
8.8
>5 1
* 6-3
17.2
1 7 *9
14.1
8.1
4*9
- 3*4
i 9.0
1891
- 3 -i
0.8
5-2
7.8
14.0
17.0
17.8
16.8
13.0
10.7
3*7
3 *o
9 .»
1892
0.2
2-3
2.9
9.6
14.6
17.2
18.3
20.0
1 5*4
8.4
5.6
—0.8
, 9*5
'«93
-5.3
3 °
7 -i
1 2.2
14-3
1 7 9
19.3
. 9.2
14.5
10.9
3*8
0.9
1 10.0
1894
— 0.1
3-8
6.7
12.1
12.9
16.5
19.8
17.4
12.4
9*7
6.4
1 5
10.0
1895
-34
-61
3-3
1 1.0
14.2
1-.8
19.4
17.9
17.5
8.7
7 »
2.4
9.2
1896
°*5
1
8.i
7 9
1 3-4
18.4
19.0
16.3
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—0.6
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; 9.0
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65
14.0
16.8
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1904
—0.2
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14.6
■ 1 7*7 1
21.7
18.2
13.2
9*9
3*9
5 <> !
10.2
1905
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1
Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe
79
1801 —1850 zu Tabelle III
Älteste Monats- und Jahresmittel der Temperatur
8o
Dr. Friedrich Gautier
Tah iv Mitteltemperatur 1 von je 5 Wintern und Sommern
! Jahre
Jahre
'851-55
I.I
18.2
1880—84
1.6
18.0
1852—36
1.0
18.2
1881—85
2.2
17-9
•853-5;
0.7
18.4
1882—86
2.2
17-9
1854—58
O.4
18.7
1883—87
1.9
18.0
■855—59
O.7
19.1
1884—88
1 *3
18.0
1856 60
1.0
19.1
1885 — 89
0.6
17.9
1857 —€> I
I .O
19.1
1886—90
0.1
17.8
1858 - 62
1.2
18.9
1887—91
-0.1
1 7.7
1859—64
1.4
18.6
1888—92
—0.1
17.8
1860—64
i -3
18.4
1889—93
0.1
1 7-9
1861 —65
1.2
18.4
1890—94
0. i
18.0
1862- — 66
1.5
18.3
1891-95
0.0
18.2
1863 -67
1.8
18.3
1892—96
0.2
18.3
1864 — 68
2.0
18.4
'« 93 - 97
°-5
18.4
1865—09
2.4
18.4
I 894-98
0.9
18.4
1866 — 7°
2.3
18.4
1895 -99
1.6
18.4
1867 — 7 1
1.7
18.3
1896—00
2.1
18.5
1868 — 72
1.2
18.2
1897 - 01
2.2
18.6
1869—73
1.0
18.3
1898 — 02
2.2
18.4
1870- 74
0.8
18.4
1899 -03
2.2
18.4
1871-75
0.8
18.6
1900 - 04
1.9
18.4
1872 -76
1.2
18.8
1901—05
1.9
18.4
1 * s r 3—rr
1.7
19.0
1902 — 06
2.0
18.4
1874 -78
1.8
18.9
1903-07
1.9
18.5
1X75 —79
1.6
18.7
1904—08
1.6
18.4
1870—80
1 *3
18.5
1 1905- 09
1.5
18.1
1S77- 81
1.2
18.3
1906 - 10
1.6 !
' 7-9
1878-82
1.0
18.0
1907 — 1 1
1.8
18.0
i« 79-«3
1 -°
1 7 ■')
1908 - -12
2.2
18.0
190913
26
. 7-8
Anhang: Differenz der Morgentemperatur vom Tagesmittel
im Monatsdurchschnitt: (C°)
1
1 886— 1890^ 1891 — 1 895 1896—1900 1901 —1905
Unterteil ted
( 86 - 95 ) zu <96*051
! Ap.il .
2.9
3-6
2.6
2.8
+ 0.7
I Mai.
2-3
-i
2.8
-°*3
; Juni.
1.9
2. I
2.6
2.7
—0.6
| Juli.
1.0
2.0
2.4
2.9
-0.7
August ....
2.5
2.0
2.6
-0.3 |
September
2.0
3-2
2 6
2.7
+0.4
1 Duichsdinitt über Mittel b tt. Mittel ausgeglichen nach Formel [(m — l)
+ 2 m + im +1)]: 4.
Pentoden-Mittel. Reihe a= 1851—1880, b = 1881 —1910, c= 1851 —1910. Tal).
Die Temperaturverhältnisse von Karlsruhe
81
Verhandlungen 26. Bd,
6
C° j Januar-Februar] März April Mai Juni 1 Juli August jSeptemjOktoberNovemb-jOezemb.
Positive und negative Abweichung der Monatsmittel.
Zum 100. Geburtstag* von Robert Mayer.
Von O. Lehmann.
Hundert Jahre sind verflossen, seit der Arzt Robert Mayer in
Heilbronn das Licht der Welt erblickte, der Entdecker eines funda¬
mentalen Gesetzes, das die bis dahin getrennten Kapitel der Physik
in innigen Zusammenhang brachte und die Entwicklung der Physik
sowohl wie der Technik außerordentlich gefördert hat. Die Tech¬
nische Hochschule seines Heimatlandes hatte die Absicht, in Ver
bindung mit dem Verein Deutscher Ingenieure diese Jahrhundert¬
feier durch einen großen Festakt zu begehen, zu welchem auch zahl¬
reiche Gäste von auswärts eingeladen werden sollten. Die von Herrn
Professor Dr. Weyrauch herausgegebene, sehr reichhaltige Fest¬
schrift *, der ich manches für den heutigen Vortrag entnehme, ist be¬
reits erschienen, das Fest mußte leider des Krieges halber ausfallen.
Wenn es uns heute möglich ist, wenigstens in kleinem Kreise der
Verdienste Robert Mayers zu gedenken, so verdanken wir das den
Tapferen, die unter unsäglichen Strapazen, Entbehrungen und Lei¬
den, stets vom Tode bedroht, treue Wacht halten an den Grenzen
unseres Vaterlandes gegen das Eindringen übermächtiger Feinde,
welche getrieben durch Neid und Mißgunst, Habsucht und Herrsch¬
sucht unsern durch langjährige fleißige Arbeit geschaffenen Wohl¬
stand, ja unsere Existenz zu vernichten streben.
Dieser unserer Helden im Felde wollen wir vor allem mit inni¬
gem Dank für ihr Wirken gedenken. Doch wir wollen auch nicht ver¬
gessen derjenigen, die durch verborgene, aber äußerst schwierige
und aufreibende wissenschaftliche Geistestätigkeit und scharfsinnige
1 Robert Mayer, zur Jahrhundertfeier seiner Geburt, Stuttgart, K. Wittwer,
1915. Siebe ferner Fr. Dürr, Schwäbische Chronik, 2i.No\\, Nr. 545 u. R. Lorenz,
Julius Robert Mayer, Gedächtnisrede zum 100. Geburtstage, Jahib. d. Frankfurter
physikalischen Vereins.
6 *
8 4
O. Lehmann
Verwertung ihrer Ergebnisse zur Förderung der Technik dazu bei¬
getragen haben, die Rüstung Deutschlands derart zu verstärken,
daß trotz der großen Übermacht der Gegner nicht nur deren Einfall
in unser Gebiet verhindert, sondern sogar der Krieg in ihr eigenes
Land getragen werden konnte.
Zu diesen gehört im weiteren Sinne auch unser Robert Mayer,
dem leider nicht vergönnt war, zur rechten Zeit die gebührende An¬
erkennung seiner Erfolge zu finden.
Das Problem, dessen Lösung Robert Mayer gelungen ist, ist
im Grunde so alt wie die Physik selbst. Bekanntlich hat diese ihren
Ausgang genommen von der Astrologie der alten Magier oder Prie
ster in Babylonien und Ägypten 1 vor etwa 6000 Jahren. Auf Grund
genauer Beobachtung der Bewegung der Gestirne vermochten die
Magier bereits Sonnen- und Mondfinsternisse vorherzusagen. Aber,
warum bewegen sich die Sterne regelmäßig? Warum bleibt ihr Be¬
wegungszustand immer erhalten?
Aristoteles, der griechische Philosoph, der im 4. Jahrhundert
v. Chr. die Bezeichnung „Physik“ geschaffen hat, gab die Antwort:
Weil die Sterne auf ihrer Bahn nicht gelenkt werden durch willkür¬
lich schaltende Gottheiten, wie die Astrologen angenommen hatten,
sondern weil die kreisende Bewegung, die sie ausführen, eine natür¬
liche ist und deshalb wegen Mangels eines Grundes immer erhalten
bleiben muß, sofern sie nicht durch ein Hindernis aufgehalten oder
abgeändert wird.
Die Erkenntnis des Domherrn Kopernikus in Frauenburg im
Jahre 1507, daß die Bewegung der Sterne nur eine scheinbare ist, in
Wirklichkeit vielmehr die Erde sich wie ein großer Kreisel immer
gleichmäßig um ihre Achse dreht, war geeignet, des Aristoteles
I.ehre von der Erhaltung der kreisenden Bewegung
zu stützen. Doch bereits 100 Jahre später erkannte Galilei, der Pro¬
fessor der Physik in Pisa, der eifrigste Verfechter der kopernika-
nisehen Theorie, die Unhaltbarkeit der Aristotelischen Auffassung.
Seinem neuen Trägheitsgesetz zufolge ist die natürliche Bewegung
diejenige, die immer erhalten bleibt, wenn keine störende Ursache
hinzukommt, nicht die kreisende, sondern die geradlinige.
1 ^ gk J- Fr ick 11. O. Lehmann, Physikalische Technik, 7. Aufl. Bd. I (2)
S- t»33 u. ff. Braunschweig 1905, ferner meine Schriften: Physik u. Politik, Rektorats¬
rede Karlsruhe 1901 und Geschichte des physik. Instituts d. techn. Hochschule, Fest¬
gabe der Fridcriciana zur 83. Vors, deutscher Xaturf. u. Ärzte, Karlsruhe 1911.
Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer
Ein Wagen oder Eisenbahnzug auf horizontalem Geleise, bei
welchem die Triebkraft gerade durch die Reibung der Räder kom¬
pensiert wird, bewegt sich, wie uns heute ganz geläufig ist, mit
gleichmäßiger Geschwindigkeit immer weiter, soweit das Geleise
geradlinig ist. Aber selbst, wenn er an einer Kurve durch den elasti¬
schen Gegendruck der Schienen genötigt wird, die geradlinige Bahn
zu verlassen und ein Stück eines Kreises zu durchlaufen, bleibt seine
Geschwindigkeit erhalten.
Gleiches gilt für eine abgeschossene Kanonenkugel. Wie der
Wagen besitzt diese vermöge ihres Bewegungszustandes, den sie zu
erhalten sucht, eine Kraft, vermöge deren sie Hindernisse über
winden, z. B. eine Mauer durchbrechen kann. Leibniz führte im
Jahre 1695 für diese Kraft die Bezeichnung „lebendige Kraft“ ein,
im Gegensatz nur „toten Kraft“, die dieselbe Kugel als Druck auf
den Boden ausübt, wenn sie zur Ruhe gekommen ist.
Damit setzte er sich freilich in Widerspruch zu Galilei, Descar-
tes (1644) und Newton (1687), nach welchen es nur eine Art
Kraft gibt, die stets gemessen wird durch das Produkt der Stoff¬
menge oder Masse mit der erzielten Beschleunigung, während das
Maß der lebendigen Kraft das halbe Produkt von Masse mal Qua¬
drat der Geschwindigkeit ist.
Lebendige und tote Kraft sind also ganz verschiedene Begriffe.
Sie sollten nicht mit dem gleichen Wort bezeichnet werden. Spricht
man aber doch von lebendiger Kraft, so kann man das Galileische
Trägheitsgesetz auch das Gesetz von der Erhaltung der le¬
bendigen Kraft nennen, welche freilich nur so lange Bestand
hat, bis eine störende Ursache hinzutritt.
Galilei, der Erfinder der Pendeluhr, hat erkannt, daß bei einem
Uhrwerk die Bezeichnung tote Kraft für den Zug der Gewichte
nicht immer passend ist. Völlig tot ist sie eben erst nach dem Ab¬
lauf der Gewichte. 1 Gleiches trifft für eine aufgezogene Feder zu.
Durch allerlei Mechanismen, wie Räder und Hebel, ist man im¬
stande, die scheinbar tote Kraft unter Erhaltung ihrer Größe auf
andere Körper zu übertragen. Falls sich dabei eine Änderung der
Größe ergibt, so bleibt doch das Produkt von Kraft und Weg immer
erhalten, welchen wichtigen Satz die Mechanik als „goldene Regel ‘
bezei ebnete.
1 Der Vortrag wurde begleitet von Demonstrationen zahlreicher Apparate und
Maschinen, auf welche hier der Kürze halber nicht eingegangen wird.
86
O. Lehmann
Job. Bernoulli hat im Jahre 1742 für das genannte Produkt von
Kraft und Weg die Bezeichnung ,,Arbeitsfähigkeit“ eingeführt, so
daß man die goldene Regel als das „G e s e t z der Erhaltung
d e r A r b e i t s f ä h i g k e i t“ bezeichnen könnte.
Bernoulli erkannte weiter, daß in manchen Fällen, z. B. beim
Schwingen des Uhrpendels, diese Arbeitsfähigkeit sich in lebendige
Kraft umsetzt und alsbald wieder aus dieser aufs neue entsteht,
derart, daß in jedem Moment die Summe beider Größen die¬
selbe ist. Für das Pendel und ähnliche Vorrichtungen konnte man
dann ein erweitertes „Gesetz der Erhaltung der K r a f t“
aufstellen, indem man unter Kraft die Summe von lebendiger Kraft
und Arbeitsfähigkeit (Spannkraft) verstand. 1
Das Wort ,,Kraft“ in dieser Bedeutung gebraucht, ist ein ganz
anderer Begriff als der von Galilei, Newton und Descartes so be-
zeichnete. Die sich darum ergebende Verwirrung wurde noch ver¬
größert dadurch, daß J. Watt, der Erfinder der Dampfmaschine,
etwa 1770, einen dritten Begriff, den der Leistung, die gemessen
wird durch das auf eine Sekunde entfallende Produkt von Kraft und
Weg, einfach als ,,Kraft“ bezcichnete. Die Leistung einer Kraft
gleich dem Gewicht von 75 Kilogramm, wenn sich ihr Angriffspunkt
mit der Geschwindigkeit von 1 Meter in der Sekunde bewegt,
nannte er ,,Pferdekraft“, weil sie ungefähr der Leistung eines Pfer¬
des entspricht. S. Carnot bezeichnete 1824 das Produkt von Kraft
mal Weg als „Arbeit“. Die elektrotechnische Einheit derselben wird
als Joule 2 bezeichnet, die Einheit, d. h. eine Arbeit von 1 Joule pro
Sekunde als 1 Watt. 1000 Watt sind ein Kilowatt; dieses wird
jetzt vielfach an Stelle der Pferdekraft als Effekteinheit gebraucht.
Die feinere Mechanik des Mittelalters hatte sich namentlich mit
der Herstellung von Uhrwerken zum Betrieb von Automaten (be¬
weglichen Puppen) befaßt. Ein sich selbst aufziehendes Uhrwerk,
ein perpetuum mobile wäre dabei außerordentlich dienlich gewesen
und seine Erfindung erschien als das höchste zu erstrebende Ziel.
1 Helmhol tz ersetzte aus diesem (irunde später das Wort ,,Arbeitsfähigkeit“,
das aber auch heute noch gebräuchlich ist. durch das Wort ..Spannkraft“. Mavcr
nannte sie ,,Fallkraft“.
' Dies ist die Arbeit einer De/imagradvne, d. h. der Kraft, die der Masse i kg
die Re^chlcunigung I erteilt; siehe O. Lehmann, Leitfaden der Physik, Vorwort
S. 7 und Zeitschr. f. Instmmentenkunde 33, 270, 1013; R. de Rai lieh acht, Rev.
gen. des Sciences 24, 17, 1013 u. La tcchnitjuc moderne 6, 3Ö9, f«) 14•
Zum (Oo. Geburtstag von Robert Mayer
«7
Schließlich erkannte man die Unmöglichkeit eines Erfolges, die für
gewöhnliche Uhrwerke eben bereits in dem Satz von der Erhaltung
der Kraft (richtiger der Arbeitsfähigkeit) ausgesprochen ist. Die
Unmöglichkeit des perpetuum mobile wurde ein physikalischer Lehr¬
satz. Bereits Stevin hatte 1605 daraus auf sehr einfache Weise das
Gesetz der schiefen Ebene abgeleitet. Schlingt man nämlich um
zwei gleich hohe schiefe Ebenen verschiedener Neigung, die den
höchsten Punkt gemein haben, eine geschlossene Kette und wäre das
Gesetz der schiefen Ebene nicht richtig, so würde die Kette ent¬
sprechend der Differenz der entgegengesetzten Kräfte beständig um¬
laufen, man hätte ein ganz einfaches perpetuum mobile
Obschon nun das Gesetz von der Erhaltung der Kraft im
Grunde mit dem Axiom von der Unmöglichkeit der perpetuum mo¬
bile identisch schien, zeigten sich doch auffallende Ausnahmen. Die
lebendige Kraft einer Kanonenkugel, beispielsweise, wird anschei¬
nend völlig zerstört, wenn die Kugel auf ein mächtiges Hindernis
auftrifft.
Der erste, der klar erkannte, daß diese Zerstörung nur
eine scheinbare ist, daß die lebendige Kraft sich ge¬
wissermaßen nur versteckt, in Wirklichkeit weiterexistiert als le¬
bendige Kraft der Bewegung unsichtbarer Moleküle, wie solche be¬
reits Daniel Bernoulli 1738 zur Erklärung des Verhaltens der Gase
angenommen hatte, war der bayerische Kriegsminister Graf Rum¬
ford 1 (ursprünglich ein amerikanischer Lehrer namens Thomson).
Beim Besuche von Artilleriewerkstätten 1798 fiel diesem näm¬
lich die starke Erhitzung von Kanonenrohren beim Ausbohren auf,
wenn der Bohrer stumpf war. Im Grunde war das nichts Neues,
denn die Entzündung eines rasch gedrehten Holzstabes bei starker
Reibung an einem Widerlager wurde schon in sehr alten Zeiten zum
Anmachen von Feuer benutzt, wenn eine andere Möglichkeit fehlte.
Rumford konstruierte aber eine Vorrichtung, die wir heute Wasser¬
kalorimeter nennen würden, mit der ihm gelang, nachzuweisen, daß
ohne merkliche Materialabnutzung beliebig viel Wärme gewonnen
werden kann, wenn nur ausreichender Vorrat von Arbeitsfähigkeit
(er verwandte Pferde zum Antrieb der Maschine) vorhanden ist und
verbraucht wird. Augenscheinlich ging, wie bemerkt, die sichtbare
Bewegung in unsichtbare über; cs war anzunehmen, daß auch für
diesen Übergang das Gesetz der Erhaltung der lebendigen Kraft
1 Rumford, Trans. Roy. Soc. London 88, 25. Jan., 1798.
88
O. Lehmann
seine Gültigkeit behalte. Der Fall der plötzlich durch ein Hindernis
in ihrem Lauf aufgehaltenen Kanonenkugel ist also kein Beweis für
eine Verletzung des Gesetzes; auch hier geht offenbar, wie auch die
Erhitzung der Kugel erkennen läßt, die lebendige Kraft sichtbarer
Bewegung in solche unsichtbarer Molekularbewegung über. Daß
auch der umgekehrte Übergang stattfinden könne, erkannte er daran,
daß ein blind geladenes Geschütz sich stärker erwärmt als ein scharf
geladenes, was offenbar so zu deuten war, daß ein großer Teil der
durch Verbrennung des Pulvers beim Abfeuern entstandenen Wärme
verbraucht wird, um der Kugel ihre lebendige Kraft zu erteilen. Es
handelt sich um einen Übergang der lebendigen Kraft der Moleküle
des Pulverdampfs auf die Kugel unter Erhaltung ihrer Menge. Die
um jene Zeit erfundene Dampfmaschine schien gleiches zu beweisen.
Eine Verallgemeinerung der Vorstellungsweise lag nahe und
bereits 1837 sprach sich der Professor der Pharmazie in Bonn Er.
Mohr 1 aus wie folgt: ,.Außer den bekannten 54 chemischen Ele¬
menten gibt es in der Natur der Dinge nur noch Ein Agens, und
dies heißt Kraft; es kann unter den passenden Verhältnissen als
Bewegung, chemische Affinität, Kohäsion, Elektrizität, Licht, Wärme
und Magnetismus hervortreten, und aus jeder dieser Erscheinungs¬
arten können alle übrigen hervorgebracht werden. Dieselbe Kraft,
wenn sic den Hammer hebt, kann, wenn sie anders angewendet wird,
jede der übrigen Erscheinungen hervorbringen.“
M. Planck 2 bemerkt dazu: „Man sieht, es ist nur noch ein
Schritt bis zur Frage nach dem gemeinschaftlichen Maß aller dieser
als gleichartig erkannten Naturkräfte.“ Dieser Schritt nun wurde
zuerst getan von Robert Mayer im Jahre 1841. Er erkannte den
Fehler in Mohrs Vorstellungswcise (zunächst allerdings noch nicht
mit voller Sicherheit), der in der Verwechslung von Galilei-Newtons
Kraftbegriff mit dem Leibnizschen beruhte, weshalb eben Mohrs
Hypothese keinen Glauben fand, da sie in dieser Hinsicht leicht be¬
stritten werden konnte. Er hat später auch direkt mit Mohr darüber
korrespondiert und drückt sich dabei in drastischer Weise in folgen¬
den Worten aus: ..Den unproduktiven (Galilei-Newtonschen)
Druck haben wir umsonst, die (Leibnizsche) Kraft aber, das so¬
genannte Kilogrammeter kostet immer Geld.“ ' 5
1 Kr. Mohr, Arm. < 1 . Pharm. 24. 14 r, 1837.
- M. Planck, Pas Prinzip d. Erhaltung; d. Energie. 3. Aufl. 1913, S. 24.
51 Pie eingeklammerten Worte sind von mir beigefügt. L.
Zum ioo. Geburtstag von Robert Mayer
89
Vermutlich hatte er als Sohn eines Apothekers Kenntnis erhal¬
ten von dem drei Jahre zuvor in einer pharmazeutischen Zeitschrift
erschienenen Artikel von Fr. Mohr. Auch die Versuche von Rum¬
ford, der öfters nicht weit von Heilbronn, in Mannheim und auch
hier in Karlsruhe in unserem physikalischen Institut (gemeinsam
mit dem damaligen Physiker Boeckmann) tätig war, mußten ihm
wohl bekannt sein. Von den Bestrebungen zur Herstellung eines
perpetuum mobile hatte er schon als Knabe gehört, auch hatte er
selbst einen mißglückten Versuch gemacht, ein solches herzustellen.
Gelegenheit äußerte er sich, gerade die Erkenntnis der Unmöglich¬
keit, ein perpetuum mobile herzustellen, habe ihn zur Auffindung
der Äquivalenz von Arbeit und Wärme geführt. In einem Briefe
an den Psychiater Griesinger 1842 schreibt er: ,,Meine Behaup¬
tungen können alle als reine Konsequenzen aus diesem Unmöglich¬
keitsprinzip betrachtet werden. Leugnet man nur einen Satz, so
führe ich gleich ein perpetuum mobile auf/ 4
Freilich, die damaligen Physiker waren anderer Ansicht. Trotz¬
dem alle Einwendungen gegen Rumfords mechanische Theorie der
Wärme in klarer Weise zurückgewiesen waren, hielt man immer noch
an der alten Stofftheorie der Wärme fest, die die Wärme als ein
feines (allerdings unwägbares) Fluidum betrachtet, weil sie von
heißen zu kalten Stellen, d. h. von Stellen großer zu solchen geringer
Dichte abfließt, wie etwa die Luft von Stellen hohen zu solchen ge¬
ringen Barometerstandes. Der Ingenieur Sadi Carnot in Paris war
im Jahre 1824, ebenfalls ausgehend von der Unmöglichkeit eines
perpetuum mobile, zu ganz anderen Ergebnissen als Graf Rumford
gekommen, über welche er in einer Schrift 1 berichtete, die großes
Aufsehen erregte und bezüglich deren der berühmte englische Physi ¬
ker Lord Kelvin sagte, ,,er habe im ganzen Gebiete der Wissenschaft
nichts bedeutenderes als diese Schrift gefunden/ 4 Carnot hat sich
geäußert: ,,Die Arbeitserzeugung in unseren Dampfmaschinen ist
also zurückzuführen nicht auf einen wirklichen Ver¬
brauch an Wärme, sondern auf ihren Übergang von einem
warmen zu einem kalten Körper/ 4 Er hat die Arbeit einer Dampf¬
maschine mit der eines Wasserrades (Wassermotor), verglichen, bei
welcher ebenfalls die Wascrmenge ungeändert bleibt. Ebenso wie
1 Sadi Carnot, Rcflexions sur la puissance motrice du feil et sur les machines
propres a developper cettc puissance, Paris 1824.
9 °
O. Lehmann
bei diesem die Arbeit durch das Produkt der Menge des Wassers
mit dem Gefälle, um welches es heruntersinkt, gemessen wird, sei die
Arbeit einer Dampfmaschine proportional dem Produkt der durch
sie hindurchgehenden Wärmemenge mit dem Temperaturgefälle,
um welches sie herabsinkt. Selbst der Ingenieur Hirn, der später
besonders sorgfältige Messungen des mechanischen Wärmeäquiva¬
lents bei Dampfmaschinen ausgeführt hat, war noch 1858 der Mei¬
nung, eine expansionslos arbeitende Dampfmaschine könne ohne
Aufwand von Wärme Arbeit leisten.
Viel früher, nämlich schon 1832, hat übrigens Sadi Carnot selbst
seinen Irrtum eingesehen, doch hat er dies nicht öffentlich bekundet,
sondern nur in einem unveröffentlichten Privatbriefe. Die Physiker,
die von diesem Brief nichts wissen konnten, blieben natürlich der
Meinung, durch Sadi Carnots hervorragende Arbeit seien die Ver¬
suche von Rumford in exakter Weise widerlegt, die Stofftheoric der
Wärme sei endgültig als die richtige zu betrachten.
Robert Mayer ist wohl durch Carnots Theorie nicht beeinflul.it
worden; sehr wesentlich dürfte aber auf seinen Gedankengang die
um jene Zeit sich vollziehende Einführung der Eisenbahnen ein¬
gewirkt haben. In seinem ersten Aufsatze 1 (1842) schreibt er:
,,Die unter dem Kessel (einer Lokomotive) angebrachte Wärme geht
in Bewegung über und diese setzt sich wieder an den Achsen der
Räder als Wärme in Menge ab.“
Im gleichen Jahre äußerte er sieh in einem Briefe an Griesinger:
..Ob wir schnell oder langsam verbrennen, ob im offenen oder im
Raum der Maschine, ist für das Endresultat, für das durch den Ver¬
brennungsprozeß gelieferte Wärmequantum gleichgültig; lassen wir
aber mit unserer Kohlcnmenge die Maschine arbeiten und (die) Ge¬
wichte heben, so wird ein geringeres Wärmequantum als vorher ge¬
liefert; der Ausfall wird aber präzis wieder gedeckt, wenn wir den
mechanischen Effekt, den die Gewichte durch das Herabsinken lie¬
fern, zur Wärmeproduktion verwenden.“ -
Drei Jahre später in seinem zweiten Aufsätze drückt er sich
aus: ..Die in den Lokomotiven wirksame Kraft ist die Wärme. Der
1 Oie Mechanik der Wärme in gesammelten Schriften von Rob. Mayer mit
historisch - literarischen Mitteilungen herausgegeben v. Weyrauch, Stuttgart, Cotta
1803, S. 20.
- Kleinere Schriften und Briefe von Kob. Mayer, nebst Mitteilungen aus
seinem Leben; leide herausgegeben von Weyrauch, Stuttgart 1893, Cotta, S. 187.
Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer gi
Aufwand von Wärme oder die Verwandlung der Wärme in Bewe¬
gung beruht nun darauf, daß die Wärmemenge, welche von den
Dämpfen aufgenommen wird, fortwährend größer ist als die, welche
von den Dämpfen bei ihrer Verdichtung an die Umgebung wieder
abgesetzt wird. Die Differenz gibt die nutzbar verwendete oder die
in mechanischen Effekt verwandelte Wärme.“ 1
„Damit, sagt Weyrauch mit Recht, war die wichtigste Grund¬
lage der heutigen Theorien aller Wärmemotoren gegeben.“
Freilich für das volle Verständnis war überdies auch Carnots
Gedankengang zu berücksichtigen, der aber Robert Mayer fremd
war, so daß dessen Versuche, den Wirkungsgrad von Dampfmaschi¬
nen zu bestimmen, zu keinem befriedigenden Ergebnis führten.
Vortrefflich waren Robert Mayers populäre Darlegungen über
die Bedeutung der Übertragbarkeit und gegenseitigen Verwandel¬
barkeit der verschiedenen Energieformen. Er beschreibt die Über¬
tragung der potentiellen Energie mittelst des Hebels, die Umwand
lung derselben in Bewegungsenergie durch Stoß und Reibung, die
Rückumwandlung der Bewegungsenergie in Energie der Lage beim
Pendel, die Entstehung von Wärme aus Bewegungsenergie und
Lichtenergie; die Rückumwandlung von Wärme in Bewegungsener¬
gie durch die Dampfmaschine, in Lichtenergie durch einen glühen¬
den Körper, die Übertragung der Wärme durch Leitung, die Um¬
setzung von Wärme in chemische Energie und deren Rückumwand¬
lung bei der Verbrennung, die Übertragung elektrischer Energie, die
Entstehung derselben aus Bewegungsenergie beim Emporheben des
Deckels eines Elektrophors, die Umwandlung in Wärme beim gal¬
vanischen Glühen, die Umwandlung in Bewegung bei elektrischen
und magnetischen Anziehungen und Abstoßungen, die Umsetzung in
elektrische Energie von anderer Spannung durch Induktion, die Um¬
setzung von Wärme in elektrische Energie mittelst der Thermo-
säule usw. Die Sonnenwärme ist es nach Ansicht von Robert Mayer,
welche das Wasser als Dampf zu Wolken hebt, damit Quellen und
Flüsse speist, Mühlen und Schiffe treibt und die Strömungen in der
Atmosphäre, die Winde, hervorbringt, die ebenfalls wieder durch
Windmühlen und die Segel der Schiffe zur Erzeugung von Bewe¬
gung anderer Art nutzbar gemacht werden können.
Die Sonnenwärme ist es ferner, welche in den Pflanzen chemi¬
sche Vorgänge hervorruft, durch welche die Wärme latent wird, um
1 Die Mechanik der Wärme usw. S. 52.
O. Lehmann
9 =
wieder zum Vorschein zu kommen, wenn die Pflanzenmasse, das
Holz oder die daraus entstandene Kohle verbrannt wird. Wenn wir
den Kessel der Dampfmaschine heizen, verwandeln wir die auf-
gespeicherte latente Sonnenwärme in Heizwärme und diese dann in
die mechanische Arbeit der Maschine. Das Licht einer Öllampe
oder Stearinkerze ist im Grunde ebenso nur frei werdende aufge¬
speicherte Sonnenwärme. Der enorme fortwährende Verlust der
Sonne an Wärme wird gedeckt durch die lebendige Kraft der im¬
merfort hineinstürzenden Meteorsteine und die Kontraktion der
Sonnenmasse. 1 Die Erdwärme kann zum Teil aus Gravitations¬
energie entstehen, da sich die erkaltende Erde zusammen¬
zieht, auch üben Ebbe und Flut eine Bremswirkung auf
die Achsendrehung der Erde aus, erzeugen also Wärme aus Be¬
wegungsenergie. „Es gibt nur eine Kraft, sagt Robert Mayer, welche
die ganze Welt beiebt und zusammenhält. Wärme, Licht, Mag¬
netismus, Elektrizität, mechanische Arbeit und chemische Vorgänge
sind nur verschiedene Erscheinungsformen ein und derselben
Einheit.“
Im Grunde hatte hieran schon Fr. Mohr gedacht; erst Robert
Mayer aber gelangte zu klarer Auffassung des Energiebegriffs, zur
Erkenntnis seiner Verschiedenheit vom Newtcnschen Kraftbegriff.
..Das Wort Kraft“, sagt er, „wird in zwei verschiedenen Bedeu¬
tungen gebraucht: 1. Man versteht darunter jeden Druck oder Zug,
jedes Bestreben eines trägen Körpers, seinen Zustand der Ruhe oder
Bewegung zu ändern, und wird dieses Bestreben für sich und unab¬
hängig vom Erfolge betrachtet; 2. in einem andern Sinne heißt
„Kraft“ das Produkt des Druckes in den Wirkungsraum, oder auch
das halbe Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit“.
Er bezeichnet es als eine Sisyphusarbeit, die Unterscheidung in
Einzeb’ällcn durchzuführen und hält deshalb für geboten, das Wort
Kraft entweder ganz zu vermeiden oder es nur für die eine der bei¬
den Kategorien zu gebrauchen. Tatsächlich war die Einführung des
\Y ortes Energie statt lebendiger Kraft dem Verständnis außer
ordentlich förderlich und Robert Mayer wäre wohl auf weniger Wi¬
derstand gestoßen, wenn er selbst diesen Schritt der Einführung
einer neuen Bezeichnung unternommen hätte.
1 Heute nimmt man an, <laH auch radioaktive Substanzen eine wesentliche Rolle
dabei spielen.
Zum 100 . Geburtstag von Robert Mayer
93
Sehr wesentlich ist ferner, daß Robert Mayer als erster es unter¬
nommen hat, zahlenmäßig festzustellen, welches Quantum lebendi¬
ger Kraft nötig ist zur Erzielung einer Wärmeeinheit, sowie nach¬
zuweisen, daß genau ebensoviel lebendige Kraft gewonnen wird,
wenn eine Wärmeeinheit verschwindet.
Durch Versuche über die Erwärmung der Holländer in einer
Papierfabrik kam er zu einer ungefähren Bestimmung des mechani¬
schen Wärmeäquivalents. Sein im Jahre 1814 ausgeführter Versuch
war ganz dem des Grafen Rumford nachgebildet. Er verfügte natürlich
nicht über gleich bedeutende Mittel; auch, als vielbeschäftigter Arzt,
nicht über die nötige Zeit. Da ferner kein Universitätsinstitut in
Heilbronn existierte, welches ihm hätte eine Arbeitsstätte gewähren
können, war die Beschaffung der Apparate keine leichte Sache.
Über den ersten ausgeführten Apparat berichtet er 1849 in der Bei¬
lage zur ,,Augsburger Allgemeinen Zeitung“ wie folgt: ,,Der zu
diesen Versuchen erforderliche Apparat, wie ich einen solchen durch
Herrn Mechanikus Wagner hier habe verfertigen lassen, besteht im
wesentlichen aus einem metallenen Zylinder, in welchem sich Was¬
ser befindet, das mittelst eines Pumpenstiefels durch eine enge Öff¬
nung hindurchgepreßt und dadurch erwärmt wird. Wenn man nun
die so hervorgebrachte Wärmemenge mit dem gleichzeitig stattfin¬
denden Arbeitsverbrauche vergleicht, so hat man damit das wich¬
tigste naturwissenschaftliche Problem der Jetztzeit gelöst.“
Später verwandte er eine der Rumfordschen Anordnung noch
mehr entsprechende Apparatur zur Bestimmung des Effekts von Ma¬
schinen. Er schreibt darüber: 1 Die ursprüngliche Idee, die Um¬
wandlung der Arbeit in Wärme vermittelst einer Druckpumpe zu be¬
wirken, wurde durch Herrn Zech (Direktor der Maschinenfabrik in
Heilbronn, der die Ausführung des Apparats übertragen war) sehr
zweckmäßig dahin modifiziert, zu diesem Ende eine Bremse anzu¬
wenden, welche in einem mit Wasser gefüllten Kasten läuft. Wenn
man nun, was leicht geschieht, die in einer gewissen Zeit auf Kosten
der Arbeit produzierte Wärme mißt, so ergibt sich hieraus sogleich
die von dem Motor gelieferte Anzahl von Meterkilogramm oder
Pferdestärken.“
Die vollständige Lösung des Problems verlangte allerdings wei¬
ter den Nachweis, daß sich auch in andern ganz anders gearteten
Die Mechanik der Wärme usw. S. 348.
94
O. Lehmann
Fällen der Umsetzung von Arbeit in Wärme sich die gleiche
Zahl ergibt. Dies hat bald darauf (1843) J. P. Joule 1 (ein reicher
Brauereibesitzer in der Nähe von Manchester), mit großen Mitteln
durchgeführt. Lange Zeit wurde deshalb dieser (speziell in Eng¬
land) zu Unrecht als der eigentliche Entdecker des mechanischen
Wärmeäquivalents betrachtet.
Sehr originell und überaus scharfsinnig war die Art, wie Ro¬
bert Mayer (1842) die zweite Aufgabe löste, die Erbringung des
Nachweises, daß, wenn umgekehrt Wärme in mechanische Arbeit
übergeht, genau dieselbe Zahl von Einheiten lebendiger Kraft aus
einer Einheit verlorener Wärme gewonnen wird, die durch den
ersten Versuch gefunden wurde. Dieser Beweis gelang ihm sogar
ohne Anwendung irgend welcher Apparatur, lediglich auf Grund von
Zahlenangaben, die schon damals in den Lehrbüchern der Physik
zu finden waren. Der Gedankengang ist folgender:
Erwärmen wir 1 kg Luft (das ist etwa —cbm) in einem
geschlossenen Gefäße, etwa dem Zylinder eines Heißluftmotors,
welcher durch einen dichtschließenden beweglichen, aber bei diesem
Versuch festgehaltenen Kolben abgeschlossen wird, um i° Celsius,
so brauchen wir dazu diejenige Wärmemenge, welche als die spezi¬
fische Wärme bei konstantem Volum bezeichnet wird. Sie beträgt
0,168 Kalorien. Durch die Erwärmung steigt, wie bekannt, der
Druck der Luft um Atmosphäre. Würde man nun aber diese
Druckzunahme verhindern, dadurch, daß man den Kolben beweg¬
lich ließe, d. h. würde man die Erwärmung bei konstantem Druck
vornehmen, so brauchte man offenbar mehr Wärme; denn man
könnte ja die Erwärmung erst bei fcstgehaltenem Kolben be¬
wirken, wobei wieder 0,168 Kalorien verbraucht würden, sodann
den Kolben freigeben, wobei sich die Luft im Zylinder ent¬
sprechend der durch Hebung der äußeren Luft geleisteten Arbeit,
die ^ = 293 Joule beträgt, abkühlt, und nun wieder soweit
erwärmen, bis die frühere Temperatur wieder hergestellt wird,
wozu, wenn die Arbeit von x Joule einer Kalorie gleichkommt,
27
; Kalorien gehören würden. Tatsächlich ergaben die Experi-
J. I*. Joule, J*hil. Mag. III, 23, 18.13; 31, 184;.
Zum ioo. Geburtstag von Robert Mayer
95
mente die spezifische Wärme der Luft bei konstantem Druck
wesentlich größer als die bei konstantem Volum, nämlich zu
0,273 Kalorien 1 2 .
2Q 7
Die Differenz 0,273 — 0,168 = 0,069 muß also = ^ Kalorien
sein, woraus folgt: x = = 4189. So viele Joule sind also
äquivalent einer Kalorie, die Zahl 4189 ist das mechanische Äqui¬
valent einer Kalorie.
An Stelle dieses einfachen Versuches könnte natürlich die Mes¬
sung der Abkühlung der Luft im Verhältnis zur Arbeitsleistung bei
einem Druckluftmotor dienen, oder die Messung der Arbeitsleistung
im Vergleich zum Wärmeverbrauch bei einem Heißluftmotor.
Vorausgesetzt bei der dargelegten Berechnung ist allerdings das
eine, daß sich die Luft nur abkühlt, wenn sic Arbeit gegen den Kol¬
ben leistet, daß sogenannte freie Expansion, d. h. Ausdehnung in
einen leeren Raum hinein keine Abkühlung ergeben würde. Die
Richtigkeit dieser Annahme erschloß Robert Mayer aus Versuchen
von Gay-Lussac im Jahre 1807; später hat sie dann Joule exakt be¬
wiesen, speziell für sogenannte vollkommene Gase. 2 Infolge der Un¬
genauigkeit der in den Lehrbüchern enthaltenen Zahlen, auf welche
sich Robert Mayer stützte, war die erwartete Übereinstimmung des
so gefundenen mechanischen Wärmeäquivalents mit dem nach der
ersten Methode gewonnenen keine ganz vollkommene. Auf eine
solche Abweichung konnte man aber gefaßt sein. Durch Joules Ver¬
suche wurde sie vollkommen beseitigt. Daß nichtsdestoweniger di:
Richtigkeit von Robert Mayers Theorie nirgendwo Anerkennung
fand, erklärt sich eben, wie schon bemerkt, dadurch, daß die Stoff-
theorie der Wärme durch die Ausführungen von Sadi Carnot und
Clapeyron eine bedeutende Stütze erhalten hatte. Dazu kam aber
1 Sie ließe sich z. B. bestimmen durch Durchlciten eines abgemessenen Luft-
ejuantums durch ein mit Eisslücken gefülltes Gefäß, da zum Schmelzen von I kg Eis
80 Kalorien gehören. Daraus kann dann die spez. Wärme bei konst. Volum berechnet
werden, wenn man das Verhältnis beider Größen kennt, das sich durch den einfachen
Versuch von Clement und Desormes, Beobachtung des Wiederansteigens des Druckes
nach dem Ausströmen der Luft aus einem Behälter, der sofort wieder geschlossen
wurde, die dadurch bedingt ist, daß die beim Ausströmen entstandene Abkühlung
allmählich wieder verschwindet.
2 Für gewöhnliche unvollkommene Gase trifft sie nicht streng zu, es bleibt eine
Abkühlung übrig, bei übervollkommcnen tritt Erwärmung ein.
96
O. Lehmann
weiter, daß Robert Mayer versuchte, die Äquivalenz von Wärme und
Arbeit auch rein philosophisch zu begründen.
Derartigen philosophischen Betrachtungen pflegte man keiner¬
lei Wert beizulegen, weil philosophische Spekulationen niemals zur
Auffindnung neuer Tatsachen geführt hatten, vielmehr geradezu als
ein Hemmnis der Fortschritte auf naturwissenschaftlichem Gebiete
erschienen. An einer Stelle sagt R. Mayer selbst, metaphysische Be¬
handlung disgoutiere ihn unendlich.
Das er sich nicht dazu entschlossen hat, für die Leibnizsche
Kraft das Wort „Energie“ zu gebrauchen, welches bereits 1807 von
Thomas Young eingeführt war 1 oder falls ihm dieses nicht bekannt
war, eine selbstersonnene neue Bezeichnung, hat, wie schon oben
bemerkt, die Lesbarkeit seiner Arbeiten (insbesondere in damaliger
Zeit) sehr beeinträchtigt. Gleiches gilt von Robert Mayers Be¬
zeichnungen auf anderen Gebieten. Er nannte auch, wie Mohr
„Elektrizität“ eine „Kraft“, obschcn sie das nicht ist. Er meinte
übrigens augenscheinlich „elektrische Energie“. Ebenso war für ihn
„chemische Differenz“ eine „Kraft“, während „chemische Energie“
gemeint war. Solche Unklarheiten konnten nur beseitigt werden
durch präzise mathematische Formulierungen unter Verwendung der
bereits bekannten Beziehung zwischen den verschiedenen Größen; eine
Arbeit, die erst im Jahre 1847 von H. Helmholtz in seiner Schrift
„Uber die Erhaltung der Kraft“ geleistet worden ist, so daß häufig
dieser als Vater des Prinzips von der Erhaltung der
Kraft bezeichnet, wurde, wie es z. B. seitens der physikalischen
Sektion der Naturforscherversammlung in Berlin 1886 in einem
Gratulationstelegramm geschehen ist.
Aufzuklären war ferner der Widerspruch mit den anscheinend
sehr exakten Ausführungen von S. Carnot. Dies geschah 1849
durch Clausius, welcher deshalb ebenfalls als Urheber der mecha¬
nischen Wärmetheorie bezeichnet wurde. Clausius zeigte, daß
zwischen dem Carnotschen Prinzip und Robert Mayers Ergebnis,
1 Der Ausdruck »potentielle Energie ; wurde allerdings erst 1853 von Rank ine
eingeführt, zum Unterschied von der Bewegungsenergie, welche er »aktuelle Energie
nannte. Thomson und Tait haben 1867 den letzteren Ausdruck durch den heute
gebräuchlichen »kinetische Energie' ersetzt. Ilelmholtz gebrauchte übrigens 1847
ebenfalls noch das Wort Kräfte im Sinne von % Energie - , was erkennen läßt, wie
unklar damals noch die Begriffe waren, so daß Hob. Mayers Wahl der Bezeichnung
verständlich erscheint.
Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer
97
welches er den »ersten Hauptsatz der Thermodynamik« nennt,
kein Widerspruch besteht, wenn es nur richtig gefaßt wird.^ Es
stellt geradezu einen »zweiten Hauptsatz der Thermodynamik«
dar, der von nicht minder großer Bedeutung ist als der erste,
insofern er angibt, welcher Bruchteil einer gegebenen Wärme¬
menge sich überhaupt in Arbeit umsetzen läßt. Häckel hat ein¬
mal gesagt, der zweite Hauptsatz sage aus, der erste sei nicht
richtig. Scheinbar trifft dies zu, denn der erste sagt aus, aus
i Kalorie bekomme man 4189 Joule Bewegungsenergie, während
der zweite aussagt, man bekomme 4 — 9 • (r, — r 2 ) Joule Bewegungs-
T I
energie, d. h. die maximale, durch eine thermodynamische Ma¬
schine zu gewinnende Arbeit, sei das Produkt des aufgenommenen
Wärmegewichts mit dem Temperaturgefälle. Letzteres ist die
Differenz der höchsten und niedrigsten Temperatur (i r , bezw. r 2 ),
das Wärmegewicht der Quotient der aufgenommenen Wärme¬
menge dividiert durch ihre Temperatur t, nach absoluter Skala
gemessen.
Diesen zweiten Teil der Arbeit zu leisten war Robert Mayer
nicht beschieden, dazu waren eben gründliche Studien in Mathema¬
tik und mathematischer Physik nötig, zu welchen er neben seinem
ärztlichen Berufe keine Gelegenheit finden konnte. Daß er von der
Existenz des zweiten Hauptsatzes eine Ahnung hatte, geht daraus
hervor, daß er sich gelegentlich äußert, nachdem er von der Umset¬
zung der Wärme in Arbeit durch eine Dampfmaschine gesprochen
hat: „So wenig aber eine gegebene Menge Chlor, Metall und Sauer¬
stoff ohne Bildung eines Nebenproduktes in chlorsaures Salz sich
verwandeln läßt, so wenig können wir eine gegebene Wärmemenge
als Ganzes in Bewegung umsetzen.“
Er fand beispielsweise den Wirkungsgrad eines Geschützes zu
etwa 9 % und bemühte sich, auch den Wirkungsgrad der Dampf¬
maschinen zu ermitteln. Von hier bis zur klaren Erkenntnis des
zweiten Hauptsatzes war aber noch ein großer Schritt.
Obschon dieser weitere Ausbau der mechanischen Wärme¬
theorie erst später von andern durchgeführt wurde und weitere Klä¬
rung erst in neuester Zeit durch Aufstellung des Nernstschen
Wärmetheorems und der Planckschen Energiequantentheorie 1 er-
1 Siehe O. Lehmann, Verl), d. Karlsr. nat. Vereins 24, 273, 1912.
Verhandlungen 36. Bd. 7
g8
(). Lehmann
folgt ist, so ändert das aber nichts an der Tatsache, daß er, wie
Helmholtz 1 sagt, ,,u nab hängig und selbständig den
G e d a n k e n gefunden hat, der den größten neu e-
ren Fortschritt der Naturwissenschaft be¬
dingt e.“
Der Ruhm der Erfindung, sagt Hel inhol tz weiter, haftet an
dem, der die neue Idee gefunden hat. Auch kann man nicht unbe¬
dingt verlangen, daß der Erfinder der Idee verpflichtet sei, auch den
zweiten Teil der Arbeit (die feinere Ausgestaltung und präzise Fest¬
stellung durch genaue Experimente) auszuführen.
Leider hat der Mangel an Anerkennung seiner Zeitgenossen in
Verbindung mit Bemühungen, seine eigenen Ergebnisse Andern zuzu-
schreiben und ihn gewissermaßen als Plagiator hinzustellen, Robert
Mayers Gemüt schwer bedrückt und sein Leben, trotz der hohen Be¬
friedigung, die ihm gewähren mußte, die wissenschaftliche Erkennt¬
nis um ein gutes Stück weitergebracht zu haben, zu einem unglück¬
lichen gemacht.
Er war geboren am 25. November i8i_| als Sohn eines Apothekers
in Heilbronn. An der Schule fiel er nicht durch besondere Leistun¬
gen auf. Der sprachliche Unterricht war ihm unsympathisch; physi¬
kalische und chemische Experimente interessierten ihn mehr. Zeit¬
weise soll er den Platz 37 unter 38 Schülern innegehabt haben; nur
in der Mathematik erzielte er gute Noten. Auch an der Universität,
wo er am studentischen Leben regen Anteil nahm, betrieb er Stu¬
dien nur insoweit, als zum Examen unbedingt nötig, doch war er
schon damals ein ,,Grübler“. Der Tübinger Universitätskanzler G.
Rümelin äußerte sich über den jungen Mayer: „Er war ebenso
beliebt und beachtet bei den Lehrern wie bei den Mitschülern. Fr
gab sich stets ganz wie er war, es kam kein unwahres Wort aus sei¬
nem Munde; er hatte eine volle und freudige Anerkennung für
fremde Vorzüge und trat niemanden zu nahe. Er war nach seiner
Gemütsart ein anima candida. Alx*r alles, was er sagte und tat, trug
den Stempel der Originalität.“ Sofort nach Beendigung seiner Uni¬
versitätsstudien nahm er Dienst als Schiffsarzt auf einem Ostindien¬
fahrer. Da es keine Patienten gab, hatte er Zeit, seine Grübe¬
leien fortzusetzen, welche sich hauptsächlich auf die Unmöglichkeit
1 H. Helmholtz, Über die Erhaltung der Kraft. Ostwald, Klassiker.
Nr. I, S. 3S.
Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer
99
des perpetuum mobile und die mechanische Wärmetheorie von Rum¬
ford und Mohr bezogen.
Auf der Reise nach Batavia fiel ihm nun auf, daß das Venen¬
blut der Schiffsmannschaft, die joo Tage hindurch nur wenig zu
arbeiten hatte, viel röter war als sonst, d. h. daß es unverbrauchten
Sauerstoff enthielt. Daraus zog er alsbald den Schluß, die Quelle
der Muskelkraft (richtiger Muskelarbeit) sei die Verbrennungs¬
wärme, die bei Verbindung des Sauerstoffs mit dem Blute entsteht
(richtiger die latente Wärme, die gewissermaßen in den beiden Kör¬
pern aufgespeichert ist, solange sie nicht verbunden sind, das was
wir heute „chemische Energie“ nennen).
Von dem Steuermann hatte er weiterhin erfahren, daß das
sturmgepeitschte Meer wärmer ist als zuvor, solange es ruhte. Auch
dies veranlaßte ihn zum Nachdenken, bis schließlich die neu er¬
kannte Wahrheit, die Lösung des Problems, weshalb das alte Gesetz
der Erhaltung der Kraft anscheinend in vielen Fällen seine Gültig¬
keit verliert und welcher der wahre innere Zusammenhang der ver¬
schiedenen Naturkräfte ist, in seinem Geiste klar vor ihm stand.
Getrieben durch die Sehnsucht, dieses Problem, dessen hohe Be¬
deutung für Naturwissenschaft und Technik er sofort erkannte, mit
besseren Hilfsmitteln weiter durcharbeiten zu können, kehrte er als¬
bald in seine Vaterstadt (1841) zurück und ließ sich dort als prak¬
tischer Arzt nieder, welche Stellung er 27 Jahre hindurch behielt.
Einen Anhänger für seine Lehre fand er in seinem älteren Bru¬
der, der die väterliche Apotheke übernommen hatte; sonst begegnete
ihm zu seinem Leidwesen überall nur Widerspruch.
Eine kleine Abhandlung, die er am 16. Juni 1841 an Poggen-
dorff, den bekannten Herausgeber der einzigen großen deutschen
Zeitschrift für Physik, der „Annalen der Physik und Chemie“ sandte,
betitelt: „Über quantitative und qualitative Bestimmung der
Kräfte“ wurde von Poggendorff nicht aufgenommen. Mayer er¬
hielt überhaupt keine Antwort, auch nicht auf die zweimalige Bitte,
ihm wenigstens das Manuskript zurückzuschicken. Dieses wurde
erst 36 Jahre später im literarischen Nachlaß von Poggendorff ge
funden.
Man kann aus diesem Manuskript ersehen, daß sich damals Ro¬
bert Mayer ebenfalls noch nicht ganz im klaren war über den Unter¬
schied von Galilei-Newtons Kraftbegriff und dem Leibnizschen Be¬
griff. Das mag wohl mit Ursache der Ablehnung der Arbeit durch
IOO
O. Lehmann
Poggendorff gewesen sein. Im übrigen stand Poggendorff offen¬
bar ganz auf dem Standpunkt von Sadi Carnot, denn eine auf glei¬
chem Standpunkt stehende Abhandlung von Clapeyron über die be¬
wegende Kraft der Wärme aus dem Jahre 1834 brachte er noch im
Jahrgang 1843, also 9 Jahre später, in Übersetzung mit besonderer
Empfehlung in den Annalen zum Abdruck, 2 Jahre nach dem Ein¬
gang von Mayers Abhandlung. Wie wenig er sich um Mayer küm¬
merte, zeigt die Stelle in seinem biographisch-literarischen Lexikon,
1863, wo er angibt: ,,Soll vor 1858 im Irrenhaus gestorben sein.“
(In einem Nachtrag ist dies allerdings berichtigt.)
Robert Mayer versuchte dann seine Arbeit bei den von Liebig
herausgegebenen Annalen der Chemie und Pharmazie anzubringen,
wo sie 1842 unter dem Titel: „Bemerkungen über die Kräfte der
unbelebten Natur“ zwar erschien, aber von den Physikern nicht ge-
lesen wurde.
Im gleichen Jahre verehelichte er sich mit der Tochter eines
Heilbronner Bürgers (Heermann) und wurde zugleich Oberamts¬
wundarzt und später Stadt- und Armenarzt. Am geselligen Leben
der Stadt nahm er regen Anteil. Nach drei Jahren erschien sein
Hauptwerk: „Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhang
mit dem Stoffwechsel.“ Diese Schrift sollte ursprünglich wieder
in Liebigs Annalen erscheinen; Liebig lehnte sie aber ihrer Größe
wegen ab und verwies Mayer an Poggendorff, was dieser aber na¬
türlich nicht tat. Da er auch keinen Verleger finden konnte, blieb
ihm nichts anderes übrig, als die Arbeit auf eigene Kosten drucken
zu lassen; ebenso im Jahre 1848 eine zweite Arbeit: „Beiträge zur
Dynamik des Himmels.“ Wieder fehlten aber die Leser. Den Phy¬
sikern blieben beide Schriften unbekannt. Das ist um so merkwür¬
diger, als gerade in jener Zeit auf Anregung des Physikers Magnus
in Berlin die deutsche physikalische Gesellschaft entstanden war, die
es sich zur Aufgabe machte, in Jahresberichten die gesamte neu
erscheinende Literatur sorgfältig zu sammeln, und weil der Bericht¬
erstatter über die hier in Betracht kommende Literatur der hervor¬
ragendste Sachkenner war, der überhaupt gefunden werden kannte,
nämlich Helmholtz.
Der erste Band dieser Jahresberichte betitelt: „Die Fortschritte
der Physik im Jahre 1845“, welcher 1847 erschien, enthält weder
eine Angabe über Robert Mayers im Jahre 1845 erschienene bedeu¬
tendste Schrift: „Die organische Bewegung in ihrem Zusammen-
Zum ioo. Geburtstag von Robert Mayer
IOI
hang mit dem Stoffwechsel“, noch auch eine Andeutung über seine
im Jahre 1842 in Liebigs Annalen erschienene grundlegende Schrift,
obschon sich ein von Helmholtz selbst geschriebener ausführlicher
Bericht über eine von Liebig selbst verfaßte, in denselben Annalen
1845 veröffentliche Abhandlung vorfindet, in welcher ähnliche Ge¬
danken ausgesprochen werden, wie sie Robert Mayer dargelegt
hatte. Unter Hinweis auf diesen Bericht im Band 1 wird dann in
Band 3, 232, 1850 Robert Mayers Schrift von 1845 kurz zitiert,
mit der Bemerkung, sie enthalte im wesentlichen dieselben Gedan¬
ken, die schon in dem genannten Referat dargelegt seien.
In Band 4, 66, 1852 sagt Helmholtz von Robert Mayers wich¬
tigster Bestimmung des mechanischen Wärmeäquivalents aus den
spezifischen Wärmen der Gase, das sei gar nichts anderes, als was
Holtzmann bereits 1845 veröffentlicht habe. Er wußte gar nicht,
daß Mayers Abhandlung schon 1842 erschienen war!
Erst in Band 7, 566, 1855 erwähnte Helmholtz in einem Sam¬
melbericht ganz flüchtig, von Robert Mayer sei die Ansicht, man
müsse die Wärme als eine Bewegungsform, nicht als einen Stoff be¬
trachten, zuerst aufgestellt worden — Rumford wird nicht zitiert —.
Sie sei dann später von Joule und von ihm selbst (Helmholtz) wei¬
ter verarbeitet worden. 1 Ferner rühre auch der Gedanke, das
mechanische Wärmeäquivalent aus den spez. Wärmen der Gase zu
berechnen, von Robert Mayer her und sei dann später von Joule
und Holtzmann aufgenommen worden.
Außer diesen wenigen kurzen Bemerkungen und einigen ähn¬
lichen, die der Erwähnung nicht wert sind, findet sich in den Jahres¬
berichten der deutschen physikalischen Gesellschaft nichts über das
Lebenswerk von Robert Mayer. Waren nun seine Schriften, ins¬
besondere die 1845 erschienenen, bei Abfassung des Jahresberichts
von 1845 übersehen worden, so hätten die Leser unter Vermerk
1 Helmholtz wollte in der Tat mehr beweisen als Roh. Mayer, nämlich
daß alle Energieformen, außer sichtbarer Bewegung also auch potentielle Energie,
elastische Spannung elektrische und magnetische Energie, chemische Affinität usw.
verborgene Bewegungszustände seien, welches Ziel später von seinem Schüler
H. Hertz (aber ohne Eifolg) weiter verfolgt worden ist. (Siehe meine Schrift:
»Feier . . . des 25jühr. Jub. d. Hcrtz’schen Entdeck... Yerh. d. Karlsr. nat. Vereins
26, 1914; ferner: Max Born, Phvs. Zeitschr. 17, SG 19 1 (>; W. Nernst, Ber. d.
D. phys. Ges. 1916, 83; A. Einstein, Eickhot. Zeitschr. 191b; K. Eajans, Phvs
Zeitschr. 16, 47b, 19*5; P. Debvc, Sitzb. Akad. München 1915, 1.
102
0 . Lehmann
dieses Versehens im folgenden oder einem der späteren Bände über
den Inhalt genauer unterrichtet werden können und müssen. Daß
dies unterblieben ist und erst relativ spät eine kurze Andeutung
davon gegeben wird, zumal in der eigentümlichen Form, der In¬
halt sei im wesentlichen der gleiche wie der der Schriften von Liebig,
Helmholtz, Joule und Holtzmann, die doch erst später erschienen
waren, hat zu der Auffassung Anlaß gegeben, den Schriften Robert
Mayers komme überhaupt keine Bedeutung zu, man brauche keine
Rücksicht darauf zu nehmen.
So sagt Heinrich von Treitschke in seiner ,,Deutschen Ge¬
schichte im 19. Jahrhundert“ 1894 S. 430: „Ähnliche Ideen (die
Physik als Bewegungslelue aufzufassen, wie es Helmholtz tat) hatte
kurz zuvor, ohne daß Helmholtz darum wußte, der Heilbronner Arzt
Robert Mayer ausgesprochen, einer jener unseligen, zwischen Genie
und Wahnsinn schwankenden Geister, die unter den Erfindern und
Entdeckern nicht selten erscheinen.“
Während nun aber vor Erscheinen der Abhandlungen von Ro¬
bert Mayer, abgesehen von den zitierten Schriften von Rumford und
Mohr der Gegenstand in physikalischen Zeitschriften gar nicht be¬
handelt worden war, erschienen nun in rascher Folge eine Reihe von
Abhandlungen ähnlichen Inhalts, deren Autoren die Schriften Mayers
gar nicht zitierten, so daß sich dieser zu unerquicklichen Prioritäts¬
reklamationen genötigt sah, insbesondere zu einer kurzen Darlegung
seiner Ergebnisse in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“. Als
darauf eine Antwort seitens eines Tübinger Privatdozenten (der
übrigens wissenschaftlich kaum bekannt geworden ist) erschien, die
den Wert seiner Arbeit ganz und gar in Abrede stellte und als die
Redaktion eine Erwiderung darauf gar nicht zuließ, verfiel Robert
Mayer einer nervösen Erkrankung, gelegentlich welcher er am
28. Mai 1850 im Delirium sich unangekleidet aus dem Fenster des
zweiten Stockwerkes herunterstürzte und sich schwere Verletzun¬
gen, insbesondere an den Füßen zuzog. Immerhin war er am Schlüsse
desselben Jahres soweit hergestellt, daß er eine Verteidigungsschrift
betitelt: „Bemerkungen über das mechanische Äquivalent der
Wärme“ herausgeben konnte, die ihn wieder im Vollbesitz der gei¬
stigen Kräfte zeigt. Trotzdem wurde er für geisteskrank erklärt
und erst in einer Kaltwasserheilanstalt, dann in einer Irrenanstalt
untergebracht, wo man seine Verbitterung, die durch die schlechte
Aufnahme seiner Publikationen entstanden war, durch den Zwang-
Zum 100. Geburtstag von Robert Mayer
103
Stuhl zu kurieren suchte. Erst Ende 1853 zo S er wieder in seine
Wohnung ein, natürlich allseits mit Mißtrauen betrachtet.
Man hat den Physikern, in erster Linie natürlich dem Bericht¬
erstatter Helmholtz, welcher übrigens damals Mediziner war, einen
Teil der Schuld an diesem tragischen Schicksal Robert Mayers zu¬
geschrieben. Wer aber weiß, wie viel Studium und wieviel gründ¬
liche und genaue Kleinarbeit in der Regel dazu nötig sind, Fort¬
schritte auf physikalischem Gebiet zu erzielen, der wird auch be¬
greifen, daß die Physiker allzeit sehr wenig Neigung gehabt haben,
ihre Zeit auf das Studium von Publikationen von Nichtphysikern zu
verwenden, von welchen anzunehmen war, daß sie die nötige Vor¬
arbeit nicht geleistet haben. Die Bewältigung der Literatur ist
selbst bei solchem Verzicht noch für die meisten eine unmögliche
Arbeit. Es gibt auf dem Gebiete der Physik eben kein Patentamt,
welches in möglichst kurzen und präzisen Sätzen feststellt, was in
einer neuen Publikation wirklich neues enthalten ist.
Robert Mayer hatte wenigstens noch die Genugtuung, daß noch
vor seinem Tode der Wert seiner Schriften erkannt wurde. Außer
(Itfn Arbeiten und Vorträgen von Helmholtz und von Clausius hat
dazu hauptsächlich die populäre Schrift von Tyndall ,,Die Wärme
betrachtet als eine Art der Bewegung“ 1865 (deutsch herausge¬
geben von Helmholtz und Wiedemann 1867) beigetragen. Leicht ver¬
ständlich geschrieben, w r eckte sie überall Begeisterung für die neue
Entdeckung des inneren Zusammenhangs aller Naturerscheinungen.
Im Jahre 1869 wurde Robert Mayer von der Versammlung Deut¬
scher Naturforscher und Ärzte eingeladen, einen Vortrag zu halten,
was auch geschah. Die meisten Akademien und viele gelehrte Ge¬
sellschaften wählten ihn zum Mitgliede, auch wurden ihm eine An¬
zahl wertvoller Preise zuerkannt. Überdies erhielt er den württem-
bergischen Personaladel.
Liebig schrieb 1868: „Wie unendlich fruchtbar ist doch das
Prinzip der Erhaltung der Kraft in der Naturwissenschaft gewor¬
den und wenn ich daran denke, daß die erste Abhandlung Mayers
weder Poggendorff noch ein anderer drucken wollte, und daß man
ihn für einen Narren in Heidelberg und Karlsruhe erklärte, so er¬
scheint der geistige Fortschritt von da an bis heute ganz wunder¬
bar.“ Tvndall nannte ihn geradezu das größte Genie des 19. Jahr¬
hunderts. Auch andere hervorragende Männer wie Schönbein,
Moleschott, Mohr, Clausius, Hirn, Yerdct, Saint-Robert u. a. haben
104
O. Lehmann
seinen Arbeiten warme Anerkennung gespendet. Darüber hinaus
sagt Weyrauch, der die Mayerschen Arbeiten und seinen Lebensgang
mit besonderer Gründlichkeit studiert hat: „Er ist nicht nur ein
Bahnbrecher der Erkenntnis, ein Märtyrer der Wissenschaft, son¬
dern auch ein Förderer des Geweinw'ohls, ein charaktervoller und
guter Mensch gewesen.“
Durch letzteres erklärte sich auch die außerordentlich große
Teilnahme bei seinem Begräbnis. Da es zufällig an Kaisers Geburts¬
tag stattfand, wurden zum Zeichen der allgemeinen Trauer die Fah¬
nen während des Begräbnisses eingezogen. Die Stadt Heilbronn
hat ihm am 25. November 1892 ein Bronzedenkmal auf ihrem
Marktplatz errichtet, der Verein Deutscher Ingenieure eine Marmor¬
büste vor der technischen Hochschule in Stuttgart (auch in unserer
Aula befindet sich Robert Mayers Bildnis), ferner eine Bronzetafel
an seinem Wohnhaus in Heilbronn; das deutsche Museum für
Meisterwerke der Naturwissenschaften und der Technik in Mün¬
chen stellte in seinem Ehrensaal eine Marmorhexme von Robert
Mayer auf und bewahrt seinen Apparat zur Bestimmung des mecha¬
nischen Wärmeäquivalents in seiner Sammlung.
Als Vertreter des Naturwissenschaftlichen Vereins möchte ich
zum Schlüsse dem Verein Deutscher Ingenieure danken, dafür, daß
er auch diese Gelegenheit wieder benutzt hat, die Verdienste Robert
Mayers in Erinnerung zu bringen. Dank sei auch allen, die heute
erschienen sind und so die Feier in unserem kleinen Kreise ermög¬
licht haben.
Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Roentgen.
Von O. Lehmann.
In meinem letzten Vortrage (Zum ioo. Geburtstag von Robert
Mayer) gab ich das wissenschaftliche Lebensbild eines Mannes, des¬
sen hochwichtige Forschungen von seinen Zeitgenossen trotz viel¬
facher populärer Publikationen anfänglich völlig verkannt wurden,
dessen Leben sich infolgedessen unglücklich gestaltete, wenn er auch
schließlich die Genugtuung hatte, seine Ergebnisse von Wissenschaft
und Technik anerkannt und gebührend gewürdigt zu sehen.
Anders bei Wilhelm Konrad von Roentgen, dessen 70. Geburts¬
tag auf den 27. d. M. fällt — gerade in unsere Ferien, weshalb wir
ihn schon in heutiger Sitzung feiern. Roentgen hat über seine wich¬
tigste Entdeckung, die nach ihm benannten Strahlen, nur zwei sehr
kurze Abhandlungen in einer wenig zugänglichen Zeitschrift ver¬
öffentlicht. Nichtsdestoweniger wurde er dieser Entdeckung halber
sofort m der ganzen Welt hoch gefeiert.
Er ist geboren am 27. März 1845 1X1 Lennep in der Rheinpro¬
vinz. Sein Studium absolvierte er in Zürich unter Leitung von
Kundt, dessen Assistent er 1872 nach seiner Übersiedelung nach
Straßburg wurde. Heute ist er der Physiker der Universität Mün¬
chen. Auf die vielen Ehrungen \ die ihm anläßlich seiner Ent¬
deckung zuteil wurden, näher einzugehen, scheint mir nicht nötig,
sie verschwinden gegenüber dem Denkmal, das er sich selbst durch
seine Entdeckung setzte. Mit Freude können wir diese als eine
deutsche Tat bezeichnen, die außerordentlich segensreich gewirkt
1 In Berlin, wohin er eine Berufung ablehnte, wurde ihm ein Denkmal errichtet;
in Würzburg, wo er zur Zeit der Entdeckung der X-Strahlen als Ordinarius tätig war,
eine Gedenktafel. Er wurde wirklicher Geheimrat, in den Adelstand versetzt und
durch Verleihung des Nobelpreises ausgezeichnet.
O. Lehmann
.106
hat und tagtäglich wesentlich dazu beiträgt, die zahllosen Wunden,
die der schreckliche Krieg schlägt, zu heilen. Auch den eigentlichen
Ausgangspunkt der Entdeckung haben wir in Deutschland, speziell
hier in Karlsruhe, zu suchen, wie ich schon in dem Festvortrag zum
25-jährigen Jubiläum der Entdeckungen von Heinrich Hertz in un¬
serem Verein gerade vor einem Jahre ausgeführt habe.
Auf Grund der Forschungen des Physikers Hittorf in Münster,
welcher fand, daß von der Kathode hochevakuierter Geißlerscher
Röhren Strahlen ausgehen, die von ihnen getroffene fluoreszenz¬
fähige Stoffe zum Leuchten bringen können, war Hertz (1892) zu
dem Ergebnis gelangt, daß solche Kathodenstrahlen dünne Metall¬
schichten durchdringen können. Seinem Assistenten Lenard
(jetzt Physiker der Universität Heidelberg) war dann gelungen, die
Kathodenstrahlen durch eine mit dünnem Aluminiumblech (Alumi¬
niumfolie) bedeckte Öffnung sogar in die gewöhnliche Luft austreten
zu lassen, somit einen Fluoreszenzschirm auch außerhalb des Rohres
durch ihre Einwirkung zum Leuchten zu bringen.
Roentgen wiederholte Lenards Versuch und fand zu seiner
Überraschung, daß unter Umständen der Fluoreszenzschirm auch
hell aufleuchtet, wenn ein Aluminiumfenster nicht vorhanden isL
Es mußte also noch eine andere Strahlung existieren, die das Leuch¬
ten erregen konnte und imstande war, sogar die relativ dicke Glas¬
wand der Röhre zu durchsetzen. Daß sie etwas anderes war, als die
von Lenard entdeckte Strahlung, gab sich auch dadurch kund, daß
sic nicht wie letztere von einem Magneten abgelenkt wurde. Licht¬
strahlung konnte es auch nicht sein, denn sie vermochte dicke Schich¬
ten undurchsichtiger Stoffe wie Pappdeckel, Holz, Ebonit, Blech
usw. zu durchsetzen, wurde auch nicht reflektiert und nicht gebro¬
chen. Vorläufig wurden die neuen Strahlen deßhalb als X-Strahlen
bezeichnet, weil der Mathematiker unter X eine unbekannte Größe
zu verstehen pflegt. Das aber, was sofort die Aufmerksamkeit der
ganzen Welt erregte, war der Umstand, daß man mittelst der neuen
Strahlen, weil sie eine Substanz um so weniger durchdringen, je
dichter sie ist, die Knochen im lebenden Körper sehen und sogar
photographieren konnte, ohne diesen zu schädigen.
Im Dezember 1895 drang von Wien aus die Kunde diese*
Wunders in die Welt. Am 23. Januar 1896 demonstrierte es Roent¬
gen zum ersten Male in der Sitzung der physikalischen und medizi¬
nischen Gesellschaft in Würzburg. Tn unserem Verein berichtete ich
Zum 70. Geburtstag von \V. C. v. Roentgen 107
flarüber bereits am 7. Februar des gleichen Jahres und der Vortrag
mußte in rascher Folge noch mehrmals wiederholt werden, nämlich
am 21., 24., 27., 28., 29. Februar und 2. März, ein Zeichen, wie groß
auch hier das Interesse war. Dazu war die Demonstration da¬
mals durchaus nicht leicht. Röntgen hatte nämlich in seiner kurzen
Mitteilung eine so knappe Beschreibung des Verfahrens gegeben,
daß die meisten, welche die Versuche wiederholen wollten, damit
nicht zurecht kamen.
Tausende und abertausende Röhren wurden vergeblich kon¬
struiert, sagt Fr. Dessauer, in Hast und Drang des neuen, allerdings
auch gewaltigen und tief eingreif enden Ereignisses. Und wie glück¬
lich war man, wenn man nach vielen Enttäuschungen am schwachen
Aufleuchten von ein wenig Bariumplatincyanür nur merkte, daß wirk¬
lich einige X-Strahlen entstanden. Alle Bilder zeigten unscharfe
verwaschene Konturen. Verwendung in der Medizin schien also
leider ausgeschlossen. Erst in der viel später erschienenen zweiten
Abhandlung teilte Röntgen mit, daß die von ihm benützte Röhre
eine solche sei, wie sie Crookes zur Demonstration der Wärmewir¬
kungen der Kathodenstrahlen gebraucht hatte, bei welcher also die
Kathodenstrahlen auf ein Platinblech fallen. Nun kamen bald
brauchbare Röhren in den Handel, es wurden auch die Fluoreszenz¬
schirme verbessert und an Stelle des langsam arbeitenden Wagner-
schen Hammers der Induktorien traten rascher arbeitende mit Mo¬
tor betriebene Unterbrecher, Turbinenunterbrecher und schließlich
der besonders einfache und leistungsfähige Wehneltunterbrecher.
Anfänglich glaubte man, die Intensität der Röntgenstrahlen
müsse um so größer werden, je größer die Zahl der Funken pro Se¬
kunde. Die gleichzeitig sich entwickelnde Ionenstoßtheorie der Ent¬
ladung lehrte aber die Unrichtigkeit dieser Annahme.
Erfolgt ein Induktionsstoß, so wächst die Spannungsdifferenz
der Elektroden der Röhre zunächst stark an, da die Luft nur wenig
Elektronen enthält, die nur geringe Stromstärke vermitteln können.
Dieselben erhalten infolge der hohen Spannungsdifferenz große Ge
schwindigkeit und die Röntgenstrahlen, welche sie beim Auftreffen
auf die Antikathode auslösen, sind sogenannte harte Strahlen, welche
feste Körper im allgemeinen leicht durchdringen. Durch Zusam¬
menstoß dieser rasch bewegten Elektronen mit Molekülen, d. h. in¬
folge der Durchquerung der Atome durch diese Elektronen, ferner
durch das Aufstoßen der positiven Atomreste oder Archionen, der
io8
O. Lehmann
sogenannten Kanalstrahlen, auf die Substanz der Kathode bilden
sich rasch immer mehr Elektronen und Archionen, so daß der Wi¬
derstand der Röhre und damit die Spannung, somit auch die Ge¬
schwindigkeit der Kathodenstrahlen und die Härte, d. h. das Durch¬
dringungsvermögen der Röntgenstrahlen sinkt. Ist der Zwischen¬
raum zwischen zwei Entladungen zu klein, so verschwindet die Io¬
nisation nicht mehr in genügendem Maße, ebensowenig die an der
Antikathode erzeugte Wärme, die weichen Strahlen werden in dem
Gemisch vorherrschend und die Absorption in dem durchleuchteten
Gegenstand steigt so hoch, daß Kontraste nicht mehr hervortreten,
Einzelheiten nicht mehr zu erkennen sind. Ferner läßt die Röhre
mehr und mehr den niedriger gespannten, umgekehrt verlaufenden
Schlicßungsinduktionsstrom durch, welcher durch die Zerstäubung
der Antikathode die Röhre verdirbt und geradezu unbrauchbar
machen kann. Bei dem Turbinenunterbrecher läßt sich die Fre¬
quenz durch Änderung der Umdrehungszahl leicht regulieren, we¬
niger gut bei dem Wehneltunterbrecher. Hier geht der Strom von
der bis auf einen kurzen Platin- oder Nickelstift durch Porzellan
isolierten Anode durch verdünnte Schwefelsäure zu einem als Ka¬
thode dienenden Bleiblech. Die Erhitzung des Anodenstifts be¬
dingt die Bildung einer Dampfschicht, welche den Strom unter¬
bricht, der sich aber nach der hierdurch bedingten Beseitigung der
Dampfschicht wieder in früherer Stärke herstellt und eine neue
Dampfschicht bildet in einer Zeit, die durch die Selbstinduktion der
Primärspule bedingt ist. Um diese zu regulieren, können verschie¬
den große Windungszahlen mittelst des sogenannten Reaktanzschal¬
ters eingeschaltet werden. Man nimmt zunächst die größte Win¬
dungszahl, also die größte Selbstinduktion, zieht den Stift des
Wehneltunterbrechers tunlichst in das Porzellanrohr zurück und
stellt den Stromregulator auf schwach, d. h. schaltet möglichst viel
Widerstand ein. Schließt man nun den Primärstrom, so werden zu¬
nächst keine Stromunterbrechungen stattfinden. Nun schaltet man
allmählich am Stromunterbrecher immer mehr Widerstand aus, bis
die Funken einsetzen, wobei man die scheibenförmige Elektrode der
Sekundierspule als Kathode benützt. Die Röntgenröhre darf noch
nicht eingeschaltet sein. Sind die Funken dünn und rötlich, von
einem Zischen begleitet, so ist die Stiftlänge zu gering, sind sie dick,
gelblich und stumpf, so ist die Stiftlänge zu groß. Sie muß also so
reguliert werden, daß blendend weiße knatternde Funken übergehen.
Zum 70. Geburtstag von W. ('. v. Rocntgen
Schaltet man nun die Röntgenröhre an und ist die Spannung noch
nicht ausreichend, den Stromdurchgang zu erzwingen, so muß die
Selbstinduktion, d. h. die Zahl der benutzten Windungen der Pri¬
märspule vermindert werden, bis die Spannung eben die richtige
ist. Erscheint nun die Funkenfolge noch zu langsam, so kann man
sie erhöhen durch weitere Ausschaltung von Widerstand. Mittelst
des Etappenschalters lassen sich größere Stufen ausschaltcn, mittelst
des Stromregulators kleinere.
Den durch die Röhre gehenden Strom mißt man mittelst eines
Milliamperemeters, welches nach Klingelfuß zweckmäßig in der
Mitte der Sekundärspule angebracht wird. Hierbei ist nämlich be¬
sondere Isolation unnötig, weil in der Mitte der Spule weder posi¬
tive noch negative Spannung, sondern die Spannung Null herrscht.
Die Spannungsdifferenz der Enden der Sekundärspule beurteilt man
nach Klingelfuß mittelst einer in der Mitte um die Sekundärspule
gelegten Probewickelung, welche mit einem Hitzdrahtvoltmeter ver¬
bunden ist (Sklerometer).
Zeigt das Milliamperemeter beim Stromdurchgang durch die
Röhre stetig steigende Stromstärke, das Voltmeter entsprechend fal¬
lende Spannung an, so ist die Belastung der Röhre zu stark, sie ver¬
ändert ihren Gasinhalt, indem aus den Elektroden Gas entweicht,
so daß sie immer weicher und schließlich unbrauchbar wird. Es ist
somit nötig, die Stromstärke zu vermindern, mittelst des Strom¬
regulators, eventuell, falls dies nicht reichen sollte, durch Verklei¬
nerung der Stiftlänge und schließlich durch Erhöhung der Selbst¬
induktion. Wird umgekehrt die Spannung immer höher, die Strom¬
stärke immer geringer, d. h. wird der Gasinhalt der Röhre absor¬
biert, wodurch die Röhre allmählich immer härter und schließlich
ebenfalls unbrauchbar wird, so muß man durch dieselben Mittel in
umgekehrter Gebrauchsweise die Stromstärke erhöhen. Sie hat den
richtigen Wert, wenn die Angaben von Milliamperemeter und Volt¬
meter im wesentlichen konstant bleiben. Die Lebensdauer der Röhre
ist in solchem Falle am größten.
Ganz läßt sich die Röhre freilich nicht unverändert erhalten. Ist
sie etwas zu weich geworden, so läßt man sie längere Zeit ruhen und
gebraucht sie nur bei zu schwachem Strom. Wurde sie zu hart,
so ist es nötig, Gas einzuführen, wozu die an jeder Röhre ange¬
brachte Regeneriervorrichtung dient, früher gewöhnlich ein Röhr-
I IO
O. Lehmann
chen mit Ätzkali oder Kohle, welche beim Erwärmen etwas Gas ab¬
geben, heute gewöhnlich ein Palladiumröhrchen, welches beim Er¬
wärmen etwas Gas durchläßt oder Glimmer, der durch einen Zweig¬
strom erhitzt wird und Wasserdampf abgibt oder ein mit poröser
Masse verstopftes Kapillarröhrchen, welches durch Quecksilber ab¬
geschlossen ist, aber Luft passieren läßt, wenn mittelst Luftdruck
das Quecksilber vorübergehend weggedrückt wird. Nach der Re¬
generation muß die Röhre erst etwas ruhen.
Um den Durchgang von Schließungsstrom durch die
Röntgenröhre zu hindern, wird eine Ventilröhre in deren
Stromkreis eingeschaltet, d. h. eine Vakuumröhre, deren eine
Elektrode weit von der Glaswandung absteht, während die
andere eng von derselben umschlossen ist. Der Strom kann
bei passendem Vakuum, welches eventuell wieder mit der Regene¬
riervorrichtung zu regeln ist, nur dann hindurch gehen, wenn die
freie Elektrode Kathode ist, da in der anderen die Eletronen an
der Glaswand anstoßen und diese negativ elektrisch machen, ehe sie
die zur Erhöhung der Leitfähigkeit der Luft durch Ionenstoß erfor¬
derliche Geschwindigkeit erlangt haben. Die freie Elektrode muß
also an die Kathode des Induktoriums angeschlossen werden. Oh
die Ventilröhre wirkt und wirklich nur Stromstöße von gleicher
Richtung durchläßt, wird durch eine eingeschaltete Geißlersche
Röhre mit langen Elektroden kontrolliert. Nur auf einer derselben
darf sich blaues negatives Glimmlicht zeigen.
Sollen scharfe Bilder entstehen, so müssen die schat¬
tenwerfenden Röntgenstrahlen möglichst von einem einzigen
Punkt der Antikathode ausgehen, d. h. der Brennfleck, in
welchem die Kathodenstrahlen Zusammentreffen, muß mög¬
lichst geringe Ausdehnung haben und muß diese behalten,
auch darf er nicht hin- und herwandern. Letzteres kann durch
magnetische Ablenkung bedingt sein, wenn sich das Induktorium in
zu großer Nähe befindet, aber auch durch elektrische, weil die Anti¬
kathode die negative Elektrizität der Kathoden strahlen aufnimmt
und diese zurückstößt. Es muß also für gute Ableitung der nega¬
tiven Elektrizität gesorgt werden, was dadurch geschieht, daß man
die Antikathode in leitende Verbindung mit der Anode bringt. Auch
Regenerieren während der Röntgenaufnahme bedingt unscharfe Bil¬
der, da die eintretende Luft Verschiebung des Brennflecks zur
Folge hat.
Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Rocntgen
I 1 I
Da sich im Brennfleck die Antikathode sehr stark erhitzt, muß
dafür gesorgt werden, daß sie nicht angeschmolzen wird. Man
nimmt deshalb ein Metall von hohem Schmelzpunkt, neuerdings ge¬
wöhnlich Wolfram, welches zugleich großes Atomgewicht hat, wie
es für guten Wirkungsgrad der Umsetzung der Kathodenstrahl¬
energie in Energie der Röntgenstrahlung erforderlich ist. Ferner
wird die Kathode mit Kühlvorrichtungen versehen, unter welchen
die Müllersche Wasserkühlung sich besonders bewährt hat. Bei un¬
ruhigen, lebenden Objekten kann die Schärfe der Bilder durch die
fortgesetzte Verschiebung beeinträchtigt werden. Man sucht des¬
halb mit möglichst kurzer Expositionsdauer auszukommen, d. h. mit
kurzen, starken Induktionsstößen, eventuell auch mit einem einzigen
(Moment- oder Blitzaufnahmen). Bei Röhren, die mit 40 bis 60
Milliampere belastet werden sollen, muß der Brennfleck einen
Durchmesser von 3—5 Millimeter haben, wenn Anschmelzen (An¬
stechen) vermieden werden soll. Im allgemeinen werden die Bilder
bei schwachem Strom und langer Exposition besser. Zur Messung
der Ausdehnung des Brennflecks dient das sogenannte Fokometer,
welches z. B. nach dem Prinzip der Lochkamera konstruiert sein
kann oder nach dem Prinzip der Probeabbildung undurchlässiger
Objekte in verschiedenen Entfernungen.
Sehr störend ist der Umstand, daß Röntgenstrahlen nicht nur
vom Brennfleck ausgehen, sondern, da sich da, wo Röntgenstrahlen
auftreffen, sogar in dem von diesem durchdrungenen Körper, Se¬
kundärstrahlen bilden, von vielen anderen Punkten, weshalb sich
über das reine Bild ein ganz diffuses lagert, das dasselbe verschleiert
und unter Umständen ganz unterdrückt. Ganz besonders treten
solche Sekundärstrahlen bei sehr harten Röhren auf; man nimmt
deshalb die Röhrenhärte nicht größer, als durchaus nötig, und
blendet die aus der Röntgenröhre austretenden Sekundärstrahlen
durch ein Bleidiaphragma (Schlitz- oder Irisblende) oder besser ein
Bleirohr (Tubusblende) ab, hindert auch das Eindringen unnötiger
Röntgenstrahlen in den zu durchleuchtenden Körper durch Ab¬
decken aller nicht in Betracht kommenden Stellen in der Nähe mit
Bleiblech. Die photographische Platte muß ohne Luftzwischen¬
raum dem Objekt anliegen und der nötige Abstand derselben vom
Brennfleck (50—70 cm) durch passende Befestigung der Röntgen¬
röhre in einem Stativ hergestellt werden und zwar so, daß der
Brennfleck senkrecht über der Mitte der Platte steht und die Achse
I 12
O. Lehmann
der Röntgenröhre der Platte annähernd parallel läuft, da dann die
Intensität der Strahlung am größten ist.
Unter spezifischer Härte einer Röhre versteht man diejenige,
welche sie beim Strom i Milliampere zeigt. Röhren von gleicher
spezifischer Härte sind aber keineswegs gleichwertig, denn sie kön¬
nen sehr verschiedene Charakteristik haben, d. h. die Spannung
(Härte) kann mit wachsender Stromstärke nur langsam oder rasch
anwachsen und zwar bei normalem Gebrauch, d. h. ohne Änderung
des Gasinhalts der Röhre. Zur Durchleuchtung dicker Objekte,
die eben wegen der unvermeidlichen, im Objekt selbst entstehenden
Sekundärstrahlen sehr schwierig ist, müssen Röhren mit steiler Cha¬
rakteristik verwendet werden.
Wie bei jedem elektrischen Strom ist die Stromarbeit,
somit hier auch die Röntgenstrahlenarbeit, proportional dem
Produkt von Stromstärke, Spannung und Zeit, d. h. dem Pro¬
dukt der Milliampere, der Härte und der Sekunden. Harte Strah¬
len gehen aber auch durch die photographische Platte leicht hin¬
durch, d. h. die absorbierte Strahlenmenge, somit der photographi¬
sche Effekt ist umgekehrt proportional der Härte. Demgemäß
ist für die photographische Aufnahme maßgebend das Produkt der
Milliampere und der Sekunden, d. h. das Produkt der Stromstärke
mit der Expositionszeit. Aus Tabellen kann man entnehmen, wie
groß dasselbe für verschiedene Zwecke sein muß. Indem man diese
Zahl mit der Stromstärke dividiert, erhält man also die erforderliche
Expositionszeit.
Durch Verwendung von Verstärkungsschirmen, d. h. durch
Auflegen dünner Folien auf die Schichtseite der Platte, welche unter
Einfluß der durch sie hindurchdringenden Röntgenstrahlen fluores¬
zieren und, da sie mit der präparierten Seite der Schichtseite der
Platte unmittelbar anliegen, ebenfalls auf letztere einwirken, kann
die Expositionszeit wesentlich herabgesetzt werden. Die Qualität
der Bilder ist aber wesentlich von der Korngröße dieser Folien ab¬
hängig und davon, daß sie nicht nachleuchten.
Steht zum Betrieb eines Funkeninduktors nicht Gleichstrom,
sondern nur Wechselstrom zur Verfügung, so kann man letzteren
durch einen Wcchselstrom-Gleichstromtransformator in Gleichstrom
um wandeln oder man kann mittelst eines Synchronmotors einen
rotierenden Hochspannungs-Stromschlüssel (sogenannten Gleich¬
richter) betreiben, welcher den Strom immer nur dann der Röhre
Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Roentgen
H 3
zuleitet, wenn er die richtige Richtung hat, während er ihn bei ent¬
gegengesetzter Richtung durch einen Hochspannungswiderstand
leitet. Durch geeignete Gestaltung des Stromschlüssels kann auch
dafür gesorgt w'erden, daß z. B. nur der Teil der Stromwelle, welcher
hohe Spannung besitzt, durch die Röhre geht, so daß vorwiegend
harte Strahlen entstehen, oder daß zwar die ganze Stromwelle zur
Wirkung kommt, aber jeweils ein Stromstoß ausfällt, die Induk¬
tionsstöße also in größeren Pausen erfolgen.
In manchen Fällen ist die auch noch bei Brennfleckabständen
von 50—70 cm auftretende der Divergenz der Strahlen entspre¬
chende Verzerrung der Bilder störend. Bei dem orthodiagraphi-
schen Verfahren vermeidet man dies durch Verschiebung der Rönt¬
genröhre unter Mitverschiebung des zeichnenden Stiftes. Durch Röh¬
ren mit zwei Kathoden kann man stereoskopische Bilder erzielen,
die im Stereoskop deutliche Vorstellung der Struktur geben. Durch
Momentaufnahmen lassen sich kinematographische Films gewinnen.
Die weitere Ausbildung der Theorie der elektrischen Entladung,
insbesondere die Entdeckung, daß aus glühenden Körpern von selbst
Elektronen austreten, führten neuerdings zur Konstruktion einer
außerordentlich leistungsfähigen Röntgenröhre, deren Härte sich
ganz nach Bedarf regulieren läßt, der Coolidge-Röhre. Die Kathode
ist hier eine winzige ebene Spirale von 5 Windungen von Wolfram¬
draht von 0,2 mm Dicke, welche durch eine kleine hochisoliert auf¬
gestellte Akkumulatorenbatterie zur hohen Weißglut (2450°) erhitzt
wird. Das Rohr ist bis auf etwa —-— mm Quecksilberdruck
evakuiert, so daß, solange die Kathode kalt ist, bei der angewandten
Spannung von etwa 70 Kilovolt (= 7 cm Schlagweite) überhaupt
kein Strom hindurchgeht. Wird nun aber die Spirale geheizt, so
entwickeln sich aus derselben so viele Elektronen, daß der Strom
alsbald auf 25 Milliampere anschwillt und diese Stärke sowie die
Spannung dauernd behält, da eine Gasentwicklung aus den zuvor
lange im Vakuum geglühten Elektroden nicht erfolgt und Gas
absorption nichts an der Härte der Röhre ändern würde, da diese
eben durch die Zahl der aus dem Wolfram frei werdenden Elektro¬
nen bestimmt ist. Ein schwach konischer Mantel aus Molybdän,
welcher mit der Kathode verbunden ist, bewirkt durch elektrische
Ablenkung die Konzentration der Kathodenstrahlen auf den Brenn¬
fleck der Antikathode. Ebenso wie andere Röntgenröhren besteht
auch diese Röhre aus Glas.
Verhandlungen 26. Bd.
8
O. Lehmann
IM
Zchnder, der früher als Assistent von Röntgen tätig war, ist es
in allerneuester Zeit geglückt, die Röhre zerlegbar aus Metall herzu¬
stellen, was nicht nur deren Zerbrechlichkeit beseitigt, sondern auch
Schutzvorrichtungen überflüssig macht. Kathode und Anode sind
durch einen dicken Porzellankörper von einander isoliert. Die Ka¬
thode kann sehr groß und ebenso wie bei der Coolidge-Röhre aus
Wolfram hergestellt sein, sonst erfolgt die Regenerierung durch
elektrisch geheizte Kohle. Die Kathode kann verschoben und da¬
durch der Brennfleck genau auf die Antikathode gebracht werden,
eventuell falls diese angeschmolzen sein sollte, auf eine andere Stelle.
Da die Röhre zerlegbar ist, können einzelne Teile ausgewechselt wer¬
den und die Abtrennung von der Pumpe erfordert also kein Ab¬
schmelzen. Sie soll bis 1000 mal so starke Strahlen geben wie ge¬
wöhnliche Röhren.
Die wunderbarsten Fortschritte auf dem Gebiet der Röntgen¬
strahlen sind nun aber nicht durch Verbesserung der Technik ihrer
Herstellung erzielt worden, sondern durch tieferes Eindringen in
das eigentliche Wesen der Strahlen.
Wie schon bemerkt, entstehen sie beim Auftreffen der Ka¬
thodenstrahlen auf die Antikathode. Die in den Kathodenstrahlen
bewegten Elektronen müssen von einem Magnetfeld begleitet wer¬
den, dessen Kraftlinien zur Bewegungsrichtung senkrecht stehende
konzentrische Kreise sind. Dieses Feld verschwindet beständig auf
der Rückseite und bildet sich auf der Vorderseite neu; es herrscht
eine ständige Energieströmung in der Nähe der Elektronen, deren
Stromlinien senkrecht zu den elektrischen und zu den magnetischen
Kraftlinien verlaufen. Die elektrischen Kraftlinien behalten nicht
ihre geradlinige Form und ihre gleichmäßige radiale Verteilung, son¬
dern suchen sich in eine Ebene senkrecht zur Richtung der Bewe¬
gung zusammenzuziehen.
Trifft ein solches fortschreitendes Elektron auf ein Hindernis,
7. B. ein materielles Molekül, so kann zweierlei eintreten: Ist die
Spannungsdifferenz der Elektronen oder was auf dasselbe hinaus¬
kommt, der Spannungsabfall im Kathodendunkelraum, durch wel¬
chen die Elektronen beschleunigt werden und die Geschwindigkeit
erhalten, die sie beim Verlassen des Dunkelraumes besitzen, kleiner
als 11 Volt, was einer Geschwindigkeit von 2 Millionen Meter pro
Sekunde entspricht, so wird das Elektron von dem Atom, auf wel¬
ches es auftrifft, aufgehalten, es bleibt gewissermaßen daran kleben
Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Roentgen
115
und beide zu einem Ion vereinigt, bewegen sich nun mit verminderter
Geschwindigkeit weiter, auch an andere Moleküle, die sie treffen,
Geschwindigkeit abgebend und so den sogenannten elektrischen
Wind erzeugend. Infolge des Gehalts von derartigen negativen
Ionen erscheint die von Kathodenstrahlen getroffene Luft unipolar
elektrisch leitend, d. h. bringt man in dieselbe ein positiv geladenes
Elektroskop, so verliert dasselbe seine Ladung sofort, da sie neu¬
tralisiert wird durch die infolge der elektrischen Anziehung darauf
zustürzenden negativen Ionen; ein negativ geladenes Elektroskop,
von welchem diese Ionen abgestoßen werden, behält dagegen seine
Ladung. Ist die beschleunigende Spannung größer als 11 Volt, d. h.
die Elektronengeschwindigkeit größer als 2 Millionen Meter per
Sekunde, so fahren die Elektronen durch die Atome hindurch und
stören deren Struktur. Unelektrische Atome müssen nämlich, wie
aus den Erscheinungen der Elektrolyse, der dielektrischen Polarisa¬
tion usw. hervorgeht, aus entgegengesetzt elektrischen Bestandteilen
bestehen, also Elektronen enthalten, die durch Kraftlinien mit den
positiven Resten, den Archionen verbunden sind. Fährt ein Elek¬
tron hindurch, so bedingt dessen elektrisches Feld eine Störung des
Kraftlinienverlaufs, die den Austritt von Elektronen zur Folge hat.
Man sagt, durch den Elektronen- bezw. lonenstoß finde eine Zer¬
trümmerung der Moleküle statt. Die Wiedervereinigung der los¬
gestoßenen Elektronen mit dem Atomrest bedingt die Lichterschei¬
nung, das Fluoreszieren der getroffenen Materie; in einer Geißler-
schen Röhre das Auftreten des blauen Glimmlichts, welches den
dunklen Kathodenraum umsäumt. Bei der Spitzenentladung in ge¬
wöhnlicher Luft ist dieses Glimmlicht infolge der Bildung von Me
talldampf, der sehr viel mehr Elektronen erzeugt, als gewöhnliche
Luft, auf einen leuchtenden Punkt beschränkt, von dem negativ elek¬
trischer Wind ausgeht.
Infolge der Zertrümmerung der Luftmoleküle durch den Elek¬
tronenstoß in Elektronen und Archionen, welchen Prozeß man als
Ionisierung bezeichnet, wird nicht wie bei Spannungen unter 11 Volt
nur ein positiv, sondern auch ein negativ geladenes Elektroskop ent¬
laden, da dieses positive Archionen und Verbindungen solcher mit
Luftmolekülen, die Molionen anzieht und seine Ladung an dieselben
abgibt. Die Luft wird infolge der Ionisierung gut leitend und zwi¬
schen dem blauen Glimmlicht und der Anode ist deshalb in einer
Geißlerschen Röhre kein erhebliches Spannungsgefälle vorhanden.
O. Lehmann
I 16
die Elektronen bewegen sich, da sie durch ihr fortwährend ver¬
schwindendes Magnetfeld (wie man sagt, durch Selbstinduktion)
immer neuen Bewegungsantrieb erhalten, in gerader Richtung un¬
bekümmert um die Lage der Anode immer weiter fort, wie wenn
sie träge Massen wären. Aus dem Gesetz über die Größe der Selbst
induktion ergibt sich, daß einem einzelnen Elektron eine träge Masse
von 1,56 • io“ 3 ° kg zukommt. Aus dieser Masse und der Ge¬
schwindigkeit, die bei einer Elektrodenspannungsdifferenz von 2000
Volt rund 20 Millionen Meter pro Sekunde ist, ergibt sich die Sto߬
kraft der Ionen und die infolge der Vernichtung ihrer scheinbaren
Bewegungsenergie auftretende Wärmemenge. Tatsächlich handelt
es sich nicht um einen Verlust an wahrer Bewegungsenergie, eben
weil die Masse keine wirkliche, sondern nur eine scheinbare ist, son¬
dern um Verwandlung von magnetischer Energie in Wärmeenergie.
Von den das bewegte Elektron umgebenden konzentrisch kreis¬
förmigen Kraftlinien geht also bei Durchquerung der Atome ein Teil
verloren, weil die magnetische Energie zur Stoßwirkung verbraucht
wird. Ein anderer Teil aber bleibt erhalten, und schreitet mit der
Geschwindigkeit von 300 Millionen Meter in den Raum hinaus fort,
was wieder eine Folge der Induktionswirkung ist. Die an der Vor¬
derseite des bewegten Elektrons neu entstehenden Kraftlinien müs¬
sen nämlich ringförmig sie umgebende elektrische Kraftlinien erzeu¬
gen, diese wieder magnetische usw., so daß immer weitere Ausbrei¬
tung des Magnetfeldes in den Raum hinaus eintreten muß. Von
dem gebremsten Elektron löst sich also ein ringförmiges magneti¬
sches Kraftfeld ab, das sich beständig erweitert und wenn es Atome
oder Moleküle trifft, durch Störung ihrer inneren Felder in ähnlicher
Weise zertrümmernd oder ionisierend wirken muß, wie Elektronen,
die durch die Atome hindurchfahren, die ia im Grunde auch nichts
anderes sind als elektrische und magnetische Felder, mit dem Unter¬
schied, daß die elektrischen Kraftlinien in den Elektronen endigen,
während die abgelösten elektrischen Felder die sich ausbreitenden
ringförmigen magnetischen Kraftlinien ringförmig umschließen.
Aus solchen ringförmigen Wellen magnetischer und elektrischer
Kraft, die mit der Geschwindigkeit von 300 Millionen Meter per
Sekunde in den Raum hinauseilen, bestehen die Röntgenstrahlen.
Man nennt sie Röntgenimpulse. Daß sie ionisierend wirken wie
Kathodenstrahlen, läßt sich leicht dadurch zeigen, daß ein geladenes
Elektroskop sofort seine Ladung verliert, wenn Röntgenstrahlen in
Zum 70. GeburtsUig von W. C. v. Rocntgen I 1 7
der Nähe erregt werden. Die Wirkung kann auch dazu dienen, die
Geschwindigkeit der Röntgenstrahlen experimentell zu bestimmen.
Und geradeso wie bei den Kathodenstrahlen die Wiedervereinigung
der durch Elektronenstoß freigemachten Elektronen mit den positi¬
ven Atomresten ein Leuchten, die Fluoreszenz bedingt, gilt dies
auch für das Auftreffen von Röntgenstrahlen auf geeignete Stoffe,
z. B. Bariumplatincvanür oder wolframsauren Kalk. Darauf eben
beruht der Nachweis der Röntgenstrahlen mittelst des Fluores¬
zenzschirmes und die besprochene Verstärkung der Wirkung auf
photographische Platten mittelst eines Verstärkungsschirmes.
Die zur Erzeugung eines Röntgenimpulses mindestens er¬
forderliche Energie beträgt 2,69 • io~ l8 Joule. Nach der Quanten¬
theorie, nach welcher diese Energiemenge = 6,55 • io~* 4 • ^ Joule
sein muß, wenn k die Impulsbreite ist, ergibt sich für letztere der
Wert 74,55 Milliontel Millimeter. Welcher Bruchteil der Gesamt¬
energie eines Elektrons in Form von Röntgenenergie ausstrahlt,
hängt ganz von der Beschaffenheit des getroffenen Atoms ab.
Er wächst dem Kirchhoff sehen Satz von der Äquivalenz von
Emission und Absorption gemäß mit dem Atomgewicht, ist aber
immer kleiner als ~ 2 . Man kann ihn als den Wirkungsgrad
der Röntgenstrahlung bezeichnen. Platin beispielsweise strahlt
als Antikathode verwendet etwa 17 mal intensiver als Kohle.
Es sind nicht nur die unmittelbar an der Oberfläche der
Antikathode befindlichen Atome, welche Röntgenstrahlung aus¬
senden; die Kathodenstrahlen dringen vielmehr bis zu einer ge¬
wissen Tiefe ein, welche proportional ihrer Geschwindigkeit, d. h.
der Elektrodenspannung ist. Beispielsweise dringen bei einer
Bleiantikathode die Strahlen aus einer mittleren Tiefe von
5,9 • io“ 5 cm. = 0.59 Tausendstel Millimeter. Mit Zunahme der
Geschwindigkeit der Kathodenstrahlen steigt die Energie der
Röntgenstrahlen proportional der 4. Potenz der Kathodenstrahl¬
geschwindigkeit, solange diese klein gegen die Lichtgeschwindigkeit
ist. Sie kann ähnlich der des Sonnenlichts werden. Fände ein Ein¬
dringen der Kathodenstrahlen in die Tiefe der Antikathode
nicht statt, so wären die sich ausbreitenden Kraftlinienringe parallel,
die Röntgenstrahlenimpulse wären wie man sagt ,.gerichtet“. Tn
Wirklichkeit werden aber die Elektronen bei weiterem Eindringen
O. Lehmann
I 18
unregelmäßig abgelenkt und allmählich verlangsamt. Die Strahlung
ist deshalb eine diffuse und zwar ist sie bis zu einem Emissionswin¬
kel von 80 ° annähernd gleichmäßig. Auch die Impulsbreite ändert
sich in weiten Grenzen; die Strahlung muß also als ein Gemisch ver¬
schiedenartiger Strahlen aufgefaßt werden, wobei die größeren Im¬
pulsbreiten überwiegen. Je größer die Geschwindigkeit der Katho¬
denstrahlen, um so kleiner ist die Impulsbreite.
Die Verschiedenheit der Impulsbreite macht sich geltend durch
das Durchdringungsvermögen der Strahlen. Je kleiner sie ist, d. h.
je größer die Elektronenspannung, je schwerer die Röhre den Strom
durchläßt, je härter, wie man sagte, die Röhre ist, um so größeres
Durchdringungsvermögen haben die Strahlen, um so weniger wer¬
den sie in einem Körper, den sie durchdringen, absorbiert. Weiche
Röhren, d. h. solche mit schlechtem Vakuum, welche geringe Elek¬
trodenspannung erfordern, erzeugen im wesentlichen Strahlen,
welche stark absorbiert werden und z. B. kaum durch die Fleisch¬
masse einer Hand hindurchgehen, so daß man von dieser auf dem
Fluoreszenzschirm einen schwarzen Schatten erhält, in welchem
nichts von der inneren Struktur der Hand zu erkennen ist. Um¬
gekehrt entwerfen sehr harte Strahlen einen kaum sichtbaren Schat¬
ten, in welchem ebenfalls keine Struktur zu erkennen ist, obschon
sie in den Knochen etwas stärker absorbiert werden, als im Fleisch.
Für medizinische Zwecke sind deshalb mittelharte Strahlen am
besten geeignet, wie schon oben bemerkt wurde, oder ein Gemisch
verschiedenartiger Strahlen, wie es bei Verwendung eines Induk¬
tor iums wegen der Form der Strom wellen von selbst entsteht.
Zu Beginn eines Induktionsstoßes entstehen nämlich, da die
Luft noch nicht ionisiert, die Elektrodenspannung also sehr hoch
ist, zunächst sehr harte, dann mit fortschreitender Ionisierung und
Verminderung der Spannung immer weichere Strahlen. Bei Ver¬
wendung eines Wechselstromgleichrichters kann man durch Abkür¬
zung der Dauer des Stromschlusses letztere abschneiden, so daß die
härteren vorwiegen und z. B. im Fleisch nur etwa 5 bis 6 % absor¬
biert werden, während gewöhnlich 30 bis 40 % der Strahlen nicht
hindurchkommen.
Die Absorption ist ungefähr der 5ten oder 6ten Potenz des
Atomgewichts der absorbierenden Atome proportional; weil aber die
gewöhnliche Strahlung ein Gemisch verschiedenartiger Strahlen ist,
ähnlich wie sich weißes Licht aus verschiedenartigen Farben zu-
Zum ;o. Geburtstag von W. (\ v. Rocntgen IIq
sammensetzt, kann man nicht von einem bestimmten Absorptions¬
koeffizienten sprechen.
Geht man von weicheren zu immer härteren Strahlengemischen,
so nimmt anfänglich die Absorption ab, bis sie plötzlich sehr stark
wird, nämlich bei dem Härtegrade, bei welchem die Röntgenstrahlen
ähnlich wie Kathodenstrahlen Fluoreszenz erregen. Diese Fluores¬
zenz besteht im allgemeinen in dem Auftreten einer sekundären
Röntgenstrahlung von einer bestimmten Impulsbreite, die für den
betreffenden Stoff charakteristisch ist und deshalb als ,charakteri¬
stische Strahlung“ bezeichnet wird. Sie ist mit Zertrümmerung der
Moleküle wie im Falle der Ionisation verbunden, nämlich mit dem
Austritt von Elektronen, d. h. der Bildung von Kathodenstrahlen
und ihre Ursache ist die Wiedervereinigung der getrennten Elek¬
tronen mit den Atomresten, den Archionen. Macht man die auf¬
treffenden Röntgenstrahlen noch härter, so nimmt die Absorption
wieder gleichmäßig ab.
Die im Falle der starken sog. selektiven Absorption auf¬
tretenden Fluoreszenz-Röntgenstrahlen haben eine ganz bestimmte
Impulsbreite, wie daraus hervorgeht, daß der Quotient von
Absorptionskoeffizient /x und Dichte q der Gleichung genügt,
^ = A X x , wo A und x Konstanten sind und X die Impulsbreite,
d. h. daß ihnen im Gegensatz zu den »weißen« Röntgenstrahlen
ein bestimmter Absorptionskoeffizient zukommt. Man nennt sie
deshalb »monochromatische« Röntgenstrahlen.
Bei Anwendung von Schwefel oder Kohle als absorbierenden
Substanz entsteht nur eine einzige charakteristische Strahlung, bei
Platin und Zink dagegen entsteht eine ganze Serie solcher Strahlen
von verschiedenen Härtegraden. Hat der Stoff die Form eines
dünnen Blättchens, so erhält man die charakteristischen Sekundär¬
strahlen nur bei streifender Inzidenz, da die Primärstrahlen viele
Atome durchqueren müssen, damit genügend Energie absorbiert
wird. Dichte, Temperatur, Aggregatzustand und chemische Bin¬
dung des Stoffes sind ohne Einfluß. Das Durchdringungsvermögen
(die Härte) der primären Strahlen muß etwas größer sein als die
der zu erzeugenden Sekundärstrahlen (Stokes Regel). In Gasen
ist der Absorptionskoeffizient der Dichte proportional, der
Quotient ” somit vom Druck unabhängig.
120
0 . Lehmann
•Die durch Röntgenstrahlen beim Durchdringen von Gasen her¬
vorgerufene Ionisation (infolge des Austreibens von Elektronen aus
den Molekülen) läßt sich nach Wilson sehr deutlich erkennen, wenn
man feuchte Luft anwendet, die eben im Begriff ist, sich zu Nebel
zu kondensieren. Die entstandenen Ionen rufen, indem sie Zu¬
sammenballen von Wasserdampfmolekülen um sich herum veranlas¬
sen, die Kondensation wirklich hervor, so daß der Weg jedes Ions
sich als Nebelstreifen kennzeichnet. Während bei den a-Strahlen
des Radiums (Kanalstrahlen) diese Schußkanäle als fast gerade
Streifen erscheinen, sind sie bei den durch Röntgenstrahlen in dich¬
ter Luft erzeugten Ionen vielfach gekrümmte und gebrochene Linien.
Sie sind ein auffälliger Beweis der Richtigkeit der Ionentheorie.
In Luft ist zur Bildung eines Ionenpaars die Absorption der
Energiemenge 34- io - ' 8 Joule nötig. Zur Abtrennung eines Elek¬
trons genügen io - * 8 Joule. Daß auch in flüssigen und festen
Körpern durch Röntgenstrahlen Ionisation bewirkt wird, geht aus
der Erhöhung des elektrischen Leitvermögens hervor. Das des
Kalkspats steigt auf den 20ofachen Wert, falls tagelange Bestrah¬
lungen angewandt werden, und die Rückkehr des ursprünglichen Zu¬
standes erfolgt erst in Jahren, falls man sie nicht durch Erwärmen
beschleunigt.
Das Auftreten der starken selektiven Absorption bei Nickel, Sil¬
ber usw. ermöglicht die Konstruktion von Härtemessern für Rönt¬
genstrahlen. Würde man eine Aluminiumtreppe neben ein Nickel¬
blech auf den Fluoreszenzschirm legen, so würde bei bestimmter Ge¬
schwindigkeit der Strahlen vielleicht die mittelste Treppe ebenso
dunkel erscheinen wie das Blech. Wäre die Absorption in Nickel
der in Aluminium proportional, so würde auch bei Änderung der
Geschwindigkeit der Strahlen der Anblick immer derselbe sein. Da
dies nicht zutrifft, wird nunmehr eine andere Treppe gleich dunkel
wie das Nickelblech erscheinen. Auf diesem Prinzip beruhen die
Härtemesser von Benoist, Walter, Wehnelt usw. Statt Nickelblech
wird Silberblech benutzt, dessen selektive Absorption besser geeig¬
nete Lage hat, als die von Nickel.
Die Geschwindigkeit der Kathodenstrahlen, welche neben der
charakteristischen Fluoreszenz-Röntgenstrahlung bei der Absorp¬
tion von Röntgenstrahlen entstehen, wächst mit der Härte der
letzteren, ist aber unabhängig von deren Intensität. Dies läßt
sich nur erklären durch die Quantentheorie, gemäß welcher diese
Zum 70. Geburtstag von \V. C. v. Rocntgcn
I 2 I
Energie nur staffelweise in Quanten an die Elektronen abgegeben
wird. Bei der Wiedervereinigung der Elektronen mit dem Atom¬
rest gilt dasselbe bezüglich der entstehenden sekundären Röntgen¬
strahlung. Hierbei findet aber nicht eine einfache Durchquerung
des Atoms statt, da ja das Elektron mit demselben verbunden
bleibt, letzteres gerät vielmehr in pendelnde Schwingungen um
seine endgültige Lage, sendet also wiederholt Röntgenimpulse aus,
d. h. Magnetfelder von abwechselnd entgegengesetzter Richtung,
die im Raume aufeinander folgen und einen magnetischen Wellen¬
zug bilden. Ist v die Anzahl der pro Sekunde entstehenden
Wellen und k ihre Länge, d. h. der Abstand zweier gleich¬
gerichteter Magnetfelder, so ist v ■ k der Weg pro Sekunde,
d. h. = 3 • io 8 Meter und folglich nach der Quantentheorie ein
Energiequant = 6,55 • io' 31 • 3 j -■ Joule. Dieses muß gleich der
scheinbaren Bewegungsenergie eines Elektrons sein, die bei
den Primärstrahlen dadurch entstanden ist. daß es sich durch
das Spannungsgefälle E im Dunkelraum bewegt hat, welches
gleich der Spannungsdifferenz der Elektronen ist. Die dabei
von der Kraft des Feldes geleistete Arbeit ist, da die Ladung
des Elektrons 0,156 • io“' 8 Coulomb beträgt, E ■ 0,156 • io - ' 8 Joule.
Beträgt also die Elektrodenspannungsdifferenz 60000 Volt, so ist
. 6,55. 10-34 • 3 • 10» , ,, , ,
k= ~ --i - r ——; =0,21 • io“ 7 mm = 0,21 X Atomdurchmesser.
Derartige Röntgenstrahlen müßten sich also ganz wie ultra¬
violettes Licht verhalten, denn durch die Versuche von H. Hertz
ist nachgewiesen worden, daß auch das Licht nichts anderes ist
als eine Aufeinanderfolge abwechselnd entgegengesetzt gerichteter
magnetischer und elektrischer Felder, die sich im Raume aus¬
breiten mit der Geschwindigkeit 3-10* Meter pro Sekunde.
Die verschiedenen Strahlenarten unterscheiden sich nur durch die
Wellenlänge, die für die äußersten ultraroten Strahlen bis gegen
0,1 mm reicht, für die äußersten ultravioletten Strahlen bis gegen
100 Milliontel Millimeter. Der Unterschied der Röntgenstrahlen
diesen gegenüber wäre also lediglich der, daß ihre Wellenlänge nur
2 Hundertstel eines Milliontel Millimeter, also noch rund 10000
mal kleiner ist als die der kürzesten Lichtwcllen.
Zur Messung der Lichtwellenlänge benutzt man Beugungsgit¬
ter. Für die Messung von Röntgenstrahlen wären solche nicht zu
122
O. Lehmann
gebrauchen, da nicht möglich ist, mechanisch genügend feine Spal¬
ten herzustellen, die eben ungefähr von der Größenordnung der
Wellenlänge sein müßten, d. h. von der Größenordnung der Atome.
M. v. Laue 1 kam nun auf den sehr folgenreichen Gedanken, daß viel¬
leicht Kristallplatten ohne weiteres als Beugungsgitter für Röntgen¬
strahlen verwendbar wären, da aus dem Verhalten der Kristalle
folgt, daß ihre Moleküle in Raumgittern angeordnet und die Ab¬
stände der Gitterebenen von der Ordnung io~ 7 mm sein müssen.
Die zu erwartenden Erscheinungen müßten etwa dieselben sein, wie
man sie bei Lichtstrahlen beobachtet, wenn man dieselben durch hin¬
tereinander gestellte Kreuzgitter hindurchleitet.
Das von W. Friedrich und P. Knipping auf seine Anregung
ausgeführte Experiment hat die Vorhersage glänzend bestätigt und
hierdurch ist gleichzeitig ein Mittel gefunden worden, die Mole¬
kularanordnung in Kristallen, sowie auch in anderen Körpern mit
aller Sorgfalt zu studieren.
Besonders einfach liegen die Verhältnisse bei Diamant. Die
Lage der Interferenzflecke läßt darauf schließen, daß derselbe
aus zwei ineinandergestellten kubischen Raumgittern besteht, von
welchen das eine gegen das andere in der Hexaederdiagonale
um x / 4 derselben verschoben ist. Die Abstände der Netzebenen
parallel den Oktaederflächen sind abwechselnd 0,508 « io“ 7 und
1,522 • io~ 7 mm. Die Netzebenen parallel den Würfelflächen sind
äquidistant, ihr Abstand beträgt 0,880 • io -7 mm. Um das eine
Raumgitter in das andere überzuführen, muß man es um eine der
Hexaederkante parallele Achse, die durch die Mitte des Abstandes
zweier benachbarter entgegengesetzt orientierter Kohlenstoffatome
hindurchgeht, um 180 0 drehen und zugleich in der Richtung jener
Achse um % der Hexaederseite um h verschieben. Von jedem
Atom gehen gleichlange Verbindungen nach vier Nachbaratomen
und zwar in gleicher Richtung, wie sie die chemische Valenztheone
den tetraedrisch gedachten Kohlenstoffatomen beilegt, d. h. radial
von den Ecken des Tetraeders ausstrahlend. Man hat hieraus ge
schlossen, für einen Kristall existiere der Begriff des Moleküles nicht
wie für Flüssigkeiten und Gase, alle Moleküle seien in Kristallen
in Atome aufgelöst und diese seien zu incinandergestellten Raum¬
gittern angeordnet; Moleküle entständen erst beim Auflösen,
Schmelzen oder Verdampfen eines Kristalls; Erstarrung und Subii-
1 Damals in München, jetzt in Frankfurt a. M.
Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Roentgen 123
mation seien gewisermaßen Dissoziationsprozesse. Mit der Lehre
von den flüssigen Kristallen steht dieser Schluß freilich in direktem
Widerspruch 1 und da bisher nicht gelungen ist, diesen zu beseitigen,
muß man jene „Atomgruppierungstheorie“ wohl für irrtümlich hal
ten. Bei der zurzeit noch geringen Zahl von Beobachtungen läßt
sich ein sicherer Schluß überhaupt nicht ziehen.
Die Theorie würde auch zu den merkwürdigen Konsequenzen
führen, daß chemische Affinität und Kohäsion (Elastizität) im
Grunde identisch sind und daß die Festigkeit der 5 festen Modifi¬
kationen des Ammoniumnitrats gleich sein müsse, da sie aus den¬
selben Atomen bestehen, die wie die Identität der chemischen Eigen¬
schaften beweist, in gleicher Art verbunden sind.
Die Interferenzflecke kommen nicht etwa, wie man denken
könnte, durch die charakteristischen Röntgenstrahlen der Antika¬
thode zustande, denn sie bleiben unverändert, wenn das Material
der Antikathode geändert wird, sondern durch die gemischte Strah¬
lung aus deren Komponenten der Kristall diejenigen absondert,
deren Wellenlängen zwischen seine Netzebenen passen.
Es läßt sich zeigen, daß der Effekt derselbe ist, wie wenn
die Strahlen an den Netzebenen reflektiert würden, wobei sie
dann ähnlich wie die von Lippmanns Farbenphotographien reflek¬
tierten Strahlen miteinander interferieren, derart, daß nur die¬
jenigen übrig bleiben, deren Wellenlänge k = - dc ^~ <p - ist.
Die Beugungsbilder sowohl der reflektierten wie die der durch¬
gegangenen Strahlen liegen auf Kreisen, ganz ebenso wie die
eines gewöhnlichen Lichtstrahls, der auf ein Strichgitter in der
Strichrichtung auffällt. In Wirklichkeit hat man aber nicht eine ein¬
zige Schicht von Strichen, sondern eine große Anzahl hintereinan
der befindlicher. Daß es sich dabei nicht um gewöhnliche Reflexion
handelt, geht daraus hervor, daß rauhe Flächen ebensogut reflek¬
tieren wie glatte. Es sind eben die Netzebenen im Kristall, nicht
die Facetten der rauhen Oberfläche, welche als reflektierende Flä¬
chen aufzufassen sind. Je dichter dieselben mit Atomen besetzt sind,
11m so größer ist die Intensität des reflektierten Lichtes. Ist das
Strahlenbündel hinreichend dick, so sieht man die Interferenzflecke
auch auf dem Fluoreszenzsehirm und kann sich dabei durch Drehen
1 Siehe O. Lehmann, Ann. d. Phys. 47, 832, 1915 und Max Born, Dynamik
der Raumgitter, Leipzig 1915.
124
O. Lehmann
des Kristalls leicht davon überzeugen, daß sie alle dem Spiegelungs¬
gesetz entsprechend hin- und herwandern. Jeder Fleck entspricht
einer Wellenlänge, die gleich dem doppelten der Projektion des Ab¬
standes der Ebenen auf die Richtung des einfallenden Strahls ist.
Die an einem Kochsalzkristall abgebeugten Röntgenstrahlen
sind also monochromatisches Röntgenlicht (Grund- und Oberschwin¬
gungen) im Gegensatz zum „weißen“ Röntgenlicht der Röntgenröhre
(Gemisch von Strahlen). Benuzt man solche Strahlen zur Auf¬
nahme der Interfcrenzfiguren eines zweiten Kristalls und vergleicht
diese „selektive“ Aufnahme mit der „weißen“, so kann man das
Verhältnis der Gitterkonstanten beider Kristalle bestimmen. Bei
zwei ineinandergestellten Raumgittern sind natürlich die Intensitä¬
ten der reflektierten Strahlen für die Wellenlängen geringer, welche
eines der im Kristall enthaltenen Elemente stark absorbiert.
Wenn ein an einem Kristall reflektierter Röntgenstrahl strei¬
fend auf einen zweiten Kristall fällt, so erhält man starke Reflexion,
falls die beiden Kristalle parallel sind, dieselbe nimmt aber schnell
ab, wenn der zweite Kristall um den auf ihn fallenden Strahl als
Achse gedreht wird. Die Röntgenstrahlen werden also ebenso wie
gewöhnliches Licht bei der Reflexion polarisiert und zwar sowohl
bei der gewöhnlichen wie bei der selektiven Strahlung.
Da von einem Kristall nur Strahlen reflektiert werden, für
n ^
welche sin & = ist, würde man bei Reflexion eines durch einen
Spalt hindurchgegangenen Strahlenbündels an einem zu einem
dem Spalt parallelen Zylinder zusammengebogenen Glimmerblatt
nur in der obigen Gleichung entsprechende vereinzelte Spaltbilder
erhalten; falls das Strahlenbündel nur eine einzige Strahlenart von
der Wellenlänge X enthielte, im einfachsten Falle ein einziges. Wä¬
ren zweierlei Strahlen von verschiedener Wellenlänge vorhanden,
so würde ein aus zwei Linien bestehendes Spektrum erster Ordnung
auftreten, nach demselben ebenfalls aus je zwei Linien bestehende
Spektra 2, 3 . . . . n ter Ordnung. Wären unendlich viele Wel¬
lenlängen vorhanden, so würden entsprechend kontinuierliche Spek¬
tra der verschiedenen Ordnungen zu beobachten sein. Man hat also
in einem derartigen Glimmerblatt ein Mittel zur Spektralanalyse
der Rdntgenstrahlen, ebenso wie man z. B. in einem Spiegelgitter
ein Mittel zur Spektralanalyse des Lichtes hat. Noch bessere Re¬
sultate werden erzielt durch Reflexion an einer ebenen Kristallplatte,
Zum 70. Geburtstag von W. C. v. Roentgen
125
welche sich langsam um eine in ihrer Ebene liegende Gerade dreht
und die Strahlen auf eine photographische Platte reflektiert. Die
Linien, die beim gebogenen Glimmerblatt gleichzeitig auftreten, er¬
scheinen hier nacheinander, was aber gleichgültig ist, da sie von der
photographischen Platte alle fixiert werden, so daß in gleicher Weise
wie mit dem Glimmerblatt ein photographiertes Spektrum erhalten
wird. Man findet so z. B., daß Wolfram ein linienreiches Spektrum
über einen kontinuierlichen gibt. Bei Platin wurden sehr linien¬
reiche Spektren erhalten, wobei sich allerdings gezeigt hat, daß nicht
alle Linien verschiedenen Wellenlängen entsprechen, sondern ein¬
zelne durch Inhomogenitäten der Kristallplatte verursacht waren.
Die Wellenlänge der oben erwähnten charakteristischen Strah¬
len erweist sich größer als die der Strahlen des kontinuierlichen
Spektrums. Nur die letzteren tragen zur Entstehung der Laueschen
Interferenzflecke bei, da sich sonst beim Drehen des Kristalls die
Intensität der letzteren sprungweise ändern müßte. Temperatur¬
erhöhung schwächt infolge der Wärmebewegung der Moleküle das
Reflexionsvermögen einer Kristallplatte für Röntgenstrahlen und
zwar um so mehr, je weniger dicht die betreffenden Netzebenen mit
Atomen besetzt sind. Bei den Laueschen Röntgenogrammen wird
die Intensität der Interferenzflecke durch die Wärmebewegung um
so mehr vermindert, je weiter sie vom Durchstoßpunkt entfernt
sind; ebenso, wie bei der Reflexion an einer Kristallplatte die
Schwächung um so beträchtlicher ist, je steiler die Strahlen einfal¬
len, so daß in der Regel die Reflexion nur bei streifendem Einfall zu
beobachten ist. Erwärmung eines Kristalls bedingt deshalb, daß
immer mehr Flecken am Umfang des Interferenzbildes verschwin¬
den. Abkühlung eines Steinsalzkristalls von gewöhnlicher Tem¬
peratur bis zur Temperatur flüssiger Luft hat dagegen wenig Ein¬
fluß. Beim Diamant ist wohl wegen der großen Kohäsion und der
besonderen Form des Raumgitters der Einfluß der Wärme sehr ge¬
ring. Infolgedessen beobachtet man Reflexion auch unter steilen
Winkeln und erhält die Interferenzfigur nicht nur auf einer hinter
den Kristall gesetzten Platte wie sonst, sondern auch auf seitlich
oder vom angebrachten Platten.
Ein Magnetfeld von 10000 Gauß-Stärke erwies sich auf die
Gestaltung der Interferenzbilder bei Steinsalz und Magnetit ohne
Einfluß.
126
(>. Lehmann
Beim Durchgang des Strahlenbündels durch ein dünnes Platin¬
blech entstehen Höfe um den Durchstoßpunkt, wahrscheinlich weil
durch erzwungene Homöotropie beim Walzen halbisotrope Struktur
hergestellt wurde. Durch Ausglühen ändern sich die Figuren, wohl
weil infolge von enantiotroper Umwandlung die erzwungene Ho¬
möotropie wieder beseitigt wird. Bei Platten von Kohle und
Schwefel ergaben sich helle und dunkle Ringe um den Durchgangs¬
punkt. Ähnlich bei gepreßten Wachs- und Paraffinplatten. Bei
einem im Schraubstock gepreßten Wachsstück wurden, offenbar in¬
folge von erzwungener Homöotropie Flecke erhalten, welche sich
beim Drehen der Platte um die Achse des Strahlenbündels mitbeweg¬
ten. Beim Durchgang der Strahlen durch Asbest oder Fasergips
senkrecht zu den Fasern erscheint der Durchstoßpunkt von geraden
Linien durchzogen, von welchen die stärkste senkrecht zu den Fa¬
sern steht. Beim Durchgang parallel zu den Fasern ist der zen¬
trale Fleck von konzentrischen Kreisen umgeben. Auch bei aus¬
gewalzten und ausgeglühten Metallplättchen zeigt sich ähnliches.
Von ganz besonderem Interesse ist die Untersuchung der Mole¬
kularstruktur flüssiger Kristalle mit Hilfe der Röntgenstrahlen. Wie
ich gefunden habe, können auch Flüssigkeiten eine Raumgitterstruk¬
tur besitzen, wie feste Kristalle, sowie andere nicht homogene, aber
doch gesetzmäßige Molekularstrukturen, wie sich namentlich aus
ihrem optischen Verhalten ergibt. Diese Strukturen können durch
Einwirkung eines Magnetfeldes abgeändert werden; man müßte also
bei Erzeugung eines Interferenzbildes mittelst Röntgenstrahlen eine
Änderung dieses Bildes bei Einwirkung eines magnetischen Feldes
beobachten, aus welcher die Art der Strukturänderung und damit
die Art der Kraftwirkung zwischen den Molekülen erkannt werden
könnte. Versuche dieser Art sind bereits von dem Mitarbeiter des
Herrn v. Laue, Herrn St. v. Lingen, begonnen worden, es konnten
auch Andeutungen von Interferenzbildern im Magnetfeld erhalten
werden, doch hinderte der Ausbruch des Krieges die Fortsetzung
der Versuche. Auch hier in Karlsruhe sollte ein großer Elektro¬
magnet zu solchen Forschungen aufgestellt werden, zu welchem die
Jubiläumsstiftung der deutschen Industrie Mittel bewilligt hat.
Die Erkenntnis der Struktur der Stoffe ist ein Hauptziel der
Physik; denn so wie wir die Leistungen einer Maschine nur dann
genau vorausberechnen können, wenn wir über ihre Bestandteile ge¬
nau orientiert sind, so gilt dies auch bezüglich des Verhaltens der
Zum "o. Geburtstag von \V. C. v. Roentgen
127
Körper, wenn wir sie irgend welchen physischen Kraftwirkungen
aussetzen. Auf Grund der bedeutenden Fortschritte in der Kon¬
struktion der Röntgenröhren dürften die dargelegten Untersuchun¬
gen nach Laues Prinzip noch reiche Früchte tragen. 1
Insoweit Organismen aus kristallinisch-flüssigen Stoffen be¬
stehen, dürfte auch hier die Methode vielleicht einigen Aufschluß
über die Art der Zusammenlagerung der molekularen Bausteine
geben können und über deren Änderung während der Lebenstätig¬
keit. Die Röntgenstrahlen würden hierdurch für biologische und
medizinische Forschungen noch weit größere Bedeutung gewinnen,
als sie jetzt schon durch Ermöglichung der Erforschung der grö¬
beren inneren Beschaffenheit der Organismen und des menschlichen
Körpers im lebenden Zustande besitzen. 2
1 Siehe auch F. Rinne, Beiträge zur Kenntnis der Kristall-Röntgenogramme,
Sitzb. d. Kgl. Sächs. Akad. 19. Juli 1915, worin nicht nur sehr gut gelungene noimale
Interfereuzbilder wiedergegeben sind, sondern auch solche, die nach plastischer Deforma¬
tion der Kristalle erhalten wurden. Zur Herstellung diente eine Röntgenröhre neuester
Konstruktion von Dr. Lilienfeld, siehe elektrotechn. Zeitschr. 37, 185, 1916.
* Der Vortrag war begleitet von Vorführung zahlreicher Lichtbilder, sowie von
Versuchen.
'S
V
Nullpunktsenergie und Gravitation . 1
Von O. Lehmann.
Die Aufgabe der Physik, Vorausberechnung der Erscheinungen
der leblosen Natur, hat exakte Beschreibung der Eigenschaften der
Dinge zur Voraussetzung. Selbstverständlich müssen die betrach¬
teten Dinge auch wirklich existieren. Das trifft keineswegs immer
zu. Aristoteles, der Begründer der Physik, beschäftigte sich viel mit
der Drehung der die Erde scheinbar umhüllenden Himmelskugel.
Eine solche kristallene Sphäre, an deren Existenz zurzeit des Aristo¬
teles niemand zweifelte, existiert, wie später Kopernikus gezeigt hat,
keineswegs und auch das Kreisen der Sterne ist eine Täuschung,
bedingt durch Drehung der Erde, deren wir uns nicht bewußt wer¬
den. Die farbigen Nachbilder, die wir, geblendet durch direkten
Anblick der Sonne, zu sehen glauben, der Regenbogen, die Gespen¬
ster, die uns der Zauberspiegel vortäuscht, die zierlichen Sterne im
Kaleidoskop und viele andere Dinge, welchen wir auf den ersten
Blick reale Existenz zuschreiben möchten, besitzen solche nicht.
Anders die Wogen des Meeres oder die Wirbelstürme, welche
barometrische Minima umkreisen, deren Existenz sich zuweilen
recht unangenehm fühlbar macht. Doch auch sie können nicht die
Grundlage einer Berechnung bilden. Sie kommen und gehen, schwel¬
len an, zerteilen sich und zerrinnen wieder in nichts; sie sind nicht
beständig, nicht unveränderlich. Einst galten sie gar als völlig un¬
berechenbare Willkürmaßnahmen von Wind- und Meeresgöttern und
lange dauerte es, bis die Bestrebungen der Philosophen zur Er¬
kenntnis führten, daß auch hier sowohl das Kommende wie das Vor¬
angegangene aus dem Gegenwärtigen sich berechnen lassen müsse,
wie es zuerst bei einer andern, früher von den Astrologen ebenfalls
1 Vortrag im naturw. Verein und der ehern. Gesellschaft am 20. Juli 1916.
Verhandlungen. 26. Band. 9
>30
O. Lehmann
als Willensäußerung von Göttern betrachteten Naturerscheinung, der
Bewegung der Gestirne, speziell hinsichtlich des Auftretens von
Finsternissen, erkannt worden war. Später dachte Laplace selbst
an die Möglichkeit der Aufstellung einer Weltformel, aus welcher
sich alles Geschehen in der Welt mathematisch sollte ableiten lassen,
wenn auch nicht in Wirklichkeit, so doch im Prinzip.
Abgesehen von ihrer Veränderlichkeit haben Meereswogen und
Wirbelstiirmc noch den anderen Mangel, daß sie keinen abgegrenz¬
ten Raum einnehmen, daß sie keine Individuen sind wie unsere
eigene Person. Beschreibung eines Vorgangs ist für uns nur ver¬
ständlich, wenn wir ihn im Geiste nachmachen, d. h. unser eigenes
Ich an Stelle der wirkenden oder einer Wirkung unterliegenden
Dinge setzen können. Unser Ich ist aber unteilbar, wir vermögen
uns nicht vorzustellen, daß es in zwei Teile gespalten werden könne.
Darum suchte nicht nur das Altertum alles zu personifizieren, auch
der spätere Anthropomorphismus war bestrebt, alles auf die Existenz
von unteilbaren Atomen zurückzuführen. Wohl ist eine stetige
Linie als Bahn eines Punktes, in welchem wir unser Ich konzentriert
denken, für uns verständlich, auch eine stetige Fläche als Bahn einer
Linie und stetiger Raum als Bahn einer Fläche; aber selbst die reine
Mathematik sieht sich genötigt, diese Gebilde in Differentiale, Punkt¬
reihen, Strahlen- oder Fläehenbüschcl zu zerlegen, um mit ihnen
rechnen zu können oder sonstige Schlüsse zu ziehen.
Ganz uncntlxdirlich sind die Atome für den Chemiker, der sich
in der kaleidoskopischen Mannigfaltigkeit der chemischen Gebilde
ohne die Annahme, daß z. B. in dem Rost des Eisens die Atome des
Eisens noch unverändert enthalten seien, weil sich die gleiche Menge
basen wieder daraus abscheiden läßt, unmöglich zurecht finden
könnte.
Nachdem übrigens durch M. v. Laue und seine Nachfolger der
direkte Beweis der Existenz von Atomen in Kristallen gegeben ist \
muß wohl die Zusammensetzung aller Körper aus getrennten gleich¬
artigen Partikelchen als Tatsache betrachtet werden, wenn auch die
Erscheinungen der Radioaktivität beweisen, daß diese Partikclchen
jedenfalls nicht die letzten unteilbaren Dinge sind. Wir könnten
geradezu als Maß der Menge eines Stoffes die Zahl der darin ent
haltenen Atome betrachten. Indeß läßt sich diese nicht direkt er¬
siehe O. Lehmann, diese Verb. 25, <)0, 1913.
Nullpunktsenergie und Gravitation
131
rnitteln und sie würde auch keinen Vergleich der Stoffmengen oder
Massen zweier verschiedenartiger Körper gestatten.
Die Notwendigkeit solcher Vergleichung hat zuerst Galilei er¬
kannt, der wohl auch als Vater der Physik bezeichnet wird und
durch die Ergebnisse von Kopcrnikus zu seinen Forschungen an
geregt wurde.
Er fand zuerst eine (nach seiner Meinung) ganz zweifellos un¬
veränderliche Größe bei den Bewegungserscheinungen in der trägen
M a s s e oder Stoffmenge. Seinem Trägheitsgesetz zufolge bleibt
Bewegung als gradlinige Bewegung immer erhalten, bis eine Kraft
sie stört, als deren Maß das Produkt der Stoffmenge oder Masse
mit der Beschleunigung zu betrachten ist. Eine solche Kraft ist
freilich ein anthropomorphistisches Gebilde, ein Abbild unserer
Muskelkraft, die uns durch den Tastsinn zum Bewußtsein kommt.
Ebenso wie diese hat auch eine leblose Kraft (z. B. die einer Feder)
zwei Angriffspunkte und Wirkung und Gegenwirkung
sind einander gleich. Hebe ich einen Stein, so drücke ich mit den
Füßen die Erde nach unten. Fällt der Stein, so treibt die Schwere
die Erde auch gegen den Stein nach oben. Wirken zwei
Kräfte zugleich, so stören sie sich in ihren Wir¬
kungen nicht. Eine Federwage kann deshalb als Kraftmesser
geeicht werden, indem man nacheinander 1, 2, 3 . . . gleiche Ge¬
wichtsteine anhängt, denn deren Kräfte superponieren sich. We¬
gen der Superposition kommt cs bei den Bewegungen immer nur
auf die relativen Geschwindigkeiten an. In einem gleichmäßig fah¬
renden Schiff können wir unser Mittagsmahl so gut einnehmen wie
in einem stilliegenden, der Wein fließt in gleicher Weise aus der
Flasche, da sich nach Galileis Relativitätsprinzip die Be¬
wegungen einfach ohne sich zu stören, superponieren.
Sehr wichtig war Galileis Entdeckung, daß alle Körper gleich
schnell fallen, denn sie ermöglichte die Bestimmung der trägen
Masse verschiedenartiger Stoffe aus dem Gewicht, d. h. aus der
Schwere der Körper. Sie führte zu dem Fundamentalsatz: Träge
u n d schwere Masse sind genau proportional, s i e
sind identisch.
Man denke sich eine Spiralfeder über eine Rolle gelegt und
;in den Enden mit ungleichartigen Gewichten, etwa einem Blci-
und einem Holzstück, belastet, deren Stoffmengen ?n l und ;// 2
seien. Man beschneide etwa das Holzstück so lange, bis gerade
9
•32
O. Lehmann
Gleichgewicht besteht. Da beide Massen durch die Schwere die¬
selbe Beschleunigung g erfahren, müssen auch die durch Wirkung
und Gegenwirkung der Feder erzeugten Beschleunigungen der
beiden Massen nach oben g t und g 2 gleich g sein, sonst wäre
Gleichgewicht nicht möglich. Somit sind die Produkte rn l g t
und in 2 g 2 1 welche Wirkung und Gegenwirkung der Feder messen,
also einander gleich sein müssen, zu ersetzen durch m l • g und
in 2 • g, woraus folgt: m Y = m 2 . Sobald die Vorrichtung, die Wage,
im Gleichgewicht ist, sind also die trägen Massen der beiden
Stoffe einander gleich, obschon die Wage direkt nur die Gleichheit
der Schwerkräfte anzeigt.
In wenigen Ausnahmefällen, nämlich bei den sogenannten Im¬
ponderabilien: Wärme, Elektrizität, Magnetismus und Licht, die man
weder wägen, noch in bezug auf etwaige Trägheit prüfen konnte,
mußte unentschieden bleiben, wie ihre Masse zu bestimmen sei und
ob auch liier das Gesetz der Gleichheit von träger und schwerer
Masse zutreffe. Sie schienen allerdings mit wägbaren Stoffen nur
die Raumerfüllung gemeinsam zu haben.
Nach Festsetzung des Kilogramms als Masseneinheit lag
nabe, als Einheit der Kraft diejenige Kraft zu wählen, die der
Masse i Kilogramm den (iesehwindigkeitszuwachs von I Meter pro
Sekunde in der Sekunde erteilt, die Dezimegady ne, wodurch
die Konstante, mit welcher das Produkt von Masse und Beschleu¬
nigung zu multiplizieren ist, um die Kraft zu erhalten, den für die
Rechnung bequemsten Wert i erhält.
Eine in Dezimegadynen (auch Kop 1 genannt) geeichte Feder¬
wage gestattet ohne weiteres jede Kraft genau ihrer Größe nach
durch eine Zahl auszudrücken, ebenso wie die gewöhnliche Wage
ermöglicht (abgesehen von den Imponderabilien), jede Stoffmenge
in Kilogrammen zu messen und so die Grundlage für exakte Be¬
schreibung der Bewegungserscheinungen zu erhalten.
Lange Zeit bestand aber eine Unklarheit darüber, wie eigent¬
lich die Wucht eines fallenden Steins zu messen sei, da dessen Sto߬
kraft augenscheinlich nicht allein durch seine Schwere, sondern
auch durch seine Geschwindigkeit bestimmt ist, so daß man zwi¬
schen der toten Kratt des ruhenden Steines und der lebendigen
1 O. Lehmann, Zuitsclir. f. Insti umentenkundr 1913, 279; Leitfaden der Physik,
Itrauns. hwrijr 1 <>07, VII.
Nullpunktsencrgie und Gravitation
T
1 0 0
Kraft des fallenden zu untcrsclicidcn genötigt war, welche Aus¬
drücke zuerst von Leilmiz gebraucht wurden. 1 Während eine ge¬
wöhnliche (wahre) Kraft zwei Angriffspunkte besitzt, kommt einer
Stoß- oder Trägheitskraft, als welche z. B. auch die Zentrifugalkraft
eines eine Kurve durchfahrenden Eisenbahnwagens zu betrachten
ist, nur ein Angriffspunkt zu."
Die Studien hierüber führten zum Begriff der Arbeit, als
deren Maß im Jahre 1742 von (oh. Bcrnoulli das Produkt von Kraft
und Weg eingeführt wurde, so daß als Einheit (obiger Kraftdefini¬
tion gemäß) die Arbeit, welche* 1 I )ezimegadyne leistet, wenn sicli
ihr Angriffspunkt in ihrer Richtung um 1 Meter verschiebt, das
Joule, zu benutzen ist. T11 einem gehobenen Gewicht ist die Ar¬
beit als Arbeitsfähigkeit gewissermaßen aufgespeichert. Fällt die
gehobene Linse eines Pendels, so nimmt ihre Arbeitsfähigkeit an¬
dere Form an, denn im tiefsten Punkte angekommen, hat die Pendcl-
linse Arbeitsfähigkeit infolge ihrer lebendigen Kraft, sie vermag
sich selbst auf die gleiche Höhe emporzutreiben, aus welcher sie
heruntergefallen ist. Diese Arbeitsfähigkeit infolge des Bewe¬
gungszustandes, wofür wir das W ort „W u c h t“' seit alter Zeit
haben, wurde von Thomas Yuung 1807 Energie genannt.
Thomson und Tait nannten sie 1867 kinetische Energie zum Unter¬
schied von der durch Hebung des Gewichts entstandenen Energie
der Lage, für welche Rankine 1853 die Bezeichnung potentielle
Energie eingeführt hatte.
Darüber, welches der absolute Wert einer Energie ist, kön¬
nen wir freilich nichts aussagen. Wenn ein Stein fällt, verliert er
an Energie der Lage. Wenn er sehr weit von der Erde entfernt ist,
ist seine Energie bedeutend größer als an der Erdoberfläche, aber
da noch viele andere Weltkörper vorhanden sind, bezüglich deren er
ebenfalls Energie der Lage besitzt, können wir den Gesamtbetrag
nicht angeben. Ebensowenig kennen wir den absoluten Wert der
Bewegungsenergie; denn um sic zu berechnen, müßten wir den ab¬
soluten Wert der Geschwindigkeit kennen. Es gibt aber in der
Welt keinen festen Punkt und keine feste Richtung, von welchen
wir bei der Messung ausgehen könnten. Zu der gewöhnlich gemes¬
senen Geschwindigkeit relativ zur Erde wäre die Geschwindigkeit
1 O. Lehmann, diese Verh. 26. Zum 100. Geburtstag von R. Mnver, S. 6.
- O. Lehmann in Fricks phys. Technik, 7. Aufl. I (2), (»65, 1905.
•34
O. Lehmann
der Erde selbst, sowohl deren Umdrehungsgeschwindigkeit wie
deren Umlaufsgeschwindigkeit bezüglich der Sonne, die allein
30 000 Meter pro Sekunde beträgt, hinzuzufügen, weiter aber die
Geschwindigkeit des ganzen Sonnensystems, über welche wir nichts
aussagen können. Da nach Galileis Superpositions- oder Relativi¬
tätsprinzip die Bewegungen unabhängig von einander verlaufen, ist
die Kenntnis der absoluten Werte für unsere Berechnungen übri¬
gens ganz unnötig. Auch bei der potentiellen Energie kommen im¬
mer nur Änderungen, d. h. Differenzen in Betracht. Nach Einsteins
Relativitätstheorie 1 muß überhaupt jedes Naturgesetz in gleicher
Weise gelten, mag der Beobachter sich mit der betrachteten Vor
suchseinrichtung bewegen, wie z. B. ein Beobachter, der auf einem
gleichmäßig fahrenden Schiff experimentiert, oder nicht, wie z. B.
ein Beobachter, der vom Lande aus, etwa mittelst eines Fernrohres
diese Versuche verfolgt. Die Naturgesetze müssen mathematisch
gesprochen bei entsprechender Transformation des Koordinaten¬
systems kovariant sein.
Ganz ebenso, wie bei einem pendelnden Körper die Energie
fortgesetzt aus dem potentiellen Zustande in kinetische Energie über¬
geht und umgekehrt ohne Änderung ihrer Größe, so daß man von
einem Gesetz der Erhaltung der Energie sprechen könnte, welches
mit Galileis Trägheitsgesetz in Beziehung stände, wenn sich poten¬
tielle Energie als verl>orgener Bewegungszustand auffassen ließe,
findet auch eine beständige Encrgieumwandlung ohne Änderung
der Energiegröße statt, wenn eine elastische (Stahl-)Kugel auf eine
elastische Unterlage fällt, zurückprallt, um dann von neuem herab¬
zufallen usw. Die Bewegungsenergie geht dabei in Energie
elastischer Spannung über, die sich sofort wieder in Bewegungs¬
energie von umgekehrter Richtung zurückverwandelt.
Beim Auffallen eines unelastischen Körpers auf eine un¬
elastische Unterlage schien sich aber das Gesetz der Erhal¬
tung d e r E n e r g i e (bezüglich Erhaltung der potentiellen Ener¬
gie bei \ ersuchen zur Herstellung eines perpetuum mobile zuerst er¬
kannt und als goldene Regel der Mechanik bezeichnet) nicht zu be¬
währen. Graf Rumford war der erste, welcher fand, daß auch hier
eine andere Energieform auftritt, nämlich Wärme; daß also die
1 A. Einstein, Ann. d. Plus. 17, 891; 18, 630, 1905: 49, 822, 1916; O.
Lehmann, diese Verh. 23, 51, 1910; M. Laue, Das Relativitätsprinzip, Braun-
sehwei^ 191 I.
Xullpunktsenergie uml Gravitation
135
Wärme nicht, wie man früher glaubte, ein unwägbarer Stoff, son¬
dern eine unsichtbare, verborgene Form von Bewegung, ein regel¬
loses Hin- und Herzittern der Atome sei.
Robert Mayer gelang es, wie in dem oben zitierten früheren
Vorträge näher dargelegt ist, den quantitativen Zusammenhang zwi¬
schen verlorener Bewegungsenergie und entstandener Wärmeenergie
oder umgekehrt zwischen der in einer Heißluftmaschine verschwun¬
denen Wärmemenge und der von ihr erzeugten mechanischen Arbeit
festzustellen, so daß wir Wärme ebenso in Joule messen können wie
potentielle und kinetische Energie. Demgemäß beträgt die Tem¬
peraturerhöhung von 1 kg Wasser einen Grad Celsius (bei 15 °),
wenn wir demselben Wärmeenergie im Betrage von 4189 Joule zu¬
führen. 1 Kilogramm Petroleum würde durch dieselbe Energie¬
menge um ca. 2 Grad erwärmt, d. h. die s p e z i f i s c h e W ä r in e
des Petroleums ist halb so groß wie die des Wassers, die man
— 1 setzt. 1
Helmholtz sah in der Entdeckung von R. Mayer eine Bestäti¬
gung der Rumfordschen Ansicht, daß Wärme nur ein verl)orgencr
Bewegungszustand sei, so daß man das Gesetz der Erhaltung der
Energie genauer als Gesetz der Erhaltung der Bewegungsenergie be¬
nennen könnte und Clausius gelang es, durch Krönigs Annahme
über den Bewegungszustand der Atome und Moleküle, durch die
sogenannte kinetische Gastheorie, das tatsächliche Ver¬
halten der Gase quantitativ fast restlos zu erklären. Der Druck der
Gase ist nach dieser Theorie die Wirkung der molekularen Stöße;
er wird demnach mit sinkender Temperatur, d. h. mit verminderter
Bewegungsenergie der Moleküle, welche geradezu das Maß der ab¬
soluten Temperatur ist, kleiner; beim absoluten Nullpunkt muß er
verschwinden. Tatsächlich verschwindet er dem Gasgesetz zufolge
bei — 273 Grad Celsius, so daß dieser Punkt der Nullpunkt der ab¬
soluten Temperaturskala ist, der Punkt, bei welchem bei fortgesetz¬
ter Abkühlung schließlich die ganze Wärmebewegung aufhört. Da
damit auch die abstoßende Kraft der Wärme verschwindet welche
die Moleküle entgegen ihrer Anziehungskraft auseinandertreibt,
muß auch deren Abstand Null werden und damit die potentielle
Energie, die sic infolge ihrer Anziehungskräfte besitzen. Beim ab-
1 Daß man heute die Wärme vielfach immer noch in Kalorien statt in Joule
mißt, ist unnötig und störend.
O. Lehmann
136
solutcn Nullpunkt muß also anscheinend jede Energie verschwin¬
den, es gibt keine Nullpunktsenergie.
Auf Grund der kinetischen Gastheorie konnte ohne weiteres ein
Hauptgesetz der Chemie die Avogadroschcn Regel abgeleitet wer¬
den 1 , es ergaben sich auf Grund spezieller Annahmen über die mitt¬
lere Weglänge und die Dimensionen der Moleküle, sowie über die
Kräfte, die die Moleküle bei starker Annäherung auf einander
ausüben, die Gesetze der inneren Reibung und der Wärmelcitung
der Gase und die van der Waalsschc Zustandsgleichung, welche das
Verhalten der Gase mit dem der Flüssigkeiten in Beziehung bringt.
Letztere befindet sich freilich, wenn man die seit alter Zeit übliche
1 dentitätstheorie der Aggregatzustandsänderungen und
polymorphen Modifikationen der Rechnung zugrunde legt, nicht
in befriedigender Übereinstimmung mit der Erfahrung; die Überein¬
stimmung kann aber hergestellt werden durch die Annahme, daß eine
Änderung der Moleküle die Ursache des Kondensations- oder Vcr
dampfungspro/osses ist gemäß meiner Theorie der moleku¬
laren (physikalischen) Tsomeric 2 , welche in gleicher Weise auch
den Erstarrungs- und Schmelzprozeß, sowie die polymorphe Um¬
wandlung erklärt und durch die Existenz flüssiger Kristalle bewie¬
sen erscheint.' 1 Bei letzteren können d i e c i n g r e i f c n d -
s t e n St ö r 11 n g e 11 d c r A r t der Zusammenlagerun g
d er M o 1 c k ü I e e i n t r e t e n 4 , ohne daß eine Ander u n g
der Eigenschaften erfolgt, wie sic nach der Identitäts¬
theorie der Polymorphie notwendig zu beobachten sein müßte. Fer¬
ner kann beispielsweise das Cholesterylcaprinat, nach meinen Be¬
obachtungen in drei flüssigen und zwei festen Modifikatio¬
nen \ auftreten, das Ammoniumnitrat in fünf festen Modifi¬
kationen 0 , was die Identitätstheorie nicht einmal im Prinzip zu er¬
klären vermag.
Die Beobachtungen über die Brownsche Wimmolbewegung
suspendierter Stäubchen und Tröpfchen 7 , Gaedes Studien über die
1 Siche O. Lehmann, diese Vcrh. 25, 47, 1913.
■ Derselbe, Zeitschr. f. Kristall«»grapli. 1, 97, 1877; Ann. d. Phys. 21, 181, 190t).
A Derselbe, Die neue Welt der flüssigen Kristalle, Leipzig 1911; diese Vcrh.
25, t(»p 1913; Phys. Zeitschr. 15, 617, 1914; Ann. d. Phys. 50, 555, 1916.
* Derselbe, Ann. d. Phys. 48, 725, 1915; Phys. Zeitschr. 17, 241, 1916.
Derselbe, Zeitschr. f. phys. Chcm. 56, 750, 190b; 73, 607, 1910.
'■ Derselbe, Zeitschr. f. Kristallogr. 1, 97, 1 «S 7 7; Ann. d. Phys. 21, 181, 1906.
7 Derselbe, diese Will. 25, 53, 1913.
Nullpunktsenergie und Gravitation
137
äußere Reibung der Gase, die zur Konstruktion der Molekular¬
luftpumpe und der Diffusionsluftpumpe führten 1 , das merkwürdige
Verhalten der Emanation radioaktiver Stoffe und anderes stand
mit der kinetischen Gastheorie in bester Übereinstimmung, es
war sogar möglich, auf Grund der Bestimmung des Verhältnisses
der spezifischen Wärme der Gase bei konstantem Druck c p zu
der bei konstantem Volumen c v das Verhältnis der in Form fort¬
schreitender Bewegung vorhandenen Bewegungsenergie K zur
Summe dieser und der Energie von Rotationen und inneren
Schwingungen E zu ermitteln. Es ergab sich einfach K : E =
\ icp — c 7 ) : c v , woraus folgt, daß für Gase, deren Moleküle einzelne
Atome sind, für welche also K= E ist, c p : c v — 1,66 sein muß, was
die Beobachtung bestätigte.
Für die Molekular wärme, d. h. die Wärmemenge ge¬
messen in Joule, die nötig ist, 1 Kilogrammol um 1 Grad C. zu
erwärmen oder das Produkt M • c vt wenn M das Molekulargewicht
ist, folgt aus den Annahmen der kinetischen Gastheorie, falls man
die Zahl der Moleküle pro kg N nennt und die Masse eines
Moleküls in kg m: M * c v = M • zV- m ■ • *., worin sich das Qua¬
drat der Molekulargeschwindigkeit c 2 aus der Grundgleichung der
Theorie =“ ergibt, wenn (j die Dichte in kg pro cbm bedeutet,
also das Volum v von 1 kg Mol = ist. Nun ist .V- in = 1 kg
und - = 8319, so daß M • c v = ^ - 8319 Joule wird unab¬
hängig von der Natur des Gases, sofern dasselbe einatomig ist.
Für ein beliebiges Gas ergibt sich, da nach R. Mayer 83.9 =
-> 2 • (' £
M • 4189 (Cp — c v )> also Ä 1 = — r — ist, M • c v = - = 3 • — Joule,
c p C V c p~ c r K
ebenfalls in Übereinstimmung mit der Beobachtung.
Selbst die Molekularwärme einatomiger fester Körper schien
sich auf Grund der Vorstellung, daß bei diesen die Atome um
bestimmte Gleichgewichtslagen rotieren oder schwingen, in be¬
friedigender Übereinstimmung mit dem experimentell gefundenen
Gesetz von Dulong und Petit, nach welchem sie 6-4189 Joule
betragen sollte, zu ergeben. Ist nämlich in die Masse eines
1 W. Gaede, Vcrh. d. D. phys. Ges. 14, 775, 1912.
> 3 »
O. I-ehmann
solchen Atoms in kg, r der Abstand vom Umlaufsmittelpunkt in
Metern und c die Umlaufsgeschwindigkeit in Metern pro Sek.,
so ist die kinetische Energie - l - m c 2 Joule und die Zentrifugal¬
kraft m c 2 Dezimegadynen. Letztere ist gleich der Zentripetalkraft.
die wie bei einem konischen Pendel proportional r zunimmt, also
— Ar gesetzt werden kann. Würde das Atom dieser folgend
in die Ruhelage zurückfallen, d. h. würde sich seine potentielle
Energie', die = A J r dr = m ^ ist, in kinetische
Energie verwandeln, so wäre diese, wie dieses Ergebnis zeigt,
ebenso groß wie die kinetische Energie infolge der Umlaufs-
bewogung; d. h. die Atome besitzen außer der letzteren eint'
ebenso große potentielle Energie. Da nun für ein einatomiges
(das die Atomwärme = • 8319 ist, muß sie für einen einatomigen
festen Körper doppelt so groß = 3-8319 oder 6-4189 Joule sein.
In neuerer Zeit fand sich aber, daß für tiefe Temperaturen dieser
einfache Satz keineswegs mehr zutrifft, so daß, wie weiter unten
noch näher gezeigt wird, in der Nähe des absoluten Nullpunkts
die kinetische Theorie in der eben dargelegten Form nicht mehr
zutreffend sein kann.
Wie Clausius gezeigt hat, ermöglicht der von R. Mayer ge¬
fundene erste Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie
oder Thermodynamik auch die Berechnung des Wirkungsgrades
einer einfachen und vollkommenen thermodynamischen Maschine,
wie sie zuerst Carnot in Betracht gezogen hat 1 , d.h. desjenigen
Teils der von der Maschine aufgenommenen Wärme,
der wirklich in mechanische Arbeit umgesetzt wird.
Clausius gelangte durch solche Betrachtungen zur Auffindung des
außerordentlich wichtigen zweiten Hauptsatzes der Thermo¬
dynamik, daß dieser Bruchteil der gegebenen Wärme, die so¬
genannte freie Energie, durch das zur Verfügung stehende
'j' _ 'p,
Temperaturgefälle bedingt ist, nämlich = wobei 7 \ die
höchste, 7 \ die niedrigste Temperatur nach absoluter Skala ge¬
messen bedeuten. Nur wenn 7 \ — o wäre, d. h. wenn ein Tem-
1 Siche < >. Lch inan n , dies* Verli. 26, i<)U>; Leitfaden der Physik, Braunsrhwcig
15-* § i;o.
Nullpunktsenergie und Gravitation
»39
peraturgefälle bis zum absoluten Nullpunkt zur Verfügung stände,
wäre völlige Umwandlung der gegebenen Wärme in Bewegungs¬
energie oder mechanische Arbeit möglich.
Wendet man diesen Satz auf die Leistung einer vollkommenen
Dampfmaschine an, welche bei unendlich kleinem Temperatur¬
gefälle und bei unendlich kleinem Kolbenhub arbeitet, so ergibt
sich (nach G. Kirchhoff) ein interessanter Satz für die Ver¬
dampfungswärme. 1 Bezeichnet man diese (gemessen in Joule
pro kg-Mol) mit q m und die Dampftension in Dezimegadynen
pro qm bei der absoluten Temperatur T mit /, so ist
,„ 2 dlnp
9m = 2 • 4189 • r ■ -JY~'
Analoge Gleichungen ergeben sich für die Schmelzwärme und
die Umwandlungswärme bei f>olymorphen Umwandlungen, die nach
meiner Theorie der molekularen (physikalischen) Isomeric ebenso
wie auch Schmelzung und Verdampfung als chemische Dissoziations¬
erscheinungen bei geringer Affinität zu betrachten sind, so daß
schon hiernach vorausgeschen werden kann, daß auch für gewöhn¬
liche chemische Umsetzungen auf gleichem Wege ähnliche Aus¬
drücke für die Reaktionswärme zu finden sein müssen, was später
J. H. van t’Hoff gefunden hat, wie noch näher gezeigt werden soll
Schreibt man den von Clausius gefundenen Satz, daß die Arbeit
bei einem Spiel der Carnotschen Maschine L = ( 9 , 1 r/ , Joule ist,
wobei Qi die aufgenommene Wärme, gemessen in Joule bedeutet,
so, dafä 7 *, unter Q t kommt, L = ^ (T i — T 2 ), so gleicht er ganz
dem Satz, der die Arbeit eines Wassermotors bestimmt (Arbeit =
Wassergewicht x Wassergefälle), falls man als Wärmegewicht
bezeichnet und 7 \ — T 2 als Wärmegefälle.
Man kann das Spiel der Maschine in zwei Teile zerlegen.
Bei der sich von selbst vollziehenden Expansion des Gases wird
Wärme aufgenommen, und bei komplizierten Maschinen, die in
einzelnen Stufen arbeitend gedacht werden können, kann man
sagen, das Wärmegewicht nimmt bei jeder Expansion
immer mehr zu. Im zweiten Teil, der sich nicht von selbst
vollzieht, bei welchem vielmehr der Kolben durch die Energie
1 Siehe O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 157, § 172.
des Schwungrades gegen den Gasdruck zurückgetrieben wird
wird Wärme Q 2 abgegeben, das Wärmegewicht ^, 2 ist also
negativ und man kann also allgemein sagen, bei solchen er¬
zwungenen Vorgängen nimmt das Wärmegewicht ab.
Bei jedem vollkommenen Carnotsehen Kreisprozeß ist die
Summe der aufgenommenen und abgegebenen Würmegewiclite die¬
selbe, bei unvollkommenen Maschinen überwiegen aber die aufge¬
nommenen, z. B. weil ein Teil der aus der aufgenommenen Warme
erzeugten Arbeit zur Überwindung von Reibungswiderständen ver¬
braucht wird und somit nicht mehr als Bewegungsenergie des
Schwungrades zur Kompression des Gases zur Verfügung steht.
Der Carnotsche Kreisprozeß kann auch umgekehrt durchlaufen
werden, ohne daß die Formeln sich ändern. Dabei würde in der
ersten Hälfte Wärmegewicht abgegeben und zwar ebensoviel (wegen
Gleichheit der Formeln) wie beim direkten Betrieb in der zweiten
Hälfte. Denkt man sich das Gas vom Zustande der äußersten Ex-
pansion in den Anfangszustand zurückgebracht, so ist also die
Summe der abgegebenen W ärmegewichte auf beiden Wegen gleich
groß. Fbcnso groß wäre sie, wenn man irgend einen beliebigen
dritten umkehrbaren Weg wählen würde; sie stellt also eine den ge¬
gebenen Anfangszustand kennzeichnende Größe dar, die bei allen
von selbst verlaufenden Vorgängen wächst und nur bei nicht von
selbst verlaufenden abnehmen kann. Clausius hat deßhalb den zweiten
I lauptsatz auch in der Form ausgesprochen: ,,D i c Entropie
strebteinem M a x i m u m z u.“
I umgekehrt strebt die ,,f r e i e Euer g i e“ einem Mi¬
nimum zu. Bringen wir heißes und kaltes Gas zusammen, so
wird das Temperaturgefälle von selbst niedriger und verschwindet
schließlich ganz und damit auch die freie, in Arbeit umsetzbare
Energie. Dieser Endzustand tritt dann ein, wenn die Entropie ein
Maximum geworden ist. Es ist augenscheinlich der Zustand, der
die größte Wahrscheinlichkeit besitzt. Denn wenn auch die mittlere
Geschwindigkeit keineswegs allen Molekülen zukommt, so ist doch
der Fall, daß sich von selbst alle Moleküle mit großer Geschwindig¬
keit in die eine Hälfte des Gefäßes begeben würden, die mit gerin¬
ger Geschwindigkeit in die andere, daß also von selbst eine Tempe-
raturdiIterenz sich einstellen würde, ganz unwahrscheinlich. Das
Wahrscheinlichste ist eine gleichmäßige Mischung der verschieden
Nullpunktsenergie und Gravitation
l 4 I
rasch bewegten Moleküle lind Boltzmann ist es in der Tat gelungen,
nachzuweisen, daß die Entropie im G r 11 n d c nur ci n M a ß
der Wahrscheinlichkeit des b e t r. Z u s t a n des i s t,
genauer des natürlichen Logarithmus der Wahrscheinlichkeit.
Bezüglich des absoluten Wertes der Entropie zeigen sich
freilich Schwierigkeiten ähnlich wie bei Berechnung der Energie,
da dieser vom Ausgangspunkt abhängt. Beispielsweise ist für ein
kg eines Gases die Änderung der Entropie dS, wenn bei der
absoluten Temperatur T die Wärmemenge dQ zugeführt wird
dp _ dT I , _ j, r ± d T 83 IQ tiv
dS =
T
= C A
dT 1 , rj, . 1 \ dT
~T = ~T dT + p dv ) = C V T
M
wenn v das Volumen in cbm bedeutet. Also S= c,, ln T+ 83 ' 9 ln i'
j\I
-»- Konst. Wie im folgenden gezeigt wird, kann aber die
Konstante bestimmt werden, da sich der Wert der Entropie
speziell für den absoluten Nullpunkt angeben läßt.
Statt durch eine Temperaturdifferenz kann die freie Ener¬
gie auch durch eine Druckdifferenz bedingt sein. Wird ein
Druckluftkessel mit einem Vakuumkessel verbunden, so kommt
das Gas in Strömung. Beträgt die in Bewegung gesetzte Masse
w kg, die Geschwindigkeit ?• m/se<\, also die entstandene kinetische
V 2
Energie in - - - Joule, so ist diese gleich der ebenfalls in Joule
gemessenen verschwundenen Wärmemenge. Waren T 0 und T
Anfangs- bezw. Endtemperatur, also die verschwundene Wärme¬
menge m -Cp(T Q —T ) 4189 Joule, so ergibt sich für die Aus¬
strömungsgeschwindigkeit des Gases v = I 2-4189- Cp{T Q — T) m/sec.
Nach Ausgleich des Druckes ist weitere Umwandlung von Wärme
in Bewegungsenergie nicht mehr möglich, die freie Energie ist
Null geworden, die Entropie hat ihr Maximum erreicht.
Werden zwei mit verschiedenartigen Gasen gefüllte Gefäße in
Verbindung gesetzt, so findet D i f f u s i o n statt, d. h. jedes Gas
expandiert, wie wenn das andere nicht vorhanden wäre, nur bedeu¬
tend langsamer, als in einem wirklich leeren Raum. Ist gleichmäßige
Mischung eingetreten, so ist wieder die freie Energie Null, die En¬
tropie ein Maximum. Mittels halbdurchlässiger Kolben, von wel¬
chen jeder nur eines der beiden Gase durchläßt, könnte man diesel¬
ben unter Aufwendung mechanischer Arbeit wieder auf ihre An¬
fangsvolumina zurückbringen, wobei die Entropie naturgemäß, da
142
O. Lehmann
cs sich um einen nicht von selbst verlaufenden Vorgang handelt,
wieder abnimmt, die freie Energie wächst.
Auch c h e m i s c h e Affinität kann das Vorhandensein
freier Energie bedingen. Beispielsweise kann Arbeit gewonnen
werden durch Vereinigung von Wasserstoff und Sauerstoff, doch um
so weniger, je höher die Temperatur ist. Die Affinität der beiden
Stoffe nimmt mit steigender Temperatur ab und wird bei der D i s-
s o z i a t i o n s t e m p cratur Null. Unterhalb derselben stellt sich
ein sogenanntes chemisches Gleichgewicht zwischen
Wasserstoff-, Sauerstoff- und Wasserdampfmolekülen her, indem
z. B. da, wo heftige Zusammenstöße stattfinden, die letzteren Mole¬
küle in erstcrc zerfallen, umgekehrt an Stellen minder heftiger Stöße
Wasserstoff und Sauerstoff sich wieder verbinden. Je tiefer die
Temperatur unter die Dissoziationstemperatur sinkt, um so geringer
wird der Dissoziationsgra d, um so mehr werden die Was
sc rdampfmoleküle überwiegend. Das Mengenverhältnis derselben
in einem geschlossenen Gefäß hängt also lediglich von der Tempera¬
tur ab. Es würde sich auch nicht ändern, wenn man durch eine nur
für Wasserdampf durchlässige Stelle der Wandung Wasserdampf
hineinpressen und an andern für Wasserstoff bezw. Sauerstoff durch¬
lässigen Stellen gleichzeitig die äquivalenten Mengen von Wasser-
lind Sauerstoff entziehen würde. Bei diesem Vorgang müßte aber
mechanische Arbeit aufgewendet werden, denn Wasserdampf ver¬
schwindet und an Stelle desselben würden freier Wasserstoff und
Sauerstoff erhalten, es würde also Wasserdampf zersetzt, d. h. die
freie Energie wäre gewachsen, die Entropie vermindert. Die Berech¬
nung dieser Arbeit A für i kg-Mol ergibt 1
A = 83 19 • T * ln c ^ y Joule
wenn c x die Anzahl kg-Mol Wasserdampf in 1 cbm des Be¬
hälters bedeutet und ebenso c Y und c 2 die molekularen räumlichen
Konzentrationen von Wasserstoff und Sauerstoff. Der Quotient
— I\, die sogenannte Gleichgewichtskonstante ist
( 'i’ • o
von der Temperatur abhängig und die Gleichung läßt also nicht
klar erkennen, wie sich die aufzuwendende Arbeit, die der
Affinität der beiden Stoffe bei der betr. Temperatur entspricht,
sich mit dieser ändert.
1 Sich«' O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 164, § 174.
Nullpunktsenergie und Gravitation
143
Dieselbe Arbeit würde natürlich gewonnen werden, wenn man
auf der einen Seite Wasserstoff und Sauerstoff in den Behälter hin¬
einpressen und auf der anderen Seite die äquivalente Menge Wasser¬
dampf entziehen würde. Die dabei gewonnene Arbeit, d. h. die freie
Energie, stellt wieder das Maß der A f f i n i t ä t von Wasser¬
stoff und Sauerstoff bei der betr. Temperatur dar.
Um die Abhängigkeit derselben von der Temperatur übersehen
zu können, ist cs nötig, die Änderung der Gleichgewichtskonstante
K mit der Temperatur zu ermitteln. Dies ist ebenfalls mit Hilfe
der beiden Hauptsätze möglich. Das Ergebnis ist 1
<lrn = 2 • 418g • T l d/ i " v A Joule,
wenn q m die auf 1 kg-Mol bezogene Reaktionswärme bedeutet.
Auch dieses Ergebnis ist keine vollkommene Lösung der Auf¬
gabe, die chemische Affinität zu bestimmen, denn es stellt nur eine
Differentialgleichung dar, bei deren Integration noch eine willkür¬
liche Integrationskonstante hinzu kommt.
Betrachtet man, wie a. S. n angedeutet, den Verdampfungsprozeß
als einen chemischen Vorgang entsprechend meiner Theorie der
molekularen Isomerie, so ergibt der Vergleich der für die Verdamp¬
fungswärme gefundenen Formel mit der obigen p = K, d. h. man
könnte das Verhältnis der Konzentrationen der reagierenden Mole
küle aus der Dampftension, die der Dissoziationstension entspricht,
finden, wenn die Beschaffenheit der Moleküle bekannt wäre.
Durch das Studium der oben erwähnten Abweichungen der be¬
obachteten Werte der Atom- und Molekularwärmen von den theo¬
retischen gelangte Nernst neuerdings zu einer vollkommenen Lö¬
sung des Problems der Messung der chemischen Affinität, insofern
es ihm durch ein hierbei entdecktes neues Wärmctheorc m.
welches man auch als dritten Hauptsatz der Thermodyna¬
mik bezeichnet, möglich wurde, den Wert der Integrationskonstan¬
ten in den Ausdrücken für die freie Energie oder Entropie zu be¬
stimmen. Dieser Satz sagt aus, daß beim absoluten Null¬
punkt die spezifische Wärme und ihr Tempera¬
turkoeffizient Null werden, so daß es im Grunde auf
keine Weise möglich sein wird, einen Körper wirklich bis zum abso¬
luten Nullpunkt abzukühlen.
1 Siehe a. a. O. S. 165, § 175.
«4 4
<J. Lehmann
Wie ich bereits in einem früheren Vortrage dargelegt habe 1 ,
fand sich so für die freie Energie oder Affinität A die Gleichung:
A = C r 0 — ß T 2 , und für die Reaktionswärme U die Gleichung:
U= U» ■+■ ß T 2 Joule.
In welcher Weise sich die Reaktionswärme mit der Tempera¬
tur ändert, läßt sich wieder am einfachsten bei dem Verdampfungs¬
prozeß erkennen (welcher nach der Theorie der molekularen Isomerie
ein chemischer Umwandlungsprozeß ist), insofern, ähnlich wie
oben bei Bestimmung der Entropie gezeigt, derselbe Endzustand
auf zwei verschiedenen Wegen von demselben Anfangszustand aus
erreicht werden kann.
Beispielsweise sei der Anfangszustand i kg flüssiges Benzol
von der absoluten Temperatur T, der Endzustand i kg Benzol¬
dampf von der Temperatur T+-dT. Man kann das Kilogramm
Benzol bei T° in Dampf verwandeln, wobei r Joule Wärme
(Verdampfungswärme genannt) zuzuführen sind, und dann den
Dampf um d T Grad erwärmen, wozu Cp * dT Joule gehören, wenn
Cp die spezifische Wärme des Benzoldampfes in Joule pro kg ge¬
messen bedeutet. Der Gesamtwärmeverbrauch wäre r -+- Cp • dT.
Man kann aber auch erst das flüssige Benzol um dT erwärmen
wozu c d f Joule nötig sind, wenn c die spez. Wärme des flüssigen
Benzols bedeutet und dann die Verdampfung herbeiführen, wozu
r+dr Joule zuzuführen sind. Der Wärmeverbrauch c • dT-\-r-*-dr
auf diesem zweiten Wege muß ebenso groß sein wie der auf dem
ersten, d. h. r -+- Cp • d T = c d T r + d r , so daß der gesuchte
Tom per a t u rkoe f f i z i e n t der Verdampfungswärme sich
ergibt nach der Formel = Cp—c. Nun ist Cp — 0,292 • 4180,
c — 0,436 • 41S9, also d \ = — 0,144 * 418g, in bester Überein¬
stimmung mit der Beobachtung.
In ganz analoger Weise ergibt sich der Tcm peraturkoef-
f i z i e n t der U m w a n d 1 u n g s w ä r m c (Reaktionswärme)
bei der polymorphen Umwandlung von rhombischem in monoklinen
Schwefel, wie Nernst gezeigt hat. 2
1 O. I.fimiaim, diese Yerh. 24, 2QO, 1912; leider sind hier die Figuren 2 11.
\ verwechselt.
- Nach meiner Theorie der molekularen (physikalischen) Isomerie ist die polymorphe
\ Anwandlung ein chemischer Vorgang, weil sie auf die Änderung der Moleküle be¬
ruht. Nernst, welcher Anhänger der alten Identitätstheorie ist, nach welcher es sich
Nullpunktsenergie und Gravitation
145
Man bewirke zunächst die Umwandlung von 1 kg rhombischem
Schwefel bei der Umwandlungstemperatur T nach absoluter Skala,
wozu U Joule (Umwandlungswärme) verbraucht werden. Sodann
erwärme man den entstandenen monoklinen Schwefel um dT Grad,
wozu c m ■ dT Joule nötig sind, wenn c m die spezifische Wärme
des monoklinen Schwefels in Joule pro kg bedeutet. Der gesamte
Wärmeverbrauch ist U-\- c m dT Joule. Man kann nun aber auch
zunächst das kg rhombischen Schwefel um d T Grad erwärmen,
wozu Cr • dT Joule gehören, wenn Cr die spezifische Wärme des
rhombischen Schwefels ist, und dann die Umwandlung bewirken,
wozu U -¥■ d U Joule verbraucht werden. Der Gesamtverbrauch
an Wärme c r dT-*-U-*-dU muß gleich dem im ersten Fall sein,
d. h. = U-+- c m dT, woraus sich als Temperaturkoeffizient der
Umwandlungswärme ergibt d ~ = c m — c r . Da nun U = U 0 -*-ß T 2 ,
folgt ~ = 2 ß T, also ß = und U = U Q + ~~ ■ T 2 =
(1,57 -1- 1,15 • io -5 • T 2 ) 4189 Joule. Somit ist die freie Ener¬
gie oder die Affinität, mit welcher sich die Umwandlung bei
einer beliebigen Temperatur T vollzieht: A = U Q — ß T 2 =
(1,57 — 1,15 • io -5 T 2 ) 4189 Joule pro kg. Bei der Umwandlungs¬
temperatur T t ist die Affinität A t — o, so daß sich aus dieser
Gleichung ergibt T t = 369.5° nach absoluter Skala, in befriedi¬
gender Übereinstimmung mit den Beobachtungen.
In gleicher Weise würden sich Affinität, Reaktions- oder Disso¬
ziationswärme und Dissoziationstemperatur für beliebige chemische
Reaktionen und Gleichgewichtszustände berechnen lassen, voraus¬
gesetzt, daß es sich wie bei der Verdampfung und bei der polymor¬
phen Umwandlung 11m reversible Prozesse handelt, was z. B. für den
oben betrachteten Fall der Dissoziation des Wasserdampfes zutrifft.
lediglich um andere Raumgitteranordnung der Moleküle handelt, kann den Vorgang natürlich
nicht ohne weiteres als chemische Reaktion bezeichnen. Die Versuche über Röntgen¬
strahleninterferenzen haben aber neuerdings ermöglicht, auch vom Standpunkt der Iden¬
titätstheorie eine chemische Umwandlung anzunehmen. Die neue Atoragruppierungs-
theorie nimmt nämlich an, alle Kristalle seien gewissermaßen große Moleküle, sie
seien direkt durch chemische Bindung aus Atomen zusammengesetzt. Kristalle poly¬
morpher Modifikationen wären also große chemisch isomere Moleküle, die Umwand¬
lung somit ein chemischer Vorgang. Ich halte diese Auffassung für unverträglich
mit meinen Beobachtungen bei flüssigen Kristallen, wie ich in den Ann. d. Phys. 47,
832, 1915 eingehend dargelegt habe.
Verhandlungen. 26 . Band. 10
146
O. Lehmann
Das Ergebnis zeigt, daß die Ansicht der älteren kinetischen
Theorie, beim absoluten Nullpunkt müßten sowohl kinetische wie
potentielle Energie der Atome = Null geworden sein, durchaus
nicht zutrifft, denn mit sinkender Temperatur steigt die Affinität,
d. h. die freie Energie, und beim absoluten Nullpunkt selbst würde
sie gleich der Reaktionswärme, es wäre möglich, an Stelle von Wärme
ausschließlich mechanische Arbeit zu bekommen und zwar ohne
Temperaturgefälle. Demnach existiert also eine Null¬
punktsenergie und zwar ist sie freie Energie und hat
einen sehr beträchtlichen Wert.
Auch die nähere Erforschung der Imponderabilien führt
zu derselben Schlußfolgerung. Bereits Helmholtz war durch nähere
Analyse der elektrolytischen Vorgänge zu dem Ergebnis gekommen,
die Elektrizität müsse aus weiter nicht mehr teilbaren Partikelchen
bestehen, deren elektrische Masse 0,156- 10“ 18 Coulomb beträgt 1 ,
die das sind, was man heute Elektronen nennt, sofern es sich
um negative Elektrizität handelt (die Elementarquanten der posi¬
tiven Elektrizität kommen nämlich nur mit Atomen zu Ionen ver¬
einigt vor). In den von Hittorf entdeckten Katbodenstrahlen, in
welchen Crookcs, der sie „strahlende Materie* nannte, letzte Reali¬
täten zu sehen glaubte, bewegen sich Elektronen mit einer von der
elektrischen Spannung abhängigen Geschwindigkeit, die über 100
Millionen Meter pro Sekunde betragen kann. 2
Die stoßweise Entladung von Elektroskopen durch vereinzelte
bei Spitzencntladung entstandene Elektronen oder Ionen (auch Mol¬
ionen, Verbindungen von Ionen mit Molekülen), das Funkeln eines
Zinkblendeschirms unter dem Einfluß von Radiumstrahlung, die
durch Radium- und Röntgenstrahlen erzeugten Nebelstreifen in mit
heuchtigkeit übersättigter Luft 3 u. a. sind direkte Beweise für die
.Existenz der Elektronen. Letztere stellen zweifellos unveränder¬
liche Dinge, Invarianten der Relativitätstheorie dar, auf welche sich
exakte Beschreibung und Berechnung der Naturvorgänge stützen
kann.
hin wesentlicher Unterschied gegenüber den Atomen ist die
Polarität ihrer Kräfte und der Umstand, daß der Sitz
1 Vgl. aber auch F. Ehrenhaft, Phys. Zeitschr. 16, 22;, 1915 und D.
Konst-in tinowsky, ebenda S. 227, 1915.
Si *hc O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 250, § 255 u. ff.
Nach Wilson. Vgl. den Vortrag von Schachenmeier; ferner O. Leh¬
mann, diese Verh. 25, 71 11. ff., 1913.
Nullpunktsenergie und Gravitation
147
der elektrischen Energie das elektrische Kraft¬
feldin dem um gebenden Medium ist. 1
Ferner treten bei Bewegung von Elektronen oder allgemein bei
Änderung der dieselben umgebenden Kraftfelder magnetische
F e 1 d e r auf, die von anderen Imponderabilien, magnetischen Mas¬
sen (M agnetonen) auszugehen scheinen, so wie umgekehrt
bei Änderung magnetischer Kraftfelder, die der Sitz magne¬
tischer Energie sind, gemäß Maxwells Gleichungen elek¬
trische Felder auftreten.
Das Entstehen magnetischer Energie bei Bewegung von Elek¬
tronen bedingt, daß diese der Bewegung eine Art Trägheits¬
widerstand entgegensetzen und zwar ergibt die Berechnung %
daß sich die Elektrizitätsmenge 1 Coulomb in dieser Hinsicht ver¬
hält wie eine träge Masse von 10 Billiontel Kilogramm, so daß man
einem Elektron eine scheinbare träge Masse von 1,56 Quintilliontel
Kilogramm zuschreiben muß. Tatsächlich entspricht dieser Annahme
die Stoßkraft der Elektronen und die Wärmeentwicklung, wenn sie
in ihrem Lauf aufgehalten werden. Wird in einem Eisenstab Mag¬
netismus durch Strom in einer umgebenden Drahtspule erregt, d. h.
kommen die Elektronen in gleichgerichtete Rotation, so muß
infolge des Gesetzes von Gleichheit von Wirkung und Gegenwir¬
kung der Eisenstab mit einer der trägen Masse der Elektronen ent¬
sprechenden Stoßkraft in entgegengesetzte Drehung versetzt werden.
Tatsächlich ist es Einstein und de Haas 3 gelungen, die Existenz
dieser Stoßkraft quantitativ richtig experimentell nachzuweisen.
Temperaturerniedrigung hat geringen Einfluß auf die Intensität des
Magnetismus, auch die magnetische Energie ist somit eine Null¬
punktsenergie, die nach der älteren Auffassung, beim absoluten Null¬
punkt verschwinde jede Bewegung, nicht existieren könnte. Übri¬
gens wird der elektrische Widerstand von Drähten in der Nähe des
absoluten Nullpunkts Null, so daß elektrische Ströme in stark ab
gekühlten Spulen ohne Energiezufuhr lange Zeit andauern können,
was experimentell erwiesen wurde.
Treffen elektrische oder magnetische Kraftlinien auf die
Grenze zweier Medien mit verschiedener Dielektrizitätskonstante
bezw. verschiedener magnetischer Permeabilität, so entstehen
1 Siehe O. Lehmann, diese Verh. 26, X, 1914.
2 Siehe O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 252, § 256.
3 A. Einstein u. W. J. de Haas, Verh. d. D. phys. Ges. 17, 152, 1915
148
O. Lehmann
ponderomotorische Kräfte, die an diesen Grenzflächen an-
greifen und pro Quadratmeter ebensoviel Dezimegadynen
betragen als die Energie Joule pro Kubikmeter, also im
Fall eines elektrischen Feldes —„ - , im Fall des magnetischen
O Jl fj
Feldes wobei He und Hm die Zahl elektrischer bezw.
8 31 fl
magnetischer Kraftlinien pro qm bedeuten, wenn diese in solcher
Dichte gezogen sind, daß sich am Fußpunkt jeder l j A n Coulomb
bezw. l j A n Weber befinden. 1
Die gesamte Kraft ist die Differenz der auf die eine und
andere Seite der Grenzfläche wirkenden Kräfte. Ist die Grenzfläche
senkrecht zu den Kraftlinien, so sind diese beiden Kräfte nach dem
Innern des betr. Dielektrikums gerichtet, wie wenn die Kraftlinien
an der Grenzfläche befestigt wären und Zugkräfte darauf ausübten.
Ist die Grenzfläche parallel den Kraftlinien, so sind die Kräfte um¬
gekehrt nach außen gerichtet, so daß man von einem Druck der
Kraftlinien quer zu ihrer Längsrichtung sprechen kann. Ist die
Grenze schräg zu den Kraftlinien unter 45 0 , so liegen die Kraft¬
richtungen in der Fläche in entgegengesetzten Richtungen, brin¬
gen also eine Schubwirkung hervor. 2
Die magnetischen Kraftlinien endigen scheinbar in magne¬
tischen Polen (oder Magnetonen), welchen man eine magnetische
Masse zuschreibt (Maßeinheit das Weber), ebenso wie die elektri¬
schen in elektrischen Ladungen oder Elektronen und Ionen (Maßein¬
heit das Coulomb). In Wirklichkeit gibt es aber keine magnetische
Massen, sondern nur bewegte Elektrizität, welche magnetische Felder
erzeugt; die magnetischen Kraftlinien laufen also in Wirklichkeit
immer in sich zurück. Ebenso treten bei Bewegung eines Magnet-
l>ols in sich geschlossene elektrische Kraftlinien auf 3 , es gibt also
elektrische Kraft ohne Elektrizität. Zweifellos besitzen diese in
sich geschlossenen elektrischen und magnetischen
Felder ohne Elektronen und Magnetonen reale
Existenz ebenso wie die Atome, Elektronen und Ionen. Sie lassen
sich in exakter Weise messen und können somit als Grundlage phy¬
sikalischer Berechnungen dienen. Da sie aber auch im leeren
1 Siehe O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 246, § 252.
2 Siehe F. Kinde, Elektrotechnik und Maschinenbau 1916, Nr. 12 u. 13.
1 Siehe O. Lehmann, diese Verh. 26, XIII, 1914.
Nullpunktsenergie und Gravitation
149
Räume existieren können und für uns eine Kraftwirkung nur ver¬
ständlich ist, wenn wir ein Wesen kennen, welches die Kraft ausübt,
an dessen Stelle wir unser eigenes Ich gesetzt denken können, so sind
wir geneigt, auch im leeren Raume ein auf keine Weise sonst wahr¬
nehmbares Medium anzunehmen, den Äther, welcher ebenfalls als
Aggregat von Individuen, von Ätheratomen zu denken ist,
denen man Beweglichkeit zuschreiben muß.
H. Hertz bezeichnete es geradezu als Auffassung sämtlicher
Physiker, die Aufgabe der Physik bestehe darin, alle Vorgänge auf
Bewegungsvorgänge zurückzuführen, wie es auch die Ansicht von
Hclmholtz und Clausius war, was freilich in vorliegendem Fall nur
möglich ist unter Annahme verborgener Bewegungen, die sich auch
im leeren Raume abspielen. Alle Bemühungen, die elektromagneti¬
schen Erscheinungen in solcher Art mechanisch zu erklären, sind aber
erfolglos geblieben, ja nach H. Witte 1 läßt sich sogar beweisen,
daß sie auch stets vergebliche sein werden. Es wäre also irrtümlich
im Sinne Galileis, die mechanischen Erscheinungen als das Primäre
zu betrachten; mehr Aussicht hat die umgekehrte Annahme, das
wirklich Reale seien die elektrischen und ma¬
gnetischen Felder und durch deren Verhalten (welches
durch die Maxwellschen Gleichungen bestimmt ist), seien die mecha¬
nischen Erscheinungen und das Verhalten der Materie zu deuten.
Die Felder existieren unabhängig von der Temperatur, bilden also
ebenfalls eine Form von Nullpunktscnergie.
Das Merkwürdigste ist, daß in sich geschlossene elektrische und
magnetische Felder frei im Raume fort wandern können, ähn¬
lich den Luftverdichtungen und -Verdünnungen beim Schall, welche
ebenso wie die wandernden Felder keinen Gleichgewichtszustand
darstellen. Seit den Untersuchungen von H. Hertz und seiner
Nachfolger über diese elektromagnetische Strahlung sind wir über¬
zeugt, daß Licht- und Wärmestrahlung, chemische Strahlen und
Röntgenstrahlen nichts anderes sind, als solche wandernde elek¬
trische und magnetische Felder, deren Abstand ein außerordentlich
geringer sein kann, kleiner als der Durchmesser eines Atoms, der
auf y i0 eines Milliontel Millimeters geschätzt wird.
Treffen solche elektromagnetische Strahlen auf die Grenze
zweier Medien mit verschiedener Dielektrizitätskonstante oder mag-
1 H. Witte, Phys. Zeitschr. 7, 779, 1906; Ann. d. Phys. 26, 235, 1908; 32,
382, 1910; Elektrot. Zeitschr. 1909, Heft 48.
O. Lehmann
150
netisclier Permeabilität, so entstehen ponderomotorische Kräfte, wie
oben angegeben; die Strahlung übt also einen Druck aus, der gemes¬
sen in Dezimegadynen pro Quadratmeter gleich der Energiedichte
in Joule pro Kubikmeter ist. Es ist nicht möglich, diesen Druck zu
verstehen ohne Annahme eines Trägers der Kräfte auch im leeren
Raum, d. h. ohne Annahme der Existenz des Lichtäthers.
Die Quelle der Arbeitsleistung durch den Druck von Licht -
und Wärmestrahlung ist die Wärmeenergie, aus welcher die Strah¬
lungsenergie hervorgeht. Ganz wie im Fall der Umsetzung von
Wärme in mechanische Arbeit mittelst einer thermodynamischen
Maschine kann man also auch in diesem Fall nach dem Wirkungs¬
grad der EncrgieumWandlung fragen und das Problem in analoger
Weise lösen.
Man denke sich eine Carnotsche Maschine, deren Zylinder und
Kolben auf der Innenseite vollkommen spiegeln bis auf die Boden¬
fläche des Zylinders, welche absolut schwarz sei. Letztere werde
erwärmt, so daß sic Strahlung in den Zylinder hineinsendet, welche
auf den Kolben drückt und dadurch das Schwungrad in Drehung
versetzt. Da dieser Vorgang ebenso wie die Expansion eines Gases
sich von selbst vollzieht, muß die Entropie wachsen. Die Boden¬
fläche verliert aber Wärme durch die Strahlung, ihre Entropie wird
also kleiner, somit muß der Strahlung ebenfalls Entropie zukommen,
(damit die Summe größer wird, als der frühere Betrag), folglich
auch Temperatur, da die Definition der Entropie solche voraussetzt.
Die Temperatur der Strahlung ist natürlich gleich der der schwar¬
zen Fläche, von welcher sie ausgeht, da der Vorgang umkehrbar ist
(weil die Strahlungauch wieder absorbiert werden kann), wie bei einem
gewöhnlichen Wärmegleichgewicht. Ist E die Strahlungsenergie
in Joule pro cbm, so kann man anndimen, da 3 zu einander senk¬
rechte Richtungen gleichwertig sind bezüglich der Richtung der
Strahlen, daß f / 3 der Strahlen senkrecht auf den Kolben auftreffe,
somit der Druck ! /, E Dezimegadynen pro qm betrage. Ist die
Kolbenfläche = <7 qm, der Hub ds Meter, die Volumzunahme
E E
dv cbm, so ist die Arbeitsleistung = ■ • q ■ ds = — ■ dv Joule.
Die gesamte im Zylinder enthaltene Strahlungsenergie beträgt
fi ■ v Joule, ihre Änderung d (E v) Joule. Nun muß nach dem
ersten Hauptsatz für die zugeführte Wärmemenge gemessen in
Joule die Gleichung bestehen dQ — d(Ev )-\-y • dv— vdE -+- ^ Edv\
Nullpunktsenergie und Gravitation
ferner beträgt nach dem zweiten Hauptsatz die geleistete Arbeit
• d T= (J dE + \ - dvjdT, es muß also sein ö M- = ä ^ ^
-- ^ 7/
. i i \ d T r , ^ d T . dE
oder = ~r —V ,,,, woraus folgt J — i h oder - - =
1 1 1 u h, ° E E
dT
4 • —. oder E = Konst. 7 \ d. h. es ergibt sich das S tefa li¬
sch c Strahlungsgesctz über die Abhängigkeit der Strah¬
lungsintensität eines schwarzen Körpers von der Temperatur in
vollkommener Übereinstimmung mit der Erfahrung.
Arrhenius 1 schreibt dem Strahlungsdruck große Bedeutung zu
für die Erhaltung der Welt. Während diese nach der Kant-Laplace-
schen Theorie infolge der Strahlung und der dadurch bedingten Ab¬
kühlung der Himmelskörper in fortschreitender Kondensation be¬
griffen ist und auch nach dem Entropieprinzip schließlich dem
„Wärmetod“ verfallen muß, wobei alle Energieformen sich in
Wärme umgesetzt haben, entsprechend dem Maximum der Entropie,
also Bewegung und Elektrizität nicht mehr existieren, alles Ge¬
schehen aufhört, soll nach Arrhenius der Strahlungsdruck, welcher
feinste Stäubchen und Moleküle von den Sonnen forttreibt, eine Wie¬
derauflösung der Weltkörper in Nebel- und Gasmassen l>ewirken
unter sich von selbst vollziehender Abnahme der
Entropie durch Wirkung der Strahlungsarbeit und aus diesen
Nebelmassen sollen sich dann wegen Ausstrahlung und Kondensa¬
tion durch Wirkung der Gravitation unter starker Wärmeentwick¬
lung neue Welten bilden. Berücksichtigt man aber, daß die Strah¬
lung aus Wärme entsteht und als eine Form freier Energie nur in
solchem Maße als das vorhandene Temperaturgefälle gestattet, so
erscheint eine Verhinderung des Wärmetodes auf diese Weise un¬
möglich. Die Welt muß also einen bestimmten Anfang gehabt ha¬
ben, sonst wäre der Wärmetod schon eingetreten, falls sie begrenzt
ist; denn auf unendlich ausgedehnte Systeme lassen sich die Betrach¬
tungen nicht anwenden.
Ein elektromagnetischer \V e 1 I e n z u g schrei¬
tet im leeren Raume mit der konstanten Ge-
S. Arrhenius, Das Werden der Welten, Leipzig 1907.
152
O. Lehmann
schwindigkeit von 300 Millionen Metern pro Se¬
kunde fort, ähnlich einem Zug von Wasserwellen auf der Ober¬
fläche eines Teiches, dessen Geschwindigkeit freilich nur sehr klein
ist. Wäre es beispielsweise gelbes Natriumlicht, das im Spektroskop
eine gelbe Linie erzeugt, so würde sich die Linie bei rascher Annähe¬
rung des Spektroskops an die Lichtquelle nach dem violetten Ende
des Spektrums verschieben müssen (Dopplers Prinzip), bei Entfer¬
nung nach dem roten Ende, da pro Sekunde das Spektroskop im
ersten Fall mehr, im zweiten weniger Wellen (elektr. Felder) emp¬
fängt. Würde sich die Lichtquelle verschieben, so würde ebenso
auf deren Vorderseite der Abstand der Felder sich vermindern, die
Energiedichte, also auch der Reaktionsstrahlungsdruck auf die Licht¬
quelle steigen, auf der Rückseite kleiner werden. Die Folge davon
ist ein Widerstand gegen die Bewegung; d i e t r ä g e
M a s s e d cs K ö r p e r s w ä c h s t a I s o m i t d e r G e s c h win¬
dig k e i t. Bei Verschiebung mit Lichtgeschwindigkeit würde sie
unendlich werden, schneller kann sich also ein strahlender Körper
— und jeder strahlt — nicht bewegen. Es gibt somit auch eine
Grenze der Temperaturerhöhung, d. h. der Molekulargeschwindigkeit.
Wäre ein innen vollkommen spiegelnder, absolut leerer Hohl¬
raum gegeben, dessen Wände so geringe Masse haben sollen, daß sie
vernachlässigt werden kann, so würde nichtsdestoweniger dieser
Hohlraum der Verschiebung einen Widerstand entgegenstellen, w i e
wenn die Strahlung selbst Trägheit hätte. Auf
solche kann man auch schließen aus der Stoßkraft, d. h. dem Druck,
den sie auf einen getroffenen Körper ausübt. Beispielsweise wäre
die träge Masse von 1 cbm Sonnenlicht = 53 Quadrilliontel Kilo¬
gramm, die träge Masse, die ein absolut schwarzer Körper durch
Strahlung bei der absoluten Temperatur T Grad verliert 0,5g • T l
Quadrilliontel Kilogramm pro Quadratmeter und Sekunde, ebenso
groß die Vermehrung der trägen Masse, wenn er Strahlung absor¬
biert, was z. B. für iooo° den Betrag von 0,59 Billiontel kg pro
qm und Sekunde ausmachen würde. Bei einem auf 0,001 mm
Quecksilberdruck verdünnten Gas würde bei der Schmelztemperatur
des Platins die darin enthaltene Strahlungsenergie etwa A /\ der
in Form von thermischer Bewegung vorhandenen Energie aus¬
machen, so daß die träge Masse derselben bei rascher Strömung wohl
in Betracht zu ziehen wäre. Ist das Gas ein einatomiges und in
einen innen vollkommen spiegelnden Hohlraum eingeschlossen, ent-
Nullpunktsenergie und Gravitation
>53
hält es ferner strahlende Oszillatoren und absorbierende Resona¬
toren von Atomdimensionen, so läßt sich beweisen, daß ein Gleich¬
gewichtszustand, wie er dem Maximum der Entropie entspricht, nur
bestehen kann bei gleichmäßiger Energieverteilung zwischen den
bewegten Atomen und den Oszillatoren, was aber dann wie in einem
früheren Vorträge 1 gezeigt wurde, zu einem Widerspruch gegen das
oben abgeleitete und bewährte Strahlungsgesetz führt. Dieser Wi¬
derspruch verschwindet nur, wenn man auf das sonst in der kine¬
tischen Theorie stets als gültig anerkannte Gleichverteilungsgesetz
verzichtet, ebenso auch auf die Gültigkeit der Maxwellschcn Glei¬
chungen für Atome, und mit M. Planck - annimmt, d i e E nerg i e
könne nur in einzelne n Quanten i m B c t r a g c v o n
6,55 • 10“ 34 • v Joule ausgesandt werden, worin v die
Schwingungszahl eines Oszillators pro Sekunde ist und 6,55 • io~ 34
ein von der Natur des Stoffes und den sonstigen Umständen unab¬
hängige Konstante, die als W i r k u n g s q u a n t u m bezeichnet
wird. Aus dieser Energiequantentheorie ergibt sich nicht nur das
obige Strahlungsgesctz, sondern auch die richtige Verteilung der
Energie auf die einzelnen Strahlungsarten und deren Änderung mit
der Temperatur, das Wiensche Verschic b u 11 g s g e s e t z. ; ‘
Weiter gelangt man auf Grund spezieller Annahmen über die
Beschaffenheit der Atome, wie sie z. B. von Bohr 4 und Dein e •" ge
macht wurden, wobei Elektronen um positive Ionen kreisend ge¬
dacht werden, zu quantitativer Ableitung der Li n i c 11 s p e k t r a
der betr. Stoffe, ihrer Absorption und Dispersion, des
Stokesschen Gesetzes der Fluoreszenz, der Lichtelek-
t r i z i t ä t, der Röntgenstrahlenemissio 11 usw., ja so¬
gar von mechanischen Eigenschaften wie der s p e z. W ä r m e, der
inneren Reibung usw. In Übereinstimmung mit den obigen
Ergebnissen zeigt sich ferner, daß der Betrag v o n U> Energie-
quant pro Freiheitsgrad jedes Atoms nicht ausgestrahlt
werden kann, so daß jedes Atom eine N u 11 p u n k t s e 11 e r -
gie in diesem Betrage besitzen muß, welche als träge Masse
desselben erscheint.
1 O. Lehmann, diese Verh. 24, 283, 1912.
2 M. Planck, Sitzb. d. Berl. Akad. 190;, 542; Arm. d. Phys. 26, 1, m- s
Theorie der Wärmestrahlung, 1913.
' Siche O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 285, 2S7.
4 Siche E. Riecke, Phys. Zeitsclir. 16, 222, 1915.
5 P. Debye, Sitzb. d. Münch. Akad. 1915, 1.
«54
O. Lehmann
In welcher Beziehung steht nun diese scheinbare träge Masse zu
der wahren trägen Masse, die nach dem Galilcischen Fundamental¬
satz identisch ist mit der schweren Masse? Ist vielleicht die
scheinbare träge Masse des elektrischen und magnetischen Feldes
ebenfalls schwer, sind die Imponderabilien Elektrizität und Licht
in Wirklichkeit ebenfalls schwere Massen?
Einer solchen Annahme scheint schon der Umstand zu wi- *
dersprechcn, daß die scheinbare Masse mit der Geschwindigkeit ver
änderlich ist, während die Galileische wahre Masse etwas absolut
Konstantes darstellt und als das anscheinend wirklich Reale zur
Grundlage ^ller physischen Berechnungen diente.
Nähere Untersuchung der Strahlungsvorgänge hat aber zu dem
Ergebnisse geführt, daß der absolute Wert der Galileischen Masse
sich nicht aufrecht erhalten läßt, sie wächst vielmehr mit der Ge¬
schwindigkeit, wie wenn Äther (immer mehr) mitgenommen würde.
Die Wasserwellcn auf der Olxrrfläche eines Teiches werden von
dem Wasser mitgenommen, wenn dasselbe in Strömung gerät, ihre
Ausbreitung wird gestört in der Nähe einer fahrenden Gondel, da
hier infolge der Reibung das Wasser sich mehr oder weniger mit¬
bewegt. Ähnlich sollte die Ausbreitung des Lichtes gestört werden
in der Nähe der Erde infolge ihrer Rotation und ihres Umlaufs um
die Sonne, falls eine Art Reibung zwischen Materie und Äther auf-
tritt und infolge dessen der Äther in der Nähe der Erde von dieser
bis zu gewissem Grade mitgenommen wird. Beobachtungen hierüber,
sowie ül>er etwaige Mitnahme der Lichtwellen von Gas- oder Flüs¬
sigkeitsströmen in Röhren, wie sie Fizeau angestellt hat oder über
die Mitbewegung elektrischer Kraftlinien in bewegten dielektrischen
Stoffen, wie sie Röntgen ausführte, haben aber stets negativen Er¬
folg gehabt, was zu dem Schlüsse nötigt, der Äther könne auf
keine Weise in Bewegunggesetzt werden, er müsse,
falls er überhaupt existiert, stets in absoluter Ruhe verharren,
mit wie großer Geschwindigkeit auch die Körper sich durch ihn hin¬
durchbewegen mögen.
Die experimentelle Prüfung dieses Schlusses durch Michclson
hatte aber gleichfalls negatives Ergebnis, was sich zwar insofern
voraussehen ließ, als ein positives Ergebnis eben in der Feststellung
der absoluten Ruhe des Äthers, d. h. in der Messung der absoluten
1 O. Lehmann, diese Vcrh. 23, 51, 1910.
Nullpunktsenergie und Gravitation
155
Geschwindigkeit des bewegten Körpers hätte bestehen müssen, da
ja die Geschwindigkeit relativ zu dem absolut ruhenden Äther
nichts anderes als absolute Geschwindigkeit ist. Bereits nach Gali¬
leis Relativitätsprinzip kann es aber nicht möglich sein, diese zu be¬
stimmen, auch deshalb nicht, weil kein fester Punkt und keine feste
Richtung im leeren Raume, d. h. im Äther gegeben ist.
Zur Erklärung des Michelsonschen Ergebnisses wurde not¬
wendig anzunehmen, daß ein bewegter Körper nur für
einen mitbewegten Beobachter seine Längenaus¬
dehnung behält, während er sich für einen ruhenden
Beobachter in der Richtung der Bewegung zu kon¬
trahieren scheint und zwar im Verhältnis
6* 2 * Wen11
v die Geschwindigkeit des Körpers und c die Lichtgeschwindigkeit
ist. Der Grund liegt darin, daß die Länge nur relativen Wert hat.
Der ruhende Beobachter kann nicht wie der mitbewegte einfach einen
Maßstab anlegen, um die Länge zu ermitteln, er muß die Messung
mit Hilfe von Lichtsignalen durchführen und hierdurch kommt er,
obschon er sich des gleichen Maßstabes bedient und im Prinzip
ebenso mißt wie der mitbewegte Beobachter, zu einem andern Ergeb¬
nis wie dieser. Gleiches gilt für die Beobachtung einer Zeitdauer,
die in gleichem Maße eine Verkürzung erfährt oder für Beobachtung
der Temperatur, die erniedrigt erscheint. Einstein 1 erweiterte das
Relativitätsprinzip dahin, daß auch in diesem Fall immer nur die
relative Bewegung in Betracht kommt, daß also die scheinbare
Verkürzung ganz dieselbe ist, wenn der Körper
ruht und der Beobachter sich bewegt. Daraus folgt,
daß die Verkürzung unmöglich eine Folge der Verschiebung der
Körpermoleküle relativ zum Äther und dadurch geweckter beson¬
derer Molekülekräfte sein kann, wie H. A. Lorentz zuvor angenom¬
men hatte. Gibt es wirklich einen Äther, so müßte freilich eine
solche tatsächliche Kontraktion nach Ansicht von M. Planck eintre-
ten und da sie dem Einsteinschen Relativitätsprinzip zufolge nicht
ein treten kann, so schließt hieraus Planck auf Nichtexistenz
des Äthers. Manche halten diesen Schluß nicht für genügend
sicher und halten deshalb an der Existenz des Äthers fest, auf die,
wie bemerkt, nicht verzichtet werden kann, wenn eine verständ-
1 A. Einstein, Ann. d. Phys. 17, 891; 18, 639, J905; M. Laue, Das RcP-
tivitätsprinzip, Braunschweig 1911.
O. Lehmann
156
liclic Beschreibung der Erscheinungen, gegeben werden soll, da,
wie oben ausgeführt, eine Kraftwirkung nur dann im Geiste von
uns nachgeahmt werden kann, wenn wir ein unteilbares Wesen ken¬
nen, das die Kraft ausübt und an dessen Stelle wir unser eigenes
Ich setzen können. Die Hypothese der Existenz des Äthers allein
genügt allerdings auch noch nicht, wir müssen ihn uns als Aggregat
von Atomen vorstellen.
Durch Einführung der Einsteinsehen speziellen Relativitäts¬
theorie wurden auch Unklarheiten, die bezüglich der Maxwellschen
Gleichungen bestanden, beseitigt. Beispielsweise induziert ein Ma¬
gnetpol in einem Kupferring, dem er genähert wird, einen elektri
sehen Strom. Ist der Kupferring nicht verhanden, sondern der
Raum leer, so erzeugt die Bewegung des Magnetpols nur ein ring¬
förmiges in sich zurücklaufendes elektrisches Kraftfeld. Ein sol¬
ches entsteht zunächst auch in dem Kupferring, weil aber dieser
freie Elektronen enthält, so werden sie in der Richtung der elektri¬
schen Kraft in Bewegung gesetzt, es entsteht der Induktionsstrom.
Würde man nun nicht den Magneten dem Kupferring nähern, son¬
dern den Kupferring bewegen, während der Magnet ruht, so liegt
zur Entstehung eines ringförmigen elektrischen Feldes, welches
einen Induktionsstrom erzeugen könnte, nach den Maxwellschen
Gleichungen kein Grund vor und dennoch entsteht dieser Strom in
ganz derselben Stärke, cs kommt nur auf die relative Bewegung
von Magnetpol und Kupferring an; er muß entstehen nach dem
Relativitätsprinzip, denn sonst ließe sich durch diesen Versuch ent¬
scheiden, was sich wirklich bewegt, Magnet oder Ring.
Die erzielten Erfolge regten Einstein dazu an, seine Relativi¬
tätstheorie noch zu erweitern zur allgemeinen Relativi¬
tätstheorie, welche verlangt, die Naturgesetze müßten so be¬
schaffen sein, daß sie sich nicht ändern, welches auch die Art
d er Bewegung des Beobachters i s t, d. h. des Bezugs¬
systems und des Koordinatensystems, in bezug auf welches die
Koordinaten der einzelnen Punkte angegeben werden.
Man stelle sich z. B. einen zur Erde fallenden Stein vor, wel¬
cher sich mit gleichmäßig zunehmender Geschwindigkeit der Erde
nähert. Der auf der Erde stehende Beobachter glaubt, der Vorgang
finde in dieser Weise statt. Wenn aber der Stein ruhte und die
Erde würde sich mit gleichmäßig beschleunigter Geschwindigkeit
dem Stein nähern, so hätte der Beobachter ganz denselben Eindruck.
Nullpunktsenergie und Gravitation
I.S7
Das Relativitätsprinzip sagt uns, der Beobachter sei auf keine Weise
imstande, zu entscheiden, was richtig ist, denn sonst wäre er ja be¬
rechtigt, ein Urteil über die absolute Ruhe der Erde auszusprechen.
Ersetzen wir nun den Stein durch einen Lichtstrahl, wel¬
cher sich gegen die Erde bewegt, so muß gleiches gelten. Es darf
nicht möglich sein, zu entscheiden, was sich wirklich bewegt, die
Erscheinung muß so verlaufen, daß* nur die relative Bewegung ma߬
gebend ist. Daraus folgt das interessante Resultat, daß dem Licht¬
strahl nicht nur, wie oben angegeben, eine träge Masse zukomn,;.
sondern genau dem Galileischen Satz von der Identität von träger und
schwerer Masse entsprechend ein Gewicht, derart, daß, wenn wir
1 cbm Sonnenlicht auf die Wage legen könnten, etwa eingeschlossen
in einem spiegelnden Hohlraum, derselbe sich wie ein Gewichtsstück
von 53 Quadrilliontel Kilogramm verhielte, d. h. von der Erde mit
einer Kraft von 53 • 9,81 Quadrilliontel Dczimegady nen angezogen
würde. Dementsprechend läßt sich eine geringe Verschiebung
der Spektrallinien von der Sonne kommende Strahlen gegen
das rote Ende des Spektrums hin beobachten, gegenüber den Spek¬
trallinien gleichartiger Stoffe auf der Erde, wie wenn die Schwin¬
gungszahl um 2 Millionte! abgenommen hätte, da die Wellen des
Sonnenlichts durch die beschleunigte Bewegung gegen die Erde
anseinandergezogen, also verlängert werden.
Ein von einem Fixstern an der Sonne vorbeigehender Licht¬
strahl muß durch die Gravitationskraft der Sonne
eine Ablenkung von 0,83 Bogensekunden erfahren *, d. h. der
Stern müßte um den gleichen Betrag von seinem normalen Orte ab¬
gelenkt erscheinen. Am Planeten Jupiter vorbeigehend würde der
Strahl eine Ablenkung um 0,02* erfahren.
Auch die Lichtgeschwindigkeit, welche man früher als
eine absolut konstante betrachtete, ergibt sich nach der all¬
gemeinen Relativitätstheorie als veränderlich. In einem Gra¬
vitationsfeld, in welchem 1 kg die potentielle Energie <Z> Joule
besitzt, ist die Lichtgeschwindigkeit = 3 • io 8 (1-4- --~ o0 ) Meter
pro Sekunde. (Der absolute Wert von ist unbekannt.)
Da nun die Strahlung lediglich aus elektrischen und ma¬
gnetischen Feldern besteht, die Formen von Energie sind, ist man
1 A. Einstein, Ann. d. Phys. 38, 355, 1912; 49, 822, 1916. E. Freundlich,
Phys. Zeitschr. 15, 369, 1914.
158
O. Lehmann
zu dem Schlüsse genötigt, daß Trägheit und Schwere
Eigenschaften der Energie sind und auch die Elektronen
ihre scheinbare träge Masse, von welcher oben die Rede war,
lediglich ihren elektrischen und magnetischen Feldern verdanken
und daß diese Masse keineswegs eine scheinbare ist, sondern daß
ein Elektron wirklich ein Gewicht wie ein Gewicht¬
stück von 1,56 • io _ 3 ° kg besitzt, d.h. von der Erde mit der
Kraft 1,56- io _3 ° 9,8 i Dezimegadynen angezogen wird.
Die Unterscheidung zwischen wägbaren Kör¬
pern und Imponderabilien fällt hiermit; die Im¬
ponderabilien sind nur deshalb nicht wägbar, weil unsere Wagen
nicht hinreichend fein sind. Wäre es z. B. möglich, einen auf der
Wage tarierten Konduktor mit 1 Coulomb zu laden, so würde
seine Gewichtszunahme io Billiontel Kilogramm = 10 Milliontel
Milligramm betragen. Eine solche Ladung kann man aber bei wei¬
tem nicht herstellen, wie sich schon danach abschätzen läßt, daß ein
so geladener Konduktor einen gleichgeladenen im Abstand von
1 Meter mit der Kraft 9 • io** Dezimegadynen also rund mit einer
Kraft gleich der Schwere von einer Million Tonnen beeinflussen
würde.
Da die Energieformen ineinander verwandelbar und gleich¬
wertig sind, folgt, daß auch beispielsweise der Wärme und
der Bewegungsenergie Schwere zukommt. Die träge
Masse von 1 kg Wasser, das man um 1 Grad C. erwärmt, ver¬
größert sich um 0,0454 Billiontel Kilogramm. Fällt ein Gewicht¬
stück, welches 1 Dezimegadyne wiegt, 1 Meter herunter, so ver¬
größert sich seine Masse infolge der angenommenen Geschwin¬
digkeit oder Wucht um —- Billiontel Kilogramm. Wäre die
Erde in Ruhe, so wäre ihre Masse, wie sich aus dem Gravi¬
tationsgesetz ergibt*, 5,88 Quadrillionen Kilogramm. Infolge der
Wucht, welche sie wegen ihrer Bewegung um die Sonne besitzt,
kommt dazu noch der Betrag von 0,03 Trillionen Kilogramm.
Nach dem Relativitätsprinzip ist die träge, also auch die
schwere Masse eines Körpers nicht nur von seiner Geschwin¬
digkeit v abhängig, sondern auch davon, welchen Winkel die
Richtung der beschleunigenden Kraft oder der Schwere mit der
der Geschwindigkeit bildet. Ist dieser Winkel Null, so ist die
1 Siehe O. Lehmann, Leitfaden der Physik, S. 22, § 18.
Nullpunktsenergie und Gravitation
159
Masse
tn o
~ , wenn Mo die Ruhemasse und c die Licht-
y
gesch windigkeit bedeutet. Diese Masse nennt man longitudinale
Masse. Beträgt aber der Winkel 90°, so ist die Masse
y.-
V 2
c 2
Diese heißt transversale Masse. Für v — c werden beide unendlich
groß. Auch der Wert der kinetischen Energie ist nicht einfach,
wie anfangs angenommen, y nio v 2 Joule, sondern ———
y
V 1
nio c 2 = — mo v 2
2
.... d. h. sie wird durch eine unend¬
liche Reihe gegeben, deren erstes Glied vio v 2 ist. 1
Da in dem Ausdruck die Lichtgeschwindigkeit vorkommt und
diese von dem Gravitationsfeld abhängig ist, gilt gleiches auch für
die kinetische Energie oder auch für die potentielle Energie, aus der
diese entstanden ist; d. h. auch die Gravitationskonstante
ist keine absolute Konstante. Würde man z. B. mittelst
der Torsionswage die Gravitationskraft zwischen zwei Gewicht¬
stücken bestimmen und nun denselben Versuch auf einem hohen
Berge machen, wo das Gravitationsfeld ein anderes ist, so würde
man dort einen anderen Wert der Gravitationskonstante finden; denn
diese erweist sich der Lichtgeschwindigkeit direkt proportional,
ändert sich also im Gravitationsfeld in gleicher Weise wie diese.
Insofern die kinetische Energie auch aus Energie elastischer
Spannung hervorgegangen sein könnte, kann man den Schluß auch
auf elastische Kräfte übertragen. Würde von den Enden
einer elastisch gespannten Schnur das eine sich unten am Berge, das
andere oben befinden, so wären die Spannungen trotz des Gleich¬
gewichtes an beiden Stellen nicht (dem Gesetz der Gleichheit von
Wirkung und Gegenwirkung gemäß) gleich und ebensowenig die
Dehnungen.
Die Bahnellipse eines Planeten erfährt in der Richtung der
Bahnbewegung, wie das Relativitätsprinzip beweist, eine lang-
1 In der früheren Abhandlung diese Verh. 23, 72, 1900 ist m Q c 2 auf die rechte
Seite gesetzt. Dies entspricht der Nullpunktsenergie, so daß der eigentliche Wert der
m Q c 2
kinetischen Energie - ist.
} 1 — v 2
i6o
O. Lehmann
same Drehung im Betrage e = 24 tt* -~ z ^ P ro Umlauf,
wenn a die große Halbachse, c die Lichtgeschwindigkeit, c die
Exzentrizität und T die Umlaufszeit in Sekunden ist. Für den
Merkur beispielsweise ergibt diese Drehung die Perihelbewe¬
gung zu 43" pro Jahrhundert, wie bereits früher beobachtet
worden war, aber nicht erklärt werden konnte.
Wenn nun Trägheit und Schwere Eigenschaften der Energie
sind, so entsteht, nachdem oben nachgewiesen wurde, daß die Atome
selbst beim absoluten Nullpunkt noch Energie besitzen, die Frage,
welcher Bruchteil der Atommasse dem Energieinhalt der Atome zu-
zuschreiben ist.
Schon Ostwald 1 dachte aus andern Gründen daran, die Gali-
lcischc Masse sei nicht das eigentlich Reale, sondern die Energie,
oder Materie und Energie seien eigentlich dasselbe, etwa entspre¬
chend W. Thomsons Wirbelatomtheorie 2 , nach welcher die Atome
Stellen des Äthers wären, wo sich Bewegungsenergie in Form von
Wirbelringen angehäuft hat, eine Hypothese, die insofern mit dem
obigen Ergebnis, daß der Äther nicht in Bewegung gesetzt werden
kann, vereinbar ist, als Atome nicht künstlich geschaffen werden
können. Die thermochemischen Gleichungen, z. B. der Ansatz des
Wasserstoff + Sauerstoff = Wasserstoff + Verbrennungswärme
machen allerdings den Eindruck, als ob Materie sich auch in Wärme¬
energie umwandeln könnte.
W. Wien" zog bereits die Möglichkeit einer elektromagneti¬
schen Begründung der Mechanik in Betracht auf Grund der An¬
nahme, das als Materie bezeichnete Substrat bestehe lediglich aus po¬
sitiven und negativen elektrischen Quanten, d. h. Konvergenzpunk¬
ten elektrischer Kraftlinien. L e n a r d 4 , welcher einen Einblick
in die Struktur der Atome zu gewinnen suchte, indem er die Stoffe
von Kathodenstrahlen durchdringen ließ, kam zu dem Ergebnis:
..Was wir in dem von ihr (der Materie) eingenommenen Raume ge¬
funden haben, waren nur Kraftfelder, wie sic sich auch im freien
Äther ausbilden können. Was sind dann jene Grundbestandteile
aller Atome, auf welche wir durch das Massengesetz der Kathoden-
1 W. Ostwald, Zeitschr. f. phys. ('hem. 18, 305, 1895.
‘ Siche O. Lehmann, Molekularphysik 2, 364, 373 11. ff., 1889.
\V. Wien, Ann. d. Phys. 5, 507, 1901.
* 1 \ Lenuid, über Kathodenstrahlen, Leipzig 1906, 36.
Nullpunktsenergie und Gravitation
1 61
Strahlenabsorption geführt wurden? Offenbar ebenfalls nur Kraft¬
felder wie die ganzen Atome.“
Die radioaktiven Erscheinungen, speziell die Wärmeentwick¬
lung beim Zerfall des Radiums und die enormen Geschwindigkeiten,
mit welchen a- und ^-Teilchen fortgeschleudert werden, weisen dar¬
auf hin, daß ungeheuere Energievorräte in den Atomen vorhanden
sein müssen, deren Trägheit und Schwere vollkommen die Trägheit
und Schwere der Atome erklärt.
Auch meine Untersuchungen über die molekularen Richtkräfte
bei flüssigen Kristallen führten zu der Auffassung, daß es sich wohl
lediglich um magnetische Wirkungen kreisender Elektronen han¬
delt wobei allerdings, da kreisende Elektronen nach den Maxwell-
schen Gleichungen Strahlung aussenden, angenommen werden müßte,
daß immer zwei Elektronen einander diametral gegenüberstehen,
so daß ihre Strahlungen sich durch Interferenz vernichten.
Eine präzise Berechnung, welcher Energiebetrag von den Ato¬
men nicht ausgestrahlt werden kann und ihnen als verborgene „1 a -
tente Energie“ oder „N ullpunktsenergie“ auch beim
absoluten Nullpunkt zukommt, ist auf Grund der Energiequanten¬
theorie zuerst von M. Planck 1 2 gegeben worden. Er findet, daß sie
pro Freiheitsgrad der Atome ein halbes Energiequant beträgt. Es
hindert nichts anzunehmen, sagt er, „daß innerhalb der chemischen
Atome gewisse stationäre Bewegungsvorgänge von der Art stehen¬
der Schwingungen stattfinden, die mit keiner oder nur unmerklicher
Ausstrahlung verbunden sind. Die Energie dieser Schwingungen,
welche sehr bedeutend sein kann, würde sich dann, solange die
Atome unverändert bleiben, auf keine andere Weise verraten als
durch die Trägheit, welche sie einer translatorischen Beschleunigung
des schwingenden Systems entgegensetzt, und durch die offenbar
damit in engen Zusammenhang stehende Gravitationswirkung“. . .
„Diesen Energievorrat, der dem Körper bei Null Grad absolut ver¬
bleibt und dem gegenüber alle in den gewöhnlichen physikalischen
und chemischen Prozessen vorkommenden Wärmetönungen minimal
sind, wollen wir hier als die „latente Energie“ des Körpers bezeich¬
nen. Die latente Energie ist von der Temperatur und von den Be-
1 O. Lehmann, Die neue Welt der flüssigen Kristalle, Leipzig 1911, 346.
Vgl. dazu M. Born, Sitzb. d. Berl. Akad. 30, 614, 1916.
2 M. Planck, Sitzb. d. Berl. Akad. 1907, 542.
Verhandlungen. 26. Band.
I
I 62
O. Lehmann
wegungen der chemischen Atome ganz unabhängig, ihr Sitz ist also
innerhalb der chemischen Atome zu suchen.“
Setzt man, wie früher 1 berechnet, die Zahl der Wasserstoff¬
atome in i kg = 640 • io 2 4 (Nernst gibt sie zu 617 • 10 24 an)
und das Gewicht von 1 Energiequant* = 0,72 • io _<8 • v, so hätte
man die Gleichung 640 • 10 2 -* • j ■ 0,72 • io~< 8 • v= 1, woraus folgt
v = —• io 2 * als Schwingungszahl oder sekundliche Umlaufs¬
zahl der Elektronen in einem Wasserstoffatom. 3
Setzt man die Wellenlänge gewöhnlicher Röntgenstrahlen,
wie früher berechnet 4 = 60 • io~ ,J Meter, also ihre Schwingungs¬
zahl v = 7—-°— = - 1 • 10 20 , so folgt, daß die Elektronen im
Wasserstoffatom noch etwa 1000 mal rascher schwingen oder
kreisen, als zur Erzeugung solcher Röntgenstrahlen nötig wäre.
An anderer Stelle 5 sagt Planck: »Dieser von der Temperatur
unabhängige Energierest gehört also zur .latenten* Energie,
welche nicht zur Wärmekapazität, wohl aber zur trägen Masse
beiträgt und auch die Quelle der radioaktiven Wirkung bildet.«
Nimmt man mit Debyeden Bahnradiusder Elektronen im Wasser¬
stoffmolekül zu 0,5 • io" 0 Meter an, so ergäbe sich deren Peri¬
pheriegeschwindigkeit = 2 • 3,14 • 0,5 • io _, ° • - - • io 24 = 1,36 • io 12
230,4
= 1,36 Billionen Meter pro Sekunde. Dies steht im Widerspruch
mit den MaxweU’schen Gleichungen, welchen zufolge die Ge¬
schwindigkeit höchstens die Lichtgeschwindigkeit d. h. 3 • io s
Meter pro Sekunde sein kann. Die Quantentheorie verzichtet
aber auf Anwendbarkeit der Maxwell’schen Gleichungen im Innern
der Atome. Mit der Tatsache, daß aus radioaktiven Stoffen Elek-
1 O. Lehmann, diese Verh. 25, 71, 1913.
1 O. Lehmann, diese Verh. 24, 287, 1912.
r ‘ Nach 1 *. Drbye, Sitzb. d. Münch. Akad. 1915, ist im Wasserstoffmolekül
der Abstand der Elektronen vom Umlaufszentrum 0,5 • 10-8 cm, die Winkelgeschwin¬
digkeit = 4,214 • 10 16 sec- 1 .
Nach W. Nernst, Ber. d. D. phvs. Ges. 18, 83, 1916, ist der Radius der
Bahn der negativen Elektronen im Wasserstoffmolekül = 0,17 • IO“ 10 cm, ihre Um¬
laufszahl 4,07 • io»'), der Radius der Bahn der positiven Ionen 0,64 • iü“ x J cm, ihre
Umlaufszahl 0,75 • io 2 3 pro Sekunde, also von ähnlicher Größenordnung, wie oben
angegeben.
4 Siehe O. Lehmann, diese Verh. 25, 93, 1913.
b M. Planck, Ann. d. Phvs. 37, 653, 1912.
Nullpunktsenergie und Gravitation
163
tronen mit einer Geschwindigkeit von 100 Millionen Metern pro
Sekunde und mehr herausfahren können, befindet sich die An¬
nahme so großer Umlaufsgeschwindigkeiten der Elektronen in
den Atomen in befriedigender Übereinstimmung.
Fassen wir das Ergebnis unserer Betrachtungen zusammen, so
läßt sich sagen, daß die alte von Galilei begründete Anschauung,
welche als das wirklich Existierende, völlig Unveränderliche, die
Masse des Stoffs betrachtet hat, die sich zusammensetzen soll aus Ato¬
men, heute nicht mehr haltbar ist, sondern bedeutender Abänderung
bedarf. Das eigentlich Existierende sind die Energie und ihr Sub¬
strat, die elektrischen und magnetischen Felder, die auch im leeren
Raume existieren können ohne Vorhandensein elektrischer und mag¬
netischer Massen. Letztere erscheinen überhaupt nur als E n d i -
gungen oder Konvergenzpunkte der die Felder
bildenden Kraftfäden. Ein Äther, welcher früher als Trä¬
ger der Kraftfelder gedacht wurde, existiert wahrscheinlich nicht;
jedenfalls ist seine Annahme überflüssig, er scheidet bei den Berech¬
nungen vollständig aus. Er kann nicht einmal dazu beigezogen
werden, eine anschauliche verständliche Vorstellung von den Kraft¬
feldern zu gewinnen. Die Beschreibung muß sich darauf beschrän¬
ken, quantitative Beziehungen zwischen den auftretenden Änderun¬
gen in Raum und Zeit zu geben, welche nur dann zutreffend sein
können, wenn ^e sogenannten Lorentztransformationen gegenüber
kovariant sind, was die Unabhängigkeit der Erscheinungen von der
absoluten Geschwindigkeit bedeutet. Träge Masse und Schwere,
welche die alte Theorie als die Grundeigenschaften der Atome be¬
trachtete, d. h. der materiellen Substanz, aus welchen diese bestehen,
sind in Wirklichkeit Eigenschaften der in den Atomen enthaltenen
Energie. Nur infolge der kreisenden Bewegung der Elektronen in
den Atomen, welche auch noch beim absoluten Nullpunkt stattfin¬
det, besitzen diese Trägheit und Schwere. Auch der schwerste Stoff
würde sein Gewicht vollkommen verlieren, wenn diese kreisende Be¬
wegung aufhörte. Sie ist ebenso auch die Ursache der molekularen
Richtkraft der Kristallmoleküle, sowie der als Elastizität und Ko¬
häsion bezeichneten molekularen Kräfte und auch der chemischen
Affinität. Die chemische Verbindungswärme ist sichtbar gewordene
Nullpunktsenergie der Atome, d. h. sie entsteht aus der Energie der
kreisenden Bewegung der Elektronen infolge Veränderung der Um-
1
164
O. Lehmann
laufszahl und ebenso entsteht aus dieser die Wärme, die beim radio¬
aktiven Zerfall der Atome auftritt, sowie die Strahlung.
Es ist nicht zu leugnen, daß auch diese neue Anschauung in
mancher Hinsicht nicht befriedigend ist. Um sie mit den Erfah¬
rungen in Übereinstimmung zu bringen, war Einführung der Ener¬
giequantentheorie nötig, welche Verzicht auf das Fundamentalgesetz
der kinetischen Gastheorie (betreffend die gleichmäßige Energiever¬
teilung) und auf die Gültigkeit der Maxwellschen Gleichungen im In¬
nern der Atome nötig machte. Sie gestattet nicht unendliche Teil¬
barkeit der Energie, wie sie die Maxwellschen Gleichungen voraus¬
setzen und muß auch annchmen, daß die nach den genannten Glei¬
chungen unausbleibliche Ausstrahlung der Atome beim absoluten
Nullpunkt in Wirklichkeit unmöglich ist.
Nernst 1 glaubt über alle diese Schwierigkeit hinwegzukommen
durch Hinzufügung einer einzigen weiteren Hypothese, daß nämlich
dem leeren Raum (dem Äther) ebenfalls Nullpunktsenergie zu¬
komme in Form von Strahlung, die denselben beständig durchkreuzt,
auch bei Abwesenheit materieller Stoffe, die Strahlung aussenden.
Diese Nullpunktsstrahlung besteht aus Strahlen aller mög¬
lichen Schwingungszahlen und besitzt solche Intensität, daß sich
die Nullpunktsenergie der Atome mit ihr im Gleichgewicht befindet.
Die Atome können ihre Nullpunktsenergic nicht ausstrahlen, weil sie
in solchem Falle sofort wieder eine ebenso große Menge Strahlungs¬
energie aus dem Äther absorbieren würden. Die Dichte der Null¬
punktsstrahlungsenergie des Äthers muß ungeheuer groß angenom¬
men werden, nämlich zu 15 000 Trillionen Joule pro cbm, was nach
obigem einer Massendichte von 166000 kg pro cbm oder einem
spezifischen Gewicht von 166 gleichkommt. Der Äther, den man
früher als ein äußerst feines Medium betrachtete, würde sich somit,
wenn wir ein Stück davon wägen könnten, als die weitaus schwerste
Substanz erweisen, etwa 15 mal so schwer als Blei, die Atome
wären minder dichte Stellen des Äthers. Nichtsdestoweniger
bewegen sich die größten Himmelskörper durch diese dichte
Masse mit ungeheueren Geschwindigkeiten, ohne den ge¬
ringsten Widerstand zu finden; wir bemerken auch keinerlei
Druck, da die Gravitationskräfte der Ätheratome nach allen Rich-
1 W. Nernst, Ber. d. D. phys. Ges. x8, 83, 1916.
Nullpunktsenergie und Gravitation
165
tungen wirken. Daß die Ätheratome nicht zusammenfallen, erklärt
Zehnder 1 vom Standpunkt der kinetischen Theorie, indem er ihnen
Bewegung mit einer der Lichtgeschwindigkeit vergleichbaren Ge¬
schwindigkeit zuschreibt; denn würde ein Atom seine Nullpunkts¬
energie plötzlich in Bewegungsenergie umwandeln, so würde s^ine
Geschwindigkeit gerade Lichtgeschwindigkeit werden, also so, wie
wenn es Energie aus dem Äther aufnehmen würde infolge der Stöße
der Äthermoleküle, wobei es deren Geschwindigkeit annimmt. Än¬
dert ein Atom seinen Bewegungszustand, so ändert sich nach Nernst
auch seine Nullpunktsenergie. Die Stoßgesetze der Atome sind des¬
halb nicht die gleichen, wie die Stoßgesetze elastischer Körper. Der
geringe Wert der spezifischen Wärme in der Nähe des absoluten
Nullpunkts erklärt sich dadurch, daß die Atome außer der zugeführ¬
ten Wärme auch Ätherstrahlung aufnehmen. Hebt man einen Kör¬
per, so geht die Arbeit in Ätherstrahlung über, fällt der Körper her¬
unter, so geht Ätherstrahlung in Bewegung über. Das Wesen der
Gravitation beruht also in der Nullpunktsstrahlung des Äthers. Tn
analoger Weise erklären sich alleFormen von potentieller Energie, also
auch die molekularen Kräfte wie Elastizität, Kohäsion und
chemische Affinität, deren Verschiedenheit nur auf Ver¬
schiedenheit der in Betracht kommenden Schwingungsvorgänge be¬
ruht. Die chemische Verbindungswärme wird der Nullpunktsstrah¬
lung entnommen, weil sich die Schwingungsdauer ändert usw.
Wir hätten hiernach in dem leeren Raum einen unerschöpf¬
lichen Vorrat von Energie, und zwar sehr wertvoller Energie, weil sie
wie andere Strahlung freie Energie ist, also vollständig in
mechanische Arbeit umgesetzt werden kann, nicht nur teilweise wie
die Wärme. Wegen der Erschöpfung der Kohlenvorräte und der
verfügbaren Wasserkräfte brauchten wir darum nicht besorgt zu
sein, falls nur ein Mittel zur Verfügung stände, ohne Verbrauch
teurer Materialien, wie es z. B. das Pulver der Kanonen ist, die
Nullpunktsernergie in Bewegungsenergie verwandeln, oder wie die
Nahrungsmittel, welche Organismen befähigen, Nullpunktsenergie
in Muskelarbeit umzusetzen, dem Äther einen Teil seines Energie¬
vorrats zu nützlichen Zwecken zu entziehen. Vielleicht gibt es aber
einen vierten Hauptsatz, der aussagt, daß diese Verwertung der
Ätherenergie ohne kostspieligen Aufwand unmöglich ist und so die
erwünschten Aussichten zerstört.
1 L. Zehnder, Ber. d. D. phys. Ges. 18, 181, 1916.
166
O. Lehmann
Die eigentümlichen Bewegungserscheinungen bei flüssigen
Kristallen, welche durch direkte Umsetzung von chemischer Ener¬
gie in mechanische entstehen 1 (wie die Bewegungen der Organis¬
men), hätten ihren Grund ebenfalls in der Nullpunktsstrahlung des
Äthers, ebenso wie die molekularen Richtkräfte, welche
die Kristallstruktur bedingen.
Nernst selbst spricht sich über diese Punkte nicht aus und gibt
auch seine Hypothese mit allem Vorbehalt. Ich glaubte aber doch
darauf hinweisen zu sollen, denn wenn auch die neuere Physik, wie
aus dem Dargelegten hervorgeht, mit den alten Vorstellungen von
dem Unterschied der wägbaren Massen und der Imponderabilien
und den einfachen Vorstellungen über die Natur der Wärme gründ¬
lich aufgeräumt hat, so sind wir doch von einer völlig befrie¬
digenden exakten Beschreibung der Naturvorgänge anscheinend
noch sehr weit entfernt; es bedarf weiterer intensiver Forschungs¬
arbeit, um klar festzustellen, welches die unveränderlichen Dinge
sind, die wir als das wirklich Existierende zu messen und unseren
Berechnungen zugrunde zu legen haben.
Auch andere Fragen harren der Lösung: Was wird aus der
Strahlung, die von den Himmelskörpern ausgeht, breitet sie sich in
die Unendlichkeit immer weiter aus oder existiert ein begrenzter
Äther, an dessen Oberfläche sie reflektiert wird? Muß wirklich die
Welt den Wärmetod erleiden oder gibt es Vorgänge, die verhindern,
daß die Entropie dieses Maximum erreicht? Geht der radioaktive
Zerfall der Atome immer weiter, und warum sind, wenn die Welt
seit unendlicher Zeit besteht, nicht bereits alle Atome zerfallen?
Bezüglich der letzteren Frage ist Nernst der Ansicht, daß sich
mit der Zeit wahrscheinlich alle materiellen Atome in Ätheratome
auf lösen, daß es aber auch Vorgänge gibt, bei welchen sich aus Äther
plötzlich wieder neue materielle Atome bilden, etwa so wie sich Ar-
rhenius vorstellt, daß der Wärmetod der Welt durch Bildung neuer
Himmelskörper verhindert werde, da entgegen dem zweiten Haupt¬
satz der Thermodynamik die Entropie unter Umständen auch von
selbst kleiner werden könne. Vorläufig hat sich aber der zweite
Hauptsatz stets als richtig erwiesen, es liegt kein Grund vor, daran
zu zweifeln, und auch bezüglich der Rückbildung von Atomen fehlen
uns jegliche Erfahrungen.
1 O. Lehmann, Ann. d. Phys. 48, 177, 1915.
Verhandlungen
des
Naturwissenschaftlichen
Vereins
IN KARLSRUHE
27. Band. 1917-1921
KARLSRUHE i. B.
Druck der G. Braunsohen Hofbuchdruckerei
1922
Inhaltsverzeichnis.
Berichte.
Seite
Bericht über die Tätigkeit des Naturw. Vereins vom l 5. März 1916 bis 29. April 1921 1*
Rechnungsführung für die Jahre 1915—1921. 24*
Bericht über den Betrieb der seismischen Stationen Durlach und Freiburg für
die Zeit vom August 1914 bis März 1921. 25*
Abhandlungen.
Die deutsche Siedelung Tovai in Venezuela etc. Von Dr. IV. Groos und
Dr. Fr. Gautier . 1
Über Struktur, optisches und mechanisches Verhalten der als Myelinformen be-
zeichneten flüssigen Kristalle. Von R. Schachenmaier . 9
Die Hypothese von Prout über das Urelement. Von Max E. Ijemhert ... 67
Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich. Von Helmut W. Kleiner . 84
Bericht
über die
Tätigkeit des naturwissenschaftlichen Vereins
vom 16. März 1916 bis 29. Oktober 1920 erstattet vom Vorsitzenden
Prof. Dr. O. Lehmann und vom 12. November 1920 bis 29. April
1921 vom derzeitigen 1. Schriftführer Prof. Dr. M. Auerbach.
Durch seine Erkrankung war unser sonst sehr pflichttreuer
und gewissenhafter, nunmehr verstorbener Schriftführer Herr
Professor Dr. Schultheiß verhindert, regelmäßige Aufzeichnungen
über die Vereinstätigkeit in den letzten Jahren zu machen. Ich
war bemüht, aus den Notizen, die sich in seinem Nachlaß
fanden und solchen, die ich mir selbst gemacht hatte, den von
den Satzungen geforderten Bericht über die Vereinstätigkeit zu¬
sammenzustellen und glaube, daß er im wesentlichen zutreffend
sein wird.
1916.
Der letzte von Schultheiß selbst erstattete Bericht, welcher
im 26. Bande der Verhandlungen abgedruckt ist, erstreckte sich
noch auf die 786. Sitzung vom 14. Februar 1916, in welcher
Herr Geheimrat Prof. Dr. O. Lummer, Direktor des physikalischen
Instituts der Breslauer Universität auf Einladung seitens des
Vereins über »Verflüssigung der Kohle« berichtet hat. Seitdem
ist infolge des Krieges nicht nur beim naturwissenschaftlichen,
sondern auch bei anderen Vereinen das Bedürfnis nach Abhaltung
von Sitzungen immer mehr zurückgegangen, da die Zahl der
Mitglieder, welche die Möglichkeit hatten, daran Teil zu nehmen
oder Vorträge zu halten, sich immer mehr verminderte und die
durch den Krieg geschaffene schwierige Lebenslage die ganze
Verhandlungen, 27. Band. 1
2* Sitzungsberichte.
Aufmerksamkeit und Kraft in Anspruch nahm. So sahen sich
denn die verschiedenen verwandten wissenschaftlichen Vereine
veranlaßt, sich näher zusammenzuschließen in der Art, daß ge¬
meinsame Sitzungen veranstaltet wurden oder gegenseitige Ein¬
ladungen erfolgten. Abweichend von der bisherigen Gepflogen¬
heit werde ich deshalb im folgertden auch solche nicht von seiten
des Vereinsvorstandes veranlaßten Sitzungen als eigentliche
Vereinssitzungen numerieren, da sonst ein ganz unrichtiges Bild
des Vereinslebens entstände. Die einladenden Vereine werden
aber jeweils genannt werden.
787. Sitzung vom 16. März abends 8 Uhr auf Einladung des
Oberrheinischen elektrotechnischen Vereins im Saale III der
Brauerei Schrempp. Herr Dr.-Ing. Halbertsma von der Elek¬
trizitätsgesellschaft m. b. H. Dr.-Ing. Schneider & Co. in Frank¬
furt a. M. hielt einen Vortrag über »Fehlerhafte elektrische
Beleuchtungsanlagen«.
788. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirksvereins
deutscher Ingenieure zur »Erläuterung des Murgwerks* seitens
der Herren Oberbaurat Hauger und Oberbauinspektor Schüler
in Forbach am 31. Mai. Daran schloß sich eine Besichtigung der
damals noch im Bau befindlichen Anlagen an, nämlich: 1. der
Wehranlage für das Ausgleichsbecken bei Forbach, 2. der Tief¬
bauarbeiten für das Niederdruckwerk, 3. der Hochbauarbeiten für
das Schalt- und Transformatorenhaus, 4. der Tiefbauarbeiten für
das Krafthaus, 5. des Wasserschlosses, 6. des anschließenden
Stollens. Ferner war noch Gelegenheit gegeben zur Besichtigung
der Wehranlagen für das Sammelbecken bei Kirschbaumwasen.
789. Sitzung, gemeinsam mit der chemischen Gesellschaft
am 23. Juni im kleinen Ilörsaal des chemischen Instituts der
Technischen Hochschule. Herr Dr.WalterFraenkel aus Frankfurt
a.M.hielt dabei einen Vortrag über »Metallische Verfestigung
und Ersatz des Kupfers durch Zink«.
790. Sitzung am 19. Juli auf Einladung des Oberrh. Elektro¬
technischen Vereins im großen Ilörsaal des elektrotechnischen
Instituts der Technischen Hochschule zum Vortrag des Herrn
Professor Richter über »Elektrische Maschinen mit
Wicklungen aus Aluminium, Zink und Eisen».
Sitzungsberichte.
3*
791. Sitzung am 20. Juli im kleinen chemischen Auditorium
der Technischen Hochschule. Der Vorsitzende O. Lehmann
erstattete Bericht über die neueren Forschungen betreffs »Null¬
punktsenergie und Gravitation*.
792. Sitzung am Montag den 20. November auf Einladung des
Karlsruher Bezirksvereins deutscher Ingenieure zum Vortrag des
Herrn Geh.Hofrat Professor E. A. Brauer über »Graphische Er¬
mittelung der Flugbahn von Geschossen« im großen
Hörsaal der Maschinenbauabteilung.
793. Sitzung am Freitag den 24. November im großen
Ilörsaal für Physik in der Technischen Hochschule. Der Vor¬
sitzende O. Lehmann berichtet über »Elektrisiermaschinen,
insbesondere über Staudigls Influenzmaschine« mit zahl¬
reichen Lichtbildern, Experimenten und Ausstellung historischer
Maschinen.
794. Sitzung. Auf Samstag den 25. November wurde der
Verein vom Oberrh. Elektrotechnischen Verein eingeladen zum
Vortrag des Herrn Oberingenieur Büggeln in Stuttgart über
»Die Teilnahme des Staates an der öffentlichen Elek¬
trizitätsversorgung unter besonderer Berücksichtigung
der jüngsten Vorgänge in Württemberg« im großen Hör¬
saal des elektrotechnischen Instituts der Technischen Hochschule.
795. Sitzung. Zu Mittwoch den 6. Dezember lud uns der
Badische Ingenieur- und Architektenverein ein zu einem Vortrag
des Flerrn Geheimrat Dr.-Ing. Baumeister über »Krieger-
Heimstätten« im Konkordiasaal des Moninger-Restaurants.
796. Sitzung. Auf Montag den 11. Dezember wurden wir vom
Karlsruher Bezirksverein deutscher Ingenieure eingeladen in das
Schloßhotel zu einem Vortrag des Herrn Betriebsdirektors Dipl.-
Ing. K. Eglinger über »Die technische und wirtschaft¬
liche Entwicklung der Karlsruher Gaswerke (mit Vor¬
führung von Lichtbildern).
1917.
797. Sitzung. Montag den 5. März sprach in gemeinsamer
Sitzung des Naturwissenschaftlichen Vereins und des Badischen
Architekten- und Ingenieurvereins im großen Hörsaal des chemi-
Sitzungsberichte.
4*
sehen Instituts Herr Professor Dr.Sauer, Rektor der Technischen
Hochschule in Stuttgart über »Die Mineralschätze Deutsch¬
lands und ihre Bedeutung für den Weltkrieg«.
798. Sitzung. Auf Montag den 12. März wurden wir vom
Karlsruher Bezirksverein deutscher Ingenieure eingeladen zu einem
Vortrag des Herrn Dr. Spethmann, Privatdozent an der Uni¬
versität Berlin, über »Unsere Kriegsschauplätze« im großen
Hörsaal der Maschinenbauabteilung der Technischen Hochschule.
799. Sitzung. Auf Montag den 16. April erhielten wir eine
Einladung desselben Vereins zu einem Vortrag des Herrn Direktor
Dr. Döderlein in der Arche im Restaurant Moninger über
»Lehrbetriebe für Industriearbeiter«.
800. Sitzung. Auf Samstag den 28. April wurden wir vom
Oberrh. Elektrotechnischen Verein eingeladen zu einem Vortrag
des Herrn Oberingenieur Büggeln aus Stuttgart über »Die
Gewinnung von Nebenerzeugnissen bei der Kohlenver¬
sorgung, ihre volkswirtschaftliche Bedeutung und ihre
Bedeutung für die öffentliche Elektrizitätserzeugung«
im großen Hörsaal des elektrotechnischen Instituts der Technischen
Hochschule.
801. Sitzung. Auf Montag den 7. Mai lud uns deF Karls¬
ruher Bezirksverein deutscher Ingenieure ein zu einem Vortrag des
Herrn Dipl.-Ing. F. Zürn, Fabrikdirektor in Gelsenkirchen, über
»Unwirtschaftliche industrielle Werke, insbesondere
Maschinen-, Dampfkessel - Fabriken und Brückenbau¬
anstalten«, mit Lichtbildervorführung im großen Hörsaal der
Maschinenbauabteilung der Technischen Hochschule.
802. Sitzung. In unserer Sitzung vom 15 Juni im großen
Ilörsaal des chemischen Instituts sprach Herr Hofschauspieler
Paul Paschen über »Wirkungsweise und Mißbrauch des
menschlichen Stimmorgans«.
803. Sitzung, gemeinsam mit der Chemischen Gesellschaft
am 13. Juli im großen Hörsaal des chemischen Instituts. Herr
Privatdozent Dr.Fajans berichtete über Neuere Forschungen
über die Beziehungen zwischen chemischen Elementen..
Sitzungsberichte.
804. Sitzung. Freitag den 9. November fand im kleinen
Hörsaal des physikalischen Instituts die Mitglieder-Hauptver-
sammlung statt, in welcher der Schriftführer und der Rechner
Bericht erstatteten und der bisherige Vorstand wiedergewählt
wurde. Sodann erfolgten kleinere Mitteilungen.
805. Sitzung. Auf Mittwoch den 14. November wurden wir
vom Badischen Architekten- und Ingenieurverein eingeladen zu
einem Vortrag des Herrn Oberbaurat Rehbock im großen
Hörsaal des chemischen Instituts über »Die Verwertung von
Modellversuchen für Aufgaben des praktischen Wasser¬
baues«.
806. Sitzung. Freitag den 14. Dezember hielt der Vorsitzende
O. Lehmann im großen Hörsaal des physikalischen Instituts
einen Vortrag über »Die Arbeiten von Werner Siemens
und der Weltkrieg« mit Lichtbildern.
1918.
807. Sitzung. Freitag den 1. Februar begannen die Sitzungen
des neuen Jahres mit einem Vortrag des Vorsitzenden O. Leh¬
mann über »Flüssige Kristalle und E. Haeckels
Kristallseelen« mit Lichtbildern und kinematographischen
Vorführungen im großen Hörsael des physikalischen Instituts der
Technischen Hochschule.
808. Sitzung. Auf Montag den 13. Mai wurden wir vom
Karlsruher Bezirksverein deutscher Ingenieure eingeladen zu
einem Vortrag des Herrn Oberingenieurs Ferd. Katz in Mann¬
heim über »Alte und neue Wege und Vorschläge für
eine bessere Verwertung der Brennstoffe« im großen
Hörsaal der Maschinenbauabteilung der Technischen Hochschule.
809. Sitzung. Montag den 10. Juni erhielten wir eine Ein¬
ladung desselben Vereins zu einem Vortrag des Herrn Gewerbe¬
inspektors Regierungsbaumeister Emele über den »Aufbau
der badischen Industrie« mit zahlreichen Lichtbildern.
810. Sitzung. Auf Donnerstag den 25. Juni lud uns der
Oberrh. Elektrotechnische Verein ein zu einem Vortrag des Herrn
Baurat Landwehr im großen Hörsaal des elektrotechnischen
Verhandlungen, 27. Band. 2
Sitzungsberichte.
6*
Instituts der Technischen Hochschule über »Das Murgwerk,
einschließlich Elektrizitätsversorgung Badens«, sowie
zu der am 27. Juli stattfindenden Besichtigung des Murg¬
werks speziell des Hoch- und Niederdruckwerkes und des Schalt--
und Transformatorenhauses in Forbach, welche Anlagen damals
besonderes Interesse boten, weil die Generatoren noch nicht ein¬
gekapselt und die Transformatoren noch nicht an Ort und Stelle
aufgestellt waren.
811. Sitzung. Auf Montag den 7. Oktober wurden wir vom
Karlsruher Bezirksverein deutscher Ingenieure eingeladen zu einem
Vortrag des Herrn Gewerbeinspektors Regierungsbaumeister
Emele im großen Hörsaal der Maschinenbauabteilung der Tech¬
nischen Hochschule über »Die Gewerbeaufsicht und
Schutzmaßnahmen für Arbeiter in gewerblichen
Betrieben«.
812. Sitzung. Mitglieder-Hauptversammlung vom
6. Dezember im großen Hörsaal des physikalischen Instituts der
Technischen Hochschule. Der Vorsitzende O. Lehmann ge¬
dachte zunächst des Ablebens des Vereins-Schriftführers, des
Herrn Professor Dr. Schultheiß, welcher am 10. Oktober 1918
im Alter von 58 Jahren infolge eines Krebsleidens im Kranken¬
haus hier gestorben ist. Er führte etwa folgendes aus: Zu Nürn¬
berg geboren und als Mittelschullehrer ausgebildet war Schultheiß
1886 als wissenschaftlicher Assistent bei dem hiesigen Zentral¬
büro für Meteorologie und Hydrographie eingetreten. Im gleichen
Jahre noch wurde er Mitglied des Naturwissenschaftlichen Vereins,
dem er also 32 Jahre lang angehört hat. Seit 1890 hielt er auch
meteorologische Vorlesungen an der Hochschule für die Forst¬
abteilung. Im Jahre 1896 wurde ihm der Titel Professor erteilt.
1901 wurde er zum wissenschaftlichen Hilfsarbeiter bei der Ober¬
direktion des Wasser- und Straßenbaues und später zum Landes¬
meteorologen ernannt, auch durch Verleihung des Ritterkreuzes
I. Klasse vom Zähringer Löwenorden ausgezeichnet. Seit 19 Jahren
war ihm das arbeitsreiche Amt des Schriftführers unseres Vereins
übertragen, zwei Jahre später auch das Amt des Herausgebers
der Chronik und der Verhandlungen des Vereins und bald auch
das des Bibliothekars. Seine außerordentlich gewissenhafte und
emsige Tätigkeit im Interesse des Vereins, die oft ungemein
Sitzungsberichte.
~ *
/
zeitraubend und anstrengend war, verdient größte Anerkennung-
Dem habe ich auch im Namen des Vereins bei der Beerdigung
im hiesigen Krematorium in einer Ansprache an die Trauer¬
versammlung unter Niederlegung eines Kranzes Ausdruck verliehen.
Seit Schluß des gedruckten Berichtes in Band 26 (1916) hat
der Verein ferner die folgenden Mitglieder durch Ableben ver¬
loren: v. Babo, Behm, Bürgin, Hafner, Kux, Molitor, Pezold,
Riehm, Staudigl, Wagner, Ziegler. Ausgetreten sind die Herren:
v. Bodman, Genter, Glöckner, Mikuschka, Lautenschläger, Neu¬
mann, v. Racknitz, Rösch, Schmidt, Thoma. Eingetreten: Kistner
und Näbauer. Demgemäß beträgt die Mitgliederzahl zur Zeit 196.
Die Vereins-Bibliothek wurde dem Beschlüsse der Haupt-
Mitgliederversammlung gemäß am 12. November 1918 der Bibliothek
der Hochschule übergeben einschließlich der Vorräte an Berichts¬
heften und der auf den Leih- und Tauschverkehr sich beziehenden
Aktenbände und Adressenlisten. Durch Schreiben vom 3. Dezember
1918 erklärte sich die Bibliotheksdirektion ausdrücklich bereit,
auch den Schriftenverkehr des Vereins ganz zu übernehmen mit
dem Vorbehalt, daß ihr gestattet sei, mit Rücksicht auf den be¬
stehenden Mangel an Personal die Prüfung der Verzeichnisse
auf spätere Zeit zu verschieben und nur nach und nach durch¬
zuführen; ferner daß die Kosten für Porto und Packmaterial,
sowie für Bezahlung einer Hilfskraft, die die Verteilung an die
in Karlsruhe wohnenden Mitglieder besorgt, vom Verein getragen
werden. Die Bücher verbleiben zunächst in dem Raum in der
Technischen Hochschule, in welchem sie bisher verwahrt wurden,
doch behält sich die Bibliotheks-Direktion hierin freie Entschei¬
dung vor.
Betreffend den Betrieb der Erdbebenstationen des Natur-
wissenschaftlichen Vereins in Durlach und Freiburg i. B. habe ich,
da der Vorstand derselben Herr Geh. Hofrat Prof. Dr. Haid an¬
dauernd durch schwere Erkrankung gehindert war, sich desselben
anzunehmen, den Direktor der Hauptstation für Erdbebenfor¬
schung in Straßburg Herrn Geheimrat Prof. Dr. Hecker gebeten,
die Instrumente insoweit zu demontieren, daß keine Beschädigung
derselben eintreten könne. Dies ist auch in Durlach am 27. Juni
1917 in meinem Beisein unter Beihilfe des Institutsmechanikers
Maisenhälder geschehen. Das Uhrwerk des Registrierapparats
der Heckerschen Pendel wurde in das physikalische Institut ge-
8
Sitzungsberichte.
bracht, um es gegen Verrosten zu schützen. Herr Geh. Rat
Hecker machte bezüglich der Freiburger Apparate den Vorschlag,
dieselben nach Straßburg zu verbringen, wo er in seiner Werk¬
stätte die veraltete Konstruktion kostenlos durch eine bessere,
moderne ersetzen wolle, soweit es unter den durch den Krieg
geschaffenen Verhältnissen möglich sei. Nachdem Herr Geh.
Hofrat Haid in den Ruhestand versetzt und an seine Stelle Herr
Prof. Dr. Näbauer getreten war, habe ich diesem anheimgegeben,
sich in der Angelegenheit mit Herrn Hecker zu verständigen.
Letzterer machte dabei den weiteren Vorschlag, künftig in der
Durlacher Station nur Erdbeben zu registrieren, in der Frei¬
burger dagegen die feineren Beobachtungen über Deformation
der Erdrinde und den Einfluß von Sonne und Mond anstellen zu
lassen, da hierfür sowohl die Apparate als der Aufstellungsort
besser geeignet wären und sich zugleich eine Verminderung der
Betriebskosten dadurch erzielen ließe. Ferner teilte er mit, die
Hauptstation wäre bereit, im Interesse der Sache die Reduktion
der Registrierungen und die Ableitung der Ergebnisse vorzu¬
nehmen, was nur von besonders Erfahrenen besorgt werden könne.
Der Vereinsvorstand erklärte sich damit einverstanden, vorbehalt¬
lich der Zustimmung der aus den Herren Näbauer (Vorsitzender),
Engler, Lehmann und Schwarzmann bestehenden Erdbeben¬
kommission.
An Geschenken erhielt der Verein von Frau Maria Gröner,
philosophische Schriftstellerin in Milland bei Brixen in Südtirol
zwei ihrer Schriften, nämlich:
1. Wie ist die Darstellung von Schopenhauers Leben,
Charakter und Lehre durch Kuno Fischer im 9. Bande seiner
Geschichte der neueren Philosophie zu beurteilen ? (Gekrönte Preis¬
schrift der Schopenhauer-Gesellschaft 1918.)
2. Rabindranath Tagore, Abhandlung im Archiv für syste¬
matische Philosophie von L. Stein, 1916.
Ferner zwei Bücher des philosophischen Schriftstellers G.
Wagner in Achern, nämlich:
1. Hamlet und seine Gemütskrankheit, Heidelberg, Verlag
G. Weiß 1809.
2. Enzyklopädisches Register zu Schopenhauers Werken,
Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlag 1909.
Si tzungsberichte.
9*
Ich habe den Dank des Vereins ausgesprochen und die Werke
der Bibliothek der Technischen Hochschule für unsere Vereins¬
bibliothek überwiesen, wo sie eingesehen werden können.
Veranlassung zu dieser Schenkung gab eine andere Schen¬
kung, nämlich ein Legat seitens des Verfassers der letztge¬
nannten Werke, des Herrn Gustav Fr. Wagner, welcher am
i. November 1917 in Achern starb und dem Verein die Summe
von 12 000 Mark in badischen Staatspapieren vermachte mit der
Bestimmung, daß alle drei bis vier Jahre aus den aufgelaufenen
Zinsen entweder ein Reisestipendium verliehen oder eine wissen¬
schaftliche Arbeit unterstützt oder eine Preisaufgabe gestellt werden
soll. Frau Maria Gröner hat als Testamentsvollstreckerin die
Papiere auf unser Konto an die Badische Bank überwiesen und
der Verein hat die fällige Erbschaftssteuer, nämlich 5% Reichs¬
und 25% Landeszuschlagsteuer im Betrage von 667 Mark (nach
vergeblichen Versuchen unter Vermittelung des Unterrichts¬
ministeriums einen Nachlaß zu erhalten) bezahlt.
Bezüglich der Verwendung der ersten Zinsen der Wagner¬
stiftung, die hiernach am 1. November 1920 oder 1921 fällig sind,
hat der Vorstand in seiner Sitzung vom 15. Juli 1918 auf meinen
Antrag beschlossen, dieselben mir für Fortsetzung meiner Unter¬
suchungen über flüssige Kristalle zur Verfügung zu stellen, wo¬
für ich meinen Dank ausspreche.
Jedenfalls werden wir stets dem hochherzigen Stifter, der,
wie ich erfuhr, zusammen mit Herrn Geh. Oberbaurat Engesser
studierte und ein besonderer Freund Sr. Exzellenz des Herrn
Steuerdirektors Seubert war, ein dankbares und ehrendes Gedenken
bewahren, umsomehr als in der heutigen trostlosen Zeit, die
infolge der Teuerung die Ausführung experimenteller Forschungs¬
arbeiten fast unmöglich macht, solche Stiftungen zur Erhaltung
der deutschen Wissenschaft hochwillkommen sind.
Es folgte nun der angekündigte Vortrag des Herrn Prof.
Dr. Drews über »Schopenhauer als Naturphilosoph«.
1919.
813. Sitzung am 9. Februar im großen Hörsaal des physi¬
kalischen Instituts der Technischen Hochschule. Herr Professor
Dr. Otto Roller sprach über »Die Kinderehe im deutschen
Mittelalter und deren Einfluß auf das Lebensalter der
Bevölkerung;.
IO
Sitzungsberichte.
814. Sitzung auf Einladung seitens der »Vereinigung tech-
nischer Vereine« im großen Saal des Rathauses am 10. Februar.
Herr Oberbaurat Dr. R. Fuchs sprach über »Die Stellung
des Technikers in der öffentlichen Verwaltung«;
daran anschließend die Herren Oberingenieur Büggeln aus Stutt¬
gart, Tiefbauinspektor Bronner und Architekt Schneider.
815. Sitzung. Montag den 3. März im großen Hörsaal des
elektrotechnischen Instituts der Technischen Hochschule auf Ein¬
ladung des Karlsruher Bezirksvereins deutscher Ingenieure. Herr
Oberingenieur Droescher berichtete über »Eindrücke aus
den rumänischen Erdölfeldern«.
816. Sitzung auf Einladung desselben Vereins im gleichen
Hörsaal brachte einen Vortrag des Herrn Obergewerbearztes
Dr. Holtzmann über »Psvchotechn ik der gewerblichen
Arbeit«.
Die Einladung des Oberrh. Elektrotechnischen Vereins auf
Montag den 28. April in den Konkordiensaal des Moninger zu
einem Vortrag des Herrn Wilhelm Briese über »Maschinen¬
versicherung« konnte leider den meisten Mitgliedern nicht mehr
rechtzeitig mitgeteilt werden.
817. Sitzung am 15. Mai auf Einladung des Karlsruher Be¬
zirksvereins deutscher Ingenieure im großen Hörsaale des elektro¬
technischen Instituts. Herr Oberingenieur Böhm berichtete über
»Elektrotechnik an der Fronte
818. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirksvereins
deutscher Ingenieure. Herr Dipl.-Ing. R. Eisenlohr hielt
einen Lichtbildervortrag über »Der statische Aufbau der
Flugzeuge Donnerstag den 5. Juni, abends 8 Uhr, im großen
Hörsaal des elektrotechnischen Instituts der Technischen Hochschule.
8x9. Sitzung am 13. Juni gleichfalls auf Einladung desselben
Vereins und im gleichen Hörsaal. Herr Professor Dr. Eberle
hielt einen Vortrag über Fortschritte in der Wärmeaus¬
nutzung der Dampf er zeugung« mit Lichtbildervorführung.
820. Sitzung. Mitglieder-Hauptversammlung im
großen Hörsaal des physikalischen Instituts der Technischen Hoch¬
schule am 11. Juli. Der Vorsitzende O. Lehmann gab bezüg-
Sitzungsberichte.
I 1*
lieh der Mitgliederbewegung bekannt: Im verflossenen
Vereinsjahr verlor der Verein durch Ableben die Mitglieder
Henning, v. Göler, Föhlich und Schnebel. Ausgetreten sind die
Herren Ludw. Klein, E. Schmidt, v. Babo und Scheele; eingetreten
die Herren Friedr. Wolf und Biel. Zu Weihnachten 1918 feierte,
wie der von Karlsruhe damals abwesende Vorsitzende erst nach¬
träglich erfuhr, der stellvertretende Vorsitzende Herr Geheimrat
Dr.-Ing. h. c. Professor Dr. Hans Bunte seinen 70. Geburtstag.
Bei der Feier, welche sich nach den Berichten zu einer schönen
Kundgebung der Verehrung, Dankbarkeit und Anerkennung für
den Altmeister der chemischen Technologie und des Gasfaches
gestaltete, konnte aus dem angegebenen Grunde der Vorsitzende
leider nicht auch die Glückwünsche des Naturwissenschaftlichen
Vereins zum Ausdruck bringen; er nahm deshalb Veranlassung,
bei dieser Gelegenheit auszusprechen, wie sehr der Verein die
Lebensarbeit des nun in den Ruhestand tretenden Jubilars schätzt,
wie sehr er sich zu Dank verpflichtet fühlt für sein Interesse für
den Verein und daß er ihm aufs herzlichste einen schönen
Lebensabend wünscht.
Bezüglich der Bibliothek berichtete Herr Bibliotheks¬
direktor Schmidt: »Der Bestand der in den Besitz der Haupt¬
bibliothek übergegangenen Bibliothek des Naturwissenschaftlichen
Vereins wurde, soweit er nicht schon in den Bestand unserer
Bibliothek eingearbeitet ist, von mir im Frühjahr d. J. gesichtet
und die vorhandenen Schriften, soweit möglich, nach dem Sitze
der Vereine geordnet, so daß eine rasche Auffindung gesichert
ist. Das Einbinden und Einreihen abgeschlossener Serien wurde
fortgesetzt und wird, wie ich hoffe, künftig in beschleunigterem
Tempo vor sich gehen können, soweit es die Geschäfte der
Hauptbibliothek und deren Personalstand erlauben. Seit Über¬
nahme der Bibliothek des Naturwissenschaftlichen Vereins wurde
eine große Anzahl von Bänden katalogisiert, gebunden und ein¬
gereiht. Die einzeln eingehenden Heften werden auf Fortsetzungs¬
zetteln verzeichnet und deren rechtzeitiger Eingang von uns
durch etwaige Reklamationen überwacht. Etwaige Dubletten
werden mit den in unseren Beständen vorhandenen verglichen,
ehe sie ausgeschieden werden. Vorläufig ist davon eine große
Reihe zurück gestellt; ferner wurden einige Dubletten-Bände an
die Landesbibliothek zur Vervollständigung ihrer Bestände abge-
Sitzungsberichte.
12*
geben. Neue Verluste wurden bis jetzt nicht festgestellt. Die
bei früheren Benutzungen hervorgetretenen Mißstände werden durch
die Neuaufstellung wohl gehoben sein. Der Zugang der Schriften
wird auch in einem besonderen Inventar gebucht«.
Bezüglich der Erdbebenstationen teilte deren Vorstand
Herr Prof. Dr. Näbauer mit, daß die Heckerschen Horizontal¬
pendel der Freiburger Warte anfangs Februar 1918 ausgebaut
und nebst Zubehör an die Hauptstation in Straßburg geschickt
wurden. Nachdem inzwischen Straßburg von den Franzosen be¬
setzt wurde und eine Reklamation der Apparate durch Vermitt¬
lung der Waffenstillstandskommissioh ohne Erfolg war, dürfte
wenig Hoffnung bestehen, dieselben zurückzuerhalten. Herr
Näbauer wird nach Friedensschluß und Herstellung geordneter
Beziehungen zu Frankreich weitere Schritte hierzu unternehmen.
Im Dezember 1918 fand eine Sitzung des auf Betreiben des
Herrn Herzog, Chefredakteur der Badischen Presse, gebildeten
>Rates geistiger Arbeiter« im Rathaus statt, zu welcher
auch der Vorsitzende unseres Vereins eingeladen wurde.
Herr Professor Dr. A. Peppier hielt sodann einen Vortrag
über »Stromlinien und Luftbahnen, ihre Bedeutung
für Luftfahrt und Wettervorhersage«.
82 1. Sitzung. V om Karlsruher Bezirks verein deutscher Ingenieu re
wurden wir eingeladen zum Vortrag von Frl. Dr. Siq uet, Gewerbe¬
inspektorin hier, über »Die Frau als gewerbliche Ar¬
beiterin«, Donnerstag den 2. Oktober 1919, abends 8 Uhr, im
großen Hörsaal des elektrotechnischen Instituts der Technischen
Hochschule.
822. Sitzung. Der Vorsitzende O. Lehmann eröffnete diese
erste Sitzung des Wintersemesters am 7. November im geologischen
Hörsaal der Technischen Hochschule mit einem kurzen Nachruf
für den inzwischen verstorbenen Rechnungsführer des Vereins,
Herrn Bankdirektor Gau. Dieser war seit 14 Jahren Mitglied
des Vereins und seit Kriegsbeginn Mitglied des Vorstandes. Im
Dienste der Rheinischen Kreditbank stand er seit 1885. Im
Jahre 1914 wurde er als Direktor in deren Leitung berufen.
Durch einen Herzschlag w T urde er am 22. September 1919 nachts
11 Uhr, nachdem er zuvor noch einer Sitzung angewohnt hatte,
plötzlich mitten aus seiner reichen Tätigkeit abberufen zur größten
Sitzungsberichte.
Bestürzung seiner Familie, seiner Kollegen und unseres Vereins,
der seiner großen Sorgfalt in der Geschäftsführung zu außer¬
ordentlichem Danke verpflichtet ist. Direktion und Beamte der
Rheinischen Kreditbank, Filiale Karlsruhe, rühmen in einem
öffentlichen Nachruf wie er in vorbildlicher Weise seine ganze
schöpferische Kraft in den Dienst des Bankinstituts gestellt hat,
und wie er durch seinen aufrichtigen und lauteren Charakter
und seine persönliche Liebenswürdigkeit in den Herzen aller die
ihn kannten, sich ein ehrendes Andenken erworben hatte. In
ganz demselben Sinn äußerte sich der Vorsitzende des Vereins bei
der Beerdigung, bei welcher er im Namen des Vereins einen
Kranz niederlegte.
Außer Herrn Gau verlor der Verein seit seiner letzten Sitzung
ein weiteres geschätztes Mitglied, Herrn EduardDolletscheck,
der in früheren Jahren den Sitzungen häufig anwohnte und durch
seine Projektionskunst die Interessen des Vereins förderte. Er
war geboren den 29. April 1839 ' n Wehr als einziges Kind des
staatlichen Eisenhütten Verwalters. Vorgebildet am Gymnasium
in Konstanz besuchte er die Maschinenbauabteilung der hiesigen
polytechnischen Schule und fand dann Anstellung als Münzkon¬
trolleur in der Großh. Münze hier, als welcher er bei Einführung
des neuen Münz-, Maß- und Gewichtsystems hervorragend tätig
war. Vorübergehend war er auch Probeingenieur in der Metall¬
patronenfabrik. Auf dringenden Wunsch seines Schwiegervaters
Simon Model trat er alsdann in dessen Geschäft als Kaufmann
ein, beschäftigte sich aber in seiner freien Zeit mit allen möglichen
feinmechanischen Arbeiten, wozu er sich eine vorzüglich ausge¬
stattete Werkstatt einrichtete, z. B. mit der Konstruktion feiner
Uhrwerke, Automaten, Rechenmaschinen usw. Ganz besonders
aber widmete er sich der Ausgestaltung der Projektionskunst
hinsichtlich der Verbesserung der Lichtquellen, der Apparate und
der Lichtbilder. In die Kunst des Photographierens war er durch
den bekannten Hofopernsänger Josef Staudigl eingeführt worden,
über dessen intensive Tätigkeit auf diesem und anderen Gebieten
schon früher bei dessen Ableben berichtet worden ist, da er eben¬
falls langjähriges Mitglied unseres Vereins war. In selbstloser
liebenswürdiger Weise stellte er sein Wissen und Können der
Allgemeinheit zur Verfügung und bei den meisten früheren Licht¬
bildervorträgen war es gewöhnlich Dolletscheck, der mit eigenem
14
Sitzungsberichte.
Apparat die Vorführungen besorgte. Von seinem Vater hatte
er auch eine besondere Vorliebe für Musik geerbt. Er verstand
fast sämtliche Blas- und Saiteninstrumente zu spielen und war
Mitglied des Kuratoriums des Konservatoriums für Musik. Daß
ihm bei so vielseitiger erfolgreicher Tätigkeit Anerkennung in
reichlichem Maße in verschiedenen Formen zuteil wurde, ist
natürlich, obschon er sie in seiner Bescheidenheit nicht suchte.
In den letzten Jahren war seine Tätigkeit durch Krankheit stark
beeinträchtigt, doch konnte er noch in vollkommener geistiger
Frische seinen 80. Geburtstag feiern. Am 13. Juli beschäftigte er
sich noch mit Reparatur einer Uhr, am 16. Juli entschlief er sanft,
um nicht wieder zu erwachen.
Nunmehr hielt Herr Ingenieur Dr.Heinrich Franke einen
Vortrag über »Vom Euphrat zum Bosporus, eine Reise
durch verlorenes Land« unter Vorführung von 130 an Ort
und Stelle selbsthergestellten Lichtbildern.
823. Sitzung. Vom Oberrh.Elektrotechnischen Verein wurden
wir eingeladen zum Vortrag des Herrn Professor Dr. J. Teich¬
müller über Die Raumwinkel- und Lichtstromkugel und
ihre Anwendung beim Entwerfen von Beleuchtungsan¬
lagen am 24. Oktober 8 Uhr abends im großen Hörsaal des
elektrotechnischen Instituts der Technischen Hochschule.
824. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirksvereins
deutscher Ingenieure zum Vortrag des Herrn Regierungsrat
Bucerius über »Einrichtung einer technologischen Samm¬
lung beim Landesgewerbeamt« am 11. Dezember 8 Uhr im
Klubzimmer des Friedrichshof.
825. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Geschiclits- und
Altertumsvereins zum Vortrag des Herrn Professor A. Kistner
über Luftfahrten in Alt-Karlsruhe« (mit Lichtbildern) am
17. Dezember 8 Uhr im Saal der Vier Jahreszeiten«.
1920.
826. Sitzung am 23. Januar im geologischen Ilörsaal der
Technischen Hochschule. Der Vorsitzende O. Lehmann er-
öffnetc diese erste Sitzung des neuen Jahres mit dem Hinweis
auf den schmerzlichen Verlust, den der Verein erlitten hat. Durch
Sitzungsberichte.
15*
das Hinscheiden des Herrn Geheimerat Professor Dr. Haid, welcher
dem Verein 37 Jahre hindurch als Mitglied, zeitweise auch als
Vorstandsmitglied angehörte und sich nicht nur durch Vorträge
aus seinem Fachgebiet verdient machte, sondern durch Einrichtung
und Betrieb der Erdbebenstationen in Durlach und Freiburg sich
ganz besondere Verdienste um die Forschungstätigkeit des Vereins
erworben hat. Er war 1853 in Speyer geboren, wo er auch im
66ten Lebensjahre verstarb, heimgesucht von einer langwierigen
Krankheit, die ihn seit 1917 an der Ausübung seines Berufes
hinderte. Nach Ablegung der Staatsprüfung im Bauingenieurfach
war er zunächst als Assistent und Privatdozent tätig, wurde dann
1S82 als außerordentlicher Professor der Geodäsie an unsere
Hochschule berufen und 1894 zum Ordinarius und Direktor des
geodätischen Instituts ernannt. Im folgenden Jahre wurde er
weiter Mitglied des Obereichungsamts und 1900 außerordentliches
Mitglied der Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaues. Zwei¬
mal, nämlich 1894/9,5 und 1901/02 bekleidete er das Amt des
Rektors und längere Zeit war er amtlich in Griechenland mit
Neuordnung der dortigen Grundbuchverhältnisse beschäftigt. Seine
wissenschaftlichen Arbeiten bezogen sich außer auf Geodäsie auf
Erforschung der Intensität der Schwerkraft mittels des Pendels,
um auf diesem Wege Massendefekte im Innern der Erdkruste
aufzufinden, auf die Änderungen der Richtung der Erdachse und
zuletzt auf die Fortpflanzung von Erdbeben wellen, um auf diesem
Wege nähere Auskunft über das Innere der Erde zu erhalten.
Herr Professor Dr. M. Henglein hielt sodann einen Vortrag
über »Die Geologie der deutschen Kohlenlager- mit
Lichtbildern.
827. Sitzung auf Einladung des Oberrh. Elektrotechnischen
Vereins zum Vortrag des Herrn Professor Dr.H. Hausrath über
Die Elektronenröhren und ihre Verwendung in der
Fernmeldetechnik« am 30. Januar 8 Uhr im großen Hörsaal
des elektrotechnischen Instituts der Technischen Hochschule.
828. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirksvereins
deutscher Ingenieure zum Vortrag des Herrn Dipl.-Ing.L.’ Zipper er
über »Technische Durchbildung der starren Luftschiffe«
am 2. Februar im großen Hörsaal der Maschinenbauabteilung der
Technischen Hochschule.
Sitzungsberichte.
l6*
82g. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirks Vereins
deutscher Ingenieure zum Vortrag des Herrn Professor Dr.-Ing.
Schwaiger über »Hochspannungsisolatoren« am 19.Februar
8 Uhr .im großen Hörsaal des elektrotechnischen Instituts der
Technischen Hochschule.
830. Sitzung auf Einladung desselben Vereins zum Vortrag
des Herrn Maschineninspektor Th. Haas über »Technische
Leistungen der Eisenbahntruppen im Weltkriege« mit
Lichtbildern am 4. März 8 Uhr im großen Hörsaal des chemisch¬
technischen Instituts der Technischen Hochschule.
831. Sitzung auf Einladung desselben Vereins zum Vortrag
des Herrn Oberingenieur Sieber über »Neuerungen an
Kältemaschinen« mit Lichtbildern am 26. März 8 Ubr im
gleichen Hörsaal.
832. Sitzung auf Einladung desselben Vereins zum Vortrag
des Herrn Gewerbeinspektor Emele über »Die technische
Messe in Leipzig« am 15. April 8 Uhr ebenfalls im gleichen
Hörsaal.
833. Sitzung auf Einladung des Oberrh. Elektrotechnischen
Vereins zum Vortrag des Herrn Dipl.-Ing. E. Besag Über
den neuesten Stand der Überstromschutzfrage in
Überlandanlagen mit Vorführung von Apparaten, Modellen
und Bildern am 30. April 8 Uhr im großen Hörsaal des elektro¬
technischen Instituts der Technischen Hochschule.
834. Sitzung auf Einladung des Badischen Architekten- und
Ingenieurvereins zum Vortrag des Herrn Dr.-Ing. Gab er über
»Wiederaufbau unseres Wirtschaftslebens durch
Selbsthilfe« vom 3. Mai 8 Uhr im Hörsal für Geologie der
Technischen Hochschule.
835. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirks Vereins
deutscher Ingenieure zum Vortrag des Herrn Oberbauinspektor
Schüler über »Murgwerk, erster Ausbau und Betrieb
mit Lichtbildern am 6. Mai 8 Uhr im großen Hörsaal der
Masehinenbauabteilung der Technischen Hochschule. Daran an¬
schließend fand am Samstag den 8. Mai eine Besichtigung des
Murgwerks unter Führung der Herrn Oberbauinspektor Schüler
und Professor Eberle statt.
Sitzungsberichte.
17 *
836. Sitzung am 18. Juni im geologischen Hörsaal der Tech¬
nischen Hochschule 8 Uhr abends. Der Vorsitzende O. Lehmann
brachte zunächst den schweren Verlust in Erinnerung, den der
Verein seit seiner letzten Sitzung durch den Tod seines Ehren¬
mitgliedes des Wirklichen Geheimen Rates Dr. Ernst Wagner
erlitten hat. Er führte etwa folgendes aus: Die älteren Mitglieder
unseres Vereins werden in guter Erinnerung haben, wie häufig
der Verstorbene an unseren Sitzungen teilnahm und mit welchem
Interesse er sich bei wissenschaftlichen Diskussionen beteiligte.
Er war am 5. April 1832 als Sohn des Stadtpfarrers und Direktors
der Kgl. württembergischen Taubstummen- und Blindenanstalt
in Schwäbisch-Gmünd, Hermann Wagner, geboren. Nachdem er
das Stuttgarter Gymnasium besucht hatte, bezog er die Universität
Tübingen zum Studium der Theologie, Philologie und der Natur¬
wissenschaften. Im Jahre 1858 erwarb er sich den Dr/phil. mit
Auszeichnung, den die Universität Tübingen im Jahre 1906 er¬
neuerte. Von 1857 bis 1860 wirkte er als I.ehrer am theologischen
Seminar in Schönthal und begab sich sodann zur Erweiterung
seiner pädagogischen Kenntnisse nach England, wo er als Haus¬
lehrer eines Ministers wirkte und die Einrichtung der englischen
Schulen studierte. Die Ergebnisse dieser Studien stellte er dar
in den Schriften: »Das Volksschulwesen in Englands 1864 und
»Tom Brown’s Schuljahre« 1867. Von 1864 bis 1875 war er als
Leiter der Friedrichs-Prinzenschule tätig und als Erzieher
des Erbgroßherzogs bis zu dessen Volljährigkeit. Sodann
wurde er als ordentliches Mitglied in den Oberschulrat berufen
mit dem Titel Geh. Hofrat und zugleich zum Konservator der
vaterländischen Altertümer ernannt. 1882 wurde er auch Kon¬
servator der Baudenkmale und im folgenden Jahre Mitglied der
Badischen historischen Kommission, iqr 1 erfolgte seine Ernennung
zum Direktor der vereinigten Sammlungen. Unter seinen zahl¬
reichen Schriften sind besonders zu erwähnen: »Hügelgräber und
Urnenfriedhöfe in Baden mit besonderer Berücksichtigung ihrer
Tongefäße« und »Fundstücke und Funde aus vorgeschichtlicher
römischer und alemannisch-fränkischer Zeit in Baden«. 39 Jahre
hindurch war er das eifrigste Mitglied des von ihm gegründeten
blühenden Karlsruher Geschichts- und Altertumsvereins, Jahrzehnte
lang war er ferner Mitglied des Verwaltungsrats des Germanischen
Nationalmuseums in Nürnberg und des Römisch-Germanischen
Zentralmuseums in Mainz.
Sitzungsberichte.
I 8 *
Die Vielseitigkeit seiner Tätigkeit beeinträchtigte nicht im
mindesten die Heiterkeit seines Wesens und seine Liebenswürdig¬
keit im Verkehr. Gestützt durch ein ausgezeichnetes Gedächtnis,
durch Geschick in Behandlung der Menschen, durch Schlag¬
fertigkeit und Veranlagung für Witz und Scherz, wußte er in
allen Lagen sich zurechtzufinden und zahlreiche Freunde und
Verehrer zu gewinnen. Er machte den Eindruck einer durchaus
harmonischen Erscheinung und zählte zu den hervorragendsten
und angesehensten Karlsruher Persönlichkeiten. Ein Schlaganfall
am 7. März kurz vor seinem 89. Geburtstag machte seiner
reichen Tätigkeit ein rasches Ende, obschon er bis zuletzt seine
Rüstigkeit und Geistesfrische bewahrt hatte.
Hierauf hielt Herr Professor Dr. M. A u e r b a c h einen Vortrag
über Die neue Anstalt für Bodenseeforschung der
Stadt Konstanz .
837. Sitzung auf Einladung des Oberrh. Elektrotechnischen
Vereins zum Vortrag des Herrn Obermaschineninspektors
Beutler über »Das Fernsprechselbstanschlußamt der
Eisenbahngeneraldirektion« am Mittwoch den 30. Juni
abends 8 Uhr im großen Hörsaal des elektrotechnischen Instituts
der Technischen Hochschule. Daran anschließend fand am
Donnerstag den 1. Juli nachmittags 3 Uhr eine Besichtigung
dieser Anlage unter Führung des Herrn Beutler statt.
838. Sitzung. Haupt - Mitgliederversammlung im
großen Hörsaal der Maschinenbauabteilung der Technischen Hoch¬
schule am 9. Juli 8 Uhr abends. Der Vorsitzende O. Lehmann
berichtete bezüglich der Mitgliederbewegung: Durch Ab¬
leben verlor der Verein im verflossenen Vereinsjahr die Herren
E. Dolletscheck, E. Gau, E. Diemer, M. Haid, E. Wagner; aus¬
getreten sind die Herren E. Rebmann, K. Fajans, K. Ens, E. Köhler.
11 . W. Clauß, I.. Graebener, v. Babo, v. Bezold, H. Hausrath, M.
Helbig, K. Schultz, W. Steinkopf; eingetreten sind die Herren
A. Peppier, K. Schmidt, II. Gramer, Lauterborn, W. Schachen¬
meier, M. Länger, H. Rott, 11 . Franke, E. Ungerer, W. Gaede.
Zum Vorstand wurden weiter zugezogen die Herren Auerbach
1 Schriftführer', Gramer, Mayer und Ungerer. An Stelle des ver¬
storbenen Herrn Gau hat Herr Bankdirektor Galette die Rech¬
nungsführung des Vereins übernommen.
Sitzungsberichte.
*9*
Bezüglich des Standes der Bibliothek berichtet Herr Bib¬
liotheksdirektor Dr. Schmidt: Das Katalogisieren, Binden und Ein¬
reihen der Werke des Naturwissenschaftlichen Vereins wurde auch
im verflossenen Jahre in befriedigender Weise fortgesetzt. Von
den der Bibliothek vom Ministerium für Einband des Bücher¬
bestandes des Vereins zur Verfügung gestellten außerordentlichen
Zuschüssen zum Bibliotheksaversum wurden bis zum März d. J.
verbraucht:
Der Rest aus dem Jahre 1917 . . . . M. 288.14
Der im Juli 1918 verwilligte Zuschuß . » 1000.—
Summe M. 1288.14
Außerdem wurden noch Mark S1.66 aus dem Avcrsum der
Bibliothek verausgabt. Im abgelaufenen Berichtsjahre wurden
etwa 50 Bände von Dozenten und Assistenten unserer Hochschule
benutzt. Neue Verluste wurden nicht festgestellt.
Bezüglich der Erdbebenstationen wurde durch Erlaß
des Ministeriums des Kultus und Unterrichts vom 16. Februar 1920
Nr. A 2286 mitgeteilt: »Von den im Staatsvoranschlag für 1918/19
unter III Titel IV A, § 12 Ziffer 20 vorgesehenen Mitteln für die
Erdbebenforschung ist zur Bestreitung der Kosten des Betriebs
der beiden Erdbebenstationen für Rechnung des Naturwissen¬
schaftlichen Vereins in Karlsruhe der Betrag von 2000 M. an
die Verrechnung der Technischen Hochschule zur Verfügung
des Herrn Prof. Dr. Näbauer zu zahlen und unter R. A.II U. A.
164, Ziffer 20 (Erdbebenforschung) zu buchen.« Weiter wird
mitgeteilt: »Wir genehmigen die Anweisung der beantragten ein¬
maligen Vergütungen von je 250 M. an die Geometer Merkel
und Herrmann für ihre Mitwirkung bei der Wiedereinrichtung
der Station Durlach sowie die Verwilligung einer monatlichen
Vergütung von 50 M. an den Assistenten des geodätischen In¬
stituts Geometer Merkel für die Bedienung der Station Durlach
mit Wirkung vom 1. Januar d. J. ab auf den oben bewilligten
Zuschuß.« Die Übernahme der auf 950 M. veranschlagten Kosten
der elektrischen Beleuchtungsanlage in der Station Durlach auf
obigen Zuschuß wird ebenfalls genehmigt. ... Im Staatsvoranschlag
für 1920 haben wir für die Erdbebenforschung den Betrag von
3000 M. vorgesehen.
Bezüglich des Drucks des 27. Bandes der Verhandlungen
des Vereins wurde beschlossen, dem Anträge des Vorstandes
Sitzungsberichte.
20 *
gemäß außer der bereits gesetzten kleinen Abhandlung des
Herrn Geh. Oberregierungsrats Dr. Groos, »Die deutsche
Siedlung Tovar in Venezuela« auch die Abhandlung des
Herrn Professors Dr. Schachenmeier, welche er als Habili¬
tationsschrift einreichte, aufzunehmen, vorbehaltlich Regelung des
Kostenpunkts.
Hierauf hielt Herr Professor F. Schmidt einen Vortrag
über »Farbenphotographie« mit Lichtbildern.
839. Sitzung auf Einladung der Karlsruher chemischen Ge¬
sellschaft am Freitag den 16. Juli im großen Hörsaal des chemischen
Instituts, 5—7 Uhr und Fortsetzung 87 z Uhr abends. Herr Pro¬
fessor Dr. Trautz aus Heidelberg hielt einen Vortrag über
Das Wesen der chemischen Reaktion«.
840. Sitzung auf Einladung des Karlsruher Bezirks Vereins
deutscher Ingenieure zum Lichtbildervortrag des Herrn Direktors
Seitz über »Die maschinellen Einrichtungen des Karls¬
ruher Rheinhafens« am Donnerstag den 21. Oktober abends
S Uhr im großen Maschinenbausaal der Technischen Hochschule
mit nachfolgender Besichtigung des Karlsruher Rheinhafens am
Samstag den 23. Oktober z l j 2 Uhr.
841. Sitzung. Außerordentliche Hauptmi tglieder-
versammlung am Freitag den 29. Oktober abends 8 1 ] 2 Uhr
im geologischen Hörsaal der Technischen Hochschule. Tages¬
ordnung: Neuwahl des Vorstandes. Der Vorsitzende O. Leh¬
mann erstattete folgenden Bericht:
Satzungsgemäß ist alle zwei Jahre eine Neuwahl des Vor¬
standes vorzunehmen, und nach der Vorschrift für eingetragene
Vereine muß die Neuwahl des Vorsitzenden dem hiesigen Amts¬
gericht zur Eintragung in das Vereinsregister alsbald mitgeteilt
werden. Da die letzte Wahl vor 1 1 / 2 Jahren stattgefunden hat,
hätten wir zur Vornahme der Neuwahl noch 1 j 2 Jahr Zeit, bis
gegen Schluß des Sommersemesters. Ich habe aber den Vorstand
gebeten, die Wa:il schon auf heute anzuberaumen, da ich mich
außerstande fühle, das Amt des Vorsitzenden, welches ich seit
nunmehr 10 Jahren innehabe, weiterhin beizubehalten.
Bei Besprechung der Angelegenheit im Vorstand wurde be¬
züglich dieser Wahl betont, man sollte von der bisherigen Ge-
pfl ogenheit einen Hochschullehrer zu wählen — die bisherigen
Sitzungsberichte.
2 I *
Vorsitzenden waren: Eisenlohr, Grashof, Wiener, Engler, Leh¬
mann — abgehen, in Anbetracht, daß diese nur etwa ein Viertel
der ganzen Mitgliederzahl ausmachen (allerdings einen weit
größeren Bruchteil der Vortragenden) auch aus dem anderen
Grunde, weil sich die Hochschullehrer mit steigender Entwicklung
der Wissenschaft immer mehr spezialisieren, während wünschens¬
wert ist, die Leitung des Vereins in eine Hand zu legen, die mit
den verschiedensten Kreisen Fühlung hat, um Vortragende aus
diesen heranzuziehen und eine gleichmäßige Tätigkeit des Vereins
auf allen Gebieten der Naturwissenschaften in Fluß zu bringen.
In solcher Hinsicht kämen vor allem Herren von der Mittel¬
schule in Betracht und schon bei meiner Wahl mag dieser Ge¬
sichtspunkt wesentlich mitgewirkt haben, da ich in früherer Zeit
7 Jahre als Lehrer einer Mittelschule beschäftigt gewesen war in
gleicher Weise auf den Gebieten der Mathematik und Physik
wie auf den der Chemie und Biologie, Geologie und Geographie.
So kam der Vorstand zu dem Beschlüsse, Ihnen vorzuschlagen, als
neuen Vorsitzenden Herrn Direktor Rob. Burger am Humboldt-
Real-Gymnasium zu wählen, welcher seit langen Jahren in Karls¬
ruhe tätig und eifriges Mitglied unseres Vereins ist. Eine Ver¬
größerung des Vorstandes ist durch seine Wahl nicht bedingt,
da gleichzeitig Herr Prof. Dr. Peppier, welcher zu sehr durch die
Einrichtung des neuen meteorologischen Instituts in Anspruch
genommen ist, auf seinen Wunsch ausscheidet.
Da keine Gegenvorschläge gemacht wurden, erfolgte die
Wahl des Herrn Direktor Burger einstimmig durch Akklamation
und der bisherige Vorsitzende führte ihn sofort in sein Amt ein.
Die Neuwahl des Vorstandes führte zur Wiederwahl der bis¬
herigen Mitglieder und folgender Verteilung der Ämter:
i. Vorsitzender Direktor Robert Burger. 2. Vorsitzender
Geh. Hofrat Professor Dr. L. Klein. 1. Schriftführer Professor Dr.
M. Auerbach. 2. Schriftführer Augenarzt Dr. R. Spuler. Rechner
Bankdirektor A. Galette. Geh. Rat Professor Dr. H. Bunte.
Direktor Professor Dr. H. Cramer. Geh. Hofrat Dr. Doll. Wirkl.
Geh. Rat Dr. C. Engler. Geh. Rat Professor Dr. O. Lehmann.
Direktor Professor Dr. P. Mayer. Professor Dr. W. Paulcke.
Privatdozent Dr. E. Ungerer.
Hierauf hielt Herr Geh. Hofrat Prof. Dr. I.. Klein einen
Vortrag über »Giftpilze, Pilzgifte und Pilzvergiftungen«
Sitzungsberichte.
22 *
unter Vorführung zahlreicher Lichtbilder, direkt nach der Natur
photographierter Pilze möglichst naturgetreu koloriert.
842. Sitzung, Freitag, 12. November, abends 8 l / 2 Uhr im
»Krokodil«. Vortrag von Herrn Prof. Paul Mayer: »Einsteins
Relativitätslehre I. Längen- und Zeitmessung nach
Newton und Einstein .
843. Sitzung, Freitag, 26 . November, abends 8 Uhr im »Krokodih.
Vortrag von Herrn Prof. Paul Mayer: »Einsteins R e 1 a t i v i -
tätslehre II. Physikalische Grundlagen und Folge¬
rungen des Einstein-Prinzips«.
844 Sitzung, Freitag, 10. Dezember, abends 8‘/ 2 Uhr im Hör¬
saal des chemisch-technischen Instituts der Technischen Hoch¬
schule. Vortrag von Prof. Dr. Eitner: Über die Veredelung
von Kohle«.
1921.
845. Sitzung, Freitag, 21. Januar, abends 8'/ 2 Uhr im Krokodil«.
Vortrag von Prof. Dr. Göhringer: »Geologisch-historische
Entwicklung der Donau und des Neckars«.
846. Sitzung, Freitag, 4. Februar, abends 8 1 /, Uhr im »Krokodil«.
Vortrag von Prof. Dr. Auerbach: »Hydrographisches und Bio¬
logisches aus dem Bodensee«.
847. Sitzung, Freitag, 18. Februar, abends 8*/ 2 Uhr im »Krokodil«.
Referat von Prof. Dr. Henglein: Über die Wünschelrute
mit anschließender Aussprache.
848. Sitzung, Freitag, 4. März, abends S ‘/ 2 Uhr im »Krokodih.
Vortrag von Herrn Dr. Frentzen: »Der Keuper Badens und
seine fossile Flora«.
849. Sitzung, Freitag. 29. April, abends <S Uhr im Krokodil«.
Ordentliche Hauptversammlung.
Anwesend 29 Mitglieder, 8 Gäste.
Nach Verlesen des Protokolls der letzten außerordentlichen
Hauptversammlung, desjenigen der 848. Sitzung und der Vor¬
standssitzung vom 5. November 1920 durch den 1. Schriftführer
und nach Genehmigung derselben, tritt der 1. Vorsitzende in die
Tagesordnung ein.
Sitzungsberichte.
Es erfolgt zunächst der Jahresbericht, aus dem hervorgeht,
daß seit der letzten außerordentlichen Hauptversammlung 9
Sitzungen mit 9 Vorträgen und eine außerordentliche Hauptver¬
sammlung und 3 Vorstandssitzungen abgehalten wurden.
Der Stand der Mitglieder beträgt am 29. April 1921 in
Karlsruhe 175, Auswärtige 19.
Im Laufe des Jahres 1920 starben 2 Mitglieder: Medizinalrat
Gustav Döll und Geheimer Oberforstrat Xaver Siefert, zu deren
Ehrung und Andenken sich die Anwesenden von ihren Sitzen
erhoben.
Ausgetreten sind 11 Mitglieder, dafür wurden 24 neuaufge-
nommen, so daß ein Zuwachs von 11 Mitgliedern zu verzeichnen ist.
Hierauf wurden die Berichte über die Erdbebenwarten und
den Stand der Kasse verlesen. (Im Anschluß an unsere Mit¬
teilungen geben wir als Anhang je einen Bericht über die »Rech¬
nungsführung für die Jahre 1915—1921« und «Über den
Betrieb der seismischen Stationen Durlach und Freiburg
für die Zeit von August 1914 bis März 1921)
Die Kasse wurde von Herrn Dr. Spuler geprüft und richtig
gefunden, darauf wird dem Kassier Entlastung erteilt.
Der Vorschlag, den Mitgliederbeitrag von 6 Mark auf 12
Mark zu erhöhen, wird einstimmig angenommen; ebenso der
Vorschlag, die jetzt fertig vorliegenden Bogen der »Verhandlungen
abzuschließen und zu veröffentlichen.
Auf Antrag des Vorstandes werden die Herren: Geheimer
Rat Professor Dr. Bunte und Geheimer Rat Professor Dr. Leh¬
mann einstimmig zu Ehrenmitgliedern ernannt.
Nach Schluß des geschäftlichen Teils ergreift der 1 Vor¬
sitzende das Wort zu seinem Vortrag: »Sc hulfragen von heute«.
Rechnungsführung.
24*
Rechnungsführung
für die Jahre 1915—1921.
Einnahmen:
Kassen Vorrat.
M.
5 656.75
Mitgliederbeiträge 1915/21 . . . .
Beiträge des Ministeriums des Kultus
»
5 524 - 4 °
und des Unterrichts für 1916/20 .
Beiträge zu den Kosten des Vortrags
1 500.—
des Herrn Geh. Rat Lummer 1915/17
Anteil des Herrn Dr. Schachenmeier
>>
185.--
an den Druckkosten des Bandes der
»Verhandlungen«.
699.IO
Verkaufte Drucksachen usw. 1915/17
»
5»-25
Verloste Wertpapiere 1915/21 . . .
»
6 297 - 5 °
Zinsen aus Wertpapieren 1915/21
»
6 96S.85
Zinsen aus Konto-Korrent 1915/21 .
616.82
M.
27 499-67
Ausgaben
Drucksachen, Gebühren, Porti 1915/21
M.
2 442.9 1
Verhandlung, u. Sonderdrucke 1915/21
3 370-5 *
Gekaufte Wertpapiere 1915/21 . . .
12 795.90
Vortragskosten 1915/18.
X>
455 - 5 °
Kriegsspenden 1915/18.
Erbschaftssteuer für das Vermächtnis
»
300.—
des Herrn Gustav Wagner, Achern
667.—
Gekaufter Vervielfältigungsapparat .
»
393.85
M. 20433.07
Kassenrest am 9. April 1921 . .
.
M.
7 066.—
Das Vermögen beträgt am 9. April 1921:
in Wertpapieren ....
M. 32 686.20
in bar.
»
7 066.—
M.
39752.20
Das Vermögen betrug am 10. Dezember 1915
24 001.80
mithin Zunahme . .
M.
15 75° 4°
Der verstorbene Herr Gustav Wagner in Achern wandte
dem Verein ein Vermächtnis in festverzinslichen Wertpapieren
im Betrage von M. 12 000 zu. Infolgedessen hat sich das Vereins-
Vermögen erhöht.
Bericht
über den Betrieb der seismischen Stationen Durlach und Freiburg
für die Zeit von August 1914 bis März 1921.
Gleich zu Beginn des Krieges entstanden durch die Heran¬
ziehung des Bedienungspersonals zum Heeresdienste Unregel¬
mäßigkeiten im Betriebe der Station Durlach, die späterhin
teilweise wieder behoben werden konnten. Für die Jahre
1914—1916 liegen daher nur lückenhafte Registrierungen der
Heckerschen Horizontalpendel vor. Im Jahre 1917 veranlaßte
der Naturwissenschafdiche Verein zu Karlsruhe den vollständigen
Abbau der unterirdischen Station, da es infolge Personenmangels
und der bestehenden örtlichen Schwierigkeiten nicht möglich war,
die Pendel dauernd und befriedigend in Tätigkeit zu halten und
befürchtet werden mußte, daß die Instrumente bei weiterem Ver¬
bleib in dem sehr feuchten unterirdischen Raum ohne die
nötige Aufsicht notleiden würden.
Die im Sommer 1914 in Durlach aufgestellten großen
Mainkaschen bifilaren Kegelpendel lieferten gleichfalls nur bis
Ende 1916 Aufzeichnungen, die teilweise durch die besonderen
Zeitverhältnisse unterbrochen sind, aber auch für mehrere Beben
gute Ergebnisse zeigten. Von Januar 1917 ab mußten auch
diese Apparate ganz außer Betrieb gesetzt werden. Nach Kriegs¬
ende wurde zunächst für die Zeitübermittlung das Telephon
wieder eingeführt und die Uhr einer gründlichen Reinigung und
Reparatur unterzogen. Seit Ende 1919 sind die Instrumente
wieder dauernd in Tätigkeit. Die große Feuchtigkeit der Station
und die ungeschützte Aufstellung der Pendel bereitet aber einer
ununterbrochenen, zuverlässigen Registrierung Schwierigkeiten.
Aus finanziellen Gründen war es bis jetzt noch nicht möglich
zur Beseitigung dieser Mißstände die Grube, in welcher die
Apparate aufgestellt sind, durch einen gut isolierenden Verschlag
26* Bericht iilx*: den Hcirieh der seismischen Stationen Durlach und Kreiburg.
von der Umgebung abzuschließen. Das kleine Mainkasche Pendel
im Keller des Aulabaues der Technischen Hochschule
Karlsruhe, welches während des Krieges ebenfalls zeitweise
ganz still lag, wurde sofort nach Kriegsende wieder in Gang
gesetzt und ist seitdem fast ununterbrochen mit gutem Erfolg
in Betrieb. Der gesamte Zeitdienst (auch mit der Sternwarte
Heidelberg) wurde nach Vornahme kleinerer Reparaturen im
Frühjahr 191g wieder aufgenommen. Die in Durlach aufgestellte
Uhr wird wie früher allwöchentlich mit der Normaluhr des
Geodätischen Instituts in Karlsruhe auf telegraphischem Wege
verglichen.
Die seismische Station Frei bürg war fast ohne Unter¬
brechung bis August 1915 in Betrieb und lieferte ein gutes Be¬
obachtungsmaterial. Von genanntem Zeitpunkte ab mußte die
Station vollständig still gelegt werden, da der mit der Besorgung
der Station beauftragte Beamte zum Heeresdienst herangezogen
wurde und ein geeigneter Ersatz nicht zu beschaffen war. Im
Jahre 1917 machte die Kaiserliche Hauptstation für Erdbeben¬
forschung in Straßburg dem Naturwissenschaftlichen Verein zu
Karlsruhe den Vorschlag, die Heckerschen Pendel der Station
F'reiburg gegen eine neuere bessere Konstruktion umzutauschen.
Da hiermit der Naturwissenschaftliche Verein einverstanden war,
wurden im Februar 19iS die Instrumente abgebaut und nach
Straßburg geschickt.
Infolge der Ereignisse im Jahre igiS kam es nicht zu der
versprochenen Gegenleistung, und die Freiburger Pendel mußten
in Straßburg zurückgelassen werden. Die zur Wiedererlangung
der Instrumente unternommenen Schritte sind bis jetzt ohne Erfolg
geblieben. Sollte es nicht möglich sein, die Apparate wieder zu
erhalten, so ist beabsichtigt, die früher in Durlach befindlichen
Ilorizontalpendel in Freiburg aufzustellen, da sich hier der Be¬
obachtungsraum in jeder Hinsicht als günstig erwiesen hat.
Die deutsehe Siedelung Tovar in Venezuela
als Stützpunkt für botanische, meteorologische und klima-
tologisehe Forschungen und Beobachtungen.
Von Dr. W. Groos und Dr. Fr. Gautier.
Der Weltkrieg hat unsere Verbindungen mit Übersee bis
jetzt abgeschnitten oder doch wenigstens stark beschnitten; er
hat uns dagegen wieder Beziehungen mit Deutschen draußen
gebracht, welche die Fühlung mit Heimat und Vaterland all¬
mählich verloren hatten und hier beinahe verschollen waren. —
Unvergessen soll allen Volksgenossen über den Grenzen bleiben,
was sie in diesen schweren Tagen für unser Volk getan und
noch tun: Viele Tausende im waffenfähigen Alter, gleichviel, ob
noch im Besitz deutscher Staatsangehörigkeit oder nicht mehr,
trieb es unter den unglaublichsten Schwierigkeiten und Ge¬
fahren heim zur Verteidigung des teueren deutschen Bodens, und
viele Millionen steuerten die Deutschen draußen, die jenes nicht
konnten, für unsere Kriegshilfe und zur Aufklärung der öffent¬
lichen Meinung in den am Kriege nicht selbst beteiligten Ländern.
— Erst die Zukunft wird uns voll zeigen, wie weit- und tief¬
gehend unser Ringen gegen eine Welt in Waffen unter der Asche
glimmendes Feuer deutscher Vaterlandsliebe wieder angefacht
hat. — Ein Beispiel hier für viele! aus einem Lande, in dem
Deutsche nur in kleiner Zahl, dauernd nur in einer ganz abseits
im Urwald gelegenen bescheidenen Siedelung wohnen: die nur
12 —1500 Deutschen in Venezuela haben bis jetzt für das Vater¬
land über eine Viertelmillion Mark aufgebracht, darunter die geld¬
armen paar hundert Bauern der Kolonie Tovar rund 800 Mark neben
außerordentlichen Opfern für das Deutschtum der eigenen Ge¬
meinde. — Für dieses in der alten Heimat mich einsetzend, habe
ich mich der Erfahrung erfreuen dürfen, daß selbst ein so kleiner
Verhandlungen 27. B<1. 1
Di. \V. (iroos u. Di. Fr. GaiUicr
Splitter unseres Volkstums neben der allgemeinen seine beson¬
dere Bedeutung für uns haben kann, hier eint. 1 wissenschaftliche*,
und hierin seinerseits eine weitere Stütze zu seiner Erhaltung
finden wird, wenn wir daheim dazu mithelfen.
Die Siedelung ist 1843 auf einem von dem Venezolaner
Tovar-Ponte zur Verfügung gestellten Landstrich von einigen
70 Auswandererfamilien (mit rund 400 Köpfen) aus dem badi¬
schen Breisgau gegründet worden, die ein aus dortiger Gegend
stammender Kupferstecher des venezolanischen Kartographen.
Oberst Codazzi geworben hatte. — an den Quellen des Rio Tuy
in beinahe 2000 m Meereshöhe, in einem Hochtal am Südhang
des Küstengebirges, gegen 100 km westlich von der Hauptstadt
(aracas und 70 km nördlich von der Stadt La Victoria, an
welcher jetzt die von der Diskontogesellschaft in Berlin erbaute
Eisenbahn Caracas—Valencia vorbeiführt. Für die Breisgauer
Bauern war die Lage der Siedelung eine ungünstige, ungeeignet
wegen des feuchten Klimas sowohl für den Weinbau, wie für den
Weizen und selbst für Kartoffeln. Am meisten lohnt nun der Anbau
von Kaffee und Kakao, eine Haupteinnahmequellc für Venezuela.
Es hat viel Schweiß und Opfer, auch von Menschenleben ge¬
kostet, bis die Siedelung, welche viele schon bald wieder ver¬
lassen hatten, sich allmählich zu einem auskömmlichen Dasein
emporgearbeitet hat, mit nicht viel mehr Einwohnern, als zur
Zeit der Gründung. Die ganz vereinsamte deutsche Gemeinde
hat aber nicht nur Heimattreue gehalten in Wahrung ihrer ale¬
mannischen Sitte und Mundart, sondern auch, obwohl des alten
Staatsbürgerrechts verlustig, sich echt deutschen Geistes erwiesen,
gerade im jetzigen Weltkrieg durch die bei ihren Verhältnissen
nicht hoch genug anzuerkennende Sammlung für das deutsche
Kote Kreuz und durch Errichtung einer deutschen Schule, die
ihr bis dahin gefehlt hatte. Schon früher war auf eine solche
als Llauptmittcl zur Erhaltung des Deutschtums hingewiesen
worden, von einem deutschen Xaturwissenschafter. dem Konser¬
vator des Botanischen Museums, Brof. Dr. Goebel in München,
wie zuvor von den Vertretern des Deutschen Reiches in ('aracas
-- wobei ersterer einen deutschen Lehrer gewünscht hatte, der
auch einigermaßen naturwissenschaftlich geschult sei. Was da¬
mals den Bemühungen der badischen Unterrichtsvorwaltung und
des Landesverbandes Baden des Vereins für das Deutschtum im
Die deutsche Sicdcluiij' i<»\ar in Venezuela
Ausland nicht gelungen war — der Lehrer muß alemannisch
und auch spanisch verstehen —, heute ist es gerade durch den
Weltkrieg Tatsache geworden: Lehrer Eugen G all er von der
deutschen Schule in Caracas. Oberelsässer und selbst alemannisch
sprechend, übernimmt die neue deutsche Schule in Tovar, durch
welche die allmählich aussterbende Kenntnis der hochdeutschen
Gemeinsprache den Nachkommen der Auswanderer wieder ver¬
mittelt werden wird, und wenn auch vielleicht nicht naturwissen¬
schaftlich gerade besonders geschult, wird er und der von den
Engländern aus Trinidad ausgewiesene Pfarrer Busert, ein Rhein¬
länder, für botanische Bezüge und Forschungen, vielleicht auch
für sonstige wissenschaftliche Beobachtungen doch wenigstens
den Anknüpfungspunkt bieten, welchen ein im allgemeinen ge¬
bildeter Mann für solche und ähnliche Zwecke geben kann.
Dr. Goebel, welcher 1800/91 eine wissenschaftliche Reise
durch Venezuela und Britisch-Guayana gemacht und u. a. auch für
den Botanischen Garten und das Botanische Museum in Karls¬
ruhe tropische Pflanzen und Sämereien, von Tovar im beson¬
deren seltene Farne» mitgebracht hatte, hat in einem Beibericht
auf letzteres besonders abgehoben:
»Tovar liegt an einem für Vermehrung naturwissen¬
schaftlicher Sammlungen außerordentlich günstig
gelogenen Punkte der venezolanischen Küstcnkordillere.
Die botanischen Gärten und Sammlungen können von dort
aus mit geringen Kosten sehr bereichert werden. Unter¬
zeichneter hat auf seinen Reisen in Indien, Java, Süd¬
amerika, Australien, Neuseeland kaum einen anderen Ort
kennen gelernt, der für einen naturwissenschaftlirhen
Sammler so günstige Aussichten bietet, wie Tovar.«
Zu der Frage aber, ob diese deutsche Siedelung nicht als
von vornherein wegen dos Klimas und der Tage unter den Tropen
verfehlt und deshalb als aussichtslos für alle Zeit betrachtet wer¬
den müsse, gibt der nachstehende, auf Krsuchen mir entgegen¬
kommend erstattete Bericht eines Fachmannes, Dr. Gautier —
auch eines Landsmannes der Tovarer den Xichtfachmann
überraschende und den Deutschen erfreuende Aufschlüsse.
Dr. \V. (i roos- Karlsruhe.
Di. \Y. Groos u. Di. Fr. Gauticr
[
Die Lage der Kolonie Tovar an den oberen Hängen eines
Hochtals unmittelbar unter der Nordkette des Karibischen Ge¬
birges 1 , wo sich dasselbe zu Höhen von 2000 -2500 m empor¬
türmt, hat schon frühe die Aufmerksamkeit von Meteorologen auf
sich gezogen, zumal Höhenstationen in weiterer Umgebung nicht
vorhanden waren. Zwar ist die Lage der Beobachtungsstelle
dort nicht genau bekannt und nur nach barometrischen Messungen
eine ungefähre Höhe zwischen iyoo und 2050 m festzustellen*,
auch sind die Beobachtungen etwas dürftig, da sie wenigen und
dazu älteren Jahrgängen entstammen, doch sind die meisten
Angaben — nach dem Urteil von Fachmännern — vertrauens¬
würdig. Bereits 1844 fanden wissenschaftliche Aufzeichnungen
statt a , 1854 und 1855 und fortlaufend von 1856—58 beobachtete
der Amerikaner Fendi er, der sich zu Studienzwecken mehrere
Jahre in der Kolonie aufhielt; neuere Daten finden sich in Hann's
Klimatologie.
Auf Grund dieser Beobachtungen nimmt Hann eine jähr¬
liche Mittelwärme von 14,4' C für Tovar an, von der sich
auch die monatlichen Mittelwerte nur wenig entfernen (Januar
J2,7°, April und September 15,1°). Die tägliche Temperatur¬
schwankung ist im Jahresdurchschnitt folgende:
Jahresmittel
April
Januar
Morgens 7 11
1 3*5
14,6°
I I, 2 C
Mittags 2 11
1 7 * 3 “
1 S, 5 °
i 6 , 3 c
Abends o 1 '
1 20
1 4 - 1 °
1 1.2-
1 Fendi er beschreibt sie in dem Annual Report of ihe buard of Regents oi
the Smithsonian Institution for the year 1857, Washington : The colony is surroundet
I>v mountains ridges, crowned by several pc.iks (S. 180).
" Nach Fcndler 0500 engl. Fuß, nach Kuntzc, Thai und, Met. Zeiischriil.
Jahrg. 1894, S. 150ff. 1914 m, nach Hann. Handb. d. Klimatologie, 2040 m. Geogr-
l'rrite: 10 2o\ \\e>il. Lange 07 20'.
Hohiin Ae- li t l\*\.u. s. p p\ w .du'•elu inlu h >on eim-m D« -tuschen.
Die deutsche Siedelung l'ovar in Venezuela
Dieselbe entspricht etwa der eines bald mehr kühlen, bald
mehr schwülen Maitages unserer oberrheinischen Tiefebene,
wie überhaupt die Witterung in der Kolonie mit der eines etwas
feuchten, verregneten Maimonats in Deutschland am besten
zu vergleichen wäre.
Für die bedeutende Höhenlage (Gipfellage) der Kolonie ist
das Klima auffallend kühl; der Ort an der Grenze der sogenann¬
ten tierra templada -des gemäßigten Landes« und der tierra
fria, »des kalten Landes«, gelegen, ist im Vergleich mit Beob¬
achtungsstationen wie Quezaltenango 1 in Guatemala und Bogota
in Bolivien entschieden unternormal warm. Die genannten
Orte haben etwa die gleiche Mitteltemperatur, liegen aber je
300 und 600 m höher. Für einen unter den Tropen gelegenen
Ort bedeutet aber dieser Wärmemangel, sobald es sich um eine
Ansiedlung von Europäern handelt, eher einen Vorzug.
Um uns ein Bild des Witterungsverlaufs innerhalb eines
klimatischen Jahres vorzuführen, tun wir am besten, den Schil¬
derungen Humboldt’s, der sozusagen als erster neuzeitlicher
Gelehrter die benachbarten Gegenden bereist hat, zu folgen.
Zur Zeit unseres deutschen Winters herrscht in Tovar die
trockene Jahreszeit mit vielen heiteren Tagen, die nur zur
Mittagszeit stärkere Bewölkung und zeitweisen Niederschlag auf¬
weisen. Die Regenmenge ist meistens gering, die Zahl der Tage
mit Regenfall erreicht nur selten die Hälfte derjenigen in der
Regenzeit. Bis in den März hinein bleibt der Charakter der
Witterung so ziemlich derselbe, die mittlere Wärme nimmt lang¬
sam etwas zu, die Morgen sind meist frisch (selten unter io°)'-\
die Mittage mäßig warm (Maximum ca. 25 °). Mit der zu¬
nehmenden Jahreszeit beschreibt aber die Sonne steilere und
immer steilere Bögen und erreicht schließlich um Mitte
April den Zenitstand. Damit ist in den Tropen der Beginn
der Regenzeit angekündigt. Allmählich wird das vordem
so klare Himmelsblau gedämpfter, eine Dunstschicht scheint
die oberen Lufträume zu erfüllen, ein stärkeres nächtliches
Flimmern der Sterne deutet auf zunehmende Feuchtigkeit in
diesen Sphären. Immer mächtigere Wolkenmassen türmen sich
1 E. Lottermoser: Die Ergebnisse der Temperaturbeobachtungen m Salvador
uml Süd-Guatemala. Hamburg 1909.
Xui l iumal, Winter 1855 50, wuulc in Tovar, nach l rndkr, R» if beolmchirt.
I)r. W\ (tiih» u. L>i. Kr. (lautier
fi
an den südlichen Gebirgsketten auf, lagern in den benachbarten
Hochtälern, bis endlich meist um die Wende von April zu Mai
unter gelegentlichen Gewittererscheinungen die ersten schweren
Tropenregen der nassen Jahreshälfte niedergehen. Aber die nun
kommende Jahreszeit stellt durchaus nicht eine fortdauernde
Regenperiode dar; vielmehr treten des öftern klare Morgen und
Abende, auch völlig regenfreie Abschnitte auf, und etwa um die
Mitte des Sommers stellt sich als sog. veranito di San Juan
(‘ine Reihe von schöneren Tagen ein. die allerdings keine regel¬
mäßige Erscheinung ist. Im September und Oktober steigert
sich nach dem abermaligen Zenitstande der Sonne die Xieder-
schlagstätigkeit wieder. bis dann im November, in manchen Jahren
auch erst auf Jahresschluß, die kürzere schöne Periode ihren An¬
fang nimmt.
Wie Hettner 1 ausführt, ist das Klima in den nördlichen Aus¬
läufern der Kordilleren auch noch gekennzeichnet durch den Wech¬
sel von Tal- und Bergwinden, von denen erstere die feuchte Luft
des Tieflands in höhere Schichten bringen und damit die Konden¬
sation der großen in ihr enthaltenen Mengen Wasserdampfes her¬
beiführen. Auf diese Weise kommt es zu örtlicher Wolken¬
bildung, Nebeln und Niederschlägen, die meist in der Form von
Rieselregen Paramitos - fallen, im Tieflande aber fast fehlen.
Die schon an und für sich bedeutenden Niederschlags¬
mengen werden hierdurch noch erhöht. Nach Pendler ist die
Zahl der Tage mit Niederschlag (Ergebnisse von 2 Jahren) in
ihrer Verteilung auf die trockene und nasse Jahreszeit folgende:
Regenmenge 1
Kotnntai»e
in nun **
Feuchtigkeit
in 0
Bewölkung
(icwilto . *
in Zehnt ein < irr
im Monat
HunnioMlachi-
Trockenzeit .
November—April
iS 50 0“
I 5.0
Regenzeit . .
IO jo inj
SS
3 7 * 2
Mai—< Oktober
Summe: isö Regentage im Jahr.
1 11 dl not, I)i< Korüilloio v«»n Bo^mü. in iVtei mann«* Miteii^. is«j.\ SuncUi-
Koti Nr. 104 .
- ITc11 ih 1 . S. ~ 2 .
Beobachtung n von iS|j. Bolctin d< l.i < ol»»nia T<*s.u. Nr.
S. |i p.
Nom 1. Januar
Die deutsche Siedelung Tmar in Veno/wla
Die Menge des Niederschlags ebenso wie seine Ver¬
teilung über das Jahr wechselt übrigens außerordentlich;
während einige Reisende* die trockene Jahreszeit von Anfang
November bis Ende April zählen, rechnet Fendi er noch die
Monate November und Dezember zur Regenzeit. Außerordent¬
liche Regenmengen und eine Ausdehnung der Regenperiode
über fast die ganze trockene Zeit beobachtete Sievers auf seinen
Reisen in den Jahren 1892—93 \
Entsprechend der Häufigkeit von Niederschlägen und Nebeln
ist auch die durchschnittliche Größe der Bewölkung eine recht
bedeutende; auf ziemlich klare Morgen folgen meist neblige oder
trübe Mittage, während es gegen Abend wieder aufhellt 2 . Die
beigegebene Tabelle zeigt den täglichen Verlauf der Bewölkung
und des Niederschlags:
Bewölkung in Zehnteln
der Himmelsflache
Dauer des Regen falls
in Stunden im Jahr:
Morgens 7 h 54
Mittags 1 11 s.2
Abends </’ 14
•4
von
7- ■«"
morgens
b<>
von
2 - 3 h
mittags
4
von
0 - 1 ( V'
abends
Im Vergleich mit den benachbarten Gebieten ist die Ge¬
witterhäufigkeit eine geringe 1 .
Von einiger Bedeutung sind unter den übrigen klimatischen
Faktoren nur noch die Winde, die in der Kolonie höchstens in
mäßiger Stärke auftreten und vielfach lokalen Charakter tragen
( Berg- und Talwindei.
Im allgemeinen steht die Gegend ebenso wie die angrenzen¬
den Landesteile unter dem ständigen Einfluß der östlichen Passat¬
strömung. Ost- und Südostwinde herrschen vor; um die Zeit
des Eintritts der Regen im April und Mai sind gelegentlich
1 Sievers >Zweite Krise in Venezuela-.' in den Jahren 1892 <13. Mitteil. d. <icogr.
Oes. in Hamburg 1896.
■ Kendler beobachtete im Laufe eines Jahres nur einen einzigen völlig klaren
Mittag gegen 133 ganz trübe; dagegen waren wieder SS Abende vollständig klar fS. 21h).
: Siehe Tabelle auf S. b.
s
T)r. \V. Gmos 11. I)r. Fr. <imitier
auch südliche Luftströmungen häufiger, während im Winter ab
und zu auch schwächere, mit den mexikanischen »Nortes* zu¬
sammenhängende Nordwinde wahrgenommen werden. Allerdings
sind sie ungleich jenen, welche als Boten des nordamerikanischen
Winters dort so verrufen sind, nur von einer angenehmen Ab¬
kühlung begleitet 1 .
Dr. Fr. (lautier.
1 Einer der besten Kenner des Landes, Codazzi, erwähnt sie bereits in seinem
> Resumen de la Geografia de Venezuela . Paris 1841, S. 363.
Ober Struktur, optisches und mechanisches
Verhalten der als Myelinformen bezeiehneten
flüssigen Kristalle
sowie über Plastizität im allgemeinen.
Von R. Schachenmeier.
Die Physik betrachtet die Materie entweder als Konti¬
nuum oder als Zusammenlagerung von Molekülen; letztere
einerseits in regelloser Anordnung (amorphe Körper), anderer¬
seits zu Raumgitterstruktur (Kristalle). Auch im Falle der
Annahme dieser Molekulartheorie konnte bisher für die
Rechnung ein chemisch einheitlicher Stoff alß kontinuierlich
behandelt werden, denn man nahm an, chemische Homo-
geneität (gleiche Beschaffenheit aller Moleküle) bedinge not¬
wendig auch physikalische Homogeneität, alle Punkte müßten
einander gleichwertig sein und ebenso edle parallelen Rich¬
tungen, gleichgültig ob der Körper amorph oder kristallisiert
ist. Nach O. Lehmanns Entdeckung der Existenz chemisch
homogener flüssiger Kristalle 1 ) trifft dies nicht zu. Beispiels¬
weise ist bei einer Säule von Ammoniumoleatmonohydrat,
welche sich in einer Kapillarröhre befindet, eine Achse aus¬
gezeichnet, und nur Punkte von konachsialen Zylinderflächen
sowie der Achse parallele Richtungen auf diesen sind gleich¬
wertig. Trotz der Beweglichkeit der Moleküle ist diese An¬
ordnung derselben eine stabile; man kann die Flüssigkeit
in Strömung versetzen, ohne die durch die Interferenzstreifen
zwischen gekreuzten Nicols sich kundgebende Struktur zu
stören 2 ). Das Gesetz der Molekularkräfte muß also ein
J ) O. Lehmann, Zeitschr. f. physik. Chem. 4, 462, 1889. Flüssige Kri¬
stalle, Lpz., Engelmann, 1904. Die neue Welt der flüssigen Kristalle, Lpz.,
Akad. Verlagsges. 1911. Prometheus 25, 2 u. 20, 1913. Comptes rendus
158, 389. 1914* Die Lehre von den flüssigen Kristallen, Wiesbaden 1918.
Physik. Zeitschr. ig, 73, 1918.
2 ) Derselbe, Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. 1911, Nr. 22, S. 17. Ann.
d. Phys. 56, 321, 57, 244, 1918.
Verhandlungen, 27. Ikl. 2
IO
R. Schachenmeier
derartiges sein, daß es stabile Gleichgewichte dieser Art er¬
möglicht; und die O. Lehmannsche Annahme, die Mole¬
küle übten außer den bekannten Zentralkräften, welche bei
nicht kristallinischen Flüssigkeiten allein in Erscheinung
treten, auch gegenseitige Richtkräfte aus wie astatische
Magnetsysteme'), dürfte bei exakter mathematischer Durch¬
arbeitung wohl den Nachweis der Möglichkeit jener Gleich¬
gewichte erbringen können. Vom Standpunkte der An¬
nahme, die Materie sei kontinuierlich, ist dagegen die frag¬
liche Verteilung der Werte der Eigenschaften nicht ver¬
ständlich.
Die Existenz flüssiger Kristalle erscheint somit als Be¬
weis für die Molekularstruktur der Materie und läßt
zugleich erkennen, daß die besonders für technische Zwecke
nützliche vereinfachende Annahme der Kontinuität im all¬
gemeinen nicht zulässig ist, daß jede exakte physikalische
Theorie die Körper als Molekularaggregate betrachten muß,
soweit nicht der Beweis erbracht werden kann, daß die
einfachere Annahme zu gleichem Ergebnis führt.
Man hat früher auch umgekehrt geschlossen, ein physi¬
kalisch homogener Körper müsse notwendig chemisch homogen
sein und war so gezwungen anzunehmen, die Moleküle
eines Kristalls seien alle gleichartig, Einmischung einer
fremden Substanz sei nur in die Moleküle selbst möglich,
also nur im Fall des Isomorphismus, so daß auch die ge¬
änderten Moleküle alle gleichartig beschaffen wären. Im
Gegensatz hierzu führten O. Lehmanns Beobachtungen
über Mischkristalle nicht isomorpher Stoffe (sogen, anormale
Mischkristalle) zu dem Ergebnis, daß Zwischenlagerung
fremder Moleküle zu einem Aggregat möglich ist, welches
hinsichtlich der physikalischen Homogcneität einer physika¬
lischen Lösung vergleichbar ist. Bei flüssigen Kristallen
sind solche Mischungen in besonders hohem Maße möglich.
So kann sich z. B. das flüssig-kristallinische Ammonium-
») i). Lehmann, Physik. Zeitschr. io f 553, 1909. Die neue Welt diT
flüssigen Kristalle 1911, S. 347. Verhandl. d. D. plus. Ges. 16, 443, 1914.
Einleitung.
1 I
oleatmonohydrat in beliebigem Verhältnis mischen mit den
chemisch ganz anders beschaffenen flüssig-kristallinischen
Modifikationen von Lecithin, Phrenosin, Kerasin usw. 1 ), auf¬
fallenderweise auch mit der wasserreicheren Verbindung des
Ammoniumoleats, die kurz als Ammoniumoleatdihydrat be¬
zeichnet werden soll, obschon bis jetzt eine chemische Ana¬
lyse des Wassergehalts nicht vorliegt. Diese Beimischung,
welche in beschränktem Maße möglich ist, bewirkt Störung
der physikalischen Homogeneität durch Gruppierung der
Moleküle um eine Achse, wie sie sonst durch den Einfluß
der Glaswände einer Kapillare hervorgebracht wird, d. h.
Entstehung von Myelinformen 2 ), welche also flüssige Misch¬
kristalle sind.
Zweck der vorliegenden Arbeit ist, näher zu prüfen,
ob die von O. Lehmann angenommene Struktur der Myelin¬
formen wirklich die tatsächlich beobachteten Erscheinungen
ergibt und zwar einerseits auf dem Gebiet des optischen,
andererseits dem des mechanischen Verhaltens, und welche
Folgerungen sich daraus ergeben hinsichtlich der Plastizität
im allgemeinen.
In Teil I, A wird zunächst der Verlauf des ordentlichen,
dann der des außerordentlichen Strahles in einem Myelin¬
kristall konstruiert und angegeben, welche Erscheinungen
im Mikroskop durch diesen Strahlengang bedingt sind. Es
wird eine Formel aufgestellt, welche gestattet, durch mikro¬
skopische Ausmessung der Lichtverteilung bei Myelinformen
den Brechungsindex des ordentlichen Strahles zu bestimmen.
Die Messungen ergeben einen quantitativen Zusammenhang
desselben mit dem Mischungsverhältnis der beiden Hydrate
des Ammoniumoleats. Um dieses in einfacher Weise be¬
stimmen zu können, wird in B eine Methode ausgearbeitet,
welche gestattet, den Wassergehalt einer Myelinform aus
einer Messung der inneren Reibung des wasserhaltigen
x ) O. Lehmann, Ann. d. Phvs. 43, 123, 1914.
2 ) Derselbe, Heidelb. Sitzungsber. 1913, Nr. 13, S. 17. Physik. Zeitschr
19, 18, 1918. Ann. d. Pkys. 57, 246, 1918.
. 2
12
R. Schachenmcier
Ammoniumoleats zu finden, da sich diese mit dem Wasser¬
gehalt in auffälliger Weise ändert.
Die Untersuchungen von O. Lehmann haben zu der
Auffassung geführt, daß nicht nur fremdartige Stoffe, wie
es zwei verschiedenartige Hydrate des Ammoniumoleats
sind, Mischkristalle miteinander bilden können, daß man
vielmehr annehmen muß, auch verschiedene polymorphe
Modifikationen oder sogenannte Aggregatzustände desselben
Stoffes könnten Mischkristalle miteinander bilden, dies sei
sogar die Regel in der Nähe eines Umwandlungspunktes,
welcher aufzufassen sei als Sättigungspunkt der Lösung der
einen Modifikation in der andern. In diesem Fall ist das
Mischungsverhältnis nicht beliebig wählbar sondern durch
die Gesetze des chemischen Gleichgewichts bestimmt. Bei¬
spielsweise findet nach seiner Auffassung beim Erwärmen
von Eis bis zum Schmelzpunkt in steigendem Maße eine
Dissoziation von Eismolekülen in Wassermoleküle statt, wie
sich durch die auffallende Plastizität in der Nähe des Schmelz¬
punktes kundgibt. Letzterer ist der Sättigungspunkt der
Lösung von Wasser in Eis, so wie umgekehrt der Erstar¬
rungspunkt der Sättigungspunkt der Lösung von Eis in
Wasser ist. Kühlt man die Myelinformen des Ammonium¬
oleats unter —4 0 ab, so entsteht eine zähere Modifikation
unter plötzlicher Geradestreckung der Myelinformen. Beim
Wiedererwärmen findet bei derselben Temperatur Rückum¬
wandlung statt, wobei die Form wieder die frühere wird.
Auch in diesem Fall ist die zähere Modifikation in der
Mischung der beiden Hydrate mit sinkender Temperatur in
steigendem Maße gelöst anzunehmen, wie sich durch die
Erhöhung der inneren Reibung kundgibt, bis bei —4 0 der
Sättigungspunkt erreicht wird 1 ).
Ganz wie in anderen Fällen ist anzunehmen, daß ein
derartiges inneres Gleichgewicht nicht nur durch die Tem¬
peratur, sondern auch durch den Druck bestimmt werde.
An Stelle von —4 0 wird man bei höherem Druck eine der
*) O. Lehmann, Ann. d. Phys. 43, 112, 1914.
I. Die Optik der Myelinformen.
13
Volumenveränderung bei der Umwandlungstemperatur ent¬
sprechende andere Umwandlungstemperatur finden 1 ). Weiter
folgt aus O. Lehmanns Versuchen aber auch eine Ab¬
hängigkeit des inneren Gleichgewichts von Schubspannungen
(einseitigem Druck 2 ). Direkt nachgewiesen ist bis jetzt aller¬
dings nur, daß Störung des inneren Gleichgewichts durch
Temperaturänderung Schubspannungen hervorrufen kann,
welche Umsetzung von chemischer Energie in mechanische
Arbeit bedingen 3 ). Doch ist der Vorgang augenscheinlich
reversibel, so daß Änderung der Schubspannungen Ände¬
rung des chemischen Gleichgewichts bedingen muß. Dem¬
gemäß wird in Teil II untersucht, in welcher Weise in der
Nähe des Umwandlungspunktes mit molekularen Um¬
setzungen verbundene Plastizität möglich ist. Im Anschluß
hieran wird die ohne Störung der Beschaffenheit der Mole¬
küle verlaufende Plastizität betrachtet, bei welcher von der
gegenseitigen Konfiguration der Molekeln abhängige »ver¬
borgene Koordinaten« des Gitters mitspielen. Plastizität
amorpher und quasiisotroper Stoffe, plastische Deformationen
von einfachen Kristallindividuen, die ohne Störung des
Raumgitters (Gleitflächen usw.) und solche, die mit Störung
desselben verlaufen, lassen sich unter diesen Gesichtspunkten
behandeln.
I. Die Optik der Myelinformen.
A. Verhalten der Myelinformen in polarisiertem
und natürlichem Licht.
§ 1. Nach O. Lehmanns Ergebnissen 4 ) ist das optische
Verhalten der zylindrischen myelinartigen flüssigen Kristalle
ein solches, wie wenn sie aus molekularen Plättchen zu-
T ) O. Lehmann, Zeitschr. f. Kristallogr., i, 97, 1877.
2 ) Ann, d. Phys. 50, 555, 1916.
3) Derselbe, Wied, Ann. 25, 173, 1885. Ann. d. Phys. 21, 381, 190b.
Die neue Welt d. flüss. Krist.
4 ) Derselbe, Sitzungsbericht d. Heidelb. Akad. 1813, Nr. 13.
•4
R. Schachenmeier
sammengesetzt wären, die überall der Oberfläche also auch
der Längsachse parallel sind, so daß die optische Achse
allenthalben radial zur Längsachse gerichtet ist, da im Falle
der Aggregation der Plättchen zu normalen Kristallen die
optische Achse senkrecht zur Plättchenebene angenommen
werden muß.
Man könnte sich somit einen zylindrischen Myelinkristall
in optischer Hinsicht vorstellen als ein Aggregat flacher
Keile aus optisch einachsiger Substanz, die mit ihren
Schneiden in der Zylinderachse Zusammenstößen und kri-
stallographisch so orientiert sind, daß die optische Achse
jedes Keils radial gerichtet ist.
Im Falle kugelförmiger Myelinformen, bei denen die
Längsachse auf einen Punkt reduziert ist, sind die Plättchen¬
moleküle ebenfalls der Oberfläche parallel also die optischen
Achsen identisch mit den Kugelradien. Im Querschnitt ist
somit im Falle zylindrischer wie kugeliger Myelinkristalle
die Anordnung der optischen Achsen dieselbe, nämlich die
der Kreisradien, und das vollständige Bild entsteht daraus
durch Verschieben entlang der Längsachse bezw. durch Ro¬
tieren um einen Durchmesser.
Läßt man paralleles Licht einfallen und beobachtet das
durchgehende, indem man es ins Mikroskop eintreten läßt,
so tritt infolge der beschriebenen Struktur bereits in natür¬
lichem Licht eine eigenartige Schattierung auf, die man aus
dem in einem Querschnitt allein verlaufenden Vorgang ab¬
leiten kann. Zu dem Zweck überdeckt man die Erscheinung
für Licht, welches parallel dem Querschnitt polarisiert ist,
mit der, welche sich zeigt bei solchem, dessen Polarisations¬
ebene zum Querschnitt senkrecht steht, insofern man sich
das natürliche Licht aus zwei derart beschaffenen Kompo¬
nenten zusammengesetzt denken kann.
§ 2. Läßt man parallel der Einfallsebene (d. h. parallel
dem Querschnitt) polarisiertes Licht einfallen, so verhalten
sich die gebrochenen Strahlen als ordentliche.
Ist das umgebende Medium Wasser, so verhält sich der
Myelinkristall genau so wie eine Zylinderlinse. Das ein-
I. Die Optik der Myelinformen.
15
fallende parallele Strahlenbündel muß also nach Passieren
der Myelinform die Erscheinung der sphärischen Aberration
zeigen, d. h. die Strahlen hüllen eine kaustische Fläche ein,
auf welcher die Helligkeit am größten ist. Um zu unter¬
suchen, welche Erscheinungen die ins Mikroskop eintreten¬
den Strahlen erzeugen, ist zu beachten, daß das Mikro¬
skop ähnliche Abbildung von Objekten durch weitgeöffnete
Bündel vermittelt und für ein aplanatisches Punktepaar
korrigiert ist. Nur solche Strahlenbündel werden nach
Passieren des Mikroskops wieder in einem Punkt, dem Bild¬
punkt, vereinigt, welche selbst von den Punkten eines un¬
endlich kleinen Flächenelements ausgehen, das im apla-
natischen Punkt senkrecht zur Mikroskop-Achse steht. Nun
wird dieses Flächenelement durchsetzt von den von der
Kaustik herkommenden Strahlen. Die Dimensionen dieses
Querschnitts der Kaustik sind kleiner als der Durchmesser
der Myelin form selbst, und dieser (rund -- mm) ist ge¬
wiß klein gegen die Eintrittspupille des Mikroskops. Die Be¬
dingung, daß es sich um sehr kleine Flächenelemente handelt,
ist somit erfüllt. Da die Richtung der das Flächenelement
durchsetzenden Strahlen stetig wechselt, so ist jeder Punkt
desselben Ausgangspunkt eines unendlich schmalen Strahlen¬
bündels, welches nach Passieren des Mikroskops wieder in
einem Punkt vereinigt wird, also den betreffenden Punkt
des Flächenelements abbildet. Somit wird der Querschnitt
der Kaustik ähnlich abgebildet d. h. genau so, als wäre die
Kaustik auf einem Schirm aufgefangen und vergrößert. Das
entstehende Bild ist somit aus der Lehre von den Erschei¬
nungen an Kaustiken bekannt 1 ): Man sieht zwei helle
Streifen, wenn der aplanatische Punkt A außerhalb der
Strecke BC (Fig. i) 2 ) liegt (wobei B der Vereinigungspunkt
der Randstrahlen, C der Zentralstrahlen ist), dagegen einen
einzigen hellen Streifen, wenn A zwischen B und C liegt.
Diese theoretische Folgerung wurde zunächst an Glas¬
fäden (von ca. ~ mm Durchmesser) geprüft. Es traten die
l ) Vgl.z.B.Müller-Pouillet, Lthrb.d. Phys., 10. Aufl.,Bd. 2. 2 )s.S.65/66.
i6
R. Schachenmeier
oben beschriebenen Streifen auf. Wird der Tubus von oben
nach unten verschoben, so nähern sich die beiden hellen
Streifen einander, berühren sich und entfernen sich wieder
voneinander entsprechend den verschiedenen Lagen des
aplanatischen Punktes A zu den Vereinigungspunkten ß
und C (Fig. i). Diese charakteristische Variation der Streifen
mit der Tubusstellung kann stets als Beweis dafür dienen,
daß die Erscheinung von einer Kaustik herrührt.
Die Prüfung an Myelinformen fällt ebenso aus, wenn
inan parallel zum Querschnitt polarisiertes Licht einfallen
läßt. Vor allem tritt genau die eben beschriebene Variation
der Streifen mit der Tubusstellung auf.
Die Gestalt der Kaustik und damit Lage und Breite
der hellen Streifen sind eindeutig bestimmt durch Radius R
und Brechungsindex n der zylindrischen Myelinform. Man
kann also, wenn der Radius derselben bekannt ist, durch
Ausmessen der Streifenbreite gewisse Rückschlüsse auf den
Brechungsindex ziehen. Fällt der aplanatische Punkt A
in den Hauptbrennpunkt C, so gilt für die halbe Streifen¬
breite R', wenn y die halbe Breite des einfallenden parallelen
Bündels und n der Brechungsindex der Zylinderlinse ist 1 ):
(i)
R' =-
2 A’ -' I
2 ( n - — I) I 2 \ •
ri s tr n 1
Im Falle mikroskopischer Beobachtung ist y = R zu setzen.
Man begeht mit Anwendung dieser Formel (i) einen Fehler,
der zu vernachlässigen ist, wenn der Brechungsindex n
nahezu = i ist. Sind R und R f gemessen, so kann in diesem
Falle n nach (i) berechnet werden aus
Ist die Voraussetzung bezüglich n nicht erfüllt, so gibt
(2) doch auf alle Fälle richtig an, welcher Brechungsindex
von zwei verschiedenen Zylinderlinsen der größere ist. Dies
wird im folgenden verwertet.
! ) Chwolson, Lehrb. d. Pliys. 1904, Bd. 2, S. 350.
I. Die Optik der Myelinformen.
17
Setzt man in dem Klammerausdruck von (2) n = 1 e,
entwickelt nach e und vernachlässigt höhere Potenzen von f,
so wird derselbe = 1, und es ist:
< 3 )
2 R'
n
Zur Messung von R und R' diente ein Okularmikro¬
meter. R' wurde nicht direkt gemessen durch Einstellung
auf den Hauptbrennpunkt C (Fig. 1), sondern es wurde so
eingestellt, daß der helle Streifen am schmälsten erscheint,
wobei er am deutlichsten ist. Ist b die halbe Breite dieser
engsten Einschnürung, so ist 2 )
( 4 )
folglich:
( 5 )
R' =4 b
Nach dieser Formel sind die Werte der folgenden Tabellen
berechnet.
Um die Methode auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen,
wurden zunächst b und R an Glasfäden von verschiedener
Dicke aber aus demselben Glas gemessen. Die Längen¬
angaben sind in Skalenteilen des Okularmikrometers ohne
Umrechnung auf die wirklichen Maße gemacht. Die Glas¬
fäden waren in Wasser gelegt, die Werte von n beziehen
sich also auf Wasser.
Tab. 1.
2 R
2 b
2,1
0,5
00
9
2,2
00
12 1
! 2,85
1,37
22
5,2
1,38
2 ) Vgl. z. B. A. Gleichen, Lehrb. d. geom. Optik. (Tcubner, 1902.) S. 123.
18
R. Schachenmeier
Die Werte für den Brechungsindex des Glases sind,
wie nach dem oben Gesagten zu erwarten war, zu groß,
stimmen aber untereinander gut überein, was im folgenden
allein wesentlich ist.
Nach eben dieser Methode wurde nun auch der Brechungs¬
index des ordentlichen Strahles bei einer Reihe von Myelin¬
formen des Ammoniumoleats bestimmt. Die in der folgen¬
den Tabelle angegebenen Zahlen gelten für den Brechungs¬
index gegen Wasser.
Tab. 2
2 b
11
m
! ■
D 3
1,7
0,1
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I 6 I (>
2,6
M2 |
1
0,1 1
i T , 18 j
2,0 |
I,06
0,1
*) Die Größe t wird in § 3 erklärt und verwertet.
I. Die Optik der Myelinformen.
1 9
Die Tabelle 2 zeigt, daß der Brechungsindex von
Myelinformen nicht konstant ist. Dieses Resultat war auf
Grund der O. Lehmannschen Resultate über Myelinformen
vorauszusehen. Ihnen gemäß 1 ) ist die Dicke der zylindrischen
Myelinform bedingt durch das Mischungsverhältnis der beiden
Molekülarten 2 ), und außerdem zeigt die Mischung der beiden
flüssig-kristallinen Hydrate des Ammoniumoleats, welche
hier in Betracht kommen, um so kleineren Brechungsindex,
je mehr sie von dem wasserreicheren Hydrat enthalten 3 ).
Demnach müssen Myelinformen von verschiedener Dicke
auch verschiedene Brechungsindizes zeigen. Die Angaben
der Tabelle 2 sind nach fallenden Werten des Brechungs¬
index geordnet. Es ist auffällig, daß die zugehörigen Radien
der Myelinkristalle nicht in gleichem Sinne abnehmen,
sondern etwa bei R=i5 ein Maximum aufweisen. Hierauf
sowie auf die Berechnung der Absolutwerte des Brechungs¬
index n wird in § 7 —10 näher eingegangen werden.
§ 3. Um den Verlauf der senkrecht zur Querschnitts¬
ebene polarisierten, außerordentlichen Strahlen zu kon¬
struieren, zerlegen wir den Querschnitt, wie in § 1 ange¬
geben, in ein Aggregat von Keilen und zwar so, daß in
jedem einzelnen Keil die optische Achse parallel dem einen
Schenkel des brechenden Winkels gerichtet ist. Da somit
alle optischen Achsen in einer Ebene liegen, so folgt aus
der Huyghensschen Konstruktion, daß jeder außerordent¬
liche Strahl, von dem ein beliebig kleines Stück in der
Querschnittsebene verläuft, nach beliebiger Brechung niemals
aus derselben heraustreten kann.
Da ferner die Richtung der optischen Achse von Punkt
zu Punkt sich stetig ändert, so muß auch die Geschwindig¬
keit des außerordentlichen Strahls von Punkt zu Punkt
stetig wechseln. Mithin muß er eine stetige und stetig
gekrümmte Kurve beschreiben Seien q der Radius Vektor
x ) O. Lehmann, Phys. Zeitschr. 14, 1132, 1913. Prometheus 1913,
Jahry. XXV, I, 2, Nr. 1249, 1250.
2 ) S. a. § 5 u. Verh. d. d. phys. Ges. 16, 443, 1914.
3 ) O. Lehmann, Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. 1913, Nr. 13, S. 21/22.
20
R. Schachenmcier
und o) der (von einer beliebigen Nullage ab gerechnete)
Winkel eines Polarkoordinatensystems, das den Querschnitts¬
mittelpunkt zum Anfangspunkt hat, so kann diese Kurve
dargestellt werden durch die Gleichung:
(0 q=/ H-
Dabei ist f{(o) eine stetige und differenzierbare Funktion. Sie
besitzt also für einen Winkel co 0 ein Minimum o 0 =/(oj 0 ), wobei
ist. Die Tangente der Kurve steht daher in diesem Punkte
(o Q (»ö) senkrecht zum Radius Vektor und damit auch zur
optischen Achse. Um den Verlauf des außerordentlichen
Strahls genauer zu analysieren, beginnen wir die Unter¬
suchung mit dem Keil, dessen optische Achse das Azimut
o ) 0 hat. Der außerordentliche Strahl verläuft also in zur
optischen Achse senkrechter Richtung. Trifft er nun auf
die Grenzfläche des anstoßenden Prismas, so tritt er in ein
Medium mit anders orientierter Schnittellipse ein. Die
Iluyghenssche Konstruktion ergibt, daß er dabei dem
Finfallslote zugebrochen wird.
Dieselbe beruht auf dem Prinzip, daß die Elementar¬
welle, welche vom Punkt P aus (Fig. 2) in das zweite
Medium eintritt, stets kongruent sein muß der vom Punkt
Q im ersten Medium ausgehenden, da die optischen Kon¬
stanten der Substanz in beiden Fällen die gleichen sind.
Dagegen erscheinen die Hauptachsen der Elementarwelle
im zweiten Medium gegen die im ersten gedreht, da dies
mit den optischen Achsen A t bezw. A 2 der Fall ist. Die
Welle, welche im ersten Medium von Q nach R gelangt
ist, ist also um P als Mittelpunkt im zweiten Medium mit
der neuen optischen Achse A . 2 als Richtung der kleinen
Halbachse zu beschreiben. Die Tangente von R an diese
Ellipse P gibt die Wellencbene im zweiten Medium.
Für die Richtung des gebrochenen Strahles PS sind
nun 3 Fälle möglich: 1. Fällt auf A 2 die kleine Halbachse der
I. Die Optik der Myelin formen.
2 I
Ellipse P (negative Doppelbrechung), so wird PS dem Ein¬
fallslot zugebrochen. 2. Fällt auf A 2 die große Halbachse
(positive Doppelbrechung), so wird PS vom Einfallslot weg¬
gebrochen. 3. Sind beide Halbachsen einander gleich, so
behält PS die Richtung des einfallenden Strahles. An der
Grenzfläche jedes weiteren Keils liefert die nämliche Kon¬
struktion wieder dieselbe Unterscheidung (Fig. 3). Es gilt
somit die folgende Regel:
Verfolgt man den außerordentlichen Strahl vom Punkt
größter Annäherung an den Mittelpunkt aus nach beiden
Richtungen, so wird er in negativer Substanz bei jedem
Eintritt in ein neues Prisma dem Lote zugebrochen, in
positiver Substanz dagegen vom Lote weggebrochen. Seine
Krümmung erfolgt also stets in einem und demselben Sinne.
Er ist überdies eine monoton gekrümmte Kurve: Die
Krümmung in einem Punkte des Strahls ist um so kleiner,
je weiter derselbe vom Mittelpunkt entfernt ist. Der Punkt
größter Annäherung an den Mittelpunkt soll Scheitel ge¬
nannt werden. Liegen die Scheitel zweier Strahlen auf
einem Radius, so sind die beiden Winkel, unter denen sie
einen beliebigen andern Radius schneiden, stets einander
gleich, wie aus der Konstruktion desselben folgt. D. h. alle
Strahlen, deren Scheitel auf einem Radius liegen, sind ein¬
ander ähnlich und ähnlich gelegen (Fig. 4).
Tritt nun der außerordentliche Strahl wieder aus dem
Myelinkristall aus, so folgt aus den Stetigkeitseigenschaften
seines Verlaufs im Kristall, daß seine Richtung nach dem
Austritt eine stetige und differenzierbare Funktion des Ein¬
fallswinkels auf der Vorderseite der Zylinderlinse sein muß.
Läßt man paralleles Licht einfallen, so bedeutet dies, daß
die austretenden Strahlen eine Enveloppe, d. h. eine Kaustik,
einhüllen müssen. Ist die Substanz negativ doppelbrechend,
so muß die Spitze derselben, d. h. der Hauptbrennpunkt
des austretenden Bündels, näher bei der Myelinform liegen
als der Hauptbrennpunkt der ordentlichen Strahlen, wie aus
der Krümmung der außerordentlichen Strahlen folgt. Nach
dem in § 2 Gesagten muß diese Kaustik im Mikroskop
R. Schachcnmeier
wieder je nach der Tubusstellung zwei bezw. einen hellen
Streifen erzeugen. In der Tat zeigt eine Myelinform in
senkrecht zum Querschnitt polarisiertem Licht wieder die
beiden mit der Tubusstellung variierenden hellen Streifen,
und zwar ist die Tubusstellung tiefer als beim ordentlichen
Strahl.
Es sind nun noch (in negativer Substanz) diejenigen
außerordentlichen Strahlen zu berücksichtigen, welche im
Innern total reflektiert werden 1 ). Sei a der Einfallswinkel
auf der Vorderseite, ß derjenige auf der Rückseite der
Myelinform, dann ist infolge der Stetigkeitseigenschaften des
außerordentlichen Strahls ß eine stetige und differenzierbare
Eunktion von a:
(i) f! = F («).
ß besitzt also im Intervall (o, *) ein Maximum ß 0 bei einem
Winkel a Q . Wenn nun ß 0 großer ist als der Grenzwinkel
der totalen Reflexion, so läßt sich zu beiden Seiten des
Strahls mit dem Einfallswinkel n 0 ein Bündel abgrenzen,
innerhalb dessen alle Strahlen an der Rückseite der Myelin¬
form total reflektiert werden.
Ein total reflektierter Strahl verläuft nun nach der
Reflexion genau symmetrisch zu seinem Weg vor der¬
selben. Symmetrieachse ist der durch den Umkehrpunkt
gehende Radius (Eig. 5). Daraus folgt, daß eine zweite
totale Reflexion unmöglich ist, und der Strahl unter einem
Brechungswinkel austritt, der seinem Einfallswinkel a gleich
i^t. Die nach einmaliger totaler Reflexion austretenden
Strahlen ändern daher wiederum stetig ihre Richtung mit
dem Einfallswinkel u; sie hüllen daher nach der obigen
Überlegung ihrerseits eine Kaustik ein.
x j Totale Reflexion kann eintreten, wenn der Punkt J/ t , nach welchem
die optischen Achsen radial gerichtet sind, nicht genau zusammen füllt mit dem
Mittelpunkt M des kreisförmigen Querschnitts der Myelinform (Fig. 5) oder,
wenn der Querschnitt schwach elliptisch ist.
I. Die Optik der Myelinformen.
2 3
Alan beobachtet bei manchen Myelinformen im Mikroskop
zwei feine helle Linien, deren gegenseitige Lage in der
charakteristischen Weise von der Tubusstellung abhängt;
sie rühren also von einer Kaustik her. Ihr Licht ist außer¬
dem vollkommen polarisiert senkrecht zum Querschnitt, kann
also nur von außerordentlichen Strahlen herstammen. Da
aber in dieser Polarisationsrichtung schon zwei andere,
breitere Streifen auftraten (bei höherer Tubusstellung), so
muß angenommen werden, daß diese den direkten, jene
den total reflektierten außerordentlichen Strahlen zugehören.
Es kann Vorkommen, daß die feine helle Linie von
einem eingeschlossenen Faden isotroper Mutterlauge her-
rührt 1 ), ist aber dann nicht polarisiert. Zuweilen können
sich auch beide Erscheinungen überdecken. Da die feine
Linie sehr scharf hervortritt, so kann sie als bequemes Hilfs¬
mittel dienen, um die Schwingungsrichtung des Polarisators
senkrecht oder parallel zur Querschnittsebene einzustellen.
Die außerordentlichen Strahlen sind einander ähnliche
Kurven (Fig. 4). Die Breite des einfallenden Bündels,
welches total reflektiert wird, ist daher proportional dem
Radius des Querschnitts. Stellt man auf den Hauptbrenn-
punkt der zugehörigen Kaustik ein, so muß folglich auch
die halbe Streifenbreite t proportional dem Radius sein, d. h.
t
(2) = const.
Diese Beziehung bestätigt sich nicht. Es ist vielmehr l bei
dicken Myelinformen nicht größer als bei dünnen (vgl. Tab. 2
S. 12). Daraus folgt, daß die Doppelbrechung bei Myelin¬
formen von verschiedener Dicke verschieden sein muß in
Übereinstimmung mit dem in § 2 gefundenen.
§ 4. Die Überlagerung der dem ordentlichen bezw.
außerordentlichen Strahl zugehörigen Erscheinungen läßt in
natürlichem Licht helle und dunkle Streifen auftreten, deren
J ) O. Lehmann» Sitzungsber. d. Heidelb. Akad., 1911, Nr. 22, p. 24;
1913, Nr. 13, p. 22. Prometheus, 1 . c. *Die Neue Welt«, p. 264, 265.
-4
R. Schachenmeier
Zahl, Lage und Schattierung mit der Tubusstellung variiert.
Man kann an ein und demselben Myelinkristall bei immer
tieferer Tubusstellung der Reihe nach alle drei im vorigen
besprochenen Kaustiken mit ihren charakteristisch variieren¬
den hellen Streifen zur Erscheinung bringen (vgl. auch Fig. 6).
Dabei findet man, daß die Hauptbrennweite der außerordent¬
lichen Strahlen kleiner ist als die der ordentlichen. Nach
i; 3 ist dies bei negativ doppeltbrechenden Substanzen der
Fall; die Myelinformen des Ammoniumoleats sind also negativ.
B Zusammenhang der optischen und mechanischen
Konstanten von M\ r elin kristallen mit dem Mischungs¬
verhältnis ihrer Komponenten.
§ 5. Wie bereits oben S. 5 angegeben, sind die Myelin¬
formen des Ammoniumoleats Mischkristalle. O. Lehmann 1 )
nimmt nämlich in denselben zwei Hydrate des Ammonium¬
oleats an. In der Richtung der Längsachse der Myelinform
wirkt nach seiner Ansicht eine Kraft, welcher der durch die
halbkugeligen Enden ausgeübte Kapillardruck das Gleich¬
gewicht hält und aufzufassen ist als Wirkung der Expansiv¬
kraft, der Turgorkraft und der molekularen Richtkraft. Ihre
Größe ist eindeutig bestimmt durch das Mischungsverhältnis
der beiden Hydrate und muß sich aus demselben nach den
thermodynamischen Hauptsätzen berechnen lassen.
Ist das gegenseitige Größenverhältnis von Wassergehalt
und Längskraft gefunden, so wird es möglich, durch L T nter-
suehung des mechanischen Verhaltens der Myelinformen ihr
Mischungsverhältnis zu bestimmen. Es kann also dann
Ammoniumoleat mit demselben Wasserzusatz versehen und
daran nach gebräuchlichen Methoden Bestimmung der
optischen Konstanten vorgenommen werden.
*) O. Leb mann, Ann. d. Phys., 43, 118, 1914 und 47, 832, 48, 182, 1QI 5.
1 *einer: Die Delire von den flüssigen Kristallen und ihre Beziehung zu den
Problemen der Biologie. Sonderabdruck aus den »Ergebnissen der Physiologie
\"\\ D. Ashcr u. K. Spiro, Bd. 16, 482, 1917.
I. Die Oplik der Myelinformen.
25
§ 6. Zu der gesuchten numerischen Beziehung zwi¬
schen Wassergehalt und der aus Expansivkraft und mole¬
kularer Richtkraft resultierenden Längskraft führen die
thermodynamischen Potentiale. Wir denken uns einen gerad-
zylindrischen Myelinkristall aus Ammoniumoleat allseitig
von Wasser umgeben. Er sei an beiden Enden frei, d. h.
halbkugelig abgerundet.
Das so definierte System enthält drei Molekülarten,
nämlich die beiden Hydrate des Ammoniumoleats und
Wasser, deren Mengen der Reihe nach mit w t , ;// 2 , /// 8 be¬
zeichnet werden sollen. Das System zerfällt außerdem in zwei
Phasen: den Myelinkristall und das umgebende Wasser.
Demnach zerlegen sich die Energie £/, die Entropie S
und das erste thermodynamische Potential f des Systems
jeweils in zwei den einzelnen Phasen zugehörige Glieder:
in U= U' + U ”, S = S’ -h S\ $ = f' -4-.
Die eiuf den Myelinkristall bezogene Funktion £' ist daher
definiert als:
(21 ? = U’-S'T,
wo T die absolute Temperatur des Systems ist.
Bei irgend einem unendlich kleinen Prozeß unseres
Systems vermag sich der Energieinhalt U ' des Myelin¬
kristalls auf drei verschiedene Arten zu ändern:
1. Es wird die mechanische Arbeit da geleistet. Die¬
selbe soll positiv oder negativ gerechnet werden, je nach¬
dem sie von den am Myelinkristall angreifenden äußeren
Kräften 1 ) oder gegen dieselben geleistet ward.
2. Es wird vom Myelinkristall die Wärmemenge dQ 1
aufgenommen oder abgegeben. Im ersten Fall soll dQ'
positiv, im zweiten negativ gerechnet werden.
l ) Als solche sind die Kapillarkräfte oder auch (orientierende) Adhäsions¬
kräfte des Glases zu behandeln.
Verhandlungen, 27. Bd.
26
R. Schachenmeier
3. Infolge von Umwandlung von Molekülen des einen
Hydrats in solche des anderen wird die Wärmemenge dlJ
gebunden oder frei. Im ersten Fall ist dll positiv, im
zweiten negativ.
Demnach gilt allgemein:
(3) dU' = da-k-dQ' + dll.
Nach (2) ist ferner:
(4) d >' = dU' - TdS' - S' dT.
Gemäß der Definition der Entropie S' ist
(5) TdS' = dQ' = dU' -da-dU ,
also:
(6) d? = dU' - dU' Wen- dH-S'dT ,
(7) di' = du-t-dll—S'dT.
Da dH von der Änderung der Molekülzahlen m\, ///' 2
abhängt, so kann gesetzt werden
(8) dü = M x dm\ M 2 dm'.,.
Als äußere Kräfte kommen nur der vom umgebenden
Wasser ausgeübte hydrostatische Druck P und die von
den halbkugeligen Enden in der Längsrichtung erfolgende
Kapillarkraft p in Betracht. Ist / die Länge, V das Volumen
der Myelinform, so ist darnach die äußere Arbeit da:
(9) da = pdl-*-PdV
Nach (7) ist also
(1 o) d‘' = pdl+ Pd V-+- M x dm\ -h M t dm\ - S'dT.
Die Funktion £' hängt also von den Variablen ab:
(11)
m\, m' it T, P, p, V, l.
I. Die Optik der Myelinformen.
27
Die Funktion £" hängt, da sie sich auf das umgebende
Wasser bezieht, nur ab von
(12) <3, T y 1 \
Das Potential £ = £'-+- £" des vorgelegten Systems enthält
somit die Parameter:
(13) m\, m' 2 , m" r>% T, P % p, V y l.
Führt man das zweite thermodynamische Potential £
ein nach 1 )
(14) c = I — pl— P V,
so enthält es dieselben Variablen (13). Dies sind also die
den thermodynamischen Zustand bestimmenden Parameter
des Systems.
Es sind nun die unabhängigen Parameter zu bestimmen
d. h. diejenigen, welche, wenn willkürlich vorgeschrieben, die
Werte der übrigen, also den gesamten thermodynamischen
Zustand eindeutig bestimmen.
Der allseitige Druck P kann bei allen Beobachtungen
als konstant gelten, scheidet also als Parameter aus.
Von den drei Variablen /, /V ist eine durch die beiden
andern bestimmt. Denn wenn R der Zylinderradius und
a die Kapillarkonstante von wässerigem Ammoniumoleat
gegen Wasser bedeuten, so ist
(■ 5 )
ferner
(16)
also
(17)
') Voigt: Thermodynamik Bd. I Göschen, Sammlung Schubert XXXIX,
S. 295.
p = 2 71 a R
V = R- n l
v= A 1 -.
4 <7 VT
28
R. Sehachenmcier
Durch die Variablen
(iS) m\, m\, T, p, l
sind also gewiß alle übrigen Parameter bestimmt.
Offenbar besteht unser System nur aus zwei unab¬
hängigen Bestandteilen. Denn ist beispielsweise die in der
Myelinform vorhandene Menge des ersten Hydrats in\ sowie
des Wassers m' a bekannt, so ist dadurch auch die Menge
des zweiten Hydrats m\, bestimmt. Seien vi ”,, w" 2 , ///".,
die in der zweiten Phase (dem Wasser) enthaltenen Sub¬
stanzmengen (so daß 7 /iP == m* = o; m\ = w/ 2 , w 2 " = o;
viP -+- vij — m 3 ), und sei das zweite thermodynamische
Potential 4 in seine den beiden Phasen zugehörigen Glieder
zerlegt £ = £' -4-£". Dann gelten für 2 Komponenten in
2 Phasen die Bedingungsglcichungen ’):
_ <C” </;•' _
^ dm x ’ t/mp' t/m.p
Die Zahl der noch willkürlichen Parameter (18) wird
durch dieselben auf 4 eingeschränkt. Es können als solche
dienen
( 20 ) Vl\ , 7 ’, p.
Es seien nun dm\, d/v'a, d'T , dp die bei irgend einer
Verschiebung des Gleichgewichts eintretenden Parameter¬
änderungen. Ferner seien Q, s bei einer virtuellen Zu¬
standsänderung (unter konstanten T, p) das Verhältnis der
von außen zugeführten Wärme bezw. der Längenänderung
der Myelinform zur ausgetretenen Menge Wasser, ferner
<! = Daml « ilt2 ^
( 2 .) ( j.,dT— y.dp
oder abgekürzt:
( 22 ) f,dr
M Planck: Veil. üIkt Thermodynamik, 3. AufI., 1911, § 20!.
*••) l'lanc k, I. c., Kap. 3.
— S ■ dp — dw'v> = O ,
I. Die Optik der Myelinformen.
29
Wird die Temperatur konstant gehalten, so ist, wenn
w/3 = w zur Abkürzung eingeführt wird:
(23) i. dp = — xp dw.
Die Längskraft p' ist entgegengesetzt gleich dem Ka¬
pillardruck p, der von den halbkugeligen Enden ausgeübt
wird. Somit ist die Beziehung gewonnen, welche zwischen
dem Mischungsverhältnis 7v und der Längskraft /' ver¬
schiedener Myelinformen bestehen muß:
(24) -dp' = v- dzv.
Vergleicht man die Längskraft p'i eines Myelinkristalls vom
Wassergehalt zv-i mit der entsprechenden Größe p\ eines
andern Myelinkristalls vom Wassergehalt zv, so ist
(25) p'i —p\ = -’f (tpj — a-j)
(falls die Differenz zv-j — zvi nicht sehr groß ist, so daß <p y
in diesem Intervall als konstant betrachtet werden darf). Für
einen weiteren Myelinkristall gilt
(26)
folglich
P'i—fl = V -y(wa— 7 t>-S)
(27)
(P's— P'i)-. (p'i— p'i) = (tc 3 — zv >)::
W -2 — 7 t' t)
oder mit den Abkürzungen
(28) - p\ = J jp', p\ — p\ = !,/>', -.er., - = A.,-.u , a’j - w, = J 2 7 t-,
(29) J >p'Aip' = J >7V.Ji7V .
Anstelle von p' kann nach (15) der Radius des Myelin
kristalls eingeführt werden, so daß
( 30 )
A>R\A\R = A-izo:AiZO .
30
R. Scliachemneier
Es ist also möglich, durch Messung der Dicke den
Wassergehalt einer Myelinform zu bestimmen, allerdings
nur relativ zu einem willkürlichen Vergleichskristall. Die
Berechnung wird in § 9 an den in Tabelle 2 S. 12 an¬
gegebenen Werten ausgeführt werden, nachdem zuvor noch
eine Methode gewonnen ist, um über den absoluten Wert
des Mischungsverhältnisses w Aufschluß zu erhalten.
§ 7. Wasserhaltiges Ammoniumoleat unterscheidet sich
von einem Myelinkristall (vorausgesetzt, daß der Wasser¬
gehalt gerade gleich sei) nur dadurch, daß die für Myelin¬
kristalle charakteristische regelmäßige Anordnung der Mole¬
küle fehlt. Während dort der Expansivkraft, Turgorkraft
und molekularen Richtkraft das Gleichgewicht gehalten
wird durch den Kapillardruck, so haben wir hier nach
O. Lehmanns Untersuchungen über die Struktur flüssiger
Kristalle 1 ) die Moleküle der Substanz unter der Wirkung
gegenseitig aufeinander ausgeübter Kräfte in stabilen Gleich¬
gewichtslagen zu denken nach Art, wie sie bei astatischen
Magnetsystemen auftreten würden 2 ). Die mannigfachen
stabilen Anordnungen der Moleküle, die so möglich sind
(z. B. Fächerstrukturen, konische Störungen usw.), sind von
O. Lehmann angegeben.
Wir betrachten nun ein Volumelement in Gestalt eines
Parallelepipeds. Die infolge der eben genannten Kraft¬
wirkungen an demselben angreifenden Kräfte lassen sich
zerlegen in die 6 Komponenten eines Spannungstensors:
( 1) A , , Ay , A s , I y , -I s ) 1
die wir auch der Reihe nach als
(2) Ai, A •_>, Aa, A'i , A5, AI;
schreiben.
x ) Sitzun^sber. d. Heidelb. Akad., 1913, Nr. 13, S. 16 17. Prometheus,
1 . c. »Die neue Welt-, S. i 7 — 29.
2 ) »Die neue Welt , S. 343—367.
I. Die Optik der Myelinformen.
31
Werden von den Spannungen (2) alle konstant gehalten
bis auf eine, X,-, so liefert eine der im vorigen § 6 analoge
Ableitung die zu (23) § 6 entsprechende Beziehung zwischen
der Spannung AT, und dem Wassergehalt m ' 3 = 7v
(3) S - f dXi — — y'dio .
Dabei sind s', y' analog definiert wie die Größen s, y>
in (23) § 6, haben aber andere Werte. Wird also die
kristalline Flüssigkeit infolge äußerer Kräfte in Strömung
versetzt 1 ), so muß damit auch eine molekulare Veränderung
einhergehen (die mit Aufhören der Kraft natürlich rück¬
gängig wird).
Nehmen wir nun zunächst an, es sei auf irgend eine
Art bewirkt, daß bei der Strömung keinerlei Änderung des
Wassergehaltes w eintrete, dann ist das am Volumelement
angreifende Spannungssystem ohne thermodynamische Be¬
deutung und rein nach den Regeln der Hydrodynamik zu
bezeichnen. Lassen wir andererseits auch molekulare Ver¬
änderungen zu, so sind die Komponenten des Spannungs¬
tensors zugleich auch thermodynamische Parameter.
Die wirklich eintretende Strömungsbewegung ist somit
eine Superposition aus zwei Bewegungen. Die Parameter
der einen dieser Bewegungen haben keinerlei Beziehung
zum thermodynamischen Zustand, dagegen sind die der
zweiten Art wirklich thermodynamische Zustandsvariable.
Seien die Spannungskomponenten
(4) Xx', X y ', A 7 , Yy\ 17 , X'
Parameter der ersten Strömungsart, ferner
(. 5 ) U, V, 70
die Geschwindigkeitskomponenten der wirklich vorhandenen
Strömung. Dann gilt 2 ) für A',-', X y ' und analog für die
übrigen Größen (4)
>) Siche O. Lehmann, Ann. d. Phys., 56, 321; 57, 244, 1918.
2 ) Vgl. z. B. Enz. d. math. Wiss., IV, 15. Hydrodynamik, Nr. 12.
32
R. Schachenmeier
(6) Xx = — p — 0 + 2v^,u. 2 weitere Gl. f. iy, Z z \
( 7 ) X; = + u. 2 weitere Gl. f. X'. Y ',
wobei / der Druck und v der Reibungskoeffizient ist, ferner
0 =
Öu Ö 7 ’ Ö 7 v
öx ov dz
Seien weiterhin
Y "
vr »
V"
" ‘ V »
Y " V' * 1 ' *
1 ; » 1 y » z »
Z,"
die Spannungen, welche Parameter der zweiten Strömungs¬
art sind. Dann gilt:
(i o) X ” = / 0 2 A' ~ , usw.
wobei jetzt A, wesentlich von der molekularen Struktur
und dem Wassergehalt abhängen.
Die bei der Strömung u, v, xv wirklich auftretenden
Spannungen
I 2 j c , , -.1 2 , 1 , , 1 ; , j
müssen sich sowohl aus (io), (i i) als aus (6), (7) zusammen¬
setzen, da die Bewegung eine Superposition aus zweien ist.
Demgemäß ist
(13) X, = A 7 -+-X/', usw.
und nach (10), (11), (6), (7)
(« 4 )
+• A j 0 ■+• 2 {v -+- A')
du\
ävj ’ USW -
usw.
I. Die Optik der Myelin formen.
33
Hieraus folgen die Bewegungsgleichungen (Im Falle
stationärer Bewegung und kleiner Geschwindigkeiten) 1 ):
(15)
1 1
+
fl
dy
\
M 1 ^-
+
+ X + X’]
s die Dichte ist und
Au =
d-u d 1
ö.v 3 ~ l ~ 67* d
dx
-4- (>' /') Au s X = o
1 / ' # , « f\ 4 T
d V ■*- 1V + X ) lv -*- s} = 0
du dv
(y = - -h y-
d.v dy
(h.-
(b *
Bei den hier besonders in Betracht kommenden Strö¬
mungen durch Kapillarröhren ist & in der ganzen Kapillare
öS
konstant = o, also , =0, usw. Wird ferner die x -Achse
dx
in die Richtung der Kapillare verlegt, so reduzieren sich die
Bewegungsgleichungen (15) auf
(16)
(V - 4 - k f )
d 2 u
dx 2
1 dp
s dx
Wird also nach der Poisseuilleschen Methode der Reibungs¬
koeffizient von Hydraten des Ammoniumoleats bestimmt
(vgl. den folgenden § 8), so erhält man die Größe t] = v + 2 ',
in welcher das Glied X' vom Wassergehalt w abhängig ist.
Für die drei Mischungsverhältnisse rci, «’•_>, re» erhält man
die Werte
(17) t]i = V ■+■ X\ )] > = >’-+- /'•_> »/;•} = V -+- 7 .';!
also 2 )
(18) Ji>; = JtA' , J, >) = J_>/' .
Sind W" 1 . W,"), X,' 2 ' die Spannungen, welche bei den drei
verschiedenen Mischungsverhältnissen denselben Strömungs-
1 ) Enz. d. math. Wiss., 1 . c.
2 ) Bezüglich der Abkürzung usw. vgl. § 6.
34
R. Schachenmeicr
zustand aufrecht erhalten, so ist wegen (14), wo & = o zu
setzen ist:
i 1' i du
(ig) ,Ji A, = h >} ■ d ~ , usw.
Also gilt z. B. für die in der Längsrichtung des Klementar-
parallelepipedons wirkende Spannung JV|:
(20) . 1| Aj : i» Ai = 11 >] : . fj .
Nach (3) ist auch
(21) .f 1 A1 : ,L A1 = . Ii ze : . l-jzu .
Wählt man die Werte zui , z v ». zcj gleich den in (30) £ 6, so
gilt nach (30) § 6
(22) J_> R : Jj R = . I.) i] : Ai i) .
Bestimmt man also für wasserhaltiges Ammoniumoleat
von verschiedenem Wassergehalt Wi , zu», zu 3 die Reibungs¬
koeffizienten rji, i]2, , so kann man aus dieser Gleichung
die Radien R\ , R>, R A der Myelinformen von gleichem
Wassergehalt zv\, zu», zu A und Brechungsindex berechnen,
vorausgesetzt, daß der Radius Ro der Myelinform vom
Mischungsverhältnis zuo bekannt ist. Man hat also nur das
Mischungsverhältnis bezw. den Brechungsindex einer Mye-
linform auf direktem Weg zu bestimmen. Um dies auszu¬
führen benützt man die Tatsache, daß die in Tab. 2 § 2
eingetragenen und nach Formel (5) § 2 berechneten Werte
von n dann den Brechungsindex der betreffenden Myelin¬
form richtig angeben, wenn n nahezu gleich 1 ist. Demnach
hat die Myelinform vom Radius 18 den Brechungsexponent
1.06. Man setzt nun zu wasserfreiem Ammoniumoleat soviel
Wasser, daß der Brechungsindex 1 ) der gleiche wird und hat
in dem so gefundenen Wassergehalt den Wert zu für die
Myelinform.
*) Derselbe wurde bestimmt mit dem Ab besehen Totalreflektometer.
I. Die Optik der Myelinformen.
35
§ 8. Die nach dem vorigen nötigen Messungen wurden
folgendermaßen ausgeführt:
Man verreibt eine gewogene Menge wasserfreien
Ammoniumoleats 1 ) mit Wasser (das mit Ammoniak gesättigt
ist) und wägt das entstandene Produkt wieder, woraus sich der
Wassergehalt w berechnen läßt. Der Brechungsindex wird
mit Hilfe eines Abbe sehen Totalreflektometers bestimmt.
Zur Bestimmung des Reibungskoeffizienten bringt man in
eine dickwandige Kapillare einen Faden der Substanz und
treibt denselben vermittelst angesetzter Pumpe vom einen
Ende zum andern. Die Zeit, welche er braucht, um den
Weg zwischen zwei an der Kapillare angebrachten Marken
zurückzulegen, wird mittels einer Stechuhr gemessen.
Diese Methode gestattet, mit sehr geringen Substanz¬
mengen zu arbeiten. Andere, bei gewöhnlichen Flüssig¬
keiten üblichen Methoden, bei welchen etwa aus einem
weiteren Gefäß die Flüssigkeit in die Kapillare eintritt, leiden
an erheblichen Fehlerquellen, wenn flüssig-kristalline Sub¬
stanzen von verhältnismäßig großer Zähigkeit untersucht wer¬
den sollen: Es bleiben nämlich Teile derselben an den Wän¬
den des Gefäßes haften, wodurch die Durchflußzeit gefälscht
wird. Diese Fehlerquellen können bei der »Fadenmethode*
genau kontrolliert und ausgeschaltet werden. Daß dieselbe
einwandfreie Resultate liefert, wurde erprobt an Wasser .und
Alkohol, deren Reibungskoeffizienten sich auf 4 Dezimalen
übereinstimmend mit den aus den »Phys.-chem. Tabellen«
von Landolt-Börnstein entnommenen Werten ergaben.
Ist r der Radius der Kapillare, p der Druck, / die
Länge des Fadens, L der Abstand zwischen den beiden
Marken und t die Zeit von dem Moment, wo das hintere
Ende des Fadens die erste Marke passiert, bis das vordere
Ende zur zweiten Marke gelangt, dann ist der Vorgang
derselbe, als ob aus einer Kapillare von der Länge l das
Flüssigkeitsvolumen
(1) v — [L — /) r-ji
l ) Hergestellt durch Einleiten von Ammoniak in Ölsäure bei ca. 50°.
36 R. Schachenmeier
ausgeflossen wäre. Dasselbe ist aber nach Poisseuille')
(=)
I Ti r
V 8
/ P x '
worin ?/ der Reibungskoeffizient ist. Aus (i), (2) folgt:
r-/>r
( 3 )
8 ,, =
KI- - i)
Die Durchflußzeit t ist zu Anfang des Versuchs
zu hoch, weil die Wände der Kapillare sich zuerst mit
einer Flüssigkeitsschicht überziehen müssen, bevor der
Poisseuille sehe Strömungszustand eintritt. Nach mehr¬
maligem Hin- und Herschieben des Fadens nimmt r kon¬
stante Werte an. Was jetzt noch an Schwankungen auf-
tritt, hat einerseits Änderungen der Fadenlänge zur Ursache
durch Haftenbleiben von Substanz an der Glaswand, die aber
beim Zurückschieben wieder aufgenommen wird. Es wird da¬
her für jede Durchflußzeit auch das zugehörige / gemessen.
Andererseits rühren kleine Schwankungen in der Durch¬
flußzeit auch von Änderungen in der Struktur der kristallinen
Flüssigkeit her. Es wird daher stets ein Mittelwert aus
zahlreichen Beobachtungen benützt.
Die Radien der Kapillaren wurden mittels Lupe und
Glasmaßstab, der Druck in cm Quecksilbersäule gemessen.
Die Zahlenwerte der nachfolgenden Tabelle sind nicht
auf absolute Einheiten umgerechnet, haben also nur relative
Bedeutung.
Der Gang der Bestimmung soll an dem Beispiel der
Nr. 5 Tab. 4 (S. 31) ausgeführt werden:
7V = 0,3407 .
L — 10. p — 18. r = 1.
») Vgl. t. B. Kohl rausch, Prakt. Phys., 12. Aufl., 1914, S. 264.
I. Die Optik der Myelinformen.
37
Tab. 3.
Nr. der
Messung
Jpadenlänge
Durchfluß-
zeit
Nr. der
Messung
j Faden länge
Durchfluß- i
zeit
1
1 4’9
1
- - n
:o
7
4-4
4/
2
i
1 44
1
55 "
8
44
49"
3
44
50"
9
44
4 (> -5" I
4
44
5 3 "
IO
44
48 "
5
44
52"
1 1
44
45"
6
44
1 52"
i 1
Mittel aus den Messungen Nr. 4—11:
r — 49" / = 44
S>,
18-49
4,4 • 54
= 35.3
Tab. 4.
M
1
J 7*
.
8 *1
I
O
M65
50 i
2
0,140
1,1015
20
3
0,299
~
6,9
4
0,310
I,O 05
7,2 |
5
0.341
1,1015
'«ri
00
6
0,404
1,0895
123
0,616
1,082
«5
8
0,625
1 ,08 I 2
" j
9
o ,733
1,0737
174 !
IO
! 1,248
1,05
»3
n 1
* < 5,3 |
| 1,006
oö
R. Schachenmeier
3 s
§ 9. An den Werten der Tab. 4 § 8 wurde nun die in
£ 7 angegebene Berechnung ausgeführt. Nr. 11, 10 Tab. 4
haben annähernd gleichen Brechungsindex und Wasser¬
gehalt wie Nr. 17, 16 Tab. 2 S. 12.
Bildet man somit aus Nr. 11, 10, 9 Tab. 4 die Werte
= 12,5 ij >] = 4.3
und aus Xr. 17, 16 Tab. 2 den Wert
Ji R = — 2 und setzt Io R = x ,
so ist wegen (22) § 7
J i ij : Jo = .J, R : x ,
■* = — 0,7 .
Die Myelinform vom Radius
R,\ = /vj -fr- JoAo = 16 — OJ = I 5 o
hat somit nach Tab. 4 Xr. 9 den Brechungsindex
w = 1,0737 .
Aus Xr. 10, 9, 8, Tab. 4 folgt in derselben Weise
Jo }} : J ; * ij = 7\ : jt'
jv = — 1
A^ = A3 -4- I3 R = 15,3 — 1 = 14,3.
Die Myelinform vom Radius 14,3 hat nach Tab. 4 Xr. 8 den
Brechungsindex
n — 1,0812 .
§ 10. Trägt man den Wassergehalt 7 o des Ammonium-
oleats als Abszisse, den zugehörigen Reibungskoeffizienten
als Ordinate nach Tab. 4 § 8 in einem Koordinatens) r stem auf,
so zeigt die entstehende Kurve etwa bei :v == 0,404, 8 t] = 123
eine Spitze (Fig. 7). Wegen der Beziehung (22) § 7 zwischen
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
39
Reibungskoeffizient und Radius R der Myelinform von
gleichem Wassergehalt (bezw. Brechungsindex) muß auch die
Kurve eine Spitze aufweisen, welche durch Aufträgen von
Brechungsindex einer Myelinform und zugehörigem Radius
entsteht. Die Kurve 8 ist aus den Werten der Tab. 2 § 2
gebildet und zeigt in der Tat diese Anomalie.
Nach (15) (23) § 6 ist nun
(1) dR = - dra
2.-1 as
also
(2) R = — / ' r 7 d 7 v = /(re).
J ix«!
Wenn die Kurve
13) R = /(«')
eine Spitze zeigt, so folgt daraus notwendig, daß in diesem
Punkt der Integrand von (2):
sein Vorzeichen wechselt. Nach S. 22 ist bei einer virtuellen
Zustandsänderung s das Verhältnis der Längenänderung zur
ausgetretenen Menge Wasser. Wenn nun s bei bestimmtem
Wassergehalt sein Vorzeichen wechselt, so heißt das, daß
die eben definierte virtuelle Längenänderung bei niedrigerem
Wassergehalt eine Verkürzung, bei höherem eine Verlängerung
bedeutet (oder umgekehrt).
II. Plastizität
von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
§ 11. O. Lehmanns 1 ) Beobachtungen an Paraazo-
phenetol, Chinondihydroparadicarbonsäureester und besonders
Protokatechusäure lehren, daß Schubkraft chemische Um¬
wandlung bewirken kann und umgekehrt. Schubkraft kann
also das thermodynamische Gleichgewicht beeinflussen.
i) »Die neue Welt«, S. 333, Ann. d. Phys., 50, 555, 1916.
4 o
R. Schachenmeier
Dieses Ergebnis an den genannten Stoffen läßt es als
möglich erscheinen, daß auch das Mischungsverhältnis der
Komponenten der Myelinformen des Ammoniumoleats, näm¬
lich das der beiden Hydrate, etwa durch Abspaltung von
Wasser, insbesondere aber das der über und unter —4 0
beständigen Modifikationen, welche sich in innerem che¬
mischem Gleichgewicht befinden, durch die Schubkraft bei
mechanischen Deformationen gestört werde, so daß die
innere Reibung nicht als konstant betrachtet werden kann,
wie bei einer Substanz mit unveränderlichen Molekülen,
sondern mit fortschreitender Stärke der deformierenden
Kraft sich ändern muß. Am einfachsten liegt der Fall,
wenn nur-enantiotrope Modifikationen, die sich reversibel in
einander umwandeln, in Betracht kommen. Dieser Fall
liegt nach O. Lehmann vor bei amorphen Stoffen, in
welchen sich Moleküle verschiedener Modifikationen in einem
von der Temperatur abhängigen Gleichgewicht befinden
oder einem solchen zustreben. Gerade hier muß sich also
der Einfluß einer chemischen Änderung durch mechanischen
Zwang ganz besonders geltend machen. Der Fall ist auch
deshalb zur Betrachtung bequem, weil auf molekulare Richt¬
kräfte und Anisotropie der Stoffe keine Rücksicht zu
nehmen ist. Dasselbe gilt bei sog quasiisotropen Stoffen,
die aus sehr kleinen Kristallindividuen vollkommen regellos
aufgebaut sind. Die Gesamtwirkung der letzteren verwischt
jeden Unterschied zwischen einzelnen Richtungen, so daß
die Anisotropie gar nicht zur Geltung kommt. Diese Eigen¬
schaft kommt z. B. Marmor oder auch Metallen zu, doch
kann hier durch die Deformation selbst Anisotropie hervor¬
gerufen werden.
§ 12. Wir untersuchen die Änderung des Mischungs¬
verhältnisses der Komponenten durch Schubkräfte und die
mit solchen molekularen Umlagerungen verbundene Plasti¬
zität. Um nur homogene Deformationen zu erhalten, legen
wir dem Körper prismatische Gestalt bei.
Da viele Substanzen in mehr als zwei Modifikationen
Vorkommen, also ebenso viele verschiedene Molekülarten
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
41
anzunehmen sind, so ist auch der Fall zu berücksichtigen,
daß in einem Körper nicht bloß zwei sondern mehrere
Molekülarten nebeneinander vorhanden sind. Dies ist nach
O. Lehmann 1 ) vor allem bei amorphen Körpern der Fall.
Die nachfolgenden Deduktionen sind ohne weiteres auf
denselben übertragbar. Doch sollen der Klarheit halber
nur zwei Molekülarten behandelt werden.
Die chemische Analyse unterscheidet nicht zwischen den
beiden Molekülarten. Das Mengenverhältnis der chemischen
Elemente ist also in beiden dasselbe. Ferner gelingt es
nicht, bei Temperaturen unterhalb des Umwandlungspunktes
die beiden Molekülarten voneinander zu trennen. Die Sub¬
stanz kann nicht in zwei mechanisch voneinander trennbare
Bestandteile zerlegt werden, so daß jeder derselben nur
eine Molekülart enthielte. Mit dem Auftreten der einen ist
vielmehr auch das Vorhandensein der andern notwendig
verbunden. Diese beiden Tatsachen legen die Auffassung
nahe, daß das betrachtete System im Sinne der Gibbssehen
Phasenlehre eine aus nur einem unabhängigen Bestandteil
gebildete Phase darstellt. Der thermodynamische Zustand
dieses Systems hängt dann ab von den Variablen
<0 P, p, T, V, f i.
Dabei ist
P der allseitige Druck,
p die in der Längsrichtung auf das Prisma wirkende
Zug- oder Druckspannung,
V das Volumen,
«1 die Zahl der in der Masseneinheit enthaltenen Mole¬
küle erster Art (z. B. der »festen« Moleküle),
n-i die Zahl der Moleküle zweiter Art (z. B. der »flüssi¬
gen«) pro Masseneinheit,
n — Jiy n-2 die Gesamtzahl der Moleküle,
Iu = der Dissoziationsgrad 2 ).
1 ) »Die neue Welte, S. 119/120.
2 ) da es sich wohl um Dissoziation handelt bei Umwandlung von Mole¬
külen verschiedener Modifikationen» vgl. O. Lehmann, Molekularphysik, Bd. II.
S. 409. FUiss. Kristalle, 1904, S. 189 — 232.
Verhandlungen, 27 IM.
4
42
R. Schachenmeier
Wir nehmen an, daß die Anzahl der einen Molekülart
sehr viel größer sei als die der beigemischten zweiten Mole¬
külart. Das System stellt daher eine verdünnte Lösung dar,
es ist also nahezu
(2) n x = n , u = " 2 .
n
Der auf die Mantelfläche des Prismas wirkende allseitige
Druck P soll stets konstant angenommen werden. Wir
wählen außerdem das Prisma so lang, daß bei den in Be¬
tracht kommenden Längenänderungen die Änderung des
Querschnitts nicht in Betracht kommt. Sei ferner der Quer¬
schnitt gleich der Flächeneinheit, dann ist die Länge / = V
und dl= dV zu setzen. Aus (t) kommen also als Zustands¬
variable in Betracht
(3) A A V, fi .
§ 13. Da unser System eine Komponente in einer
Phase darstellt, so hängt der Zustand desselben von zwei
Parametern ab. Werden dieselben irgendwie gegeben, so
ist der thermodynamische Zustand des Systems eindeutig
festgelegt. Als willkürliche Parameter können irgend zwei
aus (3) § 12 gewählt werden. Die übrigen Variablen (3) § 12
sind dann durch die Werte der beiden willkürlichen völlig-
bestimmt.
Seien .r, y zwei beliebige Parameter aus (3) § 12, dann
ist bei einer durch Variieren derselben bewirkten Zustands¬
änderung die aufgenommene, bezw. abgegebene Wärme
(i) dQ = Xdx •+■ Ydy ,
wo X, Y Funktionen von x, y sind. Nach dem ersten
Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie ist ferner, wenn
U die innere Energie des Körpers und dQ in mechanischem
Maß gegeben ist
(2)
dQ = dU — / d V ,
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
43
und nach dem zweiten Hauptsatz gilt für die Entropie S'
( 3 )
Durch Kombination der beiden Gleichungen (1), (3) folgt die
allgemeine Formel 1 )
Die Umwandlung der »festen« Moleküle in »flüssige«
geschieht in bestimmtem Zahlen Verhältnis, so daß etwa v >
»Flüssigkeitsmoleküle« aus v\ »festen« Molekülen entstehen
und umgekehrt. Sind dann bei einer virtuellen Zustands¬
änderung unter konstantem p und T dti \, < 5 «•> die Änderungen
der beiden Molekülzahlen, so gilt
(5) < 5 «i : $«2 = )’i : v< .
Da das System eine verdünnte Lösung darstellt, so gilt ferner
( 6 )
r 2 dfi 1 r, r
/7 d t == A* 7 ’ J ’
wobei r die zur Dissoziation eines Moleküls erster Art in
Moleküle zweiter Art unter konstanter Temperatur T und
Spannung p erforderliche Wärmezufuhr ist 3 ).
§ 14. Um die bei einer adiabatischen Änderung des
Parameters/ auftretende Temperaturänderung zu bestimmen,
ist in § 13 x = T, y = /, X = Cp zu setzen, wo Cp die
Wärmekapazität des Körpers bei konstanter Spannung p ist.
Aus (1) und (4) § 13 folgt dann'’):
x ) Vgl. Chwolson, Lehrb. d. Physik, Bd. III, 1905, S. 506.
2 ) Das Zeichen
bedeutet, daß bei der Differentiation y konstant zu
halten ist, usw.
3 ) Für die Anwendbarkeit dieser Formel auf den Fall einseitiger
Spannung vgl. § 23.
4 ) Chwolson, 1 . c. S. 564.
4 -'
44
R. Schachenmeier
Bei dieser Zustandsänderung ist der Parameter [x voll¬
ständig durch p und T bestimmt, also auch dfi durch dp
und dT. Wenn wir aber annehmen, daß bei der adiabatischen
Spannungsänderung zunächst /t konstant bleibt und / um
dp sich ändert, dann p-\- dp konstant bleibt und /* um du
variiert, so ist der Endzustand nach diesen beiden Teilvor¬
gängen derselbe, wie wenn u von vornherein variabel
gewesen wäre, da es sich um unendlich kleine Änderungen
der Parameter handelt.
Wird der Vorgang als so verlaufend angesehen, so
lassen wir damit zu, daß der Dissoziationsgrad /x zeitweise
nicht eindeutig bestimmt sei durch p und T im Gegensatz
zu dem eben angeführten Satz der Phasenlehre. Jedoch
gilt letzterer nur im Falle des Gleichgewichts, während die
beiden fingierten Teilvorgänge Abweichungen vom Gleich¬
gewicht darstellen, so daß kein Widerspruch gegen die
Phasenlehre besteht 1 ).
Die beschriebene Zerlegung des bei adiabatischer
Spannungsänderung eintretenden Vorganges in zwei ge¬
stattet nun aber, die auftretende Änderung d/x des Para¬
meters il zu berechnen.
§ 15. Zu dem Zweck betrachten wir zunächst den
ersten Teilvorgang und berechnen die dabei unter der Be¬
dingung jti = const. auftretende Temperaturänderung. In
§ 13 ist zu setzen x = T, y — ft, ferner:
(1) dQ — c, t dT ■+■ Yd/t .
r,, ist die Wärmekapazität bei konstantem /i.
Y ist die Wärmezufuhr, welche nötig ist, um bei kon¬
stanter Temperatur den Dissoziationsgrad /1 um 1 zu erhöhen.
Wir setzen Y = o, so daß
(2) dQ = c„ dl'-+■ q du .
Gleichung (4) § 13 wird nun:
■ ) Dieser Nachweis wird ausführlicher in einem allgemeinen Fall, der
auch den vorliegenden umfaßt, gegeben in Ann. d. Phvs. 46, S. 393 ff, 1915 , § 5 .
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
45
Hieraus folgt:
( 4 )
oder:
(5)
Dies ist die beim ersten Teilvorgang auftretende Temperatur¬
änderung.
Bezeichnen c tfl , die spezifische Wärme und die
Volumausdehnung bei konstantem p und fx , so gibt Formel
(1) § 14 für denselben Vorgang
/ 1 ‘
dieser Wert (6) muß also mit (5) identisch sein.
Wenn wirklich, wie oben angedeutet, der Parameter /i
zwar durch p und T bestimmt ist, aber infolge eines trägeren
Verlaufs der Vorgänge im festen Körper Abweichungen
von dieser Regel eintreten können, dann ist die Möglichkeit
nicht ausgeschlossen, daß man bei der experimentellen Be¬
stimmung von Cp und in Wirklichkeit die Werte Cp„
und erhält. Hiermit hängt vielleicht der auffällige
Umstand zusammen, daß Edlund 1 ) bei der experimentellen
Prüfung der Formel (1) § 14 an Ag, Cu, Messing, Stahl
nicht nur keine Übereinstimmung, sondern systematische
Abweichungen fand. Da die experimentell bestimmten
Werte für dT ihrem absoluten Betrag nach sämtlich zu
klein waren, so liegt die Vermutung sehr nahe, daß die¬
selben sich nach (5), (6) bestimmen, während die Berechnung
nach (1) § 14 ausgeführt wurde, welche Formel nicht das-
x ) Pogg. Ann. 114» 13, 1861.
Verhandlungen, 27. Bd. 5
46
R. Schachenmeier
selbe Resultat gibt wie (5) § 15. Eine sorgfältige Bestim¬
mung der Konstanten und £>, bei welchen verzögertes
Konstantbleiben des fi ausgeschaltet wird, müßte dann den
Unterschied zwischen (1) § 14 und (6) § 15 zum Verschwinden
bringen. In der Tat erhielt Haga 1 ) vollkommene Über¬
einstimmung des Experiments mit Formel (1) § 14.
Nach § 14 bewirkt der zweite Teilvorgang die Ände¬
rung des beim ersten Schritt konstant gehaltenen Para¬
meters fi, während der Druck p +- dp konstant bleibt. In¬
folge der Konstanthaltung von fi ergab (5) § 15 einen von
(1) § 14 verschiedenen Wert für dT. Es muß daher gerade
die Differenz ö T beider Werte die Änderung des Parameters
fi im zweiten Schritt bestimmen.
Wir können nämlich nach § 1 das System als verdünnte
Lösung ansehen. Für dieselbe gilt die Formel (6) § 13, welche
die Größe 6 T mit der unbekannten dfi verknüpft. Nach (5)
§ 15 und (1) § 14 ist:
Nach (6) § 13 ist somit:
Betrachten wir nun fi und T als unabhängige Para¬
meter, so ist der neue Zustand der aus einer Komponente
gebildeten Phase vollkommen festgelegt durch die Werte
(5) § 15 und (8; § 15 für dT und dfi. Da der Vorgang
adiabatisch erfolgen soll, so ist nach (2) § 13
(0) pdV — dU ,
d. h. die geleistete mechanische Arbeit wird in innere Energie
verwandelt.
1) Wied. Ann. 15, 1, 1882.
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
47
Die Phase kann keinerlei Änderung ihres Energieinhaltes
bei festgehaltenen Parametern T, /x erleiden. Daher ist der
Wert der inneren Energie dU eindeutig bestimmt durch die
Parameteränderungen dT und d/x nach (5) § 12 und (8) § 15.
Wird, wie bei Belastungen unter der Elastizitätsgrenze,
die innere Energie wieder rückwärts in mechanische Arbeit
verwandelt, so ist also die elastische Formenergie eindeutig
bestiihmt durch die Werte dT und d/x. Das gilt auch für
Körper, die elastische Nachwirkung zeigen. Die innere
Energie dU wird auch bei den letzteren wieder in mecha¬
nische Arbeit zurückverwandelt. Nur ist der zeitliche Ver¬
lauf dieser Arbeitsleistung ein anderer.
§ 16. Wenn in dem betrachteten Körper aus irgend
einer Ursache die Parameter /x und T ohne Wärmeaustausch
mit der Umgebung variieren, so ist in § 13 x — T, y = /x,
X = c fl zu setzen. Aus (4) § 13 folgt
(i)
Einsetzen in (1) § 13 gibt, da kein Wärmeaustausch mit
der Umgebung erfolgt:
(2)
oder:
( 3 )
da —
dT .
Eine Temperaturerhöhung ohne Wärmeaustausch mit der
Umgebung tritt nun nach Formel (1) § 14 bei unserer adia¬
batischen Spannungsänderung wirklich ein. Ihr entspricht
daher nach (3) eine Änderung d/x des Parameters /x:
5 *
4 8
R. Schachenmeier
Diese Änderung von fi tritt zur Änderung (8) § 15
hinzu.
Es ist nun möglich, daß diese beiden Werte einander
gerade kompensieren, so daß das Endresultat gar keine
Änderung des Parameters n ergibt. Dies tritt ein (falls
Wärmeleitung ausgeschlossen ist), wenn
q ist der Größenordnung nach vergleichbar mit der
latenten Schmelzwärme, usw. mit thermischen Aus¬
dehnungskoeffizienten, denen gegenüber q groß ist. Daher
kann das erste Glied der Klammer links vernachlässigt
werden, so daß
( 6 ) =__.
T> r^i rin _f d o f d .n
U/JrU T)u
Infolge adiabatischer Spannungsänderung treten nach
(ö) § *5 und (8) § 15 die Parameteränderungen dT, d/i auf.
Ist aber die Bedingung (5) erfüllt, so tritt infolge dieser
Parameteränderungen Rückbildung der (in andere Lagen
gebrachten) Moleküle ein, nach deren Ablauf dT und dju
wieder gleich Null geworden sind, T und ju also ihre ur¬
sprünglichen Werte haben. Da die Reaktionsgeschwindigkeit
endlich ist, so tritt dieser Zustand erst nach einer gewissen
Zeit ein. Die Deformationsarbeit pdV wird dabei zunächst
in die innere Energie dU verwandelt:
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
49
in welchem Ausdruck die Werte (5) § 15, (8) § 15 einzusetzen
sind. Nachdem T, p ihre anfänglichen Werte wieder an¬
genommen haben, kann nach § 15 auch keine innere Energie
dU mehr vorhanden sein. Da bei diesem Prozeß keine
mechanische Arbeit geleistet wird, so muß dU als Wärme
frei geworden sein.
Dieser Vorgang ist natürlich als sich ständig wieder¬
holend zu denken, wenn die äußere Kraft p stetig wirkt.
§ 17. Erfüllen die physikalischen Konstanten eines
Körpers die Bedingung (5) § 16 nicht, so tritt infolge der
Parameteränderungen dT, dp [(5) § 15, (8) § 15] eine Reaktion
gegen die äußere Kraft auf, welche O. Lehmann als
'chemische Elastizität« bezeichnet hat. 1 )
Die in (5) § 16 auftretenden physikalischen Konstanten
des Körpers:
sind mit Temperatur T und Spannung p veränderlich. Bei
festgehaltener Temperatur T wird daher (5) § 16 erfüllt sein,
wenn p über einer gewissen Grenze liegt, dagegen nicht
erfüllt sein, wenn p unter dieser Grenze liegt. Man kann
also auch im Falle der chemischen Elastizität von einer
Elastizitätsgrenze sprechen, insofern bei Belastung unter der¬
selben die Verschiebung mit Nachlassen der Kraft wieder
völlig zurückgeht, über derselben wegen (5) § 16 jedoch
bleibende Deformation eintritt. Wirkt die Belastung über
der Elastizitätsgrenze stetig, so findet fortgesetzte Umwand¬
lung und Rückbildung der Moleküle nach § 16 unter Ent¬
wicklung von Wärme statt.
Diese anormale Plastizität macht sich ihrer Natur nach
bei Körpern in der Nähe des Schmelzpunkts geltend. Z. B.
zeigt nach O. Lehmann 2 ) Eis in der Nähe von o° eine
rasche Zunahme der Plastizität als Folge der bereits vor-
*) »Die neue Welt*, S. 333.
2 ) »Die Neue Welt«, S. 150.
50
R. Schachenmeier
handenen Wassermoleküle. 1 ) Die meisten Metalle, ebenso
Steinsalz, werden ebenfalls bedeutend plastischer in der Nähe
ihres Schmelzpunkts. Die Plastizität nimmt mit der Tem¬
peratur noch rascher zu bei amorphen Stoffen, z. B. Marine¬
leim, infolge der größeren Zahl von verschiedenen Molekül¬
arten.
Die Bedingung (6) § 16 vereinfacht sich, wenn sie auf
Körper in der Nähe des Schmelzpunktes angewendet wird.
Änderung des Dissoziationsgrades ft bewirkt beim Schmelz¬
punkt eine unstetige Änderung des Volumens. Dies macht
es wahrscheinlich, daß schon unterhalb des Schmelzpunktes,
aber in der Nähe desselben, sehr groß wird. Be¬
dingung (6) § 16 wird daher
Damit diese Bedingung erfüllt sein kann, müssen not¬
wendig und gleiches Vorzeichen haben. Da tt
und r kleine Größen und j ^ groß sind, so stehen in diesem
Fall auf beiden Seiten von (2) kleine Größen, so daß die
Gleichung annähernd erfüllt ist. Beim Eis ist
und < o , wie aus dem Schmelzvorgang za schließen
ist. Es ist aber auch möglich, daß Körper plastisch sind,
welche beim Schmelzen Volumzunahme zeigen, falls dann
nur (d/i> o5st -
§ 18. In den erwähnten Fällen ist die anormale, auf
Umwandlung und Rückbildung der Moleküle beruhende
*) Wir setzen hier voraus, daß außer der Schmelzpunktserniedrigung durch
Druck und außer den G leitflachen bei Eis auch noch wahre, von Störung des
Raumgitters begleitete Plastizität vorhanden sei. S. a. O. Lehmann, »Flüss.
Krist.*, 1904, S. 14, Ann. d. Phys. 50, 555, 1916. — Die Gleitflächen werden
in Ann. d. Phys. 46, 393 » 1915 behandelt.
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen. sj I
Plastizität nur beobachtbar als Überlagerung über eine schon
vorhandene normale Plastizität, welche als Gleiten der Mo¬
leküle ohne Umwandlung zu deuten ist. Es ist daher erforder¬
lich, auch diese letztere Art zu behandeln.
Wird ein Körper unter Störung seines Raumgitters
deformiert, ohne daß nach Aufhören der äußeren Kraft die
Deformation zurückgeht, so müssen die Molekeln in der
neuen Raumgitteranordnung sich wiederum in stabilen
Gleichgewichtslagen befinden. Nach O. Lehmann 1 ) sind
die Kräfte, welche bei solcher Störung des Raumgitters
geweckt werden, zum Teil Zentralkräfte, zum Teil moleku¬
lare Richtkräfte. Aufgabe der Theorie ist es nun nachzu¬
weisen, daß unter dieser Annahme wirklich nach Störung
des Raumgitters neue stabile Gleichgewichtslagen möglich
sind.
Betrachtet man die Materie als Kontinuum, so ist die
allgemeinste Deformation vollständig zu beschreiben durch
die 6 Deformationsgrößen
(1) x x , Xy , x z , y y , y x , z z = Xi, x 2 , x 3 , x 4 , x 5 , x 6 .
Die Störung des Raumgitters selbst ist aber durch die¬
selben noch nicht eindeutig festgelegt. Es müssen nach
W. Voigt 2 ) 3 weitere Parameter hinzukommen, wenn die
Störung des Raumgitters vollständig beschrieben werden
soll. Wir deuten diese »verborgenen Koordinaten« des
Gitters als Verdrehung des Moleküls gegen das Volum¬
element; sie seien mit
(2) Ol , 02 , O3
bezeichnet. Wir behandeln im folgenden den einfachsten
Fall, daß nur einer von diesen drei Parametern (2) zu be¬
rücksichtigen sei. Derselbe werde mit o bezeichnet. Falls
alle Parameter (2) in Betracht kommen, so sind die nach¬
folgenden Rechnungen ohne weiteres übertragbar.
1) .Die Neue Welt«, III u. XL.
2 ) Kristallpkysik, VII. Kap., II. Abschn.
52
R. Schachen meier
§ 19. Solange a klein ist, führt die Anwendung der
beiden thermodynamischen Hauptsätze auf unser System
formal zu denselben Rechnungen wie in § 13 —16. An
Stelle des Parameters ju ist hier die Verdrehung a zu setzen.
Wir können daher die dort erhaltenen Resultate benützen.
Hat der Körper wieder prismatische Gestalt, so bewirkt
eine adiabatische Spannungsänderung dp nach (5) § 15 die
Temperaturerhöhung x ):
und analog zu (8) § 15 eine Änderung des Parameters o'j:
Solange diese Änderungen bestehen, sind die Moleküle
des Raumgitters aus ihren Gleichgewichtslagen entfernt und
haben das Bestreben, in dieselben zurückzukehren. Dies
macht sich geltend als elastische Reaktion gegen die
äußere Kraft. Die aufgespeicherte, von der geleisteten
Arbeit herrührende, elastische Formenergie ist
( 3 )
dU =
dU dU
d r do
da ,
worin die Werte (1), (2) einzusetzen sind.
Die durch dT, da (1), (2) definierte neue Lage der
Molekeln des Raumgitters kann nun aber wieder eine
Gleichgewichtslage sein, wenn nämlich analog zu § 16
+ rT\
(5f)r (£),
/-\
1
1
cT
1 ''IßMr-ßM.
*) Die zur Ableitung dieser Formel nötigen prinzipiellen Erwägungen
s. Ann. d. Phys. 46, S. 393 ff., 1915, insbes. § 6. c ist das molekulare Dreh¬
moment, welches die Verdrehung 0= 1 hervorruft.
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
53
In diesem Fall kompensieren sich dT und da gegen¬
seitig, so daß am Ende des Prozesses die Parameter ihre
ursprünglichen Werte wiedererlangt haben, der Zustand des
Raumgitters also dem ursprünglichen gleichwertig, d. h.
eine Gleichgewichtslage ist. Die von den äußeren Kräften
geleistete Arbeit wird dabei als Wärme frei.
Der Vorgang ist anschaulich so zu deuten, daß infolge
der Störung des Raumgitters die Moleküle zunächst aus
ihren Gleichgewichtslagen abgelenkt werden. Sic schnellen
nun aber in neue Gleichgewichtslagen, geraten dabei in
Schwingungen 1 ), was als frei werdende Reibungswärme in
Erscheinung tritt.
Wirkt die äußere Kraft stetig, so gelangen die Moleküle
fortgesetzt in immer andere Gleichgewichtslagen.
§ 20. Die Einführung des Parameters o ermöglicht es,
die molekularen Richtkräfte in den rechnerischen Ansatz
einzusetzen. Daher kommen dieselben auch in der Be¬
dingung (4) § 19 vor in Gestalt der spezifischen Wärme c n ,
der Volumänderungen ] . der Spannungsänderungen
(do)r’ (dr) unc * c ' Gr inneren Arbeit r. Außerdem tritt o
selbst in (4) § 19 auf.
Die in (4) § 19 auftretenden Größen sind variabel mit
T und p. Ist die Gleichung (bei festgehaltener Temperatur)
schon für p = o erfüllt, so ist die Elastizitätsgrenze gleich Null.
Ist die Elastizitätsgrenze = p 0 o, so ist (4) § 19 erst für p=p 0
und für höhere Werte erfüllt, o hängt ebenfalls von p, T
ab und ist gleich Null, wenn p — o (da die Moleküle eines Kör¬
pers im spannungslosen Zustand auch nicht gegeneinander
verdreht sind). Wenn also (4) § 19 für 0 = 0 erfüllt ist, so
ist die Elastizitätsgrenze der Substanz gleich Null.
Ist r = o, so sind beliebige Verdrehungen der Moleküle
bei konstanter Temperatur T und Spannung p möglich ohne
Arbeitsleistung. Die Köordinate a kann daher auch nicht
*) O. Lehmann, »Neue Welt«, S. 358.
54
R. Schachenmeier
durch Volumänderungen beeinflußt werden, da bei diesen
Arbeit geleistet wird, o ist also unabhängig von V, d. h.
(0
oder
T
00 .
Die Bedingung (4) § 19 kann aber jetzt nur noch erfüllt
sein, wenn auch 0 — 0, d. h. wenn die Elastizitätsgrenze Null
ist. Es ist damit gezeigt, daß in unseren Formeln auch der
Spezialfall von Flüssigkeiten enthalten ist. Als solche sind
leichtflüssige Substanzen wie Wasser zu betrachten, deren
Moleküle keine molekularen Richtkräfte aufeinander aus¬
üben (r = o), und deren Elastizitätsgrenze gleich o ist. Ist die
innere, zur Verdrehung der Moleküle bei konstanten T, p
nötige, Arbeit r von Null verschieden, aber (4) § 19 erfüllt,
wenn 0=0 ist, so weist die Substanz ebenfalls keine Ver¬
schiebungselastizität auf, ist also als Flüssigkeit zu bezeichnen.
Aber die Moleküle üben gegenseitig Richtkräfte aufeinander
aus, wodurch innere Grenzen verschieden orientierter Ge¬
biete, spontane Homöotropie usw. zustande kommen. Dies
ist der Fall bei den kristallinen Flüssigkeiten. (Um unsere
unter der Voraussetzung der Isotropie gewonnenen Formeln
auf dieselben anwenden zu können, müssen wir annehmen,
daß durch Fächerstrukturen, Zwillingsstellungen, konische
u. a. Strukturstörungen die Anisotropie der Substanz für
größere Bereiche verwischt wird. Die Anisotropie wird be¬
rücksichtigt im Anhang, § 9.)
Andere Stoffe schließlich erfüllen die Gleichung (4) § 19
erst, wenn a einen bestimmten endlichen (wenn auch kleinen)
Wert erlangt hat und bei noch höheren Werten. Die Mo¬
leküle müssen hier etwa bis zu einer gewissen Grenzlage
gedreht werden, bevor Gleiten derselben eintreten kann.
Die Kraft, welche notwendig ist, um die Moleküle gerade in
die Grenzlage zu bringen, ist die Elastizitätsgrenze 1 ). Plastische
Deformation durch Belastung über der Elastizitätsgrenze ist
eine bei sehr vielen Stoffen (namentlich auch Metallen,
heißem Glas, Siegellack, Pech) beobachtbare Erscheinung.
*) Unter derselben ist die Elastizität nach dem in § 15 Gesagten voll¬
kommen.
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
55
Wenn die Konstanten in (4) § 19 mit wachsender Tem¬
peratur verhältnismäßig geringe Änderungen zeigen, so ist
diese Gleichung schon bei kleineren Werten a erfüllt. D. h.
die Elastizitätsgrenze sinkt mit steigender Temperatur. Hier¬
auf beruht wohl zum Teil die außerordentliche Zunahme der
Plastizität, wie sie z. B. manche Metalle und namentlich
amorphe Körper mit steigender Temperatur aufweisen.
Die Werte (5), (8) § 15 für dT und da bedeuten eine
gewisse Abweichung des Raumgitters vom Gleichgewichts¬
zustand, welcher erst wieder erreicht wird, wenn T, o ihre
ursprünglichen Werte erlangt haben. Diese Drehung der
Moleküle aus einer Gleichgewichtslage in die andere braucht
stets eine gewisse Zeit. Bei sehr kurz andauernden Bean¬
spruchungen kann daher ein Körper, der Bedingung (4) § 19
erfüllt, unvollkommene Elastizität zeigen. Dies ist z. B. bei
Marineleim der Fall. Ist die momentane Belastung zu groß,
so daß die Umlagerung der Moleküle nicht folgen kann, so
tritt kein Fließen sondern Zerbrechen ein (Marineleim, der
unter der Wirkung seiner eigenen Schwere fließt wie eine
zähe Flüssigkeit, splittert unter Hammerschlägen wie Glas 1 ).
Eis läßt sich nach Reu sch mit dem Diamant schneiden
wie Glas 2 ).
§ 21. Durch die Betrachtungen der §§ 12—20 ist die
homogene Deformation eines Prismas bei Belastung über
der Elastizitätsgrenze erklärt. Unter der Wirkung beliebiger
äußerer Kräfte kommen jedoch komplizierte Strömungen zu¬
stande. Besonders bemerkenswert sind die Torsionsversuche,
welche O. Lehmann mit Marineleim vorgenommen hat 3 ).
Die Substanz strömt dabei ebenso wie eine zähe Flüssigkeit.
Insbesondere haben die Stromlinien dieselbe Gestalt. Es ist
zu zeigen, daß die im vorigen gegebene Theorie diesen
Tatsachen gerecht werden kann.
Wir betrachten zu dem Zweck einen Würfel aus der
betreffenden Substanz und lassen so kleine Normalspannungen
*) Vgl. O. Lehmann-Frick, Pbysikal. Technik, I, 2, S. 779.
2 ) Vgl. O. Lehmann, »Flüss. Krist.«, 1904, S. 11.
3 ) Phys. Zeitschr. 8, 386. 1907. »Die Neue Welt«, S. 24 ff.
-6 R. Schachenmeier
/>i . pi , pi auf dessen Seitenflächen wirken, daß die Größen
mit p \, pi , pi nicht variieren, so daß
Ist nun die Bedingung (4) § 19, bezw. (5) § 16 für diese
Konstanten (1), (2) erfüllt, so rufen die Spannungen pi , /_>,
/;i plastische Deformation des Würfels hervor.
Wirken auf ein beliebig gestaltetes Stück dieser Sub¬
stanz irgend welche äußere Kräfte, die klein von der Ord¬
nung der Pi , pi , pi sind, so wirken auch auf jeden Elemen¬
tarwürfel, der an irgend einer Stelle herausgeschnitten gedacht
wird, kleine Kräfte. Wir denken uns die Würfelkanten
parallel den Hauptspannungen orientiert. Auf die Seiten¬
flächen wirken dann gewisse Normalspannungen pi , p >,
Da (5) § 16 oder (4) § 19 erfüllt sein soll für die Konstanten
(1) so wird jeder Elementarwürfel unter der Wirkung der
Normalspannungen p \, /_>, p,\ dauernd deformiert: Der ganze
Körper »fließt« unter dem Einfluß der äußeren Kräfte.
Infolge der deformierenden Kräfte tritt nach (1), (2) § 19
zunächst eine Verdrehung der Moleküle (bzw. eine Änderung
des Dissoziationsgrades /t nach (5) § 15, (4) § 16) ein, die bewirkt,
daß dieselben in neue Gleichgewichtslagen einschnappen
(bezw. Rückbildung eintritt). Die (gewöhnlich) kleine hierzu
nötige Relaxationszeit« sei t. Während derselben leistet
der Körper elastische Reaktion. Ist X die Kraftkomponente
in der .r-Richtung und sind u, v, w die Verschiebungs¬
komponenten, so gilt daher
(3) k' Au -»- (/. -+- k') dj* + = o ,
wo s die Dichte und
14 )
du d'u
öy ! " l " d z 1 ’
&
du dv d ü-
— “H "f* -
d v ^ dy dz ’
ferner die elastischen Konstanten des Materials sind.
II. Plastizität von amorphen und mikroktistallinen Stoffen.
57
Da die Kraft X stetig wirkt, so wiederholt sich der
molekulare Vorgang beständig. — Nun können wir r als
Zeiteinheit wählen. Dann sind die u, v, w Verschiebungs¬
komponenten in der Zeiteinheit, d. h. die Geschwindigkeits¬
komponenten, und (3) stellt die Bewegungsgleichung des
resultierenden Strömungsvorgangs dar. Für die Kraftkom¬
ponenten Y, Z ergibt sich analog
(5) VAv -+- (/ -t- /') -t- sY = o ,
(6) VA iv -+•(/-+- V) -1- s Z — o .
Die gemäß diesen Gleichungen (3), (5), (6) bestimmten
Geschwindigkeitskomponenten u, v , w sind nicht von der
Zeit t abhängig, da wir die äußeren Kräfte als konstant
ansehen. Die Bewegung ist also stationär.
Sind u, v, w aus diesen Gleichungen bestimmt, so er¬
hält man die Bahnlinie irgend eines Teilchens durch Inte¬
gration der Differentialgleichungen
^ dx _ dy _ dz
U V TV
Die von der phänomenologischen Hydromechanik auf¬
gestellten Gleichungen der Flüssigkeitsbewegung lauten
( 3 )
, 1 d 0 v
vAu-\ - v 3—»- sA = o
3 dx
1 I Ö&) -Wf
vAv H- V X- - ■+■ sY = o
3 dy
. 1 d& „
vAw - v x — h s Z = o ,
3 dz
wo X, Y, Z die äußere Kraft und v den Reibungskoeffi¬
zienten darstellen.
Bei den in Betracht kommenden Experimenten ist die
Volumendilatation 0 in allen Punkten dieselbe, also in ( 8 )
sowohl wie in (3), (5), (6) , ~, = o zu setzen. Daher
lauten (3), (5), (6):
(9) VAu -+- sX = o , VAv -+- jI' = o , VAw ■+■ s Z = o .
5*
R. Schachenmeicr
und ( 8 ):
(io) v \u sX = o , v.\v + xF=o , vAw •+• s Z = o ,
haben also genau gleiche Form. Nach (7) folgt hieraus,
daß auch die Stromlinien bei Marineleim genau dieselbe
Gestalt haben müssen, wie wenn die tordierte Platte aus
einer beliebigen anderen Flüssigkeit bestände. Dies zeigt
sich auch bei den O. Lehmann sehen Versuchen.
Aus den Gleichungen (q) berechnet sich auch die Be¬
wegung der Substanz, wenn sie aus einer Öffnung unter
Druck 1 ) ausgepreßt wird. Da (q) mit (10) der Gestalt nach
übereinstimmt, für (10) aber die Strömungsgesetze durch
enge Röhren bereits aufgestellt sind, so müssen für (9) die
selben gelten, nämlich das Poisseuillesche Gesetz. Die
Versuche von Glaser, Reiger, Ladenburg haben nun
wirklich ergeben, daß die Ausflußgeschwindigkeit dem
Poisseuilleschen Gesetz folgt 2 ).
§ 22. Plastische Deformation an einfachen Kristall¬
individuen kann ohne Störung der Raumgitterordnung ver¬
laufen, wie dies bei Translation nach Gleitflächen und künst¬
licher Zwillingsbildung der Fall ist 5 ). Andererseits ist auch
mit Störung des Raumgitters verbundene Plastizität ein¬
facher Kristallindividuen möglich. Dieselbe wurde entdeckt
von O. Lehmann an Gips und Ammoniumnitrat 4 ). Diese
Kristalle lassen sich wie weiche amorphe Körper unter
Störung des Raumgitters biegen. Derartige Plastizität wurde
später auch nachgewiesen von Mi Ich 5 ) und Ritzel 6 ) an
Steinsalz. Uber 200° lassen sich Steinsalzkristalle beliebig
deformieren, ohne ausgezeichnete Gleitrichtungen zu zeigen.
J ) In Form eines festen Strahls.
2 ) Vgl. Kurnakuw u. Zcmc£u2ny, Jahrb. tl. Rad. u. EI. II, 1914, p. 4.
3 ) C). Lehmann, »Die neue Welt«, S. 43 — 45. Ann. d. Phys. 50,
555 , 1916.
i) Derselbe, Zeitschr. f. Krist. I, I IO, 1S77. — »Fluss. Krist.«, 1904, S. 20.
5 ) Milch, Neues Jahrb. f. Mineralogie I, 72, 1909.
ü ) Ritzel, Zeitschr. f. Krist. 53, 127, 1913.
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
59
Endlich fand O. Lehmann unter den flüssigen Kristallen
Substanzen, die als vollkommene Flüssigkeiten anzuspre¬
chen sind.
In »Theoretisches über Gleitflächen und Kristall¬
plastizität im allgemeinen« T ) wird die Plastizität einfacher
Kristallindividuen mit und ohne Erhaltung der Raum¬
gitterstruktur untersucht. Ist Deformation eines Kristalls
mit Verdrehung seiner Moleküle (relativ zum Volumelement)
verbunden, so sind außer den 6 Deformationsgrößen X/,
di — i, 2, 3, 4, 5, 6) noch die Komponenten oi, 02, 03 der re¬
lativen Verdrehung der Molekeln gegen das Volumelement
notwendig, um die ganze Raumgitterstörung zu beschreiben.
Enthält der Kristall (insbesondere in der Nähe der Um¬
wandlungstemperatur) Moleküle einer anderen Modifikation,
so ist nach dem früher (S. 6/7) gesagten die Störung des
Gleichgewichts zwischen den beiden Molekülarten infolge
der Deformation zu berücksichtigen und das Verhältnis /u
der beiden Molekülarten neben den Deformationsgrößen x A
di = 1, 2, 3, 4, 5, 6) wesentlich für den thermodynamischen Zu¬
stand des Volumelements. Im folgenden wird der einfachste
Fall zugrunde gelegt, daß neben den Xh [h — 1, 2, 3, 4, 5, 6)
nur einer von den Parametern /t oder o \, a >, 03 in Betracht
kommt.
§ 23. In dem Fall, wo der Kristall Moleküle einer
anderen Modifikation enthält, stellt er einen Mischkristall
aus physikalisch molekular-isomeren Molekülen dar und ge¬
stattet daher eine besondere thermodynamische Behandlung.
Eine beliebige Zustandsänderung kann nämlich berechnet
werden, wenn man dieses System als verdünnte Lösung
betrachtet. In der Tat hat O. Lehmann nachgewiesen, daß
die Bildung von Mischkristallen große Verwandtschaft zeigt
mit gewöhnlichen Mischungsvorgängen bei isomorphen wie
bei nicht isomorphen Stoffen 2 ). Da die Zahl der beigemischten
1) Ann. d. Phys. 46, 393, 1915.
2 ) O. Lehmann, Wied. Ann. d. Phys., 24, 1, 1885; 38, 398, 1889.
Sitzungsber. d. Heidelb. Akad. 1902, Nr. 13. Die Lehre von den flüssigen
Kristallen. Wiesbaden 1918.
6o
R. Schachenmeier
Moleküle der zweiten Modifikation gering ist im Vergleich
zur Anzahl der Moleküle erster Art, so ist man berechtigt,
die Lösung als verdünnt anzusehen.
Bei einer verdünnten Lösung lassen sich zwei bestimmte
Angaben machen über die Art der Abhängigkeit, welche
zwischen der Energie U und den Molekülzahlen n .\, «2 be¬
steht, ebenso über die Abhängigkeit zwischen den Defor¬
mationsgrößen Xh und den Molekülzahlen.
Für Xh folgt der Ansatz
(1) Xh = ft[ Xh l) ■+■ »2 x* } ,
worin x'h , x'h von den Molekülzahlen unabhängig sind,
aus der Annahme, daß eine weitere »Verdünnung« keine
spezifische Deformation des Mischkristalls bewirkt, d. h. daß
die aus zwei aufeinanderfolgenden Verdünnungen folgenden
Deformationen sich einfach addieren.
Für die Energie U wird der entsprechende Ansatz
(2) V = ;/i -+- «2 i rC)
dadurch gerechtfertigt, daß eine weitere Verdünnung auch
keine spezifische Wärmetönung hervorruft.
Für eine Änderung der Entropie S bei konstanten ,
«2 gilt nun
(3)
dS =
dU - 2/, x, t d.\j
T
wobei
x , x, x ., 1;, z t = x, x 2 . x 3 , x it Xu x,
die Komponenten des am Volumelement an greifen len
Spannungstensors sind, also wegen (1), (2)
(- 1 )
dS =
dt”'
tt 1
2V, X h d.X
dl”-' - 2V -V
T
h i{ x h
Da die Größen , U' : - ) , xy, x'h wohl von T, X ), , nicht
aber von ;/ t , n> abhängen, so müssen in (4) die Koeffizienten
von «1. auch einzeln vollständige Differenziale sein:
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
6l
(5) =
dU (V) - Xa X. dx { "
dS, =
dU {1] - Xa X. dxj)
T
d. h. also
( 6 ) dS = «i dS\ -+- v > dS’i ,
und hieraus
(y) .S — + llo ».S-j + C .
Die Konstante C kann nicht von Xa , T, dagegen von
«i, «2 abhängen. Um dieselbe zu berechnen, benützen wir
den der Theorie der verdünnten Lösungen entnommenen
Gedanken, wonach durch gehörige Steigerung der Tempe¬
ratur und Verringerung der Spannungen das System in ein
Gemisch idealer Gase übergehen muß. Daß diese Annahme
unter allen Umständen berechtigt ist, trotzdem der Vorgang
nicht realisierbar zu sein braucht, ist begründet bei Planck,
Thermodynamik, 3. Aufl. 1911 § 254. Da die Konstante C
unabhängig von T , Xh ist, so hat sie in diesem Zustand
denselben Wert und ist aus der Thermodynamik idealer Gase
bekannt:
( 3 ) C = — Rlog - -h n-2 ^2 — Älog ) •
ki , £2 sind konstant und X die Gaskonstante. Setzen wir
so wird
(10) S = ti\ (ß\ -t- ki — R log c{j n-2 (S2 ■+■ ki — Alog ci)
Setzt man schließlich
(11)
— .Si — ki
— < 5*2 — ki ■+•
U [ " - Xa x. r
( 1 )
A ■' A
T
= n
U { - ] -Sa X kX \
(2>
h _
62
R. Schachenmeier
und führt die bekannten thermodynamischen Potentiale ein'):
k = U— TS
C = £ + ix* X k
h = 1
so folgt
< 12) 0 = y. = -t- ^?logri) -+- ?i >((p2 ■+■ AMogr_>) .
Nehmen wir nun an, es sei in unserem System eine
Zustandsänderung bei konstanten T, X* (h = i, 2, . . , 6)
möglich derart, daß sich die Molekülzahlen n\ , um < 5 »i,
d«2 ändern, wobei nach (5) § 13
(13) Sni: dn > = n:v-2 .
Dann besteht ihr gegenüber Gleichgewicht, wenn bei
konstanten T, Xm
(14) < 5 <Z> = o oder <5£ = o
also nach (12), wenn
( 1 5 ) (01 ■+■ Zv 1 log ri) < 5 «! (t\> ■+■ R log <:•_>) d»2
-4- «1 < 5 (t?i -4- R log c{) -4- «2 (7 2 •+■ A! log rj) = o
ist. Nun sind die Größen (11) nur von T, A* abhängig,
also ist
( 16 ) <5<7>i = <5 (p> = o .
Ferner ist nach (9)
(17) «i< 51 ogCi -+- « 2 < 51 ogtj = («1 - 4 - «L>) ('5 <'1 -4- öco) .
Es ist aber außerdem
(18) <4 + <•)=• h- -■ = 1 , also bc\ -4- <5co = o .
' - n, + n, + n.
*) Vgl. Ann. d. Plivs. 46. 393 ff. 1915, § 2.
II. Plastizität von amorphen und mikrokristallinen Stoffen.
63
Somit ist auch
(19)
ny d log cy ■+• n± d log c 2 = o .
(15) lautet*jetzt mit Hilfe von (13):
(20) Vy log Cy H- V 2 log C) = — {viTi •+“ V 2 (p'i) .
Die rechts stehende Größe ist nur von T , X h abhängig; wir
setzen sie
(2 1) — ' A , ()-! 9 , -+- V. 2 Cf'.,) = log K .
Die Abhängigkeit zwischen K und T ergibt sich aus
(22)
d log K
dT
d<r v
dT
V-y
drA
dT) •
Wir machen nun das System zu einem zweiparametrigen,
indem w T ir alle Kräfte X h (A = 1, 2, . . , 6) außer einer, X, t
festhalten. Wegen (11) ist dann bei irgend einer unendlich
kleinen Änderung von T und X t (während alle Xh {h /)
konstant gehalten werden):
3 ) dcpi = — dSy -+-
äü {l} - (Xk x h Jx
JX; U {) - (Za X m x 'J>)
T-
dT
dl 7 ' 2 ' - (Za X, dxf) - .vf JX U ( ' 2) - (Za X,
4) d T2 = - dS> -+- -- ----‘- — d- d T
T
T 1
0) _ v 7 . r. v a> ,, . 1 /( 2 ) _ V. V// v £)
Also gilt wegen (5):
Daher folgt nach (22), (23), (24)
(*« ( d 7 / : ). Vi . =
64
R. Schachenmeier
Wegen (i) ist vix^ ■+■ Vox*' 2 '' die Änderung der Defor-
mationsgröße x* und wegen (2) n [/ {1) ■+• v 2 U (2 ' die Änderung
der Energie U, beide im Falle die Variation (13) bei kon¬
stanten T, Xi vor sich geht Die bei diesejn Prozeß von
außen zugeführte Wärme q ist demnach
(27) U w + v> U {2) - 2 * X A ( n A'i 11 v 2 x?) ,
und bei Dissoziation eines Moleküls erster Art ist die nötige
Wärmezufuhr
(28) r = - -+- v 2 ü t{2} )
V l
Xh (
n
J.2)\
r-2 Xh ) •
Somit wird (22):
Da das System eine verdünnte Lösung ist, so ist
fi = - nahezu == 1, also in (20) logr L zu vernachlässigen.
n { + w
Die Gleichung lautet also
(30) v> log c 2 = log K ,
und wegen (29) ist
Da nach (9) nahezu ft = c± , so gilt
(32)
oder
(33)
r
RT' S
du =
r, r f t
r 2 Rn
dT .
Diese Gleichung wurde schon in (6) £ 13 benützt.
Die Hypothese von Prout über das Urelement . 1
Von Max E. Lembert.
(Einleitung — geschichtlicher Rückblick — das periodische
System — die Radioaktivität — die Atomistik — Schluß.)
So weit wir den menschlichen Forschungsgeist geschichtlich
zurück verfolgen können, finden wir ihn in allen Kulturperioden
bemüht, die verwirrende Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf
einen gemeinsamen Urgrund, auf wenige oder einen einzigen
Urstoff als Baustein aller Materie zurückzuführen. Wenn man
von den rein mystischen Ansichten der primitiven Völker absieht,
denen das Feuer oder das Wasser als dieser Urstoff erschien, so
sieht man gerade von den ersten Anfängen naturwissen¬
schaftlicher Erkenntnis, etwa von Anaximander und Empedok-
les an, dieses Bedürfnis nach einer ordnenden Einheit der Materie kla¬
rer hervortreten, das sich bei Platon zu der Annahme verdichtete, daß
eine prima materia, eine Tiocort] idrj y das gemeinsame Substrat aller
Elemente und Verbindungen bilde. Auch Aristoteles und die
spätere jonische Schule haben ihre vier Elemente ausdrücklich als
die nur verschieden kombinierten Eigenschaften (kalt, warm, feucht
trocken) einer einzigen Ursubstanz beschrieben. Seitdem ist durch
alle Fortschritte und Irrtümer hindurch, durch die alexandrinischen
und arabischen Alchimisten, durch die Jugendjahre der wissen¬
schaftlichen Chemie bis auf den heutigen Tag jene Forderung nach
einem „Prothyl“ aller Materie wie eine Verheißung mitgewandert,
weil man nur von ihr einen klärenden Lichtstrahl in chemische
Vorgänge erhoffen konnte.
1 Habilitationsvortrag, gehalten am 5. Juni 1920 an der Techn. Hochschule in
Kailsruhe.
68
Max E. Lembert.
Die letzten Zusammenhänge der Stoffe miteinander sind der
chemischen Kenntnis freilich auch heute noch recht verborgen;
für sie blieb das Atom der einzelnen Elemente der unentbehr¬
liche, unantastbare Baustein. Erst durch die letzten Erfolge der
Forschung dürfen wir uns an der Schwelle zu neuen Einblicken
fühlen, die auch der Chemie bereits Neuland zu erobern beginnen.
Freilich haften auch diesen modernen Vorstellungen noch ver¬
schiedene Hypothesen an, die immer wieder auf das Urelement
hinauslaufen.
Seit den etwa 150 Jahren, in denen wir von Chemie als einer
exakten Wissenschaft reden können, knüpft sich der geschicht¬
liche Faden des Urstoffproblems an den Namen des Engländers
Pr out, welcher die uns bekannteste Hypothese über das Prothyl
aufstellte, und zwar in folgender Form:
Setzt man das Verbindungsgewicht 2 des leichtesten Elements
unserer Erdkruste, des Wasserstoffs (H), willkürlich gleich 1 und
bezieht die Verbindungsgewichte der anderen Elemente auf ihn
als Einheit, so erhält man nahezu ganze Zahlen. Darnach könnten
die Elemente Vielfache (Polymere) des Wasserstoffs und dieser
selbst etwa jene Urmaterie vorstellen. Diese kühne Hypothese
können wir nun, da wir seitdem über 100 Jahre lang Erfahrungen
sammeln konnten, an diesen prüfen, ergänzen und mit unseren
jüngsten Hypothesen vergleichen. Wir werden dabei sehen, daß
die Proutsche Hypothese, wohl zehnmal zum Tode verurteilt,
doch immer wieder ihre Ansprüche erhob und soviel gesunden
Kern enthalt, daß sie fortbestand und heute, in einer kleinen
Abänderung, sogar als glänzend gerechtfertigt gelten kann.
Um die Kühnheit von Prouts Hypothese und deren Wirkung
auf die Zeitgenossen verstehen zu können, muß man sich jenes
Zeitalter chemischer Forschung kurz vergegenwärtigen.
Die Phlogiston-Hypothese war durch Lavoisier eben erst
zur Strecke gebracht worden, und Daltons Atomtheorie kämpfte
um ihre Anerkennung. Nun hatte zwar Dalton selbst, der seinen
Atomen verschiedenes Gewicht und Größe zuschrieb, deren Ver¬
bindungsgewichte ebenfalls auf Wasserstoff als Einheit bezogen, ohne
indessen zu Beginn seiner Arbeiten die Atomgewichte (A.G.) der
- Das Vcrhimlungsgewicht (V.G.) bezeichnet hier die kleinste Gewichtsmenge
eines Elementes, die sich mit einem Gramm-Atom Wasserstoff verbindet.
Die Hypothese von Prout über das Urelement.
69
schwereren Elemente als Vielfache des kleinsten zu betrachten. Seine
erste Tabelle vom Jahre 1804 (Tabelle 1) gibt für das V.G. von Sauer-
Tabelle 1.
Element
V.G.
Wasserstoff.
Kohlenstoff.
5 ;
Stickstoff.
5
Sauerstoff.
6.5
stoff einen Dezimalbruch an. Später hat er alle V.G. als ganze
Zahlen angeführt, ohne sich jedoch darüber auszusprechen, ob dies
in bestimmter Absicht oder mit Rücksicht auf die Ungenauigkeit
seiner Werte geschehen war. In jener Zeit war das Interesse
am Zahlenwert der stöchiometrischen Verbindungsgewichte und
deren ganzen Vielfachen viel lebhafter als das an den Beziehungen
der A.G. zueinander.
Dank den gediegenen Arbeiten eines Wollaston und beson¬
ders des großen Berzelius kannte man um das Jahr 1815 die Ver¬
bindungsgewichte von etwa 36 Elementen, die keineswegs alle
ganzzahlige Vielfache des Wasserstoffs waren. Da erschienen in
diesem und im folgenden Jahre zwei anonyme Veröffentlichungen,
in deren erster an Hand einiger Verbindungsgewichte (Tabelle 2)
die Behauptung aufgestellt wurde, die Atomgewichte der Ele¬
mente seien, auf H = i bezogen, durch ganze Zahlen ausdrückbar,
d. h. Vielfache vom A.G. des leichtesten Elementes. In der folgen-
Tabelle 2.
Element
Dichte
Verbindungs¬
gewicht
Element
Dichte
Verbindungs- '
gewicht
H
,
,
Na
24
24
C
6
6
Fe
28
28
N
>4
Zn
32
32
P
»4
14
CI
36
36
O
16
8
K
40
40
S
16
16
Ba
70
70
Ca
20
20
J
124
124
den Arbeit findet sich dann der bedeutsame Satz: „Wenn die
mitgeteilte Ansicht richtig ist, so können wir fast das xooni] t'bj
der Alten als durch den Wasserstoff verwirklicht annehmen eine
übrigens gar nicht neue Ansicht.“
70
Max E. Lemhert.
Als Verfasser dieser Aufsehen erregenden Schriften bekannte
sich später ein englischer Arzt, W. Prout. Er verbindet
seine Hypothese bewußt mit denen der erwähnten Alchimisten
und Neuplatoniker, jedoch ist er der erste, welcher ein chemisch
definiertes Element zur prima materia erhebt.
Seine Hypothese besteht, wie ihre Veröffentlichung, aus zwei
Teilen, die auch im folgenden getrennt betrachtet werden, nämlich:
1. Ganzzahligkeit der auf H=i bezogenen AG,
aller Elemente,
2. Wasserstoff als der Baustein der schwereren
Atome.
Als Prout diese Hypothesen aufstellte, besaß er nicht einmal
zur ersten eigenes Versuchsmaterial, sondern entlehnte es, z. T.
recht willkürlich, den Ergebnissen Gay-Lussacs. In den meisten
Darstellungen der Geschichte der Chemie wird Prout deshalb als
ungründlich hingestellt, und seine Hypothese mehr als literarisches
denn wissenschaftliches Ereignis gewertet. Die Gerechtigkeit
muß ihm aber zubilligen, daß er später viele, wenn auch mangel¬
hafte Versuche angestellt hat, um seine Behauptungen zu stützen.
Verschiedene namhafte Chemiker, vor allen der ältere Thom¬
son, nahmen sich der Hypothese an. Diesem allerdings wurde sie
zum Verhängnis, indem er, dessen frühere Versuche nicht für eine
Ganzzahligkeit der A.G. sprachen, aus Begeisterung für die Hypo¬
these in ihr ein Naturgesetz vermutete und sie durch zahlreiche,
aber nicht vorurteilsfreie A.G.-Bestimmungen zu beweisen suchte.
Auch L. Gmelin neigte der Proutschen Hypothese zu und besprach
sie in seinem Handbuche günstig, führte auch die „Mischungs¬
gewichte“ der Elemente möglichst ganzzahlig an, wozu er 1827
nach den Ergebnissen von Berzelius nicht mehr berechtigt war
Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß der Deutsche
Meinecke, offenbar unabhängig von Prout, zwei Jahre nach diesem
eine ähnliche Anschauung vertrat, ohne sie indes näher zu be¬
gründen.
Der blinde Eifer von Prouts Anhängern schadete der Hypo¬
these mehr als er sie förderte. Berzelius, damals die oberste
Instanz aller chemischen Fragen, unternahm vorurteilsfrei eine
besonders gründliche Bestimmung des V.G. des Kohlenstoffs,
wobei er allerdings den zu hohen Wert 6,12 statt 6,0 erhielt, aber
Die Hypothese von Prout über das Urelement.
7 >
auch spätere Versuche führten ihn zu einer immer entschiedeneren
Ablehnung der Proutschen Ansicht.
Um dieselbe Zeit verblaßte auch in ihrem Vaterlande ihr
Stern durch die sorgfältige Analytik Turners, der sie 1832 als
mit den besten Analysen unvereinbar erklärte. Somit schien ihr
Schicksal schon damals besiegelt, als um 1840 Dumas in Bestä¬
tigung Liebigscher Versuche für Kohlenstoff das V.G. 6,00 und
bald darauf für Stickstoff 14,00 und Sauerstoff 16,00, alle auf
H = 1 bezogen, fand. Freilich ergaben dieselben genauen Me¬
thoden, vor allem später in den Händen von Marignac und Stas,
für andere Elemente mit gleicher Schärfe Werte, die nicht ganz¬
zahlig waren. Und nach einigen schwachen Versuchen, die Einheit
des Urelements auf 0,5 oder 0,25 zu erniedrigen (wodurch nur die
Wahrscheinlichkeit der Zahlenbeziehungen, aber nicht die Glaub¬
würdigkeit der Hypothese wuchs), sprach Stas 1867 die all¬
gemeine Ansicht aus, wenn er sagte: „Somit hielt ich die Proutsche
Hypothese für eine reine Einbildung und betrachtete alle für
unzerlegbar geltenden Körper als voneinander verschiedene Wesen,
die keine einfachen Gewichtsbeziehungen zeigten.“
Damit schien eigentlich mit dem ersten Teil der Hypothese
sie selbst erledigt. Zwar tauchte sie, besonders in ihrem zweiten
Teil, hier und da in spekulativen Köpfen wieder auf, aber solange
keine neue Idee hinzukam, die neue Experimente verlangte, blieb
sie selbst durch das Experiment widerlegt. Drei Ideen haben
im Laufe der letzten 50 Jahre befruchtend und entscheidend auf
die Hypothese Prouts eingewirkt, das periodische oder natür¬
liche System der Elemente, die Theorie des radioaktiven
Zerfalls und neuerdings die Atomistik.
Hatten bisher die Anhänger Prouts nur für den ersten
Teil der Hypothese Material liefern können, so kam durch die
Aufstellung des periodischen Systems (P.S.) um das Jahr 1865 ein
ganz neuer Lichtstrahl auf ihren zweiten Teil, den Aufbau der
schwereren Elemente aus Wasserstoff, da dieses auf die nachbar¬
lichen und verwandtschaftlichen Beziehungen in den Eigen¬
schaften chemischer Elemente hin wies.
Die Aufstellung des P.S. durch New lands, Lothar Meyer und
besonders Mendelejeff geschah rein auf Grund der fortlaufenden
A.G., ohne deren zahlenmäßiges Verhältnis in verwandten Gruppen
72
Max E. Lembert.
auszuwerten, wie dies etwa Döbereiner versucht hatte. Zunächst
schien somit keine unmittelbare Beziehung zur Proutschen Hypo¬
these gegeben. Indessen kann man sich beim Studium der un¬
geheuren Literatur über das P.S. von den ersten Arbeiten an nicht
dem Eindruck verschließen, daß fast alle Autoren, wenn auch nur
verblümt oder stillschweigend, aus seinen Gesetzmäßigkeiten die
Folgerung gezogen haben, die Elemente hätten sich in der Reihen¬
folge ihrer Atomgewichte oder sonstwie aus- oder nacheinander
entwickelt. So sagt W. Ostwald einmal: „Wenn die Eigenschaften
der Elemente sich als Funktionen der A.G. erweisen, so liegt es
nahe, in diesen auch die Ursachen jener zu suchen, und daher
läßt sich die Vorstellung von einer einheitlichen Urmaterie nicht
von der Hand weisen.“
So enge indessen dieses Problem der „Evolution der Materie“
mit der Proutschen Hypothese zusammenhängt, so stellt es doch
eine wesentliche Verallgemeinerung derselben dar und kommt für
uns nur soweit in Betracht, als der Wasserstoff als Urmaterie
darin waltet . 8 Diese unsere Hypothese im engeren Sinne zog aus
dem P.S. reichlich Nahrung, denn dieses brachte gerade den
Wasserstoff zu besonderem Ansehen. Zunächst war er nämlich,
und nur er, im P.S. der üblichen' Anordnung nicht oder nur
gewaltsam unterzubringen. Mendelejeff stellte ihn über die
Alkalimetalle, da er, wie diese, streng einwertig war und analoge
Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen aufwies. Man findet ihn
bald über der Untergruppe Ia oder Ib, bald unentschieden in
der Mitte. Masson u. a. stellten ihn über die Halogene, was in
neuerer Zeit verschiedene Fürsprecher gefunden hat wegen der
Analogie der Hydride mit den Halogeniden .’ 1
3 So muß von den geistreichen Ausführungen eines Crookes über die Entwick¬
lung der chemischen Elemente aus einem Urstoff und gewissen Metaelementen ab¬
gesehen werden; ebenso von denen Preyers, der die Elemente der ersten Horizontal-
reihe im P.S. als erste Generation eines Stammbaumes betrachtete, der die schwereren
verwandten Elemente erzeugt; daß) diese ersten Generationen selbst aus Wasserstoff
verdichtet“ sein könnten, wird nur gestreift. Die eigenartigste und bis heute noch
nicht gerichtete Annahme dieser Art stammt von Nicholson, der neben bezw. an¬
statt Wasserstoff sechs andere Elemente, wie Xebuliunv Coronium, Archonium und
Protowasserstoff zum Aufbau der schwereren Atome verwendet. Er vermochte sogar
ihre Spektrallinien zu berechnen, deren Wellenlängen sich für das in der Sonnencorona
nachgewiesene Coronium überraschend genau bestätigten.
4 Vgl. jedes Lehrbuch der Chemie.
•’ Vgl. z. B. Nernst, Z. f. Elektroch. 26, 323 (1920).
Die Hypothese von Prout über das Urelement.
73
L. Meyer und Retgers ließen den Wasserstoff ganz weg, letz¬
terer, wie er sagte, „bequemlichkeitshalber“, ersterer mit tieferem
Verständnis: „weil er eine Ausnahmestellung zu beanspruchen
scheint“. Jetzt steht er meist einsam über oder neben dem eigent¬
lichen System wie ein nicht geladener Gast.
Seine Sonderstellung hat aber auch noch andere Gründe. Zu¬
fällig war er von Dalton zur Einheit gewählt worden, weil er
das kleinste bekannte A.G. besaß. Dies hat er auch heute noch.
Chemisch läßt sich seine Eigenart etwa dadurch kennzeichnen,
daß er ausgesprochen metallische Eigenschaften mit fast ebenso
stark ausgesprochenen nichtmetallischen vereinigt, m. a. W., daß er
sich sowohl elektropositiv wie elektronegativ zu betätigen vermag.
Eine sehr eigenartige Begründung hat Sir Lockyer vor etwa
40 Jahren gegeben. Die Spektren der heißesten Sterne scheinen
darauf hinzudeuten, daß sie hauptsächlich aus Wasserstoff bestehen,
während weniger heiße die H-Linien nur geschwächt und von denen
anderer Elemente begleitet ausstrahlen. Daraus entnahm Lockyer,
daß alle Elemente bei sehr hohen Temperaturen in Wasserstoff zer¬
fallen. Diese Idee wurde von Mills und neuerdings von C. Schmidt
u. a. aufgegriffen, die den Wasserstoff als Überbleibsel einer abgelau¬
fenen Entwicklungsperiode betrachten, „als kosmischen Fremdling
unter den irdischen Elementen“. In neuester Zeit ist freilich diese
Hypothese recht unwahrscheinlich geworden.®
Alle diese und ähnliche Hypothesen beschäftigten sich nur
mit dem zweiten Teil der Proutschen Hypothese ohne die Ganz-
zahligkeit der auf Wasserstoff bezogenen A.G. der Elemente zu
berücksichtigen. Hierüber sind von sehr zahlreichen anderen For¬
schern Deutungs- und Vermittlungsversuche gemacht worden, die
immer wieder von der unleugbaren Tatsache ausgingen, daß für
die Basis O = 16 ganze Zahlen in den A.G. auffällig häufig sind.
Die verschiedenen Autoren rechnen dabei oft recht willkürlich und
kommen zu Formeln, die durch keine rechte Vorstellung erklär¬
lich werden, wie z. B. die von
Mills A.G. = m • 15 — 15
Stoney A.G. = 0,785 • log (/// • a) (log« = 1,986).
J. Thomson A.G. = m-\-n ■ a (0 = 0,012). und neuerdings
Bilecki A.G. = 1,86 • m ,
Vgl. J. Eggert, Phys. Zeitschr. 20, 570 (1919).
74
Max K. I.embert.
worin m und n ganze Zahlen bedeuten. Wir werden aber später
sehen, daß diese Formeln alle nur zufällige Treffer geben können,
weshalb wir nicht näher darauf einzugehen brauchen.
Lothar Meyer, dessen W ort uns hier besonders viel gilt, schreibt
in seinem letzten Werk (1896), es sei denkbar, daß die Atome der
Kleinente aus einer Urmaterie, vielleicht Wasserstoff, zusammen¬
gesetzt seien, daß aber ihre Gewichte deshalb nicht als Vielfache
voneinander erscheinen, weil außer diesen Teilchen noch größere
oder geringere Mengen der vielleicht nicht gewichtlosen Materie
mit eingehen, die den Weltraum erfüllt und gewöhnlich Äther ge¬
nannt wird. Wir werden bald sehen, daß Meyer hiermit einen
wirklichen Grund für die Abweichungen der A.G. von ganzen Zah¬
len geahnt hat, den uns erst das Relativitätsprinzip von Einstein
aufgeklärt hat.
Einen wirklich neuen Gesichtspunkt zur Klärung dieser Zahlen¬
beziehungen verdanken wir Rydberg; nachdem schon Lorenz 1896
in seiner sog. Zwillingsregel zum Ausdruck brachte, daß die Ele¬
mente die Neigung besitzen, sich in benachbarten Paaren über die
A.G.-Reihe zu verteilen, w’ie BC, F Ne, Na Mg ,A 1 Si, PS usw..
zeigte der jüngst verstorbene Rydberg, daß sich die ganzen Zahlen
der AG. besonders häufig den beiden Formeln 4 n und 4 // — 1 nähern,
worin n ganze Zahlen sind. Man erhält so in Abständen von je
4 Einheiten des AG. 2 Reihen von Elementen, wobei die mit
geradzahligen A.G. bei He, die ungeraden bei Li beginnen
( Tabelle 3). Die dort statt der Zahlen 4 71 und 4//— 1 erscheinenden
Tabelle 3.
■
OZ.
Differenz
|
Hc
4.00
4.00
0.00
Li
3
7.00
6.94
—0.06
He
4
8.00
0.1
+ 1.1
B
5
11.00
11.0
0.0 1
r
6
12 00
12.00
0.00
N
7
15.00
14.01
—1.0 |
< )
8
i(> 00
1 1)00
0.00
F
9
19.00
KLO
0.0 [
X(
IO
20.00
(20 2)
<+0.2)
Na
11
23.00
23.0°
0.00
-Mk'
1 2
24.00
24.32
+0.32
Al
«5
27.00
27.1
+0.1
Si
1 4
28.00
2»-3
+ 0-3
P
*7
3 » °°
3 1 °4
+0 04
s
iG
32.no
32 OG
+0.06
1
1
Zahlenreihen, in denen n = \‘ 2 zu setzen ist, ergeben die sog. Ord-
nungszahlen O.Z., welche hier vorerst lediglich die Zahl bedeuten.
Die Hypothese von Prout über das Urelement.
75
die jedem Element zukommt, wenn es von H = i an nach steigen¬
dem A.G. fortlaufend numeriert wird. Harkins und Wilson, die
sich auch mit dieser Regelmäßigkeit beschäftigten, schlugen neuer¬
dings ohne Kenntnis der Rydbergschen Formel eine gemeinsame
Formel vor, in welcher der Klammerausdruck für gerade n ver¬
schwindet:
A.G. = 4 // — { x / 2 -h [(— 1)" - 1 • r / 2 ]j.
Strutt und andere Forscher verglichen die Wahrscheinlichkeit der
ganzen Zahlen mit ihrer praktischen Häufigkeit und fanden die
letztere viel größer als die berechnete. Selbst mit modernsten
mathematischen Methoden findet v. Mises die Wahrscheinlich¬
keitsdichte der Ganzzahligkeit mehr als 9 mal so groß als den be¬
treffenden Durchschnittswert.
Zusammenfassend läßt sich über den ersten Teil der Prout-
schen Hypothese im Hinblick auf das von allen Deutungen be¬
freite Zahlenmaterial etwa folgendes sagen:
1. Die Häufigkeit ganzer Zahlen überwiegt die Wahrschein¬
lichkeit,
2. die ganzen Zahlen nähern sich auffällig den Werten 4//
und 4 n — 1.
Für diese zwei empirisch gefundenen Angaben werden sich
von anderer Seite her kräftige Stützen ergeben. —
Die Entdeckung Ramsays von der Heliumerzeugung radio¬
aktiver Stoffe hat nicht nur das Axiom von der Unzerstörbarkeit
der Elemente ins Wanken gebracht, sondern gleichzeitig den Be¬
weis für Rutherfords Theorie radioaktiver Zerfallsprozesse gelie¬
fert, nach welcher bekanntlich aus einem Element unter Strahlenaus-
sendung ein anderes entstehen sollte. Nun lag es auch für den,
der Prouts Hypothese fernstand, m<^hr als nahe, diesen selbsttätigen
und nachweislichen Abbau schwerer Elemente zu leichteren in
eine Theorie des Aufbaues leichterer zu schwereren Elementen
umzukehren und in den Abbauprodukten nach einer Urmaterie
zu suchen. Die einfachsten nachweisbaren Bausteine waren die
beim Zerfall ausgeschleuderten a-Strahlen (doppelt positiv geladene
Heliumatome) und die /J-Strahlen (negative Elektronen). Letztere
konnten infolge ihrer sehr geringen Masse, besonders aber wegen
ihrer negativen Ladung nicht die ausschließlichen Bestandteile der
Max E. Lembert.
7 fr
neutralen Atome sein. Das Hauptaugenmerk wandte sich daher
dem Helium zu, das man allgemein als Bestandteil schwererer Atome
in deren Innerem fertig vorgebildet annahm. Bei seiner Aus¬
schleuderung aus einem Atom (z. B. Radium) mußte dieses einen
Massenverlust von 4 Einheiten des A.G. erleiden, die so ent¬
standene Radiumemanation durch a-Strahlung wiederum 4 Ein¬
heiten, usw. Dies wirft ein sehr überraschendes Licht auf die
zwei Elementenreihcn unserer Tabelle 4, deren A.G. ja um je 4 Ein¬
heiten abgestuft sind.
Noch klarer, und zu einer Extrapolation auf die leichteren
Elemente verlockend, kam dies zum Ausdruck, als es 1913 Eajans
und Soddy gelang, sogen. Verschiebungssätze aufzustellen, ver¬
möge deren die Einreihung der Radioelemente in das RS. gelang.
Diese lassen sich so ausdrücken, daß bei einer radioaktiven Um¬
wandlung eines Elementes, die unter a-Strahlung erfolgt, seine Ord¬
nungszahl sich um zwei Einheiten verringert, die Stelle im RS.
sich also um zwei nach links in eine Horizontalreihe verschiebt.
So entsteht aus Ionium (IV. Gruppe; das Radium (II. Gruppe) und
aus diesem Ra-Emanation (0. Gruppe) (vergl. Tabelle 4). Bei einer
Tabelle 4.
B
0
I | 11
III IV
V ; VI VII
1 1 I
**1
218
(AcEm)
218
220
Th Em
220
1 222
Ra Eni
(Ac X)
222
224
Th X
224
226
— Ra
(Ac) (Ra Ac)
—
226 I
228
Ms Th I
MsThl Ra Th
228 1
230
Io (UY)
(Pa)
230 1
232
Th
232
234
U X I
U XII , U II
234
236
236
238
u 1
238
/?-StralilenumWandlung dagegen entspricht die Änderung des chemi¬
schen Charakters eines Elementes einer Verschiebung um eine
Stelle nach rechts in einer Horizontalreihe, die Ordnungszahl
erhöht sich also um eine Einheit, während das A.G. praktisch
unverändert bleibt. Diese ganz unbeabsichtigte Übereinstimmung
Die Hypothese von Prout über das Urelement. yy
mit Rydbergs empirischer Formel forderte fast dazu heraus, zwei
genetische Reihen von Elementen anzunehmen, die sich aus He-
Atomen aufbauen, wobei die eine (geradzahlige) Reihe das Helium
selbst zum Stammvater habe.
Obwohl hier die Proutsche Hypothese vom Wasserstoff auf
das Helium übertragen erscheint, so kann doch letzeres nicht das
einzige Bauelement sein, denn das Lithium (Li = 6,94) kann sich
nicht wohl allein aus He aufbauen. Wieder greift man hier zu
dem leichtesten Element zurück und damit in den Kreis der
Proutschen Hypothese. Kann Wasserstoff das Anfangsglied der
Elementenreihe mit ungeraden A.G. sein, und hängen die beiden
Reihen genetisch zusammen? Gibt es eine Wasserstoffumwandlung,
und welcher Verschiebungsatz wäre bei ihr zu erwarten? Diese
Fragen können wir heute noch nicht klar beantworten; immerhin
würde die Wasserstoffumwandlung einen Massenverlust von einer
Einheit des A.G. im Gefolge haben, und da die Ordnungszahl des
H auch 1 ist, würde sich eine Verschiebung der Stelle im P.S. um
eins nach links in einer Horizontalreihe ergeben, umgekehrt
wie bei einer /?-Strahlenum Wandlung. Die beiden Reihen 4 n und
4« — i könnten somit durch eine solche H-Umwandlung mitein¬
ander verknüpft sein, doch muß dies bis jetzt noch als recht hypo¬
thetisch gelten. 7
Die Radioaktivität leistet aber auch für den ersten Teil unse¬
rer Hypothese wertvolle Aufschlüsse. Ordnet man mit Hilfe der
genannten Verschiebungssätze die Radioelemente, angefangen mit
Uran I und Thorium, in das P.S. ein, so zeigt es sich, daß man
an Stelle eines Elementes ganze Gruppen — Plejaden nennt man
sie — von Elementen bekommt, die alle ihrem chemischen Ver¬
halten nach diesen Platz beanspruchen und dabei doch Unter¬
schiede im A.G. bis zu 8 Einheiten sowie in ihren radioaktiven
Eigenschaften aufweisen. Tabelle 4 zeigt die unterste Horizontal¬
reihe des P.S. nach Unterbringung der zu ihr gehörigen Radio¬
elemente. Eine solche Gruppe von gleichstelligen oder isotopen
Elementen muß dem Chemiker bei allen Reaktionen wie ein Ele¬
ment erscheinen, da er sie ja nicht trennen kann, und das A.G. einer
7 Einen entfernten experimentellen Hinweis auf eine Wasserstoffumwandlung kann
man mit Fajans in dem Befund Ramsays erblicken, der in vielen Mineralien der sel¬
tenen Erdelemente Wasserstoffgas gefunden hat. Ferner konnten Mars den und
Lautsberry die Bildung von Wasserstoff bei radioaktiven Vorgängen nach weisen.
78
Max E. Lembert.
solchen Gruppe, z. B. der Thorplejade, muß einen Mittelwert ergeben,
der den vorhandenen Mengenverhältnissen der isotopen Bestandteile
entspricht.
Schon 1913 hatte Fajans bei der Entdeckung der Isotopie auf
die Möglichkeit hingewiesen, daß man die Abweichungen der A.G.
von ganzen Zahlen auf das Vorhandensein von Isotopengemischen
zurückführen könne. Dies ist auch tatsächlich für einige Glieder
der Blei- und der Thorplejade experimentell festgestellt worden.
Und neuerdings konnten Thomson und Aston mittels ihrer Kanal¬
strahlen-Analyse bei fünf anderen Elementen den Nachweis, oder
wenigstens hohe Wahrscheinlichkeit erhalten, daß sie komplexe
Gemische von mindestens 2 Isotopen sind, nämlich
Neon 20,2 aus 0,9 Neon (20) und 0,1 Metaneon (22),
Chlor 35,46 aus 0,75 Chlor (35) und 0,25 Metachlor (37),
Krypton 82,9 aus mehreren Isotopen mit A.G. zwischen 78 und 86,
Xenon 130,2 aus mehreren Isotopen mit A.G. zwischen 128U. 135,
Quecksilber 200,6 aus mehreren Isotopen um das A.G. 200.
Die Isotopie läßt sich also ‘sehr wohl für die groben Ab¬
weichungen der A.G. von Prouts erster Hypothese verantwortlich
machen. Gerade das Chlor hatte bisher immer den schlagendsten
Gegengrund gegen jene Forderung der Ganzzaliligkeit gebildet.
Die zweite aus der Radioaktivität sich ergebende Folgerung
ist von etwas feinerer Größenordnung. Der Massenverlust eines
Atoms bei Aussendung eines «-Teilchens wurde vorhin zu 4,00
Einheiten, dem A.G. des He, angenommen. Das ist nicht ganz
richtig. Dieses a-Teilchen fliegt mit einer sehr großen Energie aus
dem Atom heraus, wobei dieses also auch noch die von jenem
fortgeführte Energiemenge verliert. Nach der relativistischen An¬
schauung Einsteins stellt nun jede Energieform E auch eine
E
gewisse Masse dar, und zwar - r ; worin c die Lichtgeschwindig¬
keit bezeichnet; für die a-Strahlenenergie berechnet, pro Um¬
wandlung nicht ganz 0,01 AG.-Einheiten. Dieser Massenverlust
durch die Energieabgabe bei radioaktiven Vorgängen, auf den
zuerst Swinne aufmerksam machte, ist also für die Abweichung
der A.G. von ganzen Zahlen ebenfalls von Belang. So ist das
A.G. des aus Ra entstehenden Bleies nicht 225,97 — 5 X 4,00 (5 a-
Teilchen) = 205.97, sondern es sind noch 0,03 Einheiten für die
durch die Energie der «-Strahlen entführte Masse abzuziehen.
Die Hypothese von Piout über das Urelement.
79
Die Radioaktivität hat somit im allgemeinen eine wesentliche
Bestärkung der Prout’schen Hypothese geliefert. Sie hat deren
ersten Teil der ganzzahligen A.G. in ein neues Licht gerückt
durch Isotopie und energetischen Massenverlust; sie hat ferner
einfache Bausteine schwerer Atome teils aufgedeckt— das Helium,
— teils angedeutet — den Wasserstoff. Aber gerade diese letzte
und eigentliche Frage zu beantworten, verblieb den allerjüngsten
Forschungen und Theorien über den inneren Aufbau der Atome. —
Ist vielleicht das He selbst aus H aufgebaut? Wir erinnern
uns an die vorhin erwähnte Ordnungszahl, die den Platz eines
Elementes im P.S. bestimmt. Diese vertieft ihre ursprünglich for¬
male Bedeutung zu einem ganz entscheidenden Merkmal des
Elements, wenn wir sie mit dem Bilde vereinigen, das wir uns
heute von dem Aufbau der Atome machen.
Hiermit begeben wir uns für kurze Zeit von dem Boden
fester Tatsachen auf hypothetisches Gebiet, werden aber zu jenem
zurückkehren ohne mehr als anschauliche Vorstellungen mitzu¬
nehmen. Nach dem heute wahrscheinlichsten Atommodell von
Rutherford-Bohr besteht jedes Elementaratom aus einem positiv
geladenen Kern von äußerst kleinen Dimensionen, der praktisch
alle Masse des Atoms darstellt, und aus einer Anzahl von
Elektronen, die um jenen Kern in bestimmten Bahnen kreisen,
also ähnlich der Anordnung, die wir im großen vom Planeten¬
system her kennen. Die Zahl der kreisenden negativen Elektronen
muß im neutralen Atom gleich der Zahl der positiven Elementar¬
ladungen des Kernes sein. Nun ist kaum mehr zu bezweifeln,
daß diese Kernladungszahl (= Elektronenzahl) gleich ist der Ord¬
nungszahl des Elements im P.S. Die Kernladungszahl ist dem Ver¬
such zugänglich, da Moseley und später Barkla gezeigt haben,
daß sie in einer sehr einfachen Beziehung zu den charakteristischen
Röntgenspektren der Elemente stehen.
Das einfachste Modell eines Atoms wäre dann nach Bohr das
des H mit der O.Z. i, das man sich als einen einfach positiv ge¬
ladenen Kern vorstellt, den ein Elektron umkreist. Verliert er
das Elektron, so wird er zum Wasserstoffion, welches somit aus
einem H-Kern besteht. Mit der O.Z. 2 hätte das He einen Kern
mit doppelt positiver Ladung und 2 ihn umkreisenden Elektronen.
Das a-Teilchen stellt den reinen He-Kern darund ist, wie Geiger
8o
Max E. Lembert.
zeigte, wirklich doppelt positiv geladen. Das Li bestünde dann
aus dreifach positiv geladenem Kern und 3 Elektronen usw. bis
zum Uran, dessen Kernladung zu 92 angenommen wird.
Wie verhält sich aber nun all dies zu unseren Atomgewichten ?
Wir lernen in der O.Z. ein neues beherrschendes Prinzip des P.S.
kennen. Das A.G. hat seine Herrschaft in der Chemie an diese
O.Z. verloren und behält nur in zweiter Linie Bedeutung, indem
es zwar die Kernmasse, aber nicht das gesamte Wesen eines
Elements und dessen Platz im PS. kennzeichnet, wie schon die
Tatsache der Isotopie beweist. Wir sehen auch, daß wir die Er¬
gebnisse der Radioaktivität daraufhin nachprüfen müssen. Nicht
Helium als neutrales Atom wird der im a-Strahl nachgewiesene
Baustein sein, sondern der He-Kern bildet diesen.
Nun finden wir auch wieder zu der Proutschen Hypothese
zurück, die wir für kurze Zeit scheinbar außer acht ließen: Ist
der Hcliumkern selbst aus Wasserstoffkernen auf¬
gebaut? Sind m. a. W. die Kerne aller Atome aus denselben
positiven Elementarbestandteilen zusammengesetzt, die wir schon
im H-Modell vorfinden?
Den Zusammentritt von solchen Kernen gleicher I^adung, die
nach den elektrostatischen Gesetzen einander abstoßen müssen,
zu einem größeren Kern wird nur möglich, wenn man negative
Ladungsträger hinzuzieht, durch die erstere sozusagen verkittet
werden. Die Kernladungszahl wird hierdurch einfach zum alge¬
braischen Überschuß der positiven Ladungen über die negativen
und bleibt im übrigen unverändert. Nähme man an, daß der
He-Kern sich aus 2 H-Kernen und einem Elektron bildet, so be¬
käme man für He dieselbe O.Z. 1 wie für H. Man muß also
mindestens 3 H-Kerne -+- 1 Elektron oder 4 H-Kerne -+• 2 Elek¬
tronen zum Aufbau des He-Kernes verwenden. Nur das letztere
Schema führt zu der Masse 4 des Heliums.
Aber nicht ganz genau. Treten vier H mit den Massen
1.0078 zu He zusammen, so ergibt sich unter Vernachlässigung
der beiden (an Masse sehr geringen) Elektronen 4* 1,0078 = 4,031.
während das A.G. des He den genauen Wert 4,002 hat. Die
4 H-Kerne scheinen also beim Zusammentritt zu einem He-Kern
einen Massen Verlust von 0,03 Einheiten oder 0,77% des A.G.
zu erleiden, eine Art „Packwirkung“ (Harkins und Wilson). Nach
def genannten Forderung des Relativitätsprinzips entspricht nun
Die Hypothese von Prout über das Urelement.
81
dieser Massenverlust — ganz wie beim Verlust eines a- oder ß-
Teilchens — einer Einbuße am Energieinhalt, und zwar pro Gramm¬
atom He 0,03 c-, worin c wieder die Lichtgeschwindigkeit be¬
deutet. Um also einen solchen He-Kern wieder in H-Kerne zu
zersprengen, müßte mindestens ebensoviel Energie zugeführt wer¬
den. Dies ist aber mit allen uns zugänglichen Hilfsquellen, selbst
mit den stärksten a-Strahlen nicht möglich. Diese besitzen besten¬
falls nur eine kinetische Energie von 0,009 f2 . und der He-Kern,
mit ihm das He-Atom, erscheint somit als genügend stabil für
alle irdischen Angriffe.
Wir können somit verstehen, warum das He, obwohl es als
selbständiger Baustein der Materie in den radioaktiven Vorgängen
auftritt, trotzdem ein Aggregat von weiteren Bausteinen, H-
Kernen plus Elektronen, sein kann, das wir nur nicht imstande
sind zu zerlegen.
Aber wir dürfen sogar noch weiter extrapolieren. Wir haben
nicht nur das He aus H-Kernen und die schwereren Atome aus
He-Kernen — und vielleicht H-Kernen aufgebaut zu denken,
sondern wir besitzen starke Anhaltspunkte, um die Kerne aller
Elemente als aus H-Kernen zusammengesetzt anzunehmen. Auf
Grund der modernsten A.G.-Werte haben Harkins und Wilson
die Packwirkung für die ersten 27 Elemente zusammengestellt.
(Tab. 5). Nimmt man mit Prout den Wasserstoff H = 1,000, also
nicht unsere Sauerstoffbasis 0 = 16,000 als Einheit für die A.G.-
Werte an, so berechnen sich diese nach Spalte 2; die Differenz
gegen die nächste ganze Zahl ist absolut in Spalte 4, prozentual in
Spalte 5 angegeben. Es zeigt sich hier, daß die obige Berech¬
nung einer Massenabnahme von o,77°/ 0 sich auffallend häufig
wiederholt. Abweichungen sind freilich vorhanden, so bei Mg, Si,
Ne, CI; indes geben uns gerade die Fälle des Neon und des
Chlor, welche als Isotopengemisch ganzzahliger Elemente ziem¬
lich sicher nachgewiesen sind, ein Recht, derartige sichtlich ver¬
einzelte Abweichungen zu Lasten der Isotopie zu buchen. Es
bleibt eher auffällig, daß trotz dieser Komplexität vieler Elemente
die Berechnung so gut stimmt. Beim Beryllium ist die Pack¬
wirkung nicht angegeben, da sein A.G. nur ungenau bekannt ist,
bei Ne und CI aus den obengenannten Gründen.
Natürlich bekommt man mit der Wasserstoffbasis H = 1
keine ganzzahligen A.G., da die Packwirkung dieselben immer
Verhandlungen, 27 . B<1. 7
82
Max E. Lembert.
wieder prozentual verkleinert. Wohl aber erklärt sich für unsere
gewöhnliche Sauerstoffbasis die Häufigkeit ganzer Zahlen in den
A.G., da in O = 16,000 schon diese Packwirkung einbezogen ist:
16 • 1.007 8 = 16,125 = 1 6,000 -+- 0,7 7 %.
Tabelle 5.
Element
Atomgewicht
H = 1
Fehler der
A.G.-Best.
Differenz gegen
ganze Zahl
Prozen tige Abwei¬
chung von ganzer
Zahl
1
2
3
4
5
H
1.000
_
_
_
He
3969
±0.002
-0.031
-0.77
Li
6.89
O.OI
—0.11
— 1.62
Bj
9.03
O.I
—
—
B
10.91
0.05
—0.09
K
6
1
C
11.91
0.005
—0.09
-0.77
N
13.90
0.005
— 0.10
0
ts
d
1
O
15.88
0.002
—0.12
-0.77
F
18.85
0.05
-0.15
-0.77
! Ne
20.2
?
--
—
Na
22.82
O.OI
—0.18
-0.77
Mg
24.13
0.03
+0.13
+0.55
Al
26.89
O.I
— O.I I
—0.40
Si
28.08
O.I
±0.08
+0.31
P
30.78
O.OI
-0.22
-0.71
S
31.82
O.OI
—0.18
—0.56
CI
3524
?
—
—
A
39-57
0.02
-<M 3
-1.07
K
38.80
O.OI
—0.20
-0.52
Ca
39-76
0.03
—0.24
—0.60
Sc
4376
0.2
—0.24
-0.55
Ti
47-73
O. I
—0.27
-0.57
V
3O.6I
0.1
-039
-0.77 j
Cr
51.60
O.05
—0.40
r>.
d
1
Mn
54 - 5 °
0.05
-0.50
- 0.90 1
Fe
55 - 4 '
0.03
-0.59
— 1.06
Co
58-51
0.02
-0.49
-0.83
21 Elemente tohne Bt;\ Mg, Si, CI) im Mittel — 0,77 °. 0 „Packwirkung“.
Somit haben wir mit dieser Basis einen für die Proutsche
Hypothese besonders glücklichen Griff getan, indem wir den sich
(in Tabelle 5) normal verhaltenden Sauerstoff und somit jene letzte
Einheit der Materie zugrunde legten, den Wasserst off kern, der
auch den richtigen Kern in Prouts gewagter Hypothese darstellt.
Die Hypothese von Prout über das Urelement. 83
Diese Hypothese können wir somit nach dem heutigen Stande
unseres Wissens umformen zu der dualistischen Gestalt:
Es ist wahrscheinlich, daß sich alle Materie aus
Wasserstoff kernen und aus Elektronen aufbaut.
Aber wir haben sogar mehr als eine bloße Wahrscheinlich¬
keit, nämlich etwas, das einem Beweis schon recht nahekommt.
Es wurde vorhin die Stabilität des He-Kernes berechnet, der sich
aus 4 H-Kemen zusammenfügt, und keine weitere Annahme über
Struktur oder sonstiges dabei vorausgesetzt. Rechnet man mit
Sommerfeld auf dieselbeWeise die Stabilität der anderen Elemente
durch, so bekommt man aus dem Kohlenstoff mit 12,002 plus 2 H-
Kernen für Stickstoff den A.G.-Wert 14,017, während der Stickstoff
in Wirklichkeit ein A.G. von nur 14,008 besitzt. Der Unterschied
in der Masse beträgt —0,009 Einheiten, was einen Energieverlust
von 0,009 c 2 bedeutet. Dies ist aber genau dieselbe Zahl, die
wir vorhin (S. 81) für die Energie der schnellsten a-Strahlen er¬
hielten.
Nun hat Rutherford (in anderer Absicht) den Stickstoff
mit den stärksten a-Strahlen bombardiert und Ergebnisse erhalten,
die nicht wohl anders zu deuten sind, als daß aus dem Kern des
Stickstoffatoms tatsächlich leichte Teilchen von der Masse 1 heraus¬
geschleudert, -geschossen werden. Wenn hier also zum ersten
Male nicht Helium, sondern Wasserstoff als Baustein eines Atoms
aufzutreten scheint, so wäre damit Prouts Hypothese vom Ur¬
element Wasserstoff experimentell bewiesen, und wir hätten gleich¬
zeitig den Fall einer Atomzerlegung auf künstlichem Wege vor
uns, wie es die Alchimisten geträumt hatten.
Wir haben nun die Wege und Irrwege der Proutschen Hypo¬
these durch die Wissenschaft der letzten 100 Jahre verfolgt und
sehen sie heute von der Chemie Abschied nehmen, um in dem Atom¬
kern, dem Bereich der Physik, zu verschwinden. Wir können ihr
bei ihrem Scheiden für manche Anregung danken, denn sie hat,
gerade durch ihre Hartnäckigkeit, die Wissenschaft immer wieder
auf ihr letztes Ziel, den Zusammenhang und das innerste Wesen
aller Materie hingewiesen, und die Forschung angefeuert, immer
neue Tatsachen zum großen Lehrgebäude heranzutragen, wohl
der schönste Erfolg, den eine Hypothese zeitigen kann.
Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich.
Habilitationsvortrag, gehalten am 13. Dezember 1919 im Chemischen Institute der
technischen Hochschule in Karlsruhe in Baden,
von Helmut W. Klever.
In den letzten Jahren sind eine Anzahl Arbeiten über das
Kohlebitumen veröffentlicht worden, welche unsere Kenntnis über
diese Substanz erweitert haben. Diese Arbeiten sind insbesondere
mit den Namen A. Pictet 1 und F. Fischer 2 und ihren Mit¬
arbeitern verknüpft.
Da man aus diesen Arbeiten Schlüsse auf die Zusammen¬
setzung und die Bildung des Kohlebitumens in der Natur ziehen
kann, so liegt es nahe, diese Schlüsse mit demjenigen, was bisher
über die Natur des Erdölbitumens bekannt geworden ist, zu ver¬
gleichen und von neuem die Frage zu erörtern, ob Erdöl aus
Kohle in der Natur allgemein entstanden ist.
Vor der Gegenüberstellung der beiden Arten Bitumina werde
ich zunächst ganz kurz auf die Theorie der Polymerisation und
Depolymerisation hindeuten, soweit sie für die Bildung des Bi¬
tumens in Betracht kommt. Ich benutze dabei die von A. Kron¬
stein 3 eingeführte Nomenklatur.
1 Bcr. chem. Ges. 44 (1911), S. 2486 9;; ebenda 46 (1913), S. 3342 53;
ebenda 48 (1915), S. 929; Compt. rend 163 (1916), S. 358/61 (Chem. Centr. 1917,
II, S. 787); Aun. de Chim. [9] 10 (1918), S. 249/330 (('hem. Centr. 1919, HI,
S. 2 20/22) ; Helv. Chim. Acta 2 (1919), S. 1.88/195 (Chem. Centr. 1919, I, S. 1005);
ebenda 2 (1919), S. 501 (Chem. Centr. 1920, I, S. 456); ebenda 2 (1919),
S. 698/703 (Chem. Centr. 1920, I, S. 653).
2 Ges. Abhandlungen zur Kenntnis der Kohle, Berlin, Borntraeger, Bd. 1—3,
1917, 1918, 1919.
* Bor. chem. Ges. 53 (1902). S 4150 u. P53 u. ebenda 49 (1916), S. 732,
ferner Kn gl er-II öf er ,,l)as Kidöl“, Bd. I, S. 28, S. 393, S. 420 ff.
Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich.
85
Hierauf möchte ich Ihnen über die Entstehung des Erdöl¬
bitumens berichten, und zwar summarisch, denn diese Materie ist
Ihnen meistenteils bekannt.
Daran anschließend werde ich an Hand der neueren Arbeiten
die Bildung des Kohlebitumens ausführlicher auseinandersetzen
und schließlich den Vergleich zwischen beiden Bitumina bringen.
Die im Bitumen sich abspielenden Polymerisations- und De-
polymerisationsvorgänge verlaufen im Sinne der sogen, „meso-
morphen Polymerisation ünd Depolymerisation."
Das Schema dieses Vorganges ist folgendes:
Das monomere Ausgangsprodukt polymerisiert unter dem
Einfluß von Wärme oder Katalysatoren oder unter der Wirkung
beider Einflüße zu einem mesomorphen Zwischenprodukt, welches
einen definierten, höher molekularen Körper vorstellt. Dies
Zwischenprodukt ist gesättigter und schwerer löslich in Lösungs¬
mitteln geworden. Durch weitere Einwirkung von Wärme und
Katalysatoren kann es so hoch polymerisieren, daß es gesättigt und
in Lösungsmitteln unlöslich oder darin höchstens kolloidal löslich
wird. Es wird dann zum „mesomorphen unlöslichen Endprodukt“,
welches das Endprodukt der Polymerisation vorstellt. Dies End.
produkt läßt sich bei Anwendung noch höherer Temperaturen
spalten, abbauen, aber nicht oder nur zu sehr geringem Teil in
das monomere Ausgangsprodukt zurückverwandeln. Die Spaltung
verläuft in anderer Richtung.
Im Gegensatz zur mesomorphen Polymerisation erhält man
aus dem Endprodukte der sogen, „euthymorphen Polymeri¬
sation“ beim Erhitzen das monomere Ausgangsprodukt zurück.
Ich erinnere an das Beispiel Formaldehyd-Paraformaldehyd, Cyclo-
pentad ien-Pol ycyclopentadien usw.
Ein Beispiel für die mesomorphe Polymerisation ist die Harz¬
bildung aus Terpenen. Ein mesomorphes Zwischenprodukt in der
Natur ist z. B. der in Lösungsmitteln lösliche Anteil des Bern¬
steins. Ein mesomorphes Endprodukt ist das Kopalharz.
Die Spaltung des Endproduktes bei der Depolymerisation
verläuft so, daß ein gesättigtes und ein ungesättigtes Spaltstück
erhalten wird.
Ein Reaktionsschema hierfür habe ich Ihnen in Tabelle I
wiedergegeben. Dasselbe ist im Prinzip mit dem Schema, welches
Thorpe und Young im Jahre 1872 aufgestellt haben, identisch.
Verhandlungen, 27. Bd. 8
86
Helmut W. Klever.
Tabelle i.
(Modifiziertes Reaktionsschema nach Thorpe & Young 1872).
dl, • (CH 2 )„ • CH, • CH 2 • C« . (CH 2 ) m • CH,
| Spaltreaktion
CH, • (CH 2 )„ • CH, h- CH 2 = CH • (CH 2 ) ro • CH,
gesättigtes ungesättigtes Spaltstück
CH, • (CH 2 )„ • CH 2 • C^ • cJJ • CH,
J, Krakreaktion
CH, • (CH 2 ) n • CH, CH 2 = CH • CH,
hochmolekulares ungesättigtes gasförmiges
gesättigtes Spaltstück (Propylen)
Spaltstück
Ein hochmolekularer Paraffinkohlenwasserstoff wird gespalten.
Dies kann in zweierlei Weise geschehen: in milder Form, bei
massiger Wärmezufuhr, z. B. bei 300°, oder mit energischerem
Eingriff in das Molekül, — bei höherer Temperatur, z. B. ober¬
halb 400°, — unter Abspaltung von Gasen. In dem ersteren
Falle, wenn hochsiedende Spaltstücke resultieren, spricht man von
Spaltreaktionen, in dem letzeren, wenn Gase resultieren, von
Krakreaktionen.
Ich möchte daran erinnern, daß während der Polymerisation
und Depolymerisation lsomerisationen stattfinden können, wie
O. Aschan 4 und C. Engler und O. Routala 5 festgestellt
haben.. Olefin-Kohlenwasserstoffe können in gesättigte, ring¬
förmige Naphten kohlen Wasserstoffe übergehen. Diese ihrerseits
können unter Dehydrierung Benzolkohlenwasserstoffe bilden.
Hexylen geht z. B. unter der Einwirkung von Hitze — auch
ohne Katalysatoren — in Hexanaphten über. Dies kann nach
dem Vorgang von Sabatier 6 unter der Einwirkung von Eisen¬
oxyd dehydriert werden zu Benzol.
So ist cs von Wichtigkeit, daß Katalysatoren, die in der
Yatur häufig Vorkommen, und auf die Bitumina gewirkt haben
4 Lieb. Anm. 324 (1902) S. I.
’■ Her. chcm. (res. 42 (190D), S. 4613 und 4620. Diss. O. Routala, Karls-
iuhe, IH09.
' Kn^lcr-Höfer „Das Krdöl“, Ud. I, S. 324; ßd. II, S. 65.
Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich.
«7
können, auch im Laboratorium als starke Polymerisations-, Depoly-
merisations- nnd Isomerisationskatalysatoren erkannt worden sind,
z. B. Quarzsand, Metalloxyde, Metalle, Tonerde, das erwähnte
Eisenoxyd usw.
Die genannten Reaktionen spielen für die Bildung der Bitu-
mina eine Rolle. Dabei ist zu beachten, daß sie meistens neben¬
einander wirken. Findet das Bitumen in der Natur z. B. Bedin¬
gungen, die seine Polymerisation veranlassen, so kann gleichzeitig
nebenher Dcpolymerisation eines Anteiles des Bitumens eintreten.
Umgekehrt kann seine Dcpolymerisation teilweise von Polymeri¬
sation begleitet werden. Wenn also im folgenden von Polymeri¬
sation oder Depolymerisation des Bitumens die Rede ist, so ist in diese
Begriffe ein nebenher möglicher umgekehrt erfolgender Rcaktions-
verlauf oder Isomerisation stets mit eingeschlossen, ohne daß hierauf
noch einmal hingewiesen wird. Ich will nämlich mit diesen Begriffen
nur die hauptsächlich sich abspielenden Reaktionen charak¬
terisieren.
Sie sehen aus dieser Auseinandersetzung von vornherein, wie
komplizierter Art die Bildung des Bitumens und wie kompliziert
seine Zusammensetzung ist.
Zwei Ausgangsmaterialien kommen nach H. Potonie 7 haupt¬
sächlich als Substrat für die Bildung des Bitumens in Betracht:
1. Der Faulschlamm stehender Gewässer, z. B. der Schlick
von Binnenseen, Strandlinien und Wattenmeeren, von
Potonie genannt Sapropel (d. i. Faulschlamm). — Dieses
Produkt ist der hauptsächlichste Bildner von Erdöl.
2. Die Pflanzenwelt der Moore. Sie ist der Bildner der
Humusgesteine, der Kohlen.
Wir wollen nun die Bildung des Erdöles aus Faulschlamm
gesondert von der Entstehung der Kohle aus Humussubstanzen
betrachten.
Im Sapropel finden wir als typische Bestandteile Fett- und
Eiweißreste der abgestorbenen Tier- und Pflanzenwelt. In Um¬
wandlung begriffene Zellulose und Pflanzenharze treten darin
zurück. — Fett und Eiweiß stammen hauptsächlich nach Potonie’s s
Feststellungen aus der Tierwelt und zwar sowohl von Makro-
7 H. Potonie „Die Entstehung der Steinkohle und der Kaustobiolithe über¬
haupt“, Bornträger, 1910, S. 15 —18.
^ Potonie 1. c.
8 *
Helmut W. Klever.
88
fauna, also Fischen, Mollusken usw. als auch von Mikrofauna
der Gewässer her. Auch ölführende Algen sind Fettbildner.
Diese Substanzen sind durch überlagerndes Wasser von dem
Sauerstoff der Luft abgeschnitten. Sie unterliegen dem
sogenannten Fäulnisprozeß. Anaerobe Bakterien bedingen z. T.
die hierbei auftretenden Reaktionen, z. B. die Fäulnis des Ei¬
weißes. Aus dem Sapropel entwickelt sich Methan, Kohlensäure,
Ammoniak. Die Fette werden während des Versinkens des Faul¬
schlammes in tiefere Erdschichten verseift; das Glyzerin wird durch
Lösung in Wasser fortgeführt. Insbesondere werden die Fett¬
säuren, wahrscheinlich durch Bakterienwirkung, in höhermolekulare
Fettsäuren, in Wachssäuren umgewandelt. Es bildet sich im Sap¬
ropel das sogenannte Leichenwachs.
Die Mengen Leichenwachs im Schlick sind verhältnismäßig
große. In der Mark Brandenburg wurde in den 90er Jahren des
vorigen Jahrhunderts ein See trocken gelegt, der Ahlbecker See.
Der See ist etwa 900 ha groß. Die Schlickschicht ist etwa
7—14 m dick. G. Krämer und A. Spilker 9 untersuchten den
Schlick auf seinen Wachsgehalt und berechneten, daß in dem
Gesamtschlick etwa 2 000000 Meterzentner (1 Meterzentner = 100 kg;
Leichenwachs vorhanden waren. Dies Wachs war nach Potonies 10
Untersuchung hauptsächlich der Rest einer abgestorbenen Mikro¬
fauna. Diese scheint also einer der Hauptbildner des Erdöls zu sein.
Bei der weiteren Schilderung der Umwandlung des Sapro-
pels in den Erdschichten wende ich der Übersichtlichkeit halber
im folgenden in den Grundzügen die Engler’sche Nomen¬
klatur" an.
Engler bezeichnet die Wachsbildung aus dem Fette der
Tier- und Pflanzenreste als den Anfang der Bituminierung.
Das Wachs nennt er „Anabitumen“ von „ava“ = hinauf.
Das Anabitumen wird nun von geologisch jüngeren Schichten
überdeckt. Es wird der Wirkung von Wärme und Katalysatoren,
z. B. Sand, Thon, Kalkgestein ausgesetzt. Unter diesen Einflüßen
wird aus dem Wachs allmählich Kohlensäure abgespalten. Dies
H Ber. chem. Ges. 32 (1899), S. 2941.
10 H. Potonie, Jahrbuch der königl. preul>. geolog. Landesanstalt und Bergaka¬
demie 25 (1904), S. 345.
11 Engler-Höfer „Das Erdöl“, Bd. i, S. 35 ff.
Erdölbilumen und Kohlebitumen, ein Vergleich.
89
geschieht gemäß dem Vorgänge, den En gier 12 in seinen grund¬
legenden Versuchen experimentell sichergcstellt hat. Die Wachs¬
säuren werden in Kohlenwasserstoffe umgewandelt. Diese letzteren
unterliegen dann der Polymerisation und Isomerisation.
Die Polymerisation schreitet häufig vor bis zur Bildung des
unlöslichen Endproduktes. Dieses nennt Engler „Polybitumen“.
Ein Beispiel für letzteres ist das Bitumen des Württembergischen
Liasschiefers. Dies Bitumen ist in Lösungsmitteln sozusagen unlös¬
lich. Erst nachdem man den Schiefer eine Zeit lang erhitzt hat,
ihn, wie es heißt, „aufgeschlossen“ hat, ist das Bitumen löslich
geworden. Es wurde dabei in das lösliche mesomorphe Zwischen¬
produkt umgewandelt.
Nun wird das Polybitumen bei weiterem Versinken in noch
größere Erdtiefen weiteren Umwandlungen ausgesetzt. Es wird
gespalten, gekrakt. Dabei entsteht nach Engler ein Zwischen¬
produkt zwischen Polybitumen und Erdöl. Er nennt dasselbe
„Katabitumen“ von „xard“ = hinab.
Der beinahe schwefelfreie Bergteer von Wels 13 in Tirol ist
ein solches Katabitumen. Er hat durchaus Schmierölcharakter.
Benzine und leichtsiedende Kohlenwasserstoffe enthält er nicht.
Er ist also noch nicht zur Bildung leichtsiedender Kohlenwasser¬
stoffe entpolymerisiert. Als solches Katabitumen wird auch der
Asphalt eines Asphaltvorkommens in der Schweiz, im Val de
Travers 11 , aufgefaßt. Hier liegt ein Produkt nicht von Schmieröl-,
sondern von Asphalteigenschaften vor, weil das Bitumen sehr
schwefelhaltig geworden ist und daher harzige Konsistenz er¬
halten hat.
Durch weitergehende Spaltung entsteht nun aus dem Kata¬
bitumen das Erdöl. Dieses kann je nach der Zusammensetzung
des ursprünglichen Sapropels, nach Art der Einwirkung von
Wärme, Katalysatoren usw. durchaus verschiedene Zusammen¬
setzung haben. Insbesondere wird der Schwefel und die Anwesen¬
heit von Schwefelverbindungen im Erdöl bei den chemischen Um¬
wandlungen wichtigen Einfluß gehabt haben.
12 Ber. chem. Ges. 21 (1888), S. 1816. Jahrbuch der königl. preuß. geolog.
Landesanstalt und Bergakademie 25 (1904), S. 347.
13 Engler-Hofer, Bd. I, S. 31 und 807: Diss. J. Tausz, Karlsruhe 1911.
14 Ebenda, Bd. II, S. 158.
Helmut W. Klever.
90
Ich möchte nebenher erwähnen, daß der Schwefel im Erdöl
aus verschiedenen Quellen stammen kann: Schon das Leichen¬
wachs im Sapropel ist stets schwefelhaltig. Der Schwefel ist hier
in gebundener Form vorhanden. Er stammt ohne Zweifel von
abgestorbenen Resten von Schwefelbakterien. 15 Insbesondere
wird aber wohl Berührung mit den in der Natur weitverbreiteten
Sulfaten 10 , welche von den Kohlenwasserstoffen reduziert werden,
und mit Pyriten 17 Ursache der S-Aufnahme im Erdöl sein.
So sind die Erdöle verschieden zusammengesetzt. Die dem
Devon entstammenden Erdöle von Pennsylvanien enthalten meist
Paraffin-, die dem Mesozoikum und Tertiär entstammenden
kaukasischen meist NaphtenkohlenWasserstoffe. In den galizischen,
rumänischen, den Erdölen von Borneo, Kalifornien befinden sich
reichliche Mengen aromatischer Kohlenwasserstoffe, außerdem in
mäßiger Menge Phenole, Produkte, die dem Erdöle einen stein-
kohlenteerähnlichen Habitus geben.
Diese Ähnlichkeit ist mehrfach zur Stützung der Hypothese
herangezogen worden, daß das Erdöl ganz allgemein oder wenigstens
in vielen Fällen aus der Steinkohle 18 entstanden sei.
Bevor ich hierauf näher eingehe, möchte ich noch die Weiter¬
entwicklung des Erdölbitumens verfolgen.
Infolge des Auftretens von Gasen steht das Erdöl sehr häufig
im Erdinnern unter Druck. Es wird oft bis zur Erdoberfläche
hinaufgetrieben und kommt nun in höheren Schichten mit Luft
in Berührung. Der Sauerstoff löst Autoxydations- und Poly-
merisationsprozesse aus, insbesondere in stark schwefelhaltigen
Erdölen. Dabei entsteht Asphalt. So kommt es, daß Ober¬
flächenlagerstätten von Erdöl meist von Asphaltlagern überdeckt
sind.
Diesen Asphalt, das Endprodukt der Entwicklung des Bitumens,
nennt Engler „Oxy bi turnen“.
i:> (i. Krämer u. A. Spilker, Ber. them. Ges. 32 (1899), S. 2940; 33 (1902),
S. 1212; Engler-Höf er, „Das Erdöl“, Bd. I, S. 34 und (>77.
«•' Englcr-Höfer, „Das Erdöl“, Bd. I, S. 677; Bd. II. S. 30.
17 Engler-IIöfer, „Das Erdöl 4 , Bd. I, S. 330: \V. Steinkopf, Cliem. Ztg.
1911, S. ioo«S.
ls Ycrgl. z. B. A. Bietet, Ann. de Chim. [oj 10 (1918), S. 249 330 (Chem.
< >ntr. 19I'). III, S. 220 22t.
Erdölbitumen und Kohlcbkumen, ein Vergleich.
QI
Ich kehre zurück zu dem Zusammenhänge zwischen Erdül-
und Steinkohlebitumen und möchte Ihnen nun insbesondere an
Hand der neueren Arbeiten zeigen, was Steinkohlebitumen ist.
Wir wollen den Entwickelungsgang desselben verfolgen, wie den
des Erdölbitumens und dann den Vergleich ziehen.
Als Substrat für die Bildung der Steinkohle kommt höchstens
in untergeordnetem Maße Sapropel, in der Hauptsache vielmehr
die Humussubstanz, also Pflanzensubstanz in Betracht.
So haben wir uns mit der Bildung der Torfmoore und mit
ihren Anhäufungen von Pflanzensubstanz zu beschäftigen.
Der Hauptbestandteil für die Bildung des Humus in den
Mooren ist das Holz. Es 19 besteht im Durchschnitt aus etwa:
Tabelle 2.
50—6o°/„ Zellulose,
10—20% Hemizellulosen, darunter Dextrin-Arten
und Stärke,
20—30% Lignin,
3— 5 % Harz und Fett,
etwa 1 % Proteine.
Da Rinde mit zur Vertorfung kommt, so sind noch die Kork¬
substanzen' hinzuzurechnen.
Was Zellulose ist, ist Ihnen bekannt. Es ist ein hoch¬
molekulares Kondensationsprodukt von Zuckerarten. Die Hemi¬
zellulosen sind ähnlicher Natur, aber niedriger molekular. Teil¬
weise sind sie wasserlösliche Substanzen, welche auf der Holz¬
faser eine leimende, kittende Wirkung ausüben. Teilweise be¬
stehen sie aus Reservestoffen, aus Stärke. Das Lignin ist ein
hochmolekulares Kondensationsprodukt von Harzalkoholen. Es
ist mit der Zellulose vergesellschaftet. Es steht entweder in
ätherartiger Bindung mit ihr, oder bildet mit ihr eine Adsorptions¬
verbindung. Es dient der Festigung der Holzfaser. Es enthält
Methoxylgruppen, im Gegensätze zur Zellulose, die keine solchen
enthält. Diese Eigenschaft des Lignins ist für seine Erkennung
von Wichtigkeit. Die Korksubstanz der Rinde besteht aus einem
hochmolekularen Polymerisationsprodukt von Fettsäure-Anhydri-
19 C. Schwalbe, „DieChemie der Zellulose“, Berlin, Borntraegcr, 191 1, S.441.
9 *'
Helmut VV. Klever.
den. '-’ 0 Sie ist ein wachsartiger Körper, der mit Zellulose ähnlich
vergesellschaftet ist, wie das Lignin.
Diese Substanzen, einschließlich dem Fette und dem Harze
des Holzes, machen in den Torfmooren zunächst einen „Ver¬
moderungsprozeß“ durch. Unter Vermoderung versteht man
eine Zersetzung bei Gegenwart von Luft und Feuchtigkeit.
Dieser Prozeß wird später, wenn die abgestorbenen Pflanzenreste
überwuchert werden, von dem Prozesse der Vertorfung — bei
Zutritt von wenig Luft —, abgelöst. In größeren Tiefen der
Torfsubstanz wirkt endlich dieser Prozeß bei Gegenwart von
sehr wenig oder ohne Sauerstoff.
Diese Vorgänge sind in den oberen Schichten durch die
Wirkung des Sauerstoffes charakterisiert. Aus den Kohlehydraten
wird Wasser wegoxydiert. Sie werden kohlenstoffreicher und
wasserstoffärmer. Mit zunehmender Tiefe verlangsamt sich diese
Zersetzung. Aus Tabelle Nr. 3 ersehen Sie die Kohlenstoffzu¬
nahme und die Wasserstoffabnahme der Holzfaser, zunächst
während des Vertorfungsprozesses und später, während der
Fortsetzung desselben, während des sogen. Inkohlungsprozesses,
der über Braunkohle und Steinkohle bis zur Bildung von
Anthrazit, dem Endprodukte der Inkohlung, fortschreitet.
Tabelle 3.
Kojilenstoff
Wassersoff
Sauerstoff
+ Stickstoff
Holzfaser . . .
50% |
6 %
44 %
Torf.
59 °/o
6 %
35 %
Braunkohle . . .
69 °/o
5*5 %
i 2 5 o io
Steinkohle . . .
81 %
°/
0 /o
T A O !
14 / 0
Anthrazit . .
95 °o J
2 O / 0
^ - 0 !
2 o ,0
Diese Vorgänge sind im Laboratorium nachgeahmt worden.
Als erster ist hier vorgegangen Cagniard de la Tour. 21 Später
haben in dieser Richtung gearbeitet Stein--, Klason-’* und
7 " Ebenda, S. 482.
21 Jahresbericht über die Fortschritte der Chemie 3 (1850), S. 540.
• 2 Chcm. Centr. iqoi, II, S. 950.
21 Zeitschr. f. angew. Chemie 22 (1909), S. 1205; 23 (1910), S. 1252.
Erdölbitumen und Kohlcbitumcri, ein Vergleich.
93
Bergius 21 . Es gelang durch Erhitzen von Holz mit Wasser unter
Druck auf Temperaturen von 300-350° zunächst Torfsubstanz,
dann Braunkohle, hierauf Steinkohle, endlich Anthrazitkohle dar¬
zustellen. Die erhaltenen Substanzen stimmten in der Elementar¬
zusammensetzung mit den entsprechenden natürlichen Kohlen in
den Hauptzügen überein. Natürlich besteht keine vollkommene
Identität zwischen den natürlichen und künstlichen Kohlen, denn
die Zusammensetzung der Pflanzen des Tertiärs und des Carbons
ist eine ganz andere gewesen, als die unserer heutigen. Außer¬
dem kommen in der Natur außer Holz noch eine Reihe anderer
Substanzen, insbesondere derjenigen der Rinde, Blätter und Früchte
und außerdem noch geringe Mengen von Sapropel mit zur In¬
kohlung. Infolgedessen unterscheiden sich die natürlichen Kohlen
von den künstlichen z. B. durch ihren höheren Stickstoffgehalt.
Natürlich bewirkt die Berührung mit aus mineralischen Quellen
stammendem Schwefel den Schwefelgehalt der natürlichen Kohlen
im Gegensätze zur Abwesenheit desselben in den künstlichen.
Dieser Anschauung steht die Ansicht von E. Donath 2 ' 1 ent¬
gegen, die wohl die Bildungsreihe Holz — Torf — Braunkohle
als bestehend anerkennt, nicht aber den Übergang von Braun¬
kohle zu Steinkohle und Anthrazit. Donath begründet dieselbe
mit dem Hinweise auf das Vorhandensein von Methoxylgruppen,
also von Ligninsubstanz in Holz, Torf und Braunkohle, und im
Gegensatz dazu auf ihr Fehlen in der Steinkohle. Diese Ansicht
ist aber nicht stichhaltig. Denn der Methoxylgehalt nimmt von
Holz über Torf zur Braunkohle ab 2(i . Es ist daher zu erwarten,
daß er mit noch weiterschreitender Inkohlung ganz verschwindet;
und dieser Zustand ist eben in Steinkohle und Anthrazit erreicht.
Ferner folgert Donath* 7 aus dem homogenen muscheligen Bruch
und Glasglanz der Steinkohle, daß diese im Erdinnern unter dem
Gebirgsdrucke einen Zustand der Erhitzung unter Weichwerden
durchgemacht habe, und er behauptet, nur da, wo Holz diese
Druckerhitzung erfahren habe, könne Steinkohle entstanden sein.
24 F. Bergiu?, „Die Anwendung hoher Drucke bei chem. Vorgängen und eine
Nachbildung des Entstehungsprozesses der Steinkohle“, Halle (Knapp) 1913.
Zeitschr. angew. Chemie 1906, S. 657/68.
-* J Vgl. Benedikt und Bambcrger, Monatsb. f. Chem. 11 (1890), S. 264;
ferner Ges. Abh. zur Kenntnis der Kohle, 1 . c., Bd. IT, S. 152; Bd. III, S. 331.
< >sterr. Z. f. B. 11. H. 50 (1902), S. 15/17, 29 43, 46/49.
94
Helmut \V. Klever.
Dieser Ansicht läßt sich entgegenhalten, daß natürlich auch Braun¬
kohle derartige Umwandlungsbedingungen gefunden hat und dabei
in Steinkohle übergegangen ist. Dieser Vorgang wurde, wie schon
erwähnt, im Laboratorium durch die Versuche von Stein, Klason,
Bergius u. a. nachgeahmt. —
Bei der Vermoderung in der Natur bilden sich aus der Zellu¬
lose vorwiegend Humussäuren, braune Substanzen, welche sich in
Wasser kolloid lösen und die braune Farbe der Moorwässer ver¬
anlassen. Leichter als in Wasser lösen sich diese Substanzen in ver¬
dünnter Natronlauge und können aus der Lösung mit Mineral¬
säuren ausgefällt werden. Diese Eigenschaft hat veranlaßt, daß
man die Substanzen „Säuren“ genannt hat. Wahrscheinlich han¬
delt es sich jedoch bei dieser Lösung und Fällung nur um Dispersion
und Ausflockung von Kolloiden.
Außer diesen löslichen Kolloiden entstehen aus der Zellulose
auch noch unlösliche Substanzen. Diese sind gemischt mit Lignin-
Substanz, Korksubstanz, Fettsubstanz und Harz. Das unlösliche
Produkt heißt Humin-Substanz.
Darin sind auch tierische Reste enthalten, Fett- und Eiwei߬
reste, die aber eine untergeordnete Rolle bei der Vertorfung spielen.
Die Fettsubstanzen machen denselben Prozeß durch, wie auch
im Sapropel. Sie werden zu Wachs bituminiert. Die Harze
polymerisieren sich; sie verlieren ihren sauren Charakter. Sie
werden außerdem hydriert. So tritt im Torf der gesättigte Kohlen¬
wasserstoff Fichtelit 2 - auf, der aus dem Harzkohlenwasserstoff
Oktohydroreten entstanden ist. Auf diese Weise üben die Harze
bei dem Vertorfungsvorgange eine allmähliche dehydrierende
Wirkung aus.
Der Torf ist nach dem vorigen sehr kompliziert zusammen¬
gesetzt. Er besteht, um es nochmals zu wiederholen, aus Humus¬
säuren und aus Huminsubstanz, in der ausser Celluloseresten,
Lignin-, Harz-, Wachs- und Eiweißreste enthalten sind.
Die Harz-, Wachs- und Eiweißreste stellen nichts anderes
vor, wie Bitumen, und zwar nach Engler’s Nomenklatur: Ana-
bi tu men. In demselben befinden sich allerdings im Gegensätze
zum Anabitumen des Sapropels von vornherein sehr hochpolymere
Körper, nämlich das Lignin und das Korkwachs.
vs Vgl. A. Tschirch „Die Harze und die Harzbehälter“, Leipzig, Horntracger,
i»lot», S. bJSo, 703.
Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich.
95
Man kann das Bitumen dem Torf durch Extraktion entziehen.
Die Ausbeute beträgt etwa 4—5% davon.
D. Holde ”' hat nun die Ausbeute dadurch erhöht, daß er die
Extraktion bei erhöhter Temperatur unter Druck unternahm. Er
hat in seiner Untersuchung zum erstenmale das Prinzip der Druck¬
extraktion des Bitumens angewandt. Dieser interessante Vorgang
ist wohl so zu deuten, daß ein Abbau höherpolymerer Substanz
— vielleicht von unlöslichem Harz und Korkwachs — zum lös¬
lichen Zwischenprodukt stattfindet.
Wir verlassen nunmehr den Vertorfungsprozeß und wenden
uns der Inkohlung zu!
Die Inkohlung beginnt, sobald der Torf in tiefere Erdschichten
gelangt und von anderen geologischen Schichten überlagert wird.
Er verwandelt sich dabei zunächst in Braunkohle.
Wird Braunkohle untersucht, so bekommt man von den Be¬
standteilen ein ähnliches Bild, wie auch von denen des Torfes.
Denn die Braunkohlen enthalten wechselnde Mengen an
Humussäuren, oder wie sie auch genannt werden „Huminsäuren“.
Die Ligninsubstanz ist darin durch Prüfung auf Methoxyl-
gruppen nachweisbar.
Durch Extraktion wird der Braunkohle Wachs, sogen. Mon¬
tanwachs, und Harz, sogen. Montanharz, entzogen. Das Montan¬
wachs enthält die Montansäure, eine Wachssäure mit einer Kette
von 28 Kohlenstoff-Atomen im Molekül. Diese Säure ist teilweise
mit Wachsalkoholen verestert, teilweise frei vorhanden.
Wird die mit Benzol unter Kochen extrahierte Braunkohle
nach dem Vor gange von Holde bei höherer Temperatur, also
unter Druck extrahiert, — eine Arbeit, die F. Fischer 80 aus¬
geführt hat —, so wird eine bedeutend erhöhte Ausbeute an
Wachs-Harz-Gemisch erhalten. Sie ist je nach der Herkunft der
Braunkohle verschieden. Bei rheinischer Braunkohle werden etwa
.5—7°/ 0 Extrakte erhalten. Sächsische Braunkohle liefert bei der
Kochextraktion etwa 12%, bei der nachfolgenden Druckextraktion
nochmals 12—13% an Bitumen. Die rheinische Braunkohle
würde also in ihrer Zusammensetzung etwa dem Torfe der heutigen
Torfmoore entsprechen. Die Braunkohlen wälder der säch-
Mitt. K. Materialprüf.-Amt Groß-Lichterfelde West 27 {10091, S. 23—24.
30 Ges. Abhandlungen zur Kenntnis der Kohle, Bd. 1 , S. 54.
Helmut W. Klever.
96
sisehen Braunkohle müssen im Gegensatz dazu mit Pflanzen
von sehr hohem Wachs- und Harzgehalt bestanden gewesen sein.
Das Bitumen der Braunkohle ist nach der En gl ersehen
Nomenklatur noch als Anabitumen aufzufassen, denn bei der Koch-
und Druckextraktion werden keine prinzipiell verschiedenen Re¬
sultate gegenüber der Torfextraktion erhalten.
Bei der in der Technik in großem Maßstabe ausgeführten
Schwelung, d. i. Verkokung der Braunkohle wird dies Anabi¬
tumen mit der darin enthaltenen unlöslichen Lignin- und Kork¬
wachssubstanz unter Spaltung und Kraken zersetzt und liefert
den bekannten Braunkohlenteer.
Geschieht die Schwelung bei etwa 8oo°, so resultiert ein Teer,
der mehr Erdöleigenschaften hat als Steinkohlen-Koksteer. Es sind
Paraffine, Olefine, hydroaromatische und wenig aromatische Kohlen¬
wasserstoffe darin enthalten, ferner Phenole und Pyridinbasen.
Wird die Braunkohle im Gegensätze zum Vorigen, wie E.
Börnstein 81 zuerst ausführte, bei etwa 450°, also bei tiefer
Temperatur geschwelt, so erhält man einen sogen. Tieftemperatur¬
teer mit bedeutend höherem Wasserstoffgehalt. Die aromatischen
Kohlenwasserstoffe verschwinden. Mehr Paraffin- und gesättigte
Naphtenkohlenwasserstoffe treten auf. Es sind aber noch be¬
trächtliche Mengen an hydroaromatischen und harzigen Kohlen¬
wasserstoffen, außerdem ein hoher Prozentsatz an Phenolen vor¬
handen. Der Phenolgehalt ist bedeutend höher als im Schwelteer.
Hierüber haben F. Fischer 32 und Mitarbeiter, insbesondere
W. Gluud und W. Schneider, umfangreiche Arbeiten durch¬
geführt und mehrfach veröffentlicht.
Es erhob sich nun die Frage, welchen Bestandteilen der
Braunkohle wichtige Teeranteile, wie Paraffin und Phenole ent¬
stammen. Hierüber gibt eine Arbeit von W. Schneider 83 Auf¬
schluß, die im Kohlenforschungsinstitut in Mülheim a. d. Ruhr aus¬
geführt worden ist. deren Bedeutung für die Umwandlung des
Bitumens in der Natur und für die Teerbildung bisher aber nicht
genügend hervorgehoben wurde, die ich daher ausführlicher be¬
sprechen will.
il Journal f. Gasbeleuchtung 4«) (i<>ob), S. 627, 648, 667.
;ta 1. c.
Ges. Abhandlungen zur Kenntnis der Kohle, Bd. Hl, S. 325.
Erdölbitnmen und Kohlebitumen, ein Vergleich.
97
Zunächst trennte Schneider die Braunkohle durch Koch-
utid Druckextraktion folgendermassen:
Tabelle 4.
Benzolkochextrakt.
(bestehend aus: 2% Montanharz
und 13% Montanwachs)
Benzoldruckextrakt.
(Wachs -4- Harz)
Huminsäuren.etwa
organischer Natur
(polym. Lignin u. Korkwachs
usw.).etwa
Unlöslicher
Rückstand
Unlöslicher
Rückstand
Verlust
Asche
rund
etwa
» 5 >°°o
8,0%
53 >o°/ 0
10 , 0 %
13.°%
I 00,0 °j o
Als Benzolkochextrakt erhielt er 15% der Braunkohle.
Diesen trennte er in Montanwachs (13%) und in Montanharz (2%).
Als Benzoldruckextrakt erhielt er weitere 8% der Kohle an
einem Wachs-Harz-Gemisch, das er nicht trennte.
Den Kohlerückstand kochte er erschöpfend mit verdünnter
Natronlauge und erhielt etwa 53,0% Huminsäuren.
Der nun verbleibende Rückstand enthielt 10% organische
Substanz, die m. E. in der Hauptsache aus hochpolymerer Lignin¬
substanz besteht und polymeres Korkwachs, Harz, Protein usw.
enthalten kann, und 8,4% Asche. (% berechnet auf Kohle).
Diese Extrakte hat Schneider u. a. auf Methoxylgehalt und
N-Gehalt geprüft. Ferner hat er die Substanzen in der Glas¬
retorte geschwelt. Die erhaltenen Resultate sind in Tabelle 5
zusammengestellt. (S. Tabelle 5.)
Vergleichen wir in Tabelle 5, 1. Vertikalreihe, die Methyl¬
zahlen, so sehen wir, daß das noch montanwachshaltige Montan¬
harz und das noch montanharzhaltige Montanwachs des Benzol-
Kochextraktes an sich die höchsten Methylzahlen liefern. Das
Gemisch Montanwachs •+■ -Harz des Benzol-Druckextraktes gibt
eine etwas niedrigere Methylzahl, dagegen die unlösl. organische
Substanz wieder eine höhere und die Huminsäuren ihrerseits eine
verschwindend geringe Methylzahl.
Q.s
Helmut W. Klever.
Tabelle 5.
1
Methylzahlen Stickstoffgehalii Teerausbeute
ber. auf die ange¬
wandte Sbst.
Montanharz
Montanwachs
Druckextrakt
Huminsäuren
Unlösl. organ.
Substanz(polym.
34
2,0
1,2
0,1
Lignin + Kork-
wachs usw.).
Ursprüngl.
Kohle . . .
1,98
ber. „entspre- her. auf die an- 1
chend der Menge, .gewandte Sbst- j
mit der die Sub- 1
stanzen an der Zu¬
sammensetzung
der Kohle betei¬
ligt sind.“
0,068
0,26
0,096
M
Spuren
hoch
etwao,7% ! fast kein
Teer
°» 47 % hoch
0,6 °/ 0 i
-* o
Es fragt sich nun zunächst, welcher Quelle die die Methyl¬
zahl liefernden Methoxylgruppen in den einzelnen Substanzen ent¬
stammen. Daß die natürlichen Harze 34 , wie man sie auch in den
Koniferenwäldern des Tertiärs als vorhanden gewesen annehmen
kann, oft Methoxylgruppen enthalten, ist bekannt. Man kann
daher ihr Vorhandensein in den Substanzen der Extrakte auf
diese Quelle zurückführen. Der Methoxylgehalt der unlöslichen
organischen Substanz wird ohne Zweifel durch Gegenwart von
Ligninrest verursacht, welcher als von vornherein im Bitumen
eingeschlossenes hochpolymeres, unlösliches Polymerisationsprodukt
in der Braunkohle noch vorhanden ist. Natürlich kann letzteres
auch zum polymeren Endprodukte umgcwandeltes Harz neben
Korkwachsresten usw. enthalten. Die kleine Methylzahl der
Huminsäuren deutet wohl auf von dieser adsorbierte Ligninsub¬
stanz hin.
Die Prozentzahlen für Methoxylgehalt in der 2. Vcrtikalreihe
der Tabelle 5 geben den Prozentsatz wieder, mit dem die einzelnen
Substanzen, die die Braunkohle zusammensetzen, an dem Gesamt-
:!l Tschirch, 1 . c. P>< 1 . I, S 54 55.
Erdülbitumcn und Kohlebitumen, ein Vergleich.
99
methoxylgehalt der Kohle beteiligt sind. Wir sehen hier, daß die
Extrakte (das Harz) nur einen verhältnismäßig geringen, dagegen
die unlösliche organische Substanz weitaus den größten Anteil
an dem Gesamtmethoxylgehalt besitzen. Dieser Befund ist von
besonderem Interesse, denn er gestattet die Annahme, daß die¬
selbe unlösliche Lignin Substanz, die dem Holze den Methoxyl¬
gehalt gibt, in der Braunkohle, wenn auch in umgewandelter
Form, ebenfalls noch vorhanden ist.
Der Stickstoffgehalt (3. Vertikalreihe) der Braunkohle, ein
Abbauprodukt von hochpolymerem Eiweißrest, ist natürlich in der
unlöslichen organischen Substanz enthalten. Teilweise wird die
Stickstoff-Substanz von den Huminsäuren adsorbiert worden sein.
Sonst wären diese nicht stickstoffhaltig.
Die Teerausbeute (4. Vertikalreihe) aus Wachs, Harz und der
unlöslichen Substanz ist hoch, und zwar 60—70% derselben. Die
Huminsäuren liefern fast keinen Teer. So sehen wir, daß die
Muttersubstanz des Teeres in der Kohle das Bitumen ist.
Es war nun von Interesse, die Zusammensetzung der aus den
einzelnen Bitumenbestandteilen geschwelten Teere zu untersuchen.
Tabelle 6 gibt hierüber Aufschluß:
Tabelle 6.
% berechnet auf Teer
Teer des (der)
Montanharzes enthält
Montanwachses „
Druckextraktes ,,
Huminsäuren „
Unlöslichen
organ. Substanz „
Paraffin
o.5 %
38°/«
-9%
Phenole
>°/
3°/
O
o /
io
6 «
i °
Das Paraffin entstammt der Wachssubstanz. Das Montan¬
harz lieferte ein wenig Paraffin, weil es noch etwas wachshaltig
ist. Die unlösliche organische Substanz kann Paraffin aus der
Korksubstanz oder aus schon entstandenem Wachs-Polybitumen
liefern.
1 oo
Helmut W. Klever.
Die Phenole entstammen dem Montanharz in den Extrakten
und der Eigninsubstanz in dem Unlöslichen. Das Montanwachs
konnte Phenole geben, da cs harzhaltig war. So ist die Fest¬
stellung von Wichtigkeit, daß die Phenole bei der Teerbildung
hauptsächlich aus harzartigen Körpern entstehen.
Die Huminsäuren sind zur Bildung von Paraffin und Phenolen
nicht befähigt.
Wir wollen damit unsere Betrachtung über die Zusammen¬
setzung der Braunkohle abschließen und uns der Steinkohle
zuwenden.
Die Steinkohle unterscheidet sich von der Braunkohle in ver¬
schiedener Hinsicht:
Huminsäuren können mit verdünnter Natronlauge selbst bei
2oo° unter Druck nur mit verschwindender Ausbeute gewonnen
werden, wie F. Fischer * 5 neuerdings festgestcllt hat. Die Lignin¬
substanz ist in der Steinkohle durch Methoxylbestimmung oder
durch andere Methoden nicht mehr nachweisbar.
Harz- und Wachsrest sind zum Polybitumen geworden. Sie
sind als unlösliches Endprodukt vorhanden. Zum Teil hat sich
das Polybitumen in Katabitumen umgewandelt. Denn mit
Lösungsmitteln lassen sich bis zu i % (berechnet auf Kohle) an
Kohlenwasserstoffen extrahieren. Das beste Lösungsmittel ist,
wie F. Fischer gefunden hat, flüssige S 0 2 , die etwa i% eines
balsamartigen rötlichen Öles auszieht. Bei diesem Prozesse ver¬
liert die Kohle ihre Festigkeit und zerfällt zu Pulver. Die
Extrakte sind vorwiegend ungesättigter Natur. Sie enthalten
hydroaromatische und Naphtenkohlenwasserstoffe. Pictet 36 fand
in einem Benzolkochextrakt Hexahydrofluoren, Hexahydrodurol,
Uexahydromesitylen und außerdem Melen, einen festen, weißen,
gesättigten, äußerlich paraffinartigen Naphtenkohlenwasserstoff.
der schon im Jahre 1849 von Brodic 37 bei der trockenen Destil¬
lation von Bienenwachs im Destillat erhalten wurde, also bei der
Vakuum Verkokung der Steinkohle wahrscheinlich aus Wachsrest
entstanden ist.
Ges. Abhandlungen zur Kenntnis der Kohle, Bd. III, S. 243.
Bei. Chem. Ges. 44 S. 24<»4 : Ber. chem. Ges. 48 (1915), S. 928 u. <133.
B. ('. Brodic, Lieb. Ann. 71 (184«)), S. 159.
Erdölbitumen und Kohlebiturnen, ein Vergleich.
IOI
Die Benzoldruckextraktion der Steinkohle hat zuerst Rau w
in Anwendung gebracht. Er extrahierte bei 200 0 und 14 Atmo¬
sphären und erhielt 1 bis 1 % % Extrakt.
F. Fischer 35 ' extrahierte dann bei 250 270° und 50 Atmo¬
sphären Druck. Er erzielte 6,5% Druckextrakt. Von diesem
waren nur 1 % (berechnet auf Kohle) in Ligroin löslich. Der Haupt¬
anteil des Druckextraktes, 5,5% der Kohle, ist ein Harz.
Diese Untersuchungen deuten darauf hin, daß das Stein¬
kohlebitumen vorwiegend aus Harzrest besteht, wie dies auch
von Picett 40 angenommen wird.
Dies wird durch die Resultate der Koksteer- und der Tief¬
temperaturverkokung bestätigt:
Der Koksteer enthält kein Paraffin, höchstens Spuren davon,
vorwiegend aromatische, und, wie ich festgestellt habe, in sehr
beträchtlicher Menge (etwa 12 — 13% des Teers) hochmolekulare,
rote harzige Kohlenwasserstoffe, außerdem etwa 5 —10% Phenole
und in geringerer Menge Pyridinbasen.
Die Tieftemperaturverkokung liefert quantitativ ein anderes
Resultat. Sie wurde zuerst von Börnste in 41 in wissenschaft¬
licher Form durchgeführt. Die Methode wurde von R. V.
Wheeler 4 - und von Pictet 13 weiter ausgebildet. Der letztere
destillierte Kohle bei 450° und 30 mm Druck und erhielt „Vakuum¬
teer“. F. Fischer 14 destillierte bei ähnlicher Temperatur in
einem Trommelofen mit einem leichten Unterdrücke.
Das Ergebnis ist folgendes: Die Paraffin-Ausbeute wächst.
Sie beträgt etwa 1 % des Teeres. Insbesondere steigt die Phenol¬
ausbeute außerordentlich an, und zwar auf 30—50% des Teeres
Die aromatischen Kohlenwasserstoffe verschwinden und werden
18 Stahl und Eisen, 1910, S. 123b.
™ I. c.
40 Ann. de Chemie (9) 10 (1918), S. 249—330.
41 1. c.
42 „Die flüchtigen Bestandteile der Kohle“, I, Journ. Chein. Soc. London 9;
(1910), S. 1917/35; dto ebenda 99 (191J), S. 0 49 b“; ferner ,,Die Zusammensetzung
der Kohle“, Journ. Soc. Chem. Ind. 36 (1917), Suppl. S. 5.
4; ‘ Ber. chem. Ges. 46 (1913), S. 3343-
44 1 . c. Bd. II, S. 83
102
Von Helmut W. Klever.
durch hydroaromatische, zum geringen Teil durch Naphtenkohlen-
wasserstoffe ersetzt.
Die Bildung der nicht großen Menge Paraffin bei der Tief¬
temperaturverkokung beweist den verhältnismäßig geringen Gehalt
der Steinkohle an Wachsrest. (Der letztere wird bei der hohen
Temperatur des Koksofens zerstört).
Die übrigen Bestandteile des Tieftemperaturteeres stammen
hauptsächlich aus Harzresten. Dies ist insbesondere für die
Phenole, auch für die hochmolekularen, wahrscheinlich. Denn
ich habe gemeinsam mit W. Forschner 45 und A. Eisenhut 4,;
nachgewiesen, daß die höhermolekularen Phenole des Tieftem¬
peraturteeres hydroaromatische einwertige Phenole sind. Wir
konnten nachweisen, daß sich dieselben durch Erhitzung auf
höhere Temperatur teilweise weiter dehydrieren und depolymeri-
sieren, und daß sic dabei in geringer Menge in aromatische
bekannte Phenole übergehen. Es gelang so, für den Übergang
von Harzalkoholen zu den aromatischen Phenolen während der
Verkokung einen Beweis zu bringen. Dies Resultat steht in
Zusammenhang mit dem Befunde von Pictet 47 , der feststellte, daß
Vakuumteer, direkt nach der Darstellung nur wenig Phenole und
statt deren hydroaromatische Alkohole enthält, welche allmählich
in hydroaromatische Phenole übergehen, und zwar durch spon¬
tane Aufspaltung des Alkoholmoleküls. Pictet hat die niedriger-
molekularen Anteile dieser Alkohole und Phenole näher unter¬
sucht. Sie stimmen in Elementarzusammensetzung und Eigen¬
schaften mit den von uns untersuchten hochmolekularen Phenolen
des Tieftemperaturteeres so weit überein, daß in beiden Fällen
sehr nahe verwandte Körper vorzuliegen scheinen.
Im weiteren Verlaufe unserer Arbeiten wurde noch fcstge-
stellt, daß dieselben hydroaromatischen Phenole in verhältnismäßig
geringer Menge auch im Koksteer vorhanden sind, und ferner¬
hin, daß derartige Phenole (auch solche anderer Teere, wie Braun-
kohlenteer) bei starker Erhitzung unter Ätherifizierung und Poly¬
merisation in äußerlich asphaltähnliche Kolloide übergehen.
Vergl. Dissertation W. Kürschner Karlsruhe i. B., 1919.
4ti Vergl. Dissertation A. Eisenhut Karlsruhe i. B. 1918.
47 Compt. rend. 1(15 (1917) S. 113/116 (Chem. Centr. 1917, II., S. 787).
Erdölbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich. 103
von denen ein Anteil sehr große Ähnlichkeit mit dem im Koks¬
teer kolloid gelöst vorhandenen und durch Zugabe von Lösungs¬
mitteln ausfällbaren sogenannten „freien Kohlenstoff“ besitzt.
Da der Tieftemperaturteer diese letztere Substanz nur in sehr
geringer Menge enthält, so steht hoher Phenol- und geringer
Kolloidgehalt im Tieftemperaturteer geringem Phenol- und hohem
Kolloidgehalt im Koksteer gegenüber. Aus der Art der Ent¬
stehung derartiger Kolloide zog ich den Schluß, daß bei der
niedrigeren Temperatur des Tieftemperaturofens die Phenole er¬
halten geblieben sind, daß sie dagegen bei der hohen Tempera¬
tur des Koksofens unter Bildung von Kolloiden und noch weiter¬
gehender Dehydrierung umgewandelt, resp. z. T. zerstört worden
sind. Diese Reaktionen erklären auch das Vorhandensein des
höheren Phenolgehaltes im Braunkohlentieftemperaturteer gegen¬
über dem niedrigeren im Braunkohlenschwelteer.
Ähnlich wie die Bildung der Phenole ist auch die der hydro¬
aromatischen und aromatischen Kohlenwasserstoffe auf die Zer¬
setzung von Harzresten zurückzuführen. Denn auch die trockene
Destillation rezenter Harze 48 liefert derartige Kohlenwasserstoff¬
gemische. So ist z. B. das aus dem Koksteer isolierte Reten 4M
auch ein Produkt der trockenen Destillation des Colophoniums usw.
Nach diesen Gegenüberstellungen wollen wir nun die Eigen¬
schaften des Steinkohlen- und des Braunkohlentieftemperaturteeres
mit einander vergleichen!
Die Übersicht ist in Tabelle 7 gegeben.
Tabelle 7.
°/o berechnet auf
T eer
Paraffin Phenole, Na P h ‘ 1 hydroaromat.
| tene |
Kohlenw.
Braunkohlen-
Tieftemperaturteer .
Steinkohlen-
!
10-30% 5-10% wenig
|
wenig
Tieftemperaturteer .
t % 30-50%! wenig
sehr viel
48 A. Tschirch !. c. S. 254'255, S. 267, S. (>96 und S. 572/573.
19 G. Lunge und H. Köhler „Die Industrie des Steinkohlentcers und
Ammoniaks“, V. Aull., 1912, Bd. I, S. 269; ferner A. Tschirch 1 . c. S. 697.
Von Helmut W. Klever.
104
Man sieht, der Braunkohlenteer enthält bedeutend mehr ge¬
sättigte Kohlenwasserstoffe und weniger Phenole. Er ist daher
technisch der wertvollere.
Benzin, Leuchtöl und Schmierölfraktion des Braunkohlenteers
stehen dem Mineralöl bedeutend näher als die Fraktionen des
Steinkohlenteers. Die höchstsiedenden Fraktionen des Braun¬
kohlenteers sind als Naßdampfzylinderöle brauchbar. Ob die ent¬
sprechenden Steinkohlenteerfraktioncn dazu verwendbar sind, muß
noch durch Dauerversuche erwiesen werden.
Für die Zusammensetzung des Steinkohlebitumens zeigt auch
dieser Vergleich, daß es hauptsächlich Harz- und nur wenig Wachs¬
rest enthält, im Gegensatz zum Braunkohlebitumen, in dem sich
bedeutend mehr Wachsrest befindet. Die Pflanzen der Carbonzeit
müssen also außerordentlich harzreich gewesen sein.
Ich möchte nun zum Anthrazit übergehen.
Der Anthrazit stellt das Endprodukt des Inkohlungsprozesses
vor. Er enthält kdn verschwelbares Bitumen mehr. Man nimmt
an, daß dasselbe bei dem Inkohlungsprozesse mit inkohlt und unter
Kohlebildung und Grubengasentwicklung vergast worden ist.
Derartige Kohle heißt entgaste Kohle.
Mit diesen Ausführungen habe ich Ihnen den Werdegang
des Inkohlungsprozesses und die Veränderungen, die das Bitumen
in diesem Prozesse erleidet, beschrieben.
Wenn wir nun den Zustand dieses Bitumens mit dem des
Erdöies vergleichen, so finden wir, daß ein direkter Vergleich
nicht möglich ist. Denn Braunkohlebitumen ist Anabitumen, Stein¬
kohlebitumen Polybitumen, das Erdöl dagegen umgewandeltes
Katabitumen. An dieser Verschiedenheit ändert die Tatsache
nichts, daß Mabery 50 aus kanadischem Erdöl und Pictet 51 aus
dem Vakuumteer der Kohle je drei höchst wahrscheinlich iden¬
tische Naphtenkohlenwasserstoffe isoliert haben. Denn bei der
Depolymerisation der Wachs- und Harzreste in der Natur und
im Laboratorium können natürlich dieselben Körper entstehen.
,0 C. V. Mabery, Anier. ('hem. J. 19 (1897), S. 419 82 (Chem. Centr. 1897,
II, S. 258 5<>; ebenda 33 U905) S. 251 <>2 (Chem. Centr. 1905, I. S. 1348/50).
' ,l Her. chem. lies. 40 <1913), S. 3342/53; ebenda 48 (1915), S. 929.
Erdc'ilbitumen und Kohlebitumen, ein Vergleich.
105
Gleichwohl wäre es möglich, daß Steinkohlebitumen sich ge¬
spalten hätte und in Erdöl übergegangen wäre. Es soll zuge¬
standen werden, daß dies in Ausnahmefällen 52 vorgekommen
sein kann. Wenn aber allgemein Erdöl aus Kohle entstanden wäre,
dann müßten Anthrazit- und Erdöllager regelmäßig miteinauder
vergesellschaftet sein. In der Regel müßte immer eines in der
Nähe des anderen Vorkommen. Davon aber ist keine Rede.
Nun könnte man annehmen, daß das Erdöl außerordentlich
große Strecken durchwandert und sich von den Kohleflözen weit
entfernt hätte. Dem widersprechen jedoch die geologischen Tat¬
sachen auf das Entschiedenste.
Die Idee, daß Erdöl auch aus der Humussubstanz der Kohle
entstanden sei, und daß deswegen überhaupt kein Anthrazitrück¬
stand geblieben wäre, ist gänzlich unhaltbar und heute verlassen.
Prinzipiell ist freilich der Übergang der Humussubstanz in
Erdölkohlenwasserstoffe möglich. Schon M. Berthelot :>:} hat durch
Hydrierung mit Jodwasserstoffsäure und Phosphor Steinkohle zu
80% ihres Gewichtes in eine erdölartige Flüssigkeit verwandelt.
Bergius 54 hat später bei Anwendung der Hochdruckhydrierung
(200 Atm., 400°) ein ähnliches Resultat erhalten. Aber derartige
Hydrierungsmittel sind natürlich in der Erde nicht vorhanden. So
ist auch die Bildung des Erdöles aus Humussubstanz der Kohle
ausgeschlossen.
Ein Hinweis auf den Gehalt mancher Erdöle an Phenolen
kann auch nicht beweisend für Herkunft des Erdöles aus Stein¬
kohle sein. Denn die Phenole entstehen durch Dehydrierung von
Harzalkoholen. Derartige Harze können aber im Faulschlamm
vorhanden gewesen sein und bei der weiteren Umwandlung des
Bitumens die Phenole geliefert haben.
Ich bin am Schlüsse meiner Ausführungen und möchte noch
einmal kurz zusammenfassen:
r.2 v c ,g]. E. Donath, Zcitschr. f. Petrol. 12 (1916/17), S. 364/65.
r>: ‘ Ann. Cliim. Phys. XX. (1870), S. 530. M. Berthelot: .,Les carbures d’hydro-
gene“ III, Paris 1901, Gau thicr-V illars, S. 276—285.
51 Bergius und Billwiller, D. R. P. Nr. 304348 (Chem. Centr. 1919, IV,
S. 940); D. R. P. Nr. 301 231 (Chem. Centr. 1920, II., S. 374); D. R. P. Nr. 303893
(Chem. Centr. 1920, 11 , S 615).
Verhandlungen, 27. Bd.
9
io6
Helmut \V. Klever.
Die Substrate des Erdöl- und Kohlebitumens sind ähnlicher
Natur. Sie bestehen hauptsächlich aus Fett- und Harzsubstanzen
in wechselnder Zusammensetzung und Mischung. Aber beide
Substrate haben ganz andere Bedingungen gefunden, unter denen
sie sich im Laufe der geologischen Epochen umgewandelt haben.
Sie sind nicht zwei Äste an demselben Baume, vielmehr zwei
Bäume, die in ähnlichem Boden wurzeln, aber verschiedene Ent-
wicklungsbedingungen gefunden und daher durchaus verschiedene
Formen angenommen haben.